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German Pages 1936 [1940] Year 2012
Krenzler/Borth Anwalts-Handbuch Familienrecht
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Anwalts-Handbuch
Familienrecht herausgegeben von
Dr. Michael Krenzler und Helmut Borth bearbeitet von Helmut Borth Präsident des AG a.D., Heilbronn Esther Caspary Rechtsanwältin, Berlin Fachanwältin für Familienrecht Dr. Oliver Geißler Richter am Finanzgericht, Stuttgart Dr. Klaus Grisebach Rechtsanwalt, Kaufbeuren Fachanwalt für Erbrecht Prof. Dr. Dr. Herbert Grziwotz Notar, Regen und Zwiesel Jörn Hauß Rechtsanwalt, Duisburg Fachanwalt für Familienrecht Dr. Michael Krenzler Rechtsanwalt, Freiburg Fachanwalt für Familienrecht und Fachanwalt für Erbrecht Gisela Kühner Rechtsanwältin, Hamm Fachanwältin für Familienrecht Karin Meyer-Götz Rechtsanwältin, Dresden Fachanwältin für Familienrecht und Fachanwältin für Steuerrecht
2. Auflage 2012
Günter Nann Rechtsanwalt, Freiburg Fachanwalt für Familienrecht
Katrin Niederl Rechtsanwältin, Dresden Fachanwältin für Familienrecht Dr. Kerstin Niethammer-Jürgens Rechtsanwältin, Potsdam Fachanwältin für Familienrecht Dr. Johannes Norpoth Richter am OLG, Hamm Rolf Schlünder Rechtsanwalt, Mannheim Fachanwalt für Familienrecht und Fachanwalt für Arbeitsrecht Walther Siede Richter am Amtsgericht, Viechtach Wolfgang Stieghorst Rechtsanwalt und Notar, Halle (Westfalen) Fachanwalt für Familienrecht und Mediator Joachim Teubel Rechtsanwalt und Notar, Hamm Maria Viethen Rechtsanwältin, Freiburg Fachanwältin für Familienrecht und Fachanwältin für Erbrecht Dr. Wolfgang Zimmermann Rechtsanwalt, Freiburg Fachanwalt für Familienrecht
ZitierempfehlUDg: Krenzler/ßorth/Bearbeiter, 2. Aufl., Kap .... Rn....
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verz:eiclmet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943
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ISBN 978-3-504-18076-8 ©2012 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Ühersetzungen, Mikroverfilml.lilge11 und die Einspeichenmg und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany
Vorwort Nahezu drei Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Handbuchs – zeitgleich mit dem Inkrafttreten der Reform des Verfahrensrechts, des Versorgungsausgleichs sowie des Güterrechts zum 1.9.2009 – sahen Herausgeber und Verlag die Notwendigkeit, das von der Praxis sehr positiv aufgenommene Werk im Hinblick auf weitere Gesetzesänderungen sowie die zu den Reformgesetzen ergangene höchst- und obergerichtliche Rechtsprechung auf den neuesten Stand zu bringen. Für die Gesetzgebung gilt dies insbesondere im Hinblick auf das Gesetz zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts und das Auslandsunterhaltsgesetz, dessen Bedeutung aufgrund der zunehmenden persönlichen und wirtschaftlichen Verflechtungen in Europa erheblich gestiegen ist. In der Rechtsprechung hat insbesondere das Unterhaltsrecht aufgrund der zum 1.1.2008 in Kraft getretenen weit reichenden Reform eine besondere dynamische Entwicklung genommen, die vor allem durch die Rechtsprechung des BGH zum Betreuungsunterhalt und der Begrenzung des nachehelichen Unterhalts, aber auch die Entscheidung des BVerfG vom 25.1.2011 zur Unzulässigkeit der Bestimmung des Unterhaltsbedarfs nach der Dreiteilungsmethode ausgelöst wurde. Ferner galt es, die praktischen Auswirkungen der Rechtsprechung des BGH sowie der Oberlandesgerichte zum neuen Verfahrensrecht darzustellen, beispielsweise zur Reichweite der Beteiligung Betroffener in den Kindschafts- und Abstammungssachen, der Beiordnung eines Verfahrensbevollmächtigten in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie der Ausgestaltung des Verbundverfahrens. Ein tief greifender Umbruch ergab sich schließlich zum Recht des Versorgungsausgleichs, was eine sehr komplexe und in ihren Strukturen noch nicht gefestigte Rechtsprechung zur Folge hatte und weiterhin hat. Alle diese Änderungen sind in die vorliegende zweite Auflage des Handbuchs eingearbeitet worden. Die Kapitel zum Adoptions- und zum Abstammungsrecht, die von Herrn Notar Prof. Dr. Dr. Grziwotz und Herrn Richter am Amtsgericht Siede bearbeitet wurden, sind neu aufgenommen worden. Dabei ist die bisherige Konzeption, dem anwaltlichen Praktiker die Arbeit zu erleichtern und die Darstellung auf seine Perspektive abzustellen, beibehalten worden. So sind den einzelnen Kapiteln durchgängig Arbeitshinweise und eine Zusammenstellung der typischen Problemfelder vorangestellt worden, sodass der Leser schnell eine erste Orientierung erhält und auf die zugehörigen Erläuterungen zugreifen kann. Außerdem enthalten die Erläuterungen auch zahlreiche, besonders hervorgehobene Tipps für ein sinnvolles und geschicktes Vorgehen sowie als „wichtig“ gekennzeichnete Hinweise auf zumeist haftungsträchtige Probleme.
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Vorwort
Wir danken allen Autorinnen und Autoren für die zeitgerechte Erstellung der Kommentierung, die gelungene interne Abstimmung bei übergreifenden Themenbereichen sowie die besondere Sorgfalt der inhaltlichen Darstellung. Insbesondere gilt unser Dank der sachkundigen und zielstrebigen Begleitung auch der zweiten Auflage durch den Lektor, Herrn Peter Marqua. Freiburg und Heilbronn, im Mai 2012
Michael Krenzler Helmut Borth
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXI Allgemeines Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XLI
Kapitel 1 Das familienrechtliche Mandat (Hauß) I. Die Andersartigkeit des familienrechtlichen Mandats . . . . . . . 1. Materiellrechtliche Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Psychologische Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
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Der Erstkontakt, die Erstberatung . . . . . . . . . . . . Die Erstberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Check- und Arbeitslisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung einer familienrechtlichen Strategie Anwaltliche Taktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwaltliche Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . Die Honorarfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Computer im Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation mit dem Mandanten . . . . . . . . . Das Anwaltssekretariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 4 8 11 15 20 21 23 27 29
Außergerichtliche Tätigkeit . Unterhaltsfragen . . . . . . . . . . Vermögensfragen . . . . . . . . . . Wohnungsfragen . . . . . . . . . . Elterliche Sorge und Umgang
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I. Eheverständnis des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Ehescheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. 1. 2. 3. 4.
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Kapitel 2 Ehe, Scheidung, Aufhebung (Hauß)
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III. Aufhebung der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4. 5.
Vorfragen des Scheidungsverfahrens . Scheidungsgrund: Scheitern der Ehe . Scheidungsvoraussetzung: Trennung . Scheidungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . Ehescheidung und Ehename . . . . . . .
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Kapitel 3 Abstammung (Grziwotz/Siede)
A. Materielles Abstammungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Genetische Abstammung und rechtliche Zuordnung . . . . . . .
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II. Abstammung nach der Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mutterschaft aufgrund Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Internationales Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. 1. 2. 3. 4. 5.
Abstammung nach dem Vater . . . . . . . . . . . . . . Vaterschaft kraft Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vaterschaft kraft Anerkennung . . . . . . . . . . . . . Vaterschaft aufgrund gerichtlicher Feststellung . Anfechtung der Vaterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . Fälle mit internationalem Bezug . . . . . . . . . . . .
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IV. Klärung der Abstammung ohne statusrechtliche Folgen 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ersetzung der Einwilligung in eine genetische Abstammungsuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Duldung der Entnahme einer Probe . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Auskunftsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auskunftsanspruch des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auskunftsanspruch des Scheinvaters kraft Ehe bzw. Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auskunftsanspruch des Mannes gegen die Mutter, der er beigewohnt hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VIII
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B. Verfahren in Abstammungssachen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abstammungssachen . . . . . . . . . . . . Verfahren nach § 169 Nr. 1 FamFG . . Verfahren nach § 169 Nr. 2–3 FamFG Verfahren nach § 169 Nr. 4 FamFG . . Auskunftsansprüche . . . . . . . . . . . . .
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III. 1. 2. 3. 4.
Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . Internationale Zuständigkeit Sachliche Zuständigkeit . . . . Örtliche Zuständigkeit . . . . . Funktionelle Zuständigkeit .
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IV. 1. 2. 3. 4.
Antragsgrundsatz . . . . . . . . Antragsbefugnis . . . . . . . . . Verfahrensfähigkeit . . . . . . . Inhalt des Antrags . . . . . . . . Verfahrenskostenvorschuss .
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V. 1. 2. 3.
Weiteres Verfahren . . . . . . . Feststellung der Vaterschaft Anfechtung der Vaterschaft . Beweisaufnahme . . . . . . . . .
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VI. Ermittlung des Sachverhalts/Darlegungs- und Feststellungslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz der Amtsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Darlegungs- und Feststellungslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einholung eines medizinischen Abstammungsgutachtens
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VII. Verbindung von Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbindung mehrerer Abstammungssachen, die dasselbe Kind betreffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbindung mit einer Unterhaltssache . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VIII. Einstweilige Anordnung wegen Unterhaltsansprüchen . . . . .
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IX. Tod eines Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tod vor Einleitung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tod nach Anhängigkeit des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. 1. 2. 3. 4.
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IX
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XI. Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XII. Wiederaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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X. 1. 2. 3. 4.
Entscheidung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tenor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsbehelfsbelehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamwerden und Bekanntgabe der gerichtlichen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Annex: Moderne Fortpflanzungsmedizin . . . . . . . . . . . .
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XIII. 1. 2. 3. 4.
Kosten/Gebühren . . . . Verfahrenswert . . . . . . Gerichtskosten . . . . . . Anwaltskosten . . . . . . Verfahrenskostenhilfe .
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Kapitel 4 Annahme als Kind (Grziwotz/Siede)
A. Materielles Adoptionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
X
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I. 1. 2. 3. 4. 5.
Adoption Minderjähriger (§§ 1741–1766 BGB) . . . . . . Beteiligte Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adoptionsvoraussetzungen und -verbote . . . . . . . . . . Antrags- und Zustimmungserfordernisse . . . . . . . . . . Adoptionswirkungen bei der Minderjährigenadoption Aufhebung der Adoption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. 1. 2. 3. 4.
Volljährigenadoption (§§ 1767 bis 1772 BGB) . . . . Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen der Volljährigenadoption . . . . . . Adoptionswirkungen bei der Volljährigenadoption Aufhebung der Volljährigenadoption . . . . . . . . . . .
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III. Inlandsadoptionen mit ausländischen Staatsangehörigen . . .
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B. Verfahren in Adoptionssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. 1. 2. 3. 4. 5.
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II. Verfahren mit Auslandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Adoption Minderjähriger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Adoption Volljähriger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inländische Adoptionssachen Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . Beteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 5 Sorgerecht und Umgangsrecht (Grisebach) .
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III. Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfahrensstruktur, Modelle und anwaltliche Arbeitsweise . . 2. Stichwortübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Materielles Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sorgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umgangsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
252 252 325
I. Arbeitshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Selbstverständnis des Anwalts im Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Eltern und den Interessen des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vorbereitung des Mandats, Informationsaufnahme . . . . . 3. Überlegungen zu Kosten, Vergütung und Haftung . . . . . . . . . 4. Vorzüge und Grenzen der Mediation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Typische Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gemeinsame Sorge oder Alleinsorgeantrag? . . . . . . . . . . 2. Gemeinsame elterliche Sorge trotz bestehender Spannungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Elterliche Konflikte bei bestehender gemeinsamer Sorge . 4. Wechselverhältnis von Umgangsrecht und Sorgerecht . . 5. Beratung und Vorgehen bei Änderungen der Verhältnisse 6. Kindeswohl geht vor Elternrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Kinder nicht miteinander verheirateter Eltern . . . . . . . . .
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XI
Inhaltsübersicht
Kapitel 6 Unterhalt (Caspary/Geißler/Krenzler/Meyer-Götz/Nann/Niederl/Schlünder) Seite
A. Auskunftsansprüche, Einkommensermittlung, Sozialleistungen, Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Auskunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Auskunftserteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Beleganspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschränkung der Auskunftspflicht nach § 1605 Abs. 2 BGB Gerichtliche Geltendmachung des Auskunfts- und Beleganspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gegenstandswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Eidesstattliche Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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357 357 361 365 369
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370 373 374 375
II. 1. 2. 3. 4.
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377 377 377 379 413
Sozialleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III (Arbeitsförderung) Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit . . . . . . . . . . . . Sozialhilfe (SGB XII) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) . . . . . . . . . . . . . Krankengeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elterngeld nach dem BEEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegegeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohngeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Waisenrente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederaufleben von Witwen- oder Witwerrenten . . . . . . . . . Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz . . . . . . . . . . Mutterschaftsgeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungen im Zusammenhang mit dem Strafvollzug . . . . . . Hilfe für junge Volljährige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterhaltsvorschussleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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421 422 423 424 434 446 447 448 450 450 451 452 453 453 454 454
I. 1. 2. 3. 4. 5.
III. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
XII
Einkommensermittlung . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff des Einkommens . . . . . . . . . Einkommen bei Nichtselbständigen Einkommen bei Selbständigkeit . . .
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454 454
IV. Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen des Einkommensteuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auswirkungen des Steuerrechts auf die Feststellung des unterhaltspflichtigen Einkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
461
B. Kindesunterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
484
I. Arbeitshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Arbeitstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Typische Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
484 484 484
II. 1. 2. 3. 4.
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485 485 492 528 543
III. Art der Unterhaltsgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestimmungsrecht der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geldrente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
555 555 561
IV. 1. 2. 3. 4. 5. V. 1. 2. 3. 4. VI. 1. 2. 3. 4.
Grund und Umfang des Unterhaltsanspruchs Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Unterhaltsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterhaltsbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsfähigkeit des Verpflichteten . . . . . .
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561 561 565 568 568 570
Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenshaltungskosten und zunehmendes Alter . . . . . . . . . Andere Änderungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präklusion – die Zeitschranke des § 238 Abs. 2 FamFG . . . . Die Abänderung der verschiedenen Unterhaltstitel und der Abänderungszeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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572 572 573 576
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577
Beschränkung und Wegfall des Unterhalts, Verzicht Minderjährige Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volljährige Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahrensfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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580 580 581 583 584
Unterschiedliche Haftung der Eltern – Rangverhältnisse . Gleichrang von Betreuungs- und Barunterhalt . . . . . . . . . Die Haftungsquoten der Eltern beim Barunterhalt . . . . . Familienrechtlicher Ausgleichsanspruch . . . . . . . . . . . . . Rangverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XIII
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VII. Unterhalt für die Vergangenheit und Rückforderung überzahlten Unterhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
584
VIII. Fristen und Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
586
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586 586 587 589
X. Fälle mit Auslandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anzuwendendes materielles Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geltendmachung und Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
592 592 594
C. Ehegattenunterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
595
IX. 1. 2. 3.
I. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Verfahrensfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Titulierung von Kindesunterhaltsansprüchen Vereinfachtes Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Abänderung von Unterhaltstiteln . . . . . . . . . .
Grundlagen und Voraussetzungen . Überblick über die Unterhaltsarten Unterschiedliche Streitgegenstände Prüfungsschema . . . . . . . . . . . . . . . Die Unterhaltsarten im Einzelnen . Bedürftigkeit des Berechtigten . . . . Selbstbehalt des Verpflichteten . . . .
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595 595 596 597 597 638 638
Höhe des nachehelichen Unterhalts . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ehelichen Lebensverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . Der gesamte und der angemessene Lebensbedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Veränderung der ehelichen Lebensverhältnisse vor und nach der Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Deckung des Bedarfs nach den ehelichen Lebensverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Herabsetzung und zeitliche Begrenzung des Unterhalts wegen Unbilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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639 641 642 655
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676
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709
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758
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770
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798 798 800 802 813
II. 1. 2. 3. 4.
III. 1. 2. 3. 4. XIV
Der Rang im Unterhaltsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der unterhaltsrechtlichen Rangordnung . Vereinbarungen über den Rang . . . . . . . . . . . . . . . . Die reformierte Rangordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittelbare Auswirkungen der Rangfolge . . . . . . . . .
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Inhaltsübersicht Seite
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815 815 838 839 840
D. Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes . . . .
841
I. Arbeitshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
842
II. Typische Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
842
IV. 1. 2. 3. 4.
Ausschlussgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwirkung des Unterhalts nach § 1579 BGB . Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Erlöschensgründe . . . . . . . . . . . . . . . Verwirkung nach § 242 BGB . . . . . . . . . . . . . .
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843
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845
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845 847 848 863 872
IV. Ansprüche bei Totgeburt oder Fehlgeburt: § 1615n BGB . . . .
874
V. Erstattung der Beerdigungskosten: § 1615m BGB . . . . . . . . . .
874
VI. Tod des Pflichtigen: §§ 1615l Abs. 3 S. 4, 1615n BGB . . . . . . .
875
III. Die Ansprüche nach § 1615l BGB . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterhalt während des Mutterschutzes: § 1615l Abs. 1 S. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ersatz von Schwangerschafts- und Entbindungskosten: § 1615l Abs. 1 S. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Krankheitsunterhalt: § 1615l Abs. 2 S. 1 BGB . . . . . . . . 4. Betreuungsunterhalt: § 1615l Abs. 2 S. 2 bis 5 BGB . . . 5. Rangfragen und Ersatzhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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875 875 876 877 878 878 879 879
E. Elternunterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
880
I. Arbeitshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
880
II. Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
881
VII. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Zusatzfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auskunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterhalt für die Vergangenheit und Sonderbedarf . Verwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitliche Befristung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuerliche Abzugsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XV
Inhaltsübersicht Seite
III. 1. 2. 3. 4. 5.
Die Unterhaltspflicht gegenüber Eltern . . . . . . . . Bedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrere Unterhaltsschuldner und Ersatzhaftung Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . .
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881 882 883 887 910 913
IV. 1. 2. 3. 4. 5.
Sonstige Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auskunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückständiger Unterhalt und Sonderbedarf Verwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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914 914 915 916 919 919
V. Bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen und Umfang der Grundsicherung . . . . . . . . . 2. Auswirkungen auf den Elternunterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . .
919 920 921
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Kapitel 7 Ehewohnung und Haushaltsgegenstände (Viethen) I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3. 4. 5.
Die Überlassung der Ehewohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitshinweise (Checkliste) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff der Ehewohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endgültige Überlassung der Ehewohnung . . . . . . . . . . . . Vorläufige Überlassung der Ehewohnung für die Zeit der Trennung nach § 1361b BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Durchsetzung des Anspruchs auf Wohnungsüberlassung
III. 1. 2. 3. 4. 5.
XVI
Auseinandersetzung der Haushaltsgegenstände . . . . . . Arbeitshinweise (Checkliste) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff der „Haushaltsgegenstände“ . . . . . . . . . . . . . . . Eigentumsverhältnisse an den Haushaltsgegenständen Endgültige Überlassung nach § 1568b BGB . . . . . . . . .
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925 925 926 927 928
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936 955
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959 959 960 960 965 969
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924
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Inhaltsübersicht Seite
6. Besonderheiten bei Überlassung während des Getrenntlebens 7. Ansprüche aus außergerichtlicher Einigung der Beteiligten . . . 8. Durchsetzung des Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
973 976 977
Kapitel 8 Gewaltschutz (Viethen) I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
986
II. Arbeitshinweise (Checkliste) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
987
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988 988
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988 992
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993 993
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994 996 997
I. Arbeitshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Arbeitstechnik bei Trennung und Scheidung . . . . . . . . . . . . . . 2. Typische Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1004 1004 1005
II. Einführung, vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten, Verfügungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfügungsbeschränkung bei Gesamtvermögensgeschäften
1005 1005 1008 1015
III. Materielles Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Maßnahmen bei Verletzung besonders geschützter Rechtsgüter sowie unzumutbarer Belästigungen . . . . . . . . . . . . . . 3. Wohnungszuweisung nach dem GewSchG . . . . . . . . . . . . . IV. Verfahrensrechtliche Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gerichtliches Verfahren und Durchführung von Entscheidungen nach dem GewSchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einstweilige Anordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Besonderheiten bei Vergleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 9 Eheliches Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft (Zimmermann)
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XVII
Inhaltsübersicht Seite
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1018 1018 1023 1027 1036
......... ......... .........
1045 1045 1045
.........
1047
V. Auskunftsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auskunftsansprüche über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auskunftsansprüche über das Anfangsvermögen und das Endvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Umfang, Art, Form und Gegenstand der Auskunftsansprüche .
1072
III. 1. 2. 3. 4.
Berechnungsgrundsätze, Anfangs- und Endvermögen Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichtagsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfangsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV. Vermögensbegriff, Verbindlichkeiten und einzelne Vermögensgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vermögensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einzelne Vermögensgegenstände des Anfangs- und Endvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1072 1074 1077
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1081 1081 1083 1088
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1092 1093 1100
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1102 1103
...
1104
I. Arbeitshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1108
II. Typische Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1110
VI. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Zugewinnausgleichsforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ermittlung des Zugewinns eines Ehegatten . . . . . . . . . . . . Ermittlung der Ausgleichsforderung und Kappungsgrenze Anrechnung von Vorausempfängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenstand der Ausgleichsforderung und Ausnahme nach § 1383 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelheiten der Ausgleichsforderung . . . . . . . . . . . . . . . . Verjährung der Ausgleichsforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherung des künftigen Zugewinnausgleichsanspruchs durch Arrest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anspruch gegen Dritte, § 1390 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorzeitiger Zugewinnausgleich und vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . .
Kapitel 10 Nebengüterrecht (Stieghorst)
XVIII
Inhaltsübersicht Seite
III. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1111
IV. 1. 2. 3. 4.
1113 1113 1114 1117
5. 6. 7. 8. 9. 10.
Ausgleichsansprüche der Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückgewähr von Zuwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuwendungen in der Verlobungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuwendungen/Schenkungen an Schwiegerkinder oder Schwiegereltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verjährung und steuerliche Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgleich von Arbeitsleistungen, Dienstleistungen und Mitwirkung an der Vermögensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . Konten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuererstattungen von Eheleuten aus gemeinsamer Veranlagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pkw und Pkw-Kredite einschließlich Schadenfreiheitsrabatt
1117 1120 1121 1125 1129 1133 1136
V. Neuregelung der Immobiliennutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Immobilien im Eigentum der Eheleute . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gemietete Immobilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1137 1137 1139
VI. Ehegatteninnengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auseinandersetzungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1142 1143 1146
VII. Schadensersatzansprüche zwischen Ehegatten . . . . . . . . . . .
1148
VIII. Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1150
Kapitel 11 Versorgungsausgleich (Norpoth) I. Arbeitshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1157
II. Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1158
III. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1158
IV. Grundlagen des Versorgungsausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ziel und Zweck des Versorgungsausgleichs . . . . . . . . . . . . . 2. Gründe und Ziele der Gesetzesänderung . . . . . . . . . . . . . . .
1160 1160 1161
XIX
Inhaltsübersicht Seite
3. Gang des Gesetzgebungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnis des Versorgungsausgleichs zu Güterrecht und Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1163
V. 1. 2. 3.
1164 1165 1167 1169
Erste Schritte zur Durchführung des Versorgungsausgleichs Auszugleichende Anrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ermittlung des Ehezeitanteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgleichswert und korrespondierender Kapitalwert . . . . . .
VI. Die auszugleichenden Anrechte und ihre Wertermittlung 1. Gesetzliche Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beamtenversorgung und Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Berufsständische Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Betriebliche Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Private Alters- und Invaliditätsversorgungen . . . . . . . . . .
1164
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1172 1172
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1184 1197 1198 1213
VII. Durchführung des Versorgungsausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wertausgleich bei Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausgleich nach der Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1220 1220 1247
VIII. Einfluss grober Unbilligkeit auf den Versorgungsausgleich, § 27 VersAusglG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. § 27 VersAusglG als lex specialis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriff der groben Unbilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mögliche Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1259 1260 1260 1262 1262
IX. Sonderregelungen, insbesondere für Härtefälle . . . . . . . . . . . 1. Sonderregelungen wegen unbilliger Härten, §§ 32 ff. VersAusglG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weitere Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1265 1265 1275
X. Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich . . . . . . . . . . . . . 1. Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anlässe für Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich . . . .
1275 1276 1277
XI. 1. 2. 3.
XX
Abänderung der Entscheidungen und Vereinbarungen Versorgungsausgleich bei Scheidung . . . . . . . . . . . . . . Wertausgleich nach Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich . . . . . . . .
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1280 1281 1284 1286
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XII. Versorgungsausgleich bei Auslandsberührung . . . . . . . . . . . 1. Versorgungsausgleich bei Scheidung von Nichtdeutschen . . 2. Einbeziehung ausländischer Anrechte in den deutschen Versorgungsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1287 1287 1288
XIII. Anwendung des VersAusglG auf Lebenspartnerschaften (Art. 12 VAStrRefG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1290
XIV. 1. 2. 3.
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1291 1291 1294 1297
Übergangsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laufende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgetrennte und ausgesetzte Verfahren . . . . . . . . . . . . Verfahren nach den §§ 4–10 VAHRG aF . . . . . . . . . . . . Rentner- und Pensionärsprivileg . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergangsrecht für Abänderungsverfahren . . . . . . . . . Vorbehaltener schuldrechtlicher Versorgungsausgleich Übergangsrecht für Altfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1303 1303 1304 1306 1307 1307 1312 1313
XVI. Schaubild zum Versorgungsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . .
1314
XVII. Schaubild zum Übergangsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1315
XV. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informationsbeschaffung und Auskunftsrechte Ergänzende Regelungen zum Verfahren . . . . . . Tenorierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 12 Verfahrensrecht (Kühner) I. Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1320
II. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Familiensachen, § 111 FamFG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Familienstreitsachen, § 112 FamFG . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1320 1321 1322
III. Zuständigkeitsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Örtliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1324 1324 1338
IV. Allgemeine Vorschriften in FG-Familiensachen . . . . . . . . . 1. Beteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1355 1355
XXI
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1360 1361 1362 1362
Verfahren im ersten Rechtszug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahrenseinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bevollmächtigte/Verfahrensvollmacht . . . . . . . . . . . . . . Akteneinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amtsermittlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweiserhebung zur Sachverhaltsaufklärung . . . . . . . . . Vorbereitung der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beendigung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit eines Beschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formelle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahrenskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schematische Darstellung der Familiensachen und ihrer Zuordnung im familiengerichtlichen Verfahren . . . . . . .
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1363 1363 1365 1366 1366 1368 1370 1372 1376 1377 1377
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1379
VI. Verfahren in Ehesachen, Scheidungs- und Folgesachen . . . . . 1. Allgemeine Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einleitung und Ablauf des Ehescheidungsverfahrens . . . . . .
1380 1380 1380
2. 3. 4. 5. V. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Verfahrensfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bekanntgabe; formlose Mitteilung . . . . . . . Fristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antragsrücknahme; Beendigungserklärung .
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1389 1389 1389 1390 1395 1396
Verfahren in Familiensachen außerhalb des Verbunds Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einstweiliger Rechtsschutz nach dem FamFG . . . . . . Einstweilige Verfügung und Arrest . . . . . . . . . . . . . . . Isolierte Hauptsacheverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abänderung von Unterhaltstiteln . . . . . . . . . . . . . . . . Vollstreckungsabwehrverfahren gem. § 767 ZPO . . . .
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1405 1405 1406 1433 1435 1474 1499
IX. Rechtsmittel und Rechtsbehelfe in Familiensachen . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anfechtung von Endentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1499 1499 1501
VII. 1. 2. 3. 4. 5. VIII. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
XXII
Verbund von Scheidungs- und Folgesachen . Überblick Verbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eintritt des Verbunds . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen des Verbunds . . . . . . . . . . . . Beendigung des Verbunds . . . . . . . . . . . . . .
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1529 1533 1536 1539
X. Anwaltszwang in Familiensachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfahren ohne Anwaltszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahren mit Anwaltszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1540 1540 1541
XI. Übergangsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1542
3. 4. 5. 6.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . . . . . . . . . . Rechtsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfechtung von Zwischen- und Nebenentscheidungen Anhörungsrüge; Gegenvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 13 Die nichteheliche Lebensgemeinschaft (Caspary) I. Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1545
II. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1545
III. Rechtslage während des Bestehens der nichtehelichen Lebensgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertretung und Vollmachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mietrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schadensersatzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Versicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Arbeitsrecht/Dienstrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Ausländerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1547 1547 1549 1552 1554 1557 1560 1564 1566 1571 1572 1573
IV. Rechtslage nach Auflösung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vermögensauseinandersetzung . . . . . . . . . . . . 2. Dienst- und Arbeitsleistungen . . . . . . . . . . . . . 3. Schulden und Bürgschaften . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kraftfahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bankkonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1575 1576 1588 1590 1593 1594
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XXIII
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6. Wohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Hausrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Partner und Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1595 1598 1601
Kapitel 14 Anwaltsvergütung und Verfahrenskostenhilfe (Teubel) I. Arbeitshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1605
II. Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1606
III. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wirtschaftliche Gesichtspunkte bei der Bearbeitung von Familiensachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vergütungsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besonderheiten bei der Berechnung der gesetzlichen Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1. 2. 3. 4. 5.
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1607
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1607 1609
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1615
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1621 1621 1625 1627 1630
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1633
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1635 1635 1641 1647 1649 1652 1653 1653 1654 1654
VI. Vorläufiger Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einstweilige Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorläufige Anordnungen, einstweilige Verfügungen . . . . . . . .
1655 1655 1657
V. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Außergerichtliche Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratung, § 34 RVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außergerichtliche Vertretung, VV Nr. 2300 . . . . . . . . . . . . . Bestimmung der angemessenen Gebühr nach § 14 RVG . . . Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr Ersatzpflicht des Gegners für den nicht anrechenbaren Teil der Geschäftsgebühr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gerichtliche Verfahren . . . . . . . . . . . Ehesachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versorgungsausgleich . . . . . . . . . . . . Sorgerechtssachen . . . . . . . . . . . . . . . Umgangsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindesherausgabe . . . . . . . . . . . . . . . Ehewohnungs- und Haushaltssachen Gewaltschutzsachen . . . . . . . . . . . . .
XXIV
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1657 1657 1657 1659 1659 1660
VIII. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gegenstandswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gebührensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1661 1661 1662
VII. 1. 2. 3. 4. 5.
Verbundabrechnung . . . . . . . . . . . . . . Gegenstandswert . . . . . . . . . . . . . . . . Gebührensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahrenskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . Unechte Abtrennung und Verbindung Echte Abtrennung und Verbindung . . .
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1671 1671 1675
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1676
XI. Beratungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1676
XII. Gerichtskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1678
IX. 1. 2. 3. 4. 5. 6. X. 1. 2. 3.
Einigung . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergütungstatbestände . . . . . . Einigungsgebühr . . . . . . . . . . . Gegenstandswert der Einigung Betriebsgebühr . . . . . . . . . . . . Gebührensätze . . . . . . . . . . . . Aussöhnungsgebühr . . . . . . . .
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Verfahrenskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe . . . . . . . Ansprüche gegen eigene Partei . . . . . . . . . . . . . Differenz zwischen Wahlanwaltsgebühren und VKH-Gebühren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 15 Ehe-, Trennungs- und Scheidungsfolgenvereinbarungen (Borth) I. Rechtliche Grundlagen von Vereinbarungen im Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grenzen der Dispositionsfreiheit – Grundlagen der Inhaltskontrolle von Eheverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick über die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1683 1684 1684 1684
XXV
Inhaltsübersicht Seite
3. Die Rechtsprechung des BGH zum Kernbereich von Scheidungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vereinbarungen zum Unterhalt – Grundlagen . . . . . . . . . 1. Vereinbarungen zum Unterhalt bei Ehegatten . . . . . . . . . 2. Formbestimmungen bei Vereinbarungen zum Ehegattenunterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vereinbarungen zum Verwandten-, insbesondere Kindesunterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1691 1691
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1693
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IV. Vereinbarungen zum Unterhalt – Vertiefung . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen, Abgrenzung zu vertraglichen Unterhaltsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhalt und Grenzen von Vereinbarungen – Vertragsanpassung – Wegfall der Geschäftsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anpassung an geänderte höchstrichterliche Rechtsprechung 4. Auslegung von Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wertsicherungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Abgrenzung zu Leibrentenregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Grenzen der Vertragsfreiheit/Zulässigkeit des Verzichts auf nachehelichen Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folgen des Verzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kein Vertrag zulasten Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Inhaltskontrolle bei Eheverträgen zum nachehelichen Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umfang der Wirksamkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirkungen der Ausübungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auswirkungen der Ausübungskontrolle auf die Tatbestände zum Betreuungsunterhalt und Aufstockungsunterhalt . . . . . 5. Ausschluss des Betreuungsunterhalts nach § 1570 BGB . . . . 6. Ausschluss des Altersunterhalts nach § 1571 BGB sowie des Krankheitsunterhalts nach § 1572 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Unterhalt bis zur Erlangung einer angemessenen Erwerbstätigkeit nach § 1573 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Weitere Unterhaltstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Inhaltskontrolle zugunsten eines Unterhaltspflichtigen . . . .
XXVI
1687
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1700
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1700
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1714 1716
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Inhaltsübersicht Seite
11. Heilung eines nichtigen Ehevertrags bei Begrenzung des Betreuungsunterhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Inhaltskontrolle bei Scheidungsfolgenvereinbarungen . . 13. Belehrung nach § 17 BeurkG, salvatorische Klausel und Inhaltskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Wirksamkeit eines Verzichts bei Ausgleichsleistungen . 15. Zeitliche Begrenzung der Inhaltskontrolle? . . . . . . . . . . . VII. Weitere Fragen zum Abschluss von Unterhaltsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abfindung des nachehelichen Unterhalts . . . . . . . . . . 2. Reichweite einer Vereinbarung im einstweiligen Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einbeziehung des Kindesunterhalts . . . . . . . . . . . . . . VIII. 1. 2. 3. 4. 5. IX. 1. 2. 3. 4. X. 1. 2. 3. 4.
1724 1725
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1727 1728 1729
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1730 1730
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1731 1731
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1732 1732 1732 1733 1735 1736
Ehevertragliche Gestaltungsmöglichkeiten im Güterrecht . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vereinbarungen zum Anfangs- und Endvermögen . . . . . . . . Gütertrennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1738 1738 1739 1741 1742
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1742 1742 1744 1745
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1748
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1748
Vereinbarungen zum Güterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vereinbarungen zum Zugewinn gem. §§ 1372 ff. BGB Gütertrennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formbestimmungen bei Vereinbarungen . . . . . . . . . . Wirksamkeit von Eheverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regelungsbereich von Vereinbarungen . . . . . . . . . . . Allgemeine Inhaltskontrolle, Wegfall der Geschäftsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Risiken bei Vereinbarung des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI. 1. 2. 3.
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Ausschluss des Versorgungsausgleichs durch Ehevertrag Wirksamkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausübungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschluss des Versorgungsausgleichs in der Beschlussformel der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1750 1750 1751
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1752 XXVII
Inhaltsübersicht Seite
XII. Beispiele zur Gestaltung von Vereinbarungen im Versorgungsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vereinbarung beim Ausgleich von Beamtenversorgungen und privater Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verrechnung einer vermögensrechtlichen Forderung der ausgleichspflichtigen Person mit deren Beamtenversorgung . . .
1755
XIII. Vereinbarungen zur Ehewohnung und zu Haushaltsgegenständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1756
XIV. Billigung eines Vergleichs zur Umgangsbefugnis . . . . . . . . .
1759
XV. Weitere Fälle nichtiger Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abkaufen der Scheidungsbereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Elterliche Sorge und Umgang mit dem Kind als Handelsobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1760 1760
XVI. Verfahrensrechtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auskunft und Inhaltskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit eines Ehevertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1753 1753 1754
1760 1761 1761 1761
Kapitel 16 Internationales Familienrecht (Niethammer-Jürgens) I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1765
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1766
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1766
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1771 1774
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1777
III. Güterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Internationale Zuständigkeit für güterrechtliche Auseinandersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auf die güterrechtliche Auseinandersetzung anwendbares Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1780
II. Ehescheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Internationale Zuständigkeit zur Durchführung eines Ehescheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auf die Ehescheidung anwendbares Recht (Scheidungsstatut) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Ehesachen 4. Die „europäische Ehescheidung“ – das europäische Kollisionsrecht in Ehesachen (Rom III) . . . . . . . . . . . . . . . .
XXVIII
1780 1780
Inhaltsübersicht Seite
3. Anerkennung und Vollstreckung ausländischer güterrechtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der deutsch-französische Wahlgüterstand . . . . . . . . . . . . . . .
1783 1783
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1784
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1784 1789
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1793 1797
V. Ehewohnungs- und Haushaltssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Internationale Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auf Ehewohnungs- und Haushaltssachen anwendbares Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1797 1797
IV. Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Internationale Zuständigkeit zur Durchführung eines Unterhaltsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auf Unterhaltsverfahren anwendbares Recht . . . . . . . 3. Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Unterhaltstitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Internationale Rechtshilfe in Unterhaltssachen . . . . .
1798
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1799
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1800
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1804 1805
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1807
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1809 1810 1811
VII. Internationale Kindesentziehung – HKÜ . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes zum Zeitpunkt der Entziehung oder des Zurückhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sorge und/oder Mitsorgeberechtigung des zurückgebliebenen Elternteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Tatsächliche Ausübung des Sorgerechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ausnahmetatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verfahren bei Entziehungen ins Inland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Verfahren bei Entziehungen aus der Bundesrepublik Deutschland in einen Vertragsstaat des HKÜ . . . . . . . . . . . . .
1812 1812
VI. Elterliche Sorge/Umgang/Elterliche Verantwortung . . . . 1. Internationale Entscheidungszuständigkeit in Verfahren über die elterliche Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Internationale Zuständigkeit in Verfahren über die elterliche Verantwortung außerhalb des Anwendungsbereichs der Brüssel IIa-VO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das anwendbare Recht in Kindschaftssachen . . . . . . . . . . 4. Anerkennung ausländischer Entscheidungen über die elterliche Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vollstreckung und Durchsetzung inländischer Entscheidungen zur elterlichen Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . 6. Abänderung ausländischer Entscheidungen . . . . . . . . . . . 7. Vollstreckung ausländischer Entscheidungen . . . . . . . . .
1813 1814 1815 1816 1820 1828
XXIX
Inhaltsübersicht Seite
8. Vorgehen bei Entziehungen aus der Bundesrepublik Deutschland in einen Nichtvertragsstaat des HKÜ . . . . . . . . 9. Vorbeugende Maßnahmen und Verhinderung einer Entziehung aus der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . 10. Umgangsersuchen gem. Art. 21 HKÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Versorgungsausgleichsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Internationale Zuständigkeit für die Durchführung des Versorgungsausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auf das Versorgungsausgleichsverfahren anwendbares Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einzubeziehende Anwartschaften . . . . . . . . . . . . . . . . .
1829 1830 1832
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1832
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1832
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1833 1834
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1835
XXX
Abkürzungsverzeichnis AdÜbAG
AdVermiG
AdWirkG
AFG AG AGS AHB ALG AltvFö/SGBIIIÄndG
AltZertG
AnwBl AO ArbG AUG
AuslG AVAG
AVmG
BAföG BAG
Gesetz zur Ausführung des Haager Übereinkommens v. 29.5.1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption (AdoptionsübereinkommensAusführungsgesetz) Gesetz über die Vermittlung der Annahme als Kind und über das Verbot der Vermittlung von Ersatzmüttern (Adoptionsvermittlungsgesetz) Gesetz über Wirkungen der Annahme als Kind nach ausländischem Recht (Adoptionswirkungsgesetz) Arbeitsförderungsgesetz Amtsgericht Anwaltsgebühren spezial (Zeitschrift) Allgemeine Versicherungsbedingungen für die Haftpflichtversicherung Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte Gesetz zur Förderung der zusätzlichen Altersvorsorge und zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch Gesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorgeund Basisrentenverträgen (AltersvorsorgeverträgeZertifizierungsgesetz) Anwaltsblatt Abgabenordnung Arbeitsgericht Gesetz zur Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen im Verkehr mit ausländischen Staaten (Auslandsunterhaltsgesetz) Ausländergesetz Gesetz zur Ausführung zwischenstaatlicher Verträge und zur Durchführung von Verordnungen und Abkommen der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet der Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen (Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetz) Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens (Altersvermögensgesetz) Bundesausbildungsförderungsgesetz Bundesarbeitsgericht
XXXI
Abkürzungsverzeichnis
BarwertVO BAT BayObLG BB BBesG BeamtVG BeckRS BEEG BEG
BerHG
BErzGG BetrAVG BFH BGB BGBl BGH BGHZ BilMoG BKGG BORA BRAGO BRAK BRAK-Magazin BRAK-Mitteilungen BRAO BRRG Brüssel I-VO
XXXII
Barwertverordnung (aufgehoben durch Art. 23 VAStrRefG v. 3.4.2009, BGBl. I, S. 700) Bundesangestelltentarifvertrag, ersetzt seit 1.10.2005 durch TVöD (s. dort) Bayerisches Oberstes Landesgericht BetriebsBerater – Zeitschrift für Recht, Steuern und Wirtschaft Bundesbesoldungsgesetz Beamtenversorgungsgesetz Beck Rechtsprechung (online-Rechtsprechungsdatenbank) Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Bundesentschädigungsgesetz) Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz) Gesetz zum Erziehungsgeld und zur Elternzeit (Bundeserziehungsgeldgesetz) Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (Betriebsrentengesetz) Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz) Bundeskindergeldgesetz Berufsordnung für Rechtsanwälte Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte Bundesrechtsanwaltskammer Beilage zu BRAK-Mitteilungen Mitteilungen der Bundesrechtsanwaltskammer (Zeitschrift) Bundesrechtsanwaltsordnung Rahmengesetz zur Vereinheitlichung des Beamtenrechts (Beamtenrechtsrahmengesetz) VO Nr. 44/2001 v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
Abkürzungsverzeichnis
Brüssel IIa-VO
BSG BSHG BStBl
BtPrax BVerfG BVersTG
BVerwG BVG BWNotZ DAV DAVorm DB DepotG DGVZ DRiZ DRsp DRV DStR EGBGB EGMR EheG EheRG EheVO EigZulG EMRK ErbStG ESchG EStG ESÜ EuGHMR (EGMR)
Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates v. 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 Bundessozialgericht Bundessozialhilfegesetz (aufgehoben zum 1.1.2005) Bundessteuerblatt (Teil I – Veröffentlichungen des Bundesministeriums der Finanzen und der obersten Finanzbehörden der Länder; Teil II – Entscheidungen des Bundesfinanzhofs) Betreuungsrechtliche Praxis (Zeitschrift) Bundesverfassungsgericht Gesetz über die interne Teilung beamtenversorgungsrechtlicher Ansprüche von Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten im Versorgungsausgleich (Bundesversorgungsteilungsgesetz) Bundesverwaltungsgericht Bundesversorgungsgesetz Zeitschrift für das Notariat in Baden-Württemberg Deutscher Anwaltverein Der Amtsvormund (Zeitschrift) Der Betrieb (Zeitschrift) Gesetz über die Verwahrung und Anschaffung von Wertpapieren (Depotgesetz) Deutsche Gerichtsvollzieherzeitung Deutsche Richterzeitung Deutsche Rechtsprechung (Leitzahl, Blatt) Deutsche Rentenversicherung Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Europäischer Gerichshof für Menschenrechte Ehegesetz Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts s. Brüssel IIa-VO Eigenheimzulagengesetz Europäische Menschenrechtskonvention Erbschaftsteuer- und Schenkungsgesetzgesetz Gesetz zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz) Einkommensteuergesetz s. SorgeRÜ Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
XXXIII
Abkürzungsverzeichnis
EuGVÜ
EuGVVO EuUntVO
EuVTVO
FamFG
FamG FamGKG FamLeistG FamNamRG FamRÄndG
FamRB FamRBint FamRZ FF fG FG FGB-DDR FGG
FGG-RG
FPR FreizügG/EU FuR
XXXIV
Brüsseler Übereinkommen v. 27.9.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (konsolidierte Fassung in ABl. EG 1998 Nr. C 27/1) s. Brüssel I-VO VO Nr. 4/2009 v. 18.12.2008 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen VO Nr. 805/2004 v. 21.4.2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Familiengericht Gesetz über Gerichtskosten in Familiensachen Gesetz zur Förderung von Familien und haushaltsnahen Dienstleistungen Gesetz zur Neuordnung des Familiennamensrechts (Familiennamensrechtsgesetz) Gesetz zur Vereinheitlichung und Änderung familienrechtlicher Vorschriften (Familienrechtsänderungsgesetz) Der Familien-Rechts-Berater (Zeitschrift) Familien-Rechts-Berater international (Beilage zu FamRB) Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Forum Familien- und Erbrecht (Zeitschrift) freiwillige Gerichtsbarkeit Finanzgericht Familiengesetzbuch der DDR Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, aufgehoben durch Art. 112 G. v. 17.12.2008 (BGBl. I, S. 2586) Gesetz zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-Reformgesetz) Familie Partnerschaft Recht (Zeitschrift) Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU) Familie und Recht (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis
GenDG GewSchG GEZ GFK GKG GleichberG
GrEStG GRV GSiG
GVG HAdoptÜ
HAÜ HausrVO
HGB HinterlO
HKÜ (HKEntfÜ)
HÜK HUntProt
InfAuslR Info IntFamRVG
IPRax
Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz) Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen (Gewaltschutzgesetz) Gebühreneinzugszentrale Genfer Flüchtlingskonvention Gerichtskostengesetz Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts (Gleichberechtigungsgesetz) Grunderwerbsteuergesetz Gesetzliche Rentenversicherung Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsgesetz) Gerichtsverfassungsgesetz Haager Übereinkommen v. 29.5.1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption (Haager Adoptionsübereinkommen) s. HAdoptÜ Verordnung über die Behandlung der Ehewohnung und des Hausrats, aufgehoben durch Art. 2 G v. 6.7.2009, BGBl. I, S. 1696 Handelsgesetzbuch Hinterlegungsordnung, außer Kraft getreten zum 1.12.2010 (Art. 80 Abs. 2 G vom 23.11.2007, BGBl. I S. 2614, 2616) Haager Übereinkommen v. 25.10.1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung Haager Übereinkommen Protokoll über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht (Haager Unterhaltsprotokoll) v. 23.11.2007 Informationsbrief Ausländerrecht (Zeitschrift) also Informationen zum Arbeitslosenrecht und Sozialhilferecht (Zeitschrift) Gesetz zur Aus- und Durchführung bestimmter Rechtsinstrumente auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts (Internationales Familienrechts-Verfahrensgesetz) Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts (Zeitschrift)
XXXV
Abkürzungsverzeichnis
IPRspr
Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiete des internationalen Privatrechts (Zeitschrift)
JGG JR JRRspr
Jugendgerichtsgesetz Juristische Rundschau (Zeitschrift) Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts (Zeitschrift) Juristisches Büro (Zeitschrift) Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz
JurBüro JVEG KErzG KG KGReport KindPrax KindRG KiWoMaG KJHG KonsG KostO KSÜ
LG LPartG LPartÜG LSG LugÜ 2007
MDR MittBayNot MiZi
XXXVI
s. RelKErzG Kammergericht Berlin Schnelldienst zur Rechtsprechung des KG (1993–2009) Zeitschrift für die praktische Anwendung und Umsetzung des Kindschaftsrechts Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts (Kindschaftsrechtsreformgesetz) Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls Kinder- und Jugendhilfegesetz, jetzt SGB VIII Gesetz über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse (Konsulargesetz) Kostenordnung Haager Übereinkommen v. 19.10.1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (Haager Kinderschutzübereinkommen) Landgericht Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft (Lebenspartnerschaftgesetz) Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts Landessozialgericht Luganer Übereinkommen v. 30.10.2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilund Handelssachen Monatsschrift für Deutsches Recht Mitteilungen der Bayerischen Notarkammer Anordnung über Mitteilungen in Zivilsachen
Abkürzungsverzeichnis
MSA
MSÜ MuSchG
NÄG NJW NJWE-FER NJW-RR NJW-Spezial NStZ NVwZ NZA NZG OEG OLG OLGReport OLGZ OVG
Haager Übereinkommen v. 5.10.1961 über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (Haager Minderjährigenschutzabkommen) s. MSA Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter (Mutterschutzgesetz) Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen (Namensänderungsgesetz) Neue Juristische Wochenschrift NJW-Entscheidungsdienst Familien- und Erbrecht NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht Beilage zur NJW Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz) Oberlandesgericht Schnelldienst zur Rechtsprechung der Oberlandesgerichte (1991–2009) Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen 1965–1994 (zitiert nach Jahrgang, Seite) Oberverwaltungsgericht
PKH PStG PStRG PStV
Prozesskostenhilfe Personenstandsgesetz Gesetz zur Reform des Personenstandsrechts Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes
RelKErzG Rpfleger RRa RuStAG RVG
RVG-Letter RVGReport
Gesetz über die religiöse Kindererziehung Der Rechtspfleger (Zeitschrift) Reiserecht aktuell (Zeitschrift) Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz) Zeitschrift zum RVG ehem. BRAGOReport (Zeitschrift)
SG SGB I–XII
Sozialgericht Sozialgesetzbuch I bis XII
XXXVII
Abkürzungsverzeichnis
SorgeRÜ
StAG StAZ StGB StPO StVollzG SVG
SVRechGrV
Luxemburger Europäisches Übereinkommen v. 25.5.1980 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses Staatsangehörigkeitsgesetz Das Standesamt (Zeitschrift) Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Strafvollzugsgesetz Gesetz über die Versorgung für die ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und ihre Hinterbliebenen (Soldatenversorgungsgesetz) Verordnung über maßgebende Rechengrößen der Sozialversicherung (Sozialversicherungs-Rechengrößenverordnung)
TVöD
Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst
UÄndG 2007 UVG
Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts 2007 Gesetz zur Sicherung des Unterhalts von Kindern allein stehender Mütter und Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder -ausfallleistungen (Unterhaltsvorschussgesetz)
VAG
Gesetz über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen (Versicherungsaufsichtsgesetz) Gesetz zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich (aufgehoben durch Art. 23 VAStrRefG v. 3.4.2009, BGBl. I, S. 700) Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs Versorgungsausgleichs-Überleitungsgesetz (aufgehoben durch Art. 23 VAStrRefG v. 3.4.2009, BGBl. I, S. 700) Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder Verfassungsgerichtshof Gesetz über den Versorgungsausgleich Verschollenheitsgesetz Zeitschrift für Versicherungsrecht, Haftungs- und Schadensrecht Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Verfahrenskostenhilfe Verbraucherpreisindex Vergütungsverzeichnis zum RVG
VAHRG
VAStrRefG VAÜG
VBL VerfGH VersAusglG VerschG VersR VG VGH VKH VPI VV (RVG)
XXXVIII
Abkürzungsverzeichnis
VVG
Gesetz über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertragsgesetz)
WertV
Verordnung über Grundsätze für die Ermittlung der Verkehrswerte von Grundstücken Wohngeldgesetz Wohnungswirtschaft und Mietrecht (Zeitschrift)
WoGG WuM ZAP ZErb ZEV ZfS ZKM ZMR ZPO ZVG
Zeitschrift für die Anwaltspraxis Zeitschrift für die Steuer- und Erbrechtspraxis Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge Zeitschrift für Schadensrecht Zeitschrift für Konfliktmanagement Zeitschrift für Miet- und Raumrecht Zivilprozessordnung Gesetz über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung
XXXIX
Allgemeines Literaturverzeichnis (weitere Literaturhinweise finden sich am Anfang der einzelnen Kapitel)
I. Kommentare Bamberger/Roth, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3 Bände, 2. Aufl. 2008 Bassenge/Roth, FamFG – RPflG 12. Aufl. 2009 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 70. Aufl. 2012 (zitiert: Baumbach/Hartmann) Bäumel/Bienwald/Häußermann, Familienrechtsreformkommentar – FamRefK, 1998 (zitiert: FamRefK/Bearbeiter) Bork/Jacoby/Schwab, FamFG, 2009 (zitiert: Bork/Jacoby/Schwab/Bearbeiter) Dauner-Lieb/Heidel/Ring, Bürgerliches Gesetzbuch, 5 Bände, 2010–2012 (zitiert: NK-BGB/Bearbeiter) Erman, Bürgerliches Gesetzbuch, 13. Aufl. 2011 (zitiert: Erman/Bearbeiter) Gerold/Schmidt, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 19. Aufl. 2010 Hoppenz, Der reformierte Unterhalt, Kommentar des neuen und alten Rechts, 2008 Horndasch/Viefhues, FamFG, 2. Aufl. 2010 Johannsen/Henrich, Familienrecht – Scheidung, Unterhalt, Verfahren, Kommentar, 5. Aufl. 2010 (zitiert: Johannsen/Henrich/Bearbeiter) Keidel, FamFG, 17. Aufl. 2011(zitiert: Keidel/Bearbeiter) Kemper/Schreiber, Familienverfahrensrecht, Handkommentar, 2. Aufl. 2012 Münchener Kommentar zum BGB, 11 Bände, 5. und 6. Aufl. 2000–2012. (zitiert: MüKo.BGB/Bearbeiter) Münchener Kommentar zur ZPO, 4 Bände, 3. Aufl. 2007–2010 (zitiert: MüKo.ZPO/Bearbeiter) Musielak, Zivilprozessordnung mit Gerichtsverfassungsgesetz, 9. Aufl. 2012 (zitiert: Musielak/Bearbeiter) Musielak/Borth, Familiengerichtliches Verfahren – 1. + 2. Buch FamFG, 3. Aufl. 2012
XLI
Allgemeines Literaturverzeichnis
Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 71. Aufl. 2012 (zitiert: Palandt/Bearbeiter) Prütting/Helms, FamFG, 2. Aufl. 2011 (zitiert: Prütting/Helms/Bearbeiter) Schmidt, Einkommensteuergesetz, 31. Aufl. 2012 Schneider/Herget, Streitwertkommentar, 13. Aufl. 2011 Schulte-Bunert/Weinreich, FamFG, 3. Aufl. 2012 (zitiert: Schulte-Bunert/ Weinreich/Bearbeiter) Schulz/Hauß, Familienrecht (Handkommentar), 2. Aufl. 2012 (zitiert: HK-Familienrecht/Bearbeiter) Staudinger, BGB, 4. Buch Familienrecht, Neubearbeitung 2004–2007 (zitiert: Staudinger/Bearbeiter) Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2012 (zitiert: Thomas/Putzo/Bearbeiter) Weinreich/Klein, Fachanwaltskommentar Familienrecht, 4. Aufl. 2011 Winkler, Beurkundungsgesetz, 16. Aufl. 2008 Zöller, Zivilprozessordnung, 29. Aufl. 2012 (zitiert: Zöller/Bearbeiter)
II. Handbücher, Lehrbücher, Monographien Bergschneider, Verträge in Familiensachen, 4. Aufl. 2010 Borth, Unterhaltsrechtsänderungsgesetz, 2008 Borth, Versorgungsausgleich in anwaltlicher und familiengerichtlicher Praxis, 6. Aufl. 2011 Büte, Das Umgangsrecht bei Kindern geschiedener und getrennt lebender Eltern, 2. Aufl. 2005 Büttner/Niepmann/Schwamb, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 11. Aufl. 2010 Büttner/Wrobel-Sachs/Gottschalk/Dürbeck, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, 6. Aufl. 2012 Ehinger/Griesche/Rasch, Handbuch Unterhaltsrecht, 6. Aufl. 2010 Eschenbruch/Klinkhammer, Der Unterhaltsprozess, 5. Aufl. 2009 Finke/Ebert, Bonner Fachanwaltshandbuch für Familienrecht, 7. Aufl. 2010 Garbe/Oelkers, Praxishandbuch Familiensachen, Loseblatt Garbe/Ullrich, Verfahren in Familiensachen, 3. Aufl. 2012 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2009 Gerhardt/v. Heintschel-Heinegg/Klein, Handbuch des Fachanwalts Familienrecht: FA-FamR, 8. Aufl. 2011 (zitiert: FA-FamR/Bearbeiter) XLII
Allgemeines Literaturverzeichnis
Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010 Gießler/Soyka, Vorläufiger Rechtsschutz in Familiensachen, 5. Aufl. 2010 Göppinger/Börger, Vereinbarung anlässlich der Ehescheidung, 9. Aufl. 2009 Göppinger/Wax, Unterhaltsrecht, 9. Aufl. 2008 Graba, Die Abänderung von Unterhaltstiteln, 4. Aufl. 2011 Hausmann/Hohloch, Das Recht der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, 2. Aufl. 2004 Hauß/Eulering, Versorgungsausgleich und Verfahren in der Praxis, 2009 Haußleiter/Schulz, Vermögensauseinandersetzung bei Trennung und Scheidung, 5. Aufl. 2011 Heiß/Born, Unterhaltsrecht, Loseblatt, 40. Aufl. 2011 Hoppenz, Familiensachen, 9. Aufl. 2009 Kemper, Das neue Unterhaltsrecht, 2008 Koch, Handbuch des Unterhaltsrechts, 12. Aufl. 2012. Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, 3. Aufl. 2009 Kroiß/Seiler, Das neue FamFG, Erläuterungen – Muster – Arbeitshilfen, 2. Aufl. 2009 Langenfeld, Handbuch der Eheverträge und Scheidungsvereinbarungen, 6. Aufl. 2011 Madert/Müller-Rabe, Kostenhandbuch Familiensachen, 2001 Münch, Ehebezogene Rechtsgeschäfte – Handbuch der Vertragsgestaltung, 3. Aufl. 2011 Münchener Anwaltshandbuch Erbrecht, 3. Aufl. 2010 Münchener Anwaltshandbuch Familienrecht, 3. Aufl. 2010 Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2007 Oelkers, Sorge- und Umgangsrecht, 2. Aufl. 2004 Rahm/Künkel, Handbuch Familien- und Familienverfahrensrecht, Loseblatt, Stand 2012 Rauscher, Familienrecht, 2. Aufl. 2008 Scholz/Kleffmann/Motzer, Praxishandbuch Familienrecht, Loseblatt, 2012 Schulte-Bunert, Das neue FamFG, 2. Aufl. 2009 Schwab, Familienrecht, 19. Aufl. 2011 Schwab, Handbuch des Scheidungsrechts, 6. Aufl. 2010 Soyka, Das Abänderungsverfahren im Unterhaltsrecht, 3. Aufl. 2010 Soyka, Die Berechnung des Ehegattenunterhalts, 3. Aufl. 2012 Strohal/Viefhues, Das neue Unterhaltsrecht, 2008 XLIII
Allgemeines Literaturverzeichnis
Vorwerk, Das Prozessformularbuch, 9. Aufl. 2010 Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 8. Aufl. 2011 Wever, Vermögensauseinandersetzungen der Ehegatten außerhalb des Güterrechts, 5. Aufl. 2009 Wurm/Wagner/Zartmann, Das Rechtsformularbuch, 16. Aufl. 2011 Zimmermann, FamFG – Einführung in das familiengerichtliche Verfahren und die freiwillige Gerichtsbarkeit, 2. Aufl. 2011
XLIV
Kapitel 1 Das familienrechtliche Mandat Inhaltsübersicht I. Die Andersartigkeit des familienrechtlichen Mandats 1. Materiellrechtliche Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Psychologische Dynamik . . . . . II. Der Erstkontakt, die Erstberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Erstberatung . . . . . . . . . . . . . a) Kollisionsfragen, Parteiverrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Parteiverrat und Mediation . c) Gemeinsame Beratung von Scheidungs- und Trennungswilligen . . . . . . . . . . . . . d) Informationen der Erstberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Umfang der Erstberatung . . . 2. Check- und Arbeitslisten . . . . . 3. Entwicklung einer familienrechtlichen Strategie . . . . . . . . . a) Gesamtschuldnerische Verbindlichkeiten . . . . . . . . . b) Gemeinsame Immobilie . . . c) Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Umgangs- und Sorgerecht . . e) „Dirty Tricks“ . . . . . . . . . . . . 4. Anwaltliche Taktik . . . . . . . . . . a) Festsetzung realistischer Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Pflege eines sachlichen Stils aa) Der Trennungsstil . . . . . .
5. 1 5 7 8
6.
9 11 12
7.
15 19 25 27 28 30 31 32 37 42 44 50
8. 9.
bb) Der Sprachstil . . . . . . . . . . cc) Der Tatsachenvortrag . . . Anwaltliche Gesprächsführung a) Das Anwaltsgespräch . . . . . . b) Fixierung des Gesprächsergebnisses für Akte und Mandant . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Honorarfrage . . . . . . . . . . . . . a) Offenlegung der Vertretungstarife . . . . . . . . . . . . . . . . b) Streitwert- oder Stundenhonorar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gebührentransparenz . . . . . . Computer im Familienrecht a) Einsatz von familienrechtlichen Berechnungsprogrammen . . . . . . . . . . . . . . b) Einsatz der Tabellenkalkulation . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation mit dem Mandanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Anwaltssekretariat . . . . . . .
52 55 58 60 62 63 65 68
70 79 82 87
III. 1. 2. 3.
Außergerichtliche Tätigkeit . . . 90 Unterhaltsfragen . . . . . . . . . . . . . 92 Vermögensfragen . . . . . . . . . . . . . 97 Wohnungsfragen . . . . . . . . . . . . . 100 a) Mietwohnung . . . . . . . . . . . . . 103 b) Immobilie im Eigentum der Parteien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4. Elterliche Sorge und Umgang . . 107
Literaturverzeichnis: Becker/Eberhardt, Anwaltliche Mediation, gemeinsame Scheidungsberatung und Wahrnehmung widerstreitender Interessen, FS Schwab, 2005, 629; von Bracken, Die Rolle des Anwalts im Kinderschutzverfahren, FPR 2009, 579; Enders, Beratung in Sachen Unterhalt – Grenzen der Erstberatung, FuR 2003, 64; Gatzweiler/Schmülling, Die Problematik des Parteiverrats bei der Vertretung in familienrechtlichen Verfahren, FF 2000, 131; Groß, Vermittlungsauftrag, Vorgespräch, Grenze zum Parteiverrat – Fragen des Berufsrechts in der familienrechtlichen Praxis, FPR 2000, 136; Hartung, Die einverständliche Scheidung aus berufsrechtlicher Sicht, FF 2003, 156; Kuckenburg, Einkommensschätzung bei Selbständigen/Gewerbetreibenden, insbesondere bei Schwarzeinkünften im Unterhaltsrecht, FuR 2006, 255; Offermann-Burckart, Interessenkollision – Es bleibt dabei: Jeder Fall ist anders, AnwBl 2011, 809; Sarres, Grundlagen der Mandatspraxis, Neuwied 2003; Sarres, Mandatsannahme und Interessenkollision, FamRB 2011, 388; Sarres, Vorsorge gegen Risiken bei familienrechtlichen Mandaten, ZFE 2010,
Hauß
1
Kap. 1 Rn. 1
Das familienrechtliche Mandat
176; Schürmann, Die Entnahmen – Einblicke in die Lebensverhältnisse, FamRZ 2002, 1150; Wever, Die Entwicklung der Rechtsprechung zur Vermögensauseinandersetzung der Ehegatten außerhalb des Güterrechts, FamRZ 2003, 565.
I. Die Andersartigkeit des familienrechtlichen Mandats 1. Materiellrechtliche Komplexität 1
Das familienrechtliche Mandat unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom sonstigen anwaltlichen Mandat. Wem die Regulierung eines Wasserschadens in einem Mietverhältnis angetragen wird, der muss sich keinerlei Gedanken machen, ob durch die Regulierung der Arbeitsplatz des Auftraggebers, seine Stellung zum Hausratsversicherer und sein Alterseinkommen gefährdet werden. Wer die Rückabwicklung eines Kaufvertrags übernimmt, wird mit dem Mandanten idR nicht erörtern, welche steuerlichen Auswirkungen die erfolgreiche Prozessvertretung haben wird.
2
Im Familienrecht ist das anders. Wer die anwaltliche Vertretung von Trennungs- und Scheidungsfällen übernimmt, begibt sich in ein komplexes System wechselseitiger Abhängigkeiten, das neben den zivilrechtlichen Ausgleichssystemen Unterhalt, Zugewinnausgleich, Versorgungsausgleich, Hausratsteilung und dem Gesamtschuldnerausgleich fast regelmäßig auch das Steuer- und Sozialrecht umfasst. Daneben sind psychische Komponenten der Beteiligten zu respektieren und in das anwaltliche Kalkül einzubeziehen. Wenn es daher richtig ist, dass sich Komplexität durch eine Vielzahl von Variablen und einen hohen Grad an wechselseitiger Abhängigkeit auszeichnet, dann ist das familienrechtliche Mandat hochkomplex.
3
Im praktischen Alltag wird die Komplexität des familienrechtlichen Mandats nicht immer respektiert. Zu groß scheint die Versuchung zu sein, die angetragene Vertretung auf den angetragenen Verfahrensgegenstand zu beschränken und die bestehenden Abhängigkeiten zu anderen Konflikten der Parteien zu übersehen. Folgendes Beispiel mag dies erläutern: F trennt sich von M, dessen Zahnarztpraxis sie 10 Jahre lang als geringfügig Beschäftigte mit aufgebaut hat. Nach der Trennung verlangt sie für die letzten vier Jahre 30 000 Euro Lohn, weil sie statt geringfügig tatsächlich vollschichtig als Praxishelferin gearbeitet habe. M bestreitet dies. Tatsächlich hat das Verfahren praktisch dann keinen Nutzen für die Parteien, wenn bei M ein ausgleichspflichtiger Zugewinn vorläge. Dränge F mit ihrer Forderung durch, würde sich in Höhe ihrer Brutto-Gehaltsforderung zzgl. des Arbeitsgeberanteils auf die Sozialabgaben der Zugewinn des M vermindern, gleichzeitig vergrößerte sich der Zugewinn der F um ihren Nettolohnanspruch. Die Erhöhung ihrer Rentenbeiträge verminderte ihren Versorgungsausgleichsanspruch. Für F bliebe die Durchsetzung ihres Entgeltanspruchs also ein glatter Pyrrhus-Sieg. Sie würde ihre Entgeltforderung mit einer Verminderung ihrer familienrechtlichen Ausgleichsforderung selbst finanzieren. Die Nachzahlung von Arbeitslosenbeiträgen würde sogar noch ihre Unterhaltsforderung ggf. vermindern.
2
Hauß
Das familienrechtliche Mandat
Rn. 7
Kap. 1
Gleichzeitig geriete ein so eröffnetes Trennungs- und Scheidungsverfahren auch psychologisch in schweres Gewässer, müsste M sich doch verhement gegen den Anspruch der F wehren, um nicht Buß- oder gar Strafgelder zu riskieren.
Wer familienrechtliche Mandate nur eindimensional, streng konzentriert auf den jeweiligen Verfahrensgegenstand betreibt, vertritt vielleicht seine eigenen Interessen, nicht aber die seines Mandanten. Dieser hat einen legitimen Anspruch darauf, vom Anwalt seiner Wahl mit Weit- und Umsicht beraten und vertreten zu werden, und dazu gehört, dass der Anwalt die Vieldimensionalität des familienrechtlichen Mandats stets vor Augen hat.
4
2. Psychologische Dynamik Nicht nur die materiellrechtliche Vielschichtigkeit des familienrecht- 5 lichen Mandats gilt es jedoch zu begreifen. Ebenso wichtig ist es, die psychologische Dynamik des Trennungs- und Scheidungsprozesses zu erkennen und im anwaltlichen Handeln zu reflektieren. Anwälte sind keine Psychologen und Psychotherapeuten, und sie sollten sich hüten, deren Part zu übernehmen. Familienrechtlich tätige Anwältinnen und Anwälte müssen aber wissen, dass sie von der ersten Sekunde der Vertretung eines familienrechtlichen Mandats Teil eines Systems von Enttäuschungen und Verletzungen werden. Will man nicht zum Racheengel oder zu ‚his masters voice‘ werden, muss man auch der eigenen Mandantschaft stets offenlegen, dass die Heilung von trennungs- oder ehebedingten Verletzungen nicht Sache des Rechts ist. Der Mandant zahlt die Gebühr nicht für anwaltliches Mitgefühl und Solidarität, sondern für lösungsorientiertes Konfliktmanagement. Dies bedeutet auch, dass der Anwalt seinem Mandanten widersprechen muss, wenn der Mandant die unterschiedlichen Ebenen der Aufbereitung der Beziehungskonflikte unzulässig vermengt oder vom Anwalt ein Vorgehen erwartet, das nicht geeignet ist, den Interessen des Mandanten zu dienen. Die Mandanten sind für einen solchen Widerspruch meist nicht nur emp- 6 fänglich, sondern sogar dankbar. Es ist daher dem Anwalt auch nur zu empfehlen, dem Mandanten seine Strategie zu erläutern und hartnäckig zu verteidigen. Zuspruch kann der Mandant am Stammtisch und beim Therapeuten einfordern und erwarten. Beim Anwalt erwartet er Rat. Wer als Anwalt diese verschiedenen Ebenen nicht beachtet, sollte keine familienrechtlichen Mandate übernehmen.
II. Der Erstkontakt, die Erstberatung Zwischen Mandant und Anwalt kommt es bei der Erstberatung zum ers- 7 ten Kontakt. Jeder Anwalt muss aber wissen, dass dieser Erstkontakt für den Mandanten nahezu nie die „erste Beratung“ ist. Beratungsquellen sind Freunde und Bekannte, Internet, Zeitungen und Zeitschriften. Die Qualität derartiger Berater ist unterschiedlich. Regelmäßig sind Freunde Hauß
3
Kap. 1 Rn. 8
Das familienrechtliche Mandat
und Bekannte die schlechtesten Berater und fast ebenso regelmäßig liefert die Informationsquelle Internet verlässliche Informationen. Der Laie bewertet die ihm über das Internet zugänglichen Informationen für seinen Fall jedoch oftmals falsch. Das sollte den Anwalt aber nicht dazu verleiten, die von den Mandanten organisierten Internetinformationen zurückzuweisen. Die bei Mandanten vorliegende Betroffenheit führt oftmals dazu, dass mit Bienenfleiß alle zugänglichen Informationen beschafft werden. Da das Familienrecht in der Internet-Rechtsberatung einen großen Platz einnimmt, sollte der Anwalt die vom Mandanten beschafften Informationen zu Rechtsthemen sorgfältig prüfen. Immer wieder stoßen die Parteien in Foren auf auch für den Fachmann neue Entscheidungen oder „ergoogeln“ erstaunlich präzise Informationen. 1. Die Erstberatung 8
IdR geht der Erstberatung eine telefonische Terminvereinbarung voraus. Welche Informationen beim telefonischen Erstkontakt ausgetauscht werden und wer den telefonischen Erstkontakt führt, das Sekretariat oder der Anwalt, ist Geschmackssache. Ein gut aus- und ständig weitergebildetes Sekretariat wird beim Erstkontakt immer erfragen: – Namen und Telefonnummer des Mandanten – Namen der gegnerischen Partei – Beratungsthema a) Kollisionsfragen, Parteiverrat
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Diese Informationen sind idR ausreichend, um eine Kollisionsprüfung vorzunehmen1. Dabei versteht sich von selbst, dass im Fall einer unmittelbaren Kollision eine Vertretung unmöglich und daher abzulehnen ist. Schwieriger sind die Fälle der mittelbaren Kollision. Darunter sind die Fälle zu verstehen, in denen – wie oftmals im Familienrecht – die Vertretung des Interesses des einen Familienmitglieds auch die Interessen des anderen tangiert. Wer die Mutter volljähriger Kinder vertritt, gerät in Schwierigkeiten, wenn er auch die Interessen der Kinder gegen den Vater vertritt. Steht doch den Volljährigen ein Unterhaltsanspruch gegen beide Eltern zu, so dass auch die unterhaltsrechtliche Beteiligungsquote der Mutter zu bestimmen ist. In welchem Umfang insoweit Einkommen anzurechnen ist oder eine Finanzierung des Unterhaltsanspruchs aus dem Familienunterhalt der neuen Familie zu diskutieren ist, kann schwierig abzugrenzen sein. Die Rechtsprechung sieht in diesen Fällen idR einen Kollisionsfall zu Unrecht nicht gegeben2. Die Vertretung der Interessen volljähriger Kinder gegen beide Eltern bringt immer die Gefahr mit sich, in einen Interessen- und Loyalitätskonflikt mit dem vertretenen Eltern1 Dazu ausführlich Sarres, FamRB 2011, 388; Sarres ZFE 2010, 176; instruktiv: Offermann-Burckart, AnwBl. 2011, 809. 2 Dazu: Gatzweiler/Schmülling, FF 2000, 131; Groß, FPR 2000, 136.
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Hauß
Das familienrechtliche Mandat
Rn. 12
Kap. 1
teil zu geraten. Aus diesem Grund kann nur davon abgeraten werden, volljährige Kinder neben einem Elternteil zu vertreten. Noch gravierender ergeben sich Kollisionsfragen bei der Vertretung zwei- 10 er unterhaltsberechtigter Gatten. Hat ein früherer Ehegatte einen titulierten Unterhaltsanspruch gegen einen Unterhaltspflichtigen und ist dieser einem Unterhaltsanspruch eines weiteren Gatten ausgesetzt, wird der Anwalt, ohne in den Geruch des Parteiverrates zu geraten, kaum auf den Unterhaltsanspruch des ersten Gatten verzichten können, wenn er auch den zweiten Gatten in dessen Unterhaltsanspruch vertritt. Wenn derartige Fälle gleichwohl in der Praxis auftreten, dann offenbaren sie einen bedenklichen Umgang mit standesrechtlichen Grundsätzen. Der böse Schein ist zu vermeiden. b) Parteiverrat und Mediation Auch dem Mediator drohen Gefahren, wenn er nach einem Mediationsver- 11 fahren einen der Gatten anwaltlich vertritt1. Zwar ist entschieden, dass ein Rechtsanwalt, der zunächst beide Eheleute aufgrund deren gemeinsamen Auftrags ausschließlich über die Voraussetzungen und die Herbeiführung der von beiden Eheleuten übereinstimmend gewollten einverständlichen Scheidung ihrer Ehe sowie über den Unterhaltsanspruch beraten und den Unterhaltsanspruch berechnet hat, nicht pflichtwidrig i.S.d. § 356 Abs. 1 StGB handelt, wenn er später einen der Ehepartner vertritt und dessen Unterhaltsanspruch geltend macht2, die Entscheidung ist jedoch problematisch3. Richtigerweise wird ein Mediator nach erfolgreicher Mediation ebenso wenig einen der Gatten anwaltlich vertreten wie nach erfolgloser Mediation. c) Gemeinsame Beratung von Scheidungs- und Trennungswilligen Immer wieder kommt es in der Praxis dazu, dass Ehegatten gemeinsam beim Anwalt erscheinen, um sich gemeinsam über eine „einverständliche Scheidung“ beim „gemeinsamen Anwalt“ zu beraten. Derartige Beratungen sollte der Anwalt nicht oder nur unter ganz besonderer Vorsicht führen. Grundsätzlich gibt es kaum eine Scheidung, in der keine widerstreitenden Interessen der Eheleute gegeben sind. Mögen auch die Trennungsund Scheidungsfolgen zwischen den Parteien bereits einvernehmlich geregelt sein, so wird man kaum übersehen können, dass Unterhaltsfragen und güterrechtliche Vereinbarungen der Parteien fast immer mit Wertungen verbunden sind, die zwischen den Parteien streitig werden können. Sinnvoller Weise lehnt der familienrechtliche Anwalt daher die gemeinsame Beratung von Parteien ab4. 1 2 3 4
Becker-Eberhardt, FS Schwab, 2005, 629. OLG Karlsruhe v. 19.2.2002 – 3 Ss 143/01, FamRZ 2003, 638. Hartung, Stellungnahme zu OLG Karlsruhe (FamRZ 2003, 638), FF 2003, 156. Sarres, Grundlagen, S. 10.
Hauß
5
12
Kap. 1 Rn. 13
Das familienrechtliche Mandat
13 In Ausnahmefällen kann jedoch eine Beratung durchgeführt werden. In diesen Fällen muss jedoch vom Anwalt vor der Beratung klargestellt werden, – welchen der Gatten der Anwalt im Scheidungsverfahren vertreten wird und – dass beim Auftauchen der ersten Anzeichen für eine nicht konsensuale Beratung die gemeinsame Besprechung beendet wird. Ein solches Vorgehen führt dazu, dass die Gatten mögliche Konfliktpunkte zwangsläufig erfahren, wenn die Beratung nämlich an einer solchen Stelle beendet wird. 14 Wird das mögliche Vertretungsverhältnis nicht vor Beginn der gemeinsamen Beratung festgelegt, bleibt dem Anwalt im Konfliktfall nichts anderes übrig, als das Mandat zu beenden. In diesem Fall wird auch der Gebührenanspruch des Anwalts problematisch. Der Anwaltsvertrag dürfte in diesen Fällen nichtig sein1, so dass ein Vergütungsanspruch nicht entsteht. d) Informationen der Erstberatung 15 Je nach Beratungsthema wird man den Mandanten bitten, weitere Informationen vor dem Termin beizubringen oder zum Beratungstermin mitzubringen: – Übersicht über die Bruttoeinkünfte der Gatten – Vermögensübersicht – Erwerbsbiographie der Gatten – Familienrechtliche Situation der Gatten – Übersicht über die beiderseitigen Versorgungen 16 Mehr braucht man für eine Erstberatung nicht. Lediglich wenn ein Scheidungsverfahren bereits anhängig ist oder eingeleitet werden soll, empfiehlt es sich, den Mandanten zu bitten, bereits beim Erstgespräch – das Original der Heiratsurkunde bzw. – besser noch – das gesamte Familienbuch sowie – Adressen und Versicherungsnummern der Altersversorgungen mitzubringen. 17 Als hilfreich hat es sich erwiesen, die von den Mandanten zu beantwortenden Fragen in einem Fragebogen zu erfassen und die Mandanten zu bitten, vor der Erstberatung den Fragebogen auszufüllen und dem beratenden Anwalt zugänglich zu machen. Es ist jedoch vielfach so, dass sich die Parteien durch die Ausfüllung eines solchen Fragebogens überfordert fühlen. Deswegen ist ein solcher Fragebogen immer eine Gratwanderung zwischen Vollständigkeit und Praktikabilität. Der nachfolgend (s. Rn. 25) 1 LG Hildesheim, 12.3.2004 – 7 S 264/04, FF 2006, 272 m. Anm. Schnitzler.
6
Hauß
Das familienrechtliche Mandat
Rn. 21
Kap. 1
wiedergegebene Fragebogen wird in meiner Praxis seit langem benutzt und hat sich als zumindest teilweise hilfreich erwiesen. Vielfach überfordert jedoch auch dieser einfache Fragebogen die Mandanten. Wer einen solchen Fragebogen nutzt, setzt sich selbst unter Zugzwang, 18 das Gespräch mit dem Mandanten vorzubereiten und die Informationen aus dem Fragebogen im Erstgespräch präsent zu haben. Gleichzeitig wird dadurch die Struktur des Erstberatungsgesprächs vorgegeben. e) Umfang der Erstberatung1 Die anwaltliche Erstberatung steht bei Anwälten in schlechtem Ruf. Unklar sind vielfach die Dimension und die Tiefe des Beratungsgesprächs. Letztendlich resultiert beides jedoch aus dem Gegenstand der Beratung selbst. Wer zum Anwalt geht, um sich über Trennung und Scheidung beraten zu lassen, will mindestens folgende Fragen geklärt haben:
19
– Rechtliche Voraussetzungen von Trennung und Scheidung – Unterhaltsfragen – Güterrechtliche Auseinandersetzung, Struktur des Vermögens des Mandanten – Schuldenstände – Versorgungsausgleichsrechtliche Auseinandersetzung – Sorge- und Umgangsrecht mit minderjährigen Kindern Dieser Beratungskatalog erscheint lang. Nicht immer können diese Fra- 20 gen genau und abschließend beraten werden. Sie müssen aber alle erörtert werden, weil ansonsten wichtige Weichenstellungen falsch erfolgen können, wodurch ein Schaden für den Mandanten entsteht. Dazu folgendes Beispiel: M kommt zur Erstberatung über Trennung und Scheidung und berichtet, Schulden iHv. ca. 50 000 Euro, eine private Rentenversicherung (Fortführungswert ca. 35 000 Euro) und ansonsten ehezeitliche Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung (350 Euro) zu haben. Seine Frau habe lediglich ehezeitliche Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung iHv. 78 Euro erworben.
Wer diesen Sachverhalt nicht durch Abfragen von Vermögens- und Versor- 21 gungspositionen aktiv aufklärt, erfüllt seinen Beratungsauftrag schlecht. M kann nämlich ohne weiteres die private Rentenversorgung in eine Kapitalversorgung umwandeln oder kündigen, um seine Verbindlichkeiten zu vermindern. Durch eine solche Umwandlung, die auch nach Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens2 und sogar noch nach Rechtskraft der Versorgungsausgleichsentscheidung möglich ist, würde M seine Verbindlichkeiten zurückführen, die ansonsten ggf. von ihm allein zu bedienen wären. 1 Enders, FuR 2003, 64. 2 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 53/98, FamRZ 2003, 664.
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Kap. 1 Rn. 22
Das familienrechtliche Mandat
22 Im Rahmen der Erstberatung wird es regelmäßig kaum möglich sein, güterrechtliche Fragen centgenau zu berechnen und zu beraten. Dazu sind die Informationen des Mandanten idR nicht ausreichend. Die Struktur einer Lösung, die familienrechtliche Strategie kann und muss aber in einer Erstberatung erarbeitet oder zumindest diskutiert werden. Dazu folgendes weitere Beispiel: M erscheint und legt das verfahrenskostenhilfegestützte Scheidungsgesuch der Ehefrau vor. Aus Zeitgründen nimmt der Anwalt lediglich zum Scheidungsbegehren Stellung, stellt jedoch seinerseits ebenfalls einen Scheidungsantrag. Monate später ergibt sich im Rahmen der dann anlaufenden güterrechtlichen Auseinandersetzung, dass M zum Stichtag Ehezeitende über ein Aktienvermögen im Wert von ca. 100 000 Euro verfügte, das nunmehr lediglich noch 73 000 Euro wert ist.
23 Aktienvermögen sind der „GAU“ des Familienrechts. Die Kursvolatilität verursacht größte Risiken, da die Bewertung des Vermögens zum Stichtag Ehezeitende (§ 1384 BGB) auch dann erfolgt, wenn die güterrechtliche Auseinandersetzung der Parteien erheblich später, ggf. lange nach rechtskräftigem Abschluss des Scheidungsverfahrens erfolgt. Selbst wenn der ausgleichsberechtigte Gatte nie zu erkennen gab, Zugewinnausgleichsanprüche geltend machen zu wollen, ist der Bewertungsstichtag durch Zustellung des Scheidungsantrags festgelegt. Güterrechtlich interessiert der weitere Kursverlauf nicht. 24 Es ist daher empfehlenswert, die Erstberatung auf alle Gebiete des Familienrechts auszuweiten, um haftungsrechtliche Schwierigkeiten zu vermeiden. Eine detaillierte Unterhaltsberechnung gehört mE ebenso wenig zum Umfang einer Erstberatung wie eine Zugewinnausgleichs- oder Versorgungsausgleichsberechnung. Notwendig ist aber, über Struktur des Güterrechts und des Versorgungsausgleichsrechts zu informieren und ggf. in groben Zügen eine Musterberechnung anzufertigen oder mit Hilfe eines Formularblatts vom Mandanten anfertigen zu lassen. 2. Check- und Arbeitslisten 25 Ob in der anwaltlichen Beratung Check- oder Arbeitslisten eingesetzt werden, ist mehr als nur Geschmacksache. Die anwaltliche Gesprächsund Mandatsführung wird erst dann plan- und berechenbar, wenn der Kanon der Möglichkeiten und einzelnen Sachverhaltsdarstellungen erschöpfend erfasst wird. Wer die erforderlichen Sachverhalte erfassen will, kann sich auf Intuition, sein Gedächtnis oder ein Erfassungsformular stützen. Sinnvoll ist ein Erfassungsformular in jedem Fall für die Erfassung der Vermögens- und Versorgungsdaten im Erstgespräch, weil dann der Hinweis auf Risiken aus dem Bereich der stichtagsbezogenen Vermögensbewertung im Zugewinnausgleich (vgl. Rn. 23) auch tatsächlich erfolgt und im Versorgungsausgleich Möglichkeiten erkannt werden, Versorgungen ggf. in Kapital oder Kapital in Versorgungen umzuwandeln.
8
Hauß
Das familienrechtliche Mandat 1. Personendaten:
Rn. 26 Mandant
Kap. 1
Gegner
Name: Vorname: Geburtstag (Alter): Staatsangehörigkeit: Anschrift: Telefon: Fax: Handy: Email:
erlernter Beruf: ausgeübter Beruf: Arbeitgeber:
Bruttoeinkommen: Nettoeinkommen: Namen gemeinsamer Kinder
Geburtstag
Beschäftigung
Aufenthalt
sonstige unterhaltsberechtigte Kinder
Heiratsdatum: Trennungsdatum: Scheidungsdatum: Ehevertrag:
Bei der Erfassung der Vermögenspositionen empfiehlt es sich, gerade im Versorgungsausgleich von Anfang an auch den Gang des Verfahrens zu dokumentieren.
Hauß
9
26
Kap. 1 Rn. 26
Das familienrechtliche Mandat Mandant
Gegner
Vermögen: Girokonto: Wertpapiere/Aktien: Lebensversicherungen: sonstiges Barvermögen: Immobilien:
Pkw:
Versorgungsausgleich:
Mandant: AusRente: kunftsdat:
Gegner: Korr. AusRente: KapWert: kunftsdat:
gesetzliche Rentenversicherung Beamtenversorgung berufsständische Versorgung 1. betriebliche AV 2. betriebliche AV 3. betriebliche AV 4. betriebliche AV zVK 1. private RV 2. private RV 3. private RV Ehezeitanfang Ehezeitende
Bagatellgrenze 2012:
10
Hauß
West
Ost
Kapital:
3150,00 Euro
2688,00 Euro
Rente:
26,55 Euro
22,40 Euro
Korr. KapWert:
Das familienrechtliche Mandat
Rn. 29
Kap. 1
3. Entwicklung einer familienrechtlichen Strategie Wichtiger als die Anfertigung einer centgenauen Unterhaltsberechnung 27 ist die frühzeitige Entwicklung einer familienrechtlichen Strategie. Im Trennungs- und Scheidungsfall sind die Parteien meist von Detailfragen gefangen. Es ist daher unerlässlich, mit dem Mandanten bereits in der Erstberatung die Ziele der anwaltlichen Intervention zu erörtern. Fast alle Parteien erklären als Ziel, ein faires und schnelles Scheidungsverfahren zu erlangen. Ließe man sie jedoch ungebremst agieren, würde sich genau das Gegenteil dessen einstellen. Allzu gern ergreifen die Parteien nämlich die Chance, einen Krieg um Nebensächlichkeiten zu führen, die den Trennungsprozess keinen Zentimeter voran bringen. a) Gesamtschuldnerische Verbindlichkeiten In eine Gesamtstrategie einzubeziehen sind ev. bestehende gesamt- 28 schuldnerische Verbindlichkeiten der Ehegatten. Raten für die beiden Gatten gehörende Immobilie, Ver- und Entsorgungskosten oder Raten für einen gemeinsam aufgenommenen Konsumentenkredit werden idR vom wirtschaftlich stärkeren Gatten bedient. Verfügt der andere Gatte über ausreichendes Einkommen, sollte man bereits im frühen Stadium der Beratung festlegen, wie mit solchen gesamtschuldnerischen Verbindlichkeiten umgegangen wird. Im Interesse des Unterhaltspflichtigen ist es, die gesamtschuldnerisch zu tragenden Verbindlichkeiten bei der Unterhaltsberechnung bei beiden Gatten zu je 1/2 zu berücksichtigen, weil dadurch der Arbeitsanreiz (vgl. dazu Rn. 29) von einer höheren Basis aus berechnet wird. Das Berechnungsergebnis ist daher für den Unterhaltspflichtigen günstiger und zwar um den Arbeitsanreiz auf die gesamtschuldnerisch zu tragende Verbindlichkeit (im Beispiel Rn. 29: 1/7 × 500 Euro = 71,43 Euro). Mit diesem Vorteil ist der Nachteil des Kontrollverlustes verbunden. Be- 29 dient der Gatte die gesamtschuldnerisch zu leistenden Verbindlichkeiten nicht, wird sich der Gläubiger idR erst mit einigem Verzug an den anderen Gatten wenden. Das Risiko, Rückstände bedienen zu müssen, die unterhaltsrechtlich nicht kompensiert werden können, ist somit bereits zu Beginn des Auseinandersetzungsverfahrens zu erörtern, und sodann ist festzulegen, nach welcher Methode der Unterhalt berechnet wird. Bei dieser Methode sollte man dann aber auch bleiben und nicht mitten im Trennungsverfahren ohne Not zu einer anderen Behandlung gesamtschuldnerischer Verbindlichkeiten kommen. Die unterschiedlichen Berechnungsergebnisse sind leicht erklärt: M bereinigtes Einkommen
3000 Euro
gesamtschuldnerische Verbindlichkeiten
– 500 Euro
anrechenbares Einkommen
2500 Euro
F 600 Euro
600 Euro
M
F
3000 Euro
600 Euro
– 250 Euro
– 250 Euro
2750 Euro
350 Euro
Hauß
11
Kap. 1 Rn. 30
Das familienrechtliche Mandat M
F
Einkommensdifferenz
1900,00 Euro
2400,00 Euro
Unterhalt 3/7 × 1900
– 814,29 Euro
verfügbares Einkommen
1685,71 Euro
Differenz des verfügbaren Einkommens
M
814,29 Euro – 1028,57 Euro 1414,29 Euro
271,43 Euro – 271,43 Euro
Differenz der Berechnungsmethoden = 1/ 7 × 500 Euro =
1721,43 Euro
F
1028,57 Euro 1378,57 Euro
342,86 Euro – 342,86 Euro
71,43 Euro
b) Gemeinsame Immobilie 30 Ebenso ist es eine Frage der Strategie, zu entscheiden, wie mit einer im gemeinsamem Eigentum stehenden Immobilie umgegangen wird. Parteien haben idR die Vorstellung, eine Immobilie „für die Kinder“ erhalten zu können. Sie entwickeln dazu sehr schöpferisch Modelle fortdauernden gemeinsamen Eigentums oder der Übertragung der Immobilie auf die Kinder. Alle diese Modelle sind idR zum Scheitern verurteilt. Bei fortdauerndem gemeinsamem Eigentum muss den getrennten Gatten klar sein, dass für alle Zukunft Einigkeit über die Reparatur tropfender Regenrinnen und defekter Heizkessel zu erzielen ist. Der nicht in der Immobilie verbleibende Gatte wird idR über solche seine Liquidität schmälernden Ausgaben nicht begeistert sein, wird er selbst doch für finanzielle Aufwendungen nicht mit höherem Wohnkomfort entschädigt. IdR verbietet es sich auch aus Gründen der Liquidität, nach einer Trennung eine Immobilie weiter gemeinsam zu unterhalten. Es ist Aufgabe der beratenden Anwälte, den Parteien realistische Hoffnungen zu machen, nicht aber sie in Illusionen zu stärken, die spätestens dann zerplatzen, wenn der Steuerklassenwechsel in dem auf die Trennung nachfolgenden Jahr ansteht. Verbleibt ein Ehegatte nach Trennung in der gemeinsamen Immobilie, kann dem anderen ein Anspruch auf Nutzungsentschädigung zustehen (§ 1361b Abs. 3 S. 2 BGB). Auch insoweit ist jedoch stets die Geltentmachung des Anspruchs im Hinblick auf die unterhaltsrechtlichen Auswirkungen zu prüfen. Wurde der „Vorteil des Wohnens“ in der eigenen Immobilie bereits unterhaltsrechtlich berücksichtigt, führt es nur zu einer Vervielfältigung von Gerichtsverfahren, wenn eine „Nutzungsentschädigung“ geltend gemacht wird. Sie generiert Einkünfte auf Seiten des Gläubigers und Ausgaben auf Seiten des Schuldners. Unterhaltsrechtlich ist der Effekt einer solchen Forderung meist banal. c) Unterhalt 31 Auch der Unterhaltsfrage kommt strategische Bedeutung zu. Es ist normal, dass der unterhaltsbedürftige Gatte seine Unterhaltsforderung so hoch und lange wie möglich ansetzt. Wird er vom Anwalt in dieser Erwartungshaltung bestärkt, ist es oft schwierig, ein realistisches Unterhaltsmaß zu finden. Besser ist es, von Anfang an deutlich zu machen, 12
Hauß
Das familienrechtliche Mandat
Rn. 35
Kap. 1
dass das (neue) Unterhaltsrecht einen Unterhaltsanspruch des Gatten nur in Ausnahmefällen und meist nur für einen beschränkten Zeitraum zuspricht. Mit Unterstützung unrealistischer Unterhaltserwartungen bindet der Anwalt auch keine Mandanten, sondern diskreditiert sich selbst. Abgesehen davon wird der Anwalt nicht an seinen Versprechungen, sondern an den Ergebnissen seiner Arbeit gemessen. d) Umgangs- und Sorgerecht Strategische Bedeutung hat die Frage, wie mit Sorge- und Umgangsrecht 32 umgegangen wird1. Es ist erstaunlich, wie häufig Eheleute bis zum Trennungstag mit ihren Kindern zusammenleben und wie plötzlich nach der Trennung im Umgang des einen Elternteils mit dem Kind eine Gefährdung des Kindes gesehen oder befürchtet wird, dass das Kind von einem auf den anderen Tag dem ausziehenden Elternteil fremd werde. Anwälte, die ihre Mandanten in diesem Ansinnen unterstützen, sollten sich nicht wundern, wenn familienrechtliche Verfahren unter solchen Voraussetzungen zu Monsterverfahren werden, in denen um alles gestritten wird. Solche Verfahren sind weder dem Anwalt noch den Parteien dienlich. Es ist ein praxisbewährtes Prinzip, die eigene Prozesspartei stets zu fragen, wie sie glaubt, dass der Trennungs- und Scheidungspartner auf ihr Ansinnen reagiert. Diese Frage zu erörtern ist wichtig, weil es nicht Sinn einer Prozessführung sein kann, der anderen Partei Verletzungen beizubringen und sie zu kränken. Wer glaubt, dem anderen Elternteil unmittelbar nach der Trennung den Umgang mit dem eigenen Kind verwehren zu müssen, muss sich fragen lassen, wieso bis zur Trennung der Umgang des Elternteils mit dem Kind unschädlich gewesen ist.
33
Wer die eigene Verbitterung über die Trennung auf das Kind projiziert und von diesem offen oder versteckt Solidarität in der Trennungsauseinandersetzung einfordert, oder wer auch nur die Solidarität eines Kindes gegen den anderen Elternteil annimmt, dokumentiert erzieherisches Versagen und möglicherweise auch mangelnde Eignung, die tatsächliche Sorge für das Kind wahrzunehmen.
34
Ebenso sollte der Anwalt dem Mandanten empfehlen, den Kindern einen 35 neuen Partner nicht zu frühzeitig vorzustellen. Kinder begreifen den neuen Partner eines Elternteils als „Trennungsgrund“ und Konkurrenz des verlassenen Elternteils. Der neue Partner hindert die von den Kindern immer angestrebte Versöhnung der Eltern. Männliche Mandanten präsentieren ihre neuen Partnerinnen oftmals mit einem unübersehbaren Stolz und Eifer, als wollten sie ihr Scheitern in der Beziehung zum anderen Elternteil vergessen machen. Es ist Aufgabe des Anwalts, den Mandanten auf die atmosphärischen Risiken eines solchen Verhaltens hinzuweisen.
1 Grundlegend: von Bracken, FPR 2009, 579.
Hauß
13
Kap. 1 Rn. 36
Das familienrechtliche Mandat
Nichts belastet ein Trennungsverfahren und die Trennungspartner mehr, als Verletzungen im Zusammenhang mit den gemeinsamen Kindern. 36 Der Anwalt sollte im Zusammenhang mit dem Sorge- und Umgangsrecht kompromisslos auf respektvollen Umgang der Eltern miteinander und mit ihren Kindern achten und einen solchen respektvollen Umgang auch gegenüber dem eigenen Mandanten einzufordern und durchzusetzen. e) „Dirty Tricks“ 37 Es ist erstaunlich, dass viele der ‚dirty tricks‘ nur in der familienrechtlichen Theorie, nicht aber in der Praxis vorkommen. Die Rechtsprechung des BGH, wonach zB auch noch nach rechtskräftiger Entscheidung über den Versorgungsausgleich eine Versorgung aufgelöst und damit dem Versorgungsausgleich entzogen werden kann1, hat in der familienrechtlichen Praxis kaum Nachahmung gefunden. Auch gehen nach der Trennung erstaunlich wenige Ehegatten aus Verzweiflung ins Spielcasino, um ausgleichspflichtiges Vermögen zu verzocken2, leiten nur wenige ein Verfahren auf vorzeitigen Zugewinnausgleich ein, nachdem sie zuvor Kapital in eine Rentenversicherung umgewandelt haben, die nach Abschluss des Zugewinnausgleichsverfahrens in eine Kapitalversicherung zurückverwandelt wird. Auch im neuen Versorgungsausgleichsrecht wird die Zahl derer gering bleiben, die zur Vermeidung der Realteilung einer Versorgung diese ins Ausland transferieren. Dass diese Tricks nicht praktiziert werden hat mE nichts mit einer bei Trennungspartnern noch vorhandenen Restmoral zu tun, sondern damit, dass diese Wege von Anwälten nicht angeraten werden. Gleichgültig, ob dies aus Prinzip oder Unkenntnis nicht geschieht, ist es gut so. Die Parteien selbst können solche der juristischen Dogmatik entspringenden Kunstfertigkeiten ohnehin meist nicht entwickeln. 38 Das „Handwerkszeug“ der Parteien ist in solchen Fällen nicht die juristische Dogmatik, sondern der banale Betrug. Da werden Konten geplündert und Lebensversicherungen „vergessen“, Zuwendungen der Eltern konstruiert und Überlebenskredite durch Verwandte erlogen. Wer als Anwalt zu solch kriminellen Machenschaften rät oder sie unterstützt, macht sich mit strafbar. 39 „Dirty Tricks“, also dogmatisch flankierte scheinlegale unlautere Handlungen, zahlen sich meist auch nicht aus. Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte korrigiert derartige fraudöse Ausschweifungen meist nach Treu und Glauben mit Augenmaß.
1 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 53/98, FamRZ 2003, 664 m. kritischer Anm. Deisenhofer, FamRZ 2003, 745. 2 Zur Nutzlosigkeit dieses Unterfangens OLG München v. 1.8.2002 – 16 UF 1748/00, FuR 2003, 226.
14
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Das familienrechtliche Mandat
Rn. 44
Kap. 1
Ein besonders niederträchtiger Trick ist die Mobilisierung des Gewalt- 40 schutzgesetzes zur Erreichung einer Wohnungszuweisung. Es ist nicht zu übersehen, dass Parteien oftmals im Internet entsprechende Hinweise erhalten, wie aus einem Ehestreit ein Platzverweis zu machen ist. Bedauerlicherweise gibt es auch Hinweise darauf, dass einzelne Anwälte zu unberechtigter Nutzung des Gewaltschutzgesetzes raten. Es ist müßig darauf hinzuweisen, dass der Missbrauch oder der unberechtigte Gebrauch des Gewaltschutzgesetzes strafbar ist. Die Täter sonnen sich in der Gewissheit, dass eine Strafverfolgung unterbleibt, weil die Opfer die Publizität eines Rechtsstreits scheuen und lieber aus der Wohnung weichen, um die Trennung zu beschleunigen. „Dirty tricks“ vergiften ein familienrechtliches Verfahren. Der Ehegatte, der sich übervorteilt fühlt, wird an anderer Stelle um so erbitterter kämpfen, praktische Lösungen verhindern und sich gegen jeden Kompromiss stellen. Ein solch kontrovers geführtes Verfahren kostet Gerichts-, Sachverständigen- und Anwaltskosten und belastet alle Beteiligten. Diese Kosten übersteigen die „ertricksten“ Vorteile meist bei weitem.
41
4. Anwaltliche Taktik Gegenstand des Erstgesprächs muss die einzuschlagende Taktik sein. Taktiken eines familiengerichtlichen Verfahrens sind so vielfältig wie die Charaktere der Mandanten und Anwälte. Man kann weder im Erstgespräch noch im weiteren Verlauf eines Verfahrens eine ein für allemal gültige Taktik und Strategie vereinbaren, es lohnt aber, die Grundrichtung festzulegen, mit dem Mandanten zu besprechen und für ihn wieder abrufbar in einem Vermerk oder Schreiben zu dokumentieren.
42
Fast alle Mandanten eröffnen eine familienrechtliche Auseinanderset- 43 zung mit der Erklärung, Trennung und Scheidung mögen so einvernehmlich wie möglich betrieben und gelöst werden. Rational ist dies sicher auch der effizienteste Weg. Die aus dem Scheitern der Ehe und der Trennung resultierenden Verletzungen, Verunsicherungen und Enttäuschungen der Parteien bewirken jedoch oft, dass das konkrete Verhalten der Mandanten dieses Ziel selbst torpediert. Der Anwalt darf weder Taktik noch Strategie im familienrechtlichen Verfahren vom Mandanten bestimmen lassen. Der Mandant bestimmt, anwaltlich beraten, die Ziele, nie aber den Weg, auf dem diese verfolgt werden. a) Festsetzung realistischer Ziele Viele Verfahren scheitern bereits daran, dass es an einer realistischen 44 Zielsetzung der Parteien fehlt. Man erfreut zwar den Mandanten, wenn man ihn in seiner Erwartungshaltung bestärkt, das neue Unterhaltsrecht stärke die Eigenverantwortlichkeit der Gatten, weswegen Trennungsund nachehelicher Unterhalt nur in geringer Höhe und für einen befristeten Zeitraum zu zahlen sei, zumal der Gatte sich schamlos vom gemeinHauß
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Kap. 1 Rn. 45
Das familienrechtliche Mandat
samen Konto bedient habe, was für sich allein schon eine verwerfliche Verfehlung sei, die unterhaltsrechtlich sanktioniert werden könne. So richtig diese Erklärung im Einzelfall durchaus sein kann, vom Wahrnehmungshorizont eines in Trennung lebenden Mandanten wird sie dahingehend verstanden, dass das Problem des Gattenunterhalts – wenn überhaupt – nur ein kurzfristiges Intermezzo in seiner neuem Glück zustrebenden Lebensplanung darstellt. Wenn der Unterhaltspflichtige dann vom Gericht mit einer mehrjährigen Unterhaltsverpflichtung konfrontiert wird, ist die Ausarbeitung einer unterhaltsrechtlichen Lösung schwierig. Trifft die Enttäuschung den Unterhaltspflichtigen, ist das Dilemma weniger gravierend. Dieser weiß aus unzähligen Informationsquellen, dass der unterhaltspflichtige Gatte stets gezaust wird. Die unrealistische Hoffnung, der er sich gerne hingab, wird durch die der realistischen Vorahnung entsprechende Rechtspraxis korrigiert. 45 Schwieriger sind unrealistische Positionen auf Seiten des Unterhaltsberechtigten zu korrigieren. Solche befinden sich nämlich im Einklang mit dem herrschenden Eheverständnis, wonach die Ehe einen Versorgungsanspruch begründe, der weitgehend krisenfest sei. Dazu trägt auch ein falsch verstandenes Verständnis des Eheversprechens bei, sich in „guten und in schlechten Tagen“ beizustehen. Nichts ist jedoch falscher, als dieses als fortwährende Versorgungsverpflichtung zu verstehen. Das eheliche Beistandsversprechen ist auf die Ehezeit beschränkt und besagt nichts über „schlechte Tage“, die außerhalb der Ehe liegen. Wenn gleichwohl die Parteien die volkstümliche Missinterpretation des Eheversprechens bereitwillig adaptieren, ist das aus ihrer Interessenlage heraus verständlich. Der Anwalt hat den Mandanten jedoch nicht in einer nicht mehr der Gesetzeslage entsprechenden Haltung zu bestärken. Er hat auch darüber aufzuklären, dass eventuell erzielte Schwarzeinkünfte fast nie zu einer Erhöhung eines Unterhaltsanspruchs führen, weil Schwarzgeld idR im Dunklen bleibt1 und seine Existenz nur selten zu beweisen ist. Selbst wenn sie aber bewiesen würde, kann ein Rechtsanspruch auf fortgesetzte Schwarzgeldeinkünfte, der unterhaltsrechtlich abgeschöpft werden könnte, nicht begründet werden. Es ist daher in erheblichem Maße taktisch unklug, Schwarzgeldeinkünfte zu behaupten. Das Echo ist berechenbar. Niemand kann erwarten, der einer Schwarzgeldeinnahme Bezichtigte werde diese zugeben. Sofern man eine solche Einnahme nicht beweisen kann, ist es taktisch klüger, sie nicht zu erwähnen. Und ob tatsächlich eine durch bilanzierte Entnahmen nicht zu rechtfertigende Lebensführung immer aus Schwarzeinkünften finanziert wird, muss hinterfragt werden. Meist wird die die realen Einkünfte Selbständiger überschreitende eheliche Lebensführung durch Kredite finanziert und nicht durch Schwarzgelder.
1 Kuckenburg, FuR 2006, 255; Schröder, FamRZ 2003, 1535; mutig: Schürmann, FamRZ 2002, 1150.
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Rn. 49
Kap. 1
Der Anwalt sollte schon bei der Erstberatung auf den bevorstehenden Steuerklassenwechsel hinweisen, durch den aus jedem Normalverdienerfall mit Kindern unabwendbar ein Mangelfall wird. Auch ein solcher Hinweis dämpft überzogene Erwartungen der Parteien.
46
Die Verteilung des Hausrats und des Alleineigentums der Gatten bietet 47 immer wieder Anlass, überzogene Hoffnungen zu relativieren, die im prozessualen Alltag nicht realisiert werden können. Wer aus der Ehewohnung auszieht, verliert oftmals einen großen Teil berechtigter sächlicher Herausgabeansprüche. Dies betrifft weniger die Großmöbel. Anfälliger für Verluste sind vielmehr die den Parteien lieb gewordenen Schmuckund Erinnerungsstücke. Bleiben diese bei Auszug zurück, ist vom Herausgabe verlangenden Ehegatten der Nachweis zu führen, dass sie sich noch im Besitz des anderen Gatten befinden. Dessen Behauptung, sie seien nicht mehr in seinem Besitz, sondern bei Auszug des Gatten von diesem mitgenommen worden, ist nur selten widerlegbar. Es macht daher meist gar keinen Sinn, derartige Ansprüche geltend zu machen und zu thematisieren. Auch im Vermögensausgleich zwischen den Gatten lauert die Gefahr, 48 durch unrealistische Erwartungen einen Trennungs- und Scheidungsprozess in eine falsche Richtung zu steuern. Es ist eine fast immer gültige Wahrheit, dass Trennungs- und Scheidungsparteien den Wert ihres Vermögens, insbesondere ihrer Immobilien, zu hoch und die Schulden zu gering schätzen. Auch ist immer wieder festzustellen, dass der Wert von freiberuflichen Praxen und gewerblichen Betrieben vom ausgleichsberechtigten Gatten zu hoch eingeschätzt wird. Das ist oft nicht einmal böswillig. Wenn der Betrieb die Existenzgrundlage eines über viele Jahre gut geführten Lebens gewesen ist, dann ist verständlich, dass sein Wert von der Partei (zu) hoch angesiedelt wird. Im Zugewinnausgleich geht es jedoch nicht um die subjektive Wertschätzung eines Betriebs, sondern um seinen Marktwert, meist noch vermindert um den angemessenen Unternehmerlohn1. Die Arztpraxis ist nicht unabhängig von den Perspektiven des Gesundheitswesens zu bewerten und die Immobilie oftmals nicht zu ihrem tatsächlichen Wert, sondern nur zu den jeweiligen Marktbedingungen zu veräußern. Ein kluger Anwalt wird daher von Beginn der Übernahme eines familien- 49 rechtlichen Mandats an immer versuchen, realistische Zielsetzungen mit der Mandantschaft zu erarbeiten, nicht nur um keine Enttäuschung auf sich zu ziehen, sondern auch um die eigene Mandantschaft lösungsorientiert zu konditionieren.
1 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 46/06, FamRZ 2008, 761.
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Kap. 1 Rn. 50
Das familienrechtliche Mandat
b) Pflege eines sachlichen Stils aa) Der Trennungsstil 50 Der Stil eines familienrechtlichen Verfahrens wird wesentlich bestimmt durch das Nachtrennungsverhalten der Parteien und den Sprach-, Verhandlungs- und Prozessstil ihrer Anwälte. Keine Partei sollte sich über eskalierende Prozesse wundern, wenn sie dem Partner anlässlich der Trennung „die Bude leer geräumt“1 oder das Konto geplündert2 hat. Derartige Stilentgleisungen tragen meist nur geringe Früchte. 51 Der geringe Erfolg derartiger Aktionen hat nicht nur mit der unmittelbaren Korrektur solcher Aktionen durch die Gerichte zu tun. Nachhaltiger ist der Fernwirkungseffekt auf das Gericht. Bei der Fülle unbestimmter und auslegungsbedürftiger Rechtsbegriffe im Familienrecht bekommt eine Prozesspartei nur dann Recht zugesprochen, wenn einerseits die materielle Rechtslage für sie streitet und andererseits die Psychologie des Falles. Wer sich durch „dirty tricks“, eigenmächtige und selbstherrliche Aktionen, Instrumentalisierung der Kinder und Ähnliches selbst den „schwarzen Peter“ zuschiebt, darf sich über eine entsprechende Reaktion des Gerichts nicht wundern. bb) Der Sprachstil 52 § 43a Abs. 3 BRAO bestimmt, dass sich der Anwalt eines sachlichen Sprachstils zu befleißigen hat. Gelegentlich sollte man sich dessen erinnern. Der Anwalt ist kein Moralapostel. Deswegen ist es verfehlt, wenn – wie häufig anzutreffen – fehlender Unterhalt mit moralisierendem Vorwurf („hält Ihr Mandant es nicht einmal für nötig …“) angemahnt wird. Auch trägt es wenig zur Lösung der Probleme getrenntlebender Parteien bei, wenn die Umstände, die zur Trennung geführt haben, seitenlang reportiert werden. Abgesehen davon, dass daraus keinerlei Rechtsfolgen abzuleiten sind (gibt es etwa mehr Unterhalt, wenn zwischen den Ehegatten Misshandlungen stattgefunden haben?), sind derartige folgenlose Schilderungen meist Ausweis einer fehlenden Distanz zwischen Anwalt und Partei oder einer Anbiederung des Anwalts an seine Partei. Leben die Parteien getrennt und ist die Trennung eine Folge übermäßigen Alkoholkonsums einer der Gatten, ist es nur dann angezeigt, diese Tatsache zu erwähnen, wenn der Alkoholabusus unterhaltsrechtliche Konsequenzen hat oder haben kann. Ist ein solcher Fall nicht gegeben, ist es sinnlos und nur widerspruchsprovozierend, diesen Umstand zu thematisieren. 53 Nicht einmal Gewalttätigkeiten der Ehegatten untereinander rechtfertigen einen Stilwechsel. Sätze wie: „Sie haben am … meine Mandantin zunächst aus nichtigem Anlass erheblich beschimpft und beleidigt und 1 Lesenswert zu den damit zusammenhängenden dogmatischen Problemen OLG Karlsruhe v. 17.5.2006 – 16 UF 220/05, FamRZ 2007, 59. 2 Anschauliche Darstellung bei Wever, FamRZ 2003, 565.
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Rn. 56
Kap. 1
schließlich mehrfach mit äußerster Brutalität ins Gesicht geschlagen und sodann die Wohnung verlassen und erklärt, nie wieder zurückzukehren. Wir erteilen Ihnen aus diesem Grunde für die Wohnung unserer Mandantin ein Hausverbot …“, können zielführender formuliert werden: „… nachdem es am … zwischen Ihnen und Ihrer Frau zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten und schließlich auch zu Tätlichkeiten gekommen ist, erteile ich Ihnen im Auftrag meiner Mandantin ein Hausverbot für deren Wohnung. Da Sie ohnehin erklärt haben, die Trennung zu vollziehen, dürfte dies jedoch keinerlei Problem darstellen“. Derart formulierte Sätze beschäftigen sich mit Tatsachen. Ob und wer beleidigt oder beschimpft wurde und geschlagen hat, und ob dies „äußerst brutal“ oder aus nichtigem Anlass geschehen war, weiß der Anwalt nicht bzw. nur aus Berichten seiner Mandantin. Diese „ungefiltert“ zu Papier zu bringen zeugt von schlechtem Stil, wenn daraus kein Vorteil für die eigene Mandantschaft abgeleitet werden kann. Der so Gescholtene und Bloßgestellte wird umgehend die Ursache des Streits ebenso moralisierend seiner Frau in die Schuhe schieben, wie den Ausgangspunkt der Tätlichkeiten. Indessen führt der Streit darum für keinen der Gatten zu einem greifbaren Vorteil, weswegen er getrost unterlassen werden kann. In solchen Situationen muss der Anwalt auch seine eigene Emotionalität zügeln. Den Stil einer familienrechtlichen Auseinandersetzung prägt das Ziel der Parteien, in einem fairen Verfahren getrennt und geschieden zu werden. Rehabilitation für jahrelange Unterdrückung, Entwürdigung und auch Misshandlung ist im familienrechtlichen Verfahren nicht zu erhalten.
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cc) Der Tatsachenvortrag Auch das Familienrecht lebt vom Tatsachenvortrag. Wie in jedem ande- 55 ren Rechtsgebiet hat dieser die geltend gemachten Anspruchsnormen auszufüllen, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Tatsachen bleiben im Familienrecht oft streitig. Die familienrechtlichen Beweismittel sind begrenzt, und objektive Zeugen stehen kaum zur Verfügung. Wer nicht das zweifelhafte Glück hat, einen Mandanten zu vertreten, der mit buchhalterischer Inbrunst gelebt hat, dem wird es nur selten gelingen, finanzielle Vorgänge, die länger als zehn Jahre zurückliegen, aufzuklären. Wer nicht beim Auszug des Gatten penibel jeden mitgenommenen und beim Gatten belassenen Gegenstand dokumentiert hat, kann es sich ersparen, ein langwieriges Gezerre um kleinste Haushaltsgegenstände zu veranstalten. Tatsachen, von denen man auszugehen hat, dass sie bestritten und nicht 56 bewiesen werden können, braucht man nicht zu erwähnen. Tatsachen, die unerheblich sind, sollte man nicht behaupten. Diese im sonstige Zivilverfahren anerkannten juristischen Banalitäten geraten in familienrechtlichen Verfahren oft in Vergessenheit, weil es den Mandanten drängt, Mitleid und Mitgefühl zu erheischen und für die noch immer von
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Kap. 1 Rn. 57
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vielen Mandanten als diskreditierend und entwurzelnd empfundene Trennung die eigene Unschuldsvermutung zu reklamieren. 57 Der Anwalt muss sich seinem Mandanten gegenüber weigern, unsinnigen und nicht beweisbaren Sachvortrag in das familiengerichtliche Verfahren einzuführen. So behauptet er vor dem Mandanten seine Kompetenz und die erforderliche Distanz zum Fall. Diese Weigerung, Unsinn zu verlautbaren, sollte stets einhergehen mit der beharrlichen Erklärung des eigenen Verhaltens. Unsinnig ist es auch, nicht zur Sache gehörenden Sachvortrag vorzubringen. Wenn in einem Trennungsunterhaltsverfahren vorgetragen wird, man wisse um Misshandlungen der früheren Ehefrauen des Unterhaltspflichtigen, fördert dies das Unterhaltsverfahren kaum in die richtige Richtung, weil es für die Unterhaltsfrage völlig unerheblich ist, ob und wieviele der Ehefrauen und von wem misshandelt wurden. Die Emotionalisierung des Verfahrens ist kein billigenswertes anwaltliches Ziel. 5. Anwaltliche Gesprächsführung a) Das Anwaltsgespräch 58 Auch wenn Anwälte keine Therapeuten sind, so können sie therapeutisch wirken, speziell dadurch, dass sie dem Mandanten zuhören. Handlungsoptionen, die der erfahrene Anwalt innerhalb der ersten Sekunden eines Mandantengesprächs erkennt, werden vom Mandanten häufig nicht akzeptiert, wenn sie sogleich vorgeschlagen werden. Trennungs- und Scheidungsmandanten wollen reden und das Gefühl vermittelt bekommen, dass das von ihnen als so gravierend empfundene Problem auch für den Anwalt alles andere als Routine ist. Deshalb sind schnelle Lösungsvorschläge meist bei Mandanten wenig beliebt. 59 Das sollte jedoch nicht dazu verleiten, stundenlange Besprechungstermine zu veranstalten. Therapeuten begrenzen ein Gespräch meist exakt auf 50 Minuten. Dieses Maß dient nicht der Vertaktung des Alltages, sondern ist Ausfluss der Erfahrung, dass Konzentration und lösungsorientiertes Arbeiten nicht über Stunden hinweg aufrecht erhalten werden können. Bei Gesprächsbeginn sollte dem Mandanten mitgeteilt werden, wie viel Zeit zur Verfügung steht, das Problem zu besprechen, und dass ggf. ein neuer Termin vereinbart werden müsse. Das diszipliniert und entspannt das Gespräch meist entscheidend. Wenn es dann gelingt, zu Beginn des Gesprächs die Agenda zu fixieren, erkennt der Mandant auch besser die kompetente Vorbereitung und Leitung des Gesprächs. b) Fixierung des Gesprächsergebnisses für Akte und Mandant 60 Wer den Inhalt eines Erstgesprächs oder eines grundlegenden Beratungsgesprächs für seine Akten oder den Mandanten fixiert, macht die eigene Arbeit transparent und zwingt sich selbst bei der Zusammenfassung des 20
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Rn. 63
Kap. 1
Gesprächsinhalts dazu, Problemstellungen und Empfehlungen systematisch zu erfassen und aufzubereiten. Gleichzeitig können Handlungsoptionen dem Mandanten gegenüber offen gelegt werden und abzuarbeitende Aufträge erteilt werden. Dies alles spricht dafür, Schlüsselbesprechungen dem Mandanten gegenüber zu dokumentieren. Die Dokumentation sollte jedoch nicht dazu führen, dem Mandanten minutiös jedes kleine Detail eines Verfahrens mitzuteilen. Die meisten Mandanten beauftragen einen Anwalt, damit dieser die Geschäfte führt. Damit überträgt er auch einen Teil der Handlungs- und Abschlusskompetenz auf den Anwalt. Die Dokumentation der Besprechungsergebnisse und Handlungslinien sollte daher dem Mandanten nicht den Eindruck vermitteln, der Anwalt drücke sich vor der Entscheidung. Ganz selbstverständlich ist diese Position nicht. Im Familienrecht sind 61 teilweise komplizierte Fragen zu klären, die nur in der Gesamtschau der verschiedenen Ansprüche und unter Beachtung ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten zu klären sind. So wird zB anlässlich von Verhandlungen über einen Scheidungsfolgenvergleich die Begrenzung und Befristung nachehelicher Unterhaltsansprüche zu diskutieren sein. Die Frage, ob und in welcher Höhe eheprägende Verbindlichkeiten im Zugewinnausgleich als Verbindlichkeiten abzusetzen sind, wenn sie bei der Berechnung des nachehelichen Unterhaltsanspruchs berücksichtigt wurden, kann nicht vom Mandanten entschieden werden. Auch wird ein Mandant zur Frage des Abschlusses eines Vergleichs im Versorgungsausgleich kaum eine qualifizierte Entscheidung treffen können, weil er die Validität von Versorgungen nicht einschätzen kann. Einem Mandanten in solchen Fragen Handlungsoptionen zu eröffnen, ist scheinheilig. In komplexen Fragestellungen erwartet der Mandant Hilfe und einen Entscheidungsvorschlag. 6. Die Honorarfrage Anwälte leben von ihrem Honorar. Gleichwohl klären sie die Honorarfrage mit den Mandanten oft nur unzureichend und widerwillig. Der Mandant hat oft völlig falsche Vorstellungen über die Höhe der Kosten eines Scheidungsverfahrens. Das frühzeitige Gespräch über die Kosten ist daher für beide Seiten sinnvoll und klärend.
62
a) Offenlegung der Vertretungstarife Wer im Fachgeschäft eine Ware kauft, will deren Preis nicht erst an der Kasse erfahren. Wer das erste Mal zum Anwalt kommt, will auch nicht erst nach der Beratung erfahren, welchen Preis diese hat. Im allgemeinen Zivilrecht ist es meist schwierig, vor Erörterung des Beratungsgegenstandes den Beratungspreis zu nennen. Im Familienrecht ist das anders. Eine familienrechtliche Erstberatung betrifft niemals Bagatellen. Deshalb ist es grundsätzlich auch berechtigt, eine solche Erstberatung zum festen Tarif einer Erstberatungsgebühr durchzuführen. Deren Brut-
Hauß
21
63
Kap. 1 Rn. 64
Das familienrechtliche Mandat
tobetrag1 sollte telefonisch und schriftlich festgehalten und am besten auch auf der Homepage des Anwalts vermerkt sein. Ebenso deutlich sollte jedoch auch darauf hingewiesen werden, dass unter den dafür geltenden Voraussetzungen Prozesskosten- und Beratungshilfe in Anspruch genommen werden können. 64 Eine Wartezimmerbroschüre zu den Kosten anwaltlicher Vertretung wird ebenso gerne gelesen wie Angaben auf der Anwaltshomepage. Es entspannt den Mandanten, wenn er erfährt, dass die Kosten einer Durchschnittsscheidung ca. 1500 Euro betragen und wie teuer die weiteren Verfahren sind. Beispielsberechnungen sind hilfreich. b) Streitwert- oder Stundenhonorar 65 Stundenhonorare sind bei manchen Anwälten beliebt. Sie wären aber dem Mandanten zu erklären und treten in Konkurrenz zu den gesetzlichen Gebühren. Sie erfordern Dokumentationsarbeit und sind störanfällig, wenn die Dokumentation einmal vergessen wird (der Mandant ruft auf dem Handy an, während der Anwalt sich im Zug befindet). Die Bestimmung des richtigen Honoraransatzes ist darüber hinaus schwierig. Will man einem Feilschen um den Stundensatz vorbeugen, empfiehlt sich die Veröffentlichung des Stundensatzes in Wartezimmeraushang, Praxisbroschüre und Internet. 66 Es ist auch zu bedenken, dass die Durchschnittsscheidung mit einem Gebührenaufkommen von ca. 1120 Euro bei einem Stundensatz von 250 Euro fast 4,5 Stunden dokumentierte Arbeit erfordert. Die Durchschnittsscheidung wird aber nur selten so viel reine Arbeitszeit in Anspruch nehmen. Der Anwalt muss dann dem Mandanten erklären, warum er sich nicht mit einem geringeren Stundensatz zufriedengeben will. 67 Streitwerthonorare haben gegenüber den Stundenhonoraren den Vorteil, dass sie nicht zu ständiger Dokumentationsarbeit zwingen und meist bessere Ergebnisse für den Anwalt bringen. Sie können jedoch ruinös sein, wenn sie bei einer Mandantschaft erhoben werden, die unschlüssig und entscheidungsunfähig ist oder mit dem Anspruch in die anwaltliche Beratung geht, alles verstehen zu wollen. c) Gebührentransparenz 68 Wichtiger als die Frage, ob Streitwert- oder Zeithonorar erhoben wird, ist für den Mandanten die transparente Gestaltung der finanziellen Aspekte des Mandatsverhältnisses. Deshalb empfiehlt es sich, vom Beginn einer Mandatsübernahme an die Honorarfrage transparent zu gestalten. Dies beginnt mit der Abrechnung der Erstberatung und der Dokumentation ihres Ergebnisses. Weiterhin gehört eine Schätzung der voraussichtlich ent1 Derzeit 226,10 Euro (190 Euro + 19 % MwSt).
22
Hauß
Das familienrechtliche Mandat
Rn. 71
Kap. 1
stehenden Vertretungskosten dazu. Ebenso ist es bei neuen Streitgegenständen immer sinnvoll, den Mandanten auf die sich daraus ergebenden Honorarfolgen hinzuweisen. Es erleichtert die Handhabung des Mandats und des Mandanten, wenn 69 ein angemessener Gebührenvorschuss verlangt und bei Fortführung des Mandats darauf geachtet wird, dieses kontinuierlich mit dem Mandanten abzurechnen. Die freundlichste Erklärung dieses finanziellen Gebarens ist, die Freude über das Ende des familienrechtlichen Verfahrens nicht durch eine hohe Rechnung trüben zu wollen. Der wohltuende Haupteffekt für den Anwalt besteht neben dem liquiditätsfördernden Zufluss finanzieller Mittel darin, sich bei einer (vorzeitigen) Beendigung des Verfahrens mit dem Mandanten nicht über finanzielle Fragen streiten zu müssen. 7. Computer im Familienrecht a) Einsatz von familienrechtlichen Berechnungsprogrammen In keinem anderen Zivilrechtsgebiet wird so viel und so genau gerechnet 70 wie im Familienrecht. Ob Unterhalt, Zugewinn- oder Versorgungsausgleich, in allen Sparten wird mit bis auf mehrere Stellen hinter dem Komma gerechnet. Dies hat schon recht früh dazu geführt, dass sich familienrechtliche Berechnungsprogramme etabliert haben, die in der alltäglichen Praxis unersetzlich sind. Die mit den Programmen gefundenen Ergebnisse sind meist rechnerisch richtig. Nicht immer folgen sie sklavisch der familienrechtlichen Dogmatik oder der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum, weil eine solche herrschende Meinung nicht immer sicher auszumachen ist. Jedoch ist die Rechenarbeit als solche der geringste und überdies unjuristi- 71 sche Teil des Familienrechts. Die Bewertung der Eingaben, die Entscheidung darüber, ob zB überobligatorische Erwerbstätigkeit vorliegt und wie das daraus erzielte Einkommen zu verteilen ist, ist eine familienrechtliche Fragestellung. Diese Bewertungsfragen nimmt kein familienrechtliches Programm einem Anwender ab. Ebenso wenig kann ein Berechnungsprogramm entscheiden, ob ein Kind einen Betreuungsbedarf hat und in welchem Umfang ein betreuender Elternteil neben der Betreuung eines Kindes noch erwerbstätig sein kann. Auch wird ein EDV-Programm nicht helfen, fortwirkende ehebedingten Nachteile zu detektieren oder die Zumutbarkeit der Erwerbstätigkeit in einem bestimmten Beruf oder Berufsfeld zu entscheiden. Das alles sind juristische Fragen, die für den Mandanten von erheblich größerer Bedeutung sind als die Berechnung des Unterhaltsanspruchs selbst. Wenn nämlich ein Unterhaltsanspruch statt drei Jahre fünf Jahre lang zu erfüllen ist, ist die Differenz für den Mandanten weit größer, als wenn das anrechenbare Einkommen des Unterhaltspflichtigen um einige Prozentpunkte fehlerhaft prognostiziert wird.
Hauß
23
Kap. 1 Rn. 72
Das familienrechtliche Mandat
72 Rechenprogramme bergen die Gefahr, die juristische Argumentation zu vernachlässigen. Im Zugewinnausgleich ist nicht die Indexierung, die Addition der Vermögenswerte und die Errechnung der Bilanzdifferenz entscheidend, sondern die Bewertung des Vermögensgegenstandes. Diese Bewertung ist aber, wie die Entscheidung des BGH v. 6.2.20081 zeigt, keine rein kaufmännische Fragestellung, vielmehr werden die kaufmännischen und wirtschaftlichen Probleme von familienrechtlichen Fragestellungen so überdeckt, dass man richtigerweise von einer familienrechtlichen Bewertung zu sprechen hätte. Wenn Berechnungsprogramme daher lediglich mit Daten gefüllt werden, deren familienrechtliche Bewertung nicht oder nicht richtig vorgenommen wurde, wird das unter Anwendung dieser Programme erzielte Ergebnis familienrechtlich falsch sein. 73 Ein weiteres Problem liegt in der Scheingenauigkeit derartiger Programme. Eine Unterhaltsberechnung wird auf der Basis des im letzten oder in den letzten drei Jahren erzielten Einkommens erstellt. Es ist nie sicher, dass dieses Einkommen auch zukünftig erreicht wird. Zwar kann aus der wirtschaftlichen Erfahrung angenommen werden, dass sich Einkünfte immer moderat erhöhen, ob dies aber in dem zu entscheidenden individuellen Fall realisiert wird, kann nicht gesagt werden. Gleichwohl berechnen Unterhaltsprogramme den geschuldeten Unterhalt bis auf zwei Stellen hinter dem Komma genau. Im Zugewinnausgleich werden Grundstücke, Firmen und zukünftige Forderungen bewertet, deren Höhe und Realisierbarkeit durchaus fraglich sein können. Die anschließend erforderliche Indexierung des Anfangsvermögens geschieht mit feingliedrigen Indizes2. Im Versorgungsausgleich wird der Ehezeitanteil einer Versorgung teilweise taggenau bestimmt und mit zehnstelligen Berechnungsfaktoren operiert. In dem bis zum 31.8.2009 geltenden Recht lag die Hauptunsicherheit jedoch in der Prognose der Entwicklung einer Versorgung über viele Jahre von der Scheidung bis zur Rente, im seit dem 1.9.2009 geltenden Recht liegt sie in der Annahme des Rechnungszinses einer Versorgung, um deren korrespondierenden Kapitalwert zu bestimmen. In all diesen Fällen überdecken schön gestaltete Darstellungen der Berechnungsergebnisse die tatsächliche Ungenauigkeit der Ergebnisse, weil die Ausgangsprämissen nicht mehr hinterfragt werden. 74 Computerprogramme sind nur dann hilfreich, wenn ihre Anwender fachlich beschlagen und kritisch sind. Sie ersetzen nie juristisches Fachwissen. 75 Computerprogramme bergen die Gefahr der Entwertung juristischer Tätigkeit und des Ansehens von Anwälten und Richtern. Werden sie in der Beratung und der Dokumentation des Beratungsergebnisses allzu pro1 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 45/06, FamRZ 2008, 761 m. Anm. Hoppenz (765); FamRB 2008, 134; noch deutlicher: BGH v. 2.2.2011 – XII ZR 185/08, FamRZ 2011, 1367 (Bewertung freiberuflicher Praxis). 2 Es ist in der Vergangenheit diskutiert worden, unterschiedliche Indizes der Lebenshaltungskosten zu verwenden (Ost/West, Grundstücksindizes etc.) vgl. dazu Hauß, FamRB 2004, 35.
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Hauß
Das familienrechtliche Mandat
Rn. 79
Kap. 1
minent präsentiert, erwecken sie für den Laien den Eindruck, er müsse sich nur das entsprechende Programm kaufen, um seinen Fall lösen und bearbeiten zu können. Dieses Risiko der juristischen Selbstdisqualifikation wird umso größer, je unkritischer seitenlange Berechnungen in Schriftsätze und leider auch Urteile übernommen werden. Die Parteien eines gerichtlichen Streitverfahrens haben Anspruch auf ein für sie verständliches und nachvollziehbares Ergebnis. Der Anwalt ist insoweit Dolmetscher für den Mandanten. Niemand käme auf die Idee, für eine holprige InternetÜbersetzung hohe Dolmetscherhonorare zu zahlen. Wenn ein Schriftsatz oder Urteil daher nur aus einem Computerausdruck besteht, rechtfertigt das weder Gerichts- noch Anwaltskosten, sondern allenfalls eine Sachbearbeitungsgebühr. Schließlich zementieren jedenfalls die Unterhaltsprogramme, wenn sie unkritisch angewendet werden, die herrschende Rechtsprechung und blockieren neue Entwicklungen in der familienrechtlichen Diskussion. Angesichts des Arbeitsdrucks insbesondere der Richter in der ersten Instanz verführt der „schnelle Klick“ zu einer beängstigenden juristischen Uniformität. Die Dominanz der Programme würde jedenfalls in der ersten Instanz über den BGH siegen, wenn die Programmautoren sich entschlössen, neue Rechtsprechung des BGH nicht mehr in ihren Programmen abzubilden.
76
Wenn sich familienrechtliche Berechnungsprogramme im praktischen 77 Alltag gleichwohl durchgesetzt haben, dann deswegen, weil sie im anwaltlichen Alltag eine enorme Hilfe dabei sind, einen zunächst unstrukturierten Mandantenvortrag über die Zeit zu systematisieren. Fast nie hat nämlich der Mandant sämtliche zur Unterhaltsberechnung notwendigen Daten beim ersten Gespräch parat. Dennoch möchte er immer „ungefähr“ wissen, was er zahlen muss oder was er zu erwarten hat. Die Daten, die dafür erforderlich sind, werden sukzessive ermittelt oder geliefert. Es entsteht so – manchmal über Monate hinweg – eine Datensammlung, die irgendwann einmal so konsolidiert ist, dass ihr Ergebnis verwendet werden kann. Computerprogramme, die diesen Prozess unterstützen, sind im anwaltlichen Alltag eine Hilfe. Daneben leisten Computerprogramme unschätzbare Dienste bei der 78 schnellen Steuerberechnung, der Kalkulation der unterhaltsrechtlichen Nachteile des Steuerklassenwechsels, der Schnellberechnung von Prozesskostenhilferaten, den zu erwartenden Sozialhilfeleistungen und vielen anderen alltäglichen Fragestellungen des Familienrechtlers. Sie liefern „information at your fingertips“ und sind ein unverzichtbares Potential. b) Einsatz der Tabellenkalkulation Neben dem Einsatz der familienrechtlichen Berechnungsprogramme sollte der Familienrechtler ein Tabellenkalkulationsprogramm beherrschen. Diese können weit übersichtlicher als die familienrechtlichen ProgramHauß
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79
Kap. 1 Rn. 80
Das familienrechtliche Mandat
me Unterhaltsberechnungen darstellen, was insbesondere für die Fälle gilt, in denen Unterhalt über mehrere Perioden dargestellt werden muss. Folgende kleine Tabelle wurde in ca. fünf Minuten erstellt und dokumentiert übersichtlich drei Unterhaltsperioden: 1.1.11–31.3.11
Nettomonatseinkommen ./. bbA ./. Pkw-Kredit
1.4.11–31.12.11
1.1.12–31.3.12
Mann (Stkl 5)
Frau (Stkl 3)
Mann (Stkl 5)
Frau (Stkl 3)
Mann (Stkl 1)
Frau (Stkl 1)
1350,00
2800,00
1350,00
2800,00
1860,00
2350,00
– 67,50
– 140,00
– 67,50
– 140,00
– 93,00
– 117,50
– 155,00
./. Möbelkredit
– 250,00
bereinigtes Einkommen
– 250,00
– 250,00
1127,50
2410,00
1282,50
2410,00
1767,00
1982,50
– 161,07
– 344,29
– 183,21
– 344,29
– 252,43
– 283,21
966,43
2065,71
1099,29
2065,71
1514,57
1699,29
Einkommensdifferenz
1282,50
1127,50
215,50
Unterhaltsanspruch 1/2
641,25
563,75
107,75
1923,75
5073,75
323,25
./. Arbeitsanreiz
1/ 7
anrechenbares Einkommen
Rückstand
80 Gerade die individualisierbare Flexibilität des Programms ist in der Darstellung, aber auch im praktischen Einsatz überlegen. Da die einzelnen Zellen des Berechnungsblatts mit den entsprechenden Rechenoperationen belegt werden können, kann die ganze Berechnung schnell geändert werden, wenn nur eine oder mehrere Angaben zu verändern sind. Stellte sich mithin heraus, dass der Mann ab 1.1.2012 statt 1860 Euro 1950 Euro Einkommen zu erwarten hätte, würde sich durch Veränderung dieser einen Zahl auch die Berechnung des Rückstandes und aller anderen Zahlen ergeben: 1.1.11–31.3.11
Nettomonatseinkommen ./. bbA ./. Pkw-Kredit
Mann (Stkl 5)
Frau (Stkl 3)
Mann (Stkl 1)
Frau (Stkl 1)
1350,00
2800,00
1350,00
2800,00
1950,00
2350,00
– 67,50
– 140,00
– 67,50
– 140,00
– 97,50
– 117,50
– 155,00 – 250,00
bereinigtes Einkommen 1/ 7
anrechenbares Einkommen Einkommensdifferenz
26
Hauß
1.1.12–31.3.12
Frau (Stkl 3)
./. Möbelkredit
./. Arbeitsanreiz
1.4.11–31.12.11
Mann (Stkl 5)
– 250,00
– 250,00
1127,50
2410,00
1282,50
2410,00
1852,50
1982,50
– 161,07
– 344,29
– 183,21
– 344,29
– 264,64
– 283,21
966,43
2065,71
1099,29
2065,71
1587,86
1699,29
1282,50
1127,50
130
Das familienrechtliche Mandat
Rn. 82
1.1.11–31.3.11 Mann (Stkl 5) Unterhaltsanspruch 1/2
Frau (Stkl 3)
1.4.11–31.12.11 Mann (Stkl 5)
Frau (Stkl 3)
Kap. 1
1.1.12–31.3.12 Mann (Stkl 1)
641,25
563,75
65,00
Rückstand
1923,75
5073,75
195,00
Gesamtrückstand:
7192,50
Frau (Stkl 1)
Der Vorteil eines Tabellenkalkulationsprogramms liegt auch in der ein- 81 fachen Datenerfassung und Verarbeitung im Dialog mit dem Mandanten. Viele Mandanten kommunizieren mit ihrem Anwalt per E-Mail. Wird diese Form der Kommunikation konsequent genutzt, kann der Anwalt seinem Mandanten vielfach auch die lästige Datenerfassung überlassen und so sich selbst bzw. das Sekretariat von zeitaufwendiger Arbeit entlasten. Dies gilt zB für den äußerst lästigen Fall der Hausratsteilung, aber ebenso für die Ermittlung von Zahlungsrückständen im Unterhalt und selbst für die Erfassung der Vermögenspositionen im Zugewinnausgleich. Gerade bei der Erfassung von Unterhaltsrückständen hat es sich in der Praxis als hilfreich erwiesen, dem Mandanten eine Liste zuzusenden, in der in einer „Soll-Spalte“ die monatlichen Unterhaltsforderungen und einer „Ist-Spalte“ die tatsächlichen Zahlungen erfasst werden. Wenn letzteres dem Mandanten überlassen wird, erleichtert man dem eigenen Sekretariat die Arbeit, weil ein Teil der Datenerfassung auf den Mandanten übertragen wird. 8. Kommunikation mit dem Mandanten Familienrecht ist emotional beladen. Wer sich trennt, verliert eine wich- 82 tige Bindung und befindet sich in einem psychischen und nervlichen Ausnahmezustand. Dies macht eine situationsgerechte professionelle Kommunikation mit dem Mandanten unumgänglich und setzt voraus, dass das Kommunikationsmanagement des Anwaltssekretariats auf die spezifische familienrechtliche Ausnahmesituation des Mandanten eingestellt wird. In den regelmäßigen Untersuchungen zum Verhältnis Anwalt/Mandat spielt dieses Kommunikationsverhalten eine dominante Rolle. Die „Erreichbarkeit“ des Anwalts für den Mandanten ist fast wichtiger als dessen fachliche Qualifikation. Erreichbarkeit bedeutet jedoch nicht „jederzeitige“ Erreichbarkeit. Auch der Anwalt hat das Recht, in Ruhe zu arbeiten, sich in Ruhe mit seinen Mandanten zu beraten und ungestört nachdenken zu können. Dies dem Mandanten zu vermitteln und gleichzeitig zu beweisen, dass dadurch keine Kommunikationsdefizite entstehen, ist nicht schwierig. Es ist eine Frage der Kommunikation mit dem Mandanten, ihm klar zu machen, dass jederzeitige Erreichbarkeit und minutengenaue Reaktion auf eingehende E-Mails Beweise unstrukturierten anwaltlichen Handelns sind und mit Kundenfreundlichkeit nicht das Geringste zu tun haben. Ob Telefonzeiten eingeführt werden, Rückrufe innerhalb von 24 Stunden garantiert werden und E-Mail- und Hauß
27
Kap. 1 Rn. 83
Das familienrechtliche Mandat
Faxkommunikation eine besondere Bedeutung in der Kanzleiorganisation haben, ist Geschmacksache und sollte jeder selbst entscheiden. Wichtig ist lediglich, dass das Kommunikationsverhalten des Anwalts und seiner Kanzlei vom Mandanten als regelgesteuert wahrgenommen wird. 83 Es ist empfehlenswert, den neuen Kommunikationswegen Fax und E-Mail lediglich den Vorteil des rascheren Zugangsweges einzuräumen, sie gegenüber der stofflichen Kommunikation herkömmlicher Post aber nicht prioritär zu behandeln. 84 Der Faxverkehr zwischen Anwälten untereinander und zwischen Anwalt und Mandant ist vielfach von Disziplinlosigkeit und Beliebigkeit geprägt. Die häufig zu beobachtende Unsitte, jedes Schreiben per Fax und Original zu versenden, macht Akten dick und verursacht einen doppelten Aktenumlauf, nämlich am Tag des Fax- und am Folgetag des Briefeingangs. Auch erscheint es widersinnig, die neuen Kommunikationswege zu nutzen und den Papierverbrauch zu steigern. 85 Wenn Anwalt und Mandant sich auf Faxregeln einigen können, wäre einiges gewonnen. Faxregeln könnten sein: – Folgt einem Fax auch das Original, ist dies auf dem Fax zu vermerken durch Anbringen des Aufdruckes „vorab als Fax“. – Schriftstücke sollten nur dann als „Vorabfaxe“ (also mit nachfolgendem Original) versandt werden, wenn sie tatsächlich eilig und beispielsweise zur Fristwahrung erforderlich sind. Ein „Vorabfax“ sollte nur in seltensten Notfällen nach 14:00 Uhr versandt werden, weil, gebunden durch Mandantenbesprechungen, eine zeitnahe Reaktion auf ein nachmittags eingehendes Fax oft nicht möglich ist. Ein nach den üblichen Bürozeiten versendetes „Vorabfax“ ist Nachweis unzureichender gedanklicher Organisation, weil idR die Post am nächsten Tag ohnehin zugestellt wird. – Mehrseitige Faxe längeren Inhalts mit vielen Anlagen sind nur dann zulässig, wenn ausnahmsweise die Eile groß ist. Da die Faxqualität häufig immer noch schlechter als die Druckqualität ist und insbesondere Anlagen bei der Übermittlung per Fax oftmals schwer lesbar sind, sollte man vielseitige Faxe niemandem zumuten. – Faxe sind lediglich einfach zu versenden. Der Versandt des Doppels für den Mandanten ist unsinnig, weil Kopierkosten meist geringer sind als die Kosten des Ausdrucks mit dem Faxgerät und am Faxgerät das Dokumentenhandling deutlich schlechter als im organisierten Bürobetrieb am Kopierer ist. 86 Bei Einhaltung dieser Faxregeln lässt sich auch mit diesem Kommunikationsmittel vernünftig umgehen.
28
Hauß
Das familienrechtliche Mandat
Rn. 91
Kap. 1
9. Das Anwaltssekretariat Viele Anwälte unterschätzen die Möglichkeiten der Arbeitserleichterung durch Delegation. Wer sein Personal gut aus- und ständig weiterbildet, kann einen großen Teil der telefonischen Nachfragen und der Arbeit zur Ermittlung von Sachverhalten auf Personal delegieren. Dies betrifft
87
– die Ausfüllung von VKH-Formularen, – die Ausfüllung der Versorgungsausgleichsformulare, – die Ermittlung des Jahres-Brutto- und -Nettoeinkommens, – die Zusammenstellung von Vermögensaufstellungen, – die Zusammenstellung von Hausratslisten und vieles mehr. Eine gut ausgebildete Anwaltsgehilfin kann neben Schreibarbeiten dem fa- 88 milienrechtlich tätigen Anwalt nicht nur einen großen Teil der Kommunikation abnehmen, sondern ihm auch fachlich zuarbeiten. Es versteht sich von selbst, dass es Sache des Anwalts ist, die nach der Dokumentationsarbeit erforderliche Bewertung vorzunehmen. Die Auswertung einer Akte auf Einkommen- und Abzugspositionen, die Zusammenstellung von Vermögen aus den Mitteilungen des Mandanten kann aber im Sekretariat erfolgen. Wer diese Möglichkeiten nicht nutzt, darf sich über eine schlechte Gebührenstruktur nicht beschweren. Die Gebühren honorieren anwaltliche Arbeit. Sachbearbeitertätigkeit wäre geringer zu honorieren. Allerdings setzt eine solche Arbeitsdelegation auch voraus, dass die Unterbezahlung von Sekretariatsarbeit beendet wird. Wer die Qualität einer Sachbearbeitung verlangt und schätzt, muss diese auch entsprechend entlohnen.
89
III. Außergerichtliche Tätigkeit In den meisten Fällen folgt der Erstberatung des Mandanten nicht sofort 90 die gerichtliche, sondern zunächst die außergerichtliche Tätigkeit. Dazu gehören – die Aufforderung zur Erteilung von Auskünften, – die Einforderung, Vereinbarung und Organisation von Umgangsrechten, – die Verteilung von Haushaltsgegenständen etc. Diese außergerichtliche Tätigkeit ist die „Ouvertüre“ des familiengerichtlichen Verfahrens. Ihr kommt entscheidende Bedeutung für das gesamte familienrechtliche Verfahren zu. Mit dem Beginn der außergerichtlichen Tätigkeit des Anwalts wird der Ton eines familiengerichtlichen Verfahrens vorbestimmt.
Hauß
29
91
Kap. 1 Rn. 92
Das familienrechtliche Mandat
1. Unterhaltsfragen 92 Nahezu regelmäßig beginnt ein Trennungs- und Scheidungsverfahren auf Seiten des wirtschaftlichen schwächeren Ehegatten mit der außergerichtlichen Geltendmachung des unterhaltsrechtlichen Auskunftsanspruchs. Es ist zwar zutreffend, dass in Formularbüchern umfassende Auskunftsansprüche musterhaft vorformuliert sind, die teilweise mehr als eine DIN-A4-Seite in Anspruch nehmen. Stilvoll ist es jedoch nicht, einen solchen Auskunftsanspruch zu stellen. Der erfahrene Anwalt weiß ohnehin, dass die Auskunft nicht in der Form des § 260 BGB erteilt wird, weil Laien zur Erteilung einer formgerechten Auskunft nicht in der Lage sind. Darüber hinaus wirkt es nicht besonders professionell und einfühlsam, wenn die gegnerische Partei um Auskünfte zu ihren Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, Dividenden, Tantiemen, Honoraren, Kapital und sonstigen entlegenen Bereichen angegangen wird, wenn der Anwalt weiß, dass der Auskunftspflichtige Arbeitnehmer ist. Auch macht es wenig Sinn, einen unstrukturierten Menschen aufzufordern, Steuererklärung und Steuerbescheide der letzten Jahre vorzulegen, wenn die Steuererklärung gemeinsam von den Gatten abgegeben worden ist und damit Steuererklärung und Steuerbescheid unschwer vom Mandanten selbst beim Finanzamt besorgt werden können. Wenig einfühlsam und für den Auskunftspflichtigen kaum nachvollziehbar ist die Aufforderung, Kreditverträge aus gemeinsam mit seinem Ehegatten eingegangenen Verbindlichkeiten vorzulegen, da doch auch der Gatte Kreditnehmer ist und daher ggf. über die Bank eine Kopie des Vertrags herbeischaffen kann. 93 Derartige Auskunfts- und Belegbegehren kann man unproblematisch an einen gut organisierten Auskunftsschuldner richten. Einen unstrukturierten und unorganisierten Menschen bringt man damit in unnötige Schwierigkeiten, die prozessual keinerlei Vorteil bringen, sondern lediglich Zeitverzögerungen, unbezahlte Arbeit und viel Schreiberei. Die goldene Regel des Auskunftsersuchens lautet: „Was der eigene Mandant unschwer oder mit auch einigen Mühen selbst beibringen kann, sollte der eigene Mandant beibringen“. Lediglich das, was der eigene Mandant nicht beibringen kann (zB Lohnabrechnungen), muss der Auskunftsschuldner beibringen. 94 Die Auskunftserteilung hat durch Vorlage der letzten 12 Gehalts- und Einkommensabrechnungen zu erfolgen. Dies gilt aber nur dann, wenn aus diesen auch tatsächlich auf die gegenwärtigen und zukünftigen Einkommensverhältnisse geschlossen werden kann1. Wenn sich die Arbeitsund Einkommensrealität innerhalb der letzten 12 Monate nachhaltig verändert hat (Arbeitsstellenwechsel, Kurzarbeit, Beförderung etc.) ist es unsinnig, auf der Vorlage von Einkommensunterlagen zu beharren, die eine Einkommensperiode betreffen, die nicht unterhaltsprägend sein wird. Ein 1 In der Aussage klar insoweit BGH v. 2.6.2004 – XII ZR 217/01, FamRZ 2004, 1177.
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Das familienrechtliche Mandat
Rn. 98
Kap. 1
derartiger Formalismus weckt unnötige Widerstände und teilweise auch Aggressionen. Da sich trennende Partner über Überstundenkonstellation, Einkommens- 95 entwicklung der letzten 12 Monate, Krankheit, Kurzarbeit und sonstige Faktoren idR ausreichend informiert sind, reicht es aus, wenn die Lohnoder Gehaltsabrechnung des Dezembers des Vorjahres eingereicht wird, aus der sich die Jahreswerte (Gesamtbrutto, Steuerbrutto, sozialversicherungspflichtiges Brutto, Sachbezüge etc) ergeben. Ein Steuerberechnungsprogramm darf bei keinem Familienrechtler fehlen. Die Jahresgehaltsabrechnung ist ausreichend, das Bruttoeinkommen zu bestimmen, wenn sie die aktuellen Einkommensverhältnisse für die nächste Unterhaltsperiode zutreffend wiedergibt. Zwar rechnen Unterhaltsprogramme ggf. auch centgenau, die Berechnung basiert jedoch auf einer Prognose der Einkommensverhältnisse, die selbst stets ungenau ist. Es zeugt von Kompetenz anwaltlicher Vertretung, wenn der Steuerklas- 96 senwechsel, der im Folgejahr der Trennung vorzunehmen ist, in einer Unterhaltsberechnung mit berücksichtigt wird, wobei sich die Veränderung der Besteuerungsgrundlagen schon aus fiskalischen Gründen nicht so sprunghaft entwickelt, dass es nicht gerechtfertigt wäre, auch schon im November eines Jahres auf der Basis der Steuerdaten des laufenden Jahres die für das Folgejahr zu entrichtenden Steuern zu berechnen. Die durch das Jahressteuergesetz eingetretenden Verschiebungen sind idR minimal und ggf. später nachzukorrigieren. 2. Vermögensfragen Die außergerichtliche Regelung von Vermögensfragen ist immer erstre- 97 benswert und für die Parteien hilfreich. Gleichwohl ergibt sich idR nur selten die Möglichkeit, Vermögensfragen trennungsnah einer vernünftigen Lösung zuzuführen. Es bedarf dazu erfahrungsgemäß vielfach des Drucks eines eingeleiteten Scheidungsverfahrens. Aus zugewinnausgleichsrechtlichen Gründen ist es ohnehin im Streitfall immer sinnvoll, das Scheidungsverfahren rechtskräftig werden zu lassen, bevor der Zugewinn geltend gemacht wird, um so den Vorteil des Drucks des Verzuges nutzen zu können. Trotzdem spielen Vermögensfragen auch zu Beginn eines familienrechtlichen Verfahrens eine wichtige Rolle. Vielfach sind die Ehegatten vermögensrechtlich auf unterschiedliche 98 Weise verbunden. Leider immer noch zu häufig bestehen gemeinsame Konten, entweder in der Form eines Und- (selten) oder (meist) eines Oderkontos, also einer höchst labilen Form, die jedweden Zugriff in Schädigungsabsicht ermöglicht. Es hat sich in der Praxis als ausgesprochen vorteilhaft herausgestellt, in diesen Fällen das kontoführende Geldinstitut über die Trennung der Parteien zu informieren und ihm (unabhängig von der stringenten rechtlichen Bindung) mitzuteilen, dass einer Verfügung
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Kap. 1 Rn. 99
Das familienrechtliche Mandat
des anderen Gatten über das Konto, die nicht durch ein Gutachten gedeckt ist, widersprochen wird. 99 Kontovollmachten für das Konto eines Ehegatten sollten gegenüber dem bevollmächtigten Ehegatten und dem kontoführenden Institut widerrufen werden. EC-Karten und Kreditkarten sollten eingezogen und widerrufen werden. Dabei gebieten es die Höflichkeit und der Anstand, vom Widerruf einer Kontoermächtigung, dem Einzug einer Kredit- oder EC-Karte den anderen Gatten vorab zu informieren, um ihn nicht der Peinlichkeit des finanziellen Deckungsverlustes bei Gebrauch von Kredit- oder Scheckkarte auszusetzen. 3. Wohnungsfragen 100
Die Ehewohnung spielt in fast allen Trennungs- und Scheidungsfällen eine wichtige Rolle. Handelt es sich um eine im Eigentum beider Parteien oder einer Partei stehende Wohnung, ist die Frage, wer in der Wohnung verbleibt, für die gesamte weitere Auseinandersetzung von maßgeblicher Bedeutung. Leben die Parteien im Zeitpunkt der Erstberatung noch gemeinsam in einer Wohnung, sind deren weiteres Schicksal und das Verhalten der Parteien zu erörtern.
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Nur in seltenen Fällen kann die Ehewohnung einem der beiden Gatten oder der Restfamilie erhalten werden. Die Finanzierung von zwei Haushalten überfordert jedenfalls die Leistungsfähigkeit aller Durchschnittverdiener so weit, dass der eheliche Lebensstandard für beide Familientorsen nicht erhalten werden kann. In der anwaltlichen Beratung den Wunsch der vertretenen Partei zu erkennen, die aktuelle Wohnsituation beizubehalten, ist nicht schwer. Dieser Wunsch wird vielfach mit dem Argument begründet, man wolle den Kindern nach der Trennung der Eltern nun nicht auch noch den Verlust der gewohnten Umgebung zumuten. Meist ist offenkundig, dass dieses Affektionsinteresse spätestens nach dem auf das Trennungsjahr folgenden Steuerklassenwechsel mit den wirtschaftlichen Realitäten kollidiert. Es wäre schlechte anwaltliche Beratung, die vertretene Partei nicht von vornherein auf die Notwendigkeit der Wohnungsaufgabe hinzuweisen.
102
Noch schlechter wäre es indessen, der Partei zur Konfliktstrategie des Zuweisungsverfahrens nach dem Gewaltschutzgesetz zu raten, ohne dass deren tatsächliche Voraussetzungen vorlägen. Zwar kann nicht bestritten werden, dass auf diesem Weg eine schnelle und meist in der Praxis auch abschließende Klärung der Wohnungszuweisung erfolgt, die Erwirkung einer unberechtigten Wohnungszuweisung nach § 2 GewSchG stellt jedoch eine Straftat dar. In Fällen tatsächlicher Gewalt kann jedoch das Wohnungszuweisungsverfahren eine schnelle und wirksame Maßnahme sein.
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Das familienrechtliche Mandat
Rn. 106
Kap. 1
a) Mietwohnung Leben die Ehegatten in einer Mietwohnung und verlässt ein Ehegatte diese, ist das Problem der Haftung für Mietschulden und ggf. Beschädigungen an der Wohnung zu klären. Sind beide Ehegatten Mieter der Wohnung, ist es sinnvoll, frühzeitig mit dem Vermieter Kontakt aufzunehmen und ihm die Trennung mitzuteilen. Außerdem muss sichergestellt werden, dass der in der Wohnung verbleibende Ehegatte nicht von eine Kündigung rechtfertigenden Mietrückständen überrascht wird, wenn etwa der ausgezogene Ehegatte es übernommen hat, die Miete weiter zu zahlen. Die Trennungsmitteilung an den Vermieter hat zwar keine Rechtswirkung, hilft aber praktisch meist weiter und sollte nur in begründeten Ausnahmefällen unterlassen werden.
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b) Immobilie im Eigentum der Parteien Steht die Familienimmobilie im Eigentum beider Ehegatten und verbleibt 104 einer der beiden allein oder mit den Kindern in der Immobilie, ist bereits in der Erstberatung darauf hinzuweisen, dass nach der neueren Rechtsprechung des BGH der Wohnvorteil nur für das Trennungsjahr auf den angemessenen und anschließend nach dem Trennungsjahr auf den objektiven Wert (Marktmietpreis) festzusetzen ist1. Auch darüber ist die in der Immobilie verweilende Partei bereits im Erstgespräch aufzuklären, weil die unterhaltsrechtliche Konsequenz des Verbleibs in einer zu groß bemessenen und den konkreten Wohnbedarf übererfüllenden Immobilie von den Parteien meist nicht erkannt wird. Spielen Unterhaltsfragen keine Rolle, weil wechselseitige Unterhaltsansprüche nicht existieren, ist bei einer Trennung der verbleibende Gatte verpflichtet, eine Nutzungsentschädigung zu zahlen (§ 1361b Abs. 3 S. 2 BGB). Diese ist zwar nur insoweit geschuldet, als es der Billigkeit entspricht, verdienen beide Gatten, wird man jedoch idR davon auszugehen haben, dass eine Nutzungsentschädigung der Billigkeit entspricht. Auch für die Nutzungsentschädigung gilt, dass sie im Trennungsjahr nach dem angemessenen und danach nach dem objektiven Mietzins zu bewerten ist2.
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Die frühzeitige Geltendmachung der Nutzungsentschädigung erleichtert 106 in vielen Fällen eine Einigung über das weitere Verfahren hinsichtlich der Immobilie, weil den Parteien so bewusst wird, dass ein Verweilen in der Immobilie keinen Vorteil bringt, der nicht ökonomisch alsbald kompensiert würde.
1 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 = FamRB 2008, 168. 2 HK-Familienrecht/Wunderlin, § 1361b BGB Rn. 18.
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Kap. 1 Rn. 107
Das familienrechtliche Mandat
4. Elterliche Sorge und Umgang 107
Elterliche Sorge- und Umgangsfragen sind hoch sensible Themen, die ebenfalls stilprägend für eine familienrechtliche Auseinandersetzung sind. Nachdem die Beibehaltung der gemeinschaftlichen elterlichen Sorge auch im Scheidungsfall zur Regel geworden ist, bietet das Umgangsrecht den Parteien leider die Möglichkeit, die in der Trennung zum Ausdruck kommenden Verletzungen gegeneinander auszuleben. Anders ist nicht zu erklären, dass Ehegatten bis Dienstag zusammenleben, sich mittwochs trennen und einander ggf. wechselseitig am Donnerstag die Fähigkeit absprechen, unbeobachtet und allein mit dem Kind, mit dem man bis Dienstag gemeinsam gelebt hat, umzugehen. Eine derartige Niedertracht im Verhalten der Parteien zueinander wird leider teilweise mit anwaltlicher Unterstützung gepflegt. Wenn ein Trennungs- und Scheidungsverfahren gründlich misslingen soll, dann muss zu einem möglichst frühen Zeitpunkt das Umgangsrecht verweigert oder dem Elternteil, bei dem das Kind nicht residiert, ein Vorschriftenkanon gemacht werden, wie er mit dem Kind umzugehen hat.
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Es wäre viel gewonnen, wenn die Anwaltschaft mit Entschiedenheit und Beharrlichkeit ihre Mandanten auf Gewährung und Wahrnehmung des Umgangsrechts mit ihren Kindern verpflichten würde. Es wäre auch hilfreich, wenn sich die Erkenntnis durchsetzen würde, dass idR die Nichtgewährung und Nichtwahrnehmung des Umgangsrechts Gefährdungen des Kindeswohls darstellen und dass nur in ganz seltenen Ausnahmefällen das Kindeswohl durch die Wahrnehmung des Umgangsrechts gefährdet wird. Die Be-/Verhinderung von Umgangskontakten, sei es durch eine angebliche Weigerungshaltung des Kindes oder durch das Verhalten des Residenzelternteils, stellt ein erhebliches und das Kindeswohl gefährdendes Erziehungsversagen dar.
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Kapitel 2 Ehe, Scheidung, Aufhebung Inhaltsübersicht I. Eheverständnis des BGB . . . . . . II. Ehescheidung 1. Vorfragen des Scheidungsverfahrens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . b) Zeitpunkt des Scheidungsantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Scheidungsgrund: Scheitern der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Scheidungsvoraussetzung: Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Scheidungsarten a) Der Scheidungsantrag, § 133 FamFG . . . . . . . . . . . . . . b) Die Zerrüttungsscheidung, §§ 1565 Abs. 1, 1566 Abs. 1 BGB aa) Formelle Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
5 7 10 14 16 24
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bb) Zeitliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Scheiternsvermutung. . . . . . . . . . . . . . . . dd) Aussetzung des Scheidungsverfahrens . . . . . . . . c) Härtefallscheidung, § 1565 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Formelle und inhaltliche Voraussetzung . . . . . . bb) Risiken der Härtefallscheidung. . . . . . . . . . . . . . d) Verzögerte Scheidung nach dreijähriger Trennung . . . . . . e) Härteklauseln, § 1568 BGB . aa) Kinderschutzklausel . . . . bb) Ehegattenschutzklausel . 5. Ehescheidung und Ehename. . .
31 33 34 35 36 40 41 42 44 47 52
III. Aufhebung der Ehe . . . . . . . . . . . 55
I. Eheverständnis des BGB Bei Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Jahr 1900 lag dem Ehe- 1 und Scheidungsrecht ein institutionelles Eheverständnis zugrunde, das im Wesentlichen auf die Ehetheorie von Savigny zurückging. Savigny definierte die Ehe als „Keimzelle des Staates“1 und verstand die Ehe als Grundlage des bürgerlichen Staates, deren Aufrechterhaltung und Förderung dem Interesse der Gesellschaft und des Staates diene2. Dieses im 19. Jahrhundert weit verbreitete Eheverständnis verlangte nach einem strengen Scheidungsrecht, das Ehe und damit auch Gesellschaft stabilisierte. Dementsprechend sah das ursprüngliche Scheidungsrecht den Verschuldensgrundsatz als Scheidungshindernis vor, allerdings wurde dieses Eheverständnis bereits kurz nach dem Inkrafttreten des BGB, insbesondere im Verlauf des 1. Weltkrieges stark kritisiert. Erste Reformbestrebungen setzten bereits in den früheren 20er Jahren ein, sie scheiterten jedoch. Erst durch das Ehegesetz von 1938 gelang es, dem Verschuldensprinzip als Scheidungsgrund das Zerrüttungsprinzip in § 55 EheG zur Seite zu stellen. Eine unheilbar zerrüttete Ehe konnte seither geschieden werden, 1 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, § 53, S. 343, 344. 2 Zum Gesamtzusammenhang E. Dastmaltchi, § 630 ZPO als eheerhaltendes Element im Scheidungsrecht? Hamburg, 2006.
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Kap. 2 Rn. 3
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wenn die häusliche Gemeinschaft drei Jahre lang aufgehoben war und die Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht erwartet werden konnte. In § 55 Abs. 2 EheG wurde eine Widerpruchslösung des „unschuldigen“ Ehegatten verankert, die sich heute noch im türkischen Recht findet (Art. 166 Abs. 2 türk. ZGB). Seit damals wurde diskutiert, eine Vertragsscheidung einzuführen, die das Korrelat zu der durch übereinstimmende Willenserklärung der Ehegatten herbeigeführten Ehe dargestellt hätte. 3
Obgleich mit der Eherechtsreform 19771 dem deutschen Recht generell das Zerrüttungsprinzip implantiert wurde, hat das BVerfG am institutionellen Eheverständnis festgehalten2.
4
Auch heutiges Eherecht und Eheverständnis des BGB sind weitgehend von der institutionellen Funktion der Ehe geprägt. Die Proteste gegen eine „Scheidung light“ im Zusammenhang mit der Einführung des FamFG, die eine weit gehende vertragliche Regelung der Scheidungsfolgen zum Ziel hatte, war zu einem erheblichen Teil auch Ausdruck eines institutionellen hoheitlichen Eheverständnisses. Die Erleichterung von Trennung und Scheidung durch ein einfacheres und mehr an der Parteiautonomie orientiertes Scheidungsrecht scheint nach wie vor nicht konsensfähig.
II. Ehescheidung 1. Vorfragen des Scheidungsverfahrens 5
Vor Einleitung des Scheidungsverfahrens durch einen oder beide Ehegatten ist stets auch zu prüfen, welches Recht anwendbar ist, ob aus einer Rechtswahl ein Vorteil für einen der beteiligten Ehegatten entstehen kann und welche sachliche und örtliche Zuständigkeit für die Ehesache gegeben ist.
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Ehesachen sind nach § 121 FamFG Verfahren auf Scheidung der Ehe, auf Aufhebung der Ehe und auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehen der Ehe zwischen den Beteiligten. a) Zuständigkeiten
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Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich nach § 122 FamFG in einer klar logischen Hierarchie. Erstzuständig ist das Gericht, in dessen Bezirk einer der Ehegatten mit allen gemeinschaftlichen Kindern seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 122 Nr. 1 FamFG). An zweiter Stelle folgt das Gericht, in dessen Bezirk einer der Ehegatten mit einem Teil der gemeinschaftlichen Kinder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sofern bei dem anderen Ehegatten keine gemeinschaftlichen Kinder ihren gewöhnlichen 1 Gesetz v. 14.6.1976, BGBl. I, S. 1421. 2 BVerfG v. 28.2.1980 – 1 BvL 136/78, FamRZ 1980, 319 (323).
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Rn. 9
Kap. 2
Aufenhalt haben (§ 122 Nr. 2 FamFG). Die Rangfolge der Zuständigkeit setzt sich gem. § 122 Nr. 3–6 FamFG fort über das Gericht, in dessen Bezirk die Ehegatten ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt zuletzt gehabt haben, wenn einer der Ehegatten bei Eintritt der Rechtshängigkeit im Bezirk dieses Gerichts seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; das Gericht, in dessen Bezirk der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; das Gericht, in dessen Bezirk der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; das Amtsgericht Schöneberg in Berlin. Die örtlichen Zuständigkeitsregeln haben insbesondere deswegen strategi- 8 sche Bedeutung, weil durch die Sogwirkung des Scheidungsantrags anderweitig anhängige Familiensachen, wie zB Unterhaltsverfahren (vgl. § 232 FamFG), der örtlichen Zuständigkeit der Ehesache folgen. Dies kann bei mobilen Parteien zB genutzt werden, um eine andere örtliche Zuständigkeit für ein laufendes Trennungsunterhaltsverfahren zu begründen, wenn diese durch Einleitung des Scheidungsverfahrens an einem anderen Gericht begründet werden kann. (Es soll Anwälte geben, die aus Gründen der örtlichen Zuständigkeit ihren Trennungs- und Scheidungsmandanten den Umzug in den Bezirk eines bevorzugten Gerichts empfehlen). Bezüglich der internationalen Zuständigkeit gilt der Vorrang völkerrechtlicher Vereinbarungen, die unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind (§ 97 FamFG). Zu beachten ist hier insbesondere die sog. Brüssel IIa-VO (EG) Nr. 2201/2003 v. 27.11.2003, die das internationale Ehe- und Kindschaftsverfahrensrecht umfassend regelt. Ansonsten wird die internationale Zuständigkeit in §§ 98–106 FamFG geregelt, die im Wesentlichen die gleichen Zuständigkeitsvoraussetzungen schaffen wie bis zum 31.8.2009 § 606a ZPO.
Û
Wichtig: Insbesondere wenn gemischt nationale Ehen vorliegen oder die Parteien ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, ist vom Anwalt nach dem Günstigkeitsgrundsatz stets zu prüfen, ob die zulässige Wahl eines Gerichtsstandes im Ausland der vertretenen Partei Vorteile bietet. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass ehevertragliche Vereinbarungen in vielen Ländern unter anderen Wirksamkeitsvoraussetzungen beurteilt werden als in Deutschland. Die Annahme, ein deutscher Ehevertrag entfalte auch bei einer Auslandsscheidung stets Wirksamkeit, ist unzutreffend, wenn ausländisches Recht auf den Scheidungsfall anzuwenden ist1.
Rein faktisch ist jedoch auch stets zu berücksichtigen, dass selbst da, wo 9 nach internationalen Prozessrechtsregeln deutsches Recht im Ausland anzuwenden wäre, viele Richter (zB in Großbritannien) sich weigern, ausländisches Recht anzuwenden, und auch eine eindeutig nach ausländischem (deutschem) Recht zu scheidende Ehe nach dem jeweiligen Orts-
1 Reus/Goelz, FamRZ 2001, 1672.
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Kap. 2 Rn. 10
Ehe, Scheidung, Aufhebung
recht nicht nur hinsichtlich der Scheidung, sondern auch der Scheidungsfolgen abwickeln.
Û
Wichtig: In Zweifelsfällen empfiehlt sich bei gemischt nationalen oder rein ausländischen Scheidungen, sehr genau zu prüfen, welches Scheidungsstatut (Scheidungsrecht) auf Ehescheidung und Ehefolgen anzuwenden ist. Der Anwalt haftet insoweit für Falschberatung.
b) Zeitpunkt des Scheidungsantrags 10 Auch der Zeitpunkt eines Scheidungsantrags ist zu berücksichtigen. In der anwaltlichen Praxis kommen immer wieder „wild entschlossene“ Scheidungsparteien vor, die ihre Ehe lieber heute als morgen geschieden sehen wollen. Es ist jedoch im Vorfeld eines Scheidungsverfahrens auch dessen richtiger Zeitpunkt zu berücksichtigen. 11 Dazu gehört die Abwägung, ob und wie lange Trennungsunterhalt und nachehelicher Unterhalt verlangt werden kann und soll. Ein eiliger Scheidungsantrag verkürzt die Trennungsphase, innerhalb derer die Gatten auf Aufrechterhaltung der in der Ehe geschaffenen Verhältnisse vertrauen können. So wird zB innerhalb des Trennungsjahres der Wohnvorteil nur mit der angemessenen ersparten Miete bewertet1. Nach Einreichung des Scheidungsantrags und Ablauf des Trennungsjahres ist dagegen dem Wohnberechtigten der objektive Marktmietwert als Einkommen zuzurechnen2. Auch der Aus- und Weiterbildungsunterhalt nach § 1575 BGB kann in der Trennungszeit ggf. leichter geltend gemacht werden, als nach Einleitung des Scheidungsverfahrens3. 12 Da die für den Versorgungsausgleich relevante Ehezeit bis zur Zustellung des Scheidungsantrags läuft (§ 3 Abs. 1 VersAusglG), können auch versorgungsausgleichsrechtliche Überlegungen bei der Wahl des richtigen Zeitpunkts des Scheidungsantrags eine Rolle spielen. Hierbei ist insbesondere bei zeitratierlich zu bewertenden Versorgungen, etwa bei Beamten, eine mögliche Beförderung zu beachten. Sind derartige sich positiv auf die Altersversorgung eines Gatten auswirkende Ereignisse abzusehen, wird man auch das Risiko eines vorfristig gestellten Scheidungsantrags in Betracht zu ziehen haben. Nach Wegfall des Rentner- und Begrenzung des Unterhaltsprivilegs im Versorgungsausgleich müssen auch bei rentennahen Jahrgängen keine Überlegungen und Berechnungen zur optimalen Ausnutzung dieser Privilegien mehr angestellt werden.
1 BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 21/05, FamRZ 2007, 879 = FamRB 2007, 228. 2 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170. 3 BGH v. 29.11.2000 – XII ZR 212/98, FamRZ 2001, 350.
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Rn. 17
Kap. 2
Leben die Gatten im gesetzlichen Güterstand, können auch güterrecht- 13 liche Überlegungen die Wahl des Scheidungszeitpunkts beeinflussen. Allerdings können die Beteiligten insoweit durch einen vorzeitigen Zugewinnausgleich nach § 1386 BGB bei Vermögensgefährdung ihre Interessen angemessen wahren. 2. Scheidungsgrund: Scheitern der Ehe § 1565 Abs. 1 BGB bestimmt, dass eine Ehe (nur dann) geschieden werden kann, wenn sie gescheitert ist. § 1565 Abs. 1 S. 2 liefert die Legaldefinition des Scheiterns der Ehe und stellt fest, dass die Ehe gescheitert ist, wenn
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– die Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht und – nicht erwartet werden kann, dass die Ehegatten sie wiederherstellen. Das Gesetz verwendet bei der Legaldefinition des Scheiterns der Ehe 15 nicht den Begriff der Trennung, sondern spricht vom Nichtbestehen der Lebensgemeinschaft der Ehegatten. Die häusliche Gemeinschaft der Ehegatten ist nur ein Teilaspekt der Lebensgemeinschaft1. 3. Scheidungsvoraussetzung: Trennung IdR wird die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft durch räumli- 16 che Trennung realisiert. Ein Getrenntleben nach § 1567 BGB kann jedoch auch innerhalb der Ehewohnung erfolgen. Die Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft als Lebensgemeinschaft der Ehegatten ist Kennzeichen der Trennung. Dies bedeutet, dass kein gemeinsamer Haushalt geführt wird, was idR durch Einstellung der wechselseitigen Versorgungsleistungen dokumentiert wird. Gelegentliche gemeinsame Mahlzeiten sind dabei unschädlich2. Das äußere Erscheinungsbild des Lebens von Eheleuten innerhalb einer Wohnung muss die Trennung trotz aufrechterhaltener häuslicher Gemeinschaft erkennen lassen3. Neben diesen von der Rechtsprechung vielfältig geforderten objektiv er- 17 kennbaren Trennungsvoraussetzungen wird als subjektives Element des Getrenntlebens der Trennungswille eines oder beider Ehegatten hervortreten. Die lediglich berufsbedingte Wahl je einer eigenen Wohnung durch jeden Ehegatten etwa stellt zwar äußerlich eine Trennung und die Einstellung wechselseitiger Versorgungsleistungen dar. Eine so begründete Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft wird aber ohne Trennungs-
1 BGH v. 7.11.2001 – XII ZR 247/00, FamRZ 2002, 316 = FamRB 2002, 97; OLG Stuttgart v. 27.2.2001 – 17 UF 411/00, FamRZ 2002, 239. 2 Palandt/Brudermüller, § 1567 BGB Rn. 3. 3 OLG Köln v. 3.6.1982 – 25 UF 220/81, FamRZ 1982, 807; OLG Stuttgart v. 7.5.1992 – 16 WF 152/92, FamRZ 1992, 1435.
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Kap. 2 Rn. 18
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willen herbeigeführt und erfüllt daher das Kriterium der aufgehobenen Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht1. 18 Schwierig kann für einen Beteiligten der Nachweis des Getrenntlebens sein, wenn sein Gatte dies bestreitet und konkrete Versorgungsleistungen behauptet. Dem kann der scheidungswillige Gatte nicht dadurch entgegentreten, dass er Versorgungsleistungen bestreitet. Vielmehr muss er nach den üblichen Beweislastkriterien die Tatsache des Scheiterns der Ehe beweisen und dazu die tatsächliche, von einem Trennungswillen getragene Aufhebung der häuslichen Lebensgemeinschaft substantiiert darlegen2.
Û
Praxistipp: Aus anwaltlicher Sicht ist es daher stets geboten, den Beteiligten zu raten, bei tatsächlich vorhandenem Scheidungswillen die häusliche Gemeinschaft durch Auszug aus der ehelichen Wohnung aufzuheben. Leben die Beteiligten weiterhin in einer Wohnung, ist es erforderlich, dass der trennungs- und scheidungswillige Gatte dem anderen Gatten seinen Trennungswillen mitteilt. Dies geschieht sinnvollerweise schriftlich. Der Zugang eines derartigen Schreibens sollte dokumentierbar sein.
19 Weitere Scheidungsvoraussetzung ist nach § 1565 BGB die Erwartung, dass die eheliche Lebensgemeinschaft nicht wiederhergestellt wird. Dies ist eine tatrichterliche Prognose, die unter Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu erfolgen hat3. 20 Am häufigsten wird der Nachweis des Scheiterns der Ehe i.S.v. § 1565 Abs. 1 S. 1 BGB durch die in § 1566 BGB normierten unwiderlegbaren Vermutungen geführt. Diese gelten für ein dreijähriges Getrenntleben (§ 1566 Abs. 2) und bei einem einjährigen Getrenntleben dann, wenn der andere Ehegatte dem Scheidungsantrag mindestens zustimmt (§ 1566 Abs. 1 BGB). 21 Stimmt ein Ehegatte dem Scheidungsantrag des anderen nach einjährigem Getrenntleben nicht wenigstens zu, bleibt dem scheidungswilligen Ehegatten die Möglichkeit eröffnet, das Scheitern der Ehe, statt durch die gesetzlichen Vermutungen mit substantiiertem Vortrag zu den Voraussetzungen des § 1565 Abs. 1 S. 2 BGB nachzuweisen, dass die Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht und nicht erwartet werden kann, dass die Ehegatten sie wiederherstellen (streitige Scheidung)4. An diesen Vortrag werden in der Praxis jedoch nur geringe Anforderungen gestellt, 1 Vgl. Palandt/Brudermüller, § 1567 BGB Rn. 5. 2 OLG Brandenburg v. 22.1.2008 – 10 UF 162/07, FamRB 2008, 262 = OLGReport 2008, 577; OLG Köln v. 7.4.1995 – 25 WF 67/95, FamRZ 1995, 1503. 3 BGH v. 7.11.2001 – XII ZR 247/00, FamRZ 2002, 316 = FamRB 2002, 97. 4 OLG Saarbrücken v. 21.4.2011 – 6 UF 13/11, OLG Report 19/2011 Anm. 4; OLG Hamm v. 30.5.2011 – II-8 UF 5/11, FamFR 2011, 570.
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Rn. 25
Kap. 2
so dass es regelmäßig schon aufgrund des Ablaufs des Trennungsjahres auch ohne Zustimmung des anderen Ehegatten zu einer Scheidung der Ehe kommt. Mit Einführung des FamFG ist die weitere Voraussetzung einer Einigung 22 über Unterhalt und Sorgerecht, bisher in § 630 ZPO vorgesehen, nunmehr obsolet. Der Scheidungsantrag muss lediglich noch eine Erklärung enthalten, ob die Ehegatten eine Regelung über die elterliche Sorge, den Umgang und die Unterhaltspflicht gegenüber den gemeinschaftlichen Kindern sowie die durch die Ehe begründete gesetzliche Unterhaltsverpflichtung, die Rechtsverhältnisse an der Ehewohnung und an den Haushaltsgegenständen getroffen haben. Fehlt es an einer solchen Vereinbarung, ist damit eine einverständliche Scheidung nach § 1566 Abs. 1 BGB gleichwohl möglich1. Angesichts dieser klaren Systematik des Gesetzes findet die weit verbrei- 23 tete Auffassung, wonach gegen den Widerstand eines der Ehegatten eine Ehe erst nach Ablauf von drei Trennungsjahren geschieden werden kann, im Gesetz keine Begründung. 4. Scheidungsarten a) Der Scheidungsantrag, § 133 FamFG Jede Scheidung wird durch einen Scheidungsantrag eingeleitet. Nach 24 § 133 FamFG muss die Antragschrift enthalten – Namen und Geburtsdaten der gemeinschaftlichen minderjährigen Kinder sowie die Mitteilung ihres gewöhnlichen Aufenthalts, – die Erklärung, ob die Ehegatten eine Regelung über die elterliche Sorge, den Umgang und die Unterhaltspflicht gegenüber den gemeinschaftlichen minderjährigen Kindern sowie die durch die Ehe begründete und gesetzliche Unterhaltspflicht, die Rechtsverhältnisse an der Ehewohnung und an den Haushaltsgegenständen getroffen haben und – die Angabe, ob Familiensachen, an denen beide Ehegatten beteiligt sind, anderweitig anhängig sind (§ 133 Abs. 1 FamFG). Der Antragschrift sollen ferner die Heiratsurkunde und die Geburtsurkunden der gemeinschaftlichen minderjährigen Kinder beigefügt werden (§ 133 Abs. 2 FamFG).
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Praxistipp: Es empfiehlt sich aus anwaltlicher Sicht stets, dem Scheidungsantrag bereits die Formulare zum Versorgungsausgleich beizugeben, wenn dieser durchgeführt werden soll. Dabei ist der Anwalt nicht nur als Übermittler tätig, vielmehr hat er die Plausibilität der Versorgungsausgleichsauskunft des von ihm vertretenen Beteiligten zu prüfen.
1 Prütting/Helms/Helms, § 133 FamFG Rn. 3.
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Kap. 2 Rn. 26
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Insbesondere sollte die Anwaltschaft sowohl bei der eigenen Mandantschaft als auch beim anderen Gatten auf vollständige Auskunft über den ehezeitlichen Versorgungserwerb achten. Ist aus einem Unterhaltsverfahren zB die Zahlung von Beiträgen zu einer Rentenversicherung bekannt, gehört es zur anwaltlichen Pflicht darauf zu achten, dass diese Versorgung auch in den Auskünften zum Versorgungsausgleich aufgeführt wird. 26 Neben den Angaben der Formalien in § 133 Abs. 1 FamFG hat der Scheidungsantrag sinnvollerweise auch Angaben zum Grund der Scheidung zu enthalten. Dabei geht es nicht um eine Begründung der Scheidung im eigentlichen Sinne, sondern die Mitteilung des Antragstellers, auf welche Norm das Scheidungsbegehren gestützt wird. 27 Einstweilen frei b) Die Zerrüttungsscheidung, §§ 1565 Abs. 1, 1566 Abs. 1 BGB aa) Formelle Voraussetzungen 28 Besondere formelle Voraussetzungen für einen Scheidungsantrag bestehen seit Inkrafttreten des FamFG nicht. Es gilt generell § 133 Abs. 1 FamFG. Insbesondere ist zu beachten, dass im Unterschied zum früheren § 630 ZPO nunmehr lediglich die Mitteilung verlangt wird, ob eine Einigung der Beteiligten über Scheidungsfolgen vorliegt. Eine Einigung selbst ist nicht mehr erforderlich. Fehlt im Scheidungsantrag die Erklärung zur Einigung, hat das Gericht den Antragsteller auf die Unzulässigkeit des Scheidungsantrags gem. § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 139 Abs. 3 ZPO hinzuweisen1. 29 Mit dieser Regelung zwingt der Gesetzgeber nicht zur Einigung der Beteiligten, sondern lediglich dazu, dass sie sich Klarheit über die wichtigsten Scheidungsfolgen (elterliche Sorge, Umgang und Unterhalt, Wohnung und Hausrat) schaffen. 30 Die Zustimmung des Antragsgegners zur Scheidung muss nicht mehr im Scheidungsantrag mitgeteilt werden. Vielmehr kann die Zustimmung zur Scheidung nach § 134 FamFG zur Niederschrift der Geschäftsstelle oder in der mündlichen Verhandlung zur Niederschrift des Gerichts erklärt werden (§ 134 Abs. 1 FamFG). Die Zustimmung zur Scheidung ist bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung, in der über die Scheidung der Ehe entschieden wird, widerruflich. Der Widerruf kann zur Niederschrift der Geschäftsstelle oder in der mündlichen Verhandlung zur Niederschrift des Gerichts erklärt werden.
1 Kroiß/Seiler, Das neue FamFG, Rn. 198.
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Rn. 34
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bb) Zeitliche Voraussetzungen Zeitliche Voraussetzung der Scheidung nach §§ 1565 Abs. 1, 1566 Abs. 1 31 BGB ist der Ablauf des Trennungsjahres. Leben die Beteiligten seit einem Jahr getrennt und stimmt der Antragsgegner der Scheidung zu oder beantragen beide Beteiligten die Scheidung, besteht die gesetzliche Vermutung des Scheiterns der Ehe und damit des Vorliegens der Scheidungsvoraussetzungen nach § 1565 BGB. § 1566 Abs. 1 BGB enthält eine zwingende Beweisregel (§ 292 S. 1 ZPO) und entbindet die Parteien davon, dem Gericht die ehelichen Verhältnisse und das Scheitern der Ehe in Einzelheiten offenzulegen. Gleichzeitig entbindet die Vorschrift den Familienrichter von der Feststellung der Zerrüttung der Ehe1. Das Trennungsjahr muss nach wie vor nicht bei Rechtshängigkeit des 32 Scheidungsantrag abgelaufen sein, vielmehr reicht es aus, wenn es am Schluss der mündlichen Verhandlung abgelaufen ist2. Weist das erstinstanzliche Gericht den Scheidungsantrag zurück, weil das Trennungsjahr nicht abgelaufen ist, wird idR das Trennungsjahr in einem eventuell geführten Beschwerdeverfahren ablaufen mit der Folge, dass das Oberlandesgericht den Rechtsstreit an das Familiengericht zurückweist, die Kosten allerdings dem Antragsteller auferlegen kann3. cc) Die Scheiternsvermutung Eine einjährige Trennungszeit und die Bekundung eines übereinstimmen- 33 den Trennungswillens durch beiderseitigen Scheidungsantrag oder der Zustimmung zum Scheidungsantrag durch den Antragsgegner begründet die gesetzliche Vermutung des Scheiterns der Ehe. Diese Vermutung ist unwiderlegbar, das Gericht darf Beweis nicht erheben, da der Beweis des Gegenteils ausgeschlossen ist4. dd) Aussetzung des Scheidungsverfahrens Nach § 136 Abs. 1 FamFG soll das Gericht das Verfahren aussetzen, wenn 34 nach seiner freien Überzeugung die Aussicht auf Fortsetzung der Ehe besteht. Dies gilt nicht, wenn das Trennungsjahr abgelaufen ist und beide Gatten der Aussetzung widersprechen. Selbst bei einer dreijährigen Trennung, die die gesetzliche Vermutung des Scheiterns der Ehe begründet (s. Rn. 20), sieht § 136 Abs. 3 FamFG die Möglichkeit der Aussetzung des Verfahrens für die Dauer von maximal sechs Monaten vor. Nach § 136 Abs. 4 FamFG schließlich soll das Gericht den Parteien die Inanspruchnahme einer Eheberatung nahelegen. Auch dies ist Ausdruck eines die Ei-
1 Palandt/Brudermüller, § 1566 BGB Rn. 1. 2 Palandt/Brudermüller, § 1566 BGB Rn. 1. 3 BGH v. 4.12.1996 – XII ZR 231/95, FamRZ 1997, 347; Zöller/Herget, § 97 ZPO Rn. 11. 4 Palandt/Brudermüller, § 1566 BGB Rn. 2.
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Kap. 2 Rn. 35
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genverantwortlichkeit der Ehegatten nicht voll respektierenden institutionellen Eheverständnisses. c) Härtefallscheidung, § 1565 Abs. 2 BGB 35 Nach § 1565 Abs. 2 ist die Ehescheidung vor Ablauf des Trennungsjahres nur möglich, wenn die Fortsetzung der Ehe für den Antragsteller aus Gründen, die in der Person des anderen Ehegatten liegen, eine unzumutbare Härte darstellen würden. § 1565 Abs. 2 führt das Trennungsjahr ein, dessen Sinn es ist, übereilt gestellten Scheidungsanträgen vorzubeugen. § 1565 Abs. 2 BGB ist Ausdruck eines institutionellen Eheverständnisses (vgl. Rn. 1 ff.). Dem parteiautonomen Akt der Eheschließung wird im Bereich der Lösung der Ehe damit ein die Parteiautonomie begrenzender Riegel vorgeschoben, der „leichtfertige und voreilige Scheidungen“ verhindern soll. Deshalb ist § 1565 Abs. 2 nicht auf streitige Scheidungen beschränkt, sondern auch auf einverständliche Scheidungen anzuwenden1 und verfolgt den Zweck, Vertragsscheidungen entgegenzuwirken. aa) Formelle und inhaltliche Voraussetzung 36 Formelle Voraussetzung des Scheidungsantrags nach § 1565 Abs. 2 BGB ist neben den in § 133 FamFG enthaltenen Angaben die Darlegung der besonderen Voraussetzungen der unzumutbaren Härte der Fortsetzung der Ehe. Daran sind strenge Anforderungen zu stellen2. Die unzumutbare Härte muss sich auf das „Weiter-miteinder-verheiratet-sein“ beziehen. Sie muss aus der Person des anderen Gatten herrühren3 und darf nicht nur das subjektive Wertempfinden des verletzten Ehegatten reflektieren, vielmehr ist der Standpunkt eines „besonnenen Dritten“ einzunehmen, in dessen Person nicht nur subjektive, sondern auch allgemeine gesellschaftliche Wertanschauungen sich widerspiegeln. 37 IdR ist die Verletzung der ehelichen Treuepflicht kein Grund für eine Härtescheidung4. Besondere Begleitumstände5 rechtfertigen eine solche jedoch auch in diesen Fällen6. Ob die einmalige Verletzung der ehelichen Treuepflicht dann einen Härtegrund nach § 1565 Abs. 2 BGB darstellt, wenn daraus möglicherweise eine Schwangerschaft resultiert oder der 1 2 3 4
OLG Köln v. 5.9.1977 – 21 WF 180/77, FamRZ 1977, 717. Palandt/Brudermüller, § 1565 BGB Rn. 9. BGH v. 5.11.1980 – IVb ZR 538/80, FamRZ 1981, 50. OLG Hamm v. 28.7.2010 – 33 WF 1104/10, FamRZ 2011, 218; OLG Stuttgart v. 22.7.1977 – 15 UF 4/77 ES, FamRZ 1977, 646; OLG Düsseldorf v. 26.10.1977 – 2 WF 182/77, FamRZ 1978, 27; OLG Hamm v. 24.11.1977 – 2 WF 363/77, NJW 1978, 168. 5 OLG Köln v. 23.6.1995 – 25 WF 103/95, FamRZ 1996, 108; OLG Bremen v. 26.9.1995 – 5 WF 66/95, FamRZ 1996, 489; OLG Braunschweig v. 28.6.1999 – 2 WF 102/99, FamRZ 2000, 287; OLG Stuttgart v. 28.1.2002 – 15 WF 16/02, FamRZ 2002, 1342. 6 Vgl. die Fallsammlung bei Palandt/Brudermüller, § 1565 BGB Rn. 10.
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Kap. 2
Gatte einem Aidsrisiko ausgesetzt wird1, ist jedenfalls zweifelhaft, solange weder das Aidsrisiko noch die Fremdempfängnis verifiziert sind. Häufigster Fall der Härtefallscheidung ist Gewalt in der Ehe. Dabei soll 38 es wegen eines einmaligen „Ausrastens“ des Ehegatten für den anderen noch nicht unzumutbar sein, die Ehe fortzusetzen2. Ob diese Rechtsprechung immer zutreffend das Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz der Ehe als Institution und der Würde des Menschen und seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit reflektiert, muss bezweifelt werden. Entscheidend und für die juristische Praxis bedeutsam ist jedoch, dass bei 39 einer Härtefallscheidung nach § 1565 Abs. 2 BGB an den anwaltlichen Vortrag zur Begründung der besonderen Unzumutbarkeit der Aufrechterhaltung der Ehe hohe Anforderungen zu stellen sind. Dies gilt umso mehr, als sich in der Praxis die meisten Gerichte der Härtefallscheidung nur so zögerlich nähern, dass vielfach schon beim ersten mündlichen Termin das Trennungsjahr abgelaufen ist. bb) Risiken der Härtefallscheidung Rechtsprechung und Praxis sehen im vorzeitig gestellten Scheidungsantrag vielfach eine Manipulation des zugewinnausgleichsrechtlichen Stichtags sowie des Versorgungsausgleichs und definieren als Nachteil des vorzeitigen Scheidungsantrags eine Verkürzung des Trennungs- und ggf. nachehezeitlichen Unterhaltsanspruchs3. Dies ist zutreffend. Durch die vorfristige Stellung des Scheidungsantrags wird der Zeitpunkt für die Berechnung des Zugewinnausgleichs (§ 1384 BGB) und des Versorgungsausgleichs (§ 3 Abs. 1 VersAusglG) bestimmt. Zutreffend ist auch, dass dadurch der gesetzliche Trennungsunterhaltsanspruch vermindert wird. Allerdings stellt die Gefahr der Stichtagsmanipulation im Zugewinnausgleich einen von der Rechtsdiskussion zumindest gewünschten Zustand her4, wenn erörtert wird, im Zugewinnausgleich den Berechnungsstichtag für das Endvermögen auf den Trennungszeitpunkt vorzuverlegen. Das von Praktikern vielfach gelobte Trennungsjahr dient zweifellos der Beruhigung der Parteien und schafft Zeit für die Lösung etlicher mit der Trennung zusammenhängender Probleme. Ungeachtet seiner insoweit hilfreichen praktischen Funktion erweist es sich jedoch auch als Gängelung volljähriger Parteien, denen der Gesetzgeber offensichtlich nicht ausreichend Urteilsfähigkeit zuspricht, über die Frage des Fortbestandes ihrer Ehe eigenverantwortlich zu entscheiden. Das Trennungsjahr ist Ausdruck eines nicht mehr zeitgemäßen institutionellen Eheverständnisses und soll „voreilige“ Scheidungen verhindern. Ähnliche Sperrmechanis1 AG München v. 1.3.2007 – 514 F 6920/06, FamRZ 2007, 1886 m. Anm. Bergschneider. 2 OLG Stuttgart v. 27.2.2001 – 17 UF 411/00, FamRZ 2002, 239. 3 Vgl. FA-FamR/von Heintschel-Heinegg, Kap. 2, Rn. 73. 4 Vgl. Dethloff, Gutachten zum 69. Deutschen Juristentag, S. 157 These 13.
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Kap. 2 Rn. 41
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men zur Verhinderung „voreiliger“ Eheschließungen kennt das Gesetz seit 19981 nicht mehr, seit das Aufgebotsverfahren gestrichen wurde. Soweit Rechte minderjähriger Kinder betroffen sind, kann dieser Schutz – wenn er überhaupt möglich und sinnvoll ist – anderweitig effektiver geleistet werden. d) Verzögerte Scheidung nach dreijähriger Trennung 41 Nach § 1566 Abs. 2 BGB wird das Scheitern der Ehe unwiderlegbar vermutet, wenn die Ehegatten zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung2 seit drei Jahren getrennt leben (vgl. Rn. 20). Auch im Fall einer dreijährigen Trennungszeit kann das Gericht gegen den Willen eines Gatten nach § 136 FamFG das Verfahren aussetzen. Da bei einer dreijährigen Trennungszeit die Aussetzung nur für sechs Monate möglich ist, sie jedoch einmal wiederholt werden kann, ist damit auch bei dreijähriger Trennungszeit eine zusätzliche maximal einjährige Aussetzung des Verfahrens möglich. e) Härteklauseln, § 1568 BGB 42 Zweck der Härteklausel ist es nicht, eine Scheidung schlechthin zu verhindern, vielmehr soll in verfassungskonformer Auslegung3 eine „Scheidung zur Unzeit“ verhindert werden4. Als Härtefälle kommen deshalb nicht die regelmäßigen wirtschaftlichen und psychischen Folgen einer Scheidung in Betracht, es sollen aber atypische Scheidungsfolgen, meist auf psychischem Gebiet, gemindert oder vermieden werden. 43 Voraussetzung für die Anwendung der Härteklausel ist, dass das Gericht das Scheitern der Ehe feststellt5. aa) Kinderschutzklausel 44 Ausnahmsweise kann auch eine gescheiterte Ehe nicht geschieden werden, wenn und solange die Aufrechterhaltung der Ehe im Interesse der aus der Ehe hervorgegangenen minderjährigen Kinder aus besonderen Gründen ausnahmsweise notwendig ist (§ 1568 Abs. 1 BGB). Die typischen Folgen von Trennung und Scheidung können dabei als Gründe zur Aufrechterhaltung der Ehe im Interesse der Kinder nicht herangezogen werden. Es muss sich vielmehr um besondere Gründe handeln, die zu den typischen Trennungs- und Scheidungsfolgen hinzutreten, also um 1 Gesetz zur Neuordnung des Eheschließungsrechts v. 4.5.1998, BGBl. I, S. 833. 2 Palandt/Brudermüller, § 1566 BGB Rn. 1. 3 BVerfG v. 28.2.1980 – 1 BvL 136/78, FamRZ 1980, 319; BVerfG v. 21.10.1980 – 1 BvR 1284/79, FamRZ 1981, 15; BVerfG v. 11.6.2001 – 1 BvR 2148/99, FamRZ 2001, 986. 4 Schwab, FamRZ 1984, 1171. 5 Palandt/Brudermüller, § 1568 BGB Rn. 1.
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Rn. 47
Kap. 2
atypische ungewöhnliche Folgen handeln1. Solche Gründe können die Suizidgefahr eines Kindes2 sein. Die wirtschaftliche Verschlechterung der Position des Kindes durch Trennung und Scheidung ist kein Härtegrund3, da sie eine typische Folge von Trennung und Scheidung darstellt4. In der Praxis spielt die Kinderschutzklausel eine nur sehr untergeordnete Rolle. Prozessual hat der Antragsgegner als derjenige, der sich auf die Härteklausel beruft, deren Vorliegen darzulegen und zu beweisen5.
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Das Vorliegen von kindbezogenen Härtegründen, die die Scheidung trotz Scheiterns der Ehe verhindern würden, sind von Amts wegen zu beachten6.
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bb) Ehegattenschutzklausel Die Anwendung der Härteklausel des § 1568 BGB zugunsten des Ehegat- 47 ten, der die Scheidung ablehnt, bietet lediglich einen zeitlich begrenzten Ehebestandsschutz7. Voraussetzung des Eingriffs der Ehegattenschutzklausel ist nach dem Normwortlaut, dass der Gatte, zu dessen Gunsten die Klausel eingreifen soll, der Ehescheidung widerspricht. Die Ablehnung der Ehescheidung als solche ist daher keine Härte i.S.v. § 1568 BGB, vielmehr müssen „außergewöhnliche Umstände“ hinzutreten, die es geboten erscheinen lassen, das Interesse des eheunwilligen Antragstellers an der Ehescheidung wenigstens zeitweise zurückzustellen. In der Rechtsprechung sind größtenteils psychische und medizinische Ausnahmezustände des scheidungsunwilligen Gatten als Härtefall anerkannt worden8. Dabei stellt die Gruppe der Suizidgefährdung einen großen Teil der Entscheidungen dar. Da das Vorliegen des Härtegrundes vom Gatten, der sich darauf beruft, zweifelsfrei belegt werden muss, ist bei Zweifeln am Vorliegen des Härtegrundes die Ehe zu scheiden9. Die Suiziddrohung eines Ehegatten, der in seiner Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Tun nicht eingeschränkt ist, rechtfertigt die Anwendung der Härteklausel nicht10.
1 OLG Köln v. 25.4.1977 – 25 UF 179/96, FamRZ 1998, 827; Palandt/Brudermüller, § 1568 BGB Rn. 2; HK-Familienrecht/Ganz, § 1568 BGB Rn. 4. 2 OLG Hamburg v. 17.12.1985 – 2 UF 209/83, FamRZ 1986, 469. 3 OLG Bamberg v. 22.1.2004 – 2 UF 208/03, FamRZ 2005, 810. 4 Erman/Blank, § 1568 BGB Rn. 7. 5 OLG Brandenburg v. 19.1.2007 – 9 UF 208/06, FamRZ 2007, 1888 = FamRB 2007, 195; OLG Karlsruhe v. 7.12.1999 – 2 UF 112/97, FamRZ 2000, 1418. 6 Palandt/Brudermüller, § 1568 BGB Rn. 2; HK-Familienrecht/Ganz, § 1568 BGB Rn. 7. 7 Palandt/Brudermüller, § 1568 BGB Rn. 3. 8 Vgl. die Fallzusammenstellung bei Palandt/Brudermüller, § 1568 BGB Rn. 5. 9 So zu Recht OLG Karlsruhe v. 7.12.1999 – 2 UF 112/97, FamRZ 2000, 1418. 10 OLG Celle v. 3.3.1995 – 15 UF 95/94, FamRZ 1996, 614; OLG Stuttgart v. 19.9.1991 – 16 UF 181/91, FamRZ 1992, 320.
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Kap. 2 Rn. 48
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48 Die Berücksichtigung wirtschaftlicher und persönlicher Veränderungen, die mit der Scheidung verbunden sind, ist im Wege der Härteklausel idR ausgeschlossen1. 49 Religiöse Motive, die die Aufrechterhaltung der Ehe gebieten, sind im Rahmen von § 1568 BGB regelmäßig nicht zu akzeptieren2. 50 Im Rahmen der Härteklausel ist auch zu prüfen, ob die psychische Gefährdung oder die Gefahr des Suizids durch eine Psychotherapie abgewendet werden kann3. 51 Nicht notwendigerweise muss der die Scheidung ablehnende und sich auf die Härteklausel berufende Ehegatte bereit sein, die eheliche Lebensgemeinschaft wiederherzustellen. Die Anwendung der Härteklausel setzt ja (s. Rn. 43) die Feststellung des Scheiterns der Ehe voraus. Allerdings indiziert die mangelnde Bereitschaft eines Gatten zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft regelmäßig eine innere Distanz zum anderen Gatten und eine Loslösung vom personalen Band der Ehe4. IdR wird daher ein Härtefall abzulehnen sein, wenn der sich darauf berufene Ehegatte zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht bereit ist. 5. Ehescheidung und Ehename 52 Durch das am 1.4.1994 in Kraft getretene FamNamRG v. 16.12.19935 ist es den Ehegatten freigestellt worden, ob sie einen Ehenamen bestimmen (§ 1355 Abs. 1 BGB). Bestimmen die Ehegatten bei der Eheschließung keinen Ehenamen, so führen sie ihren zur Zeit der Eheschließung geführten Namen fort (§ 1355 Abs. 1 S. 3 BGB). Auch noch nach der Eheschließung können die Ehegatten den Ehenamen ändern, dann bedarf die Erklärung allerdings der öffentlichen Beglaubigung (§ 1355 Abs. 3 S. 2 BGB). Dies gilt auch dann, wenn sie (nach einem ausländischen Recht) den Ehenamen bereits zuvor bestimmt haben, später aber für sie deutsches Recht zur Anwendung kommt6. 53 Ehename kann der Geburtsname oder der bei der Eheschließung geführte Name eines der Gatten sein. Der Gatte, dessen Name nicht Ehename wird, kann seinen Geburtsnamen oder den zur Zeit der Erklärung über die Bestimmung des Ehenamens geführten Namen dem Ehenamen voranstellen oder anfügen (§ 1355 Abs. 4 S. 1 BGB). Dies gilt allerdings nicht, wenn der Ehename bereits ein Doppelname ist (Verbot des Drei1 OLG Köln v. 12.7.1994 – 4 UF 219/93, FamRZ 1995, 997. 2 AG Schorndorf v. 7.11.1991 – 5 F 63/91, FamRZ 1992, 568; OLG Stuttgart v. 17.10.1990 – 15 UF 242/90, FamRZ 1991, 334 m. ablehnender Anm. Bosch, dagegen Hauffe, FamRZ 1991, 950. 3 OLG Hamm v. 23.5.1989 – 1 UF 239/88, FamRZ 1990, 60. 4 Vgl. FA-FamR/v. Heintschel-Heinegg, Kap. 2, Rn. 28. 5 BGBl. I, S. 2054. 6 BGH v. 21.3.2001 – XII ZB 83/99, FamRZ 2001, 903.
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fachnamens)1. Allerdings kann der Ehegatte zur Identifikation außerhalb des rechtsgeschäftlichen Verkehrs seinen alten Namen fortführen. Auch nach der Scheidung behalten die Ehegatten den gewählten Ehe- 54 namen bei (§ 1355 Abs. 5 BGB). Durch einfache Erklärung gegenüber dem Standesbeamten kann der geschiedene Gatte jedoch entweder seinen Geburtsnamen, oder den Namen, den er bis zur Bestimmung des Ehenamens geführt hat wieder annehmen, er kann aber auch seinen Geburtsnamen oder den bis zur Bestimmung des Ehenamens geführten Namen dem Ehenamen voranstellen oder anfügen. Auch insoweit gilt jedoch das Verbot des mehr als zweigliedrigen Namens. Dieses Namensänderungsrecht ist nicht an eine Frist gebunden. Anders als zB im türkischen Recht2 ändert sich durch die Ehescheidung der Name der geschiedenen Ehegatten nicht.
III. Aufhebung der Ehe Fälle der Aufhebung nach § 1313 BGB sind in der Praxis höchst selten. 55 Die Aufhebungsgründe sind in § 1314 BGB abschließend geregelt. Aufhebungsgrund ist nach § 1314 Abs. 1 BGB die fehlende Ehefähigkeit, die in fehlender Ehemündigkeit (§ 1303 BGB) oder Geschäftsunfähigkeit (§ 1304 BGB) bestehen kann. Darüber hinaus stellen bigamische Ehen (§ 1306 BGB), verwandtschaftliche Eheverbote (§ 1307 BGB) und Eheerklärungsfehler (§ 1311 BGB) die wichtigsten Aufhebungsgründe dar.
1 BVerfG v. 5.5.2009 – 1 BvR 1155/03, FamRZ 2009, 939 m. krit. Anm. Henrich = FamRB 2009, 210. 2 Art. 173 tZGB; im französischen Recht existiert kein Ehename, allerdings können Verheiratete den Namen des Gatten im alltäglichen Leben nutzen (nom d’usage), was auch nach der Scheidung gilt, wenn der geschiedene Gatte einwilligt oder dessen Einwilligung ersetzt wird (Art. 264 Cciv). Ähnliches gilt in Belgien (Art. 216, § 2 BGB), allerdings ohne Fortführungsmöglichkeit nach der Scheidung. In den Niederlanden können die Ehegatten den Namen des anderen Partners als ‚Gebrauchsnamen‘ auch nach der Scheidung weiterführen (Art. 1:9 BW Bugerlijk Wetboek). In Dänemark können die Gatten nach § 4 Namensgesetz den Namen eines Gatten zum Ehenamen bestimmen und diese Bestimmung auch wieder rückgängig machen, die Scheidung hat jedoch keinen Einfluss auf die Wahl des Nachnamens. Das polnische Namensrecht ähnelt sehr stark dem deutschen Recht (Art. 25 FVBG, Art. 59 FVBG). Das Namensrecht der tschechischen Republik ähnelt dem deutschen Recht hinsichtlich der Wahl des Familiennamens (§ 73 Matrikelgesetz), bei einer Ehescheidung kann jedoch ein Namenswechsel nur bei Vorliegen eines ‚wichtigen Grundes‘ erfolgen (§ 74 Matrikelgesetz). Das österreichische Namensrecht eröffnet die Möglichkeit der Wahl des Namens eines Gatten zum Ehenamen; wählen die Gatten keinen gemeinsamen Ehenamen aus, wird der Mannesname zum Ehenamen, die Frau hat aber die Möglichkeit der Fortführung ihres Namens (§ 93 ABGB), nach der Ehescheidung kann jeder Ehegatte einen früher geführten Namen wieder annehmen (§ 93a ABGB), ist aber zur Weiterführung des Ehenamens auch berechtigt.
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Kap. 2 Rn. 56
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56 Die enumerativ in § 1314 Abs. 2 Nr. 1–5 BGB aufgezählten Eheaufhebungsgründe sind solche, die in der Person oder im Verhalten eines der Gatten begründet liegen. 57 Rechtsfolge der Aufhebung der Ehe ist deren Auflösung für die Zukunft. Im Unterschied zur Ehescheidung erfolgt die Aufhebung der Ehe aus Gründen, die bereits bei der Eheschließung vorlagen (Sanktionierung von Eingehungsmängeln). 58 Eheaufhebungs- und Scheidungsverfahren können nebeneinander beantragt werden. Sind beide Anträge begründet, so ist nur die Aufhebung der Ehe auszusprechen (§ 126 Abs. 3 FamFG). 59 Für den Antragsteller kann bei Vorliegen von Eingehungsmängeln das Aufhebungsverfahren gegenüber dem Scheidungsverfahren insoweit vorteilhaft sein, als im Aufhebungsverfahren das Trennungsjahr nicht abgewartet werden muss, die Regeln über die Folgen der Ehescheidung (Unterhalt, Zugewinnausgleich und Versorgungsausgleich) nach § 1318 Abs. 2 und 3 BGB lediglich entsprechend Anwendung finden und bei grober Unbilligkeit für den antragstellenden Ehegatten nicht angewendet werden. 60 Zu beachten ist, dass die Antragsfrist für die Eheaufhebung nach § 1317 BGB in den Fällen des § 1314 Abs. 2 Nr. 2–4 BGB binnen Jahresfrist zu erfolgen hat, wobei die Jahresfrist mit der Entdeckung des Irrtums, der Täuschung oder Zwangslage beginnt.
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Kapitel 3 Abstammung Inhaltsübersicht A. Materielles Abstammungsrecht I. Genetische Abstammung und rechtliche Zuordnung (Grziwotz) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
II. Abstammung nach der Mutter (Siede) 1. Mutterschaft aufgrund Geburt 2. Internationales Privatrecht . . .
7 9
III. Abstammung nach dem Vater (Siede) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vaterschaft kraft Ehe a) Grundsatz: Rechtlicher Bestand der Ehe als Kriterium der Vaterschaft . . . . . . . . . . . . b) Vaterschaft bei Auflösung der Ehe durch Tod des Mannes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausnahme: Vaterschaft aufgrund Anerkennung eines Dritten während oder nach Scheidung der Ehe . . . . . . . . . 2. Vaterschaft kraft Anerkennung a) Vaterschaft aufgrund Anerkennung im System des Abstammungsrechts . . . . . . . b) Voraussetzungen der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . c) Wirksamwerden . . . . . . . . . . . d) Widerruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vaterschaft aufgrund gerichtlicher Feststellung a) Vaterschaft aufgrund gerichtlicher Feststellung im System des Abstammungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Voraussetzungen der Feststellung der Vaterschaft . . . . c) Folgen der Feststellung der Vaterschaft . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anfechtung der Vaterschaft a) Anfechtung der Vaterschaft im System des Abstammungsrechts . . . . . . . . . . . . . .
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15 16
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40 43 51 58
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b) Voraussetzungen der Anfechtung der Vaterschaft . . . . . . . . . . . 91 aa) Aufgrund Ehe oder Anerkennung bestehende Vaterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 93 bb) Keine leibliche Vaterschaft . 95 (1) Vermutung des § 1600c Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . 96 (2) Ausschluss der Vermutung des § 1600c Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . 99 (3) Vermutung des § 1600d Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . 102 cc) Wahrung der Antragsfrist . . . 104 (1) Fristwahrung durch Antragstellung beim zuständigen Gericht . . . . . . . 105 (2) Mehrere anfechtungsberechtigte Beteiligte . . . . 107 (3) Dauer und Hemmung der Frist . . . . . . . . . . . . . . . . 108 (4) Fristbeginn . . . . . . . . . . . . . 111 (5) Besonderheiten hinsichtlich der Anfechtung der Vaterschaft durch das Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 dd) Anfangsverdacht . . . . . . . . . . . 119 ee) Zusätzliche Voraussetzungen bei der Anfechung der Vaterschaft durch den Vaterschaftsprätendenten und die anfechtungsberechtigte Behörde (1) (Keine) sozial-familiäre Beziehung . . . . . . . . . . . . . . 120 (2) Leibliche Abstammung des Kindes von dem die Vaterschaft anfechtenden Putativvater . . . . . . . . 135 (3) Ausländerrechtliche Motivation der Anerkennung der Vaterschaft bei Anfechtung durch die Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . 137 c) Folgen der Anfechtung der Vaterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
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Kap. 3
Abstammung
5. Fälle mit internationalem Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 a) Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Rangverhältnis der Anknüpfungen des Art. 19 Abs. 1 EGBGB . . . . . . . . . . . . . 154 IV. Klärung der Abstammung ohne statusrechtliche Folgen (Siede) 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ersetzung der Einwilligung in eine genetische Abstammungsuntersuchung . . . . . . . . . 3. Duldung der Entnahme einer Probe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . V. Auskunftsansprüche (Siede) . . 1. Auskunftsanspruch des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auskunftsanspruch des Scheinvaters kraft Ehe bzw. Anerkennung. . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auskunftsanspruch des Mannes gegen die Mutter, der er beigewohnt hat . . . . . . . . . . . . . .
163 166 178 181 186 187 192 200
B. Verfahren in Abstammungssachen (Siede) I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 II. Abstammungssachen . . . . . . . . 1. Verfahren nach § 169 Nr. 1 FamFG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahren nach § 169 Nr. 2–3 FamFG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfahren nach § 169 Nr. 4 FamFG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auskunftsansprüche . . . . . . . . . III. 1. 2. 3. 4.
202 204 211 212 213
Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . Internationale Zuständigkeit. . Sachliche Zuständigkeit . . . . . . Örtliche Zuständigkeit . . . . . . . Funktionelle Zuständigkeit . . .
214 215 219 220 223
IV. Antragsgrundsatz . . . . . . . . . . . . 1. Antragsbefugnis . . . . . . . . . . . . . a) Feststellung der Vaterschaft b) Anfechtung der Vaterschaft . c) Einwilligung in Abstammungsuntersuchung . . . . . . .
224 225 227 228
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2. Verfahrensfähigkeit . . . . . . . . . . 234 a) Grundsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . 235 b) Vertretung nicht verfahrensfähiger Kinder . . . . . . . . . 237 3. Inhalt des Antrags . . . . . . . . . . . . 244 a) Verfahren wegen Feststellung der Vaterschaft aa) Verfahrensziel . . . . . . . . . . 247 bb) Beteiligte . . . . . . . . . . . . . . 252 cc) Tatsachen und Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 b) Verfahren wegen Anfechtung der Vaterschaft aa) Verfahrensziel . . . . . . . . . . 256 bb) Beteiligte . . . . . . . . . . . . . . 262 cc) Tatsachen und Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 c) Verfahren zur Klärung der genetischen Abstammung . . 272 aa) Verfahrensziel . . . . . . . . . . 273 bb) Beteiligte . . . . . . . . . . . . . . 279 cc) Tatsachen und Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 4. Verfahrenskostenvorschuss . . . 281 V. 1. 2. 3.
Weiteres Verfahren . . . . . . . . . . . 283 Feststellung der Vaterschaft . . . 287 Anfechtung der Vaterschaft . . . 292 Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . 298
VI. Ermittlung des Sachverhalts/ Darlegungs- und Feststellungslast 1. Grundsatz der Amtsermittlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 2. Darlegungs- und Feststellungslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 a) Verfahren wegen Feststellung der Vaterschaft (§ 169 Nr. 1 FamFG) . . . . . . . . . . . . . . 308 b) Verfahren auf Anfechtung der Vaterschaft (§ 169 Nr. 4 FamFG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 aa) Anfechtungsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 bb) Künstliche Befruchtung nach heterologer Insemination. . . . . . . . . . . 311 cc) Antrag durch Vertreter für das Kind . . . . . . . . . . . . 312 dd) Anfechtungsfrist . . . . . . . 313 ee) Anfangsverdacht . . . . . . . 314
Kap. 3
Abstammung ff) Fehlen einer sozial-familiären Beziehung . . . . . . . gg) Anfechtung durch die Behörde . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einholung eines medizinischen Abstammungsgutachtens a) Beweisbeschluss. . . . . . . . . . . aa) Pflicht zur Duldung der Untersuchung . . . . . . . . . bb) Ausnahmsweise Unzumutbarkeit der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verweigerung der Untersuchung/Unmittelbarer Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beweiswürdigung. . . . . . . . . . aa) Identität der Personen, von denen Proben genommen wurden . . . . . . . bb) Methodisch korrekte Entnahme der Proben . . . cc) Aufbereitung der Probe . dd) Chromosomonale Bandbreite der Untersuchung ee) Zweifelsfreie Vaterschaftswahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . .
315 316
317 322 323 325 327 328 329 330 331
a) Tenorierung in der Hauptsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 aa) Feststellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses . 355 bb) Anfechtung der Vaterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 cc) Verfahren zur Klärung der leiblichen Abstammung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 b) Tenorierung der Kostenentscheidung . . . . . . . . . . . . . . 360 aa) Feststellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses . 361 bb) Anfechtung der Vaterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 2. Gründe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 3. Rechtsbehelfsbelehrung . . . . . . 366 4. Wirksamwerden und Bekanntgabe der gerichtlichen Entscheidung a) Wirksamwerden . . . . . . . . . . . 367 b) Bekanntgabe aa) Formelle Rechtskraft . . . 368 bb) Materielle Rechtskraft . . 369 XI. Beschwerde. . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 XII. Wiederaufnahme . . . . . . . . . . . . . 381
332
VII. Verbindung von Verfahren . . . . 333 1. Verbindung mehrerer Abstammungssachen, die dasselbe Kind betreffen . . . . . . . . . . . . . . . 334 2. Verbindung mit einer Unterhaltssache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 VIII. Einstweilige Anordnung wegen Unterhaltsansprüchen . . . . 338 IX. Tod eines Beteiligten 1. Tod vor Einleitung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 2. Tod nach Anhängigkeit des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 X. Entscheidung des Gerichts . . . . 352 1. Tenor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
XIII. 1. 2. 3. 4.
Kosten/Gebühren Verfahrenswert . . . . . . . . . . . . . . 387 Gerichtskosten . . . . . . . . . . . . . . 392 Anwaltskosten. . . . . . . . . . . . . . . 393 Verfahrenskostenhilfe . . . . . . . . 394 a) Bedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . 395 b) Erfolgsaussicht . . . . . . . . . . . . 396 aa) Feststellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses . 397 bb) Anfechtung der Vaterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 c) Keine Mutwilligkeit . . . . . . . 400 d) Beiordnung eines Rechtsanwalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
C. Annex: Moderne Fortpflanzungsmedizin (Grziwotz) . . . . . 403
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Kap. 3 A Rn. 1
Materielles Abstammungsrecht
A. Materielles Abstammungsrecht I. Genetische Abstammung und rechtliche Zuordnung 1
Das Abstammungsrecht gehört zum Verwandtschaftsrecht. Verwandtschaft ist zunächst Blutsverwandtschaft1. Anders als früher hängt die Verwandtschaft zum Vater nicht mehr vom Bestehen einer Ehe ab2. Im Verhältnis zum Vater konnte bereits bisher die „blutsmäßige“ Abstammung durch eine rechtliche ersetzt werden. Die moderne Fortpflanzungsmedizin führt, unabhängig von der Zulässigkeit diesbezüglicher Vorgänge, dazu, dass auch im Verhältnis zur Mutter die wirkliche „blutsmäßige“ Abstammung nicht mehr maßgeblich ist. Zudem nehmen Adoptionen, nicht zuletzt wegen der zwischen entfernten Verwandten bestehenden Schenkungs- und Erbschaftsteuerprogression samt der geringen Freibeträge, gegenwärtig zu. Verwandtschaft ist somit eine rechtlich vermittelte Beziehung. Die Abstammung als das entscheidende Kriterium kann sowohl eine leibliche als auch eine rechtliche sein3.
2
Die Mutter-Kind-Zuordnung und die Vater-Kind-Zuordnung erfolgen nicht biologisch, sondern rechtlich (§§ 1591, 1592 BGB). Die Mutterschaft und die Vaterschaft werden vom Gesetzgeber rechtlich begründet, auch wenn eine andere Frau Mutter bzw. ein anderer Mann Vater ist. Die Zuordnung des Kindes zu seinen Eltern und damit auch zu deren sonstigen Verwandten erfolgt rechtlich4. Lediglich die Anknüpfung geht von „biologischen Erfahrungswerten“ aus.
3
Wird die Abstammung rechtlich vermittelt, kann es zu einem Auseinanderfallen zwischen genetischer Abstammung und rechtlicher Zuordnung kommen. Betroffen hiervon sind der rechtlich, aber nicht biologisch „richtige“ Elternteil. Ebenso gilt dies für den biologischen Elternteil, dem sein „Kind“ rechtlich nicht zugeordnet ist. Zudem hat das Kind selbst ein Recht auf Kenntnis seiner wirklichen genetischen Herkunft.
4
Die Vorschriften des Abstammungsrechts sind zwingend. Deshalb können Ehegatten, auch wenn sie seit Jahren getrennt leben, beispielsweise nicht die Vaterschaftsvermutung des § 1592 Nr. 1 BGB, wonach der Ehemann und nicht der langjährige Lebensgefährte als Vater vermutet wird, ausschließen. Gleiches gilt bei einem im Wege der einvernehmlichen heterologen Insemination empfangenen Kind. Während im ersten Fall das Anfechtungsrecht (§ 1599 Abs. 1 BGB) hilft, stellt im zweiten Fall der Gesetzgeber (§ 1600 Abs. 4 BGB) den gemeinsamen Kinderwunsch einer 1 Gernhuber/Coester-Waltjen, § 4 Rn. 21. 2 So noch § 1589 Abs. 2 aF BGB (bis zum 1.7.1970). 3 Ähnlich BVerfG v. 10.8.2009 – 1 BvL 15/09, FamRZ 2009, 1653 = FamRB 2009, 378. 4 Ebenso Schwab, Rn. 516 aE; vgl. Wolf, FPR 2006, 417 ff.
54
Grziwotz
Materielles Abstammungsrecht
Rn. 5
Kap. 3 A
„Beiwohnung“ gleich. Soweit keine vom Gesetzgeber zugelassenen „Korrekturvorschriften“ bestehen, wirkt die durch die rechtliche Zuordnung begründete Vaterschaft bzw. Mutterschaft für und gegen sämtliche Beteiligten und auch gegenüber Dritten. Eine Berufung auf eine abweichende genetische Abstammung ist nicht zulässig.
Û
Wichtig: Soweit keine rechtlichen Korrekturmöglichen bestehen, insbesondere die Anfechtungsfristen versäumt sind, kann die rechtliche Elternschaft nur durch ein anderes rechtliches Instrumentarium, nämlich die Annahme als Kind, mit der biologischen in Übereinstimmung gebracht werden. Insoweit ist auch die Annahme des eigenen leiblichen (nicht aber rechtlichen) Kindes möglich1.
Das Abstammungsrecht und die dadurch vermittelte Verwandtschaft ha- 5 ben Bedeutung in zahlreichen Rechtsbereichen. Beispiele sind: – Das Namensrecht, da ein Kind den Ehenamen seiner Eltern als Geburtsnamen erhält (§ 1616 BGB), die Einbenennung (§ 1618 BGB, § 9 Abs. 5 S. 2 LPartG) ebenfalls an die Elternschaft anknüpft und schließlich auch im Adoptionsrecht (§§ 1757, 1767 Abs. 2 BGB, § 9 Abs. 5 LPartG) der Name des Kindes durch den Namen der Eltern bestimmt wird. – Die elterliche Sorge für minderjährige Kinder; sie wird, sieht man von dem kleinen Sorgerecht von Stiefeltern ab (§ 1687b BGB), durch die Elternschaft bestimmt (§ 1626 BGB, § 9 Abs. 1, 2 und 3 LPartG). – Das Umgangsrecht mit minderjährigen Kindern, das sich im Wesentlichen auf das Verhältnis zu Eltern (§ 1684 BGB) bezieht. Bei den weiteren Bezugspersonen wird das Umgangsrecht bei den nahestehenden, nämlich den Großeltern und Geschwistern (§ 1685 Abs. 1 BGB), ebenfalls durch die Abstammung vermittelt; nur bei sonstigen weiteren Bezugspersonen (§ 1685 Abs. 2 BGB) ist nicht mehr die Abstammung maßgeblich. – Das Verwandtenunterhaltsrecht (§§ 1601 ff. BGB), das an die Verwandtschaft in gerader Linie und damit an die Abstammung anknüpft. Dies gilt sowohl für die Unterhaltsberechtigung als auch für die Unterhaltspflicht. – Das Verwandtenerbrecht (§§ 1924 ff. BGB), das, sofern kein Ehegatte oder eingetragener Lebenspartner vorhanden ist (§ 1931 BGB, § 10 Abs. 1 und 2 LPartG), unbeschränkt besteht, knüpft ebenfalls an die Abstammung an. Auch die steuerlichen Freibeträge und die Steuerklassen einschließlich der damit verbundenen Steuerprogression bestimmen sich nach dem Grad der Verwandtschaft und damit nach der Abstammung (§§ 15 Abs. 1, 16 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3, Nr. 4, Nr. 5 und § 19 Abs. 1 ErbStG). 1 Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Müller, Adoptionsrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2011, Rn. 57.
Grziwotz
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Kap. 3 A Rn. 6
Materielles Abstammungsrecht
– Schließlich die Staatsangehörigkeit, die an die Geburt bzw. an die Annahme als Kind anknüpft (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3, §§ 4 und 6 StAG; vgl. auch § 5 StAG). 6
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst – nicht nur wegen der weitgehenden Rechtsfolgen des Abstammungsrechts – das Recht auf Kenntnis seiner eigenen Abstammung. Diese gehört als Individualisierungsmerkmal zur Persönlichkeit. Die Kenntnis der Herkunft bietet dem Einzelnen unabhängig vom Ausmaß wissenschaftlicher Ergebnisse wichtige Anknüpfungspunkte für das Verständnis und die Entfaltung der eigenen Individualität. Das Vorenthalten erlangbarer Informationen über die Kenntnis der eigenen Abstammung ist deshalb untersagt1. Umgekehrt hat auch der Vater eines Kindes ein Recht auf Kenntnis davon, ob das Kind von ihm abstammt2. Dieses Recht auf Kenntnis der Abstammung gerät zunehmend in Konflikt mit der rechtlich vermittelten Elternschaft. Bei einer bestehenden sozial-familiären Beziehung kann das Anfechtungsrecht diese gefährden. Deshalb hat der Gesetzgeber in diesen Fällen der sozial-familiären Beziehung den Vorrang vor dem Anfechtungsrecht des außerehelichen Erzeugers eines Kindes und der anfechtungsberechtigten Behörde eingeräumt (§§ 1516, 1600 Abs. 2, 3 und 4 BGB). Dies ist verfassungsgemäß3. Dem Erhalt der rechtlichen Bindung und der sozialen Beziehung kommt unter dem Aspekt der Übernahme der Elternverantwortung Vorrang vor dem bloßen Recht auf Kenntnis der Abstammung zu4.
II. Abstammung nach der Mutter 1. Mutterschaft aufgrund Geburt 7
Die Mutterschaft knüpft formal an die Geburt des Kindes an (§ 1591 BGB). Dies entspricht dem alten römisch-rechtlichen Grundsatz: „mater certa est.“5 Unklarheiten können nur entstehen, wenn – etwa bei einer Geburt im Krankenhaus – nicht ausgeschlossen werden kann, dass Kinder verwechselt wurden. In diesen Fällen kann die Abstammung gem. § 169 Abs. 1 Nr. 1 FamFG geklärt werden. Diese Vorschrift beschränkt sich nicht auf die Feststellung der Vaterschaft6. Nach ihr ist die Mutterschaft auch festzustellen, wenn die Mutter bei der Geburt zunächst nicht 1 BVerfG v. 31.1.1989 – 1 BvL 17/87, BVerfGE 79, 256, 271; vgl. auch Wellenhofer, NJW 2008, 1185 ff. 2 BVerfG v. 13.2.2007 – 1 BvR 421/05, BVerfGE 117, 201 = FamRZ 2007, 441, vgl. auch Neumann, FPR 2011, 366 ff. Zum Auskunftsanspruch des Scheinvaters s. BGH v. 9.11.2011 – XII ZR 136/09, FamRZ 2012, 200. 3 BVerfG v. 13.10.2008 – 1 BvR 1548/03, FamRZ 2008, 2257. 4 BVerfG v. 13.11.2008 – 1 BvR 1192/08, NJW 2009, 425. Vgl. aber EGMR v. 15.9.2011 – 17080/07, FamRZ 2011, 1641. 5 Paulus, Dig. 2.4.5. 6 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3, Rn. 99; Prütting/Helms/Stößer, § 169 FamFG Rn. 6.
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Grziwotz/Siede
Materielles Abstammungsrecht
Rn. 8
Kap. 3 A
bekannt war1. Schließlich ist das Feststellungsverfahren zu betreiben oder eine gerichtliche Entscheidung gem. § 48 PStG herbeizuführen, wenn der Verdacht besteht, dass die Identität der Mutter fehlerhaft im Geburtenregister erfasst wurde. Demgegenüber ist der in einem Unterhaltsverfahren inzident erhobene Einwand, das Kind stamme nicht von der Mutter ab, unzulässig2. § 1591 BGB hat weiterhin zur Folge, dass hinsichtlich der Mutterschaft 8 auch die Frage der genetischen Abstammung keine Rolle spielt. Die genetische und die biologische Mutterschaft fallen auseinander, wenn das von der Mutter ausgetragene Kind nicht aus einer von der Mutter stammenden Eizelle hervorgegangen ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Schwangerschaft durch Embryonenspende nach Verschmelzung einer Eizelle einer anderen Frau und einer Samenzelle im Reagenzglas (In-vitro-Fertilisation) oder aber durch Einpflanzen einer von einer anderen Frau stammenden Eizelle in die Gebärmutter der Mutter und anschließende Befruchtung begründet wurde. Zwar ist die Anwendung dieser Formen der Fortpflanzungsmedizin derzeit in Deutschland (noch) nicht zulässig3. Sie können jedoch in weiten Teilen des europäischen Auslandes praktiziert werden4. Für die Frage der Abstammung gem. §§ 1589, 1591 BGB ist es unerheblich, ob das Kind genetisch von der Mutter abstammt. Ein Feststellungsverfahren gem. § 169 Nr. 1 FamFG wäre daher unzulässig5. Jedoch kann die genetische Abstammung (ohne rechtliche Folgen) im selbständigen Verfahren zur Klärung der leiblichen Abstammung gem. § 1598a BGB geklärt werden. Inwieweit gegen die Eltern in diesen Fällen ein Anspruch auf Auskunft über die Person der genetischen Mutter besteht, ist ungeklärt6. 1 Etwa in Fällen der anonymen Geburt oder wenn ein Kind mittels „Babyklappe“ in die Obhut des Krankenhauses gelangt ist. 2 OLG Bremen v. 6.1.1995 – 5 UF 93/94, FamRZ 1995, 1291. 3 § 1 Abs. 1 Nr. 1, 2 ESchG. 4 Unzulässig ist diese Methode derzeit (noch) unter den Mitgliedern der Staaten, für die die europäische Menschenrechtskonvention gilt, in Österreich, Deutschland, Kroatien, Italien, Litauen, Norwegen, Schweiz und Türkei. In den meisten Nachbarstaaten Deutschlands kann diese Methode also angewandt werden; nach der Entscheidung 57813/00 S.H. ua. v. Österreich des EGMR v. 1.4.2010, FamRZ 2010, 957 verstößt es gegen die EMRK, wenn ein Land die heterologe Insemination durch Samenspende des Mannes, nicht aber durch Eispende der Frau zulässt. Diese Entscheidung wurde durch die Große Kammer des EGMR durch Urt. v. 3.11.2011, 57813/00, FamRZ 2012, 23 aufgehoben, allerdings unter Hinweis darauf, dass sich die Fortpflanzungsmedizin in rascher Entwicklung befinde und daher lediglich bezogen auf das Jahr 1998 kein Verstoß gegen die EMRK festgestellt werden könne. 5 Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 9. 6 Die Literatur befasst sich, soweit ersichtlich, ausnahmslos mit dem Anspruch des Kindes gegen die Mutter und ggf. Dritte auf Benennung des genetischen Vaters. Wenn die genetische Mutter bekannt sein sollte, ist auch zweifelhaft, ob und wie die genetische Abstammung festgestellt werden kann. § 1598a BGB ist nicht erfüllt, da die genetische Mutter nicht Mutter im Sinn dieser Vorschrift ist. Gegen einen Feststellungsantrag spricht, dass nach einhelliger Meinung ein
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Kap. 3 A Rn. 9
Materielles Abstammungsrecht
2. Internationales Privatrecht 9
Fälle mit Auslandsbezug kommen insbesondere dann in Betracht, wenn die Mutter nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat. Weiterhin können sich Probleme ergeben, wenn die Mutter aus medizinischen Gründen kein Kind bekommen konnte und das Kind deswegen im Ausland mittels Eispende oder Embryonenspende gezeugt oder durch eine „Leihmutter“ anonym ausgetragen wurde; denn in Deutschland ist es Erwachsenen rechtlich verwehrt, auf diese Weise Eltern zu werden1.
10 Art. 19 EGBGB kennt für die Bestimmung des für die Abstammung maßgeblichen Rechts folgende Anknüpfungen: – den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes, – die Staatsangehörigkeit der Mutter, – wenn die Mutter verheiratet ist: das Ehewirkungsstatut gem. Art. 14 EGBGB. 11 Es kommen also uU parallel mehrere Rechtsordnungen zur Anwendung, nach denen sich die Abstammung richtet. Hinsichtlich der Abstammung nach der Mutter wirkt sich dies allerdings kaum aus, da die europäischen Rechtsordnungen ganz überwiegend auf die Geburt und nicht auf die genetische Abstammung abstellen. Hat eine andere Frau die Mutterschaft anerkannt als die Frau, die das Kind geboren hat, und ist dies nach dem Heimatrecht der Frau möglich, kann es passieren, dass rechtlich zwei Mütter des Kindes vorhanden sind. In diesen Fällen soll die Person der Mutter nach dem Recht zu bestimmen sein, das für das Kind am günstigsten ist2. Dies kann insbesondere dazu führen, dass nicht die Leihmutter, die das Kind ausgetragen hat, sondern die Mutter, die die tatsächliche Verantwortung für das Kind trägt, auch rechtlich als Mutter anerkannt wird3. 12 Es gibt Rechtsordnungen, die die Abstammung aufgrund Anerkenntnis durch die Mutter kennen4. Dies kann sich dann auswirken, wenn die Mutter, die das Kind geboren hat, nicht mehr festgestellt werden kann, und eine andere Frau, deren Heimatrecht die Mutterschaft aufgrund Anerkenntnisses kennt, ein solches Anerkenntnis erklärt. Denkbar ist etwa, dass das Kind im Ausland von einer anonym bleibenden Leih- oder Ersatzmutter ausgetragen wurde5.
1 2 3 4 5
Feststellungsantrag des Mannes auf Feststellung der genetischen Abstammung ohne rechtliche Folgen mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig sei, vgl. zur Problematik auch BeckOK/Hahn, § 1591 BGB Rn. 23. Diese Verfahren sind den medizinischen Berufsträgern in Deutschland untersagt, vgl. §§ 1 Abs. 1 Nr. 1, 2 ESchG sowie §§ 13a–13d AdVermiG. Staudinger/Henrich, Art. 19 EGBGB Rn. 78, 79. Staudinger/Henrich, Art. 19 EGBGB Rn. 78, 79. ZB Frankreich, Italien. Zu diesen Fällen Staudinger/Henrich, Art. 19 EGBGB Rn. 73, 74.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 16
Kap. 3 A
III. Abstammung nach dem Vater Die Abstammung nach dem Vater knüpft nicht an einen tatsächlichen Vorgang wie die Geburt oder die Zeugung eines Kindes an. Vielmehr sind für die Abstammung eines Kindes nach dem Vater allein statusrechtliche Gesichtspunkte maßgebend:
13
– die Ehe eines Mannes mit der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt (§ 1592 Nr. 1 BGB), – die Anerkennung der Vaterschaft durch einen Mann (§ 1592 Nr. 2 BGB), – die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft (§ 1592 Nr. 3 BGB). Die Frage, wer nach abstammungsbiologischen Gesichtspunkten Vater des Kindes ist, spielt nur als Vorfrage für die Anfechtung bzw. die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft eine Rolle.
14
1. Vaterschaft kraft Ehe a) Grundsatz: Rechtlicher Bestand der Ehe als Kriterium der Vaterschaft Vater eines Kindes ist grundsätzlich der Mann, der zum Zeitpunkt der 15 Geburt des Kindes mit der Mutter verheiratet ist (§ 1592 Nr. 1 BGB). Der Bestand der Ehe eines Mannes mit der Mutter bei Geburt des Kindes schließt die Vaterschaft durch Anerkennung eines anderen Mannes grundsätzlich aus (§ 1594 Abs. 2 BGB). Dies gilt lediglich dann nicht, wenn im Rahmen eines Scheidungsverfahrens ein Dritter die Vaterschaft anerkennt und im Übrigen die Voraussetzungen von § 1599 Abs. 2 BGB erfüllt sind (s. hierzu unten Rn. 17–39). Weiterhin kann auch eine gerichtliche Feststellung der Vaterschaft nicht erfolgen, solange der Ehemann als Vater angesehen wird (§ 1600d Abs. 1 BGB). Dies gilt auch dann, wenn zwischen allen Beteiligten zweifelsfrei feststeht, dass der Ehemann biologisch gesehen nicht der Vater des Kindes ist, selbst wenn der biologische Vater bekannt ist. Auch wenn zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes die Ehegatten schon lange getrenntleben, ändert dies nichts daran, dass rechtlich der Ehemann Vater des Kindes mit allen Konsequenzen wird. b) Vaterschaft bei Auflösung der Ehe durch Tod des Mannes Wird die Ehe durch Tod des Mannes aufgelöst, wird dieser trotzdem recht- 16 lich Vater des Kindes, wenn dieses innerhalb von 300 Tagen nach dem Tod des Ehemannes geboren wird (§ 1593 BGB). Diese Frist entspricht der Empfängniszeit gem. § 1600d Abs. 3 BGB. Die Frist verlängert sich, wenn feststeht, dass das Kind mehr als 300 Tage vor seiner Geburt empfangen wurde (§ 1593 BGB). Hat die Ehefrau innerhalb der Frist von 300 Tagen erneut geheiratet, wird der neue Ehemann Vater des Kindes. Auch wenn einiges dafür spricht, dass das Kind vor der neuen Eheschließung empfangen wurde, wird rechtlich der (neue) Ehemann Vater des Kindes (§ 1593 S. 3 Siede
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Kap. 3 A Rn. 17
Materielles Abstammungsrecht
BGB). Nur wenn dieser erfolgreich die Vaterschaft anficht, wird der frühere zwischenzeitlich verstorbene Ehemann Vater, ohne dass es insoweit eines Verfahrens zur Feststellung der Vaterschaft bedarf (§ 1593 S. 4 BGB). c) Ausnahme: Vaterschaft aufgrund Anerkennung eines Dritten während oder nach Scheidung der Ehe 17 Gem. § 1599 Abs. 2 BGB wird der Ehemann nicht (dauerhaft) Vater des Kindes, wenn das Kind nach Anhängigkeit des Scheidungsantrags geboren wird und ein Dritter bis spätestens ein Jahr nach Rechtskraft der Scheidung die Vaterschaft anerkennt. Die Zustellung des Scheidungsantrags ist demgegenüber nicht erforderlich.
Û
Praxistipp: Es reicht daher aus, wenn der Ehemann oder die Ehefrau – ggf. auch vor Ablauf des Trennungsjahres gem. § 1565 Abs. 2 BGB – einen Scheidungsantrag einreichen, jedoch der Kostenvorschuss gem. §§ 12, 14 FamGKG nicht eingezahlt wird. Dies Vorgehen kann sich empfehlen, um die Kosten und Risiken eines Verfahrens zur Anfechtung der Vaterschaft zu vermeiden. Teilweise wird zwar vertreten, dass es eine unzumutbare Härte für den Ehemann darstelle, wenn er das Trennungsjahr abwarten müsse und deshalb Vater eines scheinehelichen Kindes werde1. Dies muss jedoch keineswegs so sein. Voraussetzung des § 1565 Abs. 2 BGB ist, dass die Fortsetzung der Ehe aus Gründen, die in der Person des anderen Ehegatten liegen, für den Antragsteller eine unzumutbare Härte darstellt. Die zu erwartende Geburt des scheinehelichen Kindes ist zwar kein Grund, der in der Person des anderen Ehepartners liegt. Es könnte jedoch darauf abgestellt werden, dass der andere Ehepartner die eheliche Treue gebrochen hat. Auch dieser Gesichtspunkt versagt aber, wenn die Ehe der Beteiligten zum Zeitpunkt der Empfängnis des voraussichtlich scheinehelichen Kindes bereits in der Krise war, insbesondere dann, wenn sich bereits beide Ehegatten anderen Partnern zugewandt haben2. Wird der vorzeitig eingereichte Scheidungsantrag zugestellt, hat das Gericht alsbald Termin anzusetzen (und den unbegründeten Antrag abzuweisen)3. Dieses Risiko kann der Antragsteller vermeiden, indem er den Antrag zwar einreicht, jedoch zunächst davon absieht, einen Gerichtskostenvorschuss einzuzahlen oder die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe zu beantragen. § 1599 Abs. 2 BGB stellt ein sehr einfaches und kostengünstiges Verfahren dar, durch das vermieden werden kann, dass entgegen dem Willen aller Beteiligten ein Kind scheinehelich wird. Ist der Dritte be-
1 ZB OLG Frankfurt v. 6.6.2005 – 1 WF 89/05, FamRZ 2006, 625. 2 Kritisch zu dieser Fallgruppe auch Erman/Blank, § 1565 BGB Rn. 13. 3 FAFamR/v. Heintschel-Heinegg, Kap. 2, 73.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 22
Kap. 3 A
reit, die Vaterschaft anzuerkennen, dürften daher die Voraussetzungen gem. § 1565 Abs. 2 BGB nur vorliegen, wenn auch die Dauer der Scheinehelichkeit des Kindes bis zur Rechtskraft der Scheidung unzumutbar sein sollte; denn die Anerkennung wird frühestens mit Rechtskraft der Scheidung wirksam (§ 1599 Abs. 2 S. 3 BGB). Weiterhin ist erforderlich, dass ein Dritter die Vaterschaft anerkennt. Die 18 Anerkennung ist schon vor der Geburt des Kindes möglich (§§ 1599 Abs. 2, 1594 Abs. 4 BGB). In diesem Fall lautet die Anerkennung: Ich erkenne an, Vater des aus der gegenwärtigen Schwangerschaft der Frau Lilly Lieblich, geb. am 11.11.1971 in Eltville/Rhein, deutsche Staatsangehörige, wohnhaft Mönchshofstr. 29, 94234 Viechtach zu erwartenden Kindes, voraussichtlicher Geburtstermin 1.4.2012, zu sein.
Die Anerkennung ist auch schon vor Stellung des Scheidungsantrags 19 durch einen Ehepartner möglich1. Demgegenüber kann sie nicht vor der Feststellung der Empfängnis erfolgen, da sie auf die Geburt eines bestimmten Kindes bezogen sein muss (s. unten Rn. 47). Schließlich ist auch der Endzeitpunkt zu beachten: Die Anerkennung durch den Dritten ist nur bis zum Ablauf eines Jahres ab Rechtskraft der Scheidung möglich (§ 1599 Abs. 2 BGB)2.
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Der Anerkennung steht – ausnahmsweise – die Vaterschaft des Eheman- 21 nes nicht entgegen, da § 1594 Abs. 2 BGB im Fall der Anerkennung gem. § 1599 Abs. 2 S. 1 BGB nicht gilt. Die Anerkennung bedarf der öffentlichen Beurkundung. Dies kann durch 22 notarielle Beurkundung erfolgen. Die öffentliche Beurkundung wird ersetzt, wenn die Anerkennung im Rahmen eines Abstammungsverfahrens zu Protokoll des Gerichts erfolgt (§ 180 FamFG). Da diese Verfahren nicht verbundfähig sind (§ 137 FamFG), ist dies allerdings nicht im Rahmen des Scheidungsverfahrens möglich. Schließlich kann die Anerkennung aber auch kostenfrei erklärt werden. Zuständig für die Beurkundung der Anerkennung der Vaterschaft ist der Rechtspfleger des Amtsgerichts (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 BeurkG). Hier erfolgt die Beurkundung gem. § 55a KostO gebührenfrei. Entsprechendes gilt für die Beurkundung der Anerkennung vor dem Jugendamt (§§ 59 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI, 64 Abs. 1, 2 S. 3 Nr. 2 SGB X) und vor dem Standesbeamten (§ 44 PStG).
1 Staudinger/Rauscher, § 1599 BGB Rn. 90. 2 Sofern das Gesetz hier von der Rechtskraft des Urteils der Scheidung spricht, ist der Wortlaut nicht den Vorgaben von §§ 113 Abs. 1, 4, 38 FamFG angepasst worden.
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Kap. 3 A Rn. 23
Materielles Abstammungsrecht
23 Im Ausland kann die Anerkennung vor dem Konsulat erklärt werden (§ 10 KonsG). 24 Ist der leibliche Vater minderjährig oder steht er unter Betreuung, sind die Sondervorschriften des § 1596 BGB zu beachten (s. auch Rn. 44). 25 Die Anerkennung darf nicht unter einer Bedingung oder Zeitbestimmung erfolgen (§ 1594 Abs. 3 BGB). Der Dritte kann sie daher insbesondere nicht davon abhängig machen, dass die Mutter ihn nach der Scheidung heiratet oder von der Verpflichtung zur Zahlung von Unterhalt freistellt. 26 Die Erklärung der Anerkennung ist nicht empfangsbedürftig. Allerdings ist sie den übrigen Beteiligten (Ehemann, Mutter, Standesamt) mitzuteilen, damit diese nicht im Ungewissen bleiben (§ 1597 Abs. 2 BGB). Dies ist aber nicht Voraussetzung der Wirksamkeit1. 27 Die Anerkennung wird nur wirksam, wenn die Mutter zustimmt (§ 1595 Abs. 1 BGB). Auch die Zustimmung bedarf der öffentlichen Beurkundung (§ 1597 Abs. 1 BGB). Es gelten dieselben Anforderungen und Erleichterungen wie für den Mann, der die Vaterschaft anerkennt. 28 Ist die Mutter minderjährig oder steht sie unter Betreuung, ist § 1596 BGB zu beachten. 29 Die Zustimmung der Mutter kann erklärt werden ab Empfängnis des Kindes bis zum Ablauf eines Jahres ab Rechtskraft der Scheidung (§§ 1599 Abs. 2, 1595 Abs. 3, 1594 Abs. 4 BGB). Die Jahresfrist für die Zustimmung ab Rechtskraft der Scheidung ergibt sich daraus, dass die Anerkennung spätestens ein Jahr ab Rechtskraft der Scheidung wirksam werden muss. Dies setzt voraus, dass die erforderlichen Zustimmungen vorliegen. Der Beginn ergibt sich daraus, dass inhaltlich feststehen muss, welcher Mann die Vaterschaft anerkennt. Die Zustimmung ist nicht generell zu erteilen, sondern nur in Bezug auf eine ganz konkrete Anerkennung möglich. Der Mann, dessen Anerkennung zugestimmt wird, ist in der Zustimmungserklärung zu bezeichnen. 30 Ist die Mutter nicht sorgeberechtigt, bedarf die Anerkennung auch der Zustimmung des Kindes (§ 1595 Abs. 2 BGB). Es reicht aber aus, wenn die Mutter neben dem Ehemann mitsorgeberechtigt ist (§ 1626 BGB)2, so dass in diesem Fall die Zustimmung des Kindes entbehrlich ist. 31 Ist das Kind zum Zeitpunkt der Zustimmung noch nicht geboren, ist darauf abzustellen, ob die Mutter mit Geburt des Kindes sorgeberechtigt sein wird.
1 Erman/Hammermann, § 1597 BGB Rn. 5a. 2 Staudinger/Rauscher, § 1595 BGB Rn. 21.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 38
Kap. 3 A
Nicht sorgeberechtigt sind insbesondere minderjährige Mütter (s. auch § 1791c BGB) sowie Mütter, denen das Sorgerecht entzogen ist oder zu entziehen wäre.
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Ob in Fällen der Interessenkollision der Mutter das Sorgerecht gem. 33 §§ 1629 Abs. 2 S. 3 BGB entzogen werden kann, ist sehr str.; § 1629 Abs. 2 S. 3 BGB enthält eine Ausnahmeregelung für die Feststellung der Vaterschaft1. Geht es um die Verweigerung der Zustimmung, stellt sich das Problem nicht, da dann die Mutter die Wirksamkeit der Annerkennung verhindern kann, indem sie selbst nicht zustimmt. Verstößt es gegen das Interesse des Kindes, wenn die Zustimmung erteilt wird, dürfte der Entzug der elterlichen Sorge aus verfassungsrechtlichen Gründen nur in Betracht kommen, wenn die Voraussetzungen des § 1666 BGB vorliegen. Für Inhalt, Zeitrahmen, in dem die Zustimmung erklärt werden kann, Vertretung und Form gelten dieselben Anforderungen wie für die Zustimmung der Mutter mit der Maßgabe, dass immer nur der gesetzliche Vertreter zustimmen kann (§ 1596 Abs. 1 BGB).
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Schließlich ist die Zustimmung des Ehemannes erforderlich (§ 1599 35 Abs. 2 BGB). Auch diese Erklärung bedarf der öffentlichen Beurkundung durch Notar, Rechtspfleger, Urkundsbeamten des Jugendamts oder des Standesbeamten, sowie ersatzweise der Erklärung zu Protokoll des Gerichts (s. oben Rn. 22). Inhaltlich muss sie sich auf eine bestimmte Anerkennung durch einen bestimmten Mann beziehen2. Sie darf nicht unter einer Zeitbestimmung oder einer Bedingung abgegeben werden (§§ 1599 Abs. 2, 1594 Abs. 3 BGB).
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Die Erklärung der Zustimmung kann bereits vor der eigentlichen Erklärung der Anerkennung erfolgen. Weiterhin ist nicht erforderlich, dass das Scheidungsverfahren bereits anhängig ist. Schließlich kann die Zustimmung auch vor Geburt des Kindes erklärt werden (§§ 1599 Abs. 2, 1594 Abs. 4 BGB). Hinsichtlich des Endes des Zeitrahmens ist zu beachten, dass die Anerkennung innerhalb eines Jahres ab Rechtskraft der Scheidung wirksam werden muss; daher ist auch die Zustimmung des Ehemannes spätestens bis zu diesem Zeitpunkt zu erklären3.
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Im Fall des § 1599 Abs. 2 BGB reicht es nicht aus, dass die Anerkennung formwirksam erklärt wird und die erforderlichen Zustimmungen vorliegen. Weiterhin ist hier erforderlich, dass die Ehe des Ehemannes rechtskräftig geschieden wird (§ 1599 Abs. 2 S. 3 BGB). Wird der Scheidungs-
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1 Zur Frage, ob diese Bestimmung auch die Anerkennung erfasst vgl. MüKo/Wellenhofer, § 1595 BGB Rn. 10. 2 Staudinger/Rauscher, § 1599 BGB Rn. 97. 3 Staudinger/Rauscher, § 1599 BGB Rn. 98; Palandt/Brudermüller, § 1599 BGB Rn. 11; wohl auch Erman/Hammermann, § 1599 BGB Rn. 47; aA OLG Brandenburg v. 29.4.2011 – 7 Wx 8/11, FamRZ 2011, 1310.
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Kap. 3 A Rn. 39
Materielles Abstammungsrecht
ausspruch nicht rechtskräftig, bleibt die Vaterschaft des Ehemannes vorbehaltlich der Anfechtung der Vaterschaft bestehen. 39 Wird die Anerkennung des Dritten innerhalb eines Jahres ab Rechtskraft der Scheidung wirksam, wird damit der Dritte Vater (§ 1592 Nr. 2 BGB). Der Ehemann hört auf Vater zu sein. Die Anerkennung wirkt auf den Zeitpunkt der Geburt zurück. Unterhaltsleistungen, die der Ehemann bis zu diesem Zeitpunkt für das Kind erbracht hat, führen dazu, dass der Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den Dritten, der anerkannt hat, auf den Ehemann nach Maßgabe von § 1607 BGB übergeht. Weiterhin kommt auch in Betracht, dass der Ehemann von dem Dritten anteilig Unterhalt erstattet verlangen kann, den er während der Betreuung des Kindes durch die Ehefrau an diese geleistet hat (§§ 1615l Abs. 2, Abs. 3, 1606 Abs. 3, 1607 BGB), s. Rn. 143. 2. Vaterschaft kraft Anerkennung a) Vaterschaft aufgrund Anerkennung im System des Abstammungsrechts 40 Die Vaterschaft kraft Anerkennung ist grundsätzlich nicht möglich, solange die Vaterschaft des Ehemannes aufgrund Geburt des Kindes während der Ehe besteht (§ 1594 Abs. 2 BGB). Die Anerkennung ist daher nur nach – bzw. im Fall des § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB gleichzeitig mit – der Entscheidung über die Anfechtung möglich. Lediglich dann, wenn das Kind nach Anhängigkeit des Scheidungsantrags geboren wird, ist es befristet möglich, trotz bestehender Vaterschaft kraft Ehe eine Vaterschaft durch Anerkennung zu begründen (§ 1599 Abs. 2 BGB). Umgekehrt hindert die Vaterschaft kraft Anerkennung die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft (§§ 1600d Abs. 1, 1592 Nr. 2 BGB). 41 Die Vaterschaft kraft Anerkennung beruht allein darauf, dass der – rechtliche – Vater die Anerkennung wirksam erklärt und die erforderlichen Zustimmungen abgegeben werden. Die genetische Abstammung ist demgegenüber unerheblich. Wurde das Kind durch heterologe Insemination gezeugt, stammt es also genetisch nicht von dem Mann ab, kann dieser durch Anerkennung gleichwohl eine wirksame Vaterschaft zu dem Kind begründen. In gleicher Weise kann durch Anerkennung hinsichtlich eines Kindes, das von der Mutter in die Partnerschaft eingebracht wurde, das aber nicht von dem „aktuellen Lebensabschnittsgefährten“ der Mutter stammt, die Vaterschaft des Mannes begründet werden, ohne dass die sehr viel strengeren Regeln der Adoption (§§ 1741, 1743, 1744, 1745 BGB) eingehalten werden müssten (vgl. zu diesen Anforderungen Kap. 4 Rn. 6–20). Im Unterschied zur Adoption ist die so begründete Vaterschaft allerdings anfechtbar (s. hierzu Rn. 93, 94). 42 Die Vaterschaft kraft Anerkennung führt zur Abstammung nach dem Mann mit allen Konsequenzen. Insbesondere werden zu seinen Verwand-
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 47
Kap. 3 A
ten sowohl in gerader Linie als auch in der Seitenlinie (v.a. andere Kinder des Mannes, die nun Geschwister werden) Verwandtschaftsverhältnisse begründet, die sich auf deren erbrechtliche und unterhaltsrechtliche Stellung auswirken können. Weiterhin entsteht bezüglich der Ehefrau des Anerkennenden und deren Verwandten Schwägerschaft mit allen hieraus folgenden Konsequenzen. Gleichwohl haben diese keine rechtliche Handhabe, die Anerkennung zu verhindern. Darüber hinaus steht ihnen grundsätzlich auch kein Recht zur Anfechtung gem. § 1600 BGB zu, um die Wirkungen der Anerkennung zu annullieren (s. unten Rn. 228–232). b) Voraussetzungen der Anerkennung Die Anerkennung setzt grundsätzlich Geschäftsfähigkeit des Anerkennenden voraus.
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Ist der Anerkennende minderjährig und daher in der Geschäftsfähigkeit 44 beschränkt, muss er gleichwohl selbst die Anerkennung erklären. Der gesetzliche Vertreter (idR die Eltern des minderjährigen Vaters, §§ 1626, 1629 BGB) müssen zustimmen, vertreten diesen aber nicht (§ 1596 Abs. 1 S. 2 BGB). Steht der Vater unter Betreuung, muss er gleichwohl die Anerkennung selbst erklären, wenn er geschäftsfähig ist; fehlt es hieran, hat der Betreuer als gesetzlicher Vertreter die Anerkennung zu erklären. Er bedarf hierfür der Genehmigung des Betreuungsgerichts (§ 1596 Abs. 1 S. 3 BGB). Die Anerkennung darf nicht unter einer Bedingung oder einer Zeit- 45 bestimmung erklärt werden (§ 1594 Abs. 3 BGB). Sie kann daher insbesondere nicht unter der Bedingung erklärt werden, dass das Kind auch tatsächlich von dem Anerkennenden abstammt. Bestehen insoweit Zweifel und ist die Vaterschaft nur gewünscht für ein Kind, das von dem betreffenden Mann tatsächlich abstammt, kommt nur die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft in Betracht. Ansonsten sollte die Anerkennung erst nach (positiver) Durchführung einer Abstammungsbegutachtung (ggf. im Verfahren gem. § 1598a BGB) erklärt werden. Die Anerkennung bedarf der öffentlichen Beurkundung (§ 1597 Abs. 1 BGB). Diese kann vor dem Rechtspfleger des Amtsgerichts, dem Urkundsbeamten des Jugendamts sowie dem Urkundsbeamten des Standesamts auch kostenfrei erfolgen (s. oben Rn. 22). Sie ist den übrigen Beteiligten mitzuteilen, dies ist aber nicht Wirksamkeitserfordernis (s. oben Rn. 26).
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Die Anerkennung kann bereits vor der Geburt des Kindes erklärt werden (§ 1594 Abs. 4 BGB). Da sie sich auf ein bestimmtes – ggf. zu erwartendes – Kind beziehen muss, kann sie aber nicht vor Feststellung der Empfängnis erklärt werden. Es ist daher insbesondere nicht möglich, im Fall der Zeugung mittels heterologer Insemination die Vaterschaft vorab anzuerkennen. Wird ein Kind mithilfe dieser Methode der Fortpflanzungsmedi-
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Kap. 3 A Rn. 48
Materielles Abstammungsrecht
zin gezeugt, tragen mithin die Mutter (und das Kind) das Risiko, dass der Mann, der dieser Methode ursprünglich zugestimmt hat, nach Eintritt der Schwangerschaft die Vaterschaft wirklich anerkennt1. 48 Entsprechende Probleme stellen sich, wenn ein unverheiratetes Paar versucht, seinen Kinderwunsch, der durch den Mann nicht erfüllt werden kann, dadurch zu realisieren, dass die Frau von einem anderen Mann auf natürlichem Weg ein Kind empfängt. Entsprechendes gilt in den Fällen, in denen weder die Frau noch der Mann den Kinderwunsch realisieren können. Lässt sich in diesen Fällen die Frau im Ausland2 einen Embryo implantieren, der weder von ihr noch von dem Mann abstammt, hängt die Vaterschaft des Mannes davon ab, dass dieser nach der Durchführung dieser Maßnahme die Vaterschaft anerkennt. Stammt das Kind nicht von dem Mann ab, kann die Frau auch nicht nachträglich durch Antrag auf gerichtliche Feststellung der Vaterschaft die Vaterschaft des betreffenden Mannes herbeiführen; denn dieses Verfahren zielt auf die Zuordnung des Kindes zu seinem leiblichen Vater ab (s. unten Rn. 63).
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Praxistipp: In diesen Fällen kann sich die Frau allerdings gegen die materiellen Folgen der Geburt des Kindes absichern. Vor Durchführung derartiger (fortpflanzungsmedizinischer) Maßnahmen sollte sie auf dem Abschluss eines notariellen Vertrags bestehen, durch den sich der Mann verpflichtet, jedenfalls im Verhältnis zur Frau für deren Unterhalt sowie den Unterhalt des Kindes aufzukommen. Demgegenüber ist ein Vertrag, durch den – ggf. auch mittelbar – die Verpflichtung begründet wird, das erst noch (künstlich) zu zeugende Kind anzuerkennen, gem. §§ 134, 138 BGB unwirksam, da eine solche Verpflichtung dem Charakter der Anerkennung als höchstpersönlichem Rechtsgeschäft widerspricht.
49 Die Anerkennung ist auch nach der Geburt des Kindes und grundsätzlich auch noch nach dem Tod des Kindes möglich. Da sie nicht unter einer Bedingung erklärt werden kann (§ 1594 Abs. 3 BGB) und auch nicht durch einen Bevollmächtigten erfolgen darf (§ 1596 Abs. 4 BGB), kann sie jedoch nicht mehr nach dem Tod des Vaters erklärt werden3. Ist ausnahmsweise für die Anerkennung auch die Zustimmung des Kindes erforderlich, kann sie nach dem Tod des Kindes nicht mehr erfolgen. Insbesondere, wenn das Kind zwischenzeitlich volljährig geworden ist, kann daher nach dem Tod des Kindes die Vaterschaft durch Anerkennung nicht mehr begründet werden, sofern das Kind nicht vor dem Tod der Anerkennung zugestimmt 1 Weitergehend Erman/Hammermann, § 1594 BGB Rn. 14, der es ausreichen lässt, wenn die Anerkennung auf eine bestimmte Zeugung gerichtet ist, um insbesondere im Fall der Zeugung durch heterologe Insemination für die Beteiligten Rechtssicherheit zu gewährleisten. 2 Im Inland steht dieser Methode der Fortpflanzungsmedizin § 1 Abs. 1 ESchG entgegen. 3 Rauscher, FPR 2002, 359.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 54
Kap. 3 A
hat1. Andernfalls könnten der Mann und die Mutter gegen den Willen des Kindes und seiner Angehörigen bzw. Erben die Konsequenzen manipulieren, die sich aus der Verwandtschaft in vermögensrechtlicher und erbrechtlicher Hinsicht ergeben. Weiterhin bedarf die Anerkennung der Zustimmung der Mutter (§ 1595 Abs. 1 BGB). Kann die Zustimmung der Mutter nicht mehr erklärt werden, weil diese verstorben ist, kann die Anerkennung nicht wirksam werden2. Zwar ist davon auszugehen, dass die Interessen des Kindes auch nach dem Tod der Mutter ausreichend gewahrt werden. Weil dann das Kind nicht mehr unter der Sorge der Mutter steht, ist seine Zustimmung erforderlich. Ggf. hat der vom Gericht bestellte Vormund die Interessen des Kindes wahrzunehmen. Allerdings dient das Zustimmungserfordernis auch der Wahrung von statusrechtlichen Interessen der Mutter, die über deren Tod fortdauern können. Diese Interessen werden nach dem Tod der Mutter nicht durch den Vormund des Kindes wahrgenommen. Daher kann die Anerkennung nur zu Lebzeiten der Mutter erklärt werden.
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c) Wirksamwerden Die Anerkennung wird wirksam, wenn das Kind geboren wird und die Anforderungen gem. §§ 1595 bis 1597 BGB erfüllt sind (§ 1598 BGB).
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Liegen formelle Mängel vor, wird die Anerkennung gleichwohl wirksam, wenn sie seit fünf Jahren in ein Personenstandsregister eingetragen ist (§ 1598 Abs. 2 BGB). Die Eintragung heilt also Formmängel3. Nicht zur Unwirksamkeit führt es, wenn eine Anerkennungserklärung oder Zustimmung nicht allen übrigen Beteiligten gem. § 1597 Abs. 2 BGB bekannt gegeben wurde4.
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Liegen mehrere Anerkennungserklärungen vor, wird die Erklärung wirk- 53 sam, bei der zuerst alle erforderlichen Zustimmungen wirksam erteilt sind. Steht der Anerkennung entgegen, dass der Ehemann der Mutter als Vater 54 gilt (§ 1592 Nr. 1 BGB), wird die Anerkennung wirksam, wenn die Vaterschaft des Ehemannes erfolgreich angefochten wird5.
1 Wie hier Staudinger/Rauscher, § 1595 BGB Rn. 35; aA MüKo/Wellenhofer, § 1595 BGB Rn. 11; BayObLG v. 17.7.2000 – 1Z BR 96/00, NJW-RR 2000, 1602. 2 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 121; LG Koblenz v. 1.8.2002 – 2 T 487/02, StAZ 2003, 303; aA Staudinger/Rauscher, § 1595 BGB Rn. 15. 3 Erman/Hammermann, § 1598 BGB Rn. 10. 4 MüKo/Wellenhofer, § 1598 BGB Rn. 4. 5 Staudinger/Rauscher, § 1594 BGB Rn. 35; zum Sonderfall des § 1599 Abs. 2 BGB s. oben Rn. 17–39.
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Kap. 3 A Rn. 55
Materielles Abstammungsrecht
55 Steht der Anerkennung entgegen, dass bereits eine andere Anerkennung wirksam geworden ist, wird die Anerkennung wirksam, wenn die Vaterschaft aufgrund der früheren Anerkennung wirksam angefochten wurde. 56 Wird die Anerkennung wirksam, wirkt dies inter omnes. Weiterhin wirkt die Wirksamkeit der Anerkennung auf den Zeitpunkt der Geburt zurück. Unterhaltsansprüche des Kindes gegen den Anerkennenden gehen auf denjenigen über, der bisher Unterhalt geleistet hat. 57 Die Anerkennung bewirkt, dass das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit erhält, wenn der Vater deutscher Staatsangehöriger ist und das Kind das 23. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (§ 4 Abs. 1 StAG). d) Widerruf 58 Die Anerkennung kann widerrufen werden, wenn sie nicht innerhalb eines Jahres nach der Beurkundung wirksam geworden ist (§ 1597 Abs. 3 BGB). Für den Widerruf gelten grundsätzlich dieselben Anforderungen wie für die Anerkennung. Auch der Widerruf bedarf der öffentlichen Beurkundung. Unerheblich ist, ob der Wirksamkeit der Anerkennung entgegensteht, dass innerhalb eines Jahres nicht alle notwendigen Zustimmungen erklärt wurden, oder ob ihr entgegensteht, dass noch die Vaterschaft eines anderen Mannes besteht1. Die allgemeinen Vorschriften werden verdrängt, insbesondere kann die Erklärung der Anerkennung nicht wegen Irrtums angefochten werden. Ist die Anerkennung durch Geburt des Kindes und Erteilung der erforderlichen Zustimmungen wirksam geworden, können ihre Wirkungen nur noch durch Anfechtung der Vaterschaft aufgehoben werden. 3. Vaterschaft aufgrund gerichtlicher Feststellung a) Vaterschaft aufgrund gerichtlicher Feststellung im System des Abstammungsrechts 59 Die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft hat zum Ziel, ein Kind seinem leiblichen Vater zuzuordnen2. Dies ist der Mann, von dem das Kind biologisch abstammt, idR also derjenige, der das Kind gezeugt hat. 60 § 1600d Abs. 1 BGB zeigt, dass das Prinzip der biologischen Abstammung keineswegs vorrangig zu berücksichtigen ist. Vielmehr ist die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft, durch die das Kind nach abstammungsbiologischen Kriterien einem Mann zugeordnet wird, subsidiär gegenüber den „sozialen“ Formen der Vaterschaft aufgrund Ehe und Anerkennung. Dies ergibt sich aus § 1600d Abs. 1 BGB. Nach dieser Vorschrift ist die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft nur möglich, wenn eine Vater1 Erman/Hammermann, § 1597 BGB Rn. 7. 2 Erman/Hammermann, § 1600d BGB Rn. 1; Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 44.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 64
Kap. 3 A
schaft weder aufgrund Ehe (§§ 1592 Nr. 1, 1593 BGB) noch aufgrund Anerkennung (§ 1592 Nr. 2 BGB) besteht. In vielen Fällen wird aus rein tatsächlichen Gründen die abstammungsbiologische Vaterschaft mit diesen Formen der sozialen Vaterschaft zwar zusammenfallen, dies muss jedoch nicht so sein und spielt von der rechtlichen Gewichtung der Kriterien für die Zuordnung eines Kindes zu einem Mann als Vater her auch keine Rolle. Der Vorrang der sozialen Vaterschaft ist allerdings nicht absolut. Die Be- 61 teiligten des Abstammungsverhältnisses haben es vielmehr in der Hand, der abstammungsbiologischen Vaterschaft auch in den Fällen, in denen eine hiervon abweichende, auf sozialen Kriterien beruhende Vaterschaft besteht, zur rechtlichen Anerkennung zu verhelfen. Der Weg dorthin führt über die Anfechtung der (sozialen) Vaterschaft; denn §§ 1592 Nr. 1, 1593 BGB (Vaterschaft kraft Ehe) und § 1592 Nr. 2 BGB (Vaterschaft kraft Anerkennung) gelten nicht, wenn aufgrund einer Anfechtung rechtskräftig festgestellt ist, dass der Mann nicht der Vater des Kindes ist (§ 1599 Abs. 1 BGB). Ist der Vater rechtskräftig festgestellt, schließt dies die Begründung einer 62 (abweichenden) Vaterschaft aufgrund Anerkennung aus (§ 1594 Abs. 2 BGB). Die Vaterschaft aufgrund gerichtlicher Feststellung kann auch nicht angefochten werden1, da § 1599 Abs. 1 BGB § 1592 Nr. 3 BGB nicht erwähnt. Der Beschluss des Gerichts, durch den die Vaterschaft festgestellt wird, kann auch nicht geändert werden (§ 184 Abs. 1 S. 2 FamFG). Eine Korrektur kann lediglich im Restitutionsverfahren erfolgen (§ 185 Abs. 1 FamFG)2. b) Voraussetzungen der Feststellung der Vaterschaft Materiell-rechtliche Voraussetzungen der gerichtlichen Feststellung der Vaterschaft sind allein, dass:
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– keine Vaterschaft aufgrund Ehe (§§ 1592 Nr. 1, 1593 BGB) oder Anerkennung (§ 1592 Nr. 2 BGB) besteht – und dass das Kind biologisch von dem im Verfahren als festzustellenden Vater beteiligten Mann abstammt. Demgegenüber spielt die Anfechtungsberechtigung nur noch für die An- 64 tragsbefugnis eine Rolle. § 1600e BGB ist zwar vereinzelt als Vorschrift ausgelegt worden, die die Aktiv- bzw. Passivlegitimation regelt und damit auf der Ebene der Begründetheit zu prüfen ist3. Durch das FamFG ist aber
1 Erman/Hammermann, § 1599 BGB Rn. 4. 2 Dies setzt voraus, dass ein Beteiligter ein Gutachten vorlegt, aus dem sich ergibt, dass der gerichtlich festgestellte Vater nach abstammungsbiologischen Kriterien nicht der Vater des Kindes ist; s. unten Rn. 382–385. 3 Vgl. Hk-BGB/Kemper, § 1600d BGB Rn. 1.
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Kap. 3 A Rn. 65
Materielles Abstammungsrecht
das Abstammungsverfahren auch zu Lebzeiten des Vaters von einem Klageverfahren in ein Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit umgestaltet worden1. Dieses Verfahren wird zwar nach wie vor nur auf Antrag eingeleitet (§ 171 Abs. 1 FamFG). Der Antrag hat jedoch nur verfahrenseinleitende Funktion, im Rahmen der Zulässigkeit ist lediglich zu prüfen, ob der Antragsteller antragsbefugt ist. Fragen der Aktiv- und Passivlegitimation stellen sich daher nicht mehr2. 65 Maßstab für die Frage, wer als Vater festzustellen ist, ist, von welchem Mann das Kind unter abstammungsbiologischen Gesichtspunkten abstammt, wer also genetisch Vater des Kindes ist. Statusrechtliche Gesichtspunkte (Ehe eines Mannes mit der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes bzw. Anerkennung) spielen keine Rolle. Der Maßstab der genetischen Abstammung wird zwar in § 1600d BGB nicht ausdrücklich genannt. Er ergibt sich aber mittelbar aus § 1600d Abs. 2, 3 BGB (Vermutung der Vaterschaft aufgrund Beiwohnung während der Empfängniszeit) sowie aus §§ 177 und 178 FamFG. Nach diesen Vorschriften ist die Abstammung aufgrund eines Gutachtens festzustellen, für das entsprechende Untersuchungen, insbesondere die Entnahme von Blutproben, durchzuführen sind. Das Verfahren zielt nach allgemeiner Ansicht auf die Zuordnung eines Kindes zu seinem leiblichen Vater ab3. 66 Die Feststellung der Vaterschaft kann auf folgende Grundlagen gestützt werden: – grundsätzlich und vorrangig: Gutachten gem. §§ 177, 178 FamFG, – hilfsweise: Vermutung gem. § 1600d Abs. 2, 3 BGB. 67 Die Feststellung der Vaterschaft erfolgt grundsätzlich aufgrund förmlicher Beweisaufnahme (§ 177 FamFG). Im Rahmen der förmlichen Beweisaufnahme ist ein erbbiologisches Sachverständigengutachten einzuholen (§ 178 FamFG), sofern durch die Beteiligten nicht bereits vor dem Verfahren ein entsprechendes und zuverlässiges Gutachten eingeholt wurde und im Hinblick hierauf auf die Einholung eines neuen Gutachtens verzichtet werden kann (§ 177 Abs. 2 S. 2 FamFG). Wird ein Gutachten entsprechend den Richtlinien des Robert-Koch-Instituts4 und den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Sachverständigen für Abstammungsgutachten 2002/20085 erstellt und hierin die Vaterschaft positiv festgestellt, besteht für die Anwendung der Vermutung gem. § 1600d Abs. 2, 3 BGB im
1 Prütting/Helms/Stößer, § 169 FamFG Rn. 1, 2; an die Stelle der §§ 640 ff. ZPO sind die §§ 169 ff. FamFG getreten; das Abstammungsverfahren ist keine Familienstreitsache gem. § 112 FamFG, s. auch unten Rn. 227. 2 Vgl. hierzu auch Prütting/Helms/Stößer, § 171 FamFG Rn. 6 ff. 3 Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 44; BayObLG v. 21.4.1999 – 1Z BR 124/98, FamRZ 1999, 1363. 4 Bundesgesundheitsblatt 1992, 592. 5 Quelle: www.dgab.org.
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Rn. 71
Kap. 3 A
Allgemeinen kein Raum (zur Beweiswürdigung von Abstammungsgutachten s. Rn. 327–332). Die Vermutung gem. § 1600d Abs. 2, 3 BGB ist unterschiedlich ausgestal- 68 tet, je nachdem, ob das Kind bis 30.6.1998 oder später geboren ist (Art. 224 § 1 EGBGB)1. Die Vermutung der Vaterschaft hat Bedeutung, wenn schon vor Rechtskraft der Feststellung der Vaterschaft der als Vater in Betracht kommende Mann auf Unterhalt für das Kind und/oder die Mutter in Anspruch genommen werden soll. Die Mutter kann während der Anhängigkeit eines Verfahrens auf Fest- 69 stellung der Vaterschaft den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragen, durch die der Mann auf Zahlung von Unterhalt für das Kind gem. § 1601 BGB sowie auf Zahlung von Unterhalt wegen der Geburt und der Betreuung des Kindes gem. § 1615l BGB in Anspruch genommen wird (§ 248 FamFG) (s. Rn. 338). Weiterhin kann eine entsprechende einstweilige Anordnung auch bereits vor der Geburt des Kindes beantragt werden (§ 247 FamFG) (s. Rn. 345). Passiv legitimiert ist in diesen Fällen, der Mann, dessen Vaterschaft gem. § 1600d Abs. 2, 3 BGB vermutet wird2. Die Vermutung hat weiterhin Bedeutung, wenn von dem als Vater in Be- 70 tracht kommenden Mann kein Material gewonnen werden kann, das der Erstellung eines abstammungsbiologischen Gutachtens zugrundegelegt werden kann. Zwar ist der Mann gem. § 178 FamFG verpflichtet, an der Erstellung des Gutachtens mitzuwirken. Diese Verpflichtung ist jedoch idR nicht durchsetzbar, wenn der Mann seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat; denn die meisten Staaten kennen keinen Zwang zur Duldung der Vornahme entsprechender Untersuchungen, sondern knüpfen an eine Verweigerung der Mitwirkung lediglich materielle Nachteile3. Weiterhin kann kein Gutachten erstellt werden, wenn der Mann – voraussichtlich dauerhaft – unbekannten Aufenthalts oder aber bereits verstorben ist und der Leichnam nicht gefunden werden kann, Gebeine nicht einwandfrei identifiziert werden können oder aus anderen Gründen eine Exhumierung unzumutbar erscheint4. Voraussetzung der Vermutung ist, dass der Mann der Frau, die das Kind 71 geboren hat, während der Empfängniszeit beigewohnt hat (§ 1600d Abs. 2 BGB). Mit Beiwohnung ist gemeint, dass der Mann und die Frau geschlechtliche Praktiken vollzogen haben, die nach fortpflanzungsmedizinischen Gesichtspunkten geeignet sind, ein Kind zu zeugen. Nicht not-
1 Nach § 1592 Abs. 1 BGB idF bis 30.6.1998 betrug die Empfängniszeit 180 bis 302 Tage. 2 Prütting/Helms/Bömelburg, § 248 FamFG Rn. 8. 3 Vgl. die Übersicht in Prütting/Helms/Stößer, § 178 FamFG Rn. 16. 4 Vgl. zuletzt OLG München v. 27.6.2011 – 33 UF 942/11, FamRZ 2012, 57.
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Kap. 3 A Rn. 72
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wendig ist, dass Mann und Frau auch den Beischlaf vollzogen haben1. Beiwohnung meint, dass es zwischen der Mutter und dem Mann zu einem entsprechenden geschlechtlichen Kontakt gekommen ist. Ist das Kind künstlich gezeugt worden, greift die Vermutung daher nicht2. 72 Die Beiwohnung muss in der Empfängniszeit erfolgt sein. Als Empfängniszeit gilt die Zeit von dem 300. bis zum 181. Tag vor der Geburt des Kindes (§ 1600d Abs. 3 BGB). Diese Vermutung ist allerdings widerlegbar. Aufgrund der fortgeschrittenen Möglichkeiten der Medizin haben insbesondere Frühgeburten, die vor Vollendung des 181. Tages der Schwangerschaft geboren werden, gute Überlebenschancen. Steht aufgrund des Befundes des Kindes bei der Geburt (uU auch aufgrund entsprechender gynäkologischer Voruntersuchungen) fest, dass das Kind nach dem 181. Tag empfangen wurde, wird der Mann gleichwohl als Vater vermutet, wenn er zur Zeit der Empfängnis des Kindes der Mutter beigewohnt hat3. 73 Der Nachweis der Beiwohnung kann vor allem durch Vernehmung der Beteiligten und von Zeugen erbracht werden. Es ist ausreichend, dass ein Geschehen nachgewiesen wird, dass nach der Lebenserfahrung auf entsprechende Kontakte schließen lässt. Ergibt die Zeugenvernehmung, dass ein bestimmter Mann die Mutter während der Empfängniszeit wiederholt besucht und bei ihr übernachtet hat, reicht dies aus, dass dieser Mann auch als Vater eines während der Empfängniszeit geborenen Kindes vermutet wird. 74 Die Vermutung ist ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Zweifel an der Vaterschaft bestehen. Dies kommt vor allem dann in Betracht, wenn feststeht, dass die Mutter während der Empfängniszeit nicht nur zu einem Mann sexuelle Kontakte hatte. Zwar muss nicht namentlich bekannt sein, um welche weiteren potentiellen Väter es sich handelt. Umgekehrt reicht es aber, um die Vermutung zu erschüttern, auch nicht aus, dass lediglich allgemein die Möglichkeit besteht, dass es noch weitere Kontakte gegeben hat4. 75 Die Vermutung ist weiterhin erschüttert, wenn aus medizinischen Gründen nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Mann, der der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat, Vater des Kindes ist. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn er erwiesenermaßen bereits zu diesem Zeitpunkt zeugungsunfähig war5. Demgegenüber reicht es nicht aus, wenn die Zeugungsfähigkeit nur eingeschränkt war6.
1 Erman/Hammermann, § 1600d BGB Rn. 20. 2 Staudinger/Rauscher, § 1600d BGB Rn. 50. 3 Staudinger/Rauscher, § 1600d BGB Rn. 84–87, auch zum Beweiswert sog. „Tragezeitgutachten“. 4 Staudinger/Rauscher, § 1600d BGB Rn. 72. 5 Erman/Hammermann, § 1600d BGB Rn. 25. 6 Erman/Hammermann, § 1600d BGB Rn. 27.
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Rn. 82
Kap. 3 A
Die Vermutung wird nicht erschüttert, wenn die Beteiligten mittels Kon- 76 dom verhütet haben1. Demgegenüber steht die erfolgreich durchgeführte Sterilisation des Mannes der Vermutung entgegen2. Schließlich steht der Vermutung entgegen, wenn bereits bei äußerlicher 77 Betrachtung des Kindes nicht davon ausgegangen werden kann, dass dieses von dem Mann, der der Mutter in der Empfängniszeit beigewohnt hat, stammt. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn das Kind Eigenschaften hat, die es weder von der (rechtlichen) Mutter noch dem mutmaßlichen Vater ererbt haben kann. Dies wird insbesondere dann angenommen, wenn das Kind Merkmale einer ethnischen Gruppe zeigt, der weder die (rechtliche) Mutter noch der mutmaßliche Vater angehören, nicht dagegen, wenn sonstige Merkmale vorhanden sind, die mit den Eigenschaften der (potentiellen) Eltern nicht unmittelbar übereinstimmen wie Haar- und Augenfarbe, Größe u.ä.m.). Ist das Kind vor dem 1.7.1998 geboren, beträgt die Empfängniszeit, für die die Vermutung gilt, nicht 300, sondern 302 Tage (Art. 224 § 1 EGBGB).
78
Ist die Vaterschaft nicht positiv feststellbar und spricht für sie auch nicht die Vermutung des § 1600d Abs. 2 BGB, ist der Antrag zurückzuweisen (zur Tenorierung s. unten Rn. 355, 356). Die Feststellungslast trägt mithin jeder an dem Abstammungsverfahren Beteiligte, der ihm günstige Rechtsfolgen aus der Feststellung der Vaterschaft ableiten will.
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c) Folgen der Feststellung der Vaterschaft Die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft wirkt zwar erst ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft der Entscheidung (§ 184 Abs. 1 S. 1 FamFG). Allerdings wirkt die Feststellung zurück auf den Zeitpunkt der Geburt des Kindes3. Das Kind bekommt damit rückwirkend den Status eines Kindes des als Vater festgestellten Mannes.
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Dies bedeutet, dass das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mannes er- 81 hält. Ist die Mutter Ausländerin, der Vater Deutscher und das Kind minderjährig, wird es damit rückwirkend deutscher Staatsangehöriger (§ 4 StAngG). Das Kind erwirbt Unterhaltsansprüche gegen den als Vater festgestellten 82 Mann (§§ 1601, 1589, 1592 Nr. 3 BGB). Diese kann es gem. § 1613 Abs. 2 Nr. 2 BGB rückwirkend, bezogen auf den Zeitpunkt der Geburt, geltend machen. Allerdings werden diese Ansprüche zumindest teilweise auf einen Dritten übergegangen sein, der bisher dem Kind Unterhalt gewährt 1 BGH v. 29.3.2006 – XII ZR 207/03, FamRZ 2006, 771 = FamRB 2006, 205. 2 Vgl. den Fall OLG Karlsruhe v. 3.8.2000 – 2 WF 98/00, FamRZ 2001, 702 (zum Beginn der Anfechtungsfrist gem. § 1600b BGB ergangen). 3 Staudinger/Rauscher, § 1600d BGB Rn. 90; Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 54.
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Kap. 3 A Rn. 83
Materielles Abstammungsrecht
hat (§§ 1607 Abs. 2 BGB, wenn dies ein anderer Mann war, im Übrigen §§ 7 UVG, 33 SGB II). 83 Das Kind erwirbt ein gesetzliches Erbrecht (§ 1924 Abs. 1 BGB) und Pflichtteilsrecht (§ 2303 Abs. 1 BGB). Schließlich kann die Feststellung auch die Anfechtung einer letztwilligen Verfügung rechtfertigen (§ 2079 BGB)1. 84 Der Feststellung der Vaterschaft steht es nicht entgegen, wenn das Kind vor der Feststellung adoptiert wurde. Allerdings hat im Fall der Adoption eines Minderjährigen die Feststellung der Vaterschaft in diesem Fall keine statusrechtliche Wirkung. Dies folgt aus § 1755 BGB. Nach dieser Vorschrift erlöschen bereits bestehende Verwandtschaftsverhältnisse des Kindes zu seinen leiblichen Verwandten. Entsprechendes muss gelten, wenn diese durch gerichtlichen Beschluss erst nachträglich, aber rückwirkend zur Entstehung gelangen. Die Feststellung der Vaterschaft wirkt sich aber auf Rechtsverhältnisse aus, die bereits vor Ausspruch der Adoption entstanden sind. Weiterhin entfaltet die Feststellung statusrechtliche Wirkung, wenn die Adoption nachträglich aufgehoben wird (§§ 198 Abs. 2 FamFG, 1759 ff. BGB)2. 85 Entsprechendes gilt für die Adoption eines Volljährigen, die ausnahmsweise nach den für Minderjährige geltenden Vorschriften erfolgt ist (§ 1772 BGB). In den übrigen Fällen der Adoption eines Volljährigen wirkt sich diese auf die Verwandtschaftsverhältnisse des Annehmenden und des Anzunehmenden nicht aus (§ 1770 BGB). Durch die Feststellung der Vaterschaft tritt also in diesen Fällen der Vater als weiterer Elternteil hinzu. 4. Anfechtung der Vaterschaft a) Anfechtung der Vaterschaft im System des Abstammungsrechts 86 Die Anfechtung der Vaterschaft ist – anders als der Wortlaut vermuten lassen könnte – keine materiell-rechtliche Willenserklärung. Als Anfechtung der Vaterschaft wird vielmehr ein Antrag an das Familiengericht verstanden, festzustellen, dass ein bestimmter Mann, der aufgrund Ehe (§§ 1592 Nr. 1, 1593 BGB) oder Anerkennung (§ 1592 Nr. 2 BGB) rechtlich Vater des Kindes ist, nicht Vater des Kindes ist (§ 1599 Abs. 1 BGB). 87 Vaterschaft aufgrund Ehe bzw. Anerkennung und Abstammung können auseinanderfallen. Es kann vielfältige Gründe geben, warum dies von den Beteiligten in Kauf genommen oder sogar gewünscht wird. Beispiele sind ehelich geborene Kinder, hinsichtlich deren die Mutter den Vater über die Umstände ihrer Entstehung im Unklaren lässt, so dass der Ehemann deren Abstammung aus Unwissenheit nicht anficht. Es kann aber auch 1 Staudinger/Otte, § 2079 BGB Rn. 6. 2 MüKo/Maurer, § 1755 BGB Rn. 17; Staudinger/Frank, § 1755 BGB Rn. 15.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 89
Kap. 3 A
sein, dass beide Eltern ein Kind als gemeinschaftliches eheliches Kind wünschen, hinsichtlich dessen sie wissen, dass es nicht vom Ehemann abstammt. Dies kommt beispielsweise in Betracht, wenn sie es bewusst als gemeinschaftliches Kind aufziehen möchten, nachdem die Ehefrau den Mann über die Hintergründe der Entstehung aufgeklärt hat. Es kann aber auch sein, dass Ehepaare (aus Gründen, die in der Person des Ehemannes liegen) kein Kind bekommen können und sich deswegen dazu entschließen, dass die Ehefrau im Wege der heterologen Insemination ein Kind empfängt oder aber auch auf natürlichem Wege von einem Dritten. Im Fall der heterologen Insemination ist die Anfechtung der Vaterschaft durch Vater und Mutter ausgeschlossen (es ist str., ob dies auch dann gilt, wenn der Mann die Vaterschaft anerkannt hat oder nur für scheinehelich geborene Kinder, s. unten Rn. 231). Schließlich kann der Weg der Anerkennung auch gewählt werden, um 88 die hohen Hürden der Adoption zu vermeiden (Mindestalter, Probezeit, Einholung fachlicher Stellungnahmen, Kindeswohlprüfung und Prüfung, ob zwischen dem Annehmenden und dem Anzunehmenden ein ElternKind-Verhältnis entstehen kann), s. unten Kap. 4 Rn. 6–20. Erfüllen sich in diesen Fällen die Erwartungen nicht, die die Beteiligten 89 an die soziale Vaterschaft geknüpft haben, beispielsweise, weil die gemeinschaftliche Erziehung nach dem Scheitern der Partnerschaft nicht mehr gewünscht wird, oder wünschen der leibliche Vater oder auch das Kind die Zuordnung zu dem Vater im abstammungsbiologischen Sinn, ist der Vorrang der rechtlichen Vaterschaft zu beachten: solange die Vaterschaft aufgrund Ehe oder Anerkennung besteht, ist die Feststellung der Vaterschaft nach abstammungsbiologischen Kriterien verschlossen (§ 1600d Abs. 1 BGB). Hat der Antrag auf Feststellung, dass der soziale (statusrechtliche) Vater nicht der Vater ist, Erfolg, entfällt die Vaterschaft aufgrund Ehe bzw. Anerkennung (§ 1599 Abs. 1 BGB). Dann ist der Weg für die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft frei (§ 1600d Abs. 1 BGB). Besteht eine Vaterschaft aufgrund Ehe oder Anerkennung, ist also ein zweistufiges Verfahren zu durchlaufen, damit das Kind dem Vater zugeordnet werden kann, von dem es biologisch abstammt: – zunächst ist die soziale Vaterschaft anzufechten, – sodann ist in einem nächsten Schritt der biologische Vater gerichtlich festzustellen.
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Praxistipp: Diese beiden Verfahren können miteinander verbunden werden. § 179 Abs. 1 FamFG lässt die Verbindung von Abstammungssachen, die dasselbe Kind betreffen, zu. Sowohl der Antrag auf Feststellung, dass der Ehemann/Mann, der die Vaterschaft anerkannt hat, nicht der Vater des Kindes ist, als auch der Antrag, festzustellen, dass ein Dritter Vater des Kindes ist, sind Abstammungssachen (§ 169 Nr. 1, 4 FamFG). Allerdings liegen die materiell-rechtlichen Voraussetzungen Siede
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Kap. 3 A Rn. 90
Materielles Abstammungsrecht
für die Feststellung, dass ein Dritter Vater des Kindes ist, erst vor, wenn festgestellt ist, dass der Ehemann bzw. Mann der die Vaterschaft anerkannt hat, nicht Vater des Kindes ist (§ 1600d Abs. 1 BGB). Diese Feststellung wird erst mit Rechtskraft wirksam (§ 184 Abs. 1 S. 1 FamFG). Diese liegt regelmäßig noch nicht vor, wenn im Fall der Verbindung über beide Anträge (gleichzeitig) zu entscheiden ist. Es reicht jedoch aus, dass beide Teile der Entscheidung erst mit Rechtskraft wirksam werden1. 90 Ausnahmen: – Ist ein Scheidungsantrag anhängig und wird das Kind nach dessen Anhängigkeit geboren, besteht vorübergehend die Möglichkeit, dass ein Dritter (idR der leibliche Vater) trotz Bestehens der Ehe die Vaterschaft unmittelbar anerkennt. Voraussetzung ist, dass die Mutter und der Ehemann zustimmen und die zeitlichen Grenzen des § 1599 Abs. 2 BGB eingehalten werden (s. oben Rn. 17–39). – Ficht ein Dritter die aufgrund Anerkennung oder Ehe bestehende Vaterschaft an, hat das Gericht eine doppelte Feststellung zu treffen: dass derjenige Mann, dessen Vaterschaft gem. §§ 1592 Nr. 1, 1593 BGB (Ehe) oder gem. § 1592 Nr. 2 BGB (Anerkennung) besteht, nicht der (leibliche) Vater ist und dass derjenige Mann, der die Vaterschaft angefochten hat, der leibliche Vater des Kindes ist (§§ 1600 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BGB, 182 Abs. 1 FamFG)2. b) Voraussetzungen der Anfechtung der Vaterschaft 91 § 1600 BGB, der im Gegensatz zu § 1600e BGB nicht aufgehoben wurde, enthält eine umfassende Regelung, welche Personen zur Anfechtung der Vaterschaft berechtigt sind. Nachdem auch die Anfechtung der Vaterschaft nicht mehr auf Klage gegen einen anderen am Abstammungsverhältnis Beteiligten erfolgt, hat § 1600 BGB nur mehr verfahrensrechtliche Bedeutung, kann aber nicht mehr als Regelung der Aktivlegitimation verstanden werden. Die Vorschrift bestimmt, welche Personen befugt sind, einen Antrag auf Feststellung zu stellen, dass ein Mann, der kraft Ehe oder Anerkennung Vater ist, nicht Vater des Kindes ist3. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind daher im Rahmen der Zulässigkeit des Antrags unter dem Gesichtspunkt der Antragsbefugnis zu prüfen. 92 Materiell-rechtlich setzt die Anfechtung der Vaterschaft also nur voraus, dass 1. die Vaterschaft eines Mannes sich aus §§ 1592 Nr. 1, 1593 BGB (Ehe) oder § 1592 Nr. 2 BGB (Anerkennung) ergibt, 1 S. den gesetzlich geregelten Fall des § 182 Abs. 1 S. 2 FamFG. 2 Prütting/Helms/Stößer, § 182 FamFG Rn. 2. 3 So im Ergebnis Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 212; Prütting/Helms/ Stößer, § 171 FamFG Rn. 10; zur Rechtsänderung Stößer, FamRZ 2009, 923.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 96
Kap. 3 A
2. der Mann, der aufgrund Ehe oder Anerkennung Vater ist, nicht der leibliche Vater des Kindes ist, 3. die Anfechtungsfrist gewahrt ist (§ 1600b BGB)1 sowie 4. – als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal – für die Schlüssigkeit des Antrags Tatsachen, aus denen sich ein „Anfangsverdacht“ ergibt. aa) Aufgrund Ehe oder Anerkennung bestehende Vaterschaft Der Umstand, dass eine Vaterschaft aufgrund Ehe oder Anerkennung be- 93 steht, ist Voraussetzung der Anfechtung der Vaterschaft. Sollte sich herausstellen, dass die Ehe des als Vater angesehenen Mannes unwirksam ist oder die Anerkennung nicht wirksam sein sollte, kann zwar ebenfalls ein Verfahren mit dem Ziel geführt werden festzustellen, dass kein VaterKind-Verhältnis besteht bzw. die Anerkennung der Vaterschaft nicht wirksam ist (§ 169 Nr. 1 FamFG). Verfahrensgegenstand dieses Verfahrens ist aber nur die Frage der Wirksamkeit der Anerkennung bzw. der Abstammung aufgrund bestehender Ehe. Die Frage der leiblichen Abstammung ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Hinsichtlich der Anerkennung der Vaterschaft ist zu beachten, dass formelle Mängel nicht notwendig dazu führen, dass der Anerkennung die Wirksamkeit zu versagen ist. Formelle Mängel werden geheilt, wenn die Anerkennung fünf Jahre in ein deutsches Personenstandsregister eingetragen ist (§§ 1598 Abs. 2 BGB, 27 Abs. 1 PStG).
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bb) Keine leibliche Vaterschaft Voraussetzung der Anfechtung ist weiter, dass der Mann, der aufgrund Ehe oder Anerkennung als rechtlicher Vater angesehen wird, nicht der leibliche Vater des Kindes ist. Dieses Kriterium wird zwar nicht ausdrücklich in § 1599 Abs. 1 BGB genannt. Es ergibt sich jedoch inzident aus § 1600 Abs. 1 Nr. 2, 1600b Abs. 5, 1600c Abs. 1 BGB, 177, 178 FamFG.
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(1) Vermutung des § 1600c Abs. 1 BGB Gem. § 1600c Abs. 1 BGB wird vermutet, dass das Kind von dem Mann abstammt, dessen Vaterschaft sich aus der Ehe oder einer Anerkennung ableitet. Mit „abstammt“ ist gemeint, dass das Kind von diesem Mann abstammungsbiologisch abstammt, von den Fällen der fortpflanzungsmedizinischen Herbeiführung einer Schwangerschaft abgesehen also von diesem gezeugt wurde2. 1 Der Antrag auf Feststellung, dass der statusrechtliche Vater nicht der Vater des Kindes ist, hat insoweit auch materiell rechtliche Natur, da er dazu führt, dass die Anfechtungsfrist gewahrt wird. 2 MüKo/Wellenhofer, § 1600c BGB Rn. 1.
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Kap. 3 A Rn. 97
Materielles Abstammungsrecht
97 Die Vermutung wirkt sich erst aus, wenn das Gericht nach Durchführung der von Amts wegen erforderlichen Ermittlungen (s. hierzu § 177 FamFG und unten Rn. 299–332) hinsichtlich der Frage, ob das Kind biologisch von dem Mann stammt, der aufgrund Ehe oder Anerkennung Vater ist, zu keinem eindeutigen Ergebnis kommt. Dann trägt derjenige, der die Vaterschaft angefochten hat, die Feststellungslast1. 98 Aufgrund der heutigen medizinisch-technischen Möglichkeiten kommt die Vermutung idR nur zum Tragen, wenn kein zuverlässiges genetisches Material für die Durchführung der Untersuchung gewonnen werden kann. Dies kommt aus tatsächlichen Gründen vor, wenn der Mann, die Mutter oder das Kind unbekannten Aufenthalts sind, verstorben sind und ihre sterbliche Überreste nicht zweifelsfrei identifiziert werden können, sich weigern, an der Untersuchung mitzuwirken und ihnen diese ausnahmsweise nicht zumutbar ist (§ 178 I FamFG) oder sich im Ausland aufhalten und dort die zwangsweise Durchführung entsprechender Untersuchungen nicht vorgesehen ist2. Ausnahmsweise kommt dies auch in Betracht, wenn der Mann, der aufgrund Anerkennung oder Ehe Vater ist, einen eineiigen Zwillingsbruder hat und nicht mehr festgestellt werden kann, wer der Mutter in der Empfängniszeit beigewohnt hat, bzw. wenn beide der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt haben3. (2) Ausschluss der Vermutung des § 1600c Abs. 1 BGB 99 Die Vermutung gilt nicht, wenn der Mann, der die Vaterschaft anerkannt hat, diese anficht, und wenn – die Anerkennung aufgrund Irrtums über den Inhalt der Anerkennung oder über die Tatsache, dass er eine entsprechende Erklärung abgibt, erfolgt ist (§ 119 Abs. 1 BGB), oder – wenn der Mann zur Abgabe der Anerkennung durch arglistige Täuschung oder Drohung veranlasst wurde (§ 1600c Abs. 2 BGB). 100
Die Tatsache, dass der Mann nicht der leibliche Vater des Kindes ist, begründet keinen Erklärungs- oder Inhaltsirrtum, sondern betrifft nur Eigenschaften des Kindes. Der Irrtum über Eigenschaften rechtfertigt jedoch keinesfalls, dass die Vermutungswirkung entfällt, da § 119 Abs. 2 BGB in § 1600c Abs. 2 BGB nicht genannt ist4.
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Eine arglistige Täuschung liegt nicht in der Tatsache, dass die Mutter nicht von sich aus offenlegt, dass sie während der Empfängniszeit geschlechtlichen Kontakt auch zu einem anderen Mann bzw. mehreren an1 Erman/Hammermann, § 1600c BGB Rn. 15; Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 117, der allerdings von Beweislast spricht. 2 Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 119; s. auch oben Rn. 70. 3 Vgl. OLG Hamm v. 24.6.2008 – 9 UF 132/05, FamRZ 2009, 707 = FamRB 2008, 367. 4 Erman/Hammermann, § 1600c BGB Rn. 12.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 103
Kap. 3 A
deren Männern hatte1. Macht sie jedoch auf entsprechende Nachfrage unwahre Angaben, liegt eine arglistige Täuschung vor2. Die Androhung gerichtlicher Schritte durch die Mutter für den Fall, dass der Mann die Vaterschaft nicht anerkennt, stellt grundsätzlich keine widerrechtliche Drohung dar3. (3) Vermutung des § 1600d Abs. 2 BGB Ist die Vermutung gem. § 1600c Abs. 2 BGB entkräftet, greift die all- 102 gemeine Vermutung gem. § 1600d Abs. 2 BGB. Hat derjenige, der die Vaterschaft anerkannt hat, der Mutter in der Empfängniszeit beigewohnt, trifft ihn die Feststellungslast, wenn die Vermutung, dass er der Vater ist, nicht widerlegt werden kann. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn auch die Vermutung des § 1600d Abs. 2 BGB nicht greift, weil beispielsweise aufgrund Mehrverkehrs erhebliche Zweifel an der Vaterschaft des Mannes bestehen, der die Vaterschaft anerkannt hat. Ist nicht (mehr) feststellbar, ob er auch leiblicher Vater des Kindes ist, trifft dann nach allgemeinen Regeln die Feststellungslast das Kind; denn dieses trägt die Feststellungslast, dass es von einem bestimmten Mann abstammt4. Der Unterschied soll anhand des folgenden Beispiels verdeutlicht werden: M hat die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes K anerkannt. F hatte ihm auf ausdrückliche Nachfrage versichert, dass er ihr alles bedeute und sie mit niemand anders in der Empfängniszeit geschlechtlichen Kontakt hatte. Nunmehr setzt sie sich mit K ins Ausland ab. M ficht die Vaterschaft mit der Begründung an, im Nachhinein habe sich herausgestellt, dass F nebenbei in der Empfängniszeit der Prostitution nachgegangen sei. F weigert sich, an der Abstammungsbegutachtung mitzuwirken. Die Mitwirkung ist auch nicht erzwingbar. Der Antrag des M hat Aussicht auf Erfolg, wenn K nicht von M abstammt. Gem. § 1600c Abs. 1 BGB wird vermutet, dass K von M abstammt, da dieser die Vaterschaft anerkannt hat. Die Vermutung gilt jedoch nicht, wenn F M arglistig getäuscht hat. Da die Anerkennung eine nicht empfangsbedürftige Willenserklärung ist, ist unerheblich, durch wen die Täuschung verübt wurde (§ 123 Abs. 1 BGB)5. K kann also nicht geltend machen, dass nicht er, sondern F den M arglistig getäuscht habe. Indem F die Frage des M, ob sie während der Empfängniszeit auch geschlechtlichen Kontakt zu anderen Männern gehabt habe, unwahr beantwortet hat, hat sie diesen arglistig getäuscht (vgl. Rn. 101). Die Vermutung des § 1600c Abs. 1 BGB spricht also nicht gegen M. Gegen M könnte jedoch die Vermutung des § 1600d Abs. 2 BGB sprechen. Zwar hat M der F während der Empfängniszeit beigewohnt. Jedoch bestehen schwere Zweifel an seiner Vaterschaft, da auch andere Männer der F während der Empfängniszeit beigewohnt haben.
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Staudinger/Rauscher, § 1600c BGB Rn. 28. MüKo/Wellenhofer, § 1600c BGB Rn. 15. MüKo/Wellenhofer, § 1600b BGB Rn. 33. Staudinger/Rauscher, § 1600c BGB Rn. 32. MüKo/Wellenhofer, § 1600c BGB Rn. 15.
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Kap. 3 A Rn. 104
Materielles Abstammungsrecht
Es bleibt daher bei dem Grundsatz, dass K die Feststellungslast trägt, dass ein bestimmter Mann sein Vater ist. Der Antrag auf Feststellung, dass M nicht der Vater von K ist, wird also, wenn die übrigen Voraussetzungen vorliegen, Erfolg haben, auch wenn nicht (mehr) aufklärbar ist, ob M der Vater des Kindes K ist. Abwandlung: Hatte F während der Empfängniszeit eine einmalige Affäre, die sie M mitgeteilt hat, trägt dieser die Feststellungslast, weil dann die Vermutung des § 1600c Abs. 1 BGB greift.
cc) Wahrung der Antragsfrist 104
Weiterhin ist ein Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft nur begründet, wenn die Anfechtungsfrist gewahrt wurde. Es handelt sich um eine materielle Ausschlussfrist, die durch rechtzeitige Antragstellung gewahrt wird1. (1) Fristwahrung durch Antragstellung beim zuständigen Gericht
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Maßgebend ist die Antragstellung, also das Datum des Eingangs des Antrags bei Gericht. Hierdurch wird das Verfahren eingeleitet (§ 171 Abs. 1 FamFG). Auf die Zustellung des Antrags kommt es nicht an. Dies muss umso mehr gelten, weil gem. § 23 Abs. 2 FamFG der Antrag den übrigen Beteiligten nur übermittelt werden soll2.
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Wird der Antrag an ein unzuständiges Gericht gerichtet, ist die Frist nur gewahrt, wenn der Antrag innerhalb der Frist dem gem. § 170 FamFG örtlich zuständigen Amtsgericht – FamG – übermittelt wird3. Diese Auffassung lässt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des § 25 Abs. 3 FamFG begründen; denn diese Vorschrift regelt nur den Fall, dass ein Beteiligter den Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft bei einem örtlich unzuständigen Amtsgericht zur Niederschrift stellt und dieses dann die Niederschrift an das örtlich zuständige Amtsgericht weiterleitet. Die Vorschrift wird jedoch auch auf den Fall angewandt, dass jemand einen Antrag bei einem unzuständigen Gericht stellt, das er für zuständig hält, und daraufhin das Verfahren an das örtlich zuständige Gericht verwiesen wird. Auch dann werden materielle Fristen nur gewahrt, wenn das Verfahren innerhalb offener Frist bei dem zuständigen Gericht eingeht4.
1 Erman/Hammermann, § 1600b BGB Rn. 3; Palandt/Brudermüller, § 1600b BGB Rn. 3. 2 Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 10. 3 Allgemeine Meinung, vgl. Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 12; Palandt/ Brudermüller, § 1600b BGB Rn. 3. 4 Prütting/Helms/Ahn-Roth, § 25 FamFG Rn. 14; Keidel/Sternal, § 25 FamFG Rn. 27.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 108
Kap. 3 A
(2) Mehrere anfechtungsberechtigte Beteiligte Die Anfechtungsfrist läuft für jeden Beteiligten gesondert. Daraus folgt, 107 dass für jeden Beteiligten eigenständig zu prüfen ist, wann die Frist beginnt bzw. wann sie abläuft. Stellt ein Beteiligter einen Antrag auf Feststellung dass der Mann, dessen Vaterschaft aufgrund Ehe oder Anerkennung besteht, nicht der Vater sei, wird hierdurch für die anderen Beteiligten der Lauf der Frist nicht gehemmt1. Dies kann insbesondere dann zu Nachteilen führen, wenn der (ursprüngliche) Antragsteller seinen Antrag zurücknimmt und zwischenzeitlich die Anfechtungsfrist verstrichen ist. Abweichend von § 269 Abs. 1 ZPO ist dies ohne Zustimmung der übrigen Beteiligten möglich, bis die Endentscheidung ergangen ist (§ 22 Abs. 1 FamFG). Die übrigen Beteiligten sollten daher, wenn sie ebenfalls wünschen, dass festgestellt wird, dass der Mann, dessen Vaterschaft auf Ehe oder Anerkennung beruht, nicht der Vater ist, ebenfalls die Vaterschaft gerichtlich anfechten, auch wenn sie schon an dem Verfahren beteiligt sind. Wird ein Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft abgewiesen, weil die Anfechtungsfrist nicht eingehalten wurde, beschränkt sich die Rechtskraft der Entscheidung auf diesen Antrag. Dritte können daher, sofern für sie die Frist noch offen ist, die Vaterschaft trotz dieser Entscheidung eigenständig anfechten2. (3) Dauer und Hemmung der Frist Die Frist beträgt grundsätzlich zwei Jahre (§ 1600b Abs. 1 S. 1 BGB), bei 108 Anfechtung der Vaterschaft durch die zuständige Behörde ausnahmsweise ein Jahr (§ 1600b Abs. 1a BGB). Die Frist wird gehemmt durch Einleitung eines Verfahrens zur Klärung der Abstammung (§§ 1600b Abs. 5, 1598a BGB). Auch das Verfahren zur Klärung der Abstammung ist ein Antragsverfahren (§§ 169 Nr. 2, 3, 171 FamFG). Die Hemmung tritt also erst ein, wenn der Antrag bei dem zuständigen Gericht gestellt oder dort eingegangen ist. Folge der Hemmung ist, dass die Dauer des Verfahrens ab Anhängigkeit des Antrags bei dem zuständigen Gericht bis zur Beendigung des Verfahrens nicht in die Anfechtungsfrist eingerechnet wird (§ 209 BGB). Weiterhin gilt auch die zusätzliche Frist von 6 Monaten ab dem Ende der Hemmung durch Verfahrensstillstand oder abschließende gerichtliche Entscheidung (§§ 1600b Abs. 5, 204 Abs. 2 BGB).
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Praxistipp: Für die Schlüssigkeit des Antrags auf Feststellung, dass der Mann, der mit der Mutter zur Zeit der Geburt verheiratet war oder der die Vaterschaft anerkannt hat, nicht der Vater ist, ist als ungeschriebenes Merkmal auch erforderlich, dass Tatsachen bestehen, die einen Anfangsverdacht rechtfertigen, dass rechtliche und leibliche Vaterschaft auseinanderfallen. Ist zweifelhaft, ob diese Tatsachen nachgewiesen
1 Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 16. 2 Prütting/Helms/Stößer, § 184 FamFG Rn. 9.
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Kap. 3 A Rn. 109
Materielles Abstammungsrecht
werden können1, ist der sicherste Weg, zunächst ein Verfahren zur Klärung der Abstammung zu betreiben (§ 1598a Abs. 1 BGB) und den Anfangsverdacht auf das Gutachten zu stützen, wenn dieses zu dem Ergebnis führt, dass die Vaterschaft des rechtlichen Vaters abstammungsbiologisch praktisch ausgeschlossen ist. Die Anfechtungsfrist verlängert sich um die Dauer dieses Verfahrens zuzüglich sechs Monate. Ein entsprechendes Gutachten wird üblicherweise innerhalb weniger Wochen erstellt. 109
Die Frist ist weiterhin gehemmt, solange der Anfechtungsberechtigte widerrechtlich durch Drohung an der Anfechtung gehindert wird. Die Widerrechtlichkeit kann sich aus der Handlung selbst, aber auch daraus ergeben, dass die Folge, die an die Anfechtung geknüpft wird, in keinem anerkennenswerten Zusammenhang mit der Anfechtung steht2.
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Schließlich wird die Frist auch durch die Stellung eines Gesuches um VKH gehemmt (§ 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB)3. (4) Fristbeginn
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Die Frist beginnt, wenn der Anfechtungsberechtigte Kenntnis von Umständen erlangt, die gegen die Vaterschaft sprechen. Hierbei ist es wichtig zu differenzieren: – Der Anfechtungsberechtigte muss sichere Kenntnis von Umständen haben, die gegen die Vaterschaft sprechen. Insoweit reichen bloße Vermutungen und Gerüchte nicht. – Der Anfechtungsberechtigte muss aber nicht sichere Kenntnis davon haben, dass er nicht der Vater ist. Es reicht aus, dass die gegen die Vaterschaft sprechenden Umstände geeignet sind, bei vernünftiger Betrachtung Zweifel hinsichtlich der leiblichen Abstammung des Kindes zu wecken.
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In dem Antrag sind die Umstände zu benennen, auf die Zweifel hinsichtlich der Vaterschaft gestützt werden. Weiterhin ist anzugeben, wann der Antragsteller Kenntnis von diesen Umständen erlangt hat (§ 171 Abs. 2 S. 2 FamFG). Die Feststellungslast für die Einhaltung der Frist ist wie folgt verteilt: Grundsätzlich hat der Anfechtende die Umstände und den Zeitpunkt der Kenntniserlangung mitzuteilen. Behauptet ein anderer Beteiligter, dass der Antragsteller schon zu einem früheren Zeitpunkt von Umständen Kenntnis hatte, die geeignet sind, Zweifel hinsichtlich der 1 Dies wird sehr häufig der Fall sein, wenn der Nachweis nur durch Zeugenaussagen aus dem Nahbereich der Beteiligten geführt werden kann. 2 Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 53; beispielsweise liegt eine widerrechtliche Drohung vor, wenn einem Prominenten angedroht wird, kompromittierende Details zu veröffentlichen für den Fall, dass dieser die Anerkennung anficht, auch wenn sie der Wahrheit entsprechen. 3 Erman/Hammermann, § 1600b BGB Rn. 32b.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 113
Kap. 3 A
Vaterschaft zu begründen, trägt er insoweit die Darlegungs- und Feststellungslast1. Als Umstände, die geeignet sind, vernünftige Zweifel hinsichtlich der biologischen Abstammung zu begründen, sind angesehen worden: – Ehebruch/Aufrechterhalten einer weiteren intimen Beziehung während der Empfängniszeit2; demgegenüber braucht der Antragsteller nicht nachzuweisen, dass es im Rahmen dieser Beziehung auch tatsächlich zum Beischlaf gekommen ist. – Tätigkeit der Ehefrau als Prostituierte, auch wenn diese sich darauf beruft, bei Ausübung ihres Gewerbes immer Kondome benutzt zu haben3. – Aussehen des Kindes, das auch für einen verständigen Laien nicht mit der Abstammung vom leiblichen Vater in Zusammenhang gebracht werden kann; dies wird bei ethnologischen Merkmalen, die weder von der Mutter noch von dem Antragsteller stammen können, regelmäßig der Fall sein, bei anderen Merkmalen wie Augen- und Haarfarbe ist demgegenüber Vorsicht angebracht4. – Geburt eines voll ausgereiften Kindes sieben Monate nach dem Geschlechtsverkehr mit dem vermeintlichen Vater5; Entsprechendes gilt, wenn zum Zeitpunkt der Geburt der mögliche Zeugungstermin bereits 11 Monate zurückliegt. – Vernünftige Zweifel, die die Anfechtungsfrist in Lauf setzen, werden durch ein Privatgutachten, nach dem die Vaterschaft des Scheinvaters ausgeschlossen erscheint, begründet6. Dies gilt auch dann, wenn dieses nicht nach den Richtlinien des Robert-Koch-Instituts erstellt wurde. – Demgegenüber ist ein heimlich eingeholtes Abstammungsgutachten nicht verwertbar und daher nicht geeignet, die Anfechtungsfrist in Lauf zu setzen7. – Weiterhin nicht geeignet, vernünftige Zweifel zu begründen, ist der Umstand, dass der Geschlechtsverkehr mit dem Mann, der die Vaterschaft anficht, kurz vor oder nach der Regelblutung stattgefunden hat8.
1 Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 92, Rn. 66; OLG Koblenz v. 23.2.2006 – 7 UF 457/05, FamRZ 2006, 1220 = FamRB 2006, 207. 2 OLG Karlsruhe v. 3.8.2000 – 2 WF 98/00, FamRZ 2001, 702. 3 BGH v. 29.3.2006 – XII ZR 207/03, FamRZ 2006, 771 = FamRB 2006, 205. 4 OLG Karlsruhe v. 3.8.2000 – 2 WF 98/00, FamRZ 2001, 702 für eine Mischlingsgeburt. 5 Erman/Hammermann, § 1600b BGB Rn. 17; OLG Brandenburg v. 11.12.1995 – 9 W 14/95, FamRZ 1996, 895; BGH v. 19.9.1979 – IV ZR 47/78, FamRZ 1979, 1007. 6 Erman/Hammermann, § 1600b BGB Rn. 17. 7 BGH v. 12.1.2005 – XII ZR 227/03, FamRZ 2005, 340 = FamRB 2005, 132. 8 OLG Koblenz v. 23.2.2006 – 7 UF 457/05, FamRZ 2006, 808 = FamRB 2006, 207.
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113
Kap. 3 A Rn. 114
Materielles Abstammungsrecht
– Auch der Umstand, dass die Mutter – nach ihren Angaben – verhütet hat, ist idR nicht geeignet, vernünftige Zweifel an der Vaterschaft zu begründen, und zwar auch dann nicht, wenn sie dies mit oralen Kontrazeptiva getan hat1. 114
Die Frist läuft auch, wenn der Anfechtungsberechtigte aus anderen Gründen gehindert ist, einen Antrag zu stellen, dass der Scheinvater nicht der leibliche Vater des Kindes ist. Dementsprechend muss es insbesondere der leibliche Vater eines Kindes hinnehmen, dass die Anfechtungsfrist abläuft, weil er daran gehindert ist, die Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten, weil zwischen diesem und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht (§ 1600b Abs. 1 S. 2 BGB)2.
115
Die Frist beginnt nicht vor der Geburt des Kindes und nicht, bevor die Anerkennung wirksam geworden ist. Dies ist erst der Fall, wenn die letzte erforderliche Zustimmung wirksam geworden ist (§§ 1598, 1595 BGB), s. oben Rn. 53. Steht der Anerkennung die Vaterschaft eines anderen Mannes entgegen, wird diese erst wirksam, wenn die andere Vaterschaft durch gerichtliche Entscheidung aufgehoben wird. Im Fall des § 1599 Abs. 2 BGB wird die Entscheidung nicht vor Rechtskraft der Scheidung wirksam. Hat der Antragsteller vor der Geburt des Kindes bzw. möglicherweise vor dem Wirksamwerden der Anerkennung Kenntnis von Tatsachen erlangt, die gegen die Vaterschaft sprechen, kann es sich daher durchaus empfehlen, anhand Einsichtnahme in das Personenstandsregister zu überprüfen, ob der Anfechtung der Ablauf der Anfechtungsfrist entgegensteht. (5) Besonderheiten hinsichtlich der Anfechtung der Vaterschaft durch das Kind
116
Hat der gesetzliche Vertreter des (minderjährigen) Kindes die Vaterschaft nicht rechtzeitig angefochten, kann das Kind nach Erreichen der Volljährigkeit selbst die Vaterschaft anfechten (§ 1600b Abs. 3 S. 1 BGB). Die Anfechtungsfrist beginnt mit der Vollendung des 18. Lebensjahres zu laufen, jedoch nicht bevor das Kind Kenntnis von Umständen erlangt, die geeignet sind, Zweifel hinsichtlich der bestehenden Vaterschaft zu begründen. Insoweit ist die eigene Kenntnis des Kindes entscheidend, die Kenntnis seines (früheren) gesetzlichen Vertreters wird dem Kind nicht zugerechnet. 1 Vgl. die Kasuistik bei Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 29a, sowie BGH v. 29.3.2006 – XII ZR 207/03, FamRZ 2006, 771 = FamRB 2006, 205; gegen vernünftige Zweifel trotz Kenntnis des Ehebruchs bei Verwendung folgender Verhütungsmittel OLG Hamm v. 20.4.1999 – 9 WF 7/99, FamRZ 1999, 1362 (Verwendung von Kondomen) und OLG Düsseldorf v. 15.11.1988 – 3 W 509/88, FamRZ 1989, 426 (Pille). 2 § 1600b Abs. 1 Halbs. 2 BGB; BGH v. 6.12.2006 – XII ZR 164/04, FamRZ 2007, 538 = FamRB 2007, 135 (verfassungskonform, auch wenn der leibliche Vater dann keine Chance hat, die Vaterschaft anzufechten).
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Siede
Materielles Abstammungsrecht
Rn. 118
Kap. 3 A
Ist jemand wegen Geschäftsunfähigkeit an der Anfechtung gehindert gewesen (dies kommt vor allem bei vorübergehend betreuten Personen in Betracht), beginnt die Frist nach Wiedererlangung der Geschäftsfähigkeit zu laufen, sofern nicht der gesetzliche Vertreter die Vaterschaft angefochten hat (§ 1600b Abs. 4 BGB).
117
Auch wenn das – volljährige – Kind die Anfechtungsfrist ungenutzt hat verstreichen lassen, beginnt für dieses die Anfechtungsfrist erneut, wenn es von Umständen Kenntnis erlangt, die die Folgen der Vaterschaft für das Kind unzumutbar erscheinen lassen. Die erneute Anfechtungsmöglichkeit des § 1600b Abs. 6 BGB ist aber nicht auf volljährige Kinder beschränkt. Sie ist auch eröffnet, wenn der gesetzliche Vertreter des Kindes (idR die Mutter) nachträglich von solchen Umständen Kenntnis erlangt. Dies kommt vor allem in Betracht, wenn das Kind zunächst mit dem Scheinvater in sozial-familiärer Beziehung gelebt hat und diese Beziehung wegfällt, aber auch wenn in der Person des Scheinvaters Gründe auftreten, die diese Abstammung unzumutbar werden lassen. Demnach ist ein Anfechtungsrecht in folgenden Fällen angenommen worden:
118
– Tod des Scheinvaters nach Ablauf der Anfechtungsfrist1, – Eheschließung der Mutter nach Ablauf der Anfechtungsfrist mit dem leiblichen Vater2, – Begründung einer Lebensgemeinschaft der Mutter mit dem leiblichen Vater des Kindes3, – Gleichgültigkeit des Scheinvaters gegenüber dem Kind4. – Die Sicherung von Unterhaltsansprüchen gegen den Scheinvater steht der Unzumutbarkeit grundsätzlich nicht entgegen, auch wenn der leibliche Vater in beengten wirtschaftlichen Verhältnisses lebt5. – Dass der Scheinvater über längere Zeit Unterhalt geleistet hat, steht der Unzumutbarkeit nicht entgegen, wenn die persönliche Beziehung zwischen Scheinvater und Kind scheitert6. – Schließlich kann die Scheinvaterschaft für das Kind unzumutbar werden, wenn es zu schweren Verfehlungen des Scheinvaters gegenüber dem Kind oder seiner Mutter kommt oder wenn der Scheinvater an einer schwerwiegenden Erbkrankheit oder geistigen Erkrankung leidet7.
1 2 3 4
Palandt/Brudermüller, § 1600b BGB Rn. 31. OLG Brandenburg v. 3.8.2008 – 10 WF 283/07, FamRZ 2009, 59. Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 91. Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 92; aA OLG Celle v. 4.8.1998 – 15 U 27/98, OLGReport 1998, 289. 5 Str., wie hier Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 92; aA AG Landshut KindPrax 1999, 28. 6 Str., wie hier Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 92. 7 Palandt/Brudermüller, § 1600b BGB Rn. 92, Rn. 31 mwN.
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Kap. 3 A Rn. 119
Materielles Abstammungsrecht
dd) Anfangsverdacht 119
Schließlich muss der Antragsteller Tatsachen darlegen, die einen „Anfangsverdacht“ hinsichtlich der leiblichen Abstammung des Kindes von dem statusrechtlichen Vater rechtfertigen. Hierdurch soll vermieden werden, dass sich die übrigen Beteiligten einem Verfahren wegen Feststellung, dass der statusrechtliche Vater nicht der Vater ist, unterziehen müssen, für das es objektiv gesehen keinerlei Rechtfertigung gibt1. Der Anfangsverdacht entspricht inhaltlich den Voraussetzungen, an die der Beginn der Anfechtungsfrist geknüpft ist. Es muss sich um Umstände handeln, die geeignet sind, bei vernünftiger Betrachtung Zweifel hinsichtlich der Vaterschaft zu wecken. Keinen Anfangsverdacht muss die Behörde, die die Vaterschaft anficht (§ 1600 I Nr. 5 BGB), darlegen2. ee) Zusätzliche Voraussetzungen bei der Anfechung der Vaterschaft durch den Vaterschaftsprätendenten und die anfechtungsberechtigte Behörde (1) (Keine) sozial-familiäre Beziehung
120
Besondere zusätzliche Voraussetzungen sind hinsichtlich der Begründetheit bei der Anfechtung der Vaterschaft durch einen Mann, der behauptet, der leibliche Vater des Kindes zu sein, sowie durch die zuständige Behörde, die geltend macht, die Anerkennung der Vaterschaft sei nur aus ausländerrechtlichen Gründen erfolgt, zu beachten:
121
Sowohl der Anfechtung durch den leiblichen Vater (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB) als auch der Anfechtung durch die Behörde (§ 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB) steht es entgegen, wenn zwischen dem Kind und dem Vater im statusrechtlichen Sinne eine sozial-familiäre Beziehung besteht (§ 1600 Abs. 2, 3 BGB). Diese Voraussetzung stellt ein negatives Tatbestandsmerkmal dar, das im Rahmen der Begründetheit des Antrags zu prüfen ist3.
122
Für den Vortrag der Beteiligten gelten die Regeln über die gestufte Vortragslast. Es ist Sache des Antragstellers, Umstände dafür vorzutragen, dass zwischen dem Kind und dem statusrechtlichen Vater keine sozial-familiäre Beziehung besteht. Hierfür spricht es zB, wenn das Kind nicht bei dem Mann lebt, der gem. § 1600 Abs. 1 Nr. 1 BGB Vater aufgrund Ehe oder Anerkennung ist, sondern in einer neuen Lebensgemeinschaft, die die Mutter mit einem anderen Mann eingegangen ist4. Entsprechendes hat zu gelten, wenn der Antragsteller Umstände vorträgt, die darauf 1 BGH v. 29.4.1998 – XII ZR 266/96, FamRZ 1998, 955. 2 Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 109 unter Verweis auf § 171 Abs. 2 S. 3 FamFG. 3 Vgl. hierzu Staudinger/Rauscher, § 1600 BGB Rn. 40; BGH v. 6.12.2006 – XII ZR 164/04, FamRZ 2007, 538 = FamRB 2007, 135. 4 BGH v. 6.12.2006 – XII ZR 164/04, FamRZ 2007, 538 = FamRB 2007, 135.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 125
Kap. 3 A
schließen lassen, dass kein Kontakt zwischen statusrechtlichem Vater und Kind stattfindet, etwa, dass die Mutter sich von jenem getrennt hat und jeglichen Kontakt des Mannes zu dem Kind bzw. zu ihr ablehnt oder dass der Mann seinerseits Verhaltensweisen zeigt, die auf Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind schließen lassen (keine Besuche, kein brieflicher oder telefonischer Kontakt). Es ist dann Sache der übrigen Beteiligten, Umstände darzulegen und ggf. unter Beweis zu stellen, die darauf schließen lassen, dass der rechtliche Vater gleichwohl tatsächliche Verantwortung für das Kind trägt oder zum maßgeblichen Zeitpunkt getragen hat. Der Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft ist unbegründet, wenn zu bestimmten Stichtagen zwischen dem Kind und dem Anerkennenden eine sozial-familiäre Beziehung bestanden hat.
123
Entscheidend ist, ob bei Erlass der Entscheidung über den Feststellungs- 124 antrag (§ 37 FamFG) zwischen dem Kind und dem Anerkennenden eine sozial-familiäre Beziehung besteht1. Mithin steht der Anfechtung durch den leiblichen Vater auch entgegen, wenn (erst) während des Verfahrens eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind und dem Anerkennenden entsteht. Demgegenüber soll auf die Antragstellung abzustellen sein, wenn zu diesem Zeitpunkt eine Vater-Kind-Beziehung zum biologischen Vater bestanden hat und wenn die übrigen Beteiligten das Verfahren bewusst verzögern, um eine sozial-familiäre Beziehung entstehen zu lassen2. Diese Auffassung erscheint bedenklich, da der sozialen Vaterschaft aufgrund einer sozial-familiären Beziehung grundsätzlich der Vorrang eingeräumt ist. Sofern durch die übrigen Beteiligten Manipulationen vorgenommen werden, um letztlich eine rechtliche Vaterschaft des biologischen Vaters zu vermeiden, ist dies hinzunehmen, solange nicht die Grenzen der Kindeswohlgefährdung überschritten sind. Folgt man gleichwohl dieser Ansicht, sollte die Vorverlagerung des Stichtages jedenfalls auf extreme Ausnahmefälle (wie in dem vom Oberlandesgericht Karlsruhe entschiedenen Sachverhalt) beschränkt werden. Besteht zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung sowohl eine sozialfamiliäre Beziehung zum – glaublich – leiblichen Vater als auch zu dem Mann, der die Vaterschaft anerkannt hat, wird § 1600 Abs. 2 BGB verfassungskonform dahingehend auszulegen sein, dass dann die sozial-familiäre Beziehung zu dem Vater kraft Anerkennung dem Antrag auf Anfechtung der Vaterschaft durch den leiblichen Vater nicht entgegensteht3. Folgt man dem nicht, sollte jedenfalls ein längerer Zeitraum gefordert
1 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 150/06, FamRZ 2008, 1821 = FamRB 2008, 335. 2 OLG Karlsruhe v. 21.1.2010 – 2 UF 69/08, FamRZ 2010, 1174; Palandt/Brudermüller, § 1600 BGB Rn. 8; Staudinger/Rauscher, § 1600 BGB Rn. 41a. 3 Vgl. AG Herfort v. 26.10.2007 – 14 F 770/06, FamRZ 2008, 1270; Staudinger/ Rauscher, § 1600 BGB Rn. 40.
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125
Kap. 3 A Rn. 126
Materielles Abstammungsrecht
werden, bis festgestellt werden kann, dass zu dem Vater kraft Anerkennung eine sozial-familiäre Beziehung entstanden ist, die der Feststellung des leiblichen Vaters entgegensteht1. 126
Ficht der leibliche Vater nach dem Tod des Vaters kraft Anerkennung die Vaterschaft an, ist entscheidend, ob zum Zeitpunkt des Todes zwischen dem Vater kraft Anerkennung und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung bestanden hat (§ 1600 Abs. 3 BGB).
127
Demgegenüber steht der Anfechtung der Vaterschaft durch den leiblichen Vater nicht entgegen, dass bei Anerkennung der Vaterschaft oder zu einem späteren Zeitpunkt eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Vater kraft Anerkennung und dem Kind entstanden ist, die aber vor dem Stichtag des Todes des Anerkennenden bzw. des Erlasses der Entscheidung wieder erloschen ist2. Scheitert die Lebensgemeinschaft der Mutter mit dem Vater kraft Anerkennung, ist daher idR der Raum für eine Anfechtung der Vaterschaft durch den leiblichen Vater eröffnet3.
128
Hinsichtlich der Anfechtung durch die Behörde4 gelten diese Grundsätze entsprechend. Allerdings ist zu beachten, dass das Anfechtungsrecht der Behörde der missbräuchlichen Anerkennung der Vaterschaft, um eine bessere ausländerrechtliche Rechtsstellung zu erhalten, vorbeugen soll5. Daher stellt § 1600 Abs. 3 BGB nicht nur auf den Stichtag des Erlasses der Entscheidung bzw. des Todes des Vaters kraft Anerkennung ab, sondern auch auf den Stichtag der Anerkennung. Mit Anerkennung ist der Tag gemeint, an dem die Anerkennung wirksam geworden ist, nicht entscheidend ist, wann die Anerkennung erklärt worden ist6. Grund ist, dass die Anerkennung auch schon pränatal erklärt werden kann (§ 1594 Abs. 4 BGB). Da eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Anerkennenden und dem Kind aber erst nach der Geburt entstehen kann, kann § 1600 Abs. 3 BGB nur den Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Anerkennung meinen.
129
Strittig ist, ob der Anfechtung durch die Behörde auch entgegensteht, dass zwischenzeitlich eine sozial-familiäre Beziehung zwischen Kind und Vater bestanden hatte, die wieder erloschen ist. Da der Behörde das Anfechtungsrecht nur verliehen wurde, um missbräuchliche Anerkennungen zu vermeiden, sollte in diesem Fall die Anfechtung unbegründet sein; denn wenn eine sozial-familiäre Beziehung zwischen Vater und Kind be-
1 OLG Bremen v. 21.6.2010 – 4 WF 65/10, FamRZ 2010, 1822 = FamRB 2010, 302. 2 BGH v. 6.12.2006 – XII ZR 164/04, FamRZ 2007, 538 = FamRB 2007, 135. 3 Staudinger/Rauscher, § 1600 BGB Rn. 41. 4 S. hierzu Genenger, FPR 2007, 155. 5 Genenger, FPR 2007, 155. 6 Staudinger/Rauscher, § 1600 BGB Rn. 115; MüKo/Wellenhofer, § 1600 BGB Rn. 18.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 133
Kap. 3 A
gründet worden ist, ist die Anerkennung im Ergebnis jedenfalls nicht missbräuchlich erfolgt1. Nach der Legaldefinition des § 1600 Abs. 4 BGB besteht eine sozial-familiäre Beziehung, wenn der Mann zum maßgeblichen Zeitpunkt für das Kind die tatsächliche Verantwortung trägt oder getragen hat (§ 1600 Abs. 4 S. 1 BGB). Hierfür ist nicht erforderlich, dass er mit der Mutter bzw. dem Kind auch zusammenlebt2. Eine sozial-familiäre Beziehung kann vielmehr auch bestehen, wenn der Vater kraft Ehe oder Anerkennung regelmäßig Umgang mit dem Kind pflegt und persönlich und wirtschaftlich Verantwortung für das Kind übernimmt3. Hierzu gehört die Prognose, dass er dies auch künftig dauerhaft tun wird4.
130
Widerlegbar wird vermutet, dass der Vater kraft Ehe oder Anerkennung 131 tatsächlich Verantwortung für das Kind trägt, wenn er mit der Mutter verheiratet ist oder mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft lebt bzw. gelebt hat (§ 1600 Abs. 4 S. 2 BGB). Die Vermutung greift mithin nicht, wenn der leibliche Vater oder die Behörde unmittelbar nach der Geburt des Kindes die Vaterschaft anfechten. Eine sozial-familiäre Beziehung zwischen Kind und statusrechtlichem Vater kann jedoch auch nach einem kürzeren Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft angenommen werden, wenn der rechtliche Vater die Verantwortung für das Kind übernommen hat und zu erwarten ist, dass er sie auch in Zukunft wahrnehmen wird. Ein Indiz hierfür ist, dass schon vor der Geburt eine Partnerschaft zwischen dem rechtlichen Vater und der Mutter bestand, die weiterhin aufrechterhalten wird5. Umgekehrt kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine dauerhafte 132 Übernahme der tatsächlichen Verantwortung für das Kind durch den rechtlichen Vater vorliegt, wenn die Ermittlungen des Gerichts ergeben haben, dass dessen innere Bindung zum Kind nicht unabhängig von seiner Bindung zur Mutter des Kindes besteht6. Ab welchem Zeitraum von einem längeren Zusammenleben gesprochen 133 werden kann, ist eine Frage des Einzelfalles. Bei kleineren Kindern wird die Frist kürzer zu bemessen sein, da hier eher eine schutzwürdige Bindung entsteht, bei größeren sind etwas längere Zeiträume angemessen. Generell kann bei Kindern im Alter bis zu einem Jahr eine Frist von drei bis sechs Monaten als längere Zeitdauer angesehen werden, bei Kindern 1 Wie hier Löhnig, FamRZ 2008, 1130; Arendt-Rojahn, FPR 2007, 395; wohl auch Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 130; kritisch Staudinger/Rauscher, § 1600 BGB Rn. 115. 2 BGH v. 17.2.2010 – XII ZA 40/09, FamFR 2010, 154. 3 Strenger Palandt/Brudermüller, § 1600 BGB Rn. 8: dies reicht nur, wenn der Vater aus beruflichen Gründen gehindert ist, eine familiäre Beziehung zu pflegen; wie hier MüKo/Wellenhofer, § 1600 BGB Rn. 13. 4 OLG Celle v. 8.3.2011 – 15 UF 238/10, FPR 2011, 407. 5 OLG Bremen v. 24.3.2010 – 5 UF 2/10, FamRZ 2010, 1821. 6 OLG Celle v. 8.3.2011 – 15 UF 238/10, FPR 2011, 407.
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Kap. 3 A Rn. 134
Materielles Abstammungsrecht
ab sechs Jahren ab einem Jahr1. Für Kinder die zur Zeit der Entscheidung über den Anfechtungsantrag zwischen sechs Monaten und und sechs Jahren alt sind, sollte, je nach Alter des Kindes und der Intensität der Betreuung durch den Vater, ein Zeitraum zwischen sechs Monaten und einem Jahr als längeres Zusammenleben angesehen werden. Je kürzer die Frist angesetzt wird, umso sorgfältiger wird allerdings zu prüfen sein, ob der statusrechtliche Vater wirklich die Gewähr bietet, auf Dauer die tatsächliche Verantwortung für das Kind zu tragen. 134
Hat der rechtliche Vater die tatsächliche Verantwortung für das Kind übernommen, gibt es keine Vermutung der Fortdauer. Vielmehr hat das Gericht von Amts wegen zu klären, ob diese Übernahme der Verantwortung auch bei Erlass der Entscheidung noch besteht. Allerdings hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen den Sachverhalt unter diesem Aspekt nur dann weiter zu ermitteln, wenn durch Beteiligte Gesichtspunkte vorgetragen werden, die Zweifel begründen, ob die Verantwortung durch den rechtlichen Vater noch wahrgenommen wird2. Umstände, die geeignet sind, weitere Ermittlungen auszulösen, sind insbesondere in der Trennung des rechtlichen Vaters von der Mutter zu sehen. (2) Leibliche Abstammung des Kindes von dem die Vaterschaft anfechtenden Putativvater
135
Ficht der leibliche Vater die Vaterschaft an, hat der Antrag nur Erfolg, wenn das Gericht im Ergebnis nicht nur feststellt, dass der statusrechtliche Vater nicht der leibliche Vater ist. Vielmehr muss die Beweisaufnahme auch ergeben, dass der Antragsteller der leibliche Vater des Kindes ist (§ 1600 Abs. 2 BGB). Fehlt es daran, ist der Antrag wegen Anfechtung auch dann abzuweisen, wenn das Gutachten ergeben sollte, dass das Kind nicht von dem statusrechtlichen Vater abstammt3.
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Praxistipp: Um dieses Ergebnis zu vermeiden, sollte der Verfahrensbevollmächtigte darauf achten, dass die Beweisaufnahme – zunächst – auf die Abstammung des Kindes von dem Antragsteller beschränkt wird. Es sollte also zunächst ein Sachverständigengutachten zu der Frage eingeholt werden, ob das Kind von dem Antragsteller abstammt. Erscheint die Vaterschaft des Antragstellers praktisch erwiesen, steht damit gleichzeitig fest, dass das Kind nicht von dem Mann abstammt, der kraft Ehe oder Anerkennung Vater des Kindes ist4.
1 Vgl. Palandt/Diederichsen, § 1632 BGB Rn. 11; Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 125. 2 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 150/06, FamRZ 2008, 1821 = FamRB 2008, 335. 3 Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 131. 4 So auch Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 132.
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Siede
Materielles Abstammungsrecht
Rn. 137
Kap. 3 A
Hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale „keine sozial-familiäre Beziehung“ und „Abstammung“ gibt es keine Rangfolge1. Gleichwohl wird es sich aus Gründen des Kindeswohls idR empfehlen, zunächst zu klären, ob zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht2.
136
(3) Ausländerrechtliche Motivation der Anerkennung der Vaterschaft bei Anfechtung durch die Behörde Ficht die Behörde an, ist der Antrag nur begründet, wenn zusätzlich fest- 137 gestellt wird, dass durch die Anerkennung die rechtlichen Voraussetzungen für die erlaubte Einreise oder den erlaubten Aufenthalt des Kindes oder eines Elternteils geschaffen werden sollten (§ 1600 Abs. 3 BGB). Hat das Kind einer ausländischen Mutter bisher nur deren (oder auch eine andere fremde) Staatsangehörigkeit, führt die Anerkennung der Vaterschaft durch einen deutschen Mann dazu, dass das Kind auch die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt (§ 4 StAG). Hierdurch erwirbt die ausländische Mutter einen Anspruch auf Familiennachzug und damit eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge (§ 23 AufenthG)3. Erkennt ein ausländischer Mann die Vaterschaft hinsichtlich eines deutschen Kindes an, erlangt er hierdurch unter den Voraussetzungen von § 23 AufenthG ebenfalls eine Aufenthaltserlaubnis. Schließlich kann auch ein Ausländer mit gesichertem Bleiberecht durch Anerkennung einem Kind ebenfalls zu einem Bleiberecht und unter den Voraussetzungen von § 3 FreizügG/EU auch der Mutter zu einem Zuzugs- und Bleiberecht verhelfen4. Ein gesichertes Bleiberecht haben freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger und ihnen gleichgestellte Staatsbürger, wenn sie mindestens fünf Jahre im Bereich der BRD rechtmäßig ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben oder wenn sie eine EU-Aufenthaltserlaubnis bzw. Niederlassungserlaubnis besitzen (§ 4a FreizügG/EU). Ist die Anerkennung nur erfolgt, um dem Kind bzw. der Mutter ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen, ohne dass die Anerkennung durch familiäre Motive bedingt war, und hätten das Kind oder die Mutter ohne die Anerkennung kein Recht zur Einreise oder zum Aufenthalt, liegen die Voraussetzungen für die Anfechtung durch die Behörde vor. Die anfechtende Behörde hat in dem Antrag auszuführen, dass ohne die Anerkennung durch den deutschen Mann das Kind bzw. die Mutter kein Einreise- oder Bleiberecht hätten (§ 171 Abs. 2 S. 3 FamFG).
1 Staudinger/Rauscher, § 1600 BGB Rn. 47. 2 Staudinger/Rauscher, § 1600 BGB Rn. 47. 3 Vgl. zu diesen Fällen näher Genenger, FPR 2007, 155; Helms/Kieninger/Rittner/ Helms, Rn. 135 (unter Verweis auf § 28 AuslG). 4 Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 136 zur alten Rechtslage.
Siede
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Kap. 3 A Rn. 138
Materielles Abstammungsrecht
c) Folgen der Anfechtung der Vaterschaft 138
Der Beschluss, durch den festgestellt wird, dass der statusrechtliche Vater kraft Ehe oder Anerkennung nicht der Vater des Kindes ist, wird mit Rechtskraft wirksam (§ 184 Abs. 1 S. 1 FamFG). Er wirkt auf den Zeitpunkt der Geburt des Kindes zurück1. Dies hat für alle Rechtsverhältnisse Bedeutung, die an die Abstammung anknüpfen:
139
– Bis die Vaterschaft eines anderen Mannes festgestellt ist, ist dem Kind kein Vater zugeordnet. Ausnahmen gelten nur, wenn mehrere Anerkennungen der Vaterschaft vorliegen. Dann wird eine spätere Anerkennung wirksam, der bisher die angefochtene Vaterschaft entgegenstand. Weiterhin ist gemeinsam mit der Anfechtung die Vaterschaft des leiblichen Vaters festzustellen, wenn dieser die Vaterschaft kraft Anerkennung oder Ehe angefochten hat (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BGB, 182 Abs. 1 FamFG).
140
– Elterliche Sorge: die (Mit-)Sorge des Ehemannes bzw. Vaters bei Abgabe einer Sorgeerklärung erlischt2. Entsprechendes wird zu gelten haben, wenn in Anwendung der Grundsätze der Entscheidung des BVerfG v. 21.7.20103 dem leiblichen Vater die Mitsorge übertragen worden ist. Demgegenüber endet nicht die Sorge eines Vaters, dem diese gem. §§ 1671, 1680 BGB übertragen worden ist. Allerdings wird die Anfechtung der Vaterschaft idR dazu führen, dass auch die sorgerechtliche Entscheidung abzuändern ist4. Die Gültigkeit von Geschäften, die bisher durch den Vater in Vertretung des Kindes getätigt wurden, wird hierdurch nicht berührt. Sofern die Mutter bei gemeinsamer Sorge mitgewirkt hat, ist das Geschäft nunmehr so zu behandeln, als hätte die Mutter das Kind allein vertreten (§ 1626a BGB). Im Übrigen ergibt sich die Wirksamkeit der Vertretung aus einer Analogie zu § 1698a BGB5.
141
– Umgang: Das Umgangsrecht gem. § 1684 Abs. 1 BGB erlischt. Allerdings kann der Mann gem. § 1685 Abs. 2 BGB zum Umgang berechtigt sein, wenn der Umgang dem Wohl des Kindes dient (§ 1685 Abs. 1 BGB).
142
– Unterhalt: Unterhaltsansprüche des Kindes gegen den statusrechtlichen Vater entfallen gem. § 1601 BGB ex tunc. Dies wirkt sich folgendermaßen aus: – Ein laufendes Unterhaltsverfahren ist auszusetzen, soweit es auf die Abstammung des Kindes von dem Vater ankommt (§§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG, 153 ZPO). 1 Prütting/Helms/Stößer, § 184 FamFG Rn. 6. 2 Erman/Hammermann, § 1599 BGB Rn. 24. 3 BVerfG v. 21.7.2010 – 1 BvR 420/09, FamRZ 2010, 1403 m. Anm. Luthin = FamRZ 2011, 452 = FamRB 2010, 301. 4 Erman/Hammermann, § 1599 BGB Rn. 24. 5 Erman/Hammermann, § 1599 BGB Rn. 24.
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Siede
Materielles Abstammungsrecht
Rn. 142
Kap. 3 A
– Soweit der Vater in der Vergangenheit Unterhalt an das Kind geleistet hat, ist die Leistung von Unterhalt ohne Rechtsgrund erfolgt (§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB). Dies gilt allerdings dann nicht, wenn der Unterhaltsleistung ein Titel in der Hauptsache zugrunde lag. Einem Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung wird allerdings idR entgegenstehen, dass das Kind den Unterhalt für die Lebensführung verbraucht hat (§ 818 Abs. 3 BGB). – Ist der Unterhaltsanspruch des Kindes tituliert, führt die Anfechtung der Vaterschaft dazu, dass dem Vater eine Einwendung gegen den titulierten Anspruch zusteht. Diese ist im Wege des Vollstreckungsgegenantrags geltend zu machen (§§ 120 FamFG, 767 ZPO bzw., wenn der Unterhalt nicht durch Endentscheidung in der Hauptsache tituliert ist, sondern durch Vergleich oder einstweilige Anordnung gem. §§ 120 FamFG, 794, 795, 767 ZPO1). – Hat der Mann an die mit ihm nicht verheiratete Mutter wegen Betreuung des Kindes Unterhalt geleistet (§ 1615l Abs. 2 BGB), steht ihm ebenfalls ein Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung zu (§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB). Fraglich ist, unter welchen Bedingungen die Mutter verschärft haftet (§ 819 BGB). Hierfür dürfte es nicht ausreichen, wenn sie es für möglich hält, dass der Mann, der die Vaterschaft anerkannt hat, nicht der Vater des Kindes ist. Die verschärfte Haftung ist jedoch anzunehmen, wenn sie gewusst hat, dass der Mann, der die Vaterschaft anerkannt hat, nicht der Vater des Kindes ist (zB weil die Schwangerschaft zum Zeitpunkt der Beiwohnung bereits festgestellt war)2.
Û
Praxistipp: Hat der Vater Zweifel an seiner Vaterschaft, dürfte es sich empfehlen, den Unterhalt als zins- und tilgungsfreies Darlehen an die betreuende Mutter zu gewähren. Der Rückzahlungsanspruch sollte aufschiebend bedingt für den Fall erlassen werden, dass der Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft unbegründet sein sollte und deshalb abgewiesen wird3. Nach Treu und Glauben wäre die Mutter gehalten, ein Angebot auf den Abschluss eines solchen Darlehensvertrags anzunehmen. Ist der Unterhaltsanspruch der nicht verheirateten Mutter tituliert, ist der Vollstreckungsgegenantrag gem. §§ 120 FamFG, 767 ZPO bzw. §§ 120 FamFG, 795, 767 ZPO statthaft. Mit Rechtskraft des Beschlusses im Anfechtungsverfahren entfällt die Passivlegitimation des Mannes („Vater“, § 1615l Abs. 2 BGB).
1 Ob § 767 ZPO auf die einstweilige Anordnung anwendbar ist, ist umstr. (vgl. Prütting/Helms/Bömelburg, § 246 FamFG Rn. 79); auf jeden Fall könnte in diesem Fall beantragt werden, die einstweilige Anordnung gem. § 54 Abs. 1 FamFG aufzuheben. 2 Soweit ersichtlich ist keine Rspr. zu dieser Fallgestaltung veröffentlicht. 3 Vgl. zur darlehensweisen Gewährung von Unterhalt BGH v. 17.6.1992 – I ZR 182/90, BGHZ 118, 383 = MDR 1992, 1043.
Siede
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Kap. 3 A Rn. 143
Materielles Abstammungsrecht
143
– Hat der Mann Unterhalt gem. § 1570 BGB geleistet, gelten diese Grundsätze entsprechend. Allerdings bestehen weder Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung noch ist der Vollstreckungsgegenantrag begründet, wenn und soweit der Ehefrau aus anderen Gründen ein Anspruch auf nachehelichen Unterhalt zusteht (zB wegen Arbeitslosigkeit, § 1573 I BGB). Hat die Mutter allerdings den Vater von der Anfechtung der Ehelichkeit abgehalten, kann uU auch einem anderen Unterhaltsanspruch der Einwand der Verwirkung entgegengesetzt werden1.
144
– Soweit der Mann dem Kind Unterhalt geleistet hat, geht der Unterhaltsanspruch des Kindes gem. § 1607 Abs. 3 S. 2 BGB gegen den leiblichen Vater auf den Mann über. Gem. § 1613 Abs. 2 Nr. 2 BGB kann das Kind für die Vergangenheit ohne die Einschränkungen des § 1613 Abs. 1 BGB Unterhalt gegen den leiblichen Vater geltend machen. Grundsätzlich geht damit der Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den leiblichen Vater für die gesamte Dauer, in der der statusrechtliche Vater vor der Anfechtung der Vaterschaft Unterhalt geleistet hat, auf diesen über. Der Höhe nach ist der Anspruch allerdings doppelt begrenzt: – Er geht nur insoweit über, als der Mann, dessen Vaterschaft angefochten wurde, Unterhalt geleistet hat. – Er geht nur insoweit über, als das Kind gegen den leiblichen Vater einen Anspruch auf Unterhalt hat. Verdient der Mann, dessen Vaterschaft angefochten wurde, mehr als der leibliche Vater und ist deshalb der Unterhaltsanspruch des Kindes gegen diesen geringer, kann der statusrechtliche Vater also nur teilweise bei diesem Rückgriff nehmen. In Höhe des überschießenden Betrags steht ihm gegen das Kind ein Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung zu. Dieser wird allerdings idR daran scheitern, dass sich das Kind darauf berufen kann, den Unterhalt für seinen Lebensunterhalt verbraucht zu haben (§ 818 Abs. 3 BGB). Im Einzelfall kann dem Mann in Höhe der Unterhaltszahlung ein Anspruch auf Schadensersatz gegen die Mutter zustehen. Insoweit reicht es allerdings nicht aus, dass diese gegen die eheliche Treuepflicht verstoßen hat. Zwar ist die Ehe ein absolut geschütztes Recht im Sinn des § 823 Abs. 1 BGB. Verstöße der Ehegatten gegen die aus diesem Recht folgenden Pflichten lösen allerdings – nur – die Folgen des Scheidungsrechts aus. Der Unterhaltsschaden ist ansonsten ein reiner, nicht in den Schutzbereich des § 823 Abs. 1 BGB fallender Vermögensschaden. Schadensersatzansprüche können daher nur auf § 826 BGB gestützt werden. Insoweit ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Mutter grundsätzlich nicht die Obliegenheit trifft, ungefragt Umstände zu offenbaren, die Zweifel hinsichtlich der Vaterschaft des Ehemannes bzw. 1 Zur Kasuistik s. Palandt/Brudermüller, § 1579 BGB Rn. 31; Erman/Graba, § 1579 BGB Rn. 22.
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Siede
Materielles Abstammungsrecht
Rn. 146
Kap. 3 A
Mannes, der die Vaterschaft anerkannt hat, zu begründen. Schadensersatzansprüche gem. § 826 BGB kommen daher grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Mutter dem Mann der Wahrheit zuwider erklärt, er sei der einzige, zu dem sie während der Empfängniszeit Kontakt gehabt habe, oder wenn sie ihn sonst entgegen Treu und Glauben von der Anfechtung der Vaterschaft abhält. IdR werden auch keine Schadensersatzansprüche gegen den leiblichen Vater des Kindes bestehen. Selbst wenn die Mutter zum Zeitpunkt der Zeugung des Kindes mit dem statusrechtlichen Vater verheiratet war, löst die Verletzung der – ohnehin nur die Ehefrau treffenden – ehelichen Treuepflicht keine Schadensersatzansprüche hinsichtlich daraus folgender Unterhaltsansprüche aus. Der Übergang des Unterhaltsanspruchs des Kindes gegen den leiblichen Vater setzt grundsätzlich voraus, dass dieser rechtskräftig als Vater festgestellt ist (§ 1600d Abs. 4 BGB). Ausnahmsweise kann der leibliche Vater im Unterhaltsregressverfahren allerdings auch inzident festgestellt werden. Dies kommt in Betracht, wenn der statusrechtliche Vater ein berechtigtes Interesse daran hat, den leiblichen Vater in Anspruch zu nehmen, und wenn in absehbarer Zeit nicht damit zu rechnen ist, dass dieser als leiblicher Vater festgestellt wird, weil durch niemand, der hierzu berechtigt wäre, ein Antrag auf Feststellung der Vaterschaft des leiblichen Vaters gestellt wird1. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn nach erfolgreicher Anfechtung der Vaterschaft durch den Ehemann weder von der Mutter noch von dem Kind oder dem leiblichen Vater ein Antrag auf Feststellung der Vaterschaft gestellt wird, weil alle Beteiligten die vermögensrechtlichen Folgen einer solchen Feststellung fürchten. Der Mann, der die Vaterschaft angefochten hat, wäre nicht antragsbefugt, da er nur ein mittelbares wirtschaftliches, nicht aber ein statusrechtliches Interesse an der Feststellung der Vaterschaft hat (s. unten Rn. 27). – In erbrechtlicher Hinsicht entfällt mit Rechtskraft des Beschlusses 145 über die Anfechtung der Vaterschaft das gesetzliche Erbrecht des Kindes gem. § 1924 BGB und des Vaters gem. § 1925 BGB. Haben das Kind bzw. der Vater als gesetzliche Erben eine Erbschaft angetreten, entsteht zugunsten des nunmehr berufenen Erben der Erbschaftsanspruch aus § 2018 BGB. Weiterhin entfällt rückwirkend die Pflichtteilsberechtigung gem. § 2303 BGB. Schließlich kann die Anfechtung der Vaterschaft die Anfechtung einer letztwilligen Verfügung gem. § 2078 BGB rechtfertigen. – Hat ein Deutscher die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes einer ausländischen Mutter anerkannt, erwirbt das Kind hierdurch die deutsche 1 BGH v. 22.10.2008 – XII ZR 46/07, FamRZ 2009, 32 = FamRB 2009, 40; BGH v. 11.1.2012 – XII ZR 194/09, FamRZ 2012, 437: Die Durchbrechung der Rechtsausübungssperre des § 1600b Abs. 4 BGB setzt voraus, dass die Vaterschaft des Scheinvaters wirksam angefochten wurde.
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146
Kap. 3 A Rn. 147
Materielles Abstammungsrecht
Staatsangehörigkeit. Entsprechendes gilt, wenn der Ehemann der ausländischen Mutter deutscher Staatsangehöriger ist (§ 4 Abs. 1 S. 1 StAG). Entfällt die Vaterschaft rückwirkend, geht damit auch die deutsche Staatsangehörigkeit für das Kind verloren1. 5. Fälle mit internationalem Bezug 147
Haben ein Elternteil oder das Kind eine ausländische Staatsangehörigkeit oder haben sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland, stellt sich die Frage, nach welchem Recht sich die Abstammung richtet. Für Kinder, die ab dem 1.7.1998 geboren sind, richtet sich dies nach Art. 19 EGBGB2. Die Vorschrift kennt für die Bestimmung des anzuwendenden Abstammungsrechts drei Anknüpfungen: – Den gewöhnlichen Aufenthalt eines Kindes, – im Verhältnis zu jedem Elternteil die Staatsangehörigkeit, die der jeweilige Elternteil besitzt, – wenn die Mutter verheiratet ist, das für die allgemeinen Ehewirkungen maßgebliche Recht.
148
Grundsätzlich enthält Art. 19 Abs. 1 EGBGB eine sog. Gesamtverweisung. Es ist also auch das IPR des jeweiligen Staates anzuwenden, auf dessen Recht Art. 19 EGBGB verweist (Art. 4 EGBGB)3. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn das IPR dieses Staates wiederum auf das Recht verweist, in dessen Geltungsbereich das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; denn hierdurch würde der Sinn des Art. 19 Abs. 1 EGBGB, dem Kind mehrere Abstammungsrechte nebeneinander zur Verfügung zu stellen, verkürzt4. Beispiel5: Ein Kind wird 200 Tage nach Scheidung der Ehe geboren. Die Mutter des Kindes ist Deutsche, der Vater mazedonischer Staatsangehöriger. Das Kind hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Gem. Art. 19 Abs. 1 EGBGB kann hinsichtlich der Abstammung nach dem Vater zunächst deutsches Recht angewandt werden. Demnach ist der Ehemann aber nicht Vater des Kindes, da das Kind erst nach Rechtskraft der Scheidung zur Welt gekommen ist (§ 1592 Nr. 1 BGB). Die bis 1998 geltende Vermutung, dass ein Kind von dem Ehemann abstammt, wenn es innerhalb von 302 Tagen ab Rechtskraft 1 Erman/Hammermann, § 1599 BGB Rn. 37. 2 Zur Rechtslage von Kindern, die vor diesem Stichtag geboren wurden, s. Art. 224 § 1 EGBGB; ebenso zu den nur sehr vereinzelt anzuwendenden vorrangigen Staatsverträgen Erman/Hohloch, Art. 19 EGBGB Rn. 3: Brüssler CIEC-Abkommen über die Feststellung der mütterlichen Abstammung nichtehelicher Kinder, sowie das Niederlassungsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und dem Kaiserreich Persien. 3 Erman/Hohloch, Art. 19 EGBGB Rn. 4. 4 Palandt/Thorn, Art. 4 EGBGB Rn. 6; OLG Nürnberg v. 24.2.2005 – 7 WF 188/05, FamRZ 2005, 1697. 5 Nach OLG Nürnberg v. 24.2.2005 – 7 WF 188/05, FamRZ 2005, 1697.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 151
Kap. 3 A
der Scheidung geboren wird, ist durch das Kindschaftsreformgesetz 1998 außer Kraft getreten (Art. 224 § 1 EGBGB, 1591 aF BGB1). Fraglich ist jedoch, ob das Kind nach mazedonischem Recht von dem Ehemann abstammt. Grundsätzlich geht das mazedonische Recht davon aus, dass ein Kind von dem Ehemann abstammt, wenn es innerhalb von 300 Tagen nach der Beendigung der Ehe (Rechtskraft der Scheidung) geboren wird (Art. 50 des mazedonischen Familiengesetzes Nr. 4828). Ob das mazedonische IPR auf das Recht zurückverweist, in dessen Geltungsbereich das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, kann offen bleiben, da eine solche Rückverweisung jedenfalls dem Sinn von Art. 19 Abs. 1 EGBGB widerspräche.
a) Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes Art. 19 Abs. 1 S. 1 EGBGB knüpft hinsichtlich der Frage, welches Recht 149 auf die Abstammung anwendbar ist, an den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes an. Diese Anknüpfung führt dazu, dass das Abstammungsstatut wandelbar ist. Ändert das Kind den gewöhnlichen Aufenthalt, kann dies dazu führen, dass ein neues Recht anwendbar ist. Dies kann dazu führen, dass das Kind nunmehr erstmals einem Elternteil abstammungsrechtlich zugeordnet wird, es kann aber auch dazu führen, dass eine bisherige abstammungsrechtliche Zuordnung ihre Wirksamkeit verliert, mit der Folge, dass das Kind einer anderen Person als Vater bzw. (seltener) Mutter zugeordnet wird, oder diese Zuordnung, also Vater oder Mutter, überhaupt verliert. Insoweit werden drei Ansichten vertreten: – Nach der am weitesten gehenden Ansicht bleibt dem Kind eine einmal erworbene abstammungsrechtliche Position erhalten, und zwar unabhängig davon, ob es seinen Aufenthalt aus dem Inland ins Ausland verlegt oder umgekehrt2. Dem widerspricht allerdings insbesondere die Rechtspraxis vieler islamischer Staaten, wonach ein Zuzug des Kindes in deren Staatsgebiet mit dem Verlust der statusrechtlichen Stellung verbunden ist.
150
– Nach einer vermittelnden Auffassung richtet es sich nach dem Recht 151 des Staates, in den das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt verlegt, ob eine einmal erworbene abstammungsrechtliche Position unter dem Gesichtspunkt des Schutzes wohlerworbener Rechte auch dann geschützt wird, wenn nach dem Recht des Staates, in den das Kind seinen Aufenthalt verlegt hat, eigentlich die Voraussetzungen der Abstammung nicht vorliegen3. Es entspricht der herrschenden Auffassung, dass jedenfalls dann, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt ins Inland verlegt, eine bereits bestehende abstammungsrechtliche Position nicht verloren geht4.
1 2 3 4
Staudinger/Rauscher, Art. 224 Abs. 1 § 1 EGBGB Rn. 7. MüKo/Klinkhardt, Art. 19 EGBGB Rn. 18. Palandt/Thorn, Art. 19 EGBGB Rn. 4. OLG Hamm v. 18.6.2004 – 9 UF 153/02, FamRZ 2005, 291 = FamRBint 2005, 47; Staudinger/Henrich, Art. 19 EGBGB Rn. 14; Looschelders, IPrax 1999, 423.
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Kap. 3 A Rn. 152
Materielles Abstammungsrecht
Beispiel1: Ein Deutscher hat in der Dominikanischen Republik die Vaterschaft hinsichtlich eines dort geborenen und lebenden Kindes anerkannt. Der Anerkennung hat die dominikanische Mutter formlos zugestimmt. Später heiratet das Paar in der Dominikanischen Republik. Einige Zeit später verlegt die Familie ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach Deutschland. Der Ehemann will nunmehr die Vaterschaft anfechten. Die Anfechtung der Vaterschaft richtet sich nach deutschem Recht, wenn sich die Abstammung nach deutschem Recht richtet. Grundsätzlich richtet sich die Abstammung nach dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 19 Abs. 1 S. 1 EGBGB). Da das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, richtet sich auch die Abstammung nach deutschem Recht. Demnach liegt aber keine wirksame Anerkennung der Vaterschaft vor, da die Zustimmung der Frau nicht in der Form des § 1597 BGB abgegeben wurde. Allerdings war die Anerkennung der Vaterschaft nach dem Recht der Dominikanischen Republik wirksam, da sie weder der Zustimmung der Mutter noch des Kindes bedurfte. Das Recht der Dominikanischen Republik ist anwendbar, da zur Zeit der Anerkennung das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Dominikanischen Republik hatte. Auch das IPR der Dominikanischen Republik knüpft an den gewöhnlichen Aufenthalt an, kennt aber keine Rückverweisung. In diesem Fall würde es dem Kindeswohl widersprechen, wenn der Aufenthaltswechsel dazu führen würde, dass das Kind den einmal erworbenen Status als Kind des Ehemannes wieder verlieren würde.
152
– Nach der dritten Auffassung wird das Kind ausreichend dadurch geschützt, dass es neben dem gewöhnlichen Aufenthalt für die Abstammung auch an die Staatsangehörigkeit der Eltern bzw., wenn die Mutter verheiratet ist, an das für die allgemeinen Wirkungen der Ehe maßgebliche Recht anknüpfen kann. Daher ist ein Statuswechsel, der aufgrund Änderung des gewöhnlichen Aufenthalts für das Kind eintreten würde, hinzunehmen2.
153
Gerade das o.a. Beispiel zeigt jedoch, dass die letztgenannte Auffassung keinesfalls immer einen ausreichender Schutz gewährleistet. Dies gilt insbesondere dann, wenn der leibliche Vater des Kindes nicht bekannt ist. Es erscheint daher vorzugswürdig, der vermittelnden Ansicht zu folgen. b) Rangverhältnis der Anknüpfungen des Art. 19 Abs. 1 EGBGB
154
Art. 19 Abs. 1 EGBGB knüpft hinsichtlich des auf die Abstammung anwendbaren Rechts wahlweise an den gewöhnlichen Aufenthalt, die Staatsangehörigkeit des betreffenden Elternteils oder das für die allgemeinen Wirkungen der Ehe maßgebliche Recht an. Während das Ehewirkungsstatut grundsätzlich unwandelbar ist3 und die Staatsangehörigkeit der Eltern sich auch nur selten ändert, kann es durch einen Aufenthaltswechsel relativ häufig zu einem Wechsel des Abstammungsstatuts kom1 Nach OLG Hamm v. 18.6.2004 – 9 UF 153/02, FamRZ 2005, 291 = FamRBint 2005, 47. 2 Erman/Hohloch, Art. 19 EGBGB Rn. 9. 3 StaudingerHenrich, Art. 19 EGBGB Rn. 21.
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Siede
Materielles Abstammungsrecht
Rn. 157
Kap. 3 A
men. Nach h.M. ist davon auszugehen, dass die unterschiedlichen Anknüpfungen gleichberechtigt nebeneinander angewandt werden können1. Dies ist unproblematisch, wenn noch keine Vaterschaft besteht. Dann führt Art. 19 EGBGB dazu, dass sich die Vaterschaft grundsätzlich nach dem Recht richtet, nach dem sie zuerst wirksam wird (Prioritätsgrundsatz)2. Dies wird mit dem Günstigkeitsprinzip begründet. Danach ist davon auszugehen, dass für das Kind die Anwendung derjenigen Rechtsordnung am günstigsten ist, die ihm zuerst zu einem Vater verhilft3.
155
Beispiel: F und M waren verheiratet. Sie leben im Inland. 200 Tage nach rechtskräftiger Auflösung der Ehe wird das Kind K geboren. F, M und K sind türkische Staatsangehörige. Ein Jahr später will C die Vaterschaft hinsichtlich des K anerkennen. Der Anerkennung des C steht es entgegen, wenn EM Vater des Kindes K ist (§ 1594 Abs. 2 BGB). Nach türkischem Recht ist der Ehemann auch dann Vater des Kindes, wenn dieses innerhalb von 300 Tagen nach der Auflösung der Ehe geboren wird (§ 241 türk. ZGB). Gem. Art. 19 Abs. 1 S. 1 EGBGB richtet sich die Abstammung des Kindes aber nach dem Recht seines gewöhnlichen Aufenthalts. Da sich dieser in Deutschland befindet, ist M nicht Vater des Kindes; denn dieses wurde nach Rechtskraft der Scheidung geboren (§ 1592 Nr. 1 BGB). Allerdings richtet sich die Abstammung auch nach der Staatsangehörigkeit des M (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EGBGB). Ob das türkische Recht die Verweisung annimmt, kann offen bleiben, da dem Kind mehrere möglichst günstige Rechtsordnungen zur Verfügung gestellt werden sollen, auf die es die Abstammung stützen kann (s. oben Rn. 148). Da M türkischer Staatsangehöriger ist, kommt die Vermutung des § 241 türk. ZGB zum Tragen. Demnach wäre M Vater des Kindes. Fraglich ist, wie der Konflikt zu lösen ist. Nach dem Prioritätsgrundsatz wird die Vaterschaft wirksam, die als erste eingetreten ist. Dies wäre die Vaterschaft gem. § 241 türk. ZGB, da sie bereits mit der Geburt des Kindes und nicht erst mit der Anerkennung wirksam wurde4.
Problematisch ist, welches Recht zur Anwendung kommt, wenn gleich- 156 zeitig mit der Geburt je nachdem, welches Recht zur Anwendung kommt, unterschiedliche Personen als Vater des Kindes angesehen werden. Auch zur Lösung dieses Problems werden drei Ansichten vertreten: – Nach einer Auffassung soll in diesen Fällen das Kind wählen können, nach welchem Recht sich die Vaterschaft richten soll. Wer dieser Lösung folgt, hat zu beachten, dass der Vater das Kind erst vertreten kann, wenn abstammungsrechtlich ein Vater-Kind-Verhältnis entstanden ist5.
1 Erman/Hohloch, Art. 19 EGBGB Rn. 7; aA AG Hannover v. 13.5.2002 – 608 F 4451/01 KI, FamRZ 2002, 1722: Vorrang des Abstammungsstatuts aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes. 2 Palandt/Thorn, Art. 19 EGBGB Rn. 6; BayObLG v. 11.1.2002 – 1Z BR 51/01, FamRZ 2002, 686; ähnlich Erman/Hohloch, Art. 19 EGBGB Rn. 7. 3 OLG Hamm v. 7.4.2008 – 15 Wx 8/08, FamRZ 2009, 126. 4 So auch BayObLG v. 11.1.2002 – 1Z BR 51/01, FamRZ 2002, 686. 5 Zu dieser Lösung Erman/Hohloch, Art. 19 EGBGB Rn. 18.
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Kap. 3 A Rn. 158
Materielles Abstammungsrecht
158
– Nach der zweiten, wohl überwiegend vertretenen Ansicht ist in diesen Fällen der Abstammungswahrheit der Vorzug zu geben. Es ist also das Recht zur Anwendung zu bringen, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass der statusrechtliche auch der leibliche Vater ist1.
159
– Nach der dritten Auffassung soll primär das Recht zur Anwendung kommen, in dessen Geltungsbereich das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat2. Dies soll jedenfalls dann gelten, wenn nach diesem Recht am sichersten und schnellsten die Abstammung geklärt werden kann3. Beispiel: F und M (lettische Staatsangehörige) waren verheiratet. Sie leben in Deutschland. K wird 200 Tage nach der Scheidung der Ehe geboren. M2 (britischer Staatsangehöriger) erkennt 10 Tage vor der Geburt des Kindes mit Zustimmung der F die Vaterschaft an. Hier richtet sich die Abstammung nach dem Grundsatz der Abstammungswahrheit. Nach Art. 19 Abs. 1 S. 1 EGBGB richtet sich die Abstammung nach dem Recht, in dessen Geltungsbereich das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Mit Geburt begründet es seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Die Anerkennung durch M2 konnte auch schon vor der Geburt abgegeben werden (§ 1594 Abs. 4 BGB). Sie wird mit der Geburt wirksam. Weiterhin richtet sich gem. Art. 19 Abs. 1 S. 2 EGBGB die Abstammung aber auch nach lettischem Recht, da M lettischer Staatsangehöriger ist. Demnach wird vermutet, dass der Ehemann Vater des Kindes ist, wenn dieses innerhalb von 306 Tagen ab Scheidung der Ehe geboren wird (Art. 146 lett. ZGB). Der Konflikt sollte nach dem Grundsatz der Abstammungswahrheit gelöst werden, um Anfechtungs- und ggf. Feststellungsverfahren zu vermeiden4. Danach wäre die Vaterschaft des M2 gegeben.
160
Art. 19 Abs. 1 EGBGB wirkt sich mithin auf – die Vermutung der Abstammung, – die gerichtliche Feststellung der Abstammung, – die Empfängniszeit und – die Anerkennung der Vaterschaft aus.
161
Die Vorschrift gilt nicht für die Anfechtung der Vaterschaft. Das insoweit anwendbare Recht richtet sich nach Art. 20 EGBGB. Dieser knüpft grundsätzlich daran an, ob nach einer der gem. Art. 19 EGBGB anwendbaren Anknüpfungen ein Abstammungsverhältnis besteht. Dann richtet sich auch das auf die Anfechtung der Abstammung anwendbare Recht nach diesem Recht.
1 2 3 4
S. hierzu OLG Hamm v. 7.4.2008 – 15 Wx 8/08, FamRZ 2009, 126. Vgl. AG Hannover v. 13.5.2002 – 608 F 4451/01 KI, FamRZ 2002, 1722 mwN. AG Leverkusen v. 14.6.2007 – 33 F 229/06, FamRZ 2007, 2087. Ebenso OLG Hamm v. 7.4.2008 – 15 Wx 8/08, FamRZ 2009, 126; da in diesem Fall sich die Beteiligten einig waren, dass M2 biologischer Vater des Kindes war, setzt sich deutsches Recht (Anerkennung) gegen das lettische Abstammungsrecht durch.
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Siede
Materielles Abstammungsrecht
Rn. 164
Kap. 3 A
Beispiel: Die Abstammung des K von V besteht sowohl nach französischem als auch nach deutschem Recht. Dann greift die Anfechtung durch, wenn sie nur die Voraussetzungen eines der beiden anwendbaren Rechte erfüllt.
Für die Zustimmung (zur Anerkennung) finden sich Sondervorschriften 162 in Art. 23 EGBGB. Demnach richtet sich das Zustimmungserfordernis grundsätzlich nach dem Recht des Staates, dem das Kind angehört1. Hinsichtlich der Form reicht es aus, wenn die Formvorschriften gewahrt sind, die an dem Ort gelten, an dem die Erklärung abgegeben wurde (Art. 11 EGBGB).
IV. Klärung der Abstammung ohne statusrechtliche Folgen 1. Allgemeines Will der rechtliche Vater die Vaterschaft anfechten, hat er Umstände dar- 163 zulegen und zu beweisen, die den Anfangsverdacht rechtfertigen, dass er nicht der leibliche Vater ist (s. oben Rn. 119). Da ihm dies oft nicht möglich war, aber auch um Streitigkeiten wegen Zweifeln hinsichtlich der Vaterschaft aus dem Weg zu gehen, wurde in der Vergangenheit wiederholt versucht, mit Hilfe heimlicher „Vaterschaftstests“ eine Vorklärung herbeizuführen. Abgesehen davon, dass die Durchführung solcher Tests rechtswidrig ist, hat die Rechtsprechung aber auch nicht zugelassen, dass mit Hilfe einer solchen heimlich durchgeführten Untersuchung der Anfangsverdacht im Anfechtungsverfahren begründet wird. Die Untersuchung von genetischem Material des Kindes, das ohne Zustimmung der Mutter entnommen oder zur Verfügung gestellt wurde, unterliegt einem Verwertungsverbot2. Auch dem Versuch, hilfsweise mit einem auf die Feststellung gerichteten Antrag, dass ein Kind nicht von dem (anfechtenden) Vater abstammt, den Anfangsverdacht zu begründen, hat die Rechtssprechung den Erfolg versagt: Neben den gesetzlich geregelten Feststellungsklagen auf Feststellung der Vaterschaft bzw. im Fall der Anfechtung auf Feststellung, dass der statusrechtliche Vater nicht der Vater des Kindes ist, ist eine allgemeine Feststellungsklage auf Feststellung der Abstammung im biologischen Sinn unzulässig3. Diese Rechtssprechung hat dazu geführt, dass der Mann, der aufgrund Ehe oder Anerkennung rechtlich als Vater angesehen wurde, der jedoch seine leibliche Vaterschaft anzweifelte, keine Chance hatte, die biologische Abstammung zu klären, wenn die Mutter und das Kind nicht kooperativ waren. Dem ist das BVerfG entgegengetreten. Es hat aus Art. 2 Abs. 1 GG ein Recht des Vaters, der Mutter und des Kindes auf Kenntnis 1 Darum war in dem Fall Rn. 151 nicht die Zustimmung der dominikanischen Mutter zur Anerkennung des Vaters erforderlich. 2 BGH v. 12.1.2005 – XII ZR 227/03, FamRZ 2005, 340 = FamRB 2005, 132. 3 BGH v. 6.12.2006 – XII ZR 164/04, FamRZ 2007, 538 = FamRB 2007, 135.
Siede
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164
Kap. 3 A Rn. 165
Materielles Abstammungsrecht
der genetischen Abstammung abgeleitet und dementsprechend dem Gesetzgeber aufgegeben, ein Verfahren zur Verfügung zu stellen, in dem die Abstammung auch ohne statusrechtliche Folgen geklärt werden kann1. Die hierfür erforderlichen Anspruchsgrundlagen enthält § 1598a BGB – Anspruch auf Einwilligung in eine genetische Abstammungsuntersuchung, – Anspruch auf Ersetzung der Einwilligung, wenn diese verweigert wird, – Anspruch auf Duldung der Entnahme einer für die Untersuchung geeigneten genetischen Probe. 165
Kommen die anderen Beteiligten dem nach, stehen ihnen folgende Informationsrechte zu: – Anspruch auf Einsicht in das durch den Klärungsberechtigten in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten und – Anspruch auf Erteilung einer Abschrift dieses Gutachtens. 2. Ersetzung der Einwilligung in eine genetische Abstammungsuntersuchung
166
Vater, Mutter und Kind haben jeweils gegeneinander einen Anspruch auf Einwilligung in eine genetische Abstammungsuntersuchung sowie auf Duldung der Entnahme der hierfür erforderlichen Proben (§ 1598a Abs. 1 BGB). Gerichtlich geltend zu machen sind aber nicht diese Ansprüche. Gegenstand des Verfahrens zur Klärung der Abstammung ist vielmehr die Entscheidung des Gerichts, durch die die Einwilligung in die genetische Abstammungsuntersuchung ersetzt wird sowie die Anordnung der Duldung der Probeentnahme. Das Gericht hat in den Gründen der Entscheidung als Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage also festzustellen, dass dem Antragsteller ein Anspruch auf Einwilligung zur Untersuchung bzw. Duldung der Entnahme der Proben zusteht. Weiterhin ist festzustellen, dass die anderen Beteiligten diese Einwilligung verweigert bzw. an der Entnahme der Probe nicht mitgewirkt haben2.
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Anspruchsberechtigt (aktivlegitimiert) sind der Vater, die Mutter und das Kind. Stellt der Vater den Antrag, ist dieser gegen die Mutter und das Kind zu richten (§ 1598a Abs. 1 Nr. 1 BGB). Stellt die Mutter den Antrag, ist er gegen den Vater und das Kind zu richten (§ 1598a Abs. 1 Nr. 2 BGB). Stellt das Kind den Antrag, ist er gegen Vater und Mutter zu richten (§ 1598a Abs. 1 Nr. 3 BGB). Die Vertretung des Kindes ist unterschiedlich zu beurteilen: Geht es um die Frage, ob ein entsprechender Antrag zur Klärung der Abstammung gestellt werden soll, wird das eheliche Kind von beiden Eltern (§ 1626 BGB), das nichteheliche Kind von der Mutter bzw. von beiden Eltern vertreten, wenn diese eine Sorgeerklärung abgegeben haben (§ 1626a BGB) oder das Familiengericht dem Vater die 1 BVerfG v. 13.2.2007 – 1 BvR 421/05, FamRZ 2007, 441. 2 So im Ergebnis auch Wellenhofer, NJW 2008, 1185.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 171
Kap. 3 A
(Mit-)sorge übertragen hat. Hinsichtlich des gerichtlichen Verfahrens selbst sind die Eltern allerdings von der Vertretung des Kindes ausgeschlossen (§ 1629 Abs. 2a BGB). Daher ist dem Kind im gerichtlichen Verfahren zwingend ein Ergänzungspfleger zu bestellen1. Ist ein Beteiligter verstorben, kommt die Untersuchung aufgrund Entnah- 168 me von Material aus den sterblichen Überresten in Betracht. Dies setzt die Einwilligung der Totenfürsorgeberechtigten voraus. Für den Fall, dass ein Beteiligter verstorben ist, ist der Anspruch auf Einwilligung daher gegen diese zu richten2. Nicht aktivlegitimiert ist der leibliche Vater, der behauptet, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Dieser hat also nur die Möglichkeit, im Verfahren gem. §§ 1600 Abs. 1 Nr. 2, 1600d Abs. 1 BGB die Abstammung zu klären, wenn die Voraussetzungen der Anfechtung der Vaterschaft durch den leiblichen Vater im Übrigen vorliegen. Dies ist verfassungsgemäß3. Hierin liegt auch kein Verstoß gegen Art. 8 EMRK4.
169
Weiterhin ist der leibliche Vater auch nicht passivlegitimiert. Kein Betei- 170 ligter hat also gegen den – vermuteten – leiblichen Vater einen Anspruch auf Einwilligung in eine genetische Abstammungsuntersuchung. Auch dies ist konsequent, da das Verfahren des § 1598a BGB nur dazu dienen soll, ohne statusrechtliche Wirkung zu überprüfen, ob zwischen Personen, die gem. §§ 1591, 1592 BGB rechtlich als verwandt angesehen werden, auch biologisch ein Abstammungsverhältnis besteht. Nicht aber soll positiv festgestellt werden, ob zwischen Personen, die rechtlich nicht miteinander verwandt sind, ein biologisches Abstammungsverhältnis besteht. Insoweit besteht allein die Möglichkeit der Feststellung der Vaterschaft5. Schließlich gewährt § 1598a BGB auch keinen Anspruch auf Einwilligung 171 in eine abstammungsgenetische Untersuchung gegen sonstige Verwandte des Vaters oder der Mutter. Dies ist zwar misslich, wenn insbesondere von dem Vater kein geeignetes Material erlangt werden kann, weil er unerreichbar ist, aber angesichts des klaren Wortlauts der Vorschrift hinzunehmen6. 1 Vgl. zu dieser Differenzierung Erman/Hammermann, § 1598a BGB Rn. 5; zur Bestellung des Ergänzungspflegers OLG Jena v. 28.8.2009 – 1 UF 120/09, FamFR 2009, 95 = NJW-RR 2010, 300. 2 Str.; wie hier Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 170; Staudinger/Rauscher, § 1598a BGB Rn. 16; Helms, FamRZ 2008, 1033. 3 BVerfG v. 13.10.2008 – 1 BvR 1548/03, FamRB 2009, 111 = NJW 2009, 423; krit. hierzu Helms, FamRZ 2010, 1; Heiderhoff, FamRZ 2010, 8. 4 EGMR v. 22.3.2012 – 45071/09 und 23338/09, FamRZ 2012, 691 (nichtamtl. Pressemitteilung). 5 Vgl. hierzu Erman/Hammermann, § 1598a BGB Rn. 19; Frank/Helms, FamRZ 2007, 1277. 6 Helms, FamRZ 2008, 1033.
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Kap. 3 A Rn. 172
Materielles Abstammungsrecht
172
Weitere Voraussetzungen bestehen grundsätzlich nicht. Dies ist im Interesse einer effektiven Durchsetzung des Anspruchs auf Einwilligung in die Untersuchung geboten1. Insbesondere unterliegt der Anspruch keiner Frist2.
173
Auch wenn die Schwangerschaft mittels heterologer Insemination herbeigeführt wurde, besteht ein Anspruch auf Einwilligung in die genetische Untersuchung, da nicht ausgeschlossen ist, dass das Kind gleichwohl von den Eltern abstammt3. Dem steht § 1600 Abs. 5 BGB nicht entgegen.
174
Kein Anspruch besteht, wenn das Verlangen der Einwilligung in die genetische Abstammungsuntersuchung mutwillig oder rechtsmissbräuchlich ist. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn bereits in einem Anfechtungsverfahren durch ein Gutachten, das anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen entspricht, festgestellt wurde, dass der Anfechtende der Vater des Kindes ist4.
175
Das Verfahren kann ausgesetzt werden, wenn und solange die Klärung der leiblichen Abstammung eine erhebliche Beeinträchtigung des Wohls eines minderjährigen Kindes begründen würde. Dies kommt allerdings nur in Extremfällen in Betracht, beispielsweise bei erheblichen psychischen Erkrankungen, die sich hierdurch verschlechtern könnten, oder Suizidgefahr5. Demgegenüber begründen eine Neurodermitis und die Tatsache, dass die Eltern eine vertrauensvolle Beziehung geführt haben, die Aussetzung auch dann nicht, wenn das Kind aufgrund der Spannungen zwischen den Eltern in einen Loyalitätskonflikt geraten ist; vielmehr ist es Aufgabe der Eltern, dem Kind das Gutachten und das Ergebnis so zu erklären, dass der Konflikt entspannt wird6.
176
Der Anspruch geht auf Einwilligung. Dies ist die vorherige Zustimmung (§ 183 BGB). Dementsprechend kann nicht die nachträgliche Genehmigung eines heimlich eingeholten Gutachtens gefordert werden7.
177
Haben die Verpflichteten die Einwilligung verweigert, hat das Familiengericht die verweigerte Einwilligung zu ersetzen. Es reicht aus, wenn die Einwilligung in eine molekulargenetische Abstammungsuntersuchung ersetzt wird. Nicht ist erforderlich, dass das Gericht in dem Beschluss auch das Labor oder den Gutachter namentlich benennt8. 1 OLG Jena v. 28.8.2009 – 1 UF 120/09, NJW-RR 2010, 300; OLG München v. 14.6.2011 – 33 UF 772/11, FamRZ 2011, 1878. 2 Erman/Hammermann, § 1598a BGB Rn. 11. 3 Staudinger/Rauscher, § 1598a BGB Rn. 25. 4 OLG Stuttgart v. 10.8.2009 – 17 WF 181/09, FamRZ 2010, 53 = FamRB 2009, 372; OLG München v. 14.6.2011 – 33 UF 772/11, FamRZ 2011, 1878. 5 Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 175. 6 OLG Schleswig v. 11.3.2011 – 10 WF 53/11, FamRZ 2011, 1805. 7 Wellenhofer, NJW 2008, 1185. 8 H.M.; vgl. Staudinger/Rauscher, § 1598a BGB Rn. 27.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 180
Kap. 3 A
3. Duldung der Entnahme einer Probe Gem. § 1598a Abs. 1 BGB hat der Verpflichtete auch die Entnahme einer 178 für die Untersuchung geeigneten Probe zu dulden. Mit „Duldung“ ist mehr gemeint, als dass der Verpflichtete der Untersuchung keinen Widerstand entgegensetzen darf. Vielmehr ist er gehalten, sich zur Entnahme der Probe bei einem Arzt vorzustellen. Soll die Probe mittels Abstrichs aus der Mundschleimhaut entnommen werden, hat er auch mitzuwirken, indem er den Mund öffnet. Schließlich gehört zur Entnahme der Probe nach anerkannten Grundsätzen der Wissenschaft auch, dass der Arzt, der die Probe entnimmt, vorher die Identität der untersuchten Person feststellt. Daher hat der Verpflichtete sich mittels eines gültigen Ausweispapiers auszuweisen. Bei Kindern hat er die Identität durch eine Geburtsurkunde und andere geeignete Legitimationspapiere nachzuweisen1. Zu dulden ist die Entnahme einer Probe nach den anerkannten Grund- 179 sätzen der Wissenschaft. Dies bedeutet zunächst, dass derjenige, der die Probe entnimmt, sich von der Identität der untersuchten Person vergewissern muss2. Weiterhin darf die Probe nur durch entsprechend qualifiziertes medizinisches Personal entnommen werden (idR durch den Arzt). Schließlich ist die Probe entsprechend den anerkannten Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft zu verwahren, zu kennzeichnen und zu konservieren, so dass Verwechslungen und Verunreinigungen ausgeschlossen sind3. Zur Frage, welche Probe nach den anerkannten Grundsätzen der Wissen- 180 schaft entnommen werden kann, wird zum einen vertreten, es reiche aus, dass der Verpflichtete die Entnahme einer Speichelprobe aus der Mundschleimhaut dulden müsse4, zum anderen darauf verwiesen, dass nach den Richtlinien für die Erstattung von Abstammungsgutachten idR eine Blutprobe zu entnehmen sei5, überwiegend wird aber vertreten, es sei Sache des Antragstellers zu bestimmen, welches Labor er mit der Erstellung des Gutachtens beauftragen wolle und welches Material dementsprechend untersucht werden solle. Daher obliege es dem Antragsteller, näher zu bestimmen, welche Art von Probe(n) für das von ihm in Auftrag zu gebende Gutachten entnommen werden sollen6.
Û
Praxistipp: Die Entscheidung des Gerichts ist nur vollstreckbar, wenn sie hinreichend bestimmt ist. Daher ist der Antragsteller gut beraten, vor Antragstellung abzuklären, welche Art von Probe das Labor, das er be-
1 2 3 4 5 6
Erman/Hammermann, § 1598a BGB Rn. 7. Wellenhofer, NJW 2008, 1185. Staudinger/Rauscher, § 1598a BGB Rn. 21. OLG München v. 14.6.2011 – 33 UF 772/11, FamRZ 2011, 1878. Nachweise bei Erman/Hammermann, § 1598a BGB Rn. 9. Erman/Hammermann, § 1598a BGB Rn. 10; Helms, FamRZ 2008, 1033.
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Kap. 3 A Rn. 181
Materielles Abstammungsrecht
auftragen will, benötigt, und dann einen entsprechend bestimmten Antrag zu stellen. 4. Rechtsfolgen 181
Die Durchführung der Abstammungsbegutachtung ist Sache des Antragstellers. Sie erfolgt nicht durch das Gericht. Der Antragsteller sollte darauf achten, dass das von ihm beauftragte Labor ein Gutachten erstellt, das auch den Richtlinien für die Erstellung von Abstammungsgutachten entspricht. Daher sollte das Gutachten mindestens zwölf voneinander unabhängige Loci (Genorte) auf mindestens zehn verschiedene Chromosomen untersuchen1. Dann besteht die Möglichkeit, dass dieses Gutachten auch in einem gerichtlichen Abstammungsverfahren gem. § 177 Abs. 2 FamFG verwendet werden kann.
Û
Praxistipp: Um die spätere Verwertung des Gutachtens sicherzustellen, empfiehlt es sich, die Durchführung der Abstammungsbegutachtung vertraglich zu regeln. Der Vertrag sollte Regelungen enthalten, durch welchen Arzt die zu untersuchenden Proben entnommen werden sollen, welche Proben entnommen werden sollen, durch welches Labor die genetische Untersuchung erfolgen soll, wie viele Loci auf wie vielen Chromosomen untersucht werden sollen, durch wen das Labor beauftragt werden soll und wie im Innenverhältnis der Beteiligten die Kosten getragen werden sollen. Weiterhin empfiehlt es sich auch, eine Regelung aufzunehmen, dass der Verwertung des Gutachtens in einem nachfolgenden Abstammungsverfahren zur Feststellung/Anfechtung der Vaterschaft zugestimmt wird, bzw. dass (hilfsweise) der Beteiligte, der die Zustimmung gegenüber dem Gericht nicht geben sollte, die Kosten des vorgerichtlichen Gutachtens in vollem Umfang trägt.
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Die Erstellung des Gutachtens setzt voraus, dass die Personen, deren Proben genetisch untersucht werden sollen, aufgeklärt wurden und dass sie in die Untersuchung eingewilligt haben (§ 17 Abs. 1 GenDG). Deren Einwilligung kann gem. § 1598a Abs. 2 BGB durch das Gericht ersetzt werden (§ 17 Abs. 7 GenDG). Die Ersetzung der Einwilligung gem. § 1598a Abs. 2 BGB ist also Voraussetzung dafür, dass ein molekulargenetisches Abstammungsgutachten erstellt werden kann2.
183
Die Durchführung eines Abstammungsklärungsverfahrens hemmt die Frist für die Anfechtung der Vaterschaft (§ 1600b Abs. 5 BGB). Die Hemmung endet spätestens sechs Monate, nachdem das Verfahren abgeschlossen ist (§ 204 Abs. 2 BGB). Da die Erstellung des Gutachtens Sache des Antragstellers ist und das Verfahren nur dazu dient, die erforderlichen 1 Helms/Kieninger/Rittner/Rittner, Rn. 310; Wellenhofer, NJW 2008, 1185. 2 Erman/Hammermann, § 1598a BGB Rn. 39.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 188
Kap. 3 A
Einwilligungen ggf. zu ersetzen sowie die Mitwirkung an der Entnahme der Proben zu erzwingen, endet die Hemmung auch dann sechs Monate nach der gerichtlichen Entscheidung, wenn das Gutachten selbst dann noch nicht vorliegt1. Das Gutachten ist geeignet, einen Anfangsverdacht zu begründen, der für die Schlüssigkeit des Antrags auf Anfechtung der Vaterschaft erforderlich ist.
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Hinsichtlich der Mutter stehen das Verfahren zur Klärung der Abstam- 185 mung gem. § 1598a BGB und das Verfahren wegen Feststellung der Abstammung gem. § 169 Nr. 1 FamFG nebeneinander. Ergibt das Verfahren gem. § 1598a BGB, dass das Kind nicht von der Mutter abstammt (etwa weil es im Krankenhaus vertauscht worden ist), ist zunächst keine Mutter bekannt. Um die Mutter festzustellen, ist dann allerdings ein positiver Antrag auf Feststellung, dass eine andere Frau Mutter des Kindes ist, erforderlich.
V. Auskunftsansprüche Das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung wird ergänzt durch 186 Auskunftsansprüche. § 1598a BGB hilft nur zu klären, ob zwischen einem Kind und einem Elternteil im statusrechtlichen Sinn auch in abstammungsbiologischer Hinsicht ein Verwandtschaftsverhältnis besteht. Fehlt es hieran, ist zu klären, zu welcher anderen Person ein abstammungsbiologisches Verwandtschaftsverhältnis bestehen könnte. Da dem Kind, häufig aber auch dem Partner der Mutter, die diesbezüglichen Kenntnisse fehlen, bestehen entsprechende Auskunftsansprüche gegen die Mutter. 1. Auskunftsanspruch des Kindes Dem nichtehelichen Kind kann gegen die Mutter gem. § 1618a BGB ein 187 Anspruch auf Auskunft über die Person seines leiblichen Vaters zustehen. Zur Verpflichtung, gegenseitig Beistand zu leisten und Rücksicht zu nehmen gehört auch, dass die Mutter dem Kind grundsätzlich Auskunft über die Person seines Vaters erteilt2. Die Mutter hat die Person des (möglichen) leiblichen Vaters so genau zu bezeichnen, wie ihr dies möglich ist, damit das Kind diesen ausfindig machen kann. Die Mutter ist zwar nicht gehalten, Nachforschungen anzustellen, hat dem Kind aber den Namen, den Vornamen und die letzte ihr 1 Zum Wertungswiderspruch zwischen „erzwungener“ Begutachtung und vereinbarter Begutachtung, bei der gem. § 204 Abs. 1 Nr. 8 BGB der Ablauf der Frist während eines vereinbarten Begutachtungsverfahrens gehemmt ist, vgl. Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 56a–56c. 2 BVerfG v. 6.5.1997 – 1 BvR 409/90, FamRZ 1997, 869.
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Kap. 3 A Rn. 189
Materielles Abstammungsrecht
bekannte Adresse des Mannes mitzuteilen1. Kommen mehrere Männer als Vater in Betracht, sind die Namen und Anschriften aller Männer bekannt zu geben2. 189
Der Anspruch des Kindes besteht aber nicht absolut. Vielmehr ist eine konkrete Abwägung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmen, ob das Interesse des Kindes an der Kenntnis seines biologischen Vaters oder die Interessen der Mutter auf Wahrung ihrer Intimsphäre sowie ihres informationellen Selbstbestimmungsrechts überwiegen3.
190
Allerdings ist das Interesse des Kindes an der Kenntnis seiner biologischen Abstammung schon für sich gerechtfertigt. Die Mutter muss daher gewichtige Gesichtspunkte vortragen, die es gleichwohl unzumutbar erscheinen lassen, dass sie die Person des Vaters offenbart4. Dies kann etwa der Fall sein, wenn sie offenbaren müsste, dass sie der Prostitution nachgegangen ist oder dass das Kind aus einer inzestuösen Verbindung hervorgegangen ist5. Auch wirtschaftliche Gesichtspunkte können dagegen sprechen, dass die Mutter die Person des Vaters offenbaren muss. Beispielsweise ist der Anspruch versagt worden, wenn die Mutter hierdurch Gefahr lief, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, während das Kind von dem Vater voraussichtlich keinen Unterhalt würde erlangen können und die Kenntnis des Vaters aufgrund des geringen Alters des Kindes für dessen Identitätsfindung auch nicht von Bedeutung war6.
191
Unbeachtlich ist demgegenüber, ob und welche Interessen die als Vater in Betracht kommenden Personen daran haben, dass ihr Name geheim gehalten wird. Auch wenn diese Personen inzwischen in geordneten familiären Verhältnissen leben und die Zeit der Geburt des Kindes schon lange zurückliegt, kann daher die Mutter gehalten sein, deren Identität preiszugeben7. 2. Auskunftsanspruch des Scheinvaters kraft Ehe bzw. Anerkennung
192
Ansprüche des Scheinvaters gegen die Mutter auf Nennung des leiblichen Vaters eines Kindes können sich aus §§ 242, 826 BGB ergeben. Dem-
1 Erman/Michalski/Döll, § 1618a BGB Rn. 15. 2 LG Münster v. 26.8.1998 – 1 S 414/89, FamRZ 1999, 1441. 3 BVerfG v. 6.5.1997 – 1 BvR 409/90, FamRZ 1997, 869; Staudinger/Coester, § 1618a BGB Rn. 49. 4 Wie hier Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 180; demgegenüber betonen in Konsequenz der Entscheidung des BVerfG, dass es keinen Vorrang des Informationsinteresses des Kindes gebe, Erman/Michalski/Döll, § 1618a BGB Rn. 15 und Staudinger/Coester, § 1618a BGB Rn. 49. 5 AG Schwetzingen v. 14.11.1991 – 4C464/91, DAVorm 1992, 88; Staudinger/ Coester, § 1618a BGB Rn. 50. 6 OLG Hamm v. 22.3.1991 – 29 U 166/90, FamRZ 1991, 1229. 7 Staudinger/Coester, § 1618a BGB Rn. 49; LG Münster v. 26.8.1998 – 1 S 414/89, FamRZ 1999, 1441.
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Materielles Abstammungsrecht
Rn. 198
Kap. 3 A
gegenüber ist – soweit ersichtlich – § 1353 BGB durch die Rechtsprechung bisher nicht als Anspruchsgrundlage herangezogen worden. Bedeutung hat der Auskunftsanspruch insbesondere dann, wenn der 193 Scheinvater wegen in der Vergangenheit erbrachter Unterhaltsleistungen Rückgriff bei dem leiblichen Vater nehmen will (§ 1607 Abs. 3 S. 2 BGB). Ein Anspruch auf Nennung der Männer, die als leibliche Väter in Betracht 194 kommen, besteht jedenfalls dann, wenn die Mutter dem Scheinvater gem. § 826 BGB zum Schadensersatz verpflichtet ist1. Die überwiegende Auffassung geht davon aus, dass auch § 242 BGB als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt, wenn der Scheinvater im Wege der inzidenten Feststellung der Vaterschaft Regress bei dem leiblichen Vater nehmen will2. Voraussetzungen sind: – Das Bestehen einer Sonderverbindung. Dies wird vom Oberlandesge- 195 richt Schleswig auch dann angenommen, wenn die Anerkennung letztlich rückwirkend aufgrund Anfechtung wirkungslos ist, da auch die auf einem nichtigen Rechtsgeschäft beruhende Rechtsbeziehung zu einer Sonderverbindung führt; denn stellt sich nachträglich die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäftes heraus, entsteht zwischen den Beteiligten ein auf Rückabwicklung gerichtetes Rechtsverhältnis3. – Die Möglichkeit des Auskunftspflichtigen, die Auskunft unschwer zu erteilen. Dies ist hinsichtlich der Mutter regelmäßig der Fall, da ihr die Personen bekannt sein müssten, mit denen sie während der Empfängniszeit geschlechtliche Kontakte gepflegt hat.
196
– Die Zumutbarkeit der Erteilung der Auskunft. Insoweit ist es auch zu 197 berücksichtigen, wenn der Auskunftsberechtigte sich mit der Erstattung des von ihm geleisteten Unterhalts durch eine anonym bleibende Person begnügt4. – Unverschuldete Unkenntnis des Auskunftsberechtigten. Dem Scheinvater kann idR kein Vorwurf gemacht werden, wenn er die Person des 1 OLG Bamberg v. 7.5.2003 – 7 WF 73/03, FamRZ 2004, 562. 2 Helms/Kieninger/Rittner/Helms, Rn. 181; OLG Schleswig v. 23.6.2009 – 8 UF 16/09, FamRZ 2009, 1924 = FamRB 2010, 8; BGH v. 3.7.2008 – I ZB 87/06, FamRZ 2008, 1751 = FamRB 2008, 298 unter Verweis darauf, dass die Mutter durch die Zustimmung zur Anerkennung der Vaterschaft einen Beitrag dazu geleistet hat, dass sich der Unterhalt zahlende Mann fälschlich für den Vater hielt, wobei diese Entscheidung zur Frage der Rechtmäßigkeit der Vollstreckung aus einem zur Auskunft verpflichtenden Titel ergangen ist; nun auch BGH v. 9.11.2011 – XII ZR 136/09, FamRZ 2012, 200. 3 OLG Schleswig v. 23.6.2009 – 8 UF 16/09, FamRZ 2009, 1924 = FamRB 2010, 8. 4 So das vorgerichtliche Angebot des Klägers in dem vom OLG Schleswig entschiedenen Fall; nach BGH v. 9.11.2011 – XII ZR 136/09, FamRZ 2012, 200, überwiegt das Interesse des Scheinvaters, der auf Veranlassung der Frau die Vaterschaft anerkannt hat, idR das durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützte Interesse der Mutter, ihre intimen Beziehungen geheim zu halten.
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Verfahren in Abstammungssachen
leiblichen Vaters nicht kennt. Dies gilt insbesondere dann, wenn ihn die Mutter nicht informiert, dass sie während der Empfängniszeit auch zu anderen Männern geschlechtliche Beziehungen unterhalten hat, und ihn deshalb in der Gewissheit wiegt, der Vater des Kindes zu sein. 199
– Der Auskunftsberechtigte ist dringend auf die Auskunft angewiesen. Dies wird regelmäßig dann nicht der Fall sein, wenn er durch Einsicht in das Geburtsregister beim Standesamt die Person des Vaters erfahren kann. Geht der Anspruch des Kindes auf Unterhalt auf den Scheinvater über, ist das Kind gem. §§ 412, 402 BGB verpflichtet, dem Scheinvater Auskunft zu geben, wer als leiblicher Vater in Betracht kommt und ob dieser als Vater festgestellt ist oder die Vaterschaft anerkannt hat1. In den beiden zuletzt genannten Fällen steht dem Scheinvater auch ein Anspruch auf Einsichtnahme in das Geburtenbuch zu (§ 62 PStG). Ist dem Kind die Person des leiblichen Vaters nicht bekannt und enthält auch das Geburtenbuch keinen entsprechenden Eintrag, ist der Auskunftsberechtigte allerdings auf die Erteilung der Auskunft durch die Mutter angewiesen. 3. Auskunftsanspruch des Mannes gegen die Mutter, der er beigewohnt hat
200
Hat ein Mann einer Frau beigewohnt, kann er von der Mutter gem. § 242 BGB Auskunft verlangen, ob hieraus ein Kind hervorgegangen ist. Die Mutter ist verpflichtet, ggf. Namen und Geburtsdatum mitzuteilen2. Ein berechtigtes Interesse des Mannes liegt insbesondere dann vor, wenn die Erteilung der Auskunft dazu dienen soll, einen Antrag auf Feststellung der Vaterschaft vorzubereiten.
B. Verfahren in Abstammungssachen I. Allgemeines 201
Durch das FamFG wurden alle Abstammungssachen einheitlich den Vorschriften des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit unterworfen (§§ 113 Abs. 1, 169 FamFG). Hießen die Verfahren wegen Abstammung eines Kindes in der ZPO „Kindschaftssachen“ (§ 640 aF ZPO), so handelt es sich jetzt um Abstammungssachen (§§ 111 Nr. 3, 169 FamFG). Das Verfahren ist kein kontradiktorisches Klageverfahren mehr. Der Antrag hat nur noch Bedeutung als Verfahrensvoraussetzung. Allerdings legt er 1 Erman/Hammermann, § 1607 BGB Rn. 31. 2 LG Gera v. 15.2.2006 – 1 S 314/05, FamRZ 2006, 1221; Helms/Kieninger/Rittner/ Helms, Rn. 183.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 205
Kap. 3 B
auch den Verfahrensgegenstand fest (§ 171 Abs. 2 S. 1 FamFG). Er ist nicht gegen einen anderen der am Verfahren Beteiligten zu richten, sondern auf Feststellung des Bestehens/Nichtbestehens eines Abstammungsverhältnisses. Da sich die Beteiligten des Verfahrens nicht wie Kläger und Beklagter gegenüber stehen, gilt für die Vertretung des Kindes nicht die Vorschrift des §§ 1629 Abs. 2, 1795 BGB. Es gibt auch keine Streitverkündung und Beiladung. Die Entscheidung hat nicht die Zulässigkeit und Begründetheit des Antrags zum Gegenstand, sondern ist daraufhin zu überprüfen, ob die formellen und materiellen Voraussetzungen erfüllt sind.
II. Abstammungssachen Abstammungssachen sind legal definiert in § 169 FamFG. Die Legalde- 202 finition hat Bedeutung für die Bestimmung der internationalen (§ 100 FamFG) und sachlichen (§ 23a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GVG, §§ 111 Nr. 3, 169 FamFG) Zuständigkeit. Weiterhin führt die Legaldefinition zur Anwendung der besonderen, nur für Abstammungssachen geltenden Vorschriften der §§ 170–185 FamFG sowie – mittelbar – der nur für Familiensachen geltenden Vorschriften der §§ 114–116 FamFG. Kraft Sachzusammenhangs gehören zu den Abstammungssachen darüber hinaus auch Verfahren wegen Anerkennung im Ausland ergangener Entscheidungen zur Abstammung (§ 108 FamFG)1.
203
1. Verfahren nach § 169 Nr. 1 FamFG Abstammungssachen sind zunächst Verfahren wegen Feststellung des Be- 204 stehens eines Eltern-Kind-Verhältnisses (§ 169 Nr. 1 FamFG). Wichtigster Fall ist der Antrag auf Feststellung der Vaterschaft gem. § 1600d Abs. 1 BGB. Verfahren wegen Feststellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses sind aber auch möglich, wenn zweifelhaft ist, ob zwischen Vater und Mutter bei Geburt des Kindes eine wirksame Ehe bestand (§ 1592 Nr. 1 BGB). Einen besonderen Fall stellt die Anerkennung der Vaterschaft dar: Hier 205 hängt das Bestehen eines Vater-Kind-Verhältnisses davon ab, dass die Anerkennung wirksam ist. Der Antrag ist aber darauf zu richten, dass die Anerkennung wirksam bzw. unwirksam ist (§ 169 Nr. 1 FamFG). Das Verfahren dient dazu, zu klären, ob die Anerkennung von Anfang an unwirksam war2. Dies ist nur dann der Fall, wenn die Voraussetzungen gem. §§ 1594–1597 BGB nicht vorlagen, also die Vaterschaft eines anderen Mannes bestand, der Anerkennende nicht geschäftsfähig oder wirksam vertreten war, die Anerkennung formunwirksam ist oder eine erfor-
1 BGH v. 9.6.1999 – XII ZB 169/98, FuR 2000, 260 = NJW-FER 1999, 282. 2 Prütting/Helms/Stößer, § 169 FamFG Rn. 7; Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 203.
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Kap. 3 B Rn. 206
Verfahren in Abstammungssachen
derliche Zustimmung der Mutter oder des Kindes fehlt oder nicht wirksam erteilt wurde1. 206
Nach manchen ausländischen Rechten2 kann sich auch die Mutterschaft nach der Anerkennung durch die Mutter richten (s. oben Rn. 12). In diesen Fällen ist allerdings der Antrag allgemein auf darauf zu richten, dass festgestellt wird, dass zwischen der Mutter und dem Kind ein MutterKind-Verhältnis entstanden ist.
207
Ein Eltern-Kind-Verhältnis hinsichtlich der Mutter kann Gegenstand eines Abstammungsverfahrens sein, wenn unklar ist, ob die im Geburtenbuch eingetragene Mutter das Kind tatsächlich geboren hat3.
208
Raum für einen Antrag auf Feststellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses kann sich insbesondere auch ergeben, wenn bei internationalen Sachverhalten die Abstammung nach dem Günstigkeitsprinzip zu beurteilen ist (zur Anwendung des Günstigkeitsprinzips s. Rn. 155).
209
Nicht als Abstammungssache können Anträge Dritter auf Feststellung der biologischen Abstammung bei bestehendem rechtlichem ElternKind-Verhältnis geltend gemacht werden. Die Feststellungsanträge gem. § 169 Nr. 1 FamFG sind – wie allgemein die Feststellungsklage, vgl. § 256 ZPO – auf die Feststellung von Rechtsverhältnissen gerichtet. Die Frage, ob ein Kind biologisch von einer bestimmten Person abstammt oder nicht abstammt, ist dagegen auf eine reine Tatsache gerichtet. Will der Antragsteller die genetische Abstammung geklärt haben, stehen ihm lediglich die Hilfsansprüche gem. § 1598a BGB zur Seite. Daher kann insbesondere nicht der potentielle leibliche Vater die Feststellung der biologischen Abstammung beantragen, wenn noch eine andere rechtliche Vaterschaft besteht; danach kann er nur auf Feststellung der Vaterschaft gem. § 1600d BGB antragen4.
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Wie § 182 Abs. 2 FamFG zeigt, kann auch ein negativer Antrag erhoben werden, der darauf gerichtet ist, dass zwischen einem Kind und einer anderen Person kein Eltern-Kind-Verhältnis besteht. Für diesen Antrag hat sich allerdings kein praktisches Bedürfnis ergeben. Der Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft, der wegen der gestaltenden Wirkung der Entscheidung hierüber hinaus geht, ist gesondert in § 169 Nr. 4 FamFG geregelt.
1 2 3 4
Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 203. ZB Frankreich und Italien, vgl. Staudinger/Henrich, Art. 19 EGBGB Rn. 70–75. OLG Koblenz v. 17.7.2009 – 9 WF 532/09, FamRZ 2010, 481. BGH v. 6.12.2006 – XII ZR 164/04, FamRZ 2007, 538 = FamRB 2007, 135; BVerfG v. 13.10.2008 – 1 BvR 1548/03, FamRZ 2008, 2257 = FamRB 2009, 111; Prütting/ Helms/Stößer, § 169 FamFG Rn. 9. Diese Regelung ist mit Art. 8 EMRK vereinbar, EGMR v. 22.3.2012 – 45071/09 und 23338/09, FamRZ 2012, 691 (Leitsatz und Pressemitteilung).
112
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 215
Kap. 3 B
2. Verfahren nach § 169 Nr. 2–3 FamFG Abstammungssachen sind auch Verfahren wegen Ersetzung der Einwil- 211 ligung in eine genetische Abstammungsuntersuchung und wegen Anordnung der Duldung der Entnahme einer für die genetische Untersuchung erforderlichen Probe (§§ 169 Nr. 2, 3 FamFG). Diese Ansprüche ergeben sich aus § 1598a Abs. 2 BGB (s. oben Rn. 163–185). 3. Verfahren nach § 169 Nr. 4 FamFG Zu den Abstammungssachen gehören schließlich die Verfahren wegen 212 Anfechtung der Vaterschaft (§ 169 Nr. 4 FamFG). Diese Verfahren sind in §§ 1599, 1600 BGB geregelt (s. oben Rn. 86–162). Hinsichtlich der Mutter gibt es kein Verfahren der Anfechtung1. Insoweit steht lediglich der (negative) Feststellungsantrag zur Verfügung, das Gesetz knüpft hier einheitlich und ausschließlich an die Geburt an (§ 1591 BGB). 4. Auskunftsansprüche Nicht zu den Abstammungssachen gehören die Auskunftsansprüche des 213 Kindes und des rechtlichen Vaters gegen die Mutter hinsichtlich der Person des leiblichen Vaters. Macht das Kind einen solchen Anspruch geltend, liegt eine sonstige Familiensache gem. § 266 I Nr. 4 FamFG vor2, macht der Mann einen solchen Anspruch geltend, soll eine Unterhaltssache kraft Sachzusammenhangs gegeben sein3. Macht der Mann, der der Frau beigewohnt hat, einen Auskunftsanspruch geltend, ob hieraus ein Kind hervorgegangen ist, ist hierin bisher eine allgemeine bürgerlichrechtliche Streitigkeit gesehen worden4. Es spricht allerdings einiges dafür, jedenfalls dann, wenn diese Auskunft der Vorbereitung eines Verfahrens zur Feststellung der Vaterschaft dienen soll, hierin eine Abstammungssache kraft Sachzusammenhangs zu sehen.
III. Zuständigkeit Hinsichtlich der Zuständigkeit ist zwischen internationaler, sachlicher, 214 örtlicher und funktioneller Zuständigkeit zu differenzieren. 1. Internationale Zuständigkeit Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte in Abstammungssachen ergibt sich aus § 100 FamFG. Sie knüpft an die deutsche Staatsangehörigkeit oder aber den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland 1 2 3 4
Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 211. Bamberger/Roth/Enders, § 1618a BGB Rn. 6. OLG Hamm v. 5.4.2005 – 2 Sdb (FamS) Zust 5/05, FamRZ 2005, 1844. LG Gera v. 15.2.2006 – 1 S 314/05, FamRZ 2006, 1221.
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Kap. 3 B Rn. 216
Verfahren in Abstammungssachen
an. Eines dieser Merkmale muss entweder hinsichtlich des Kindes, der Mutter, des Vaters oder des Mannes, der an Eides statt versichert, der Frau während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben, bei Antragstellung erfüllt sein. Hinsichtlich des Mannes, der behauptet, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben, wird die internationale Zuständigkeit nur begründet, wenn dieser Antragsteller ist, eine sonstige Beteiligung reicht nicht aus1. 216
Die Staatsangehörigkeit kann vereinfacht daran festgestellt werden, ob ein Beteiligter einen deutschen Ausweis oder Pass besitzt. Dies gilt auch bei Personen, die mehreren Staaten angehören, ohne dass von Bedeutung ist, welche Staatsangehörigkeit die effektive ist2.
217
Der gewöhnliche Aufenthalt richtet sich danach, wo eine Person faktisch ihren Lebensmittelpunkt hat. Nach einer Definition des EuGH handelt es sich um den Ort, den der Betroffene als ständigen und gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in der Absicht gewählt hat, ihm Dauerhaftigkeit zu verleihen, wobei für die Feststellung dieses Wohnsitzes alle hierfür wesentlichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind3. Bei Kindern ist weiter danach zu fragen, wo sie regelmäßig ihren Aufenthalt haben, unter welchen Umständen sie dort leben, aus welchen Gründen eine Familie ihren Aufenthalt in einen Staat verlegt hat, inwieweit die Kinder bei den leiblichen Eltern verortet sind (dies spielt vor allem bei kleinen Kindern eine Rolle), wo sie die Schule besuchen, welche Sprachkenntnisse vorhanden sind und welche familiären und sozialen Bindungen bestehen4.
218
Die internationale Zuständigkeit ist nicht ausschließlich (§ 106 FamFG). 2. Sachliche Zuständigkeit
219
Für Abstammungssachen sind die Amtsgerichte sachlich zuständig. Dies ergibt sich aus § 23a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GVG. Die Zuständigkeit ist ausschließlich (§ 23a Abs. 1 S. 2 GVG). 3. Örtliche Zuständigkeit
220
§ 170 FamFG regelt die örtliche Zuständigkeit einheitlich für alle Abstammungssachen. Demnach ist primär auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes abzustellen. Hat das Kind im Inland keinen gewöhnlichen Aufenthalt, ist primär der gewöhnliche Aufenthalt der Mutter, nachrangig der des Vaters maßgeblich. Nur wenn keiner der Beteiligten im Inland einen gewöhnlichen Aufenthalt hat, ist das Amtsgericht Schöneberg örtlich zuständig. 1 2 3 4
Prütting/Helms/Hau, § 100 FamFG Rn. 4. BGH v. 18.6.1997 – XII ZB 156/95, FamRZ 1997, 1070. Zit. nach Prütting/Helms/Hau, Vor §§ 98–106 FamFG Rn. 23. Prütting/Helms/Hau, Vor §§ 98–106 FamFG Rn. 23.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 227
Kap. 3 B
Die örtliche Zuständigkeit ist ausschließlich. Allerdings kann es vorkommen, dass das Kind, die Mutter oder der Vater an mehreren Orten einen gewöhnlichen Aufenthalt haben1. In diesem Fall ist das Gericht örtlich zuständig, an das zuerst der Antrag gerichtet wurde (§ 2 Abs. 1 FamFG). Ändert sich der gewöhnliche Aufenthalt nachträglich, wirkt sich dies auf die Zuständigkeit nicht aus (§ 2 Abs. 2 FamFG). Allerdings kann aus wichtigem Grund das Verfahren abgegeben werden (§ 4 FamFG).
221
Wird der Antrag an ein unzuständiges Gericht gerichtet, kann Verweisung gem. § 3 FamFG beantragt werden.
222
4. Funktionelle Zuständigkeit Abstammungssachen sind grundsätzlich dem Richter vorbehalten (§§ 14, 223 25 RPflG). Sofern eine Erklärung aufzunehmen oder ein Ergänzungspfleger für ein Kind zu bestellen ist, erfolgt dies allerdings durch den Rechtspfleger, da diese Aufgaben nicht dem Richter vorbehalten sind (§§ 14, 24 RPflG).
IV. Antragsgrundsatz In Abstammungssachen wird das Verfahren nicht von Amts wegen, son- 224 dern nur auf Antrag eingeleitet (§§ 171, 23 FamFG). Der Antrag hat die Bedeutung einer Verfahrensvoraussetzung. Er ist aber kein sachbestimmender Antrag. Es reicht daher aus, ist aber auch erforderlich, dass der Antrag das Ziel des Antragstellers erkennen lässt (Feststellung/Anfechtung der Vaterschaft)2. 1. Antragsbefugnis Der Antrag ist nur zulässig, wenn er durch eine Person gestellt wird, die antragsbefugt ist.
225
Hinsichtlich der Antragsbefugnis ist zwischen den unterschiedlichen Ab- 226 stammungssachen zu unterscheiden: a) Feststellung der Vaterschaft Geht es um die Feststellung der Vaterschaft, ist jede Person antragsbefugt, die ein statusrechtliches Interesse an der Feststellung hat. Dies ist hinsichtlich des Kindes sowie des Mannes der Fall, der behauptet, Vater
1 Vgl. zu dieser Frage Prütting/Helms/Helms, § 122 FamFG Rn. 13. 2 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 241–244; zum Muster eines Antrags s. Rn. 247, 251, 256.
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227
Kap. 3 B Rn. 228
Verfahren in Abstammungssachen
eines Kindes zu sein1. Nicht antragsbefugt sind dagegen Personen, die lediglich ein mittelbares oder wirtschaftliches Interesse an der Feststellung der Vaterschaft haben. Daher fehlt die Antragsbefugnis den Verwandten des (potentiellen) Vaters (selbst wenn sich die Vaterschaft auf deren erbrechtliche oder unterhaltsrechtliche Stellung auswirken würde) sowie dem Scheinvater, der die Vaterschaft erfolgreich angefochten hat und nunmehr den leiblichen Vater wegen des von ihm geleisteten Unterhalts in Anspruch nehmen möchte. Obwohl sich die Feststellung der Vaterschaft auf die statusrechtliche Rechtsstellung der Mutter nicht auswirkt, wird diese ebenfalls als antragsbefugt angesehen; denn sie ist ausnahmslos an den Abstammungsverfahren zu beteiligen (§ 172 Abs. 1 Nr. 2 FamFG)2. b) Anfechtung der Vaterschaft 228
Geht es um die Anfechtung der Vaterschaft, ergibt sich die Antragsbefugnis aus § 1600 BGB. Demnach sind antragsbefugt der Mann, dessen Vaterschaft aufgrund Geburt des Kindes während der Ehe (§ 1592 Nr. 1 BGB) oder Anerkennung (§ 1592 Nr. 2 BGB) besteht (§ 1600 Abs. 1 Nr. 1 BGB), der Mann, der an Eides statt versichert, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB), die Mutter (§ 1600 Abs. 1 Nr. 3 BGB), das Kind (§ 1600 Abs. 1 Nr. 4 BGB) sowie die anfechtungsberechtigte Behörde, wenn die Vaterschaft kraft Anerkennung besteht (§ 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB). Die Antragsbefugnis setzt voraus, dass dem Antrag des biologischen Vaters die eidesstattliche Versicherung beigefügt oder nachgereicht ist, dass dieser während der Empfängniszeit der Mutter des Kindes beigewohnt hat. Die Empfängniszeit ist der Zeitraum v. 300. bis zum 181. Tag vor der Geburt (§ 1600d Abs. 3 BGB).
229
Demgegenüber betrifft sowohl bei der Anfechtung der Vaterschaft durch den leiblichen Vater als auch bei der Anfechtung der Vaterschaft durch die zuständige Behörde die Frage, ob zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht und (bei der Behörde) ob durch die Anerkennung die Voraussetzungen für die Einreise oder den Aufenthalt des Kindes oder eines Elternteils geschaffen werden sollten, die Begründetheit des Antrags (s. oben Rn. 120–137).
230
Künstliche Befruchtung: Ist das Kind mit Einwilligung des Mannes und der Mutter durch die Samenspende eines Dritten mittels künstlicher Befruchtung gezeugt worden, entfällt die Antragsbefugnis für die Mutter und den Vater. Ein gleichwohl erhobener Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft ist mangels Antragsbefugnis unzulässig3. Der Ausschluss gilt nicht für die künstliche Befruchtung im Wege der homologen Inseminati1 Prütting/Helms/Stößer, § 171 FamFG Rn. 7. 2 Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 207. 3 Bamberger/Roth/Hahn, § 1600 BGB Rn. 2; Staudinger/Rauscher, § 1600 BGB Rn. 10.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 234
Kap. 3 B
on, also mittels Samenspende des Mannes. Er gilt auch nicht, wenn das Kind einvernehmlich durch einen Dritten auf natürliche Weise gezeugt wurde. Gem. § 1600 Abs. 5 BGB wird jedenfalls die Anfechtung der Vaterschaft 231 durch den Ehemann ausgeschlossen. Strittig ist, ob der Vater kraft Anerkennung durch § 1600 Abs. 5 BGB an der Anfechtung der Vaterschaft gehindert wird. Teilweise wird dies verneint, weil hierfür ein praktisches Bedürfnis fehle1. Es besteht jedoch ein Schutzbedürfnis des Kindes, wenn die Anerkennung nachträglich mit Geburt des Kindes wirksam wird, vor dem Verlust des statusrechtlichen Vaters genauso geschützt zu werden wie ein eheliches Kind. Die Anfechtung ist nur ausgeschlossen, wenn die künstliche Befruchtung 232 mit Einwilligung von Vater und Mutter erfolgt. Einwilligung ist die vorherige Zustimmung (§ 183 BGB). Bei der Einwilligung handelt es sich um eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die dem jeweils anderen „Eltern“-teil zugehen muss (§ 130 Abs. 2 BGB). Für die Zustimmung ist Geschäftsfähigkeit erforderlich; denn sie ist ua. auch auf die Rechtsfolge gerichtet, dass die Anfechtung der Vaterschaft für die Mutter und den rechtlichen Vater ein für allemal ausgeschlossen wird2. Nicht ausgeschlossen ist das Anfechtungsrecht des Kindes. Dem Samenspender steht demgegenüber kein Anfechtungsrecht zu, da er der Mutter nicht beigewohnt hat (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB) (s. hierzu oben Rn. 71). c) Einwilligung in Abstammungsuntersuchung Geht es um den Anspruch auf Einwilligung in eine genetische Abstam- 233 mungsuntersuchung und Duldung der Entnahme der hierfür erforderlichen Proben (§ 1598a Abs. 1, Abs. 2 BGB) sind antragsbefugt die Mutter, das Kind und der (rechtliche) Vater. Demgegenüber fehlt dem Mann, der behauptet, der leibliche Vater des Kindes zu sein, die Antragsbefugnis, da ihm kein Anspruch auf Mitwirkung an der Klärung der genetischen Abstammung zustehen kann3. 2. Verfahrensfähigkeit Der Antrag ist nur wirksam gestellt, wenn der Antragsteller verfahrensfähig ist oder bei Antragstellung wirksam vertreten wurde.
1 Staudinger/Rauscher, § 1600 BGB Rn. 89 und Rn. 67, 71; wie hier MüKo/Wellenhofer, § 1600 BGB Rn. 33; Erman/Hammermann, § 1600 BGB Rn. 26, jeweils mit dem Vorschlag, die Anerkennung in den Fällen der künstlichen Befruchtung durch heterologe Insemination schon präkonzeptionell zuzulassen. 2 Vgl. Staudinger/Rauscher, § 1600 BGB Rn. 80 ff. 3 Prütting/Helms/Stößer, § 171 FamFG Rn. 8, 9; s. auch oben Rn. 209.
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Kap. 3 B Rn. 235
Verfahren in Abstammungssachen
a) Grundsatz 235
Die Verfahrensfähigkeit folgt grundsätzlich aus der Geschäftsfähigkeit (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 FamFG). In Abstammungssachen gilt dies auch für das Kind. Zwar sieht § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG vor, dass Kinder, die beschränkt geschäftsfähig sind und das 14. Lebensjahr vollendet haben, in einem Verfahren, das ihre Person betrifft, verfahrensfähig sind. Diese Vorschrift ist jedoch nach ganz überwiegender Ansicht nur auf Kindschaftssachen gem. § 151 FamFG anwendbar1.
236
Hinsichtlich der Anfechtung der Vaterschaft ist jedoch wie folgt zu differenzieren: Fechten der Vater oder die Mutter an und sind diese in der Geschäftsfähigkeit beschränkt (zB erst 16 Jahre alt), so können sie die Anfechtung grundsätzlich nur selbst erklären und bedürfen hierfür nicht der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters (§ 1600a Abs. 2 BGB). Da die Anfechtung durch Antrag bei Gericht zu erklären ist, können sie also den Antrag selber stellen. Ficht demgegenüber das minderjährige, beschränkt geschäftsfähige Kind an, ist der Antrag des gesetzlichen Vertreters erforderlich; das Kind selbst kann keinen entsprechenden Antrag stellen (§ 1600a Abs. 3 BGB). Hinsichtlich der Feststellung der Vaterschaft werden der minderjährige Vater bzw. die minderjährige Mutter idR durch beide Eltern als gesetzliche Vertreter vertreten (§ 9 Abs. 2 FamFG, 1629 BGB). Zu Interessenkollisionen im Sinn des § 1795 BGB kann es zwischen den Eltern und deren gesetzlichen Vertretern (also den Großeltern des Kindes) nicht kommen, da letztere an dem statusrechtlichen Abstammungsverhältnis nicht beteiligt sind und das Verfahren der §§ 169 ff. FamFG kein kontradiktorisches Verfahren im Sinn des § 1795 BGB bildet. b) Vertretung nicht verfahrensfähiger Kinder
237
Die Vertretung nicht verfahrensfähiger Kinder richtet sich nach §§ 9 Abs. 2, 173 FamFG.
238
In Verfahren wegen Feststellung der Vaterschaft kann das Kind durch das Jugendamt als Beistand vertreten werden (§ 1712 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Die Beistandschaft tritt ein, sobald die allein sorgeberechtigte Mutter dies bei dem zuständigen Jugendamt beantragt hat (§ 1714 BGB). Übt die Mutter gemeinsam mit dem Vater die Sorge aus, kann der Elternteil den Antrag stellen, bei dem sich das Kind in Obhut befindet. Wird das Kind durch das Jugendamt als Beistand vertreten, sind die Eltern von der gesetzlichen Vertretung des Kindes in dem Verfahren ausgeschlossen (§ 173 FamFG).
1 Prütting/Helms/Prütting, § 9 FamFG Rn. 14; Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 224; Keidel/Engelhardt, § 172 FamFG Rn. 2.
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Verfahren in Abstammungssachen
Û
Rn. 239
Kap. 3 B
Praxistipp: Die Beistandschaft ist kostenlos. Sie stellt daher für die (werdende) Mutter die Möglichkeit dar, mit dem geringsten Aufwand die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft sowie die Verpflichtung des – glaublichen – Vaters, Unterhalt zu leisten, durchzusetzen. IdR wird das Jugendamt für das Kind VKH beantragen, so dass die Kosten eines abstammungsbiologischen Gutachtens nicht vorzustrecken sind. Das Jugendamt kann weiterhin auch Unterhaltsansprüche des Kindes gem. § 237 FamFG geltend machen. Es kann auch der Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt werden (§ 248 FamFG). Unterhalt durch einstweilige Anordnung kann durch den Beistand auch schon vor der Geburt des Kindes geltend gemacht werden (§ 247 FamFG). Wird die Beistandschaft schon vor der Geburt des Kindes beantragt, kann den Antrag auch eine minderjährige Mutter stellen (§ 1713 Abs. 2 BGB)
Wird das Kind nicht durch einen Beistand vertreten, wird es grundsätz- 239 lich durch beide Eltern als gesetzliche Vertreter vertreten (§ 9 Abs. 2 FamFG). Problematisch hierbei ist, dass auch die Eltern an dem Abstammungsverfahren beteiligt sind (§ 172 FamFG). Es ist daher strittig, ob für das Verfahren gem. §§ 1629 Abs. 2, 1795 BGB für das Kind ein Ergänzungspfleger zu bestellen ist. Nach der bisher h.M. haben die Eltern zwar gemeinsam die Sorge für das minderjährige Kind hinsichtlich der Frage auszuüben, ob ein Verfahren zur Anfechtung oder Feststellung der Vaterschaft eingeleitet werden soll. Wurde ein entsprechendes Verfahren eingeleitet, ist man allerdings davon ausgegangen, dass in diesem Verfahren für das Kind ein Ergänzungspfleger zu bestellen ist1. Demgegenüber ist das Abstammungsverfahren seit dem 1.9.2009 ein Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Dieses unterscheidet sich grundlegend von einem Rechtsstreit im Sinn des § 1795 Abs. 1 Nr. 3 BGB. Es fehlt an dem für einen Rechtsstreit typischen Zweipersonenverhältnis, in dem eine Rechtsfrage streitig zu klären ist. Der Antrag ist nicht gegen einen Antragsgegner zu richten, vielmehr hat er lediglich die Bedeutung einer Verfahrensvoraussetzung. Unter Hinzuziehung der an dem Abstammungsrechtsverhältnis potentiell Beteiligten (Mutter, Vater, Kind) ist sodann die Abstammung zu klären. Hierfür gilt – mit Einschränkungen, § 177 FamFG – der Grundsatz der Amtsermittlung (§ 26 FamFG). Dementsprechend ist davon auszugehen, dass das Kind auch im gerichtlichen Verfahren durch Mutter (und Vater) vertreten wird. Kommt es zu einem Interessengegensatz, ist dem dadurch Rechnung zu tragen, dass dem Kind ein Verfahrensbeistand bestellt wird (§ 174 FamFG). Dies entspricht der neuesten Rechtsprechung zum Verfahren in Kindschaftssachen2. Demgegen1 S. hierzu Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 225 ff.; BGH v. 18.2.2009 – XII ZR 156/07, FamRZ 2009, 861 = FamRB 2009, 206; OLG Hamburg v. 4.6.2010 – 12 UF 224/09, FamRZ 2010, 1825. 2 Vgl. BGH v. 7.9.2011 – XII ZB 12/11, FamRZ 2011, 1788 = FamRB 2011, 371; Schulte-Bunert/Weinreich/Schwonberg, § 172 FamFG Rn. 11.
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Kap. 3 B Rn. 240
Verfahren in Abstammungssachen
über geht ein Teil des Schrifttums davon aus, dass sich durch die Umstellung des Verfahrensrechts von einem Klageverfahren (§§ 640 ff. aF ZPO) in ein Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit an der Notwendigkeit der Bestellung eines Ergänzungspflegers nichts geändert habe1. 240
Geht es um die Anfechtung der Vaterschaft, kann das Gericht einem Elternteil auch die Vertretungsmacht gem. § 1629 Abs. 2 S. 3, 1796 BGB entziehen und einen Ergänzungspfleger bestellen. Diese Möglichkeit besteht aber nicht in einem Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft (§ 1629 Abs. 2 S. 3 BGB).
241
Schließlich können die Eltern das Kind im Verfahren wegen Anfechtung der Vaterschaft nur vertreten, wenn dies dem Wohl des Kindes dient (§ 1600a Abs. 4 BGB). Hierfür ist eine umfassende Prüfung aller in Betracht kommenden Gesichtspunkte durchzuführen. Neben wirtschaftlichen und finanziellen Gesichtspunkten ist auch zu berücksichtigen, welche Auswirkungen das Verfahren auf die Identitätsfindung des Kindes haben wird, inwieweit die Beziehung des Kindes zur Mutter durch das Verfahren belastet wird und welche Auswirkungen das Verfahren auf sonstige Bindungen und Beziehungen des Kindes zu Geschwistern, anderen Verwandten, aber auch auf seine sonstigen sozialen Beziehungen haben wird2.
242
In einem Verfahren wegen Klärung der genetischen Abstammung sind die Eltern von der gesetzlichen Vertretung ausgeschlossen (§ 1629 Abs. 2a BGB). In diesen Verfahren ist dem minderjährigen Kind daher zwingend ein Ergänzungspfleger zu bestellen3.
243
Für das Verfahren besteht kein Anwaltszwang (§§ 114 Abs. 1, 10 FamFG). Der Antrag ist also auch zulässig, wenn er nicht durch einen Anwalt gestellt wird. Anwaltszwang besteht jedoch, wenn der Vater gleichzeitig auf Zahlung von Unterhalt gem. §§ 179, 237 FamFG in Anspruch genommen wird. In diesem Fall beschränkt sich der Anwaltszwang allerdings auf den Unterhaltsanspruch4. 3. Inhalt des Antrags
244
Die inhaltlichen Anforderungen an den Antrag ergeben sich aus §§ 23, 171 Abs. 2 FamFG. Danach soll der Antrag die folgenden Angaben enthalten:
1 Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 233; Prütting/Helms/Stößer, § 172 FamFG Rn. 4–6; die Frage, ob der Entscheidung auch für Abstammungssachen zu folgen ist, offenlassend Stößer, Anm. zu BGH v. 7.9.2011 – XII ZB 12/11, FamRZ 2011, 1859. 2 Wanitzek, FPR 2002, 390. 3 Erman/Michalski/Döll, § 1629 BGB Rn. 17a. 4 Vgl. Haußleiter/Fest, § 179 FamFG Rn. 9.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 249
Kap. 3 B
– das Verfahrensziel, – die Personen, die als Beteiligte in Betracht kommen, – die Tatsachen, auf die der Antrag gestützt wird, sowie die hierfür zugänglichen Beweismittel. Mängel werden zwar kaum zur Unzulässigkeit des Antrags führen, da 245 dieser nur verfahrenseinleitende Funktion hat, jedoch wird das Familiengericht auf einer Ergänzung bestehen, was zumindest zu zeitlichen Nachteilen führen kann (§§ 28 Abs. 1, 2 FamFG). Die Einzelheiten werden nachstehend gesondert für das Verfahren wegen 246 Feststellung der Vaterschaft, wegen Anfechtung der Vaterschaft und wegen Klärung der genetischen Abstammung dargestellt. a) Verfahren wegen Feststellung der Vaterschaft aa) Verfahrensziel Das Verfahrensziel sollte sich aus der Antragstellung ergeben. Im Hinblick darauf, dass ein fG-Verfahren vorliegt, das keinen Antragsgegner kennt, aber auch weil das Antragsmuster so verständlicher für die Beteiligten ist und unabhängig von der Frage, wer den Antrag stellt, genutzt werden kann, wird hier folgende Formulierung vorgeschlagen:
247
1. Es wird festgestellt, dass N.N., geb. am … in …, wohnhaft …, deutscher (anderer) Staatsangehöriger Vater des Kindes K.K., geb. am … in …, wohnhaft …, vertreten durch die Mutter M.M. … ist. 2. ggf.: N.N. trägt die Kosten des Verfahrens. 3. Der Verfahrenswert wird festgesetzt auf 2000 Euro.
Im Einzelnen: – Geht es ausnahmsweise um die Feststellung der Mutter, kann Nr. 1 248 des Formulierungsvorschlags entsprechend verwendet werden. Die Angaben zu den Personen dienen dazu, eine eindeutige Identifikation der Beteiligten zu ermöglichen. Weiterhin folgt aus der Staatsangehörigkeit auch die internationale Zuständigkeit, aus den Angaben zum gewöhnlichen Aufenthalt die örtliche Zuständigkeit. – Es empfiehlt sich, hinsichtlich der Kosten einen Antrag zu stellen 249 (Nr. 2 des Formulierungsvorschlags). Hinsichtlich der Feststellung der Vaterschaft enthalten die §§ 169–185 FamFG keine Sondervorschriften. Es gilt daher § 81 Abs. 1 FamFG. Demnach ist über die Kosten nach billigem Ermessen zu entscheiden. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, inwieweit ein Beteiligter das Verfahren veranlasst hat (§ 81 Abs. 2 Nr. 1 FamFG). Vor allem dann, wenn bereits außergerichtlich Siede
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Kap. 3 B Rn. 250
Verfahren in Abstammungssachen
ein zuverlässiges Sachverständigengutachten zur Frage der Vaterschaft eingeholt wurde und sich der dort festgestellte Mann gleichwohl weigert, die Vaterschaft anzuerkennen, können ihm die Kosten des Verfahrens auferlegt werden (§ 81 Abs. 1 Nr. 1 FamFG)1. Dem minderjährigen Kind sollten keine Kosten auferlegt werden (§ 81 Abs. 3 FamFG)2. Hat der Antrag Erfolg, wird es im Übrigen häufig billigem Ermessen entsprechen, wenn jeder Beteiligte seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt und die Gerichtskosten zwischen Mutter und Vater gequotelt werden3. Wird er mangels Vaterschaft des Mannes abgewiesen, werden dagegen idR die Gerichtskosten dem Antragsteller aufzuerlegen sein. Wird ein entsprechender Antrag gestellt, ist das Gericht gehalten, in der Entscheidung zu begründen, wie es sein Ermessen hinsichtlich der Kostenentscheidung ausgeübt hat. Dies ermöglicht ggf. auch die Überprüfung der Ausübung des Ermessens im Beschwerdeverfahren4. 250
– Die Festsetzung des Verfahrenswerts (Nr. 3 des Formulierungsvorschlags) beruht auf § 47 FamGKG. Es gilt für den Antrag auf Feststellung der Vater-(Mutter-)schaft ein Regelwert von 2000.- Euro. Ist der Wert unbillig, kann er aber auch höher oder niedriger angesetzt werden (§ 47 Abs. 2 FamGKG). Dies kommt etwa in Betracht, wenn der Mann, dessen Vaterschaft festgestellt werden soll, über erhebliches Vermögen verfügt5. Dann könnte zB der Wert iHv. 25 % des Reinvermögens angesetzt werden.
251
Ist der Vater bereits vor Antragstellung verstorben, empfiehlt es sich, Nr. 1 wie folgt zu formulieren: 1. Es wird festgestellt, dass der am … in … verstorbene N.N., geb. am … in …, zuletzt wohnhaft …, deutscher (anderer) Staatsangehöriger, Vater des Kindes K.K., geb. am … in …, wohnhaft …, vertreten durch die Mutter M.M. … ist. 2. …
bb) Beteiligte 252
In dem Antrag sollen die Personen angegeben werden, die als Beteiligte in Betracht kommen (§§ 171 Abs. 2 S. 1, 23 Abs. 1 S. 1 FamFG). Dies sind – 1 OLG München v. 29.11.2010 – 16 UF 1411/10, FamRZ 2011, 923. 2 Es ist str., ob diese Vorschrift auch auf Abstammungssachen anwendbar ist, vgl. Helms/Kieninger/Rittner/Kieniger, Rn. 275; Schulte-Bunert/Weinreich/Keske, § 183 FamFG Rn. 6; ähnliches Ergebnis aus Billigkeitsgründen FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 3.352. 3 Vgl. OLG Düsseldorf v. 11.10.2010 – 1 WF 133/10, JAmt 2010, 497. 4 Die Kostenentscheidung ist isoliert anfechtbar, s. OLG Düsseldorf v. 11.10.2010 – II-1 WF 133/10, JAmt 2010, 497. 5 Vgl. Prütting/Helms/Klüsener, § 47 FamGKG Rn. 4.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 255
Kap. 3 B
abgesehen vom Antragsteller – im Feststellungsverfahren der Mann, der mit der Mutter während der Empfängniszeit geschlechtlichen Kontakt gehabt hat, die Mutter und das Kind. Als Beteiligte sind alle Personen hinzuzuziehen, auf deren Rechtsstellung sich das Verfahren unmittelbar auswirken kann (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG). Hat die Mutter während der Empfängniszeit mit mehreren Männern Kontakt gehabt, sind daher auch diese anzugeben, da auch gegen diese die Feststellung wirkt (§ 184 FamFG). Das Gericht hat weiteren Personen, die als Beteiligte in Betracht kommen, den Antrag zwar nur zu übermitteln, wenn diese bekannt sind (§ 7 Abs. 4 FamFG). Diese Vorschrift begrenzt aber nur den Ermittlungsauftrag für das Gericht, entlastet mithin den Antragsteller nicht, alle Personen mit Namen und Anschriften mitzuteilen, die als Beteiligte in Betracht kommen. Nicht zu beteiligen sind Personen, die nur ein mittelbares oder wirt- 253 schaftliches Interesse am Ausgang des Verfahrens haben. Sind jedoch der Vater oder das Kind verstorben, sind die nächsten Angehörigen des Verstorbenen zu beteiligen (Ehefrau, Abkömmlinge, Eltern)1. Aus Gründen der Übersichtlichkeit empfiehlt es sich, die weiteren Beteiligten zwischen dem Rubrum und den Anträgen aufzulisten und dann in den Gründen des Antrags deren Rechtsstellung kurz darzustellen.
254
cc) Tatsachen und Beweismittel Hinsichtlich der anzugebenden Tatsachen und Beweismittel enthält 255 § 171 FamFG keine besonderen Vorschriften. Daher richtet sich nach § 23 Abs. 1 FamFG, welche Tatsachen und Beweismittel in die Begründung des Antrags aufzunehmen sind. Es empfiehlt sich, die Gründe des Antrags wie folgt aufzubauen: – Statustatsachen: Name, Aufenthalt, Geburtstag und Geburtsort, Staatsangehörigkeit sowie Mutter des Kindes. Zum Beweis sollte eine Abschrift der Geburtsurkunde des Kindes zur Akte gereicht werden; – Familienstand der Mutter. War diese zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes verheiratet, sollte auch eine Abschrift der Entscheidung über die Anfechtung der Vaterschaft des Ehemannes beigelegt werden; – Angaben, ob die Vaterschaft durch einen Mann anerkannt wurde; – Berechnung der Empfängniszeit (§ 1600d Abs. 3 BGB; Angaben, welcher Mann/welche Männer (Namen und Anschriften) während dieser Zeit der Mutter beigewohnt hat/haben; bei heterologer künstlicher Insemination, von welchem Mann die Samenspende stammt, die fortpflanzungsmedizinisch verwendet wurde; – vorgerichtliche Korrespondenz; ggf. Anerkennung oder Einholung eines privaten Vaterschaftsgutachtens (kann sich vor allem auf die Kos1 Prütting/Helms/Stößer, § 172 FamFG Rn. 11.
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Kap. 3 B Rn. 256
Verfahren in Abstammungssachen
tenentscheidung auswirken); ggf. Angaben, ob einer Verwertung des Gutachtens gem. § 177 Abs. 2 FamFG zugestimmt wird; – sofern von dem Regelwert für den Verfahrenswert abgewichen werden soll: Angaben zum Vermögen des Kindes/des Mannes; – Unterschrift. b) Verfahren wegen Anfechtung der Vaterschaft aa) Verfahrensziel 256
Auch die Anfechtung der Vaterschaft ist auf eine gerichtliche Feststellung gerichtet. Hinsichtlich der Anfechtung der Vaterschaft ist zu unterscheiden, ob der leibliche Vater (oder ein anderer zur Anfechtung der Vaterschaft Berechtigter) die bestehende statusrechtliche Vaterschaft eines anderen Mannes anficht (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Wird die Vaterschaft angefochten, empfiehlt es sich, folgende Anträge zu stellen: 1. Es wird festgestellt, dass N.N., wohnhaft …, geb. am … in …, deutscher Staatsangehöriger nicht der Vater des Kindes K.K., gesetzlich vertreten durch …, geb. am … in …, wohnhaft …, deutscher Staatsangehöriger ist. 2. Nur im Fall des § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB (Anfechtung der Vaterschaft durch den leiblichen Vater): Es wird festgestellt, dass M.M. (leiblicher Vater), geb. am … in …, wohnhaft …, deutscher Staatsangehöriger Vater des Kindes K.K. ist. 3. Die Beteiligten N.N., M.M., … mit Ausnahme des Kindes K.K. tragen die Gerichtskosten zu je … (gleiche Teile). Im Übrigen tragen die Beteiligten die außergerichtlichen Kosten selbst. 4. Der Verfahrenswert wird festgesetzt auf 2000 Euro.
257
Im Einzelnen: Anders als der Wortlaut des § 1600 BGB nahelegt, erfolgt auch die Anfechtung der Vaterschaft durch (negativen) Feststellungsantrag (Nr. 1 des Formulierungsvorschlags). In den Antrag sind alle Details aufzunehmen, die eine sichere Identifikation der Beteiligten ermöglichen und aus denen sich die internationale und örtliche Zuständigkeit ergibt. Ist der Mann vor Antragstellung verstorben, steht dies der Anfechtung durch das Kind, die Mutter oder den leiblichen Vater nicht entgegen. Allerdings steht den Erben oder Angehörigen des Mannes kein Anfechtungsrecht zu1. Der Antrag könnte in diesem Fall lauten:
1 Erman/Hammermann, § 1600 BGB Rn. 1a.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 260
Kap. 3 B
Es wird festgestellt, dass der am … in … verstorbene N.N., zuletzt wohnhaft …, geb. am … in …, deutscher Staatsangehöriger, nicht der Vater des Kindes K.K., gesetzlich vertreten durch …, geb. am … in …, wohnhaft …, deutscher Staatsangehöriger ist.
War das Kind bereits vor Antragstellung verstorben, würde der Antrag lauten:
258
Es wird festgestellt, dass N.N., wohnhaft …, geb. am … in …, deutscher Staatsangehöriger nicht der Vater des am … in … verstorbenen Kindes K.K., gesetzlich vertreten durch …, geb. am … in …, zuletzt wohnhaft …, deutscher Staatsangehöriger, ist.
– Ficht der leibliche Vater die Vaterschaft eines anderen Mannes auf- 259 grund Ehe oder Anerkennung an (Nr. 2 des Formulierungsvorschlags), hat er damit nur Erfolg, wenn er der leibliche Vater des Kindes ist (§ 1600 Abs. 2 BGB). Dies ist in der Entscheidung auch von Amts wegen festzustellen (§ 182 Abs. 1 S. 2 FamFG). Der Antrag ist entsprechend ergänzt. – Die Kostenentscheidung (Nr. 3 des Formulierungsvorschlags) bei er- 260 folgreicher Anfechtung der Vaterschaft ist zwingend in § 183 FamFG geregelt. Demnach tragen die Beteiligten mit Ausnahme des minderjährigen Kindes in diesem Fall die Gerichtskosten zu gleichen Teilen. Die außergerichtlichen Kosten tragen die Beteiligten (und zwar auch das minderjährige Kind) selbst. Hat die Mutter die Vaterschaft hinsichtlich eines minderjährigen Kindes erfolgreich angefochten, würde die Kostenentscheidung also lauten: Die Gerichtskosten tragen die … (Mutter) und der … (Vater) zu je 1/2. Im Übrigen tragen die Beteiligten ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Û
Praxistipp: Um das Kind von außergerichtlichen Kosten freizuhalten, sollte daher das Mandat nur auf den Elternteil, bei dem das Kind lebt, beschränkt werden. Die Kostenregelung gilt auch, wenn während des Getrenntlebens zwischen den Beteiligten völlig unstreitig ein Dritter der Mutter beigewohnt hat. In diesem Fall gehören die Verfahrenskosten zu den Kosten, die gem. § 1607 Abs. 2 BGB auf den Ehemann als Scheinvater übergehen1.
1 Erman/Hammermann, § 1607 BGB Rn. 28.
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Kap. 3 B Rn. 261
Verfahren in Abstammungssachen
Hat die Anfechtung der Vaterschaft keinen Erfolg, richtet sich die Kostenentscheidung nach § 81 Abs. 1 FamFG. IdR wird es billigem Ermessen entsprechen, die Kosten dem Antragsteller aufzuerlegen. 261
– zur Bemessung des Verfahrenswerts (Nr. 4 des Formulierungsvorschlags) s.o. Rn. 250. bb) Beteiligte
262
Auch in diesem Verfahren richtet sich die Beteiligung nach §§ 172, 7 FamFG. Als Beteiligte sind neben dem Antragsteller (§ 7 Abs. 1 FamFG) der Vater, die Mutter und das Kind anzugeben (§ 172 FamFG). Die Anfechtung durch den statusrechtlichen Vater gem. § 1600 Abs. 1 Nr. 1 BGB, die Mutter oder das Kind wirkt sich nicht unmittelbar auf die Rechtsstellung des leiblichen Vaters aus1. Ficht demgegenüber der biologische Vater die Vaterschaft des Mannes, der kraft Anerkennung oder Ehe Vater ist, an, sind auch der statusrechtliche Vater und alle anderen Männer, die der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt haben, als Beteiligte zu nennen; denn die Anfechtung durch den leiblichen Vater führt zur Feststellung der Vaterschaft des Anfechtenden. Diese Entscheidung wirkt sich unmittelbar auf die Rechtsstellung sowohl des statusrechtlichen Vaters als auch aller anderen, die als leibliche Väter in Betracht kommen, aus2.
263
Auch hier sind die Personen, die neben dem Antragsteller als Beteiligte in Betracht kommen, mit Namen und ladungsfähiger Anschrift – am besten zwischen Rubrum und Anträgen – zu benennen. cc) Tatsachen und Beweismittel
264
Hinsichtlich der Tatsachen und Beweismittel enthält § 171 Abs. 2 FamFG für die Anfechtung der Vaterschaft über § 23 FamFG hinausgehende Vorschriften. Grundsätzlich sind auch im Fall der Anfechtung der Vaterschaft zunächst die Statustatsachen wiederzugeben: – Geburtstag und Geburtsort des Kindes; Eltern des Kindes; Staatsangehörigkeit des Kindes; Nachweis durch Geburtsurkunde; – Familienstand der Mutter bei Geburt des Kindes, ggf. Nachweis durch Heiratsurkunde und mit Rechtskraftvermerk versehene Abschrift des Scheidungsbeschlusses; bei Anerkennung der Vaterschaft Auszug aus dem Geburtsregister, dem sich die Anerkennung und Zustimmung zur Anerkennung der Vaterschaft entnehmen lassen.
1 Prütting/Helms/Stößer, § 172 FamFG Rn. 8; BGH v. 4.7.2007 – XII ZB 68/04, FamRZ 2007, 1731 = FamRB 2007, 297. 2 BGH v. 4.7.2007 – XII ZB 68/04, FamRZ 2007, 1731 = FamRB 2007, 297.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 269
Kap. 3 B
Weiterhin sind die Tatsachen anzugeben, auf die die Anfechtung gestützt wird:
265
– Schlüssigkeitsvoraussetzung der Anfechtung der Vaterschaft durch den 266 statusrechtlichen oder den leiblichen Vater, die Mutter oder das Kind ist, dass ein Anfangsverdacht besteht, dass der statusrechtliche Vater nicht der leibliche Vater des Kindes ist (s. oben Rn. 119)1. Diese Tatsachen sind in dem Antrag zu nennen und unter Beweis zu stellen (§ 171 Abs. 2 S. 2 FamFG). Keine geeignete Tatsache ist insoweit das Ergebnis eines anonym durchgeführten Vaterschaftstests; denn dieser ist nicht verwertbar (s. oben Rn. 113)2. Demgegenüber wird ein einverständlich eingeholtes Privatgutachten regelmäßig den Anfangsverdacht begründen können, ebenfalls ein Gutachten, das aufgrund eines Verfahrens zur Klärung der genetischen Abstammung eingeholt wurde. In dem Antrag ist dieses Gutachten zur Vorlage zu bringen (§ 23 Abs. 2 FamFG). – Begründetheitsvoraussetzung ist die Wahrung der Anfechtungsfrist 267 (§ 1600b BGB). Daher ist schon in der Antragsschrift mitzuteilen, wann der Antragsteller von den gegen die Vaterschaft des statusrechtlichen Vaters sprechenden Umständen Kenntnis erlangt hat (§ 172 Abs. 2 S. 2 FamFG). Auch diese Behauptungen sind unter Beweis zu stellen (§ 23 Abs. 2 FamFG). Für die Anfechtung durch die Behörde ist die die Zulässigkeit des Antrags betreffende Sondervorschrift des § 172 Abs. 2 S. 3 FamFG zu beachten. – Ficht der leibliche Vater die Vaterschaft des Ehemannes oder Vaters kraft Anerkennung an, hat er an Eides statt zu versichern, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Die Empfängniszeit berechnet sich nach § 1600d Abs. 3 BGB. Schließlich hat der leibliche Vater auch anzugeben, wer ggf. neben ihm noch als Vater des Kindes in Betracht kommt.
268
– Weiterhin hat der leibliche Vater die Tatsachen vorzutragen und zu beweisen, aus denen sich ergibt, dass zwischen dem statusrechtlichen Vater und dem Kind keine sozial-familiäre Beziehung (mehr) besteht oder im Zeitpunkt des Todes des statusrechtlichen Vaters bestanden hat. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass er vorträgt, dass die Mutter und der Vater nie zusammengelebt haben und sich die Kontakte des rechtlichen Vaters auf sporadische Besuchskontakte beschränkt haben oder dass sich die Mutter und der statusrechtliche Vater getrennt haben, das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei der Mutter genommen hat und der Vater seit der Trennung den Kontakt zum Kind nicht (mehr) pflegt3.
269
1 Erman/Hammermann, § 1599 BGB Rn. 9. 2 BGH v. 12.1.2005 – XII ZR 227/03, FamRZ 2005, 340 = FamRB 2005, 132, sowie Prütting/Helms/Stößer, § 171 FamFG Rn. 17. 3 Vgl. hierzu auch BGH v. 6.12.2006 – XII ZR 164/04, FamRZ 2007, 538 = FamRB 2007, 135.
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Kap. 3 B Rn. 270
Verfahren in Abstammungssachen
270
– Ficht die Behörde an, hat sie ebenfalls das Fehlen einer sozial-familiären Beziehung zwischen dem statusrechtlichen Vater und dem Kind darzulegen. Insoweit hat sie auch darzulegen, dass zum Zeitpunkt der Anerkennung keine sozial-familiäre Beziehung bestand. Weiterhin hat sie darzulegen, dass die Anerkennung nur erfolgt ist, um dem Kind oder einem Elternteil die ansonsten rechtswidrige Einreise oder einen ansonsten rechtswidrigen Aufenthalt im Inland zu ermöglichen.
271
– Bei Anfechtung durch den gesetzlichen Vertreter eines Minderjährigen: Gesichtspunkte, dass die Anfechtung dem Kindeswohl entspricht (§ 1600a Abs. 4 BGB). c) Verfahren zur Klärung der genetischen Abstammung
272
Für diese Verfahren enthält § 171 FamFG keine Sondervorschriften. Allerdings ist zu beachten, dass Eltern in diesem Verfahren ihr minderjähriges Kind nicht vertreten können (§ 1629 Abs. 2a BGB). aa) Verfahrensziel
273
Ist ein minderjähriges Kind beteiligt, ist für dieses von Amts wegen ein Ergänzungspfleger zu bestellen. Dies kann zur Verfahrensbeschleunigung auch beantragt werden. Das Verfahren selbst zielt nur auf die Mitwirkung an einer abstammungsgenetischen Untersuchung ab, die Untersuchung wird aber nicht durch das Gericht, sondern ist durch den Feststellungsberechtigten selbst in Auftrag zu geben. Der Antrag zur Einleitung des Verfahrens könnte formuliert werden wie folgt: In dem Verfahren … (Antragsteller) weitere Beteiligte: … (Mutter) … (Kind), vertreten durch einen noch durch das Gericht zu bestellenden Ergänzungspfleger zeige ich die Vertretung des Antragstellers an. Namens und in Vollmacht des Antragstellers beantrage ich: 1. Für das Kind … einen Ergänzungspfleger zu bestellen, da die Eltern … und … von der Vertretung des Kindes in dem Verfahren gem. § 1629 Abs. 2a BGB ausgeschlossen sind. 2. Sodann: a) Die Einwilligung der Mutter … und des Kindes … in die Durchführung einer genetischen Abstammungsuntersuchung wird ersetzt.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 277
Kap. 3 B
b) Die Mutter … und das Kind … werden verpflichtet, nach näherer Weisung durch den behandelnden Arzt die Entnahme einer für die genetische Untersuchung geeigneten Probe (Blutprobe und/oder Abstrich der Mundschleimhaut) zu dulden. Die Probe ist nach den anerkannten Grundsätzen der Wissenschaft zu entnehmen. Zum Zweck der Entnahme der Probe haben die Mutter … und das Kind … mit ihrem Hausarzt … auf Verlangen des Antragstellers einen Termin zu vereinbaren und wahrzunehmen. c) Der Mutter … wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die Duldungspflicht gem. b) ein Ordnungsgeld bis zur Höhe von 250 000 Euro bzw. Ordnungshaft bis zur Dauer von sechs Monaten angedroht. d) Die Kosten des Verfahrens werden der Mutter auferlegt. e) Der Verfahrenswert wird auf 1000 Euro festgesetzt.
Im Einzelnen: – Die Ersetzung der Einwilligung (Nr. 2a des Formulierungsvorschlags) er- 274 möglicht die Untersuchung (§ 17 Abs. 7 GenDG), s. auch oben Rn. 182. – Es ist umstritten, ob aus medizinischen Gründen auch die Entnahme 275 von Untersuchungsmaterial der Mutter erforderlich ist. Weiterhin soll nach den Richtlinien der Abstammungsbegutachtung diese grundsätzlich auf der Basis einer Blutprobe erfolgen. Allerdings haben sich auch Untersuchungen, die auf einem Abstrich aus der Mundschleimhaut beruhen (der weniger belastend ist) als zuverlässig erwiesen. Für den Antragsteller empfiehlt es sich, einen umfassenden Antrag (Nr. 2b des Formulierungsvorschlags) zu stellen, damit er dem von ihm zu beauftragenden Labor das von diesem gewünschte Untersuchungsmaterial zur Verfügung stellen kann (zu Art und Umfang der zu duldenden Untersuchungen s. auch Rn. 180). – Die Vollstreckung (Nr. 2c des Formulierungsvorschlags) richtet sich 276 nach § 95 FamFG. Dieser verweist für die Vollstreckung, die wegen einer unvertretbaren Handlung erfolgt, auf § 888 ZPO. Hierzu gehört es insbesondere, zum Zweck der Untersuchung mit dem Kind die Arztpraxis aufzusuchen. Die Vollstreckung erfolgt durch Zwangsgeld oder Zwangshaft, die nicht anzudrohen sind (§ 888 Abs. 2 ZPO). Darüber hinaus kann die Vollstreckung auch durch unmittelbaren Zwang erfolgen (§ 96a Abs. 2 FamFG). Demgegenüber wird die Verpflichtung zur Duldung der Entnahme der Probe durch die Verhängung von Ordnungsgeld vollstreckt, das anzudrohen ist (§ 890 Abs. 2 ZPO). Die Einwilligung schließlich wird mit Rechtskraft der Entscheidung ersetzt (§§ 95 FamFG, 894 ZPO). – Die Kostenentscheidung (Nr. 3 des Formulierungsvorschlags) erfolgt 277 nach billigem Ermessen (§ 81 Abs. 1 FamFG). Eine grundlose Verweigerung der Einwilligung in eine genetische Abstammungsuntersuchung und die Entnahme der hierfür erforderlichen Proben rechtfertigt es, Siede
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Kap. 3 B Rn. 278
Verfahren in Abstammungssachen
gem. § 81 Abs. 2 Nr. 1 FamFG dem betreffenden Elternteil die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. 278
– Die Festsetzung des Verfahrenswerts beruht auf § 47 Abs. 1 FamGKG (Nr. 4 des Formulierungsvorschlags). bb) Beteiligte
279
An dem Abstammungsklärungsverfahren sind nur der rechtliche Vater gem. § 1592 BGB, die Mutter und das Kind zu beteiligen (§ 1598a Abs. 1 BGB). Dies deckt sich mit § 172 FamFG1. Nicht zu beteiligen ist der (vermutete) biologische Vater. cc) Tatsachen und Beweismittel
280
Da § 1598a BGB an keine weiteren Voraussetzungen geknüpft ist, reicht es aus, die Verwandtschaftsverhältnisse der Beteiligten darzulegen. Ferner ist darzulegen und zu beweisen, dass durch Beteiligte die Einwilligung in die Untersuchung oder die Duldung der Entnahme der Probe verweigert wurde2. Schließlich ist der Antrag zu unterschreiben. 4. Verfahrenskostenvorschuss
281
Abstammungssachen sind Antragsverfahren (§ 171 FamFG). Dementsprechend soll das Gericht das Verfahren nur fördern, wenn der Antragsteller den Vorschuss für das Verfahren eingezahlt hat (§§ 14 Abs. 3, 21 Abs. 1 FamGKG). Dies gilt allerdings dann nicht, wenn der Antrag durch ein minderjähriges Kind gestellt wird (§ 21 Abs. 1 Nr. 3 FamGKG)3. Weiterhin darf ein Verfahrenskostenvorschuss nicht gefordert werden, wenn dem Antragsteller Verfahrenskostenhilfe bewilligt wurde (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG).
282
Liegen die Ausnahmetatbestände nicht vor, ist die Gebühr für das Verfahren im Allgemeinen als Vorschuss einzuzahlen. Diese berechnet sich wie folgt: Nr. 1320 KV (Anlage 1 zu FamGKG)
2 Gebühren
Verfahrenswert gem. § 47 FamGKG
Feststellung/Anfechtung der Vaterschaft: 2000 Euro Sonstige Abstammungssachen (§ 1598a BGB): 1000 Euro
Vorschuss
Feststellung/Anfechtung der Vaterschaft (§§ 169 Nr. 1, 4 FamFG): 146 Euro Sonst: 110 Euro
1 Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 221. 2 FAFamR/Schwarz, Kap. 3 Rn. 247. 3 Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 273.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 285
Kap. 3 B
V. Weiteres Verfahren Das Familiengericht hat die Antragsschrift den übrigen Beteiligten mit- 283 zuteilen (§ 23 Abs. 2 FamFG). Dies gilt auch für Personen, die zum Verfahren hinzuzuziehen sind oder hinzugezogen werden können (§ 7 Abs. 4 FamFG). Sofern Personen zum Verfahren hinzugezogen werden können, sind sie über ihr Antragsrecht zu belehren. In Abstammungssachen hat diese Vorschrift allerdings nur für das Jugendamt Bedeutung (§ 172 Abs. 2 FamFG). Im Übrigen hat das Gericht die Personen gem. § 172 Abs. 1 FamFG sowie die Personen, deren Rechtsstellung durch das Verfahren betroffen wird, hinzuzuziehen (s. oben Rn. 252, 262, 279). Dies erfolgt (meist konkludent) mit Mitteilung der Antragsschrift und Ladung zum Erörterungstermin. Das Jugendamt ist anzuhören, wenn ein Kind minderjährig ist, und die 284 Vaterschaft durch einen Mann angefochten wird, der behauptet, der leibliche Vater des Kindes zu sein, sowie wenn die Vaterschaft durch die zuständige Behörde angefochten wird mit der Begründung, dass die Anerkennung der Vaterschaft nur erfolgt sei, um hierdurch für das Kind oder einen Elternteil eine aufenthaltsrechtlich vorteilhafte Rechtsstellung zu begründen (§ 176 FamFG). Das Jugendamt ist weiter anzuhören, wenn die Anfechtung der Vaterschaft durch einen gesetzlichen Vertreter erfolgt (§ 176 Abs. 1 FamFG). Hintergrund ist, dass die Vertretung nur wirksam ist, wenn die Anfechtung dem Wohl des Kindes entspricht (§ 1600a Abs. 4 BGB). Im Übrigen liegt es im Ermessen des Gerichts, ob es das Jugendamt anhört, wenn ein Beteiligter (das kann auch ein Elternteil sein!) minderjährig ist (§ 176 Abs. 1 S. 2 FamFG). Besteht zwischen einem minderjährigen Beteiligten und einem – ggf. 285 auch gesetzlichen – Vertreter ein Interessengegensatz, hat das Gericht für den minderjährigen Beteiligten einen Verfahrensbeistand zu bestellen (§ 174 FamFG). Dies soll allerdings unterbleiben, wenn der Minderjährige durch einen Rechtsanwalt vertreten ist (§ 158 Abs. 5 FamFG). In diesem Fall sollte durch das Gericht nachgeforscht werden, welche Beziehung im Innenverhältnis zwischen dem Anwalt und den gesetzlichen Vertretern des Kindes besteht. Bestellt das Familiengericht für einen minderjährigen Beteiligten einen Verfahrensbeistand, wird dieser durch die Bestellung auch zum Beteiligten (§ 158 Abs. 3 S. 2 FamFG). Die Bestellung des Verfahrensbeistands erfolgt durch Beschluss. Dieser ist nicht anfechtbar. Der Verfahrensbeistand hat die Interessen des Minderjährigen eigenständig geltend zu machen. Er ist weder gesetzlicher Vertreter des Minderjährigen noch an Weisungen des Minderjährigen oder seiner gesetzlichen Vertreter gebunden1. Führt der Verfahrensbeistand die Verfahrensbeistandschaft be-
1 Näher zur Stellung und Aufgabe des Verfahrensbeistands Röchling, Handbuch Anwalt des Kindes.
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Kap. 3 B Rn. 286
Verfahren in Abstammungssachen
rufsmäßig1, erhält er pro Kind und Verfahren eine pauschale Vergütung iHv. 350 Euro, wenn der Aufgabenkreis durch den gerichtlichen Beschluss auf Gespräche mit den Eltern und sonstigen Kontaktpersonen erweitert wurde, von 550 Euro (§ 158 Abs. 7 FamFG)2. 286
Gleichzeitig mit der Anhörung des Jugendamts und ggf. der Bestellung eines Verfahrensbeistands wird das Gericht idR einen Erörterungstermin ansetzen (§ 175 FamFG). Dieser dient der Sachaufklärung, aber auch der Gewährung rechtlichen Gehörs (§§ 33, 34 FamFG). Weiterhin soll er auch dazu dienen, das Verfahren einvernehmlich zu beenden und zu vermeiden, dass Gutachten eingeholt werden, die nicht erforderlich sind. Daher soll das persönliche Erscheinen der verfahrensfähigen Beteiligten angeordnet werden (§ 175 Abs. 1 S. 2 FamFG).
Û
Praxistipp: Es sollte darauf geachtet werden, dass das persönliche Erscheinen der Beteiligten angeordnet wird, da in diesem Fall der Beteiligte stets Erstattung der Reisekosten zum Termin sowie des Verdienstausfalls oder der Zeitversäumnis (§ 20 JVEG: derzeit 3.- Euro pro Stunde) geltend machen kann3.
1. Feststellung der Vaterschaft 287
Geht es um die Feststellung der Vaterschaft, kann im Rahmen des Erörterungstermins insbesondere geklärt werden, ob der beteiligte Mann der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat. Ergibt sich, dass aus Sicht der Beteiligten kein vernünftiger Zweifel an der Vaterschaft bestehen kann, kann diese zu Protokoll des Gerichts anerkannt werden (§ 180 FamFG). In dem gerichtlichen Vermerk (das ist das „Protokoll“, § 28 Abs. 4 FamFG) sollte die Anerkennung wie folgt festgehalten werden: … Ich (volle Personalien des Vaters mit Namen, Vornamen, Anschrift, Geburtsdatum, Geburtsort, Geburtsurkunde mit Standesamt und Geburtsregisternr., Staatsangehörigkeit, Familienstand, ausgewiesen durch PA/RP, sowie – auf freiwilliger Basis – Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft) erkenne an, der Vater des Kindes … (Personalien wie oben), vertreten durch … (gesetzlicher Vertreter) zu sein. l.d., v. u. g. 1 Dies wird auch regelmäßig der Fall sein, wenn durch das Familiengericht ein Anwalt als Verfahrensbeistand bestellt wird. 2 Dies wird idR erforderlich sein, um bei einem Interessengegensatz zwischen Kind und Eltern zu ermitteln, inwieweit die vom Kind geäußerten Wünsche genuin den Kindeswillen wiedergeben, aber auch um zu bewerten, ob der vom Kind geäußerte Wille seinem wohlverstandenen Interesse entspricht; zur Vergütung s. BGH v. 19.1.2011 – XII ZB 496/10, FamRZ 2011, 468. 3 Vgl. Prütting/Helms/Feskorn, § 80 FamFG Rn. 12, 17.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 289
Kap. 3 B
Zu der oben genannten Anerkennung der Vaterschaft erteile ich als Mutter des o.g. Kindes (volle Personalien, sinngemäß wie für Vater) die Zustimmung. l.d., v. u. g. b.u.v.: Es wird festgestellt, dass die Zustimmung des Kindes sowie weitere Zustimmungen gem. § 1596 BGB nicht erforderlich sind. (dieser Zusatz ist nicht konstitutiv, dient jedoch als Absicherung, dass eventuelle weitere Zustimmungen nicht übersehen werden. Weiterhin wird das Standesamt in diesem Fall die Anerkennung unmittelbar eintragen, § 27 PStG).
Liegen die Voraussetzungen des § 1599 Abs. 2 BGB vor – dies kommt ins- 288 besondere dann in Betracht, wenn nach Anfechtung der Vaterschaft durch den Ehemann, die Mutter oder das Kind das Scheidungsverfahren anhängig geworden ist –, ist auch die Zustimmung des Ehemannes zur Anerkennung durch den leiblichen Vater entsprechend zu protokollieren. In diesem Fall empfiehlt es sich, der Protokollierung der Anerkennung/Zustimmung der Mutter und des Ehemannes folgenden Vorspann hinzuzufügen: 1. Der Beteiligte … (im Folgenden Ehemann genannt) und die Beteiligte … (im Folgenden Mutter genannt) haben am … vor dem Standesbeamten des Standesamts … unter Heiratsregisternr. … die Ehe geschlossen. Am … wurde in … die Mutter von dem Kind … eingetragen im Geburtsregister des Standesamts … Geburtsregisternr. … entbunden. Die Beteiligten … (Ehemann), … (Mutter) und … (leiblicher Vater) sind sich darüber einig, dass während der Empfängniszeit von … bis … allein … (leiblicher Vater) der Mutter beigewohnt hat. Am … hat … (Ehemann oder Mutter) beim Amtsgericht … – Familiengericht- einen Antrag auf Scheidung der oben genannten Ehe eingereicht. Das Verfahren wird unter dem Az. … geführt. Die Scheidung ist noch nicht rechtskräftig/rechtskräftig seit … Zur Vermeidung eines Verfahrens wegen Anfechtung der Vaterschaft soll die Vaterschaft durch … (leiblicher Vater) gem. § 1599 Abs. 2 BGB anerkannt werden. Die Beteiligten geben daher folgende Erklärungen ab: 2. … (w.o., mit der Maßgabe, dass auch der Ehemann eine Zustimmungserklärung abzugeben hat, die inhaltlich der Erklärung der Mutter entspricht)
Liegen die erforderlichen Anerkennungs- und Zustimmungserklärungen vor, sollte noch folgende Erklärung aufgenommen werden: … Alle Beteiligten erklären: Wir wollen das Verfahren beenden.
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289
Kap. 3 B Rn. 290
Verfahren in Abstammungssachen
290
In diesem Fall ist durch das Gericht nur noch über die Kosten zu entscheiden. Die Beendigungserklärung entspricht der übereinstimmenden Erklärung der Erledigung im Zivilprozess (vgl. § 22 Abs. 3 FamFG)1.
291
Schließlich können die Konsequenzen, die sich aus der Feststellung oder der Anerkennung der Vaterschaft ergeben, insbesondere hinsichtlich des Umgangs und des Unterhalts, erörtert und ggf. ebenfalls verglichen werden. 2. Anfechtung der Vaterschaft
292
Geht es um die Anfechtung der Vaterschaft, ist im Erörterungstermin zunächst zu klären, ob die Anfechtung dem Wohl des Vertretenen entspricht, wenn dieser minderjährig ist (§ 1600a Abs. 4 BGB). Meist wird es sich um das Kind handeln. Es wird hierbei das Interesse des Kindes an der Abstammungswahrheit gegen sein Interesse an der Erhaltung der bestehenden sozialen und rechtlichen Vaterschaft abzuwägen sein. In diesem Zusammenhang wird auch zu berücksichtigen sein, inwieweit der soziale Vater gem. § 1685 Abs. 1 BGB weiter Kontakt zum Kind halten will und kann und dies auch durch die Mutter und ggf. den biologischen Vater geduldet und gefördert wird. Meist wird diese Frage mit dem Mitarbeiter des ASD des Jugendamts zu erörtern sein.
293
Hat der leibliche Vater die Vaterschaft angefochten, sollte vor Erstellung eines abstammungsmedizinischen Gutachtens geklärt werden, inwieweit zwischen dem Kind und dem rechtlichen Vater eine sozial-familiäre Beziehung besteht. Entsprechendes gilt, wenn eine Behörde die Vaterschaft anficht mit der Begründung, die Anerkennung des Vaters sei aus ausländerrechtlichen Gründen erfolgt.
294
Schließlich sollte auch vorrangig erörtert werden, ob die Anfechtungsfrist gewahrt ist.
295
Hinsichtlich all dieser Gesichtspunkte ist zu bedenken, dass es für die Beteiligten idR schwierig ist, eine aus sozialen und rechtlichen Gründen aufrecht zu erhaltende Vaterschaft zu akzeptieren, wenn durch Sachverständigengutachten geklärt ist, dass der rechtliche und soziale Vater nicht auch der leibliche Vater des Kindes ist. Außerdem sollten die Beteiligten den Eingriffen, die mit der Erstellung eines abstammungsmedizinischen Gutachtens verbunden sind, nur ausgesetzt werden, wenn im Übrigen auch die rechtlichen Voraussetzungen für die Anfechtung der Vaterschaft vorliegen2. Ergibt sich, dass dies nicht der Fall ist, ist dem Antragsteller Gelegenheit zu geben, gem. § 22 Abs. 1 FamFG seinen Antrag zurückzunehmen. Er bedarf hierfür nicht der Zustimmung der übrigen Beteiligten (Arg. aus § 22 Abs. 1 S. 2 FamFG). 1 Vgl. Prütting/Helms/Ahn-Roth, § 22 FamFG Rn. 17–21. 2 In diesem Sinn auch Prütting/Helms/Stößer, § 175 FamFG Rn. 2 f.
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Siede
Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 297
Kap. 3 B
Die Erörterung kann auch dazu führen, dass zweifelsfrei feststeht, dass 296 das Kind nicht von dem rechtlichen Vater abstammt. Dies kommt zB in Betracht, wenn im Ergebnis der Anhörung davon auszugehen ist, dass ein Kontakt der Mutter mit dem Ehemann während des Getrenntlebens ausgeschlossen ist, während ein Dritter der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat, der auch bereit ist, die Vaterschaft anzuerkennen. Auch in diesem Fall kann von der Erstellung eines Gutachtens abgesehen werden1. In Verfahren zur Klärung der leiblichen Abstammung sind im Rahmen 297 der Erörterung vor allem Gesichtspunkte zu erörtern, die eine Beeinträchtigung des Wohls des Kindes begründen könnten. Hierbei kann vor allem ein Zeitkorridor vereinbart werden, um das Kind schonend auf den Sinn des Verfahrens vorzubereiten. Weiterhin wird zu erörtern sein, welche Auswirkungen der Ausgang des Verfahrens auf die Beziehungen der Beteiligten zum Kind haben soll2. Der Erörterungstermin sollte auch genutzt werden, damit sich die Beteiligten auf die Erstellung des Gutachtens durch ein Labor verständigen, das zertifiziert ist und das Gutachten nach den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Sachverständigen für Abstammungsgutachten 2002/2008 und den Vorgaben des BGH3 erstellt (s. hierzu im Einzelnen unten Rn. 327–332). Nur dann ist gewährleistet, dass das Gutachten uU auch in einem nachfolgenden Abstammungsverfahren gem. § 177 Abs. 2 FamFG herangezogen werden kann. Weiterhin kann ein unrichtiges oder unzuverlässiges Abstammungsgutachten die Beziehungen zwischen den Beteiligten erheblich belasten. Wird die Einwilligung in die Entnahme der Probe erteilt, können die Beteiligten das Verfahren durch übereinstimmende Erklärung beenden (§ 22 Abs. 3 FamFG). Es ist dann nur noch über die Kosten durch Beschluss nach billigem Ermessen zu entscheiden.
Û
Praxistipp: Aus den genannten Gründen sollten „Billigtests“, die häufig im Internet angeboten werden, unter allen Umständen vermieden werden. Hinsichtlich der Kosten kann eine Vereinbarung getroffen werden, nach der diese zwischen den Beteiligten aufgeteilt werden. Beispielsweise kann vereinbart werden, dass, wenn sich aus dem Gutachten ergibt, dass der Ehemann oder Vater kraft Anerkennung nicht der Vater des Kindes ist, die Kosten des Gutachtens hälftig zwischen Mutter und Vater, bzw. wenn der leibliche Vater einbezogen werden kann, hälftig zwischen der Mutter und diesem geteilt werden. Ebenso kann vereinbart werden, dass, wenn der Antrag auf Feststellung der genetischen Vaterschaft Erfolg hat, die Kosten hälftig zwischen Vater und Mutter geteilt werden.
1 S. hierzu Prütting/Helms/Stößer, § 177 FamFG, Rn. 26; Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 241; FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 272. 2 Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 237. 3 BGH v. 3.5.2006 – XII ZR 195/03, FamRZ 2006, 1745 = FamRB 2007, 75.
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Kap. 3 B Rn. 298
Verfahren in Abstammungssachen
3. Beweisaufnahme 298
Kann im Rahmen der Erörterung kein Ergebnis erzielt werden, schließt sich die Beweisaufnahme an. Diese hat im Fall der Feststellung der Vaterschaft sowie der Anfechtung der Vaterschaft förmlich zu erfolgen, während für das Verfahren zur Klärung der leiblichen Abstammung entsprechend dem allgemeinen Grundsatz des § 30 Abs. 1 FamFG formlose Beweisaufnahme ausreicht. Dies bedeutet allerdings nicht, dass auch die Beteiligten nur nach den Vorschriften der Parteivernehmung vernommen werden könnten. Insoweit reicht es vielmehr aus, die Beteiligten im Rahmen der Erörterung formlos zu vernehmen und hierüber einen Vermerk anzufertigen1. Im Übrigen ist der Grundsatz der förmlichen Beweisaufnahme aber zwingend. Dritte, die nicht Beteiligte sind, können daher nicht formlos angehört werden, sondern sind nach den Regeln der ZPO über den Zeugenbeweis zu vernehmen. Soweit die Beweisaufnahme nicht sofort erfolgen kann, ist ein Beweisbeschluss gem. § 358 ZPO mit dem Inhalt des § 359 ZPO erforderlich2.
VI. Ermittlung des Sachverhalts/Darlegungs- und Feststellungslast 1. Grundsatz der Amtsermittlung 299
Abstammungssachen sind Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Für sie gilt daher der Grundsatz der Amtsermittlung (§ 26 FamFG). Demnach hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Es ist hierbei weder an den Vortrag noch die Beweisangebote der Beteiligten gebunden. Es kann seiner Entscheidung also auch Tatsachen zugrunde legen, die von keinem Beteiligten behauptet worden sind. Weiterhin kann es auch Beweismittel in das Verfahren einführen, auf die sich kein Beteiligter berufen hat.
300
Eine Einschränkung gilt für das Verfahren der Anfechtung der Vaterschaft. In diesem Verfahren darf das Gericht Tatsachen, auf die sich kein Beteiligter berufen hat, nur dann der Entscheidung zugrundegelegen, wenn entweder derjenige Beteiligte, der die Vaterschaft anficht, nicht widerspricht, oder wenn sie dazu geeignet sind, die Vaterschaft zu erhalten (§ 177 Abs. 1 FamFG). Weiß das Gericht aus einer anderen Kindschaftssache, dass die Mutter möglicherweise während der Empfängniszeit einen weiteren Partner gehabt hat, kann diese Tatsache nur berücksichtigt werden, wenn der Antragsteller (zB die Mutter) nicht widerspricht. Ist dem Gericht aus einem anderen Verfahren bekannt, dass dem Vater schon bei Geburt des Kindes bestimmte Tatsachen bekannt waren, aufgrund deren er an seiner Vaterschaft zweifeln musste, und sind seitdem mehr als zwei Jahre vergangen, kann das Gericht diese Tatsachen auch dann in das 1 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 263. 2 Schulte-Bunert/Weinreich/Schwonberg, § 177 FamFG Rn. 14.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 303
Kap. 3 B
Verfahren einführen, wenn sich kein Beteiligter auf sie beruft. Hierfür spricht zB, wenn dem Gericht aus einer anderen Kindschaftssache bekannt ist, dass während der Empfängniszeit die Mutter mit dem Mann, der die Vaterschaft anerkannt hat, und einem Dritten in einer Dreier-Beziehung gelebt hat. Auch wenn kein Antrag auf Einholung eines medizinischen Abstam- 301 mungsgutachtens vorliegt, wird das Gericht idR von Amts wegen ein solches Gutachten in Auftrag geben, wenn die sonstigen verfahrens- und materiell-rechtlichen Voraussetzungen vorliegen, die Entscheidung also nur noch von der Frage abhängig ist, ob das Kind biologisch von dem Vater abstammt (Feststellung der Vaterschaft) bzw. dieser nicht der biologische Vater ist (Anfechtung der Vaterschaft). In Feststellungsverfahren wird das Gericht grundsätzlich immer ein me- 302 dizinisches Abstammungsgutachten in Auftrag geben. Auch wenn die Beteiligten übereinstimmend bekundet haben, dass nur der als Putativvater an dem Abstammungsverfahren beteiligte Mann der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat, sollte ein solches Gutachten zur Sicherung der Abstammungswahrheit in Auftrag gegeben werden. Untersuchungen haben ergeben, dass in etwa 10 % bis 15 % der Fälle diese übereinstimmenden Erklärungen falsch waren1. Es entspricht daher pflichtgemäßem Ermessen, dass durch das Familiengericht auch in diesen Fällen ein medizinisches Abstammungsgutachten in Auftrag gegeben wird. Demgegenüber kann in Anfechtungsverfahren leichter von der Einholung 303 eines entsprechenden Gutachtens abgesehen werden; denn es gibt kein öffentliches Interesse daran, dass festgestellt wird, dass der rechtliche Vater nicht der leibliche Vater ist2. Von der Einholung eines Gutachtens kann daher abgesehen werden, wenn der Ehemann vor Stellung des Scheidungsantrags die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes angefochten hat und zwischen ihm, der Mutter und einem Dritten Übereinstimmung besteht, dass nicht der Ehemann, sondern der Dritte der Vater des Kindes ist, und dieser die Bereitschaft erkennen lässt, die Vaterschaft anzuerkennen3. Weiterhin kann von der Einholung eines Gutachtens abgesehen werden, wenn aus sonstigen Gründen offensichtlich ist, dass der rechtliche Vater nicht der leibliche Vater des Kindes ist, etwa wenn er sich während der Empfängniszeit in Strafhaft oder im Ausland befand und zweifelsohne kein geschlechtlicher Kontakt zwischen ihm und der Mutter stattgefunden hat4.
1 Vgl. FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 268. 2 So im Ergebnis Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 241; Wanitzek, FPR 2002, 390. 3 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 272. 4 Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 241; Prütting/Helms/Stößer, § 177 FamFG Rn. 26.
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Kap. 3 B Rn. 304
Verfahren in Abstammungssachen
304
Von der Einholung eines Gutachtens kann auch Abstand genommen werden, wenn bereits einer der Beteiligten ein medizinisches Abstammungsgutachten hat erstellen lassen, die anderen Beteiligten zustimmen und das Gericht keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der in dem Gutachten getroffenen Feststellungen hat (§ 177 Abs. 2 FamFG). Das Gutachten sollte mindestens die Vorgaben erfüllen, die sich aus den Richtlinien des Robert-Koch-Instituts über die Erstellung von Abstammungsgutachten ergeben (s. hierzu unten Rn. 318–321 und 328–332), damit das Gericht von der Einholung eines eigenen Gutachtens absehen kann.
305
Ferner wird das Gericht von der Einholung eines Gutachtens absehen, wenn die Begutachtung nicht durchgeführt werden kann. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn einer Person die Untersuchung nicht zugemutet werden kann und sie sich weigert, eine geeignete Probe zur Verfügung zu stellen (§ 178 Abs. 1 FamFG). Auch ist von der Einholung eines Gutachtens abzusehen, wenn die Untersuchung nicht durchführbar ist. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn ein Beteiligter unbekannten Aufenthalts ist und die Untersuchung auch nicht dadurch ersetzt werden kann, dass von nahen Verwandten, die gem. § 178 Abs. 1 FamFG die Untersuchung ebenfalls dulden müssten, eine Probe entnommen wird1. Auch wenn sich ein Beteiligter, von dem eine Probe zu entnehmen wäre, im Ausland aufhält und sich weigert, an der Untersuchung mitzuwirken, wird idR von der Erstellung eines entsprechenden Gutachtens Abstand zu nehmen sein; denn die meisten Rechtsordnungen kennen keine Grundlage für die zwangsweise Entnahme entsprechenden Materials, so dass auch im Wege der Rechtshilfe keine Probe gewonnen werden kann (s. oben Rn. 70)2. Kann auch von Verwandten des Beteiligten kein geeignetes Material gewonnen werden, wird die unberechtigte Weigerung der Mitwirkung allerdings im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen sein3. Insbesondere, wenn eine Vermutung gem. §§ 1599, 1600d BGB gegen den Beteiligten spricht, wird in diesen Fällen davon auszugehen sein, dass der Beteiligte sie nicht widerlegt hat4. Dass die Beweisvereitelung nachteilig zulasten eines Beteiligten im Rahmen der Feststellungslast gewertet werden kann, setzt stets voraus, dass dieser vorher auf diese Folge hingewiesen wurde5. 2. Darlegungs- und Feststellungslast
306
Die Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen wird ergänzt durch die Verpflichtung der Beteiligten, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken (§ 27 Abs. 1 FamFG). Gerade in Abstammungs1 2 3 4 5
Prütting/Helms/Stößer, § 178 FamFG Rn. 6, 8. Prütting/Helms/Stößer, § 178 FamFG Rn. 16. Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 244, 246. Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 244. Prütting/Helms/Stößer, § 178 FamFG Rn. 15.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 308
Kap. 3 B
sachen hat dies entscheidende Bedeutung, da es hier häufig um Interna einer Familie geht, die durch das Gericht sonst nicht ermittelt werden können. Kommen Beteiligte ihrer Mitwirkungspflicht nicht nach, kann dies dazu führen, dass die Verpflichtung des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts an ihr Ende stößt, weil keine erfolgversprechenden Ermittlungsansätze mehr vorhanden sind1. Hinsichtlich der Mitwirkung ist zu unterscheiden zwischen Darlegungs- 307 last und Feststellungslast. Die Darlegungslast betrifft die Frage, welcher Beteiligte welche Tatsachen vorzutragen und ggf. unter Beweis zu stellen hat. Näher konkretisiert wird die Darlegungslast in Abstammungsverfahren durch § 171 Abs. 2 FamFG (s. oben Rn. 255, 264, 280). Ein Verstoß gegen die Darlegungslast führt nicht dazu, dass, wie im Zivilprozess, die Tatsache nicht berücksichtigt werden könnte. Grundsätzlich ist das Gericht auch bei mangelhafter Mitwirkung gehalten, soweit wie möglich gem. § 26 FamFG den Sachverhalt zu erforschen. Kann eine Tatsache gleichwohl nicht ermittelt werden, weil die bisherige Beweisaufnahme kein klares Ergebnis erbracht hat und keine erfolgversprechenden Ermittlungsansätze mehr vorhanden sind, stellt sich die Frage der Feststellungslast. Hierbei geht es um die Frage, wer das Risiko der Aufklärbarkeit der Tatsache zu tragen hat. Darlegungslast und Feststellungslast stehen also in engem inneren sachlichen Zusammenhang. a) Verfahren wegen Feststellung der Vaterschaft (§ 169 Nr. 1 FamFG) IdR ist der Sachverhalt aufklärbar. Durch Anhörung der Beteiligten lässt 308 sich idR ermitteln, ob der Mann, der an dem Verfahren beteiligt ist, als Vater des Kindes in Betracht kommt. Durch die Einholung eines abstammungsmedizinischen Gutachtens kann idR eindeutig bestimmt werden, ob dieser Mann der Vater des Kindes ist. Hiervon ist auszugehen, wenn das Gutachten zu dem Ergebnis kommt: „Vaterschaft praktisch erwiesen.“2 Problematisch ist dies in seltenen Fällen dann, wenn mehrere nahe miteinander verwandte Männer als Vater in Betracht kommen oder wenn der Putativvater aus einem Kulturkreis stammt, für den kaum biostatistisches Material zur Verfügung steht3. Die Frage der Darlegungs- und Feststellungslast stellt sich mithin nur dann, wenn ein Gutachten nicht erstellt werden kann, weil ein Beteiligter nicht mitwirkt und hierzu gem. § 178 FamFG auch nicht gezwungen werden kann oder ausnahmsweise das Gutachten nicht aussagekräftig ist.
1 Prütting/Helms/Prütting, § 27 FamFG Rn. 9. 2 Zur Notwendigkeit eines Gutachtens in diesen Fällen s. FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 268. 3 OLG Hamm v. 24.6.2008 – 9 UF 132/05, FamRZ 2009, 707 = FamRB 2008, 367 für mögliche Väter, die eineiige Zwillinge sind, und BGH v. 3.5.2006 – XII ZR 195/03, FamRZ 2006, 1745 = FamRB 2007, 75 für die Feststellung eines Vaters fremder ethnischer Zugehörigkeit.
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Kap. 3 B Rn. 309
Verfahren in Abstammungssachen
b) Verfahren auf Anfechtung der Vaterschaft (§ 169 Nr. 4 FamFG) 309
Hier sind über die reine Frage der biologischen Abstammung hinaus viele Tatsachen festzustellen, die Voraussetzung der Zulässigkeit bzw. Begründetheit eines Antrags wegen Anfechtung der Vaterschaft sind. Weiterhin ist zu unterscheiden zwischen Tatsachen, die die Zulässigkeit und solchen, die die Begründetheit des Antrags betreffen. Die Unterscheidung ist wichtig, da die Feststellungen hinsichtlich der Zulässigkeit auch in Abstammungssachen formlos im Freibeweisverfahren getroffen werden können, während Tatsachen, die die Begründetheit betreffen, immer förmlich festzustellen sind. Die Darlegungs- und Feststellungslast verteilt sich wie folgt: aa) Anfechtungsberechtigung
310
Insoweit ist durch den Antragsteller dem Antrag ein beglaubigter Registerausdruck aus dem Geburtsregister für das Kind beizufügen (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 PStG). Hieraus ergeben sich das Geburtsdatum, der Geburtsort sowie die statusrechtlichen Abstammungsverhältnisse. Die Anfechtungsberechtigung des leiblichen Vaters ergibt sich aus der dem Antrag beizufügenden eidesstattlichen Versicherung, dass der Antragsteller der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB). bb) Künstliche Befruchtung nach heterologer Insemination
311
In diesem Fall klärt das Gericht nicht auf, ob das Kind im Wege der künstlichen Befruchtung gezeugt wurde, wenn durch keinen Beteiligten Anhaltspunkte hierfür vorgetragen werden und diese auch sonst nicht ersichtlich sind. Wird durch einen Beteiligten vorgetragen, der Anfechtung der Vaterschaft stehe entgegen, dass das Kind mit Einwilligung beider Eltern im Wege der heterologen Insemination künstlich gezeugt worden sei, ist die Anfechtung gleichwohl möglich, wenn der Antragsteller geltend macht, dass das Kind nicht aus der Samenspende hervorgegangen sei. Letztlich wird hier über die Zulässigkeit erst nach Einholung des Gutachtens zu entscheiden sein1. Bringt der Antragsteller Tatsachen vor, aus denen sich die Unwirksamkeit der Einwilligung der Mutter und/oder des Vaters ergibt, trägt insoweit die Feststellungslast, wer sich auf den Ausschlusstatbestand des § 1600 V BGB beruft, also nicht der Antragsteller2. cc) Antrag durch Vertreter für das Kind
312
Ficht der gesetzliche Vertreter für das Kind an, so trägt das Kind die Feststellungslast, dass die Anfechtung seinem Wohl dient. Dies ist positiv
1 MüKo/Wellenhofer, § 1600 BGB Rn. 30. 2 Vgl. Staudinger/Rauscher, § 1600 BGB Rn. 91a (Ausschlusstatbestand).
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 314
Kap. 3 B
festzustellen1. Bleiben etwa wegen guter Beziehungen des Kindes zu seinem statusrechtlichen Vater und seinen Geschwistern Zweifel, ob die Anfechtung der Vaterschaft dem Wohl des Kindes dient, trägt dieses die Feststellungslast2. dd) Anfechtungsfrist Die Darlegungslast für Tatsachen, auf die die Einhaltung der Anfech- 313 tungsfrist gestützt wird, trägt der Antragsteller (§ 171 Abs. 2 FamFG); denn gem. § 177 Abs. 1 FamFG können Tatsachen, die nicht dem Fortbestand der bestehenden Vaterschaft dienen, nur berücksichtigt werden, wenn der Anfechtende nicht widerspricht. Demgegenüber können Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass die Anfechtungsfrist abgelaufen ist, auch von Amts wegen berücksichtigt werden3. Zwar hat der Antragsteller mitzuteilen, welche Umstände er bei Geburt des Kindes kannte, die zu Zweifeln hinsichtlich seiner Vaterschaft Anlass geben. Behauptet ein Beteiligter jedoch, dass der Antragsteller damals weitergehende Kenntnisse hatte, trägt er insoweit die Darlegungs- und Feststellungslast4. Erfolgt die Anfechtung erst später als zwei Jahre nach der Geburt bzw. Wirksamwerden der Anerkennung, trifft den Anfechtenden die Darlegungs- und Feststellungslast, dass er Kenntnis von Umständen, die die Anfechtung rechtfertigen, erst innerhalb der Anfechtungsfrist von zwei Jahren bekommen hat5. Beruft sich der Antragsteller darauf, dass er innerhalb der laufenden Anfechtungsfrist von Umständen Kenntnis erlangt hat, aufgrund deren die Anhaltspunkte gegen seine Vaterschaft entkräftet wurden (so dass später die Anfechtungsfrist erneut zu laufen begann), trägt er hierfür die Darlegungs- und Feststellungslast6. Trägt der Antragsteller Umstände vor, aufgrund deren der Lauf der Anfechtungsfrist gehemmt ist (§ 1600b V BGB), trägt er auch hierfür die Darlegungs- und Feststellungslast7. ee) Anfangsverdacht Der Antrag eines Beteiligten wegen Anfechtung der Vaterschaft ist nur 314 schlüssig, wenn er Tatsachen vorträgt, die geeignet sind, Zweifel hinsichtlich seiner Vaterschaft zu begründen (s. oben Rn. 119). Die Darlegungs- und Feststellungslast für das Vorliegen dieser Umstände trägt der Antragsteller8. Dieser trägt daher insbesondere die Darlegungs- und Fest1 2 3 4 5 6
Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 249. OLG Köln v. 20.4.2000 – 14 UF 275/99, FamRZ 2001, 245. Prütting/Helms/Stößer, § 177 FamRB Rn. 5. Erman/Hammermann, § 1600b BGB Rn. 61. OLG Karlsruhe v. 3.8.2000 – 2 WF 98/00, FamRZ 2001, 702. Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 67; BGH v. 11.7.1973 – IV ZR 36/72, BGHZ 61, 195. 7 Staudinger/Rauscher, § 1600b BGB Rn. 68. 8 Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 249.
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Kap. 3 B Rn. 315
Verfahren in Abstammungssachen
stellungslast, wenn er den Anfangsverdacht darauf stützt, dass die Mutter während der Empfängniszeit geschlechtlichen Kontakt zu (einem) weiteren Mann/Männern unterhalten hat1.
Û
Praxistipp: Streiten Beteiligte diese Behauptungen ab, dürfte es sich regelmäßig empfehlen, gem. § 1598a BGB die Einwilligung in eine genetische Abstammungsuntersuchung geltend zu machen. Ein Abstammungsgutachten, aus dem sich ergibt, dass der Antragsteller nicht der Vater des Kindes ist, rechtfertigt den Anfangsverdacht. Während des Verfahrens gem. § 1598a BGB ist die Anfechtungsfrist gehemmt (§ 1600b Abs. 5 BGB).
ff) Fehlen einer sozial-familiären Beziehung 315
Die Anfechtung der Vaterschaft durch den leiblichen Vater des Kindes setzt voraus, dass zwischen dem statusrechtlichen Vater und dem Kind keine sozial-familiäre Beziehung besteht bzw. beim Tode dieses Mannes bestanden hat (§ 1600 Abs. 2 BGB). Insoweit gelten die Grundsätze der gestuften Darlegungslast: Der Antragsteller hat Umstände vorzutragen, die darauf schließen lassen, dass keine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind und dem statusrechtlichen Vater besteht bzw. zum Zeitpunkt des Todes bestanden hat. Er könnte zB geltend machen, dass sich die Mutter und der statusrechtliche Vater kurze Zeit nach der Geburt des Kindes getrennt haben und der statusrechtliche Vater seitdem keinen Kontakt zu dem Kind mehr gepflegt hat. Aufgrund der sekundären Darlegungslast wäre es in diesem Fall Sache der Beteiligten, die der Anfechtung entgegentreten wollen, Umstände zu nennen, die darauf schließen lassen, dass gleichwohl eine sozial-familiäre Beziehung entstanden ist. Bleibt danach letztlich unklar, ob zwischen dem Kind und dem Vater im statusrechtlichen Sinn eine sozial-familiäre Beziehung besteht oder zum Zeitpunkt des Todes des statusrechtlichen Vaters bestanden hat, trägt die Feststellungslast der Mann, der als leiblicher Vater die bestehende statusrechtliche Vaterschaft eines anderen Mannes angefochten hat2. gg) Anfechtung durch die Behörde
316
Ficht die Behörde aus ausländerrechtlichen Gründen die Vaterschaft an, trägt sie die Darlegungs- und Feststellungslast für das Fehlen einer sozialfamiliären Beziehung zwischen Vater und Kind zu den in § 1600 Abs. 3 BGB genannten Stichtagen nach den oben dargelegten Grundsätzen sowie dafür, dass durch die Anerkennung die rechtlichen Voraussetzungen für 1 Heiderhoff/Schekahn, FPR 2011, 363; BGH v. 22.4.1998 – XII ZR 229/96, FamRZ 1998, 955; Staudinger/Rauscher, § 1599 BGB Rn. 21. 2 Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 250; Erman/Hammermann, § 1600 BGB Rn. 21; BGH v. 6.12.2006 – XII ZR 164/04, FamRZ 2007, 538 (Tz. 31) = FamRB 2007, 135.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 318
Kap. 3 B
die erlaubte Einreise oder den erlaubten Aufenthalt des Kindes oder eines Elternteils begründet werden sollten1. 3. Einholung eines medizinischen Abstammungsgutachtens a) Beweisbeschluss Da die Erstellung eines medizinischen Abstammungsgutachtens ein gesondertes Verfahren erfordert, ist hierfür gem. §§ 177 Abs. 1 FamFG, 358 ZPO ein Beweisbeschluss erforderlich. Aus anwaltlicher Sicht sollte bereits der Beweisbeschluss daraufhin überprüft werden, ob er die Gewähr dafür bietet, dass ein hinreichend zuverlässiges Abstammungsgutachten erstellt wird.
317
Muster: Beweisbeschluss 1. Es ist Beweis zu erheben zu der Frage, ob der Beteiligte N.N. (volle Personalien des statusrechtlichen Vaters) als Vater des Kindes K.K. (volle Personalien des Kindes) auszuschließen ist (für die Anfechtung der Vaterschaft) bzw. welche Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass N.N. (volle Personalien des Putativvaters) Vater des Kindes K.K. (volle Personalien des Kindes) ist durch Einholung eines genetischen Abstammungsgutachtens. 2. Die Untersuchung soll mindestens 15 voneinander unabhängige loci auf mindestens 10 Chromosomen erfassen. 3. Die Untersuchung soll sich auf genetische Proben nachfolgender Beteiligter erstrecken: a. Vater (im Fall der Anfechtung)/Putativvater (im Fall der Feststellung) b. Mutter c. Kind Die genetische Probe ist in Form einer Blutprobe nach den anerkannten Grundsätzen der Wissenschaft zu entnehmen. 4. Mit der Erstellung des Gutachtens wird beauftragt: …
Im Einzelnen: – Es ist heute Standard, dass die Abstammungsuntersuchung anhand von 318 DNA-Proben der Beteiligten durchgeführt wird (Nr. 1 der Musterformulierung)2. Gegenstand sind die sog. STR-Systeme der DNA, die mithilfe einer Polymerase-Ketten-Reaktion amplifiziert werden. Fehlerquellen treten vor allem durch Mutationen, aber auch durch Verunreinigungen 1 Erman/Hammermann, § 1600 BGB Rn. 22h. 2 Vgl. hierzu die Darstellung aus abstammungsmedizinischer Sicht von Rittner, in Helms/Kieninger/Rittner/Rittner, Rn. 295 ff.
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Kap. 3 B Rn. 319
Verfahren in Abstammungssachen
auf. Deshalb empfehlen die Richtlinien des Robert-Koch-Instituts für die Erstellung von Abstammungsgutachten, dass mindestens 12 voneinander unabhängige Loci auf mindestens 10 verschiedenen Chromosomen bzw. deren Produkte untersucht werden müssen. Es entspricht aber heutigem Standard, dass mindestens 15 Loci untersucht werden1. Da hierdurch die sog. „Allgemeine Vaterschaftsausschlusschance“ (AVACH) signifikant steigt, sieht das Muster (Nr. 2) vor, dass dem Sachverständigen aufgegeben wird, 15 Orte zu untersuchen. 319
– Grundsätzlich könnte ein Abstammungsgutachten in vielen Fällen auch erfolgen, indem nur Proben des (Putativ-)vaters und des Kindes untersucht werden. Allerdings ist es dann nicht möglich, die mütterlichen Allele beim Kind zuzuordnen. Hierdurch kann die AVACH erheblich vermindert werden2. Daher wird hier vorgeschlagen, auch die Mutter standardmäßig in die Untersuchung einzubeziehen (Nr. 3 der Musterformulierung). Fraglich ist weiter, ob in den Fällen des § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB neben dem Mann, der behauptet, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben, auch der statusrechtliche Vater in die Untersuchung einbezogen werden sollte. Hiergegen spricht, dass sich bereits aus der Feststellung, dass die Vaterschaft des Anfechtenden praktisch erwiesen ist, mit hinreichender statistischer Wahrscheinlichkeit ergibt, dass dieser und nicht der statusrechtliche Vater der Vater des Kindes ist. Wird umgekehrt diese Feststellung nicht getroffen, ist bereits deshalb der Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft durch diesen Mann zurückzuweisen. Fechten umgekehrt die Mutter oder das Kind die Vaterschaft an und beantragen sie gleichzeitig die Vaterschaft eines Dritten festzustellen, sollte sich die Untersuchung sowohl auf für die genetische Untersuchung geeignete Proben des statusrechtlichen Vaters als auch des glaublichen leiblichen Vaters erstrecken. Nur wenn die Untersuchung der Probe des statusrechtlichen Vaters ergibt, dass dieser als Vater ausscheidet, sollte dem Dritten die Untersuchung von diesem stammenden genetischen Materials zugemutet werden.
320
– Für die Untersuchung von STR-Systemen wird nur sehr wenig Material benötigt. Daher reicht es an sich aus, wenn die zu untersuchende Probe durch einen Abstrich aus der Mundschleimhaut entnommen wird. Allerdings steigt hierdurch die Verunreinigungsgefahr der Probe gegenüber der Blutprobe signifikant3. Es verstößt gegen § 17 Abs. 4 GenDG, wenn die Probe durch den Wachtmeister oder Richter an Gerichtsstelle entnommen wird. Gerade bei einem Abstrich aus der Mundschleimhaut sollte besondere Sorgfalt angewandt werden4. Daher
1 2 3 4
FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 293. Vgl. das Beispiel bei Helms/Kieninger/Rittner/Rittner, Rn. 324. Helms/Kieninger/Rittner/Rittner, Rn. 317. Helms/Kieninger/Rittner/Rittner, Rn. 317.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 323
Kap. 3 B
sollte auf der Entnahme einer Blutprobe bestanden werden, und zwar auch bei einem Säugling oder Kleinkind (Nr. 3 der Musterformulierung, am Ende). – Gem. Nr. 3.4 der Richtlinien sollte zumindest der Leiter des Labors, in 321 dem die Abstammungsuntersuchung durchgeführt wird, durch die Kommission zur Feststellung der Qualifikation von Sachverständigen für Abstammungsgutachten qualifiziert sein und dies durch eine entsprechende Urkunde nachweisen (Nr. 4 der Musterformulierung). aa) Pflicht zur Duldung der Untersuchung Gem. § 178 Abs. 1 FamFG ist zur Duldung der Untersuchung grundsätz- 322 lich jede Person verpflichtet, bei der zu erwarten ist, dass die Untersuchung zur Klärung der Abstammung beiträgt. Diese Verpflichtung ist nicht auf die unmittelbar an dem Abstammungsverfahren Beteiligten beschränkt. Insbesondere dann, wenn von einem Mann die erforderliche Probe nicht gewonnen werden kann, weil er sich im Ausland befindet und nicht mitwirken will, verstorben ist und kein genetisches Material mehr gewonnen werden kann (Feuerbestattung!) oder unbekannten Aufenthalts ist, kann gleichwohl die Abstammung häufig geklärt werden, indem nahen Verwandten Proben entnommen werden. Insoweit kommen vor allem die Großeltern väterlicherseits des Kindes sowie die Geschwister des Mannes in Betracht1. bb) Ausnahmsweise Unzumutbarkeit der Untersuchung Nicht zur Entnahme einer Blutprobe verpflichtet ist eine Person, der die 323 Untersuchung nicht zugemutet werden kann (§ 178 Abs. 1 S. 2 FamFG). Unzumutbarkeit hat die Rechtssprechung nur angenommen, wenn wirklich schwerwiegende Gründe in der Person des „Probanden“ der Untersuchung entgegenstehen. Nicht reichen aus: – Zeugnisverweigerungsrecht: Die Abstammungsbegutachtung beruht auf der Einnahme eines Augenscheins. Daher gelten die Vorschriften über das Zeugnisverweigerungsrecht nicht2. § 178 Abs. 2 FamFG verweist nur auf §§ 386–390 ZPO. – Nachteile in unterhalts- oder erbrechtlicher Hinsicht: Materielle Gesichtspunkte sind grundsätzlich nicht geeignet, die Verweigerung der Untersuchung zu begründen3.
1 S. hierzu Helms/Kieninger/Rittner/Rittner, Rn. 342 ff. zur „erweiterten Familienuntersuchung“. 2 BGH v. 31.5.1990 – III ZB 52/89, NJW 1990, 2936. 3 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 306.
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Kap. 3 B Rn. 324
Verfahren in Abstammungssachen
– Religiöse Gesichtspunkte: Auch Mitglieder von Glaubensgemeinschaften, die die Entnahme von Blut ablehnen, müssen die Entnahme entsprechender Proben dulden, da das Allgemeininteresse an der Abstammungswahrheit vorgeht1. – Auch wenn die Durchführung der Abstammungsbegutachtung ein inzestuöses Verhältnis aufdecken könnte, ist sie nicht unzumutbar2. Dies soll generell gelten, wenn durch die Untersuchung das Risiko strafrechtlicher Verfolgung begründet werden könnte3. 324
Unzumutbarkeit kann daher im Wesentlichen nur auf gesundheitliche Gesichtpunkte gestützt werden. Da – hilfsweise – die Untersuchung auch durch Abstrich aus der Mundschleimhaut erfolgen kann, wird allerdings auch eine Spritzenphobie idR nicht geeignet sein, die Weigerung zu begründen. Im Übrigen werden Beeinträchtigungen meist von dem Ergebnis des Verfahrens, nicht aber aufgrund der Entnahme der Probe zu erwarten sein. Da die Durchführung des Abstammungsverfahrens allerdings nicht unter dem Vorbehalt steht, dass das Ergebnis für keinen Beteiligten „unzumutbar“ sein darf, sind kaum Fälle denkbar, die die Verweigerung der Probe rechtfertigen. cc) Verweigerung der Untersuchung/Unmittelbarer Zwang
325
Verweigert ein Beteiligter die Entnahme der Probe, ist hierüber in einem Zwischenverfahren zu entscheiden. Der Beteiligte hat seine Weigerungsgründe schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle mitzuteilen und glaubhaft zu machen (§ 386 Abs. 1 ZPO). Über die Rechtmäßigkeit der Weigerung ist durch das Familiengericht nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss zu entscheiden.
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Erfolgte die Weigerung nicht wegen eines erheblichen Grundes, sind dem Beteiligten die Kosten der Weigerung aufzuerlegen. Weiterhin ist er durch die Festsetzung von Ordnungsgeld oder Ordnungshaft dazu anzuhalten, die Entnahme der Probe zu dulden (§ 178 Abs. 2 FamFG). Bei wiederholter unberechtigter Verweigerung kann auch unmittelbarer Zwang angewandt werden (§ 178 Abs. 2 FamFG). Zuständig ist der Gerichtsvollzieher, der die Vollzugsbeamten der Polizei hinzuziehen kann (§ 87 Abs. 3 FamFG)4. b) Beweiswürdigung
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Bei der Würdigung des Gutachtens sollten folgende Punkte überprüft werden:
1 2 3 4
OLG Brandenburg v. 8.1.2010 – 9 UF 139/09, FamRZ 2010, 1826. OLG Karlsruhe v. 16.10.1991 – 4 W 97/91, FamRZ 1992, 334. FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 306. Prütting/Helms/Stößer, § 96a FamFG Rn. 5.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 332
Kap. 3 B
aa) Identität der Personen, von denen Proben genommen wurden Hierzu ist erforderlich, dass sich Erwachsene durch ein gültiges Aus- 328 weisdokument (Personalausweis/Reisepass) ausweisen, die Identität des Kindes sollte, sofern es nicht persönlich bekannt ist, anhand einer Geburtsurkunde nachgewiesen werden. Weiterhin sind zum Untersuchungsprotokoll ein Lichtbild der untersuchten Person sowie ein Fingerabdruck zu nehmen1. bb) Methodisch korrekte Entnahme der Proben Das Entnahmeprotokoll ist darauf zu überprüfen, ob die Entnahme der 329 Proben nach den allgemein anerkannten Methoden der Wissenschaft erfolgt ist. Hierzu ist zunächst festzustellen, welches Material entnommen wurde (Mundschleimhautabstrich, Blutprobe). Weiterhin ist zu prüfen, ob die Entnahme der Probe durch ausreichend qualifiziertes Personal (idR durch einen Arzt, vgl. § 17 Abs. 4 GenDG) erfolgt ist. Schließlich sollte dem Protokoll zu entnehmen sein, wie sichergestellt wurde, dass die Identifizierbarkeit der entnommenen Probe gewährleistet ist (am besten Entnahme in einen voretikettierten Objektträger). cc) Aufbereitung der Probe Dem Gutachten sollte zu entnehmen sein, welche Substanzen (die sog. 330 „primer“ und „kits“) verwendet wurden, um die zu untersuchenden Systeme zu amplifizieren, zB indem der Hersteller und die Produktbezeichnungen angegeben werden2. dd) Chromosomonale Bandbreite der Untersuchung Die Untersuchung von STR-Systemen ist nur aussagekräftig, wenn mindes- 331 tens 12, besser (und heute üblich) 15 Orte auf mindestens 10 Chromosomen untersucht wurden. Ohne weiteres kann von dem Ausschluss der Vaterschaft ausgegangen werden, wenn sich auf unterschiedlichen Chromosomen mindestens drei oder mehr Ausschlusskonstellationen ergeben3. ee) Zweifelsfreie Vaterschaftswahrscheinlichkeit Schwieriger ist die Situation bei der Feststellung der Vaterschaft. Moleku- 332 largenetische Gutachten zur Feststellung der Vaterschaft enthalten eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie viele Väter neben dem Putativvater vergleichbare Merkmale an das Kind vererbt haben könnten. Durch die 1 Helms/Kieninger/Rittner/Rittner, Rn. 316 unter Verweis auf die Richtlinien des Robert-Koch-Instituts. 2 Helms/Kieninger/Rittner/Rittner, Rn. 312. 3 Nr. 2.6.1. der Richtlinien des Robert-Koch-Instituts; FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 294; Helms/Kieninger/Rittner/Rittner, Rn. 310, 319.
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Kap. 3 B Rn. 333
Verfahren in Abstammungssachen
Untersuchung von vielen Systemen können sich nach dem Ausschlussprinzip sehr hohe Wahrscheinlichkeiten ergeben. Die Berechnung der Wahrscheinlichkeit beruht hierbei auf der Methode von Essen-Möller. Grundsätzlich ist in dem Gutachten auszuweisen, welche Ansätze der Wahrscheinlichkeitsrechnung zugrunde liegen1. Auch bei scheinbar mathematisch sehr hohen Wahrscheinlichkeiten ist grundsätzlich dem Vortrag eines Beteiligten nachzugehen, der die Möglichkeit behauptet, dass ein (konkreter) anderer Mann als Vater in Betracht kommt. Bestreitet der Mann seine Vaterschaft mit der Begründung, er habe der Mutter in der Empfängniszeit nicht beigewohnt oder die Mutter habe auch zu anderen Männern Kontakt gehabt, sind auch bei einer Vaterschaftswahrscheinlichkeit von 99,995 % weitere Ermittlungen erforderlich, etwa durch ergänzende Gutachten, etwa der Untersuchung weiterer Loci, sowie der Untersuchung von Y-STR und X-STR-Haplotypen2.
VII. Verbindung von Verfahren 333
Abstammungssachen sind grundsätzlich verbindungsfeindlich (§ 179 FamFG). Hiervon bestehen lediglich zwei Ausnahmen. 1. Verbindung mehrerer Abstammungssachen, die dasselbe Kind betreffen
334
Es können mehrere Abstammungssachen miteinander verbunden werden, die dasselbe Kind betreffen. Ficht beispielsweise der Ehemann die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes K an und beantragt dieses, für den Fall, dass die Anfechtung durch den Ehemann Erfolg haben sollte, D als Vater festzustellen, liegt eine zulässige Verbindung vor.
335
Demgegenüber können nicht mehrere Verfahren verbunden werden, die Geschwisterkinder betreffen. Ficht in dem Beispielsfall der Ehemann sowohl die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes K1 als auch hinsichtlich des Kindes K2 mit der Begründung an, nicht er, sondern der langjährige Liebhaber L der Ehefrau sei Vater dieser Kinder, sind zwei gesonderte eigenständige Verfahren zu führen. 2. Verbindung mit einer Unterhaltssache
336
Mit einem Verfahren auf Feststellung des Bestehens der Vaterschaft kann eine Unterhaltssache gem. § 237 FamFG verbunden werden. Für diese Verbindung müssen folgende Voraussetzungen gegeben sein: 1 Vgl. hierzu sowie zur Berechnung BGH v. 3.5.2006 – XII ZR 195/03, FamRZ 2006, 1745 = FamRB 2007, 75, und allgemein Helms/Kieninger/Rittner/Rittner, Rn. 323. 2 Helms/Kieninger/Rittner/Rittner, Rn. 304 und 305; demgegenüber dürfte die Untersuchung von SNP-Systemen unzulässig sein, da diese auch kodierte DNA enthalten.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 337
Kap. 3 B
– Zuständigkeit: Ausschließlich zuständig ist das Gericht, bei dem die Abstammungssache anhängig ist (§ 237 Abs. 2 FamFG) – Anwaltszwang: Trotz der Verbindung bleibt die Unterhaltssache eine selbständige Familienstreitsache (§ 112 Nr. 1 FamFG). Der Antrag auf Verpflichtung zur Zahlung von Unterhalt muss daher durch einen Anwalt gestellt werden (§ 114 Abs. 1 Alt 3 FamFG). – Der Antrag ist nur zulässig, wenn gleichzeitig die Abstammungssache auf Feststellung der Vaterschaft anhängig ist (§ 237 Abs. 1 FamFG). – Unterhalt kann bereits geltend gemacht werden, wenn die Vaterschaft des Mannes noch nicht gem. §§ 1600d Abs. 1 BGB, 184 FamFG festgestellt ist. Die Vorschrift enthält damit eine Ausnahme zu § 1600d Abs. 4 BGB. Passiv legitimiert ist der Mann, dessen Vaterschaft gem § 1600d Abs. 2 BGB vermutet wird und in dem Abstammungsverfahren festgestellt werden soll. – Hinsichtlich der Höhe ist der Unterhalt festgelegt. Das Kind kann maximal den Mindestunterhalt abzüglich des gem. § 1612b Abs. 1 Nr. 1 BGB anzurechnenden Kindergeldes geltend machen. Der Mann kann hiergegen nicht einwenden, dass er nicht oder nur beschränkt leistungsfähig ist. Diese Nachteile werden dadurch kompensiert, dass der Titel ohne die Einschränkungen der §§ 238, 239 FamFG gem. § 240 FamFG an die bestehenden Einkommensverhältnisse angepasst werden kann. – Der Ausspruch der Verpflichtung zur Zahlung des Unterhalts wird nicht wirksam, bevor die Vaterschaft des in Anspruch genommenen Mannes rechtskräftig festgestellt ist (§ 237 Abs. 4 FamFG). Wird die Vaterschaft nicht festgestellt, entfällt der Anspruch1. Der Antrag ist dementsprechend abzuweisen. Da gem. § 1613 Abs. 2 BGB der Unterhalt rückwirkend ab Geburt geltend gemacht werden kann, wird folgende Antragstellung empfohlen: 1. Der Antragsgegner (Vater) wird verpflichtet, an … (Kind), geb. am … ab … (1. des Monats, in dem das Kind geboren wurde) zu Händen des gesetzlichen Vertreters … (Mutter) monatlich im Voraus Unterhalt iHv. 100 % des jeweiligen Mindestunterhalts der jeweiligen Altersstufe abzüglich der Hälfte des gesetzlichen Kindergeldes für ein erstes Kind, Zahlbetrag mithin derzeit … zu bezahlen. 2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. 3. Die sofortige Wirksamkeit des Beschlusses wird ab Rechtskraft des Beschlusses, durch den … als Vater festgestellt wird, angeordnet.
1 Keidel/Meyer-Holz, § 237 FamFG Rn. 8.
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337
Kap. 3 B Rn. 338
Verfahren in Abstammungssachen
VIII. Einstweilige Anordnung wegen Unterhaltsansprüchen 338
Gem. § 248 FamFG besteht die Möglichkeit, durch einstweilige Anordnung während der Anhängigkeit des Feststellungsverfahrens Unterhaltsansprüche der Mutter wegen Betreuung des Kindes (§ 1615l BGB) und des Kindes gegen den Mann, der gem. § 1600d Abs. 2 BGB als Vater vermutet wird, geltend zu machen.
339
Ein Antrag auf Erlass einer entsprechenden einstweiligen Anordnung ist bei dem Gericht anhängig zu machen, bei dem auch das Feststellungsverfahren anhängig ist (§ 248 Abs. 2 FamFG). Für die einstweilige Anordnung besteht kein Anwaltszwang (§ 114 Abs. 4 Nr. 1 FamFG).
340
Besondere Zulässigkeitsvoraussetzung ist, dass das Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft anhängig ist.
341
Das Verfahren der einstweiligen Anordnung ist ein eigenständiges Verfahren, das nicht mit der Abstammungssache verbunden werden darf (§ 51 Abs. 2 FamFG).
342
Der Antrag ist begründet, wenn ein Anordnungsanspruch besteht. Dies richtet sich nach §§ 1615l (hinsichtlich der Mutter) bzw. nach § 1601 BGB (hinsichtlich des Kindes). Passiv legitimiert ist der Mann, wenn dieser als Vater gem. § 1600d Abs. 2 BGB vermutet wird. Daran fehlt es, wenn die Mutter während der Empfängniszeit mit einem weiteren Mann geschlechtlichen Kontakt gehabt hat1.
343
Der Höhe nach ist der Unterhalt nicht begrenzt. Insbesondere das Kind kann daher mehr als den Mindestunterhalt geltend machen. Es kann genauso wie die Mutter den vollen laufenden Unterhalt auch im Wege der einstweiligen Anordnung geltend machen (§ 246 FamFG)2.
344
Als Anordnungsgrund genügt das einfache Regelungsbedürfnis, wenn der vermutete Vater nicht freiwillig bezahlt.
345
Zu beachten ist, dass das Kind verschuldensunabhängig auf Schadensersatz haftet, wenn der Antrag auf Feststellung der Vaterschaft zurückgewiesen oder zurückgenommen wird (§ 248 V FamFG).
Û
Wichtig: Im Wege der einstweiligen Anordnung kann auch schon vor Anhängigkeit eines Verfahrens zur Feststellung der Vaterschaft und vor Geburt des Kindes Unterhalt geltend gemacht werden (§ 247 FamFG). Dieses Verfahren hat keinen Bezug zu Abstammungssachen. Zuständig ist gem. § 50 Abs. 1 FamFG das Gericht, bei dem der Unterhalts-
1 Prütting/Helms/Bömelburg, § 248 FamFG Rn. 9, sofern nicht glaubhaft gemacht wird, dass der andere Mann als Vater ausscheidet. 2 Prütting/Helms/Bömelburg, § 248 FamFG Rn. 10, 11; Johannsen/Henrich/Maier, § 248 FamFG Rn. 4.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 350
Kap. 3 B
anspruch auch in der Hauptsache geltend zu machen ist. Auch hier ist abweichend von § 1600d Abs. 4 BGB der Mann passiv legitimiert, der gem. § 1600d Abs. 2 BGB als Vater vermutet wird. Zur Berechnung des Unterhalts s. Rn. 343.
IX. Tod eines Beteiligten 1. Tod vor Einleitung des Verfahrens Ist eine an dem Abstammungsverhältnis beteiligte Person bereits vor der Einleitung des Verfahrens verstorben, steht dies der Durchführung des Abstammungsverfahrens nicht entgegen.
346
Die Zuständigkeit des Gerichts richtet sich nach den allgemeinen Re- 347 geln. Ist das Kind verstorben, ist der gewöhnliche Aufenthalt der Mutter, ersatzweise der des Vaters maßgeblich (§ 170 Abs. 2 FamFG). Auch die Antragsbefugnis richtet sich nach den allgemeinen Grundsät- 348 zen. Für den Verstorbenen geht die Antragsbefugnis als höchstpersönliches Recht auf die nächsten Angehörigen über. Verstirbt das Kind, können daher diese beantragen, dass ein bestimmter Mann als Vater des Kindes festgestellt wird. Weiterhin steht ihnen auch das Recht zu, gem. § 1600 Abs. 1 Nr. 4 BGB die Vaterschaft gem. §§ 1592 Nr. 1, 2 BGB anzufechten1. Die Beteiligung richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften. An die Stelle des Verstorbenen treten dessen nächste Angehörige2.
349
Auch der Verstorbene ist in die Begutachtung einzubeziehen. Ggf. können seine sterblichen Überreste exhumiert werden3. Dem steht nicht entgegen, dass die Durchführung der Begutachtung erhebliche negative Auswirkungen vermögensrechtlicher Art für die nächsten Angehörigen haben kann oder dass der volljährige Antragsteller bereits zu Lebzeiten des Ehemanns ein Verfahren wegen Feststellung der Vaterschaft hätte einleiten können, hiervon aber aus familiären Gründen Abstand genommen hat4.
350
1 Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 225, und Löhnig, FamRZ 2009, 1798, allerdings jeweils nur allgemein für die Beteiligung; die Rangfolge zwischen mehreren Angehörigen soll sich nach § 77 StGB richten; es erscheint widersprüchlich, einerseits anzunehmen, dass das höchstpersönliche Recht des Verstorbenen, soweit es seine Beteiligung betrifft, auf die nächsten Angehörigen übergeht bzw. von diesen wahrgenommen werden kann, das Antragsrecht jedoch ersatzlos erlischt. 2 S. Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 225 und Löhnig, FamRZ 2009, 1798. 3 Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 256. 4 OLG München v. 27.6.2011 – 33 UF 942/11, FamRZ 2012, 57.
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Kap. 3 B Rn. 351
Verfahren in Abstammungssachen
2. Tod nach Anhängigkeit des Verfahrens 351
Stirbt ein Beteiligter dagegen nach Anhängigkeit, aber vor Rechtskraft der Entscheidung, hat das Gericht die übrigen Beteiligten darauf hinzuweisen, dass das Verfahren nur fortgesetzt wird, wenn dies durch einen Beteiligten innerhalb einer Frist von einem Monat durch Erklärung gegenüber dem Gericht verlangt wird (§ 181 FamFG). Verlangt einer der Beteiligten die Fortsetzung des Verfahrens, treten an die Stelle des Verstorbenen dessen nächste Angehörige1. Verlangt kein Beteiligter innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist die Fortsetzung des Verfahrens, gilt das Verfahren als erledigt mit der Folge, dass nur noch über die Kosten zu entscheiden ist (§ 181 S. 2 FamFG). Bei unverschuldeter Fristversäumnis kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt werden2.
X. Entscheidung des Gerichts 352
Das Gericht entscheidet in Abstammungssachen durch Beschluss. Der Inhalt des Beschlusses ergibt sich grundsätzlich aus § 38 FamFG. Die Bestimmung wird ergänzt durch § 182 FamFG. 1. Tenor
353
Gem. § 38 Abs. 2 Nr. 3 FamFG enthält der Beschluss die Beschlussformel. In Abstammungssachen enthält diese die Entscheidung zur Hauptsache sowie zwingend eine Kostenentscheidung (§ 81 Abs. 1 S. 3 FamFG). Demgegenüber ist eine Entscheidung zur sofortigen Wirksamkeit nicht erforderlich und wäre im Übrigen wegen § 184 FamFG auch fehlerhaft. Wird gleichzeitig gem. § 237 FamFG über den Unterhalt des Kindes entschieden, ist die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung zu diesem Punkt gem. § 116 Abs. 3 FamFG ab Rechtskraft der Entscheidung über die Abstammung hinsichtlich des laufenden Unterhalts anzuordnen3. a) Tenorierung in der Hauptsache
354
Die Gestaltung des Tenors in der Hauptsache gestaltet sich je nach Art der Abstammungssache (§ 169 Nr. 1–4 FamFG) unterschiedlich. aa) Feststellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses
355
Geht es um die Feststellung des Bestehens eines Eltern-Kind-Verhältnisses, und hat der Antrag Erfolg, entspricht der Tenor dem Antrag (s. oben Rn. 247, 251). Nicht etwa ist zu entscheiden: „Dem Antrag wird stattgegeben.“ 1 Prütting/Helms/Stößer, § 181 FamFG Rn. 2. 2 Prütting/Helms/Stößer, § 181 FamFG Rn. 2. 3 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 353.
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Siede
Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 360
Kap. 3 B
Geht es um die Feststellung des Bestehens eines Eltern-Kind-Verhältnis- 356 ses und hat der Antrag keinen Erfolg, lautet Nr. 1 des Tenors lapidar: „Der Antrag wird abgewiesen.“ Es ergibt sich dann aus den Gründen, ob die Abweisung erfolgt ist, weil der Antrag unzulässig istoder unbegründet ist, weil bereits eine andere Vaterschaft besteht (§ 1600d Abs. 1 BGB) oder weil ein Abstammungsverhältnis nicht festgestellt werden konnte oder gar durch den Sachverständigen ausgeschlossen wurde. bb) Anfechtung der Vaterschaft Geht es um die Anfechtung der Vaterschaft, sind folgende Fälle zu unterscheiden:
357
– Die Anfechtung erfolgt durch den statusrechtlichen Vater, die Mutter oder das Kind und hat Erfolg: In diesen Fällen lautet der Tenor zur Hauptsache genauso wie der Antrag des Anfechtenden (s. oben Rn. 256, 257). – Die Anfechtung erfolgt durch den leiblichen Vater, der an Eides Statt versichert, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB) und hat Erfolg: In diesem Fall ist festzustellen, dass der statusrechtliche Vater nicht der Vater des Kindes ist sowie dass der Antragsteller der Vater des Kindes ist. Dies hat auch von Amts wegen zu erfolgen, wenn der Anfechtende diesen Antrag weggelassen hat (§ 182 Abs. 1 S. 2 FamFG). Im Übrigen entspricht der Tenor zur Hauptsache aber genau dem Antrag (s. oben Rn. 257). Der Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft wird abgewiesen: In die- 358 sem Fall lautet der Tenor zu Nr. 1: „Der Antrag wird abgewiesen.“ Dies gilt auch dann, wenn der statusrechtliche Vater aufgrund eines Sachverständigengutachtens zweifelsfrei als biologischer Vater festzustellen ist; denn § 182 Abs. 2 FamFG gilt nicht für den Fall der Anfechtung der Vaterschaft, sondern nur für den negativen Antrag auf Feststellung der Vaterschaft, der allerdings keine praktische Bedeutung hat1. cc) Verfahren zur Klärung der leiblichen Abstammung Hat das Verfahren die Mitwirkung an der Klärung der genetischen Ab- 359 stammung gem. § 1598a BGB zum Gegenstand, gibt es keine Besonderheiten. Der Tenor entspricht, wenn der Antrag Erfolg hat, dem Antrag (s. oben Rn. 273), andernfalls ist der Antrag abzuweisen. b) Tenorierung der Kostenentscheidung Die Kostenentscheidung richtet sich nach §§ 81, 183 FamFG.
1 Prütting/Helms/Stößer, Rn. 348.
§ 182
FamFG
Rn. 6;
360
FAFamR/Schwarzer,
Siede
Kap. 3
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Kap. 3 B Rn. 361
Verfahren in Abstammungssachen
aa) Feststellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses 361
In Verfahren wegen Feststellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses richtet sich die Kostenentscheidung allein nach § 81 FamFG. Hat der Antrag Erfolg, wird es idR billigem Ermessen entsprechen, die Gerichtskosten hälftig zwischen Mutter und festgestelltem Vater zu verteilen und im Übrigen von der Erstattung außergerichtlicher Kosten abzusehen (s. oben Rn. 249)1. Gegen ein minderjähriges Kind sollte keine Verpflichtung zur Kostenerstattung festgesetzt werden. Dies wird teilweise aus § 81 Abs. 3 FamFG abgeleitet2, teilweise als der Billigkeit angemessen angesehen3.
362
Hat ein Antrag auf Feststellung keinen Erfolg, wird es idR billigem Ermessen entsprechen, die Gerichtskosten dem Antragsteller aufzuerlegen und im Übrigen von einer Erstattung der außergerichtlichen Kosten abzusehen. bb) Anfechtung der Vaterschaft
363
Hat ein Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft Erfolg, tragen die Beteiligten mit Ausnahme des Kindes die Gerichtskosten zu gleichen Teilen (§ 183 FamFG). Sind Mutter, Kind, Scheinvater und leiblicher Vater beteiligt, tragen diese die Kosten idR also zu je 1/3, sind nur Scheinvater, Mutter und Kind beteiligt, tragen der Scheinvater und die Mutter die Kosten zu je 1/2. Im Übrigen tragen die Beteiligten ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
364
Hat der Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft keinen Erfolg, wird es idR billigem Ermessen entsprechen, dem Antragsteller zumindest die Gerichtskosten aufzuerlegen. Abweichungen kommen vor allem dann in Betracht, wenn ein Elternteil durch unrichtige Angaben des anderen zur Antragstellung veranlasst wurde, etwa der Vater, weil die Mutter leichtfertig geäußert hat, es sei ja gar nicht sicher, dass er der Vater des Kindes ist. Entsprechendes gilt, wenn jemand ohne jede Veranlassung, etwa aus krankhaftem Misstrauen, ein Verfahren in die Wege leitet. In diesem Fall sollte der Betreffende auch zur Tragung außergerichtlicher Kosten herangezogen werden. 2. Gründe
365
Hinsichtlich der Abfassung der Gründe gibt es für das Abstammungsverfahren keine Sondervorschrift. Gem. § 38 Abs. 5 Nr. 2 FamFG darf in Abstammungssachen auch dann nicht von einer Begründung abgesehen werden, wenn die Entscheidung übereinstimmenden Anträgen der Beteiligten entspricht. Die Gründe haben die Tatsachen wiederzugeben, auf denen die Entscheidung beruht sowie die tragenden rechtlichen Gesichts1 OLG Düsseldorf v. 11.10.2010 – II-1 WF 133/10, JAmt 2010, 497. 2 Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 275. 3 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 352.
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Siede
Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 367
Kap. 3 B
punkte. Aus anwaltlicher Sicht sollten die Gründe vor allem darauf überprüft werden, ob den Beteiligten zu allen Tatsachen, die der Entscheidung zugrunde gelegt wurden, rechtliches Gehör gewährt wurde (§ 37 FamFG). 3. Rechtsbehelfsbelehrung Die Entscheidung hat eine Rechtsbehelfsbelehrung zu enthalten (§ 39 366 FamFG). Eine unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung führt nicht dazu, dass die Entscheidung nichtig ist, begründet aber regelmäßig die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 17 Abs. 2 FamFG). Dies gilt allerdings dann nicht, wenn ein Beteiligter anwaltlich vertreten war1. Der Anwalt darf also nicht auf die Rechtsbehelfsbelehrung des Gerichts vertrauen, sondern hat eigenständig zu prüfen, welche Rechtsmittel statthaft sind sowie wo und in welcher Form und Frist diese einzulegen sind.
Û
Praxistipp: Wurde im Hinblick auf eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung die Rechtsmittelfrist versäumt und waren nicht alle Beteiligten anwaltlich vertreten, kann die Frist uU dadurch gerettet werden, dass für einen anwaltlich nicht vertretenen Beteiligten mit gleichgerichteten Interessen das Rechtsmittel eingelegt und Wiedereinsetzung beantragt wird.
4. Wirksamwerden und Bekanntgabe der gerichtlichen Entscheidung a) Wirksamwerden Gerichtliche Entscheidungen werden grundsätzlich wirksam, sobald sie 367 demjenigen, für den sie ihrem wesentlichen Inhalt nach bestimmt sind, bekannt gegeben werden (§§ 40, 41 FamFG). Es spielt also keine Rolle, ob die Entscheidung auch formell rechtskräftig ist. Demgegenüber werden in Abstammungssachen Endentscheidungen erst mit Eintritt der formellen Rechtskraft wirksam (§ 184 Abs. 1 S. 1 FamFG). Dies gilt sowohl für positive als auch für negative Entscheidungen, durch die ein Antrag abgewiesen wird2. Formelle Rechtskraft tritt ein, wenn ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung nicht mehr eingelegt werden kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn für alle Beteiligte die Beschwerdefrist von einem Monat (§ 63 Abs. 1 FamFG) abgelaufen ist. Sobald dies der Fall ist, kann auch durch die sonstigen, bisher nicht am Verfahren beteiligten Beschwerdeberechtigten keine Beschwerde mehr eingelegt werden. Ist die Entscheidung formell rechtskräftig geworden, wird hierüber durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle von Amts wegen eine mit Rechtskraftvermerk versehene Ausfertigung der Entscheidung erteilt (§ 46 S. 3 FamFG). Gleichzeitig wird diese auch (im Fall einer positiven Entscheidung) dem Standesamt, bei dem das Geburtsregister für das Kind geführt 1 Prütting/Helms/Ahn-Roth, § 17 FamFG Rn. 31. 2 Keidel/Engelhardt, § 184 FamFG Rn. 2.
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Kap. 3 B Rn. 368
Verfahren in Abstammungssachen
wird, mitgeteilt, damit dieses die gem. § 27 PStG erforderlichen Eintragungen vornehmen kann, § 56 PStV. b) Bekanntgabe aa) Formelle Rechtskraft 368
Die Bekanntgabe erfolgt gem. §§ 40, 41, 15 FamFG. Da der Beschluss mit Eintritt der Rechtskraft Wirkung inter omnes hat, sollte, abweichend von § 41 Abs. 1 FamFG, ein Beschluss, durch den über die Abstammung entschieden wird, allen Beteiligten förmlich zugestellt werden. Demgegenüber reicht es aus, wenn ein Antrag aus anderen Gründen zurückgewiesen wurde, dass der Beschluss gem. § 41 Abs. 1 FamFG dem Antragsteller förmlich zugestellt und im Übrigen den Beteiligten gem. § 15 Abs. 1 FamFG (förmlich) bekannt gegeben und nicht nur formlos (§ 15 Abs. 3 FamFG) mitgeteilt wird. bb) Materielle Rechtskraft Der Umfang der materiellen Rechtskraft kann sehr unterschiedlich sein:
369
– Ist ein Antrag auf Feststellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses mangels Antragsbefugnis zurückgewiesen worden, erwächst nur die Entscheidung in Rechtskraft, dass dem Antragsteller die Antragsbefugnis fehlt. Hinsichtlich der Abstammung werden demgegenüber keine rechtskraftfähigen Feststellungen getroffen. Daher kann ein gleichlautender Antrag durch einen anderen Beteiligten, aber auch durch denselben Antragsteller mit dem Argument, dass er nunmehr aus anderen Gründen antragsbefugt sei, erhoben werden. Mangels Entscheidung über die Abstammung hat dieser Beschluss keine allgemeine Wirkung gem. § 184 Abs. 2 FamFG.
370
– Wird ein Eltern-Kind-Verhältnis positiv festgestellt, erwächst diese Feststellung mit statusrechtlicher Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Geburt gegenüber allen in materieller Rechtskraft, unabhängig davon, ob weitere – mittelbar berührte – Personen, wie Verwandte der Beteiligten, an dem Verfahren beteiligt waren1.
371
– Wird der Antrag auf Feststellung der Vaterschaft abgewiesen, weil nach Ausschöpfung aller Beweismittel nicht feststellbar ist, dass der am Verfahren beteiligte Putativvater wirklich der Vater des Kindes ist, wirkt auch diese Entscheidung inter omnes. Dies ergibt sich im Ergebnis allerdings schon aus § 1600d Abs. 4 BGB.
372
– Wird ein Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft abgewiesen, weil der Antragsteller nicht anfechtungsberechtigt war, ist hiermit keine Entscheidung über die Abstammung verbunden. Zu einem späteren 1 Prütting/Helms/Stößer, § 184 FamFG Rn. 5, 6.
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Siede
Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 375
Kap. 3 B
Zeitpunkt kann daher jeder andere, der anfechtungsberechtigt ist, wiederum die Vaterschaft anfechten. Gleichfalls kann der Antragsteller die Anfechtung wiederholen, wenn er nachträglich anfechtungsberechtigt wird. Hat der gesetzliche Vertreter für einen Minderjährigen die Anfechtung erklärt und wird der Antrag abgewiesen, weil dies nicht dem Wohl des Kindes entspricht (§ 1600a Abs. 4 BGB), kann die Anfechtung durch das Kind nach Erreichen der Volljährigkeit, aber auch durch den gesetzlichen Vertreter mit dem Argument, aufgrund zwischenzeitlich geänderter Verhältnisse entspreche die Anfechtung nunmehr dem Wohl des Kindes, wiederholt werden. – Wird der Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft eines im Wege der 373 heterologen Insemination gezeugten Kindes mit der Begründung abgewiesen, diese sei einvernehmlich zwischen Mutter und Vater erfolgt (§ 1600 Abs. 5 BGB), ist hiermit ebenfalls keine rechtskraftfähige Entscheidung über die Abstammung verbunden. Die Anfechtung der Vaterschaft kann also noch durch das Kind erfolgen, nicht dagegen durch den Samenspender, da dieser der Mutter nicht beigewohnt hat (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB). – Wird der Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft abgewiesen, weil 374 die Anfechtungsfrist versäumt ist oder aber ein Anfangsverdacht nicht dargelegt oder nachgewiesen wurde, ist auch hiermit keine Entscheidung über die Abstammung verbunden. Sie wirkt nicht inter omnes (§ 184 Abs. 2 FamFG). Nach Behebung des Mangels oder durch einen Dritten, der keinen Anfangsverdacht darlegen muss (Behörde!), kann also noch die Anfechtung der Vaterschaft erfolgen1. Hiervon abweichend ist aber zu berücksichtigen, dass es einer erneuten Anfechtung durch den leiblichen Vater endgültig entgegensteht, wenn sein Antrag mit der Begründung zurückgewiesen wurde, dass zwischen dem statusrechtlichen Vater und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht (§ 1600 Abs. 2 BGB). In diesem Fall kann auch nicht eingewandt werden, diese sei nachträglich entfallen2. – Soweit ein Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft Erfolg hat, ist da- 375 mit nur rechtskräftig mit Wirkung inter omnes festgestellt, dass der statusrechtliche Vater nicht der Vater des Kindes ist. Hierdurch ist ein Mann, der als biologischer Vater in Betracht kommt, aber nicht gehindert, seine Vaterschaft weiter zu bestreiten3.
1 Prütting/Helms/Stößer, § 184 FamFG Rn. 9. 2 Erman/Hammermann, § 1600 BGB Rn. 19. 3 BGH v. 4.7.2007 – XII ZB 68/04, FamRZ 2007, 1731 = FamRB 2007, 297; Prütting/Helms/Stößer, § 184 FamFG Rn. 8.
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Kap. 3 B Rn. 376
Verfahren in Abstammungssachen
XI. Beschwerde 376
Gegen Endentscheidungen in Abstammungssachen ist das Rechtsmittel der Beschwerde statthaft (§ 58 Abs. 1 FamFG). Beschwerde kann auch isoliert gegen die Kostenentscheidung eingelegt werden; auch wenn Abstammungssachen eigentlich keine vermögensrechtliche Angelegenheiten sind, ist dies allerdings nur möglich, wenn der Beschwerdewert von 600 Euro erreicht ist1.
377
Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats ab Zustellung bei dem Gericht einzulegen, dessen Entscheidung angefochten werden soll (§ 63 Abs. 1, 3 FamFG). Sofern jemand Beschwerde einlegen will, der noch nicht an dem Verfahren beteiligt war, endet die Beschwerdefrist für diesen einen Monat, nachdem die letzte Zustellung an eine an dem Verfahren beteiligte Person erfolgt ist2.
378
Die Beschwerde ist bei dem Amtsgericht – Familiengericht – einzulegen, dessen Entscheidung angefochten werden soll (§ 64 FamFG). Sie soll begründet werden (§ 65 FamFG). Unterbleibt eine Begründung, wird die Beschwerde hierdurch nicht unzulässig, idR wird das Beschwerdegericht aber im schriftlichen Weg ohne erneute mündliche Verhandlung über die Beschwerde entscheiden (§ 68 Abs. 3 FamFG).
379
Für das Beschwerdeverfahren besteht kein Anwaltszwang obwohl es vor dem Oberlandesgericht durchzuführen ist (§§ 114 Abs. 2, 10 Abs. 4 FamFG, 119 Abs. 1 Nr. 1a GVG).
380
Die Beschwerde setzt weiterhin voraus, dass der Beschwerdeführer beschwerdebefugt ist. Gem. § 59 Abs. 1 FamFG ist hierfür an sich erforderlich, dass der Beschwerdeführer durch die angefochtene Entscheidung in seinen Rechten beeinträchtigt ist. Abweichend hiervon ist gem. § 184 Abs. 3 FamFG jeder Beteiligte beschwerdebefugt. Beschwerdebefugt ist auch, wer zu dem Verfahren als Beteiligter hinzuzuziehen gewesen wäre. Eine Beeinträchtigung von Rechten ist nicht erforderlich3. Weiterhin ist (auf Seiten des Antragstellers) auch keine formelle Beschwer erforderlich. Wie sich aus § 185 Abs. 2 FamFG ergibt, kann daher auch der Antragsteller Beschwerde einlegen, wenn die Entscheidung antragsgemäß ergangen ist4. Demgegenüber können Personen, die nur ein mittelbares statusrechtliches Interesse haben, wie zB nahe Verwandte der Beteiligten, keine Beschwerde gegen die Entscheidung einlegen5.
1 Prütting/Helms/Abramenko, § 58 FamFG Rn. 2 und § 61 Rn. 3; aA OLG Nürnberg v. 17.12.2009 – 7 WF 1483/09, FamRZ 2010, 998. 2 Prütting/Helms/Abramenko, § 63 FamFG Rn. 7. 3 Prütting/Helms/Stößer, § 184 FamFG Rn. 11. 4 Prütting/Helms/Stößer, § 184 FamFG Rn. 12. 5 Keidel/Engelhardt, § 184 FamFG Rn. 4.
158
Siede
Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 384
Kap. 3 B
XII. Wiederaufnahme Gem. § 48 FamFG können Beschlüsse mit Dauerwirkung abgeändert oder 381 aufgehoben werden, wenn sich nachträglich die tatsächliche oder rechtliche Grundlage ändert. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn neue Tatsachen bekannt werden. Hierdurch würde allerdings das Vertrauen in die Beständigkeit statusrechtlicher Entscheidungen zu sehr erschüttert. Daher sind Entscheidungen in Abstammungssachen nicht abänderbar (§ 184 Abs. 1 S. 2 FamFG). Als Ausgleich sind sie allerdings leichter einer Überprüfung im Wieder- 382 aufnahmeverfahren zugänglich (§ 185 Abs. 1 FamFG). Die Wiederaufnahme ist neben den Fällen des § 580 ZPO auch möglich, wenn durch einen rechtskräftigen Beschluss über die Abstammung entschieden wurde und durch einen Beteiligten ein Gutachten vorgelegt wird, das allein oder in Verbindung mit anderen in dem früheren Verfahren erhobenen Beweisen eine andere Entscheidung herbeigeführt haben würde. Ist durch den Beschluss demgegenüber nicht über die Abstammung entschieden worden, greifen die erweiterten Möglichkeiten der Wiederaufnahme gem. § 185 Abs. 1 FamFG nicht. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Antrag wegen Anfechtung der Vaterschaft abgewiesen wurde, weil der Antragsteller nicht anfechtungsberechtigt war oder die Anfechtungsfrist versäumt hat1. Auch das Wiederaufnahmeverfahren gem. § 185 FamFG zerfällt in drei Stufen2.
383
Auf der ersten Stufe ist zu prüfen, ob die formalen Voraussetzungen für 384 die Wiederaufnahme vorliegen. Der Antrag ist an das Gericht zu richten, das im ersten Rechtszug ursprünglich entschieden hatte (§ 185 Abs. 3 FamFG, dort auch zur ausnahmsweise gegebenen Zuständigkeit des Rechtsmittelgerichts). Antragsberechtigt sind jeder Beteiligte im Sinn des § 172 Abs. 1 FamFG sowie der Antragsteller. Eine formelle Beschwer ist auch hier nicht erforderlich. Den Wiederaufnahmeantrag kann auch stellen, wer im früheren Verfahren mit seinem Antrag Erfolg („obsiegt“) hatte. Voraussetzung ist weiterhin, dass der Antrag ordnungsgemäß gestellt wird. Ist der Wiederaufnahmeantrag gegen einen Beschluss gerichtet, durch den über die Abstammung entschieden wurde, ist mit dem Antrag ein Gutachten vorzulegen, das allein oder in Verbindung mit weiteren im ursprünglichen Verfahren erhobenen Beweisen eine andere Entscheidung rechtfertigen würde. Fehlt dem Antrag ein solches Gutachten, kann der Mangel geheilt werden, indem dieses nachgereicht wird3.
1 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 361. 2 Vgl. hierzu FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 363 ff. 3 Prütting/Helms/Stößer, § 185 FamFG Rn. 4.
Siede
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Kap. 3 B Rn. 385
Verfahren in Abstammungssachen
385
Ist der Antrag zulässig, ist auf der zweiten Stufe zu prüfen, ob das neue Gutachten die Richtigkeit der ursprünglichen Entscheidung zu erschüttern vermag. Daran fehlt es, wenn dieses entweder keinen ausreichenden Beweiswert hat oder zu keinem anderen Ergebnis führt. Bei der Vorlage eines privaten Abstammungsgutachtens sollte daher darauf geachtet werden, dass dieses unter Berücksichtigung der Richtlinien des Robert-KochInstituts für die Erstellung von Abstammungsgutachten erstellt wird (s. oben Rn. 318–321 und 328–332).
386
Ist das Gutachten ausreichend, ist auf der dritten Stufe wie im Hauptsacheverfahren erneut zu entscheiden. Erweist sich die ursprüngliche Entscheidung als zutreffend, ist sie gleichwohl aufzuheben und eine in der Sache gleichlautende Entscheidung zu erlassen, andernfalls ist der Beschluss aufzuheben und eine abweichende Entscheidung zu erlassen (§ 590 ZPO)1.
XIII. Kosten/Gebühren 1. Verfahrenswert 387
Der Verfahrenswert in Abstammungssachen ist in § 47 FamGKG geregelt. Demnach beträgt der Wert für Verfahren wegen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Eltern-Kind-Verhältnisses, insbesondere der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Anerkennung der Vaterschaft sowie wegen Anfechtung der Vaterschaft pauschal 2000 Euro (§ 47 Abs. 1 FamGKG, § 169 Abs. 1 Nr. 1, 4 FamFG), s. bereits oben Rn. 250. Bei den übrigen Abstammungssachen (insoweit kommen wegen § 169 Nr. 2, 3 FamFG nur Verfahren wegen der Klärung der genetischen Abstammung in Betracht) beträgt der Verfahrenswert pauschal 1000 Euro.
388
Soweit vertreten wird, bei mehreren Kindern vervielfältige sich der Verfahrenswert ist dies im Ergebnis zutreffend2, beruht aber darauf, dass Abstammungssachen, die verschiedene Kinder betreffen, nicht verbunden werden dürfen (§ 179 Abs. 1 FamFG), so dass der Wert für jedes Verfahren anfällt3.
389
Werden mehrere Abstammungssachen, die dasselbe Kind betreffen, verbunden, sind die Gegenstandswerte zu addieren (§ 33 Abs. 1 FamGKG). Dies kommt zB in Betracht, wenn das Kind in einem Verfahren die Vaterschaft des statusrechtlichen Vaters anficht und gleichzeitig beantragt, dass die Vaterschaft eines anderen Mannes festgestellt wird. Zwei Verfahrensgegenstände, deren Werte zu addieren sind, liegen auch vor, wenn der Mann das Kind auf Einwilligung in die Durchführung einer abstam1 Zöller/Greger, § 590 ZPO Rn. 16. 2 FAFamR/Keske, Kap. 17 Rn. 93; Prütting/Helms/Klüsener, § 47 FamGKG Rn. 3. 3 So auch Vogel, FPR 2010, 313.
160
Siede
Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 392
Kap. 3 B
mungsgenetischen Untersuchung und Duldung der Entnahme der hierfür erforderlichen Proben in Anspruch nimmt. Nimmt das Kind einen Mann auf Feststellung der Vaterschaft und gleich- 390 zeitig gem. §§ 237, 179 FamFG auf Zahlung von Unterhalt in Anspruch, ist allein der Wert des höheren Anspruchs maßgeblich, da in diesem Fall die Verfahren wegen einer nichtvermögensrechtlichen Angelegenheit (Feststellung der Vaterschaft) und einer vermögensrechtlichen Angelegenheit (Unterhalt) zusammenfallen (§ 33 Abs. 1 S. 2 FamGKG)1. Den höheren Verfahrenswert wird gem. § 51 FamGKG idR der Antrag wegen der Verpflichtung zur Zahlung von Unterhalt haben. Auch wenn das Kind in die Altersstufe I fällt, hat dieser Antrag gem. § 51 Abs. 1 FamGKG einen Verfahrenswert iHv. 12 × 225. Euro2 = 2700. Euro zzgl. der bis zur Antragstellung aufgelaufenen Rückstände, die meist gem. § 1613 Abs. 2 Nr. 2a, b BGB in voller Höhe ab Geburt des Kindes geltend gemacht werden können, soweit sie nicht auf einen Dritten übergegangen sind (s. §§ 1607 Abs. 2 BGB, 7 UVG, 33 SGB II). Eine Addition der Verfahrenswerte des nichtvermögensrechtlichen Gegenstandes und des vermögensrechtlichen Gegenstandes entfällt also. Abweichungen von den Regelwerten des § 47 Abs. 1 FamGKG sind mög- 391 lich, wenn diese Werte nach den besonderen Umständen des Einzelfalles unbillig sind (§ 47 Abs. 2 FamGKG). Der Gesetzgeber hat hier vor allem an Fälle gedacht, in denen der Vater in deutlich überdurchschnittlichen Einkommens- oder Vermögensverhältnissen lebt3. Rechtsprechung zu solchen Fällen ist, soweit ersichtlich, noch nicht veröffentlicht. Als Vergleichsmaßstab mag dienen, dass in Adoptionssachen, die für ein Kind ebenfalls ein neues Abstammungsverhältnis begründen, üblicherweise 25 % des Reinvermögens des Annehmenden zugrundegelegt werden (§ 42 FamGKG, wenn das Kind volljährig ist)4. 2. Gerichtskosten Nach Anl. I zu § 3 Abs. 2 FamGKG (Kostenverzeichnis) fallen für das Ver- 392 fahren erster Instanz in Abstammungssachen grundsätzlich zwei Gebühren an (KV Nr. 1320). Dies ermäßigt sich auf 0,5 Gebühren, wenn das Verfahren ohne Endentscheidung oder durch Antragsrücknahme beendet wird (KV Nr. 1321). In Vaterschaftsfeststellungsverfahren empfiehlt es sich deshalb, wenn die Vaterschaft durch ein gerichtlich eingeholtes 1 Prütting/Helms/Klüsener, § 33 FamGKG Rn. 6; FAFamR/Keske, Kap. 17 Rn. 16.95; Vogel, FPR 2010, 313, allerdings ohne Berücksichtigung der Verrechnung des Kindergeldes. 2 Hier ist der Zahlbetrag nach Kindergeldverrechnung gem. § 1612b Abs. 1 Nr. 1 BGB maßgeblich! 3 Vogel, FPR 2010, 313. 4 Vgl. hierzu zu §§ 30, 39 Abs. 4 KostO, die allerdings nur für die Beurkundung des Annahmeantrags gelten; Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Sieghörter, Adoptionsrecht in der Praxis, Rn. 524, 515.
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Kap. 3 B Rn. 393
Verfahren in Abstammungssachen
Sachverständigengutachten festgestellt ist und keine Einwendungen gegen dieses Gutachten vorgebracht werden können, die Vaterschaft anzuerkennen. Dies ist zu Protokoll des Gerichts möglich (§ 180 FamFG)1, kann aber auch außerhalb des Verfahrens kostenfrei zur Urkunde des Rechtspflegers am Amtsgericht, des Standesbeamten oder des Jugendamts erfolgen (s. oben Rn. 22). 3. Anwaltskosten 393
An Anwaltskosten fallen neben den üblichen außer- und vorgerichtlichen Gebühren für die Vertretung in dem gerichtlichen Verfahren eine 1,3-fache Verfahrensgebühr und eine 1,2-fache Terminsgebühr an (KV Nr. 3100 und 3104). Vertritt ein Anwalt mehrere Beteiligte (zB Mutter und Kind), erhöht sich diese entsprechend § 7 RVG. Weiterhin kann eine Einigungsgebühr gem. KV Nr. 1000 anfallen. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Anwalt an einer Einigung der Beteiligten mitwirkt und daraufhin der an dem Verfahren beteiligte Mann die Vaterschaft zu Protokoll des Gerichts anerkennt (§ 180 FamFG), auch wenn – ein Vergleich mit statusbegründender Wirkung kann nicht geschlossen werden – ein Vergleich im eigentlichen Sinn nicht protokolliert wird2. 4. Verfahrenskostenhilfe
394
Die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe richtet sich nach den §§ 76–78 FamFG. Demnach kann Verfahrenskostenhilfe bewilligt werden, wenn die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, nicht mutwillig ist und der Antragsteller (der Verfahrenskostenhilfe) bedürftig ist. a) Bedürftigkeit
395
Hinsichtlich der Bedürftigkeit wird auf die Kommentierungen zu § 115 ZPO verwiesen3. Auch ein unterhaltsrechtlicher Anspruch auf Zahlung eines Verfahrenskostenvorschusses, der einzusetzendes Vermögen darstellt, kommt in Betracht. b) Erfolgsaussicht
396
Die Rechtsverfolgung muss hinreichende Aussicht auf Erfolg haben. Diese Voraussetzung gilt in Abstammungssachen nur eingeschränkt.
1 Allerdings besteht dann das Risiko, dass uU eine Einigungsgebühr für die Verfahrensbevollmächtigten anfallen könnte. 2 Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 274. 3 S. beispielsweise Zöller/Geimer, § 115 ZPO.
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Verfahren in Abstammungssachen
Rn. 400
Kap. 3 B
aa) Feststellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses In Verfahren wegen der Feststellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses hat die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn der Antrag zulässig ist und der Antragsteller behauptet, dass der als Vater in Anspruch genommene Mann der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hat1. Demgegenüber spielt es keine Rolle, wie sich die anderen Beteiligten (meist Vater und Mutter bzw. Kind) zu dem Antrag verhalten; denn diese werden gem. § 172 FamFG ohne ihr Zutun zum Verfahren hinzugezogen. Ihnen ist also ohne Prüfung der „Erfolgsaussicht“ Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen2.
397
bb) Anfechtung der Vaterschaft In Verfahren wegen Anfechtung der Vaterschaft ist dem Antragsteller 398 Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen, wenn der Antrag zulässig und schlüssig ist, so dass Beweis erhoben werden kann. Dies setzt voraus, dass er – nach seinem Vorbringen – anfechtungsberechtigt ist sowie dass nach seinem Vorbringen die Anfechtungsfrist gewahrt und der Anfangsverdacht schlüssig dargelegt ist. Ficht der leibliche Vater an, hat er auch an Eides statt zu versichern, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Weiterhin hat er die Umstände darzulegen, aufgrund derer nach seiner Auffassung keine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem statusrechtlichen Vater und dem Kind besteht. Auch im Fall der Anfechtung der Vaterschaft gilt, dass hinsichtlich der 399 übrigen Beteiligten keine Prüfung der Erfolgsaussichten zu erfolgen hat, da diese ohne ihr Zutun als Beteiligte zum Verfahren hinzugezogen werden3. c) Keine Mutwilligkeit Auch wenn der statusrechtliche Vater die Vaterschaft anerkannt hatte, 400 obwohl er wusste oder davon ausgehen musste, nicht der leibliche Vater des Kindes zu sein, führt dies nicht dazu, dass die Verfahrenskostenhilfe mit dem Argument verweigert werden kann, die nunmehr erfolgte Anfechtung der Vaterschaft sei mutwillig4.
1 2 3 4
Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 266. Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 266. Helms/Kieninger/Rittner/Kieninger, Rn. 266. Vgl. die im Hauptsacheverfahren ergangene Entscheidung OLG Köln v. 25.10.2001 – 14 UF 106/01, FamRZ 2002, 629 = FamRB 2002, 103; demnach ist eine Anerkennung zB im Zusammenhang mit der Eheschließung mit der Mutter, auch wenn sie hinsichtlich der Abstammung bewusst unrichtig erfolgt, nicht mutwillig.
Siede
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Kap. 3 C
Moderne Fortpflanzungsmedizin
d) Beiordnung eines Rechtsanwalts 401
Gem. § 78 Abs. 2 FamFG ist dem Beteiligten auf Antrag ein Anwalt beizuordnen, wenn dies aufgrund der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage erforderlich erscheint. Aufgrund der existentiellen Bedeutung eines Statusverfahrens für die Beteiligten ist dem Antragsteller in aller Regel ein Rechtsanwalt beizuordnen1. Dies gilt auch dann, wenn der Antrag für ein minderjähriges Kind geltend gemacht werden soll. In diesem Fall ist es auch nicht mutwillig, wenn das Kind nicht von der Möglichkeit der Beistandschaft durch das Jugendamt Gebrauch macht, sondern sich durch einen Anwalt in dem Verfahren vertreten lässt; denn durch das Jugendamt kann nicht die umfassende rechtliche Beratung hinsichtlich der Folgen der statusrechtlichen Feststellung wie durch einen Rechtsanwalt erfolgen2.
402
Inwieweit anderen Beteiligten ein Rechtsanwalt beizuordnen ist, ist eine Frage des Einzelfalles3. Es verbietet sich jede schematische Betrachtungsweise. Kriterien sind die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage, die subjektiven Fähigkeiten des Beteiligten, aber auch der Grundsatz der Waffengleichheit, wenn ein anderer Beteiligter durch einen Anwalt vertreten ist. Dementsprechend wird im Hinblick auf die Bedeutung von Abstammungsverfahren in den Fällen der § 169 Nr. 1 (Feststellungsverfahren) und Nr. 4 (Anfechtungsverfahren) FamFG idR ein Anwalt beizuordnen sein4.
C. Annex: Moderne Fortpflanzungsmedizin 403
Die Rechtsfolgen der modernen Fortpflanzungsmedizin sind nicht einheitlich geregelt. Die mit diesen Methoden verbundenen Probleme wurden hinsichtlich des materiellen und des formellen Abstammungsrechts bereits dargestellt. Die nachfolgende Darstellung soll deshalb nur einen kompakten Überblick ermöglichen.
404
Das Gesetz geht hinsichtlich des Abstammungsrechts noch vom Normalfall der so genannten Beiwohnung aus. Die Eizelle einer Frau wird mit dem Samen eines Mannes in deren Körper befruchtet. Dies ist auch
1 OLG Karlsruhe v. 21.1.2009 – 2 WF 205/08, FamRZ 2009, 900 = FamRB 2009, 142. 2 OLG Karlsruhe v. 21.1.2009 – 2 WF 205/08, FamRZ 2009, 900 = FamRB 2009, 142. 3 BGH v. 23.6.2010 – XII ZB 232/09, FamRZ 2010, 1427 = FamRB 2010, 266, für ein Umgangsverfahren. 4 FAFamR/Geißler, Kap. 16 Rn. 224.
164
Siede/Grziwotz
Moderne Fortpflanzungsmedizin
Rn. 407
Kap. 3 C
der Fall, wenn dies „künstlich“ unter ärztlicher „Assistenz“ erfolgt (sog. artifizielle Insemination). Die Abstammung bestimmt sich nach § 1591 und § 1592 BGB. In weiteren Fällen der „Fortpflanzung“ können die genetische und die rechtliche Abstammung voneinander abweichen: – Dies ist noch nicht bei der homologen Insemination im Reagenzglas (In-vitro-Fertilisation) der Fall, bei der die Eizelle der Ehefrau außerhalb ihres Körpers mit dem Samen des Mannes künstlich befruchtet und sodann in die Gebärmutter eingepflanzt wird. Die rechtlichen Folgen hinsichtlich der Abstammung ergeben sich aus den §§ 1591, 1592 BGB1.
405
– Bei einer heterologen Insemination entweder im Körper der Frau oder 406 im Reagenzglas mit einer Eizelle der Frau erfolgt die Befruchtung mit dem Samen eines fremden Mannes mit dessen Einverständnis. Für die Mutterschaft ergeben sich nach § 1591 BGB keine Probleme. Auch die Vaterschaft bestimmt sich zunächst nach § 1592 BGB. Allerdings können weder die Frau noch der einwilligende Mann später die Vaterschaft anfechten (§ 1600 Abs. 5 BGB). Unberührt bleibt die Anfechtung durch das Kind und den Samenspender, wobei bei letzterem eine Einschränkung besteht, wenn eine sozial-familiäre Beziehung zum „Scheinvater“ vorliegt (§ 1600 Abs. 2 BGB)2. Im Fall der In-vitro-Fertilisation fehlt es auch an der gem. § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB erforderlichen Beiwohnung (s. oben Rn. 71, 268). – In den Fällen der in Deutschland verbotenen Eispende (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 407 und 6 ESchG und § 13a Nr. 1 AdVermiG)3, bei der eine Eizelle einer anderen Frau in die Gebärmutter der das Kind austragenden und gebärenden Frau eingepflanzt wird, bestimmt sich die Mutterschaft nach § 1591 BGB. Mutter ist die gebärende Frau (sog. Geburtsmutterschaft). Eine gerichtliche Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens der Mutterschaft ist wegen der konstruktiven Wirkung des § 1591 BGB grundsätzlich nicht möglich. Ausnahmen bestehen in Fällen zweifelhafter Zuordnung (zB Kindesverwechslung, unzutreffende Personenstandseintragungen), der Anwendung ausländischen Rechts und bei
1 Um eine quasi-homologe Insemination handelt es sich, wenn der Samen nicht vom Ehemann, sondern dem „Wunschvater“ (zB Verlobter, Lebensgefährte etc.) stammt. Vgl. Kirchmeier, FamRZ 1998, 1281 ff. 2 Vgl. dazu BGH v. 6.12.2006 – XII ZR 164/04, FamRZ 2007, 538 = MDR 2007, 723; BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 150/06, FamRZ 2008, 1821 = MDR 2008, 1217; BGH v. 26.11.2008 – XII ZR 85/08, juris. 3 Zur fehlenden Strafbarkeit der Wunsch- und Ersatzmutter vgl. § 1 Abs. 3 Nr. 1 ESchG. Zur Nichtigkeit entsprechender Vereinbarungen vgl. Coester-Waltjen, FamRZ 1992, 369 (371) (Verstoß gegen gesetzliches Verbot) und OLG Hamm v. 2.12.1985 – 11 W 18/85, NJW 1986, 781 (Sittenwidrigkeit). S aber EGMR v. 1.4.2010 – 57813/00, FamRZ 2010, 957. Vgl. auch Beitz, Zur Reformbedürftigkeit des Embryonenschutzgesetzes, 2009, S. 219 ff.
Grziwotz
165
Kap. 3 C Rn. 408
Moderne Fortpflanzungsmedizin
Übertretung eines gesetzlichen Verbots (§ 1307 BGB, § 173 StGB; s. hierzu oben Rn. 6, 7)1. 408
– Die Vaterschaft bestimmt sich auch bei der homologen und heterologen Eispende nach § 1592 BGB. Bei der heterologen Eispende, bei der das Ei mit dem Samen eines fremden Mannes befruchtet wird, ist wiederum § 1600 Abs. 5 BGB hinsichtlich des Anfechtungsausschlusses anwendbar (s.o. Rn. 71, 268). Gleiches gilt für die Anfechtung des Samenspenders gem. § 1600 Abs. 2 BGB bei einer sozial-familiären Beziehung. Erfolgte die künstliche Befruchtung im Wege der In-vitro-Fertilisation ist die Anfechtung des Samenspenders generell ausgeschlossen (s.o. Rn. 32). Die Anfechtung durch die „Eispenderin“ ist nach dem Gesetzeswortlaut weder ausgeschlossen noch zugelassen2.
409
– Besondere Probleme bereiten die Fälle der Leih- und Ersatzmutterschaft (vgl. Rn. 7–12). Sie ist strafbar (§ 1 Abs. 1 Nr. 7 ESchG, § 13a Nr. 2 AdVermiG)3. Wird die Eizelle einer Frau im Labor mit dem Samen eines Mannes befruchtet und in die Gebärmutter der anderen Frau eingepflanzt4, die es austrägt und gebärt, bestimmt sich die Mutterschaft nach § 1591 BGB. Die Vaterschaft regelt § 1592 BGB. Von Bedeutung ist, ob die gebärende Frau verheiratet ist. Auch die Vermutung des § 1592 Nr. 1 BGB gilt nämlich. Eine Anfechtung der Vaterschaft durch die Leihmutter und deren Ehemann ist nach § 1600 Abs. 5 ausgeschlossen. Der leibliche Vater kann die Vaterschaft wohl nur dann anfechten, wenn das Kind zur Adoption freigegeben wird. Gleiches gilt in den Fällen der Ersatzmutterschaft, in denen die Eizelle einer Frau mit dem Sperma eines Mannes im Labor befruchtet und sodann in die Gebärmutter einer anderen Frau, die das Kind zur Welt bringt, eingepflanzt wird. Regelmäßig wird in den Fällen der Ersatz- und Leihmutterschaft das Kind zur Adoption freigegeben. In diesen Fällen ist allerdings § 1741 Abs. 1 S. 2 BGB zu beachten, nach der die Adoption in den Fällen der gesetzes- und sittenwidrigen Adoptionsvermittlung nur dann ausgesprochen werden soll, wenn dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist5.
1 Vgl. Kemper/Schreiber/Fritsche, Familienverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, § 169 FamFG Rn. 5, 10 und 12 sowie Löhnig, in Bork/Jakoby/Schwab, § 169 FamFG Rn. 14. 2 NK-BGB/Gutzeit, vor § 1591 BGB Rn. 11. 3 Nicht jedoch für die Ersatz- und Wunschmutter (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 ESchG). 4 Es handelt sich nach der gesetzlichen Definition um einen Embryo (§ 8 Abs. 1 ESchG). 5 Vgl. AG Hamm v. 22.2.2011 – XVI 192/08, juris.
166
Grziwotz
Kapitel 4 Annahme als Kind Inhaltsübersicht A. Materielles Adoptionsrecht I. Adoption Minderjähriger (§§ 1741–1766 BGB) (Grziwotz) 1. Beteiligte Personen a) Gemeinsame Annahme durch ein Ehepaar . . . . . . . . . b) Einzelannahme durch Unverheiratete . . . . . . . . . . . . . . . c) Sonderfall der eingetragenen Lebenspartner (§ 9 Abs. 7 LPartG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Adoptionsvoraussetzungen und -verbote a) Minderjährigkeit . . . . . . . . . . b) Verbot der Zweitadoption . . c) Tod des Kindes . . . . . . . . . . . . d) Kinderlosigkeit . . . . . . . . . . . . e) Geschäftsfähigkeit und Mindestalter des Annehmenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Fremdes Kind . . . . . . . . . . . . . g) Kindeswohl und ElternKind-Verhältnis . . . . . . . . . . . h) Entgegenstehende Kindesinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Antrags- und Zustimmungserfordernisse a) Antrag des Annehmenden . . b) Einwilligungen aa) Notwendigkeit der Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . bb) Entbehrlichkeit der Einwilligung (Siede) . . . . . . . cc) Ersetzung der Einwilligung des nicht sorgeberechtigten Vaters . . . . . dd) Ersetzung der Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Pflichtverletzung. . . . (2) Gleichgültigkeit . . . . (3) Unverhältnismäßiger Nachteil . . . . . . . . . . . (4) Erkrankung/Behinderung . . . . . . . . . . . . . . .
2 4 5 6 7 8 9 10 12 14 20 21 22 25 31 32 33 39 42 43
(5) Ersetzung der Einwilligung von Vätern, denen das Sorgerecht gem. § 1626 Abs. 2 BGB nicht zusteht . . . ee) Vorwirkungen (Grziwotz) . . . . . . . . . . . . . 4. Adoptionswirkungen bei der Minderjährigenadoption a) Statusänderung . . . . . . . . . . . . b) Namensrechtliche Folgen . . c) Erb- und Pflichtteilsrecht . . . d) Wirkungen im öffentlichen Recht und im Steuerrecht . . 5. Aufhebung der Adoption . . . . . . II. Volljährigenadoption (§§ 1767 bis 1772 BGB) 1. Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen der Volljährigenadoption . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Adoptionswirkungen bei der Volljährigenadoption . . . . . . . . . 4. Aufhebung der Volljährigenadoption. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44 48 49 53 58 61 68
71 72 77 81
III. Inlandsadoptionen mit ausländischen Staatsangehörigen . . . . 83 B. Verfahren in Adoptionssachen (Siede) I. Inländische Adoptionssachen . 90 1. Zuständigkeit a) Internationale Zuständigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 b) Sachliche Zuständigkeit . . . . 101 c) Örtliche Zuständigkeit . . . . . 102 d) Sonstiges. . . . . . . . . . . . . . . . . 110a 2. Beteiligte a) Verfahren wegen Annahme eines Kindes (§ 186 Nr. 1 FamFG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Verfahren wegen Ersetzung der Einwilligung (§ 186 Nr. 2 FamFG) . . . . . . . . . . . . . . 123 c) Aufhebung der Annahme (§ 186 Nr. 3 FamFG) . . . . . . . . 127 d) Aufhebung des Eheverbots (§ 186 Nr. 4 FamFG) . . . . . . . . 128
167
Kap. 4 A Rn. 1
Materielles Adoptionsrecht
3. Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Antrag auf Annahme eines Kindes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ersetzung der Einwilligung . c) Kosten und Verfahrenskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verbindungsverbot . . . . . . . . b) Prüfung der sachlichen Voraussetzungen der Adoption . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ablehnender Beschluss . . . . b) Beschluss nach Antrag . . . . . c) Beschlüsse in anderen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kosten und Gebühren . . . . . . II. Verfahren mit Auslandsbezug 1. Adoption Minderjähriger a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . c) Verfahren aa) Annahme von Kindern aus Staaten, die dem HAÜ beigetreten sind . . bb) Annahme von Kindern aus Staaten, die dem HAÜ nicht beigetreten sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129 130 146 148 153 154 157 166 167 173 176 178
180 182
183
cc) Adoption ausländischer Kinder im Inland . . . . . . . 191 d) Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 e) Anerkennung der Adoption minderjähriger Kinder im Ausland/Umwandlung sog. „schwacher Adoptionen“ aa) Voraussetzungen der Anerkennung/Feststellung der Wirksamkeit (1) Adoptionen aufgrund der Bestimmungen des HAÜ. . . . . . . . . . . . 201 (2) Dekretadoptionen von Staaten, die dem HAÜ nicht beigetreten sind. . . . . . . . . . . . . 202 (3) Vertragsadoptionen von Staaten, die dem HAÜ nicht beigetreten sind. . . . . . . . . . . . . 205 bb) Voraussetzungen der Umwandlung . . . . . . . . . . 206 cc) Nachadoption . . . . . . . . . . 208 dd) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . 209 2. Adoption Volljähriger . . . . . . . . . 221
190
A. Materielles Adoptionsrecht 1
Die Annahme als Kind führt zur Begründung eines rechtlichen ElternKind-Verhältnisses. Sie unterscheidet sich von der heterologen Insemination sowie der (verbotenen) Eispende dadurch, dass allein die rechtliche Zuordnung das neue Verwandtschaftsverhältnis schafft. In den vorgenannten Fällen der modernen Fortpflanzungsmedizin besteht bei entsprechenden Sachverhalten (zB unterlassene Abtreibung, Herbeiführung der Schwangerschaft durch einen Dritten) zumindest eine, wenn auch unzutreffende „blutsmäßige“ Zuordnung. Statistisch am häufigsten ist die Adoption eines Stiefkinds, um die meist gegebene soziale Elternschaft auch rechtlich zu fundieren und gleichzeitig das rechtliche Band zum „außenstehenden“ Elternteil zu durchtrennen.
168
Grziwotz
Materielles Adoptionsrecht
Rn. 5
Kap. 4 A
I. Adoption Minderjähriger (§§ 1741–1766 BGB) 1. Beteiligte Personen a) Gemeinsame Annahme durch ein Ehepaar Eine gemeinschaftliche Adoption ist nach derzeit geltender Rechtslage 2 nur einem Ehepaar gestattet (§ 1741 Abs. 2 S. 2 BGB). Eine verheiratete Person kann ein Kind auch nur gemeinschaftlich mit seinem Ehegatten annehmen. Eine Einzelannahme ist verheirateten Personen nur gestattet bei der – Stiefkindadoption, dh. der Annahme des Kindes des Ehegatten (§ 1741 Abs. 2 S. 3 BGB), – Adoptionsunfähigkeit des Ehepartners, da dieser geschäftsunfähig oder noch nicht 21 Jahre alt ist (§ 1741 Abs. 2 S. 4 BGB). Eine Einzelannahme ist auch mit Zustimmung des anderen Ehegatten1 3 und selbst, wenn die Ehegatten schon lange Zeit getrennt leben, nicht zulässig.
Û
Wichtig: Ein Ehegatte kann im Normalfall somit kein Kind allein annehmen, wenn der andere nicht einverstanden ist. Dies würde auch dem Kindeswohl nicht entsprechen. Deshalb gilt dies auch dann, wenn der Adoptionswillige der leibliche Vater des anzunehmenden Kindes ist2 und die rechtliche Vaterschaft durch eine Anfechtung nicht mehr beseitigt werden kann.
b) Einzelannahme durch Unverheiratete Wer nicht verheiratet ist, kann ein Kind nur allein annehmen (§ 1741 Abs. 2 S. 1 BGB). Auch langjährige Lebensgefährten und Geschwister können somit nicht gemeinsam adoptieren.
4
c) Sonderfall der eingetragenen Lebenspartner (§ 9 Abs. 7 LPartG) Ein Lebenspartner kann ein Kind seines Lebenspartners allein annehmen (§ 9 Abs. 7 S. 1 LPartG). Eine gemeinschaftliche Annahme des Kindes durch eingetragene Lebenspartner ist somit nach dem Gesetzeswortlaut – anders als bei Ehegatten – nicht zulässig. Demgegenüber lässt dieser – entgegen dem historischen Willen des Gesetzgebers – die Annahme eines bereits angenommenen Kindes des eingetragenen Lebenspartners zu3. 1 OLG Hamm v. 26.1.1999 – 15 W 464/98, FamRZ 2000, 257. 2 OLG Hamm v. 24.9.2002 – 15 W 285/01, FamRZ 2003, 1039; aA nur Krause, NotBZ 2006, 221 (223). 3 AA OLG Hamm v. 1.12.2009 – 15 Wx 236/09, FamRZ 2010, 1260; wie hier dagegen bereits Grziwotz, FamRB 2009, 378 (379); von Dickhuth-Harrach, FPR 2005, 273 (276) und Müller, DNotZ 2010, 698.
Grziwotz
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Kap. 4 A Rn. 6
Materielles Adoptionsrecht
Geht man davon aus, dass eine sukzessive Adoption durch Lebenspartner zulässig ist oder zumindest zugelassen werden muss1, dürfte auch eine gemeinsame Adoption durch eingetragene Lebenspartner im Interesse des Kindes geboten sein2. 2. Adoptionsvoraussetzungen und -verbote a) Minderjährigkeit 6
Der Anzunehmende muss minderjährig sein. Maßgeblicher Zeitpunkt ist derjenige des Annahmebeschlusses. Wird das Kind während des Verfahrens volljährig, ist deshalb nur noch eine Volljährigenadoption möglich3. b) Verbot der Zweitadoption
7
Ein minderjähriges Kind, das bereits adoptiert wurde, kann, solange das Annahmeverhältnis besteht und der Adoptivelternteil lebt, nur von dessen Ehegatten (§ 1742 BGB) und nach der hier vertretenen Auffassung auch von dessen eingetragenem Lebenspartner (vgl. oben Rn. 5) angenommen werden. c) Tod des Kindes
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Das anzunehmende Kind muss beim Ausspruch der Annahme noch leben. Der Tod beendet das Verfahren und schließt eine postmortale Annahme aus (§ 1753 Abs. 1 BGB). d) Kinderlosigkeit
9
Obwohl die Annahme als Kind häufig das Fehlen eines leiblichen Abkömmlings ersetzt, ist Kinderlosigkeit der annehmenden Person keine Voraussetzung für die Annahme. Gleiches gilt für das Erreichen eines Alters, das eigene Kinder unwahrscheinlich erscheinen lässt. Auch eine Person, die leibliche oder bereits adoptierte Kinder hat, kann ein Kind annehmen. e) Geschäftsfähigkeit und Mindestalter des Annehmenden
10 Der Adoptierende muss unbeschränkt geschäftsfähig4 sein und das 25. Lebensjahr vollendet haben. Für die gemeinsame Adoption genügt es, 1 Vgl. den Vorlagebeschluss des OLG Hamburg v. 22.12.2010 – 2 Wx 23/09, FamRZ 2011, 1312. 2 Vgl. EGMR v. 26.2.2002 – 35615/97, FamRZ 2003, 149; EGMR v. 22.1.2008 – 43546/02, NJW 2009, 3637; aA Gerditz, JZ 2011, 930 ff. 3 Vgl. OLG Karlsruhe v. 15.11.1999 – 11 Wx 113/99, FamRZ 2000, 768. S auch Wuppermann, Adoption, 2006, Rn. 13. 4 Zum Vorliegen im Zeitpunkt der Entscheidung OLG München v. 7.4.2010 – 31 Wx 3/10, MDR 2010, 751.
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Grziwotz
Materielles Adoptionsrecht
Rn. 14
Kap. 4 A
wenn ein Ehegatte das 25. Lebensjahr und der andere das 21. Lebensjahr vollendet hat. Bei der Stiefkindadoption durch Ehegatten und eingetragene Lebenspartner muss der Annehmende nur das 21. Lebensjahr vollendet haben (§ 1743 BGB, § 9 Abs. 7 S. 2 LPartG). Weitere Altersbeschränkungen sieht das Gesetz nicht vor. Sie ergeben sich jedoch aus der Notwendigkeit des Entstehens eines Eltern-Kind-Verhältnisses. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter empfiehlt insofern einen Altersabstand von 40 Jahren als regelmäßige Höchstgrenze. Dies dürfte im Hinblick auf die veränderten Familienphasen längst überholt sein1.
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f) Fremdes Kind Zugelassen ist nur die Fremdadoption, nicht die Adoption des eigenen Kindes.
Û
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Wichtig: Die nichteheliche Mutter hat somit nicht mehr die Möglichkeit, den ungeliebten oder den lediglich „verwendeten“ Erzeuger des Kindes als rechtlichen Vater zu beseitigen.
Maßgeblich hinsichtlich des Verbots der Adoption des eigenen Kindes ist die rechtliche Elternschaft, nicht jedoch die blutsmäßige. Deshalb kann nach Verstreichen der diesbezüglichen Anfechtungsfristen der leibliche Vater das dem Ehemann der Mutter zugeordnete Kind mit Zustimmung des rechtlichen Vaters adoptieren2. Allerdings ist bei einem minderjährigen Kind auch hier das Verbot der Zweitadoption zu beachten. Hat der biologische Vater der Adoption seines Kindes zugestimmt, kann er es nicht „zurückadoptieren“, solange das Annahmeverhältnis nicht aufgehoben wurde.
13
g) Kindeswohl und Eltern-Kind-Verhältnis Zulässigkeitsvoraussetzung der Adoption ist, dass sie dem Wohl des Kindes dient und ferner ein Eltern-Kind-Verhältnis erwarten lässt (§ 1741 Abs. 1 S. 1 BGB). Die Annahme entspricht dem Kindeswohl, wenn sie die gesamten Lebensbedingungen des Kindes im Vergleich zur gegenwärtigen Situation positiv verändert, so dass eine merklich bessere Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zu erwarten ist3. Vor- und Nachteile für das
1 Ebenso Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Müller, Adoptionsrecht in der Praxis, Rn. 46. 2 Lipp/Wagenitz, Das neue Kindschaftsrecht, 1999, Rn. 8. 3 S. nur BayObLG v. 6.12.1996 – 1 Z BR 100/96, FamRZ 1997, 839; OLG Oldenburg v. 9.7.1997 – 5 W 102/97, IPrax 1998, 491; OLG Düsseldorf v. 18.1.2011 – I-25 Wx 28/10, FamRZ 2011, 1522.
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Kap. 4 A Rn. 15
Materielles Adoptionsrecht
Kind sind gegeneinander abzuwägen1. Die Vorteile überwiegen, wenn ein rechtlich oder faktisch nicht mehr bestehendes Betreuungsverhältnis durch eine aktive Eltern-Kind-Beziehung ersetzt wird2. 15 Die vom Gesetz genannte zweite Voraussetzung, die Entstehung eines Eltern-Kind-Verhältnisses, setzt, wenn nicht ein faktisches Eltern-KindVerhältnis bereits vorliegt, wie dies bei der Stiefkindadoption häufig der Fall sein wird, die ernsthafte Aussicht seiner Entstehung voraus3. Das Eltern-Kind-Verhältnis soll die natürliche Beziehung zwischen Eltern und Kindern „nachzeichnen“. Dies ist dann nicht der Fall, wenn die diesbezügliche Prognose völlig offen ist4. 16 Beide Voraussetzungen müssen zur Überzeugung des Familiengerichts vorliegen. Die hierzu vorgeschriebene Probezeit (§ 1744 BGB) und die Erholung der fachlichen Äußerung der Adoptionsvermittlungsstelle bzw. des Jugendamts im Verfahren (§ 189 FamFG) sollen dem Gericht die Prüfung bzw. die Prognose erleichtern. Stehen die beiden Voraussetzungen nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, hat es die Adoption abzulehnen5. 17 Die Kriterien, die beim Annahmewilligen eine Rolle spielen, sind dessen Alter, die Erziehungsfähigkeit und -willigkeit, Elternneigung6, seine (auch geistige) Gesundheit7, die Stabilität der Ehe bzw. eingetragenen Lebenspartnerschaft, die religiöse Einstellung8, die berufliche, wirtschaftliche und soziale Situation sowie die Wohn- und Lebensverhältnisse9. Hat der Antragsteller an einer gesetzes- oder sittenwidrigen Vermittlung oder Verbringung des Kindes zur Adoption mitgewirkt oder einen Dritten damit beauftragt oder dafür belohnt, darf die Annahme nur ausgesprochen werden, wenn dies zum Wohl des Kindes nicht nur dienlich, sondern erforderlich ist (§ 1741 Abs. 1 S. 2 BGB)10. Bei einer Adoption durch eine
1 OLG Hamm v. 14.9.1981 – 15 W 252/80, Rpfleger 1981, 483; AG Celle v. 6.7.2010 – 40 XVI 27/08, BeckRS 2011, 00468. 2 Zutr. Dethloff, FamR, § 15 Rn. 9. 3 S. nur Palandt/Diederichsen, § 1741 BGB Rn. 4. 4 OLG Oldenburg v. 9.7.1997 – 5 W 102/97, IPrax 1998, 491; vgl. OLG Hamm v. 11.4.1994 – 15 W 49/94, FamRZ 1995, 505. 5 Vgl. BayObLG v. 4.8.2000 – 1 Z BR 103/00, FamRZ 2001, 647; KG v. 4.4.2006 – 1 W 369/05, FamRZ 2006, 1405; OLG Köln v. 29.5.2009 – 16 Wx 251/09, FamRZ 2009, 1607; OLG Düsseldorf v. 22.6.2010 – I-25 Wx 15/10, BeckRS 2010, 28567. 6 AG Schleswig v. 23.6.2008 – 4 XVI W 15/06, BeckRS 2008, 29435. 7 Vgl. KG v. 23.4.1991 – 1 W 441/89, OLGZ 1991, 406 zur Beibringung eines HIVAntikörpertests; s. auch Wuppermann, Adoption, 2006, Rn. 111. 8 AG Kerpen v. 17.3.2004 – 60 XVI 8/02, FPR 2004, 620. 9 Im Einzelnen strittig, vgl. Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Müller, Adoptionsrecht in der Praxis, Rn. 61 ff. 10 S. dazu Staudinger/Frank, § 1741 BGB Rn. 29 ff.
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Grziwotz
Materielles Adoptionsrecht
Rn. 20
Kap. 4 A
Einzelperson bestehen faktisch immer noch große Hürden, auch wenn sie nicht grundsätzlich abgelehnt wird1. Auf Seiten des Kindes ist auch das Adoptionsbedürfnis, dh. die Notwen- 18 digkeit der Änderung der abstammungsrechtlichen Beziehungen, mit heranzuziehen. Dies ist nicht bereits deshalb zu bejahen, wenn das Kind trotz Vorhandenseins leiblicher Eltern, bei denen es aufwächst, mit den „Adoptiveltern“ emotional verbunden ist, sich diese um die körperliche Entwicklung, Ausbildung, Bekleidung und Ernährung des Kindes gekümmert und dieses auch finanziell unterstützt haben2. Allein wirtschaftliche Aspekte sollen ebensowenig eine Rolle spielen, wie allein der Umstand, dass das Kind bisher in einem Waisenheim untergebracht war3. Mit zunehmendem Alter werden schließlich auch die diesbezüglichen Wünsche des Kindes stärker berücksichtigt. Im Rahmen des Eltern-Kind-Verhältnisses spielt mittelbar auch der Al- 19 tersunterschied zwischen den Adoptiveltern und dem Adoptivkind eine Rolle. Eine „Großelternsituation“ soll grundsätzlich vermieden werden. Dies betrifft zum einen den Altersunterschied, aber auch das sich durch die Verschiebung der Verwandtschaftsverhältnisse (das Enkelkind wird Geschwisterteil seines Vaters oder seiner Mutter) ergebende Konfliktpotential soll vermieden werden. Das bloße Einverständnis der leiblichen Eltern und der Großeltern kann diese Bedenken nicht ausräumen4. Auch im Rahmen der Stiefkindadoption kann eine „Großelternsituation“ eintreten, wenn der Stiefelternteil aufgrund eines größeren Altersunterschieds zum Ehegatten eher der Großelterngeneration angehört. In diesen Fällen wird man die Stiefkindadoption jedoch nicht versagen können, da beispielsweise der 55jährige Ehemann mit der 25jährigen Frau unabhängig vom Altersunterschied noch weitere eigene biologische Kinder haben könnte. h) Entgegenstehende Kindesinteressen Eine Annahme darf dann nicht ausgesprochen werden, wenn ihr überwie- 20 gende Interessen der Kinder des Adoptionswilligen oder des Adoptivkindes entgegenstehen oder wenn zu befürchten ist, dass Interessen des anzunehmenden Kindes durch Kinder des Annehmenden gefährdet werden (§ 1745 S. 1 BGB). Insoweit ist eine Interessenabwägung durchzuführen. Dabei sind neben den leiblichen auch bereits adoptierte Kinder zu berücksichtigen. Die Annahme wirkt sich regelmäßig auf Unterhaltsansprüche sowie die Erb- und Pflichtteilsrechte vorhandener Kinder aus. 1 LG Köln v. 8.10.1984 – 1 T 102/83, FamRZ 1985, 108. 2 AG Celle v. 6.7.2010 – 40 XVI 27/08, BeckRS 2011, 00468; vgl. auch LG Dortmund v. 9.3.2010 – 9 T 670/09, BeckRS 2011, 00596. 3 NK-BGB/Finger, § 1741 BGB Rn. 3; LG Düsseldorf v. 31.5.2010 – 25 T 524/09, BeckRS 2010, 16985. 4 OLG Oldenburg v. 3.11.1995 – 5 W 1987/95, NJW-RR 1996, 709.
Grziwotz
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Kap. 4 A Rn. 21
Materielles Adoptionsrecht
Umgekehrt verlieren die Kinder des Anzunehmenden ihre diesbezüglichen Ansprüche gegenüber der bisherigen Verwandtschaft.
Û
Wichtig: Auch vermögensrechtliche Interessen sind im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, dürfen aber nicht den Ausschlag geben (§ 1745 S. 2 BGB). Anders als bei der Erwachsenenadoption kann deshalb die Schmälerung des Erbrechts der vorhandenen Kinder einer Adoption nicht entgegenstehen. Anders kann dies bei einer Gefährdung ihres Unterhalts sein.
3. Antrags- und Zustimmungserfordernisse a) Antrag des Annehmenden 21 Der Antrag des Annahmewilligen muss höchstpersönlich zur Urkunde eines Notars erklärt werden (§ 1752 BGB). Auch eine unter Betreuung stehende Person kann einen diesbezüglichen Antrag stellen.
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Wichtig: Eine Bedingung und eine Zeitbestimmung sind unzulässig und machen den Antrag unwirksam (§ 1752 BGB).
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Praxistipp: Wird der Notar damit betraut, den Adoptionsantrag beim Familiengericht einzureichen (§ 1753 Abs. 2 BGB), kann die Annahme auch nach dem Tod des Annahmewilligen noch ausgesprochen werden. Die Wirkungen dieser Adoption entsprechen der vor dem Tod ausgesprochenen (§ 1753 Abs. 3 BGB). Der Notar darf nicht angewiesen werden, den Adoptionsantrag erst nach dem Tod des Annahmewilligen beim Gericht einzureichen. In diesem Fall wäre ein Ausspruch der Annahme nach dem Tod nicht mehr möglich1. Bedeutung hat die Annahme vor allem dann, wenn mit ihr nicht zuletzt (auch) steuerliche Zwecke verfolgt werden.
b) Einwilligungen aa) Notwendigkeit der Einwilligung 22 Einwilligen müssen neben dem Kind (§ 1746 BGB) auch seine Eltern (§ 1747 Abs. 1 S. 1 BGB) einschließlich des biologischen Vaters, der durch eine Versicherung an Eides statt die Beiwohnung während der Empfängniszeit glaubhaft gemacht hat2, der Ehegatte des Annehmenden (§ 1749 Abs. 1 BGB) und ggf. der Ehegatte des Kindes (§ 1749 Abs. 2 BGB). Die 1 AG Ratzeburg v. 21.4.1999 – 2 XVI 4/98, NJWE-FER 2000, 7. 2 Nach hM nicht der Samenspender, s. nur Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Müller, Adoptionsrecht in der Praxis, Rn. 77 mwN.
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Materielles Adoptionsrecht
Rn. 25
Kap. 4 A
Einwilligungen müssen zur Urkunde eines Notars erklärt werden und dürfen unter keiner Bedingung oder Befristung stehen. Sie müssen höchstpersönlich abgegeben werden (§ 1750 BGB). Eine Ausnahme gilt nur beim minderjährigen Kind, für das seine gesetzlichen Vertreter handeln, wenn es noch nicht 14 Jahre alt oder geschäftsunfähig ist (§ 1746 Abs. 1 S. 2 BGB); ist es bereits 14 Jahr alt, kann es selbst die Einwilligung erklären, bedarf jedoch der Zustimmung seiner gesetzlichen Vertreter (§ 1746 Abs. 1 S. 3 BGB). Die Einwilligung erfolgt gegenüber dem Familiengericht und wird mit 23 dem Eingang bei diesem wirksam (§ 1750 Abs. 1 S. 3 BGB). Wird der Adoptionsantrag zurückgenommen oder abgelehnt, wird die Einwilligung unwirksam (§ 1750 Abs. 4 S. 1 BGB). Dies gilt für die Einwilligung eines Elternteils auch dann, wenn die Adoption nicht innerhalb von drei Jahren ausgesprochen wird (§ 1750 Abs. 4 S. 2 BGB).
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Wichtig: Die Einwilligung der Eltern kann erst erteilt werden, wenn das Kind acht Wochen alt ist (§ 1747 Abs. 2 S. 1 BGB). Eine Ausnahme gilt dann, wenn die Eltern nicht miteinander verheiratet und nicht gemeinsam sorgeberechtigt sind; in diesem Fall kann der Vater schon vor der Geburt in die Adoption einwilligen und auf die Übertragung der elterlichen Sorge verzichten (§ 1747 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 BGB). Beantragt er dagegen die elterliche Sorge, darf das Familiengericht die Annahme erst aussprechen, wenn die Entscheidung hinsichtlich des Sorgerechts vorliegt (§ 1747 Abs. 3 Nr. 2 BGB).
Die Einwilligung betrifft grundsätzlich die Annahme durch bestimmte 24 Eltern. Deshalb ist eine Freigabe zur Adoption durch beliebige Eltern nicht zulässig. Allerdings muss der Einwilligende die schon feststehenden Annehmenden nicht kennen (§ 1747 Abs. 2 S. 2 BGB, sog. Inkognitoadoption). Er erklärt in diesem Fall die Zustimmung „zur Adoption durch diejenige Person, die in der Adoptionsliste des Jugendamts … unter der Nr. … eingetragen ist“. bb) Entbehrlichkeit der Einwilligung Die Einwilligung ist entbehrlich, wenn ein Elternteil dauernd zur Abgabe 25 einer Erklärung außer Stande ist (§ 1747 Abs. 4 BGB). Dies ist dann der Fall, wenn er geschäftsunfähig ist. Sofern nicht bereits im Betreuungsverfahren ein entsprechend aussagekräftiges Gutachten erstellt wurde, wird das Gericht dies idR durch ein psychiatrisch-neurologisches Sachverständigengutachten zu klären haben. Nicht ausreichend ist, dass ein Elternteil beschränkt geschäftsfähig ist. In diesem Fall ist vielmehr die Einwilligung des betreffenden Elternteils erforderlich, die dieser ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erteilen kann (§ 1750 Abs. 3 S. 2 BGB).
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Kap. 4 A Rn. 26
Materielles Adoptionsrecht
26 Die Einwilligung ist weiterhin nicht erforderlich, wenn der Aufenthalt eines Elternteils unbekannt ist (§ 1747 Abs. 4 BGB). 27 Der Aufenthalt eines namentlich bekannten Elternteils ist unbekannt, wenn er trotz der geeignet und zumutbar erscheinenden Maßnahmen durch das Gericht nicht innerhalb angemessener Zeit ermittelt werden kann. Die Landesjugendämter haben insoweit die Empfehlung gegeben, dass grundsätzlich ein Zeitraum von sechs Monaten zugrunde gelegt werden sollte1. Zumutbare und geeignete Maßnahmen sind die Einwohnermeldeamtsanfrage, Nachfragen bei Angehörigen, Behörden, polizeiliche Aufenthaltsermittlung sowie die Überprüfung, ob der betroffene Elternteil bei der Post einen Nachsendeauftrag hinterlegt hat2. Ist davon auszugehen, dass der betroffene Elternteil im Ausland lebt, sollte die Frist angemessen verlängert werden. 28 Der Aufenthalt eines Elternteils ist aber auch unbekannt, wenn diese Person gar nicht bekannt ist3. Dies ist insbesondere häufig bei „Findelkindern“ der Fall. Aber auch wenn ein Kind anonym geboren wurde oder in einer „Babyklappe“ abgeliefert wurde, sind die Eltern zunächst unbekannt4. Das Gericht ist in diesen Fällen verpflichtet, insbesondere bei dem Träger des Krankenhauses, bei dem das Kind zur Welt gekommen ist oder von dem es aufgefunden worden ist, Nachforschungen hinsichtlich der Eltern durchzuführen. Führen diese zu keinem Erfolg, wird idR davon auszugehen sein, dass die Eltern unbekannt bleiben. 29 Ist der Vater unbekannt, weil die Mutter zur Person des Vaters keine Angaben machen will, hat das Gericht von Amts wegen die Person des möglichen Vaters zu ermitteln. Zu diesem Zweck hat das Gericht grundsätzlich im Umfeld des Kindes bzw. der Mutter Personen zu befragen, wer als Vater des Kindes in Betracht kommt (§ 26 FamFG)5. Demgegenüber dürfen keine Zwangsmaßnahmen gegenüber der Mutter (entgegen §§ 27, 35 FamFG) angewandt werden, um zu erreichen, dass die Mutter die Person des Vaters preisgibt6. Allerdings kann das Gericht anregen, dass das Kind gem. § 1618a BGB die Mutter auf Auskunft in Anspruch nimmt, wer sein leiblicher Vater ist7.
1 Erman/Saar, § 1747 BGB Rn. 14. 2 Vgl. auch OLG Köln, DAVorm 1998, 936. 3 Staudinger/Frank, § 1747 BGB Rn. 48; Bamberger/Roth/Enders, § 1747 BGB Rn. 19. 4 S. hierzu Wolf, FPR 2003, 112. 5 Einschränkend Erman/Saar, § 1747 BGB Rn. 3; Bamberger/Roth/Enders, § 1747 BGB Rn. 6.1; nach überzeugender Ansicht ist das Gericht zur umfassenden Aufklärung verpflichtet, wer als Vater in Betracht kommt, soweit dies zumutbar erscheint, Staudinger/Frank, § 1747 BGB Rn. 14. 6 LG Stuttgart v. 24.1.1992 – 8 WF 48/91, FamRZ 1992, 1469; Staudinger/Frank, § 1747 BGB Rn. 15. 7 Vgl. Kap. 3 Rn. 187–191 und BGH v. 9.11.2011 – XII ZR 136/09, FamRZ 2012, 200.
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Rn. 33
Kap. 4 A
Bleibt die Person der Mutter oder des Vaters unbekannt, ist deren Einwil- 30 ligung nicht erforderlich. Streitig ist, ob auf diesen Fall § 1747 Abs. 4 BGB analog angewendet werden kann1. Zur Sicherheit sollte beantragt werden, dass das Gericht in dem Beschluss über die Annahme angibt, dass die Einwilligung des betreffenden Elternteils gem. § 1747 Abs. 4 BGB für nicht erforderlich erachtet wurde (§ 197 Abs. 1 S. 2 FamFG). cc) Ersetzung der Einwilligung des nicht sorgeberechtigten Vaters Hat der mit der Mutter nicht verheiratete Vater beantragt, dass ihm gem. 31 § 1672 Abs. 1 BGB die elterliche Sorge für das anzunehmende Kind übertragen wird, darf die Adoption nicht ausgesprochen werden, bevor über diesen Antrag entschieden ist (§ 1747 Abs. 3 Nr. 2 BGB). Das Elternrecht des Vaters setzt sich gegen die von der Mutter gewünschte Adoption durch2. Dementsprechend bedarf es für die Übertragung der elterlichen Sorge auf den Vater nicht der Zustimmung der Mutter, wenn diese in die Annahme eingewilligt hat (§ 1751 Abs. 1 S. 5 BGB). Ein anhängiges Verfahren wegen Ersetzung der Einwilligung des Vaters in die Adoption ist auszusetzen, bis über den Antrag gem. § 1672 Abs. 1 BGB entschieden ist3. Hat der Antrag des Vaters Erfolg, hängt die Adoption davon ab, ob dieser als Vater und gesetzlicher Vertreter des Kindes die Einwilligung in die Adoption erteilt. IdR wird die Adoption nicht mehr möglich sein, wenn der Antrag des Vaters Erfolg hat. dd) Ersetzung der Einwilligung Gem. § 1748 BGB ist zu unterscheiden zwischen der Ersetzung der Ein- 32 willigung eines sorgeberechtigten Elternteils und der Ersetzung der Einwilligung eines Vaters, der nicht Inhaber des Sorgerechts ist. Während im letzten Fall grundsätzlich nur zu klären ist, ob das Unterbleiben der Adoption dem Kind zu einem unverhältnismäßigen Nachteil gereichen würde (§ 1748 Abs. 4 BGB), sind in den anderen Fällen zusätzlich schwerwiegende Gründe in der Person oder dem Verhalten des betreffenden Elternteils erforderlich (§ 1748 Abs. 1–3 BGB). (1) Pflichtverletzung Hinsichtlich eines sorgeberechtigten Elternteils darf die Einwilligung nur 33 ersetzt werden, wenn dieser seine Pflichten gegenüber dem Kind anhaltend gröblich verletzt hat oder die Pflichtverletzung zwar nicht anhaltend, dafür aber besonders schwerwiegend ist und das Kind deshalb vo-
1 Vgl. hierzu Erman/Saar, § 1747 BGB Rn. 14; Staudinger/Frank, § 1747 BGB Rn. 48 differenzierend hinsichtlich Mutter und Vater; Bamberger/Roth/Enders, § 1747 BGB Rn. 19 generell für den Fall, dass die Eltern unbekannt sind. 2 Erman/Saar, § 1747 BGB Rn. 11. 3 OLG Naumburg v. 24.7.2003 – 10 Wx 9/02, FamRZ 2004, 810.
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Kap. 4 A Rn. 34
Materielles Adoptionsrecht
raussichtlich nicht mehr der Obhut dieses Elternteils anvertraut werden kann (§ 1748 Abs. 1 BGB). 34 Eine besonders schwerwiegende Pflichtverletzung hat die Rechtsprechung ua. in folgenden Fällen angenommen: – Tötung des anderen Elternteils1, – Entführung ins Ausland2, – schwerwiegende Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung des Kindes3. 35 Liegt eine derart schwerwiegende Pflichtverletzung vor, ist nicht zusätzlich zu prüfen, ob das Unterbleiben der Adoption für das Kind zu einem unverhältnismäßigen Nachteil führen würde4. 36 Hinsichtlich der Ersetzung der Einwilligung wegen anhaltender gröblicher Pflichtverletzung ist davon auszugehen, dass die Pflichtverletzung schwerer wiegend sein muss, als dies in den Fällen des § 1666 BGB der Fall ist; denn die Adoption führt zu einem sehr viel schwerer wiegenden Eingriff in das Elternrecht5. Das Verhalten muss daher zu einer Gefährdung der existentiellen Grundbedürfnisse des Kindes führen6. Eine anhaltende gröbliche Pflichtverletzung kann in folgenden Fällen angenommen werden: – Das Kind wird nach der Geburt im Krankenhaus zurückgelassen oder Dritten anvertraut7 und die Eltern kümmern sich auch in der Folgezeit nicht um das Kind, – Vorenthaltung von Nahrung, Kleidung oder Reinigung8, – Fehlen der Zuwendung, Fehlen einer geistigen und seelischen Betreuung9; – ob Unterhaltspflichtverletzungen zur Ersetzung der Einwilligung führen können, wenn der Unterhalt durch öffentliche Mittel sichergestellt wird und deshalb für das Kind keine existenzbedrohende Notlage entsteht, ist str.10 – Verleitung des Kindes zur Begehung von Straftaten11.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
OLG Brandenburg v. 15.3.2007 – 111 Wx 43/06, FamRZ 2007, 2006. BayObLG v. 21.7.1988 – BReg. 1a Z 20/88, FamRZ 1989, 429. Erman/Saar, § 1748 BGB Rn. 8. OLG Brandenburg v. 15.3.2007 – 111 Wx 43/06, FamRZ 2007, 2006. Staudinger/Frank, § 1748 BGB Rn. 15. Staudinger/Frank, § 1748 BGB Rn. 15. OLG Hamm v. 16.2.1977 – 15 W 271/1975, FamRZ 1977, 415. OLG Braunschweig v. 30.1.1995 – 2 W 6/95, FamRZ 1997, 513. BayObLG v. 2.8.1982 – BReg. 1 Z 67/82, FamRZ 1982, 1129. Vgl. hierzu Erman/Saar, § 1748 BGB Rn. 7; BayObLG v. 12.10.2004 – 1Z BR 071/04, FamRZ 2005, 541. 11 Vgl. Staudinger/Frank, § 1748 BGB Rn. 20.
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Rn. 39
Kap. 4 A
Der Begriff der anhaltenden Pflichtverletzung verlangt, dass diese in der 37 Vergangenheit während einer gewissen Dauer begangen wurden. Weiterhin ist auch erforderlich, dass in der Zukunft mit weiteren gleichartigen Pflichtverletzungen zu rechnen ist. Die Einwilligung darf daher nicht ersetzt werden, wenn die Ermittlungen des Gerichts ergeben, dass sich die Lebensumstände des Elternteils geändert haben und mit weiteren Pflichtverletzungen nicht zu rechnen ist1. Soweit einem Elternteil die Sorge nicht zusteht, scheiden Formen der missbräuchlichen Ausübung der elterlichen Sorge als Anknüpfung für die Ersetzung der Einwilligung aus2.
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(2) Gleichgültigkeit Gleichgültigkeit liegt vor, wenn ein Elternteil sich für das Schicksal sei- 39 nes Kindes nicht interessiert, sondern gegenüber dem Kind und seiner Entwicklung teilnahmslos ist3. Um diese Einstellung festzustellen, ist auf das gesamte äußere Verhalten des betreffenden Elternteils abzustellen4. Das BayObLG führt aus: „Gleichgültig verhält sich ein Elternteil, wenn er gegenüber dem Kind und seiner Entwicklung teilnahmslos ist. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn er zu dem Kind über einen längeren Zeitraum hinweg keinen Kontakt pflegt, wenn ihn das Kind und sein Schicksal nicht interessieren oder wenn er es an einer persönlichen Zuwendung völlig fehlen lässt … Gleichgültigkeit kann auch dann vorliegen, wenn die Zuwendung zum Kind keiner echten gefühlsmäßigen Bindung entspricht, sondern anders motiviert ist, zB durch Eifersucht, verletzten Stolz, Neid, Rachsucht, Böswilligkeit oder durch die bloße Besorgnis um das eigene Wohl … Bei der Gleichgültigkeit handelt es sich um eine subjektive Einstellung zum Kind. Das Gesetz knüpft aber, da sich die innere Einstellung nur schwer nachprüfen lässt, an das äußere Verhalten an und legt diesem Indizwirkung bei. Es genügt daher, wenn objektiv feststellbare Tatsachen nach der Lebenserfahrung den Schluss zulassen, dass dem Elternteil das Kind gleichgültig ist …“5 Keine Gleichgültigkeit liegt vor, wenn Kontakte durch den anderen Elternteil erschwert werden6; denn dann kann aus dem Fehlen von Kontakten nicht darauf geschlossen werden, dass das Kind dem Elternteil gleichgültig ist. Entsprechendes gilt, wenn der Elternteil Kontakte unterlässt, um sein Kind zu schonen. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn das Kind sonst einem Loyalitätskonflikt ausgesetzt würde oder das Kind – ggf. auch aus diesem Grund – Kontakte vehement ablehnt7. Entspre1 2 3 4 5
Erman/Saar, § 1748 BGB Rn. 4. Staudinger/Frank, § 1748 BGB Rn. 23. BayObLG v. 12.10.2004 – 1Z BR 071/04, FamRZ 2005, 541. FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 421. Zur Kasuistik s. im Übrigen Erman/Saar, § 1748 BGB Rn. 9; Staudinger/Frank, § 1748 BGB Rn. 26. 6 BayObLG v. 12.10.2004 – 1Z BR 071/04, FamRZ 2005, 541. 7 BayObLG v. 10.9.2003 – 1Z BR 36/03, FamRZ 2004, 397.
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Kap. 4 A Rn. 40
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chendes hat zu gelten, wenn das Jugendamt im Interesse des Kindeswohls empfiehlt, Kontakte einzuschränken oder zu unterlassen1. 40 Soll die Einwilligung in die Adoption wegen Gleichgültigkeit ersetzt werden, ist dies nur zulässig, wenn zuvor eine Belehrung durch das Jugendamt stattgefunden hat, in der der Elternteil auf die Möglichkeit der Ersetzung der Einwilligung hingewiesen wurde (§ 1748 Abs. 2 S. 1 BGB). Weiterhin müssen nach dieser Belehrung mindestens drei Monate verstrichen sein, ohne dass der betreffende Elternteil sein Verhalten bzw. seine Einstellung geändert hat (§ 1748 Abs. 2 S. 1 BGB). Ab Geburt des Kindes müssen mindestens fünf Monate verstrichen sein (§ 1748 Abs. 2 S. 3 BGB). Diese Regelung berücksichtigt, dass die Einwilligung in die Adoption erst erteilt werden kann, wenn das Kind acht Wochen alt ist (§ 1747 Abs. 2 S. 1 BGB). 41 In der Teilnahmslosigkeit wird häufig auch eine Pflichtverletzung liegen. Die Ersetzung der Einwilligung wegen Pflichtverletzung ist in diesen Fällen möglich, wenn bereits eine Beeinträchtigung des Kindeswohls eingetreten ist. Dies ergibt sich aus § 1748 Abs. 2 BGB. Demnach darf wegen Gleichgültigkeit die Einwilligung nur ersetzt werden, wenn zuvor eine Belehrung durch das Jugendamt über die Bedeutung der Pflege der Bindungen des Kindes an den Elternteil, welche Hilfen zur Erziehung hierfür zur Verfügung stehen und darüber, dass bei weiterer Teilnahmslosigkeit die Einwilligung ersetzt werden kann, stattgefunden hat. Diese Belehrung kann ihren Sinn nicht mehr erfüllen, wenn aus Gründen des Schutzes des Kindeswohls keine Alternative zur Ersetzung der Einwilligung mehr besteht2. (3) Unverhältnismäßiger Nachteil 42 Schließlich kann in den vorstehend genannten Fällen die Einwilligung eines Elternteils nur ersetzt werden, wenn das Unterbleiben der Adoption dem Kind zu einem unverhältnismäßigen Nachteil gereichen würde (§ 1748 Abs. 1 S. 1 BGB). Insoweit ist nicht auf die Pflichtverletzung oder die Vernachlässigung abzustellen. Vielmehr ist zu fragen, wie sich die Situation für das Kind bei Ausspruch bzw. Unterbleiben der Adoption entwickeln würde. Ein unverhältnismäßiger Nachteil liegt bereits dann vor, wenn das Kind ohne die Adoption in einer rechtlich ungesicherten Beziehung zu seinen Pflegeeltern aufwachsen müsste3. Erst recht liegt ein unverhältnismäßiger Nachteil vor, wenn das Kind ohne die Adoption die Pflegestelle verlassen und in Heimerziehung gegeben werden müsste4.
1 2 3 4
Staudinger/Frank, § 1748 BGB Rn. 26. Staudinger/Frank, § 1748 BGB Rn. 29; Erman/Saar, § 1748 BGB Rn. 10. FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 419. Erman/Saar, § 1748 BGB Rn. 6.
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Materielles Adoptionsrecht
Rn. 46
Kap. 4 A
(4) Erkrankung/Behinderung Liegen bei einem Elternteil schwere geistige oder seelische Gebrechen 43 vor, kann die Einwilligung nur unter erschwerten Bedingungen ersetzt werden. Demnach darf die Einwilligung nur ersetzt werden, wenn ohne sie das Kind nicht in einer Familie aufwachsen könnte und wenn es dadurch in seiner Entwicklung schwer gefährdet wäre (§ 1748 Abs. 3 BGB). Die Einwilligung kann also nicht ersetzt werden, wenn sich auch ohne Adoption eine Familie (zB aus der Verwandtschaft) findet, die bereit ist, das Kind aufzuziehen. Weiterhin scheidet die Ersetzung der Einwilligung aber auch dann aus, wenn ohne die Adoption die Heimerziehung zwar unumgänglich wird – was für sich einen schweren Nachteil darstellt, – hiervon jedoch keine schwerwiegende Gefahr für die Entwicklung des Kindes ausgeht1. (5) Ersetzung der Einwilligung von Vätern, denen das Sorgerecht gem. § 1626 Abs. 2 BGB nicht zusteht Gem. § 1748 Abs. 4 BGB kann die Einwilligung eines nichtehelichen Va- 44 ters schon dann ersetzt werden, wenn das Unterbleiben der Annahme dem Kind zu einem unverhältnismäßigen Nachteil gereichen würde, ohne dass es nach dem Wortlaut der Vorschrift auf ein Fehlverhalten des Vaters ankommen würde. Für die Frage, ob das Unterbleiben der Adoption zu einem unverhältnis- 45 mäßigen Nachteil für das Kind führen würde, ist eine umfassende Interessenabwägung durchzuführen2. Insoweit reicht es nicht aus, wenn lediglich die Interessen des Kindes die des Vaters an der Aufrechterhaltung des verwandtschaftlichen Bandes überwiegen. Weiterhin ist zwischen der Stiefkindadoption durch den – neuen – Partner der Mutter und der Adoption durch Dritte zu unterscheiden. Voraussetzung für die Ersetzung der Einwilligung ist, dass die Adoption einen so erheblichen Vorteil für das Kind bieten würde, dass ein sich verständig um sein Kind sorgender Elternteil auf der Erhaltung des Verwandtschaftsbandes nicht bestehen würde3. Im Fall der Stiefkindadoption durch den Ehemann bzw. die Lebenspart- 46 nerin wird in diesem Zusammenhang aus verfassungsrechtlichen Gründen auch berücksichtigt, inwieweit der Vater in der Vergangenheit den Kontakt zu dem Kind gepflegt hat; denn in diesen Fällen kann der Mann gem. §§ 1672 Abs. 1, 1751 Abs. 2 BGB nur mit Zustimmung der Mutter die elterliche Sorge für das Kind übertragen bekommen. Wenn diese wünscht, dass das Kind in der neuen Familie mit dem neuen Ehemann aufwächst, wird sie diese Zustimmung aber nicht erteilen. Dementspre1 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 426; BGH v. 15.10.1996 – XII ZB 72/96, FamRZ 1997, 85. 2 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 427. 3 BGH v. 23.3.2005 – XII ZB 10/03, FamRZ 2005, 891.
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Kap. 4 A Rn. 47
Materielles Adoptionsrecht
chend wurde die Einwilligung ersetzt, wenn das Kind seit Jahren in der neuen Familie der Mutter aufwächst, sich dort zugehörig fühlt, während der leibliche Vater den Kontakt zum Kind nicht gepflegt hat, obwohl ihm dies zumutbar und möglich gewesen wäre1. 47 Im Fall der Adoption durch einen Dritten kann dagegen der Vater die Adoption verhindern, indem er einen Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge stellt (§§ 1747 Abs. 3 Nr. 2, 1751 Abs. 1 S. 5 BGB), s. oben Rn. 23, 31. Darum muss der Vater in diesen Fällen nachvollziehbare Gründe nennen, die aus seiner Sicht dafür sprechen, dem Kind den Weg in die Adoptivfamilie zu verstellen, obwohl er nicht die Verantwortung für das Kind übernehmen will2.
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Wichtig: Nicht einwilligen müssen die Kinder des Annehmenden und des anzunehmenden Kindes. Deren Interessen sind im Verfahren nur vom Gericht abzuwägen (§ 1745 BGB).
ee) Vorwirkungen 48 Die Einwilligung eines Elternteils in die Annahme seines Kindes führt dazu, dass die elterliche Sorge ruht, der Umgang mit dem Kind nicht mehr ausgeübt werden darf und der Adoptionswillige gegenüber dem Kind, sobald er es in seiner Obhut hat, unterhaltspflichtig wird (§ 1751 BGB). Ferner wird das Jugendamt grundsätzlich Vormund3.
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Wichtig: Diese Vorwirkungen treten bei einer Stiefelternadoption nicht im Verhältnis zu dem Ehegatten bzw. eingetragenen Lebenspartner des Annehmenden ein.
4. Adoptionswirkungen bei der Minderjährigenadoption a) Statusänderung 49 Die Adoption führt grundsätzlich zum Erlöschen des Verwandtschaftsverhältnisses des Kindes und seiner Abkömmlinge zu den bisherigen leiblichen Verwandten und zur Neubegründung eines Verwandtschaftsverhältnisses mit den Annehmenden und deren Verwandten (§§ 1754, 1755 Abs. 1 BGB). Dies betrifft vor allem Unterhaltsansprüche, das Erbrecht sowie die elterliche Sorge und das Umgangsrecht. 50 Eine Ausnahme von dem umfassenden Statuswechsel besteht zunächst bei der Stiefkindadoption, bei der nur das Verwandtschaftsverhältnis des 1 BayObLG v. 17.3.2005 – 1Z BR 111/04, FamRZ 2005, 1587; ähnlicher Sachverhalt in OLG Saarbrücken v. 18.11.2004 – 5 W 221/04 – 73, FamRZ 2005, 1586. 2 Erman/Saar, § 1748 BGB Rn. 18. 3 Zu Ausnahmen s. § 1751 Abs. 1 S. 2, 2. Halbs. BGB.
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Materielles Adoptionsrecht
Rn. 55
Kap. 4 A
Kindes zu demjenigen Elternteil erlischt, der nicht mit dem Annehmenden verheiratet ist oder in eingetragener Lebenspartnerschaft lebt (§ 1755 Abs. 2 BGB, § 9 Abs. 7 S. 2 LPartG). Bei der Stiefkindadoption, bei der der andere Elternteil bereits verstorben 51 ist, erlischt das Verwandtschaftsverhältnis nicht im Verhältnis zu dessen Verwandten, wenn dieser zum Zeitpunkt seines Todes die elterliche Sorge entweder allein oder neben dem anderen Elternteil hatte (§ 1756 Abs. 2 BGB). Schließlich ist noch eine Ausnahme von dem umfassenden Statuswech- 52 sel bei naher Verwandtschaft des/der Annehmenden mit dem anzunehmenden Kind zu beachten: Sind die Annehmenden mit dem Kind im zweiten oder dritten Grad verwandt oder verschwägert, so erlöschen nur das Verwandtschaftsverhältnis des Kindes und seiner Abkömmlinge zu den Eltern des Kindes und die sich aus ihm ergebenden Rechte und Pflichten. b) Namensrechtliche Folgen Wichtige Auswirkungen ergeben sich im Namensrecht. Der Angenommene erhält mit dem Ausspruch der Annahme zwingend als Geburtsnamen den Familiennamen des bzw. der Annehmenden1. Die Beibehaltung des bisherigen Geburtsnamens ist nicht möglich2. Insbesondere kann die Adoption nicht unter der unzulässigen Bedingung der Beibehaltung des Namens beantragt werden.
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Eine Ausnahme besteht, wenn das angenommene Kind bereits verhei- 54 ratet ist oder in eingetragener Lebenspartnerschaft lebt und sein Geburtsname zum Ehenamen bzw. zum Lebenspartnerschaftsnamen bestimmt wurde. Schließt sich in diesem Fall der Ehegatte bzw. der Lebenspartner der Namensänderung vor dem Ausspruch der Annahme nicht an, bleibt der bisherige Familienname beibehalten3. Allerdings ändert sich der Geburtsname des angenommenen Kindes. Ein als Begleitname geführter Geburtsname ändert sich automatisch. 55 Das angenommene Kind hat nicht die Wahl, den früheren Geburtsnamen zu belassen, diese gegen den neuen auszutauschen oder den früheren Geburtsnamen als Begleitnamen zu streichen4. Keine Änderung des Ge1 OLG Zweibrücken v. 29.11.2000 – 3 W 255/00, FamRZ 2001, 1733; BayObLG v. 15.1.2003 – 1Z BR 138/02, FamRZ 2003, 1869. 2 OLG Karlsruhe v. 23.12.1998 – 4 W 7/97, FamRZ 2000, 115; BayObLG v. 15.1.2003 – 1Z BR 138/02, FamRZ 2003, 1869; OLG Hamm v. 30.6.2011 – 4 UF 186/10, MittBayNot 2011, 501; aA nur AG Leverkusen v. 17.12.2007 – 14 XVI 12/07, FamRZ 2008, 2058 und AG Leverkusen v. 16.4.2009 – 14 XVI 01/09, RNotZ 2009, 544. 3 BayObLG v. 9.7.1985 – BReg. 1 Z 38/85, FamRZ 1985, 118. 4 BGH v. 17.8.2011 – XII ZB 656/10, MDR 2011, 1233; aA noch BayObLG v. 23.11.1999 – 1Z BR 89/99, BayObLGZ 1999, 367 = NJWE-FER 2000, 141.
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Kap. 4 A Rn. 56
Materielles Adoptionsrecht
burtsnamens tritt bei einem verwitweten oder geschiedenen bzw. entpartnerten Angenommenen ein, wenn der frühere Geburtsname Ehebzw. Lebenspartnerschaftsname war. Allerdings hat der Angenommene die Wahl, den neuen Geburtsnamen als Familiennamen oder als Begleitnamen zu führen. 56 Eine Voranstellung oder Anfügung des bisherigen Familiennamens an den neuen Namen ist nur dann möglich, wenn dies bis zum Ausspruch der Annahme beantragt wurde und schwerwiegende Gründe des Kindeswohl dies erforderlich machen. Dies ist insbesondere bei der Bekanntheit des bisherigen Namens im geschäftlichen Verkehr der Fall1.
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Wichtig: Die Möglichkeit der Voranstellung oder Anfügung des bisherigen Familiennamens besteht nur bei einem geänderten Familiennamen, nicht jedoch, wenn sich der Familienname infolge der Adoption nicht ändert2.
57 Eine Vornamensänderung ist möglich, wenn sie dem Wohl des Kindes entspricht (§ 1757 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 BGB). Auch hier bedarf es eines vor der Adoption mit Einwilligung des Kindes gestellten Antrags. Beispiele sind hier eine negative Belastung des bisherigen Vornamens, eine besondere Auffälligkeit, durch die die bisherige Herkunft deutlich wird (zB ein gebräuchlicher ausländischer Vorname), und ein Vorname, der zu Spott Anlass gibt. c) Erb- und Pflichtteilsrecht 58 Ein weiterer wesentlicher Bereich der Adoptionswirkungen betrifft das Erb- und Pflichtteilsrecht. Das gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht entfällt bei der Adoption eines Minderjährigen zwischen dem Angenommenen und seinen bisherigen Eltern. Gleichzeitig entstehen neue Erbund Pflichtteilsrechte zwischen dem Angenommenen und dessen Verwandten und dem Annehmenden und dessen Verwandten3.
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Wichtig: Der Verlust des Erb- und Pflichtteilsrechts tritt auch bei der Stiefkindadoption ein. Sofern lediglich vermeintliche schenkungs- und erbschaftsteuerliche Gründe für die Annahme eine Rolle spielen (vgl. dazu aber oben Rn. 18), ist sorgfältig zu überlegen, ob eine Stiefkindadoption wirklich erfolgen soll.
1 Vgl. VG Berlin v. 14.6.2011 – 3 K 9.11, FamRZ 2012, 137 und Frank, StAZ 2008, 1 (2); zur Unzulässigkeit eines Ergänzungsbeschlusses s. BayObLG v. 23.9.2002 – 1Z BR 113/02, StAZ 2003, 44. 2 Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Müller, Adoptionsrecht in der Praxis, Rn. 375. 3 Anders noch bei Altadoptionen, s. dazu ausführlich Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Müller, Adoptionsrecht in der Praxis, Rn. 401 ff.
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Materielles Adoptionsrecht
Rn. 63
Kap. 4 A
Besonderheiten ergeben sich auch hier bei der Verwandten- und Stief- 59 kindadoption, bei der in den oben genannten Fällen gem. § 1756 BGB das Verwandtschaftsverhältnis im dort genannten Umfang nicht erlischt (vgl. dazu oben Rn. 52). Allerdings fallen in diesen Fällen das angenommene Kind und die Abkömmlinge der leiblichen Eltern oder des anderen Elternteils des Kindes nicht in die erbrechtliche 2. Ordnung. Das angenommene Kind wird in der 1. und 2. Erbordnung ausschließlich der neuen Adoptivfamilie zugeordnet; erbrechtliche Beziehungen der 1. und 2. Ordnung zur bisherigen Familie entfallen. Dies schließt es allerdings nicht aus, dass zB über gemeinsame Großeltern leibliche Geschwister als Erben 3. Ordnung zum Zuge kommen (§ 1926 Abs. 3, Abs. 4 BGB). Dies gilt auch umgekehrt für das Erbrecht des angenommenen Kindes1. Ähnlich ist dies im Fall der Verwandtenadoption, wenn das Kind mit 60 dem Annehmenden im zweiten oder dritten Grad verwandt oder verschwägert ist (Großeltern, Geschwister, Onkel, Tante, Neffe, Nichte). In diesem Fall erlischt das Verwandtschaftsverhältnis des Kindes nur gegenüber seinen Eltern; das Verwandtschaftsverhältnis zu den übrigen Verwandten bleibt bestehen (§ 1756 Abs. 1 BGB). Es handelt sich um Erben der 3. Ordnung; das Kind erhält drei Großelternpaare. Die Adoptiveltern werden nach hM dabei trotz mehrfacher Verwandtschaft nicht doppelt bedacht2.
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Wichtig: Die erbrechtlichen Wirkungen der Annahme treten auch dann ein, wenn der Adoptivelternteil bereits vor Ausspruch der Annahme gestorben ist und diese danach aufgrund des diesbezüglichen Antrags noch ausgesprochen wird (s. dazu Rn. 21).
d) Wirkungen im öffentlichen Recht und im Steuerrecht Auch im Steuerrecht und im öffentlichen Recht wirkt sich die Annahme eines Kindes aus. Dies gilt bei einer Minderjährigenadoption insbesondere auch für Vergünstigungen (zB Kindergeld, Kinderfreibetrag, Familienzuschlag), die an das Vorhandensein eines Kindes anknüpfen.
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Umgekehrt ist das Kind nicht mehr seinen bisherigen Eltern zugeordnet. Diesbezügliche Rechtswirkungen erlöschen. Allerdings entfällt eine Waisenrente, die bereits an das Kind entrichtet wird, durch die Adoption nicht (§§ 48 Abs. 6 SGB VI, 67 Abs. 5 SGB VII).
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Im Schenkung- und Erbschaftsteuerrecht fallen Adoptivkinder in die Steuerklasse I (§ 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ErbStG).
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1 S. dazu Dieckmann, FamRZ 1979, 393 ff. 2 NK-BGB/Kroiß, § 1926 BGB Rn. 15 mwN.
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Kap. 4 A Rn. 64
Û
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Wichtig: In die gleiche Steuerklasse fallen allerdings auch Stiefkinder, so dass aus schenkung- und erbschaftsteuerlichen Gründen eine Adoption nicht erforderlich ist. Wird das adoptierte Kind von seinen bisherigen Eltern oder sonstigen Verwandten erbrechtlich begünstigt, verhindert § 15 Abs. 1a ErbStG eine Schlechterstellung im schenkung- und erbschaftsteuerlichen Sinne durch die Adoption. Das angenommene Kind bleibt in die bisherige Steuerklasse mit den entsprechenden Freibeträgen eingeordnet.
64 Ein minderjähriges ausländisches Kind erwirbt durch die Annahme die deutsche Staatsangehörigkeit des Annehmenden (§ 6 StAG), wenn auch nur ein Annehmender die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.
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Wichtig: Die Wirkungen im Bereich der Staatsangehörigkeit treten nur bei der Minderjährigenadoption ein, nicht bei der Annahme eines Volljährigen. Maßgeblich ist hier für die Abgrenzung der Annahme eines Volljährigen und eines Minderjährigen weder der Zeitpunkt der notariellen Beurkundung des Annahmeantrags noch der gerichtliche Beschluss über die Annahme, sondern die Einreichung des Adoptionsantrags1.
65 Wird ein minderjähriger Deutscher von Ausländern adoptiert, verliert er die deutsche Staatsangehörigkeit, falls er diejenige der Annehmenden erwirbt (§ 27 StAG). 66 Nicht nur bei der Inkognitoadoption, sondern auch in sonstigen Fällen der Adoption ist der Umstand der Annahme des Kindes geheim zu halten. Der Gesetzgeber hat deshalb ein Offenbarungsverbot normiert (§ 1758 BGB), das das Adoptionsgeheimnis schützen soll.
Û
Wichtig: Vom Offenbarungsverbot können nur Annehmender und Angenommener gleichzeitig befreien, so dass eine Befreiung beispielsweise durch das Kind nicht genügt (§ 1758 Abs. 1 BGB)2.
67 Das Adoptionsgeheimnis wirkt nur als „Einbahnstraße“. Dem über sechzehnjährigen Kind kann nämlich ein beglaubigter Registerausdruck aus dem Geburtseintrag erteilt werden, nicht jedoch seinen leiblichen Eltern und der sonstigen leiblichen Verwandtschaft. Das Kind hat ab Vollendung des 16. Lebensjahres auch einen Anspruch auf Einsichtnahme in die Ver-
1 BVerwG v. 14.10.2003 – 1 C 20/02, BVerwGE 119, 111 = NJW 2004, 1401; BVerwG v. 21.12.2011 – 5 B 46.11, BeckRS 2012, 45714 und VG Köln v. 21.7.2010 – 10 K 5155/09, FamFR 2010, 431. 2 Vgl. auch § 63 Abs. 1 S. 1 PStG; dazu Gaaz, StAZ 2010, 65 (68).
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Materielles Adoptionsrecht
Rn. 70
Kap. 4 A
mittlungsakten der Adoptionsvermittlungsstelle (§ 9b AdVermiG); außerdem kann es in die Akten des Gerichts, des Jugendamts und des Geburtskrankenhauses Einsicht nehmen1. Bei leiblichen Verwandten des Kindes gegenüber wirkt jedoch das Offenbarungsverbot2. 5. Aufhebung der Adoption Die Aufhebung der Adoption und der mit ihr verbundenen Änderungen 68 des familienrechtlichen Status des Kindes ist grundsätzlich nicht möglich (§ 1759 BGB). Lediglich wenn Grundvoraussetzungen für die Annahme gefehlt haben, kann eine Aufhebung erfolgen (§ 1760 BGB). Die Aufzählung der diesbezüglichen Aufhebungsgründe ist enumerativ. Aufhebungsgrund ist das Fehlen des erforderlichen Antrags oder der erforderlichen Einwilligungen des Kindes oder eines Elternteils, der auf Antrag des Betroffenen geltend gemacht werden kann. Der Aufhebungsantrag bedarf der notariellen Beurkundung (§ 1762 Abs. 3 69 BGB). Er ist innerhalb einer Frist von einem Jahr ab Kenntnis vom Aufhebungsgrund zu stellen, wenn seit der Annahme noch keine drei Jahre verstrichen sind, § 1762 Abs. 2 BGB (Ausschlussfrist). Er ist zudem höchstpersönlich. Das Antragsrecht ist auch nicht vererblich3. Antragsberechtigt ist nur derjenige, ohne dessen Antrag oder Einwilligung das Kind angenommen worden ist. Aufhebungsgründe sind nur das Fehlen des Antrags bzw. der Einwilligung und deren Unwirksamkeit, wobei die diesbezüglichen Unwirksamkeitsgründe in § 1760 Abs. 2 BGB abschließend aufgezählt sind, nämlich die Abgabe im Zustand der Bewusstlosigkeit oder einer vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit, insbesondere im Zustand der Geschäftsunfähigkeit, der Unkenntnis von Inhalt und Bedeutung der Erklärung, der arglistigen Täuschung, der widerrechtlichen Drohung und der zu früh, dh. unter Verstoß gegen § 1747 Abs. 2 S. 1 BGB erteilten Einwilligung der Eltern. Weiterer Aufhebungsgrund ist die Beeinträchtigung des Wohles des Kin- 70 des aus schwerwiegenden Gründen. Die Aufhebung aus diesem Grund kann während der Minderjährigkeit des Kindes von Amts wegen erfolgen (§ 1763 BGB). Da durch diese Aufhebung eine Zweitadoption ermöglicht werden soll, der andernfalls § 1742 BGB entgegenstehen würde, ist die Aufhebung nur bei Minderjährigkeit des Kindes, wegen schwerwiegender Gründe und der Übernahme der Betreuung des Kindes durch einen leiblichen Elternteil oder bei einer Adoption durch ein Ehepaar durch den anderen Ehegatten bzw. zur Ermöglichung der erneuten Adoption zulässig.
1 Reinhardt, JAmt 2008, 457 und kurz Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/ Müller, Adoptionsrecht in der Praxis, Rn. 130. 2 Vgl. Stalinski, FamRZ 2005, 856 (858 ff.). 3 Vgl. OLG München v. 16.4.2007 – 31 Wx 102/06, FamRZ 2008, 299.
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Kap. 4 A Rn. 71
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Materielles Adoptionsrecht
Wichtig: Trennung und Scheidung der Adoptiveltern rechtfertigen eine Aufhebung grundsätzlich nicht1; anders ist dies bei einem sexuellen Missbrauch des Kindes durch seine Eltern.
II. Volljährigenadoption (§§ 1767 bis 1772 BGB) 1. Abgrenzung 71 Grundsätzlich gelten für die Volljährigenadoption dieselben Voraussetzungen wie für die Minderjährigenadoption (§ 1767 Abs. 2 BGB). Es bestehen jedoch einige Besonderheiten, die es notwendig machen, die Annahme eines Minderjährigen von derjenigen eines Volljährigen zu unterscheiden. Maßgeblich hinsichtlich der Unterscheidung ist das Alter des Anzunehmenden im Zeitpunkt des Erlasses des Annahmebeschlusses.
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Wichtig: Wird der Minderjährige während des Gerichtsverfahrens volljährig, muss ein neuer Adoptionsantrag gestellt werden. Eine Fortführung des bisherigen Verfahrens ist nicht möglich2. Das Gericht muss den Beteiligten allerdings zur Antragstellung Gelegenheit geben.
2. Voraussetzungen der Volljährigenadoption 72 Auch bei der Volljährigenadoption muss ein Eltern-Kind-Verhältnis entstehen und die Annahme sittlich gerechtfertigt sein. Dies hat bei der Volljährigenadoption umso mehr Bedeutung, als diese häufig zur Erlangung einer Aufenthaltsgenehmigung3, zur Weitergabe des Namens oder lediglich aus steuerlichen Zwecken4 erfolgt. Allerdings hat die Zunahme der Volljährigenadoption in den letzten Jahren nicht nur überwiegend steuerliche Gründe, sondern ist auch Folge der sinkenden Geburtenrate und des demographischen Wandels5. Liegt ein Eltern-Kind-Verhältnis wie bei der Stiefkindadoption nicht bereits vor, prüfen die Gerichte bei der Erwachsenenadoption besonders gründlich, ob ein solches zu erwarten
1 OLG Köln v. 12.1.2009 – 16 Wx 227/08, NJW-RR 2009, 1376. 2 KG v. 17.6.2003 – 1 W 302/01, FamRZ 2004, 1315. 3 Vgl. BayObLG v. 25.3.1983 – 1Z 5/83, FamRZ 1983, 764; OLG Karlsruhe v. 22.8.1990 – 11 W 119/90, NJW-RR 1991, 713; OLG Celle v. 6.10.1994 – 18 W 22/94, FamRZ 1995, 829; BayObLG v. 29.3.1995 – 1Z BR 72/94, FamRZ 1996, 183; BayObLG v. 21.11.1996 – 1Z BR 199/96, FamRZ 1997, 638; BayObLG v. 10.7.2000 – 1 Z BR 52/00, NJWE-FER 2001, 12. 4 OLG München v. 19.12.2008 – 31 Wx 49/08, FamRZ 2009, 1335; OLG München v. 8.6.2009 – 31 Wx 22/09, MDR 2009, 930; vgl. Becker, ZEV 2009, 25 ff. 5 Vgl. nur Becker, ZEV 2009, 15 ff.
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Rn. 73
Kap. 4 A
ist1. Verbleiben begründete Zweifel, wird die Adoption regelmäßig abgelehnt2. Bei der Adoption eines Erwachsenen ist jedoch das Eltern-Kind-Verhält- 73 nis anders zu beurteilen als bei Minderjährigen. Die Hausgemeinschaft und die Erziehungsfunktion fallen regelmäßig weg. Entscheidend ist das gegenseitige füreinander Einstehen im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft, die sich nicht auf Notfälle beschränkt3. Ferner soll die innere Verbundenheit auch nach außen erkennbar sein. Deshalb genügen lediglich freundschaftliche Beziehungen4 sowie der bloße Wunsch, ein Familienband herzustellen, nicht5. Auch gelegentliche Kontakte sind nicht ausreichend. Im Verhältnis von Eltern und erwachsenen Kindern hat die gegenseitige Unterstützung bei Krankheit, wirtschaftlichen Problemen und sonstigen Notfällen entscheidende Bedeutung6; dagegen soll allein die Absicht der stärkeren Bindung durch die Adoption zur Aufrechterhaltung von Pflegeleistungen nicht genügen7. Gegen ein Eltern-Kind-Verhältnis bei der Erwachsenenadoption sollen frühere oder noch bestehende sexuelle Kontakte8, ein geringer Altersunterschied9, die Unkenntnis von den Lebensumständen der Eltern bzw. des Kindes10 sowie auch die noch bestehende Einbindung in eine intakte Familie sprechen, was im letzt-
1 OLG Nürnberg v. 8.6.2011 – 9 UF 388/11, MDR 2011, 1296; OLG Zweibrücken v. 9.9.2005 – 3 W 121/05, FamRZ 2006, 572; großzügiger LG Augsburg v. 9.5.1995 – 5 T 5197/94, MittBayNot 1995, 396. 2 OLG Frankfurt v. 11.2.1999 – 20 W 190/98, NJWE-FER 2000, 29; BayObLG v. 18.5.2004 – 1Z BR 030/04, FamRZ 2005, 546; OLG Köln v. 29.7.2011 – 4 UF 108/11, BeckRS 2011, 22624; OLG Köln v. 1.8.2011 – 4 UF 108/11, FamRZ 2012, 137. 3 BayObLG v. 24.7.2002 – 1Z BR 54/02, FamRZ 2002, 1651; OLG Zweibrücken v. 9.9.2005 – 3 W 121/05, FamRZ 2006, 572; OLG Zweibrücken v. 19.1.1983 – 3 W 225/82, FamRZ 1983, 533; OLG Celle v. 17.5.2001 – 17 W 30/01, BeckRS 2001, 30181409. Vgl. dazu auch Frank, StAZ 2008, 65 ff. und Rieck/Zingraf, Die Adoption Erwachsener, 2011, Rn. 69 ff. 4 BayObLG v. 16.4.1997 – 1Z BR 202/96, MDR 1997, 747; OLG Celle v. 6.10.1994 – 18 W 22/94, FamRZ 1995, 829. 5 BayObLG v. 5.5.1999 – 1Z 9/80, BeckRS 2010, 20371. 6 Ausführl. MüKo/Maurer, § 1767 BGB Rn. 7; BayObLG v. 24.7.2002 – 1Z BR 54/02, BayObLGZ 2002, 236 = FamRZ 2002, 1651; vgl. auch OLG Köln v. 5.2.1990 – 16 Wx 169/89, FamRZ 1990, 800; BayObLG v. 24.7.2002 – 1Z BR 9/02, BayObLGZ 2002, 243 = FamRZ 2002, 1653; BayObLG v. 21.4.2004 – 1Z BR 019/04, FamRZ 2005, 131 = MittBayNot 2004, 443; OLG Köln v. 1.8.2011 – 4 UF 108/11, FamRZ 2012, 137 und OLG Nürnberg v. 8.6.2011 – 9 UF 388/1, FamRZ 2012, 137. 7 OLG München v. 5.5.2009 – 31 Wx 17/09, FamRZ 2009, 1336; OLG München v. 19.12.2008 – 31 Wx 49/08, MDR 2009, 333. 8 OLG München v. 16.11.2005 – 31 Wx 82/05, OLGReport 2006, 14. 9 BayObLG v. 14.10.1997 – 1Z BR 136/97, NJWE-FER 1998, 78 (elf Jahre); LG Frankenthal v. 4.8.1997 – 1 T 294/97, FamRZ 1998, 505. 10 Vgl. BayObLG v. 10.7.2000 – 1Z BR 52/00, NJWE-FER 2001, 12; OLG München v. 16.11.2005 – 31 Wx 82/05, OLGReport 2006, 14; BayObLG v. 16.11.1999 – 1Z BR 115/99, FamRZ 2001, 118.
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Kap. 4 A Rn. 74
Materielles Adoptionsrecht
genannten Fall allerdings an der Lebenswirklichkeit vorbeigeht1. Auch die gleichzeitige Adoption von Ehegatten und von Eltern mit ihren Kindern, die dadurch jeweils zu Geschwistern werden, begegnet teilweise Bedenken2. Ebenso soll bei der Adoption von Schwiegerkindern die Entstehung eines Eltern-Kind-Verhältnisses nicht möglich sein3.
Û
Praxishinweis: Bei der Volljährigenadoption spielen häufig wirtschaftliche Motive eine Rolle; sie dürfen nicht ausschlaggebend im Vordergrund stehen4. Dies hat insbesondere auch Bedeutung für die Unternehmens- und Betriebsnachfolge. Allerdings spielen verwandtschaftliche Beziehungen bei der Steuerbefreiung hinsichtlich der Schenkung- und Erbschaftsteuer beim Betriebsvermögen keine Rolle (§ 19a ErbStG). Gleiches gilt beim Privatvermögen für Stiefkinder (§ 15 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG).
74 Auch bei der Volljährigenannahme sind die Interessen der Kinder des Annehmenden und des Anzunehmenden in die Abwägung miteinzubeziehen (§ 1769 BGB). Anders als bei der Minderjährigenadoption können hier auch vermögensrechtliche Belange ausschlaggebend sein. Die geltende Rechtslage geht wegen der Beeinträchtigung der erbrechtlichen Situation vorhandener Kinder überwiegend davon aus, dass deshalb eine Adoption scheitert und somit eine Kindesannahme nur ausnahmsweise beim Vorhandensein eigener Kinder zulässig ist5. Allerdings hat auch hier eine Abwägung zwischen den Interessen der zu adoptierenden und der vorhandenen Kinder stattzufinden, so dass eine derartige Automatik nicht in Betracht kommt6. 75 Der Umstand, dass der Einzelne bereits einmal adoptiert wurde, schließt eine erneute Adoption nach Eintritt der Volljährigkeit nicht aus.
Û
Wichtig: Das Verbot der Zweitadoption gilt nur für Minderjährige, nicht für Volljährige (§ 1768 Abs. 1 S. 2 BGB). Deshalb können auch eingetragene Lebenspartner durch eine sukzessive Adoption eines Kindes bei
1 Ebenso OLG Zweibrücken v. 9.9.2005 – 3 W 121/05, FGPrax 2006, 21; LG Landshut v. 27.3.1999 – 60 T 636/99, MittBayNot 1999, 483; aA dagegen OLG Düsseldorf v. 17.9.1980 – 3 W 242/80, FamRZ 1981, 94. 2 Vgl. nur Staudinger/Frank, § 1767 BGB Rn. 17; s. auch AG Backnang v. 14.10.1999 – 1 XVI 8/99, FamRZ 2000, 770. 3 Vgl. MüKo/Maurer, § 1767 BGB Rn. 10; s. auch LG Krefeld v. 23.6.2004 – 6 T 69/04, FamRZ 2005, 930. 4 OLG München v. 8.6.2009 – 31 Wx 22/09, MDR 2009, 930 und OLG München v. 5.5.2009 – 31 Wx 17/09, FamRZ 2009, 1336. 5 So BayObLG v. 3.2.1984 – 1 Z 74/83, BayObLGZ 1985, 25 = FamRZ 1984, 419. 6 So nunmehr auch OLG München v. 10.1.2011 – 33 UF 988/10, NJW-RR 2011, 731; ausführlich bereits Grziwotz, FamRZ 2005, 2038 ff. Zur Notwendigkeit der Anhörung s. BVerfG v. 20.10.2008 – 1 BvR 291/06, FamRZ 2009, 106.
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Materielles Adoptionsrecht
Rn. 77
Kap. 4 A
seiner Minderjährigkeit durch einen Partner und nach Eintritt der Volljährigkeit durch den anderen Partner gemeinsame adoptierte Kinder haben. Bei der Volljährigenadoption ist zwischen der normalen Adoption mit 76 eingeschränkten Wirkungen und der Volljährigenadoption mit den Wirkungen der Minderjährigenadoption zu unterscheiden (§ 1772 BGB). Eine Adoption mit starken Wirkungen ist nur bei der gleichzeitigen Adoption eines minderjährigen Geschwisterteils, der nachgeholten Minderjährigenadoption bei einer Aufnahme in die Familie bereits als minderjähriges Kind, der Stiefkindadoption und der beantragten Minderjährigenadoption, bei der das Kind während des Verfahrens volljährig wird, möglich (§ 1772 Abs. 1 S. 1a, b, c und d BGB).
Û
Wichtig: Eine Einwilligung der Eltern des inzwischen volljährigen Kindes ist nicht mehr erforderlich. Allerdings dürfen die Interessen der leiblichen Eltern, die der Adoption entgegenstehen, nicht überwiegen (§ 1772 Abs. 1 S. 2 BGB). Auch hier können wirtschaftliche Interessen, insbesondere aus dem Unterhalts- und Erbrecht, eine Rolle spielen1.
3. Adoptionswirkungen bei der Volljährigenadoption Gegenüber der Minderjährigenadoption ergeben sich Besonderheiten, 77 wenn die Volljährigenadoption mit „schwachen“ Wirkungen ausgesprochen wird. In diesem Fall erstrecken sich die Wirkungen des Adoptionsverhältnisses nicht auf die Verwandten des Annehmenden (§ 1770 Abs. 1 S. 1 BGB). Ein Erb- und Pflichtteilsrecht im Verhältnis zu den Verwandten des Annehmenden besteht somit nicht. Der adoptierte volljährige Enkel erbt somit nicht von seinen Adoptiv-Großeltern. Erbrechtliche Wirkungen treten dagegen für die Verwandten des Angenommenen ein. Die Enkelkinder der Adoptiveltern erben somit beim Tode des adoptierten Elternteils von den Annehmenden.
Û
Wichtig: Auch bei der Volljährigenadoption erhält der Annehmende als Geburtsnamen den Familiennamen des Annehmenden2. Ob sich diese Wirkung auf einen dem alten Geburtsnamen entsprechenden Eheoder Lebenspartnerschaftsnamen erstreckt, hängt davon ab, ob der Partner der Namensänderung zustimmt. Durch eine Versagung der Zustimmung kann die Beibehaltung des bisherigen Namens erzielt werden.
1 OLG München v. 8.5.2009 – 31 Wx 147/08, DNotZ 2010, 147. 2 OLG Hamm v. 30.6.2011 – II-4 UF 186/10, FamRZ 2012, 138.
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Kap. 4 A Rn. 78
Materielles Adoptionsrecht
78 Von besonderer Bedeutung ist die Verdoppelung der Verwandtschaftsverhältnisse, die dadurch eintritt, dass die Rechte und Pflichten aus dem Verwandtschaftsverhältnis des Angenommenen und seiner Abkömmlinge zu den leiblichen Verwandten bestehen bleiben. Dies hat zur Folge, dass beim Tod des adoptierten Volljährigen sowohl dessen leibliche Eltern als auch dessen Adoptiveltern beim Fehlen von Abkömmlingen in der zweiten Ordnung erben.
Û
Wichtig: Hat das Adoptivkind keine Abkömmlinge oder sterben diese zB durch einen Unfall vor ihm, so kann im Wege der vorweggenommenen Erbfolge oder aus anderen Gründen zugewandtes Vermögen beim Tod des Adoptierten zumindest teilweise „die Familie wechseln“. Insofern sollten Verfügungen von Todes wegen dringend empfohlen werden.
79 Wegen der eingeschränkten Wirkungen der Volljährigenadoption bleiben kindbezogene Vergünstigungen anders als bei der Minderjährigenadoption bestehen; das Kind wird allerdings vorrangig bei den Adoptiveltern berücksichtigt (§§ 9c, 24b, 33, 62 EStG). 80 Erfolgt die Volljährigenadoption mit den Wirkungen der Annahme eines Minderjährigen (§ 1772 BGB) wird der volljährige Angenommene vollständig in die Verwandtschaft des Annehmenden eingegliedert und scheidet aus den bisherigen Verwandtschaftsverhältnissen aus; bei der Stiefkindund Verwandtenadoption bestehen allerdings auch die oben (Rn. 50 ff.) genannten Ausnahmen. 4. Aufhebung der Volljährigenadoption 81 Bei der Volljährigenadoption, die mit schwachen Wirkungen erfolgt, kann eine Aufhebung auf beiderseitigen Antrag des Annehmenden und des Angenommenen erfolgen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt (§ 1771 BGB). Entscheidend ist, dass beiden Betroffenen das Fortbestehen des Adoptionsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden kann1. Beispiele sind ein schuldhaftes Fehlverhalten, eine Zerrüttung der Beziehung und die von vornherein fehlende sittliche Rechtfertigung der Annahme2.
Û
Wichtig: Eine Aufhebung auf einseitigen Antrag eines Beteiligten ist nach § 1771 BGB nicht möglich, und zwar auch dann, wenn ein wichtiger Grund vorliegt3. Ein Beteiligter allein kann nur die Aufhebung nach § 1760 BGB bei Vorliegen der dort genannten Gründe beantragen, wo-
1 OLG Stuttgart v. 16.3.2010 – 15 UF 36/10, FamRZ 2010, 1999. 2 BGH v. 16.12.1987 – IVb ZB 68/87, BGHZ 103, 12 = FamRZ 1988, 390. 3 OLG Stuttgart v. 16.3.2010 – 15 UF 36/10, FamRZ 2010, 1999; OLG München v. 16.4.2007 – 31 Wx 102/06, ZErb 2007, 233.
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Materielles Adoptionsrecht
Rn. 84
Kap. 4 A
bei an die Stelle der Einwilligung des Kindes dessen Adoptionsantrag tritt (§ 1771 S. 3 BGB). Die Aufhebung einer Volljährigenadoption mit starken Wirkungen ist 82 nicht auf beiderseitigen Antrag bei Vorliegen eines wichtigen Grundes möglich. In diesem Fall kann die Annahme nur bei Vorliegen der auch für die Aufhebung der Minderjährigenadoption maßgeblichen Erklärungsmängel erfolgen1.
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Wichtig: Eine Zweitadoption kann die Volljährigenadoption beseitigen. Das Verbot der Zweitadoption gilt im Rahmen der Volljährigenadoption nicht mehr (vgl. oben Rn. 7).
III. Inlandsadoptionen mit ausländischen Staatsangehörigen Mangels internationaler Abkommen2 finden die Kollisionsnormen der 83 Art. 22 und Art. 23 EGBGB über das Adoptions- und das Zustimmungsstatut Anwendung. Sie regeln das anwendbare Recht hinsichtlich des Zustandekommens der Annahme und die Zustimmungserfordernisse. Bei der Adoption durch eine unverheiratete Einzelperson ist für die Adop- 84 tion bei Beteiligung eines ausländischen Staatsangehörigen das Heimatrecht dieser Person maßgebend (Art. 22 Abs. 1 S. 1 EGBGB). Bei der Adoption durch Ehegatten ist auf das objektive Ehewirkungsstatut (Recht der gleichen gemeinsamen Staatsangehörigkeit bzw. der letzten gemeinsamen Staatsangehörigkeit, wenn ein Ehegatte diese noch hat; hilfsweise Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts bzw. des letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts, in dem sich ein Ehegatte noch aufhält; hilfsweise schließlich Recht des Staates, mit dem die Ehegatten auf andere Weise gemeinsam am engsten verbunden sind) abzustellen (Art. 22 Abs. 1 S. 2, Art. 14 Abs. 1 EGBGB). Dies gilt nicht nur bei gemeinsamer Adoption durch beide Ehegatten, sondern auch bei der Stiefkindadoption und der ausnahmsweisen Annahme durch einen Ehegatten.
Û
Wichtig: Eine Rechtswahl hinsichtlich des Ehewirkungsstatus ist unbeachtlich3.
1 HM, s. nur BayObLG v. 14.3.1986 – 1Z 10/86, FamRZ 1986, 719; Staudinger/ Frank, § 1772 BGB Rn. 8; aA Bosch, FamRZ 1978, 656 (663). 2 Vgl. jedoch das deutsch-iranische Niederlassungsabkommen v. 17.2.1929 bei Adoptionen, an denen ausschließlich Deutsche oder ausschließlich iranische Staatsangehörige beteiligt sind; vgl. Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/ Müller, Adoptionsrecht in der Praxis, Rn. 215. 3 Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Müller, Adoptionsrecht in der Praxis, Rn. 228.
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Kap. 4 A Rn. 85
Materielles Adoptionsrecht
85 Bei der Adoption durch eingetragene Lebenspartner ist umstritten, ob das Recht der Registrierung (Art. 22 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Art. 17b Abs. 1 S. 1 EGBGB) Anwendung findet1. Das Ehewirkungsstatut ist nicht anwendbar, wenn nicht miteinander verheiratete oder in eingetragener Lebenspartnerschaft lebende Personen gemeinsam adoptieren wollen. Maßgeblich ist das Heimatrecht eines jeden Beteiligten wie bei einer Einzeladoption; eine gemeinsame Adoption ist ihnen somit nur möglich, wenn dieses eine gemeinsame Annahme gestattet. 86 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Adoptionsstatus ist derjenige des Wirksamwerdens der Annahme. Das Adoptionsstatut betrifft die Frage, ob eine Annahme als Kind möglich ist, die Antragsberechtigung, die Zustimmungserfordernisse und deren Ersetzbarkeit, Altersgrenzen, Altersunterschiede, die eventuell erforderliche Kinderlosigkeit, die weiteren Voraussetzungen der Adoption einschließlich einer Probezeit, die Eintragung der Adoption sowie deren Durchführung (Dekret oder Vertrag) und eventuelle behördliche Mitwirkungen sowie ferner die Wirkungen der Adoption, insbesondere im Erb-, Namens und Staatsangehörigkeitsrecht, und schließlich die Aufhebung der Adoption. Nicht betroffen sind Vorfragen wie etwa die Frage der Minderjährigkeit, des Bestehens einer Ehe oder eingetragenen Lebenspartnerschaft und der gesetzlichen Vertretung2. 87 Das Zustimmungsstatut enthält ergänzende Einwilligungserfordernisse, nachdem sich bereits nach dem Adoptionsstatut bestimmt, welche Einwilligungen vorliegen müssen und ob diese ggf. ersetzt werden können. Betroffen sind die Zustimmungen des Kindes und derjenigen Personen, zu denen es in einem familienrechtlichen Verhältnis steht, insbesondere der Eltern3. Die Folgen des Fehlens oder des Mangels einer Zustimmung bestimmen sich nach dem Zustimmungsstatut (nicht jedoch die Geschäftsfähigkeit nach Art. 7 EGBGB und die Form nach Art. 11 EGBGB). Art. 23 S. 1 EGBGB bezieht sich auf das Recht des Landes, dem das Kind angehört, wobei insoweit der Zeitpunkt der Statusänderung maßgeblich ist4. Anstelle des Heimatrechts des Kindes ist das deutsche Recht anzuwenden (Art. 23 S. 2 EGBGB), wenn dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist, insbesondere eine verweigerte Einwilligung zu ersetzen ist. Unterliegt die Annahme nicht deutschem Recht, bedarf die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters des Kindes bei unterschiedlicher Staatsangehörig-
1 Vgl. MüKo/Klinkhardt, Art. 22 EGBGB Rn. 9 und AG Nürnberg v. 25.9.2010 – XVI 57/09, FamRZ 2011, 308. 2 S. zum Ganzen ausführlich Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Müller, Adoptionsrecht in der Praxis, Rn. 120 ff. 3 Str. hinsichtlich des Ehegatten; vgl. nur MüKo/Klinkhardt, Art. 23 EGBGB Rn. 6 (auch zur Frage der selbständigen oder unselbständigen Anknüpfung). 4 Zur streitigen Frage, ob es sich um eine Gesamtverweisung oder eine Sachnormverweisung handelt, s. nur Palandt/Thorn, Art. 23 EGBGB Rn. 2 und Staudinger/ Henrich, Art. 23 EGBGB Rn. 6.
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Grziwotz
Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 91
Kap. 4 B
keit von Annehmendem und Anzunehmendem der Genehmigung des Familiengerichts (§ 1746 Abs. 1 S. 4 BGB). Auch für das Adoptionsverfahren gilt Art. 6 EGBGB, wonach die Rechts- 88 normen eines fremden Staats nicht anzuwenden sind, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führen würde, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Ordre-public-Verstöße wurden bei einem Adoptionsverbot, dem Verlust des Sorgerechts der Mutter bei einer Stiefkindadoption, einem sehr hohen Mindestalter für den Annahmewilligen, dem Verbot einer Volladoption bei älteren Kindern, einem hohen Mindestalter für den Adoptierenden sowie bei Kinderlosigkeit des Annehmenden angenommen1. Da Art. 23 EGBGB allein auf das Kind abstellt, richtet sich die Notwen- 89 digkeit der Zustimmung des Ehegatten und von Kindern oder sonstigen Verwandten des Annehmenden allein nach Art. 22 EGBGB. Kennt das Personalstatut des Kindes die Adoption nicht, so richtet sich die Frage, welche Zustimmungen erforderlich sind, allein nach dem gem. Art. 22 EGBGB anzuwendenden Recht2. Soll ein Erwachsener eines osteuropäischen Staates adoptiert werden, ist daher idR nur die Zustimmung des Ehegatten des Annehmenden und des Anzunehmenden erforderlich, wenn der Annehmende deutscher Staatsangehöriger ist, da den osteuropäischen Staaten die Erwachsenenadoption fremd ist.
B. Verfahren in Adoptionssachen I. Inländische Adoptionssachen Adoptionssachen sind in §§ 111 Nr. 4, 186 FamFG definiert. Die Legal- 90 definition hat Bedeutung für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit (§ 101 FamFG), der sachlichen Zuständigkeit (§ 23a Abs. 1 Nr. 1 GVG), der örtlichen Zuständigkeit (§ 187 FamFG) sowie der anwendbaren Verfahrensvorschriften (Buch 1 FamFG sowie Sondervorschriften der §§ 186–199 FamFG). Unter die Adoptionssachen fallen zunächst die Verfahren, die die Annahme als Kind betreffen (§ 186 Nr. 1 FamFG). Die Regelung umfasst sowohl die eigentliche Annahme des minderjährigen (§§ 1741–1752 BGB) sowie des volljährigen Kindes (§§ 1767–1772 BGB) als auch die Regelung des Namens (§ 1757 BGB). Bei unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten des 1 Vgl. Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Müller, Adoptionsrecht in der Praxis, Rn. 252 mwN. 2 Erman/Hohloch, Art. 23 EGBGB Rn. 14.
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Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 91
Kap. 4 B
keit von Annehmendem und Anzunehmendem der Genehmigung des Familiengerichts (§ 1746 Abs. 1 S. 4 BGB). Auch für das Adoptionsverfahren gilt Art. 6 EGBGB, wonach die Rechts- 88 normen eines fremden Staats nicht anzuwenden sind, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führen würde, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Ordre-public-Verstöße wurden bei einem Adoptionsverbot, dem Verlust des Sorgerechts der Mutter bei einer Stiefkindadoption, einem sehr hohen Mindestalter für den Annahmewilligen, dem Verbot einer Volladoption bei älteren Kindern, einem hohen Mindestalter für den Adoptierenden sowie bei Kinderlosigkeit des Annehmenden angenommen1. Da Art. 23 EGBGB allein auf das Kind abstellt, richtet sich die Notwen- 89 digkeit der Zustimmung des Ehegatten und von Kindern oder sonstigen Verwandten des Annehmenden allein nach Art. 22 EGBGB. Kennt das Personalstatut des Kindes die Adoption nicht, so richtet sich die Frage, welche Zustimmungen erforderlich sind, allein nach dem gem. Art. 22 EGBGB anzuwendenden Recht2. Soll ein Erwachsener eines osteuropäischen Staates adoptiert werden, ist daher idR nur die Zustimmung des Ehegatten des Annehmenden und des Anzunehmenden erforderlich, wenn der Annehmende deutscher Staatsangehöriger ist, da den osteuropäischen Staaten die Erwachsenenadoption fremd ist.
B. Verfahren in Adoptionssachen I. Inländische Adoptionssachen Adoptionssachen sind in §§ 111 Nr. 4, 186 FamFG definiert. Die Legal- 90 definition hat Bedeutung für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit (§ 101 FamFG), der sachlichen Zuständigkeit (§ 23a Abs. 1 Nr. 1 GVG), der örtlichen Zuständigkeit (§ 187 FamFG) sowie der anwendbaren Verfahrensvorschriften (Buch 1 FamFG sowie Sondervorschriften der §§ 186–199 FamFG). Unter die Adoptionssachen fallen zunächst die Verfahren, die die Annahme als Kind betreffen (§ 186 Nr. 1 FamFG). Die Regelung umfasst sowohl die eigentliche Annahme des minderjährigen (§§ 1741–1752 BGB) sowie des volljährigen Kindes (§§ 1767–1772 BGB) als auch die Regelung des Namens (§ 1757 BGB). Bei unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten des 1 Vgl. Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Müller, Adoptionsrecht in der Praxis, Rn. 252 mwN. 2 Erman/Hohloch, Art. 23 EGBGB Rn. 14.
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Kap. 4 B Rn. 92
Verfahren in Adoptionssachen
Annehmenden und des Kindes ist auch die gem. § 1746 Abs. 1 BGB zu erteilende familiengerichtliche Genehmigung Adoptionssache1. 92 Nicht zu den Adoptionssachen sondern zu den Kindschaftssachen gem. § 151 Nr. 1 FamFG gehört die Rückübertragung der elterlichen Sorge gem. § 1751 Abs. 3 BGB, wenn die Einwilligung eines Elternteils in die Adoption des Kindes ihre Kraft verloren hat2. 93 Zu den Adoptionssachen gehört weiterhin das Verfahren zur Ersetzung einer für die Adoption erforderlichen Einwilligung (§ 186 Nr. 2 FamFG). Bedeutung hat vor allem die Ersetzung der Einwilligung eines Elternteils (§ 1748 BGB). Ersetzt werden kann auch die Einwilligung des Ehegatten des Annehmenden (§ 1749 Abs. 1 BGB). Demgegenüber ist die Einwilligung des Ehegatten des Anzunehmenden nicht ersetzbar (§ 1749 BGB)3. Hinsichtlich der Einwilligung des Kindes kommt Ersetzung nur in Betracht, wenn die Einwilligung durch den Vormund oder Pfleger verweigert wird (§ 1746 Abs. 3 BGB). Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist allerdings gering, da es der Einwilligung der Eltern als gesetzlicher Vertreter des Kindes nicht bedarf, wenn sie in die Adoption eingewilligt haben und deshalb das Jugendamt Amtsvormund geworden ist (§ 1746 Abs. 3 Halbs. 2 BGB). 94 Adoptionssachen sind ferner Verfahren wegen der Aufhebung eines Annahmeverhältnisses (§ 186 Nr. 3 FamFG). Die Voraussetzungen der Aufhebung eines Annahmeverhältnisses ergeben sich aus §§ 1759 bis 1763 BGB. Die Adoption ist demnach grundsätzlich nicht aufhebbar. Die Aufhebung kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn der Antrag des Annehmenden oder die Einwilligung des Kindes oder eines Elternteils fehlen oder mit schwerwiegenden Mängeln behaftet sind. Demgegenüber rechtfertigt die Änderung der familiären Situation der Annehmenden (Scheidung der Ehe) oder die Entwicklung des Kindes die Aufhebung der Annahme nie. 95 Zu den Adoptionssachen gehört sodann das Verfahren wegen der Befreiung vom Eheverbot des § 1308 BGB (§ 186 Nr. 4 FamFG). Grundsätzlich sollen der Annehmende und der Anzunehmende keine Ehe schließen, da dies dem durch die Adoption zu begründenden (sozialen) Eltern-Kind-Verhältnis widerspricht. Da das Verfahren, soweit ersichtlich, kaum praktische Bedeutung hat, wird hierauf im Folgenden nicht näher eingegangen4. 96 Schließlich gehören zu den Adoptionssachen auch die Verfahren nach dem AdWirkG. Auf dieses Gesetz verweist § 199 FamFG. Bedeutung ha1 2 3 4
Prütting/Helms/Krause, § 186 FamFG Rn. 2. Prütting/Helms/Krause, § 186 FamFG Rn. 3. Erman/Saar, § 1749 BGB Rn. 4. Vgl. bei Bedarf Erman/Roth, § 1308 BGB Rn. 1 ff. sowie Palandt/Brudermüller, § 1308 BGB Rn. 1 ff.
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Siede
Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 100
Kap. 4 B
ben vor allem die Feststellungen, ob die Annahme eines ausländischen Staates anzuerkennen ist und welche Auswirkungen eine Annahme nach ausländischen Sachvorschriften auf die Verwandtschaftsverhältnisse des Anzunehmenden hat (§ 2 AdWirkG) sowie die Umwandlung gem. § 3 AdWirkG in eine Volladoption nach inländischem Recht. 1. Zuständigkeit a) Internationale Zuständigkeit Die internationale Zuständigkeit für Adoptionssachen folgt aus § 101 FamFG. Demnach sind die deutschen Gerichte international zuständig, wenn der Annehmende, einer der annehmenden Ehegatten oder das anzunehmende Kind deutsche Staatsangehörige sind oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben (§ 101 FamFG). Zwischen diesen Anknüpfungen gibt es kein Rangverhältnis. Weiterhin ist die internationale Zuständigkeit auch nicht ausschließlich1. Maßgeblich ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Antragstellung. Inwieweit nachträgliche Änderungen (Ausländer verlegt seinen gewöhnlichen Aufenthalt ins Ausland) die Zuständigkeit entfallen lassen, ist umstritten2. Es ist sachgerecht, eine Einzelfallentscheidung anhand des Maßstabs, inwieweit die Adoption in dem neuen Aufenthaltsstaat anerkannt würde, zu treffen3.
97
Die Vorschrift wird nicht durch vorrangige Staatsverträge verdrängt. In der Brüssel IIa-Verordnung, dem Haager MSÜ sowie im HAÜ wird die internationale Zuständigkeit nicht geregelt4. Das HÜK über behördliche Zuständigkeiten v. 15.11.1965 wurde von Deutschland nicht gezeichnet.
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Das AdWirkG enthält Regelungen über die Anerkennung von im Aus- 99 land ausgesprochenen oder begründeten Annahmeverhältnissen, die Feststellung der Auswirkungen der Annahme nach ausländischen Sachvorschriften auf die Verwandtschaftsverhältnisse des Kindes sowie die Umwandlung einer nach ausländischem Sachrecht begründeten Annahme in eine Volladoption. Hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit verweist § 5 AdWirkG auf § 101 FamFG. Das AdVermiG enthält nur Vorschriften über die Zuständigkeit und das Verfahren der Jugendämter und des Landesjugendamts in Fällen der Adoption ausländischer Kinder.
1 Haußleiter/Gomille, § 101 FamFG Rn. 1. 2 Vgl. hierzu Haußleiter/Gomille, § 101 FamFG Rn. 6 unter Bezug auf: OLG Stuttgart v. 19.1.2007 – 8 AR 1/07, FamRZ 2007, 839, wo aber eine andere Kostellation entschieden wird. 3 Wie hier wohl Prütting/Helms/Hau, § 101 FamFG Rn. 12. 4 Prütting/Helms/Hau § 101 FamFG Rn. 3–5.
Siede
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100
Kap. 4 B Rn. 101
Verfahren in Adoptionssachen
b) Sachliche Zuständigkeit 101
Sachlich zuständig sind die Amtsgerichte (§ 23a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GVG). Dort ist die Abteilung für Familiensachen zur Entscheidung berufen (§ 23b Abs. 1 GVG). c) Örtliche Zuständigkeit
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Die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 187 FamFG. Demnach ist bei der Prüfung folgende Reihenfolge einzuhalten:
103
– Zuerst ist zu prüfen, ob sich die Adoption nach inländischem Recht richtet oder ob auch ausländische Sachvorschriften zur Anwendung kommen (§ 187 Abs. 4 BGB). Kommt ausländisches Sachrecht zur Anwendung, tritt an die Stelle des Familiengerichts, in dessen Bezirk einer der maßgeblichen Beteiligten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, das Familiengericht am Sitz des Oberlandesgerichts, in dessen Bezirk der maßgebliche Beteiligte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 5 AdWirkG).
104
Streitig ist, ob die Zuständigkeit gem. § 187 Abs. 4 BGB voraussetzt, dass sich die Annahme insgesamt nach ausländischen Sachvorschriften richtet, oder ob es schon ausreicht, wenn hinsichtlich einzelner Fragen ausländisches Sachrecht zur Anwendung kommt1. Die Frage hat vor allem deswegen Bedeutung, weil sich die Annahme zwar nach deutschem Recht richtet, wenn der Annehmende im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 22 Abs. 1 EGBGB), hinsichtlich der Zustimmungserfordernisse jedoch auch das Heimatrecht des Anzunehmenden maßgeblich ist (Art. 23 EGBGB). § 5 AdWirkG soll erreichen, dass über Adoptionen mit Auslandsbezug durch ein hierauf besonders spezialisiertes Gericht entschieden wird. Dies soll durch die Zuständigkeitskonzentration bei dem Familiengericht am Sitz des Oberlandesgerichts erreicht werden. Es erscheint daher vorzugswürdig, die Zuständigkeitskonzentration des § 5 AdWirkG schon dann anzunehmen, wenn sich die Zustimmung zur Annahme nach ausländischen Sachvorschriften richtet2.
105
Streitig ist weiter, ob die Zuständigkeitskonzentration nur eintritt, wenn der Anzunehmende minderjährig ist, oder ob sie auch gilt, wenn er bei Antragstellung bereits volljährig war. § 187 Abs. 4 FamFG enthält eine Rechtfolgenverweisung3. Weiterhin dient er dem Zweck, Fäl1 Zum Sach- und Streitstand Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Emmerling de Oliveira Rn. 255. 2 So auch die neuere Rechtssprechung, vgl. zB OLG Stuttgart v. 2.12.2003 – 8 AR 22/03, FamRZ 2004, 1124; BayObLG v. 16.12.2004 – 1Z AR 168/04, FamRZ 2005, 1694; OLG Köln v. 17.10.2005 – 16 Wx 169/05, StAZ 2006, 76. 3 Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Emmerling de Oliveira Rn. 256; Haußleiter/Fest, § 187 FamFG Rn. 18.
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Siede
Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 111
Kap. 4 B
le, in denen ausländische Vorschriften zur Anwendung kommen, bei dem Gericht am Sitz des Oberlandesgerichts zu konzentrieren. Obwohl § 5 AdWirkG wegen § 1 AdWirkG nur für Minderjährige gilt, ist es daher sachgerecht, die Zuständigkeitskonzentration gem. § 187 Abs. 4 FamFG auch herbeizuführen, wenn der Anzunehmende volljährig ist1. Schließlich ist streitig, was unter ausländischen Sachvorschriften zu 106 verstehen ist. Dem Zweck der Konzentration entspricht es, die Zuständigkeitskonzentration auch dann anzunehmen, wenn ausländisches IPR, das im Ergebnis auf deutsches Recht zurückverweist, auf die Adoption zur Anwendung kommt2. – Sodann ist zu prüfen, wo der Annehmende oder einer der Annehmenden seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 187 Abs. 1 FamFG). Kommt nur deutsches Recht zur Anwendung, ist das Amtsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk dieser gewöhnliche Aufenthalt liegt, sonst das Amtsgericht am Sitz des Oberlandesgerichts, wo der gewöhnliche Aufenthalt liegt.
107
– Hat keiner der Annehmenden seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, ist maßgeblich, wo der Anzunehmende seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 187 Abs. 2 FamFG). Bei Auslandsbezug gelten die obigen Ausführungen entsprechend.
108
– Hat weder einer der Annehmenden noch der Anzunehmende im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt, ist das Amtsgericht Berlin Schöneberg örtlich zuständig (§ 187 Abs. 5 FamFG).
109
Für Verfahren nach dem AdWirkG richtet sich die Zuständigkeit nach 110 §§ 199 FamFG, 5 AdWirkG. Demnach ist das Amtsgericht – Familiengericht – am Sitz des Oberlandesgerichts, in dem einer der Annehmenden bzw. der Anzunehmende seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sachlich und örtlich zuständig. d) Sonstiges Funktionell zuständig für die Adoption ist der Richter (§ 14 Abs. 1 Nr. 15 110a RPflG). Der maßgebliche Zeitpunkt für die Bestimmung der Zuständigkeit ist 111 der Eingang des Antrags bei Gericht. Ändern sich danach die für die Bestimmung der Zuständigkeit relevanten Umstände, wirkt sich dies auf die Zuständigkeit nicht mehr aus (§ 2 FamFG).
1 Ebenso Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Emmerling de Oliveira aaO; aA OLG Stuttgart v. 23.11.2011 – 17 AR 9/11, FamRBint 2012, 4. 2 OLG Karlsruhe v. 15.3.2005 – 19 AR 5/05, FamRZ 2005, 2095.
Siede
199
Kap. 4 B Rn. 112
Verfahren in Adoptionssachen
2. Beteiligte a) Verfahren wegen Annahme eines Kindes (§ 186 Nr. 1 FamFG) 112
Die Regelung der Beteiligung ergibt sich aus der speziell für das Adoptionsverfahren geschaffenen Vorschrift des § 188 FamFG sowie aus § 7 FamFG.
113
Demnach ist zunächst der Antragsteller Verfahrensbeteiligter (§ 7 Abs. 1 FamFG). Hinsichtlich des Antragstellers bedarf es keiner besonderen Entscheidung des Gerichts über die Hinzuziehung. Antragsteller ist in Verfahren wegen der Annahme eines Minderjährigen der Annehmende (§ 1752 Abs. 1 BGB). Wird ein Kind durch ein Ehepaar angenommen, sind die Eheleute gemeinsam Antragsteller (§ 1741 Abs. 2 S. 2 BGB). Allein ein Ehegatte ist jedoch als Antragsteller Beteiligter, wenn er das Kind seines Ehegatten annimmt (Stiefkindadoption) oder wenn der andere Ehegatte mangels Geschäftsfähigkeit oder aus Altersgründen ein Kind nicht annehmen kann (§ 1741 Abs. 2 S. 4 BGB). Lebenspartner können die Annahme nicht gemeinsam beantragen. Antragsteller ist daher der Lebenspartner, der ein Kind seines Partner annehmen will, andernfalls nur einer der beiden Lebenspartner, zu dem das Kindschaftsverhältnis begründet werden soll, während der andere der Annahme zuzustimmen hat (vgl. § 9 LPartG).1
114
In Verfahren wegen der Annahme eines Volljährigen ist der Antrag durch den Annehmenden und den Anzunehmenden gemeinsam zu stellen (§ 1768 Abs. 1 BGB).
115
Gem. §§ 7 Abs. 2 Nr. 1, 188 FamFG sind weiterhin alle Personen zwingend als Beteiligte zu dem Verfahren hinzuzuziehen, deren Rechtsstellung durch das Verfahren betroffen wird.
116
Dies ist im Fall der Annahme eines Minderjährigen zunächst dieser selbst (§ 188 Abs. 1 Nr. 1a FamFG).
117
Weiterhin sind die Eltern des Minderjährigen zu beteiligen (§ 188 Abs. 1 Nr. 1b FamFG). Dies gilt allerdings nicht im Fall der Inkognito-Adoption (§ 1747 Abs. 2 S. 2 BGB, 188 Abs. 1 Nr. 1b FamFG). In diesem Fall würde die Beteiligung dem Geheimhaltungsinteresse der Annehmenden widersprechen. Daher findet die Beteiligung mit der – regelmäßig vor Verfahrensbeginn – erklärten Einwilligung ihr Ende2. Ein Elternteil ist auch dann nicht zu beteiligen, wenn er geschäftsunfähig oder unbekannten Aufenthalts ist (§ 1747 Abs. 4 BGB, 188 Abs. 1 Nr. 1b FamFG). Daher fin-
1 Zur sukzessiven Adoption eines „fremden“ Kindes durch Lebenspartner vgl. oben Rn. 7 und OLG Hamburg v. 22.12.2010 – 2 Wx 23/09, FamRZ 2011, 1312. 2 Prütting/Helms/Krause, § 188 FamFG Rn. 11; aA, aber wegen des Grundsatzes des Anwendungsvorranges des spezielleren Gesetzes wohl nicht haltbar Haußleiter/Fest, § 188 FamFG Rn. 5.
200
Siede
Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 121
Kap. 4 B
det eine Beteiligung der Eltern insbesondere nicht bei Findelkindern (bzw. anonymer Geburt oder Auffinden des Kindes in einer „Babyklappe“) statt1. Ist ein Elternteil zwar namentlich bekannt, jedoch sein Aufenthalt unbekannt, kann eine Beteiligung nur unterbleiben, wenn das Gericht alles Zumutbare unternommen hat, den Aufenthalt zu ermitteln. IdR ist eine Frist von sechs Monaten ab Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung einzuhalten2. Als Elternteil gilt auch ein Mann, der glaubhaft macht, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben, selbst wenn er weder die Vaterschaft anerkannt hat noch diese festgestellt ist, sofern kein anderer Mann als statusrechtlicher Vater vorhanden ist (§ 1747 Abs. 1 BGB). Sofern die Ehegatten das Kind nicht gemeinschaftlich annehmen, ist 118 auch der Ehegatte des Annehmenden als Beteiligter hinzuzuziehen (§ 188 Abs 1 Nr. 1c FamFG). Dies gilt allerdings nicht, wenn der Ehegatte nicht einwilligungsfähig ist, oder trotz zumutbarer Nachforschungen der Aufenthalt des Ehegatten nicht zu ermitteln ist (§ 1749 Abs. 3 BGB)3. Nicht zu den Beteiligten gehören Kinder des/der Annehmenden bzw. des 119 Anzunehmenden. Zwar kann deren Rechtsstellung hinsichtlich der Ansprüche auf Unterhalt sowie in erbrechtlicher Hinsicht und deren tatsächliche Lebenssituation durch die Annahme eines (weiteren) Kindes nachhaltig verändert werden. § 193 FamFG sieht aber lediglich vor, dass diese Kinder zu hören sind, eine Beteiligung ist demgegenüber nicht vorgesehen. Insoweit kann auch nicht auf § 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG zurückgegriffen werden4. Entsprechendes gilt für Geschwister und Eltern der Annehmenden sowie die entfernteren Verwandten des Anzunehmenden5. Insoweit richtet sich die Notwendigkeit der Anhörung nach § 26 FamFG. In Verfahren wegen Annahme des Kindes hat das Gericht grundsätzlich das Jugendamt anzuhören, wenn das Kind minderjährig ist (§ 194 Abs. 1 FamFG). Diese Verpflichtung entfällt, wenn das Jugendamt eine fachliche Äußerung gem. § 189 FamFG abgegeben hat – was der Regelfall ist. Gleichwohl ist das Jugendamt an dem Verfahren zu beteiligen, wenn es dieses beantragt (§§ 188 Abs. 2, 7 Abs. 2 Nr. 2 FamFG).
120
In Fällen der Kollision der Interessen eines minderjährigen anzunehmen- 121 den Kindes mit den Interessen seiner gesetzlichen Vertreter ist dem Kind ein Verfahrensbeistand zu bestellen (§§ 191, 158 Abs. 1 FamFG). Dieser wird durch seine Bestellung Verfahrensbeteiligter, ohne dass es eines weiteren Aktes des Gerichts bedarf (§ 158 Abs. 3 S. 2 FamFG). Praktische Bedeutung hat die Vorschrift bisher nicht erlangt6. 1 2 3 4 5 6
Prütting/Helms/Krause, § 188 FamFG Rn. 12. Prütting/Helms/Krause, § 188 FamFG Rn. 12. Haußleiter/Fest, § 188 FamFG Rn. 10. Keidel/Engelhardt, § 188 FamFG Rn. 3. Schulte-Bunert/Weinreich/Sieghörtner, § 188 FamFG Rn. 13. Braun, FamRZ 2011, 81.
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201
Kap. 4 B Rn. 122 122
Verfahren in Adoptionssachen
Soll ein volljähriges Kind adoptiert werden, sind die Eltern grundsätzlich nicht am Verfahren zu beteiligen. Dies liegt daran, dass durch die Adoption eines Volljährigen die bestehenden Verwandtschaftsverhältnisse grundsätzlich nicht berührt werden, sondern lediglich ein weiteres Verwandtschaftsverhältnis zu dem/den Annehmenden begründet wird (§ 1770 BGB). Dass sich hierdurch Unterhaltsansprüche und Erbquoten ändern können, reicht nicht aus, wie sich aus der § 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG vorgehenden Spezialregelung des § 188 Abs. 1 Nr. 1b FamFG ergibt. Soll demgegenüber die Adoption nach den Vorschriften ausgesprochen werden, die auch für Minderjährige gelten (§ 1772 BGB), sind auch die Eltern des Volljährigen zu beteiligen (§ 188 Abs. 1 Nr. 1b FamFG). Im Unterschied zum minderjährigen Kind hat allerdings die Beteiligung des Ehegatten des Anzunehmenden gem. § 188 Abs. 1 Nr. 1c FamFG erhebliche Bedeutung. Der Volljährige wird häufig verheiratet sein und bedarf dann der Einwilligung seines Ehegatten, damit die Adoption ausgesprochen werden kann (§ 1749 Abs. 2 BGB). Die Beteiligung des Jugendamts und eines Verfahrensbeistands kommt bei der Annahme Volljähriger nicht in Betracht. Die Annahme Volljähriger kann sich insbesondere auf die erbrechtliche Stellung der Eltern des/der Annehmenden, aber auch auf die erbrechtliche Stellung von Kindern des/der Annehmenden auswirken. Auch insoweit hat es aber bei der Anhörung gem. § 193 FamFG zu verbleiben, die Hinzuziehung dieser Personen als Beteiligte sehen §§ 188, 193 FamFG als leges speciales zu § 7 FamFG nicht vor. b) Verfahren wegen Ersetzung der Einwilligung (§ 186 Nr. 2 FamFG)
123
Das Verfahren wegen Ersetzung der Einwilligung eines Elternteils in die Adoption eines Minderjährigen gem. § 1748 BGB kann dem eigentlichen Annahmeverfahren vorgeschaltet werden, aber auch während des Annahmeverfahrens als „selbständiges Zwischenverfahren“ geführt werden1. Beteiligt an diesem Verfahren ist gem. § 7 Abs. 1 FamFG ohne weiteren gerichtlichen Akt das Kind als Antragsteller (§§ 1748 Abs. 1 BGB, 7 Abs. 1 FamFG). Weiterhin ist gem. § 188 Abs. 1 Nr. 2 FamFG der Elternteil, dessen Einwilligung ersetzt werden soll, als notwendiger Beteiligter hinzuzuziehen (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG). Die Bestellung eines Verfahrensbeistands ist regelmäßig geboten, wenn der Elternteil, dessen Einwilligung ersetzt werden soll, auch sorgeberechtigt ist (§§ 191, 158 Abs. 1, 2 Nr. 1 FamFG)2. Die Beteiligung des Jugendamts richtet sich nach §§ 188 Abs. 2, 194 Abs. 1 FamFG.
124
Die Ersetzung der Einwilligung des Ehegatten des Annehmenden hat für die Adoption minderjähriger Kinder keine Bedeutung, da in diesen Fällen die Adoption regelmäßig nicht dem Wohl des Kindes entspricht3.
1 Erman/Saar, § 1748 BGB Rn. 19. 2 Vgl. FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 415 hinsichtlich der Mutter. 3 Staudinger/Frank, § 1749 BGB Rn. 6.
202
Siede
Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 129
Kap. 4 B
Der Annahme eines Volljährigen müssen die Eltern auch im Fall der „starken“ Adoption gem. § 1772 BGB nicht zustimmen. Es ist lediglich zu ermitteln, ob der Adoption überwiegende Interessen der Eltern des Anzunehmenden entgegenstehen (§ 1772 Abs. 1 S. 2 BGB).
125
Die Zustimmung des Ehegatten des Annehmenden kann auf Antrag des Annehmenden ersetzt werden (§§ 1749 Abs. 1, 1768 Abs. 1 BGB). Als Antragsteller ist der annehmende Ehegatte gem. § 7 Abs. 1 FamFG beteiligt. Weiterhin ist der Ehegatte, dessen Zustimmung ersetzt werden soll, als Beteiligter hinzuzuziehen (§ 188 Abs. 1 Nr. 2 FamFG). Schließlich ist auch der Anzunehmende gem. § 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG zu beteiligen1.
126
c) Aufhebung der Annahme (§ 186 Nr. 3 FamFG) In Verfahren wegen Aufhebung der Annahme sind der Antragsteller (§ 7 Abs. 1 FamFG), der Annehmende und der Angenommene, sofern sie nicht auch Antragsteller sind gem. § 188 Abs. 1 Nr. 3a FamFG sowie die leiblichen Eltern des Angenommenen gem. § 188 Abs. 1 Nr. 3b FamFG zu beteiligen. Die Beteiligung des Jugendamts richtet sich nach § 188 Abs. 2 FamFG, die des Verfahrensbeistands nach § 191, 158 Abs. 3 S. 2 FamFG.
127
d) Aufhebung des Eheverbots (§ 186 Nr. 4 FamFG) An Verfahren wegen Aufhebung des Eheverbots sind die Verlobten zu beteiligen, sofern sie als Antragsteller nicht ohnehin schon Beteiligte sind (§§ 7 Abs. 1, 188 Abs. 1 Nr. 4 FamFG).
128
3. Antrag Adoptionsverfahren sind Antragsverfahren (§ 23 Abs. 1 FamFG). Das An- 129 tragserfordernis ergibt sich allerdings nicht aus dem Verfahrensrecht, sondern aus dem BGB: – Gem. § 1752 Abs. 1 BGB bedarf die Annahme des minderjährigen Kindes des Antrags durch den Annehmenden. – Gem. § 1768 Abs. 1 BGB bedarf die Annahme des Volljährigen des Antrags durch den Annehmenden sowie des Anzunehmenden. – Die für die Adoption erforderliche Einwilligung eines Elternteils kann auf Antrag des Kindes ersetzt werden (§ 1748 Abs. 1 BGB). – Die Einwilligung eines Ehegatten des Annehmenden ist auf Antrag des Annehmenden zu ersetzen (§ 1749 Abs. 1 S. 2 BGB).
1 AA wohl Haußleiter/Fest, § 188 FamFG Rn. 12; hiergegen spricht aber, dass von der Einwilligung des Ehegatten der Anspruch des Anzunehmenden auf Ausspruch der Annahme durch das Gericht unmittelbar beeinflusst wird.
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203
Kap. 4 B Rn. 130
Verfahren in Adoptionssachen
– Die Aufhebung des Annahmeverhältnisses erfolgt grundsätzlich ebenfalls nur auf Antrag (§§ 1760, 1762 BGB). Im Interesse minderjähriger Kinder kann die Adoption allerdings ausnahmsweise auch von Amts wegen aufgehoben werden, wenn dies aus schwerwiegenden Gründen zum Wohl des Kindes erforderlich ist (§ 1763 BGB). – Für die Befreiung vom Eheverbot zwischen Annehmendem und Angenommenen ergibt sich das Antragserfordernis aus § 1308 BGB. a) Antrag auf Annahme eines Kindes 130
Der Antrag ist an das örtlich zuständige Amtsgericht – Familiengericht – zu richten (s. oben Rn. 102 ff.). Er bedarf der notariellen Beurkundung (§ 1752 Abs. 2 S. 2 BGB). Da der Antrag an das Gericht zu richten ist, ist die Übersendung einer Ausfertigung der notariellen Urkunde erforderlich, die Übersendung einer (auch beglaubigten) Abschrift reicht nicht aus1.
131
Der Antrag darf weder unter einer Bedingung noch unter einer Zeitbestimmung gestellt werden (§ 1752 Abs. 2 S. 1 BGB). Es ist daher insbesondere nicht möglich, den Antrag unter der Bedingung zu stellen, dass der Anzunehmende den Annehmenden überlebt. Auch ist es nicht möglich, den Antrag mit der Maßgabe zu stellen, dass die Adoption erst wirksam wird, wenn der Annehmende verstorben ist.
132
Im Hinblick darauf, dass der Antrag auf Annahme eines Kindes der notariellen Beurkundung bedarf, wird im Folgenden davon abgesehen, konkrete Antragsmuster vorzustellen. Schon im Vorfeld der Adoption sollte durch den beratenden Anwalt jedoch auf die folgenden Gesichtspunkte hingewiesen werden. Weiterhin sollten dem Notar zur Beurkundung die nachfolgenden Informationen übersandt werden:
133
– Kurze Darstellung der persönlichen Verhältnisse. In diesem Zusammenhang ist insbesondere der Familienstand zu klären, sowie ob, und wenn ja, welche Angehörigen der Annehmenden und ausnahmsweise des Anzunehmenden vorhanden sind; diese sind namentlich zu bezeichnen und die Adresse mitzuteilen. Können diese in den Antrag aufgenommen werden, wird das Verfahren beschleunigt, da die Kinder gem. § 193 FamFG dazu zu hören sind, ob der Annahme überwiegende Interessen entgegenstehen2. Im Rahmen der Schilderung des Tatbestandes sind kurz die Tatsachen mitzuteilen, aus denen sich ergibt, dass zwischen dem Annehmenden und dem Anzunehmenden ein Eltern-Kind-Verhältnis entstanden oder zu erwarten ist, sowie aus welchen Gründen die Adoption dem Wohl des Kindes dient.
1 OLG Hamm v. 15.10.1981 – 15 W 196/81, FamRZ 1982, 197; Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Sieghörtner Rn. 175. 2 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 466.
204
Siede
Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 136
Kap. 4 B
– Weiterhin sollten dem Anschreiben an den Notar, sofern bereits vorhanden, folgende Urkunden beigefügt werden, da diese für eine zügige Bearbeitung des Antrags dem Gericht zu übersenden sind1: – Geburtsurkunden des/der Annehmenden und des Anzunehmenden,
134
– Geburtsurkunden der Kinder des/der Annehmenden und des Anzunehmenden, – Heiratsurkunde/Scheidungsbeschluss/-urteil merk des Annehmenden/Anzunehmenden,
mit
Rechtskraftver-
– ggf. Sterbeurkunde für Ehepartner, – Nachweis der Staatsangehörigkeit des/der Annehmenden und des Anzunehmenden, – bei Minderjährigenadoption zusätzlich: – Gesundheitszeugnis des Annehmenden, – polizeiliches Führungszeugnis des Annehmenden, – Meldebescheinigung des Annehmenden2. – Vor der Beurkundung sollte auch geklärt werden, wer die Kosten der 135 Errichtung der Urkunde und des Verfahrens tragen soll.
Û
Praxistipp: Das Gericht hat von Amts wegen den Verfahrenswert festzusetzen. Dieser richtet sich nach § 42 FamGKG. Für die Annahme eines Erwachsenen wird er iHv. 25 % des Nettoreinvermögens des Annehmenden geschätzt, für die Annahme eines Minderjährigen ist idR der pauschale Betrag von 3000 Euro heranzuziehen (§ 39 Abs. 4 KostO). Damit Gericht und Anwalt/Notar nicht unterschiedliche Gegenstandswerte zugrundelegen, empfiehlt es sich, in dem Begleitschreiben an den Notar (bzw. das Gericht) mitzuteilen, in welcher Höhe der Gegenstandswert geschätzt wurde.
Im Zusammenhang mit der Beurkundung des Antrags, aber auch im Vor- 136 feld der anwaltlichen Beratung sollte je nach Fallgestaltung auf folgende Gesichtspunkte hingewiesen werden3: – Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Ausspruchs der Adoption – Auswirkungen des Versterbens eines Beteiligten während des Verfahrens 1 Vgl. hierzu FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 464; Prütting/Helms/Krause, § 186 FamFG Rn. 24; Beck’sches Notarhandbuch/Grziwotz B V Rn. 76. 2 Übernimmt der Notar die Beschaffung und Einreichung der erforderlichen Unterlagen, gewährleistet dies, dass das Verfahren schnell und effektiv geführt werden kann. Allerdings löst diese Tätigkeit eine 5/10 Gebühr aus 3000 Euro gem. § 147 Abs. 2 KostO aus (Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Sieghörtner Rn. 509). 3 Vgl. das Muster einer Belehrung in Beck’sches Notar-Handbuch/Grziwotz B V Rn. 75.
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205
Kap. 4 B Rn. 137
Verfahren in Adoptionssachen
– Auswirkungen der Adoption auf die verwandtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten und zu Dritten – Namensrechtliche Folgen der Adoption – Sorgerechtliche Folgen der Adoption bzw. der Einwilligung in die Adoption – Unterhaltsrechtliche und erbrechtliche Folgen der Adoption – Bei Ausländern: Auswirkungen auf die Staatsangehörigkeit – Bei Volljährigen: ggf. Möglichkeit, die Adoption mit den Wirkungen der Annahme eines Minderjährigen zu beantragen – Unwiderruflichkeit der Einwilligungserklärungen mit Eingang bei Gericht – Grundsätzliche Unabänderlichkeit des Ausspruchs der Annahme durch das Gericht sowie Unanfechtbarkeit dieser Entscheidung 137
Soll ein minderjähriges Kind, dessen Eltern bekannt sind, durch ein Ehepaar angenommen werden, ist im Vorfeld zu klären, welche namensrechtlichen Folgen die Adoption für das Kind haben soll.
138
Das Kind erhält grundsätzlich den Ehenamen der Annehmenden als neuen Geburtsnamen (§ 1757 Abs. 1, 2 BGB). Haben die Annehmenden (noch) keinen Ehenamen bestimmt (§ 1355 Abs. 1 BGB), haben sie vor dem Ausspruch der Annahme durch Erklärung gegenüber dem zuständigen Standesbeamten den Geburtsnamen des Kindes zu bestimmen (der dann auch für alle weiteren angenommenen und leiblichen Kinder gilt; § 1757 Abs. 2 BGB). Es können auch Anträge hinsichtlich des Vornamens gestellt werden (§ 1757 BGB). Hiervon wird gelegentlich Gebrauch gemacht, wenn auch andere zur Familie gehörende Kinder weitere Vornamen haben, die der verwandtschaftlichen Beziehung zB zu den Großeltern oder den leiblichen Eltern geschuldet oder aus religiösen Gründen (zB „Maria“ für Knaben) gewünscht werden.
139
Weiterhin sollten vor der Beauftragung des Notars die erforderlichen Einwilligungen vorliegen, um das Risiko zu vermeiden, dass die Adoption letztlich daran scheitert, dass eine Einwilligung nicht erteilt wird und auch nicht ersetzt werden kann. Die Einwilligung für das Kind ist entbehrlich, wenn die Eltern unwiderruflich in die Adoption eingewilligt haben (§ 1746 Abs. 3 Halbs. 2 BGB). Hat das Kind das 14. Lebensjahr vollendet, ist allerdings auch in diesem Fall die Einwilligung des Kindes erforderlich, die dann der Zustimmung des Jugendamts bedarf (§§ 1746 Abs. 1, 1751 Abs. 1 BGB).
140
Sind die Annehmenden und das Kind Angehörige unterschiedlicher Staaten, ist auch im Vorfeld zu klären, ob eine Genehmigung des Familiengerichts erforderlich ist und ggf. erteilt wird (§ 1746 Abs. 1 S. 4 BGB).
206
Siede
Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 145
Kap. 4 B
Die Einwilligung kann durch die Eltern auch erteilt werden, wenn diesen die Person des/der Annehmenden nicht namentlich bekannt ist. Es ist aber erforderlich, dass sie bereits feststeht. Im Fall der sog. Inkognitoadoption wird die Einwilligung durch Bezugnahme auf die Eintragung in der Adoptionsliste des Jugendamts erteilt
141
Soll ein minderjähriges Kind durch den Ehegatten eines Elternteils dieses 142 Kindes angenommen werden („Stiefkindadoption“), ergeben sich folgende Modifikationen: – Der Antrag auf Annahme des Kindes ist allein durch den Stiefelternteil zu stellen. – Er bedarf der Einwilligung des leiblichen Elternteils (und Ehegatten). Daher sollte dieser in die Beratung mit einbezogen werden. Kostengünstig ist es allerdings, dass die Einwilligung dieses Elternteils erst im Rahmen der Beurkundung des Antrags erteilt wird. – Es bedarf der Einwilligung des Kindes. Ist dieses noch nicht 14 Jahre alt, ist auch die Einwilligung durch den allein sorgeberechtigten Elternteil im Rahmen der Beurkundung des Antrags zu erklären. – Es bedarf der Einwilligung des leiblichen (anderen Elternteils). Diese sollte zur Sicherheit vor der Antragstellung in notariell beurkundeter Form vorliegen und bereits dem Familiengericht zugegangen sein (§ 1750 BGB). – Ist das Kind 14 Jahre alt, bedarf es der Einwilligung des Kindes und der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters. – Die Vormundschaft des Jugendamts tritt nicht ein (§ 1751 BGB). – Sofern der Name des Kindes nicht bereits durch Einbenennung geändert ist, ist wie bei der gemeinschaftlichen Annahme durch ein Ehepaar zu klären, welche namensrechtlichen Folgen die Adoption haben soll. Hat ein Beteiligter die erforderliche Einwilligung im Vorfeld verweigert, 143 sollte hierauf in dem Anschreiben an den Notar hingewiesen und gleichzeitig die ladungsfähige Anschrift dieses Beteiligten mitgeteilt werden, damit diese ersetzt werden kann. Soll ein Kind eines Lebenspartners durch dessen Lebenspartner angenom- 144 men werden, gelten vorstehende Ausführungen entsprechend mit der Maßgabe, dass sich der Name des Kindes nach §§ 3, 9 LPartG richtet. Soll die Annahme eines Volljährigen beantragt werden, ist zwischen der 145 normalen („schwachen“) Annahme und der Annahme nach den für Minderjährige geltenden Vorschriften („starke Adoption“) zu unterscheiden. Dementsprechend ist im Vorfeld zu klären, ob die Voraussetzungen für die Annahme nach den für Minderjährige geltenden Vorschriften überhaupt vorliegen. Ist dies der Fall, sollte über die Konsequenzen und Unterschiede der Annahme eines Volljährigen nach den allgemeinen VorSiede
207
Kap. 4 B Rn. 146
Verfahren in Adoptionssachen
schriften („schwache Adoption“) und der Annahme nach den Vorschriften für Minderjährige („starke Adoption“) belehrt werden. Schließlich sollte der Notar über die Entscheidung des Klienten zur Vorbereitung des Adoptionsantrags informiert werden. Ist der Annehmende oder der Anzunehmende verheiratet, ist die Einwilligung des jeweiligen Ehegatten erforderlich. Schließlich ist die Frage zu klären, ob sich der Ehegatte des Anzunehmenden der Namensänderung anschließt. Aus Kostengründen sollten diese Erklärungen gemeinsam mit der Beurkundung des Annahmeantrags abgegeben werden. Wird eine „starke Adoption“ gewünscht, sind auch die Eltern des Anzunehmenden zu beteiligen (§ 188 Abs. 1 Nr. 1b FamFG). Daher sollten in dem Anschreiben an den Notar in diesem Fall auch die Personalien der Eltern des Anzunehmenden mitgeteilt werden. b) Ersetzung der Einwilligung 146
Soll eine Einwilligung eines Elternteils gem. § 1748 BGB durch das Familiengericht ersetzt werden, lautet der Antrag: In dem Verfahren … wegen Annahme eines Kindes hier: Ersetzung der Einwilligung des Vaters … in die Annahme des Kindes … durch die Eheleute … beantrage ich namens und in Vollmacht des Kindes …, nachfolgenden Beschluss zu erlassen: 1. Die Einwilligung des Vaters … in die Annahme des Kindes … durch die Eheleute … wird ersetzt. 2. Die sofortige Wirksamkeit von Nr. 1 wird angeordnet.
147
Rechtsgrundlage der Anordnung der sofortigen Wirksamkeit ist § 198 Abs. 1 S. 2 FamFG. Es sind die Umstände auszuführen, auf die das Merkmal „Gefahr im Verzug“ gestützt wird1. c) Kosten und Verfahrenskostenhilfe
148
Die Adoption Minderjähriger erfolgt gerichtsgebührenfrei2. Darum kann für dieses Verfahren auch kein Kostenvorschuss angefordert werden. Demgegenüber handelt es sich bei der Annahme eines Volljährigen um ein Antragsverfahren, für das der Antragsteller gem. §§ 21, 14 FamGKG Kostenschuldner ist. Gem. KV Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 FamGKG fallen für 1 Vgl. hierzu Prütting/Helms/Krause, § 198 FamFG Rn. 8–10; soll die Einwilligung der Mutter ersetzt werden, gilt der Vorschlag entsprechend. 2 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 463; Vorbem. 1.3.2. der Anl. des KV zu § 3 Abs. 2 FamGKG.
208
Siede
Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 154
Kap. 4 B
das Verfahren zwei Gebühren an. Gem. § 42 Abs. 1 FamGKG wird der Verfahrenswert auf 25 % des Nettoreinvermögens des Annehmenden, jedoch max. 500 000 Euro geschätzt1. Gem. § 14 Abs. 3 FamGKG soll das Verfahren durch das Gericht nur gefördert werden, wenn der Antragsteller einen entsprechenden Kostenvorschuss eingezahlt hat. Für die Beurkundung des Antrags fällt eine 10/10 Gebühr an (§ 36 Abs. 1 149 KostO). Werden gleichzeitig der Antrag des Annehmenden und des Anzunehmenden (Erwachsenenadoption) beurkundet, erhöht sich dadurch die Gebühr nicht, da es sich um denselben Gegenstand handelt. Dasselbe gilt, wenn zwei Personen (Ehegatten, Lebenspartner) den Ausspruch der Annahme beantragen (§ 36 Abs. 1 KostO). Für die Beurkundung der Zustimmung fällt eine 1/4 Gebühr an (§ 38 Abs. 4 KostO). Dies gilt jedoch nicht, wenn die Zustimmung gemeinsam mit dem Antrag auf Ausspruch der Annahme beurkundet wird (§ 44 Abs. 1 KostO)2. Verfahrenskostenhilfe kann grundsätzlich nur Beteiligten bewilligt werden (vgl. § 78 FamFG). Aufgrund der Gebührenfreiheit und des geringen Gegenstandswerts von 3000 Euro spielt die Verfahrenskostenhilfe für Anträge auf die Adoption Minderjähriger keine Rolle.
150
Kindern, die gem. § 193 FamFG zu hören sind, kann Verfahrenskostenhilfe nicht bewilligt werden, da sie nicht Beteiligte sind3.
151
Einem Elternteil, dessen Einwilligung in die Adoption ersetzt werden soll, kann Verfahrenskostenhilfe bewilligt werden. In Anbetracht der Schwere des Eingriffs in das Elternrecht sollte ihm auch regelmäßig ein Anwalt beigeordnet werden. Schließlich sollte Erfolgsaussicht bereits dann bejaht werden, wenn nicht von vorneherein offensichtlich ist, dass die Zustimmung mutwillig verweigert wird4.
152
4. Verfahren Das Verfahren ist ein Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Es gel- 153 ten daher die Vorschriften des Buches 1 FamFG (s. auch § 113 Abs. 1 FamFG), soweit diese nicht durch Sondervorschriften in den §§ 186–199 FamFG verdrängt werden. a) Verbindungsverbot Insoweit ist zunächst das Verbindungsverbot des § 196 FamFG zu beachten. Es ist nach dieser Vorschrift – abweichend von § 20 FamFG – nur möglich, mehrere Adoptionssachen miteinander zu verbinden. Dies ist unproblematisch für mehrere Adoptionssachen, die dieselbe anzuneh1 2 3 4
Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Sieghörtner, Rn. 515. Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Sieghörtner, Rn. 507. OLG Düsseldorf v. 20.12.2010 – 8 WF 282/10, FamRZ 2011, 925. Vgl. hierzu Hoffmann, FamRZ 2010, 1394.
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Kap. 4 B Rn. 155
Verfahren in Adoptionssachen
mende Person betreffen. Beispielsweise kann der Antrag auf Ausspruch der Annahme verbunden werden, mit dem Antrag, eine erforderliche Einwilligung eines Elternteils zu ersetzen1. 155
Ist zweifelhaft, ob eine Adoption mit den Wirkungen der Adoption für Minderjährige gem. § 1772 BGB ausgesprochen werden kann, kann der Antrag auf Ausspruch der starken Adoption hilfsweise mit einem Antrag auf Ausspruch einer schwachen Adoption verbunden werden2. Dies ist erforderlich, weil das Gericht nicht „weniger“ als beantragt zusprechen kann, sondern entweder antragsgemäß die Adoption auszusprechen hat oder aber den Antrag zurückweisen muss.
156
Wegen § 1758 BGB dürfte es auch unzulässig sein, in einem Verfahren über mehrere Anträge zu entscheiden, die verschiedene Anzunehmende betreffen3. b) Prüfung der sachlichen Voraussetzungen der Adoption
157
Neben den formellen Voraussetzungen hat das Gericht auch zu ermitteln, ob die Adoption aus tatsächlichen Gründen ausgesprochen werden kann. Insoweit ist insbesondere zu prüfen, ob die Adoption dem Wohl des Kindes dient, ob zu erwarten ist, dass zwischen dem Annehmenden und dem Anzunehmenden ein Eltern-Kind-Verhältnis entsteht, ob die Probezeit eingehalten wurde und ob die Alterserfordernisse gewahrt sind. Ist ein Volljähriger zu adoptieren, ist zu prüfen, ob die Adoption sittlich gerechtfertigt ist. Soll die Einwilligung eines Elternteils ersetzt werden, ist zu prüfen, ob aus verhaltensbezogenen oder aus anderen in der Person des Elternteils liegenden Gründen die Ersetzung der Einwilligung im Interesse des Kindes geboten erscheint (§ 1748 BGB).
158
Die Umstände sind durch das Familiengericht von Amts wegen zu ermitteln (§ 26 FamFG). Art und Umfang der Ermittlungen hat das Gericht grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. Die Ausübung dieses Ermessens wird durch §§ 189, 192–194 FamFG gebunden:
159
– Soll ein Minderjähriger als Kind angenommen werden, hat das Gericht eine fachliche Äußerung der Adoptionsvermittlungsstelle bzw. des Jugendamts einzuholen (§ 189 FamFG). Der Bericht des Jugendamts bildet meist die tatsächliche Grundlage der Entscheidung des Gerichts. Sind die Beteiligten nicht bereit, mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten, liegt auch in der Mitteilung des Jugendamts, dass mangels Kooperation inhaltlich keine fachliche Stellungnahme abgegeben werden kann, eine fachliche Stellungnahme gem. § 189 FamFG4 – die allerdings meist dazu führen wird, dass der Antrag abzuweisen ist. 1 2 3 4
Haußleiter/Fest, § 196 FamFG Rn. 3. Haußleiter/Fest, § 196 FamFG Rn. 3. Schulte-Bunert/Weinreich/Sieghörtner, § 196 FamFG Rn. 1. BayObLG v. 4.8.2000 – 1Z BR 103/00, FamRZ 2001, 647.
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Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 163
Kap. 4 B
– In anderen einen Minderjährigen betreffenden Verfahren ist das Jugendamt jedenfalls – idR schriftlich – zu hören (§ 194 Abs. 1 FamFG). Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Einwilligung eines Elternteils ersetzt werden soll1.
160
– Hat der Adoptionsbewerber und/oder das minderjährige Kind nicht die 161 deutsche Staatsangehörigkeit oder weder gewöhnlichen Aufenthalt noch Wohnsitz im Inland, ist auch das Landesjugendamt – idR ebenfalls schriftlich – zu hören (§ 195 FamFG). – Geht es um die Annahme eines Volljährigen, ist keine Stellungnahme 162 einer Fachbehörde einzuholen. IdR ergeht die Entscheidung auf der Basis der vorliegenden Anträge und Einwilligungen sowie der Anhörungen des Annehmenden und des Anzunehmenden. Weitere Personen wie nahe Angehörige hört das Familiengericht gem. § 26 FamFG nur an, wenn nach dem Akteninhalt oder im Ergebnis der Anhörung Klärungsbedarf besteht, insbesondere dann, wenn die Äußerungen der Beteiligten wenig überzeugend erscheinen. – In Verfahren auf Annahme eines Kindes und wegen Aufhebung eines 163 Annahmeverhältnisses muss das Gericht den Annehmenden und den Anzunehmenden persönlich hören (§ 192 Abs. 1 FamFG). Die Bestimmung schränkt damit das dem Gericht sonst gem. §§ 33, 34 FamFG zustehende Ermessen ein. Von der Anhörung des Kindes kann abgesehen werden, wenn wegen des geringen Alters des Kindes von der Anhörung keine weitere Sachaufklärung zu erwarten ist. Die Grenze hierfür liegt nach der Rechtssprechung etwa bei der Vollendung des dritten Lebensjahres2. Von der Anhörung eines minderjährigen Kindes kann weiterhin Abstand genommen werden, wenn aufgrund der Anhörung Nachteile für die Entwicklung, Erziehung oder Gesundheit des minderjährigen Beteiligten zu erwarten sind (§ 192 Abs. 3 FamFG). Dies wird nur in Ausnahmefällen der Fall sein. IdR wird ein Gutachten oder ein kinderpsychologisches Zeugnis erforderlich sein, damit das Gericht feststellen kann, dass aus der Anhörung des Kindes solche Nachteile zu erwarten sind. Der Begriff des Nachteils setzt voraus, dass für das Kind eine Belastungssituation entsteht, die über die üblicherweise mit der Anhörung verbundenen Belastungen weit hinausgeht. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, inwieweit die zu erwartende Belastungssituation durch die Bestellung eines Verfahrensbeistands, der das Kind auf die Anhörung vorbereitet, sowie durch die Gestaltung der Anhörung vermieden werden kann. So wird es sich bei kleinen Kindern, die über ihre Abstammung noch nicht aufgeklärt sind, von Fall zu Fall empfehlen, die Anhörung unter Außerachtlassung abstammungsrechtlicher Gesichtspunkte allein auf die Beziehun1 Prütting/Helms/Krause, § 194 FamFG Rn. 2. 2 BayObLG v. 15.12.1987 – BReg. 1 Z 44/87, FamRZ 1988, 871; FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 472.
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Kap. 4 B Rn. 164
Verfahren in Adoptionssachen
gen des Kindes zur gelebten Familie zu beschränken1. Generell ist allerdings festzuhalten, dass in vielen Fällen Gesichtspunkte des Kindeswohls der Adoption entgegenstehen werden, wenn das Kind hierauf nicht vorbereitet wurde; denn es kann zu einem massiven Vertrauensverlust des Kindes führen, wenn es im Jugendalter erfahren muss, dass seine – vermeintlichen – Eltern nicht auch die Eltern sind, von denen es abstammt. Ist die Anhörung des Kindes entgegen § 192 FamFG unterblieben, führt dies im Beschwerdeverfahren meist zur Aufhebung des erstinstanzlichen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Verfahrens (§ 69 Abs. 1 FamFG).
Û
Praxistipp: Im Begleitschreiben zum Adoptionsantrag empfiehlt es sich, darauf hinzuweisen, wenn das anzunehmende Kind noch nicht auf die Adoption vorbereitet wurde. Insbesondere wenn es noch keine Kenntnis von den wirklichen Zusammenhängen seiner Abstammung und der Bedeutung der Adoption hat, kann dann das Kind durch das Jugendamt schonend auf die Anhörung vorbereitet werden. Weiterhin empfiehlt es sich – insbesondere in Fällen der Stiefkindadoption – spätestens bei der Anhörung der Eltern durch das Gericht das Gericht zu informieren, wie das Kind den Annehmenden und den leiblichen Elternteil benennt („Mama“, „Papa“ oder Vorname).
164
– Das Gericht soll die weiteren Beteiligten anhören (§ 192 Abs. 2 FamFG). Soweit weitere Beteiligte der Adoption zugestimmt haben, kann die Anhörung meist unterbleiben, da die Rechtsstellung der weiteren Beteiligten durch die Adoption nicht mehr entgegen ihrem Willen beeinträchtigt werden kann und von der Anhörung weitere Sachaufklärung nicht zu erwarten ist2. Soll eine Adoption eines Erwachsenen nach den für Minderjährige geltenden Vorschriften ausgesprochen werden (§ 1772 BGB), sind die leiblichen Eltern des Anzunehmenden zumindest schriftlich anzuhören; denn die Adoption darf nur ausgesprochen werden, wenn ihr nicht überwiegende Interessen der Eltern des Anzunehmenden entgegenstehen (§ 1772 Abs. 1 S. 2 BGB).
165
– In Verfahren wegen Annahme eines Kindes hat das Gericht die jeweiligen Kinder des Annehmenden und des Anzunehmenden zu hören (§ 193 FamFG). § 193 FamFG setzt damit den Anspruch dieser Personen auf rechtliches Gehör um3. Minderjährige Kinder sind idR persönlich zu hören, da sonst ihr Anspruch auf Gewährung effektiven rechtlichen Gehörs verletzt würde4. Wurden die Kinder des Anzuneh1 BayObLG v. 4.8.2000 – 1Z BR 103/00, FamRZ 2001, 647. 2 Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Sieghörtner, Rn. 185; Braun, FamRZ 2011, 81. 3 Vgl. hierzu BVerfG v. 20.10.2008 – 1 BvR 291/06, FamRZ 2009, 106. 4 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 473; Keidel/Engelhardt, § 193 FamFG Rn. 2.
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Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 171
Kap. 4 B
menden oder des Annehmenden nicht gehört, ist auf deren Antrag das Verfahren fortzuführen und erneut zu entscheiden (§ 44 FamFG)1. Auch wenn die Adoption ausgesprochen wurde, steht dem § 198 Abs. 1 S. 4 FamFG nicht entgegen2. 5. Beschluss Es ist zu unterscheiden zwischen dem positiven Beschluss, durch den 166 dem Antrag auf Ausspruch der Annahme entsprechend dem übereinstimmenden Antrag aller Beteiligten bzw. deren Einwilligung entsprochen wird, und dem ablehnenden Beschluss. a) Ablehnender Beschluss Wird der Antrag abgelehnt, gelten für die Beschlussfassung keine Besonderheiten.
167
1. Gem. § 81 Abs. 1 S. 3 FamFG ist die Entscheidung mit einer Kosten- 168 entscheidung zu versehen. Diese richtet sich nach billigem Ermessen (§ 81 Abs. 1 S. 1 FamFG). Vor allem dann, wenn die Beteiligten intern eine andere Verteilung der Kostenlast vereinbart haben, wird diese auch der Kostengrundentscheidung zugrunde zu legen sein. 2. Der Verfahrenswert richtet sich nach § 42 FamGKG: Bei Minderjäh- 169 rigen hat die Festsetzung des Verfahrenswerts nur Bedeutung für die Berechnung der außergerichtlichen Kosten, da für das Verfahren Gerichtskosten nicht erhoben werden. Für die außergerichtlichen Kosten ist § 39 Abs. 4 KostO zu beachten: Gegenstandswert 3000 Euro. Bei volljährigen Anzunehmenden wird das Interesse idR auf 25 % des Nettoreinvermögens des Annehmenden geschätzt3. Für das Verfahren fallen zwei volle Gerichtsgebühren an (KV Nr. 1320). Zu den außergerichtlichen Kosten s. oben Rn. 149, 150. Der Beschluss ist gem. § 38 FamFG umfassend zu begründen, da er nicht dem Willen des Antragstellers entspricht (vgl. § 38 Abs. 4 FamFG).
170
Der Beschluss ist dem Antragsteller gem §§ 41 Abs. 1, 40, 15 Abs. 1, 2 FamFG zuzustellen. Da die übrigen Beteiligten, auch wenn sie sich für die Annahme ausgesprochen haben, gegen den ablehnenden Beschluss nicht Beschwerde einlegen können (§ 59 Abs. 2 FamFG), reicht es aus, wenn ihnen der Beschluss förmlich bekannt gegeben wird4.
171
1 Vgl. BVerfG v. 20.10.2008 – 1 BvR 291/06, FamRZ 2009, 106. 2 Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Sieghörtner, Rn. 186. 3 S. oben Rn. 148 und Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Sieghörtner, Rn. 515. 4 Keidel/Engelhardt, § 198 FamFG Rn. 28; Zustellung fordern demgegenüber Prütting/Helms/Krause, § 197 FamFG Rn. 54 und FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 482.
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Kap. 4 B Rn. 172 172
Verfahren in Adoptionssachen
Gegen den Beschluss ist die Beschwerde statthaft (§ 58 Abs. 1 FamFG). § 197 Abs. 2 FamFG schließt die Beschwerde nur aus, wenn durch den Beschluss die Annahme ausgesprochen wird. Beschwerdeberechtigt ist – nur –1 der Antragsteller (§ 59 Abs. 2 FamFG). Dies ist bei der Annahme eines Minderjährigen allein der Annehmende, bei der Annahme eines Volljährigen der Annehmende sowie der Anzunehmende. Diese können je für sich Beschwerde einlegen2. Die Beschwerdefrist beträgt einen Monat (§ 63 Abs. 1 FamFG). Die Beschwerde ist bei dem Familiengericht einzulegen, dessen Beschluss angefochten wird (§ 64 Abs. 1 FamFG). Der Beschwerdewert des § 61 Abs. 1 FamFG gilt nicht, da das Adoptionsverfahren keine vermögensrechtliche Streitigkeit darstellt3. b) Beschluss nach Antrag
173
Wird die Adoption antragsgemäß ausgesprochen, müsste der Beschluss gem. § 38 Abs. 4 Nr. 2 FamFG eigentlich nicht begründet werden. Aus Gründen der Rechtsklarheit macht § 197 Abs. 1 FamFG hiervon eine Ausnahme. Es müssen zumindest die Vorschriften angegeben werden, auf die sich die Adoption gründet. Dies ist erforderlich, damit durch das Standesamt die Auswirkungen des Beschlusses auf die Abstammung im Geburtsregister zutreffend fortgeschrieben werden können (§ 56 PStV). Dementsprechend sollte auch der Anwalt darauf achten, dass aus der Begründung des Beschlusses ersichtlich ist, welche Vorschriften hinsichtlich der Auswirkungen der Adoption auf die Verwandtschaftsverhältnisse der Beteiligten zur Anwendung gebracht wurden. Fehlt die Benennung der Vorschriften, sollte eine Ergänzung des Beschlusses erwirkt werden. Im Einzelnen sollten folgende Vorschriften in den Gründen zitiert werden4: – Annahme eines Minderjärigen durch ein Ehepaar: §§ 1752, 1754, 1755 Abs. 1 BGB. – Annahme eines Minderjährigen durch den Ehegatten seines Elternteils: Die Annahme beruht auf den Vorschriften der §§ 1752, 1754, 1755 Abs. 2 BGB. – Wird ein minderjähriges Kind durch den Ehegatten eines Elternteils angenommen, nachdem der andere zum Zeitpunkt seines Todes sorgeberechtigte Elternteil gestorben war, beruht die Annahme auf den Vorschriften der §§ 1752, 1754, 1756 Abs 2 BGB. – Wird ein minderjähriges Kind durch einen Verwandten im zweiten oder dritten Grad angenommen (zB Onkel, Tante und deren Ehepart-
1 2 3 4
Vgl. BayObLG v. 19.9.1996 – 1Z BR 143/96, FamRZ 1997, 576. OLG Celle v. 6.10.1994 – 18 W 22/94, FamRZ 1995, 829. Vgl. die Definition bei Prütting/Helms/Abramenko, § 61 FamFG Rn. 2. Teilweise wird durch die Gerichte auch in den Beschlusstenor aufgenommen, nach welchen Vorschriften sich die Verwandtschaftsverhältnisse aufgrund der Adoption richten sollen, was genauso zulässig ist.
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Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 176
Kap. 4 B
ner), beruht die Annahme auf den Vorschriften der §§ 1752, 1754, 1756 Abs. 1 BGB. – Bei Annahme eines Volljährigen („schwache Adoption“): Die Annahme beruht auf den Vorschriften der §§ 1767, 1768, 1770 BGB. – Bei Annahme eines Volljährigen („starke Adoption“): – Bei Adoption durch eine Einzelperson/Ehepaar ohne besondere Verwandtschaftsverhältnisse: Die Annahme beruht auf den Vorschriften der §§ 1767, 1768, 1772, 1755 Abs. 1 BGB. – Wird der Volljährige durch den Ehegatten eines Elternteils von ihm angenommen, beruht die Annahme auf §§ 1772, 1755 Abs. 2 BGB. – Wird der Volljährige durch den Ehegatten eines Elternteils von ihm angenommen und war der andere zwischenzeitlich verstorbene Elternteil zum Zeitpunkt des Todes sorgeberechtigt, beruht die Annahme auf §§ 1772, 1756 Abs. 2 BGB. Das gilt auch dann, wenn er zu dem Zeitpunkt sorgeberechtigt war, zu dem der Anzunehmende volljährig geworden ist1. Der Beschluss wird wirksam mit förmlicher Zustellung an den Annehmenden (§ 197 Abs. 2 FamFG). Ist der Annehmende zum Zeitpunkt des Verfahrens verstorben, wird der Beschluss wirksam mit Zustellung an den Anzunehmenden (§ 197 Abs. 2 FamFG). Sobald die Nachricht über die Zustellung bei der Geschäftsstelle eingegangen ist, wird den übrigen Beteiligten eine Ausfertigung des Beschlusses mit Zustellvermerk formlos bekannt gegeben. Weiterhin erhält das Standesamt der Geburt des Angenommenen eine formalisierte Nachricht (MiZi) sowie eine Ausfertigung des Beschlusses für die Personenstandsakten zur Vornahme der Folgebeurkundungen gem. § 56 PStV.
174
Der Beschluss, durch den die Annahme ausgesprochen wird, ist nicht an- 175 fechtbar (§ 197 Abs. 3 S. 1 FamFG). Wurde ein Kind des Annehmenden oder des Anzunehmenden nicht gehört, kann allerdings die Gehörsrüge des § 44 FamFG erhoben werden (s. oben Rn. 165). Darüber hinaus entfaltet der Beschluss keine Wirkung, wenn er nichtig ist. Hierfür ist ein strenger Maßstab anzulegen. Nichtigkeit wird etwa angenommen, wenn der Annehmende sein eigenes Kind angenommen hat oder wenn der Anzunehmende bei Zustellung des Beschlusses bereits verstorben war2. c) Beschlüsse in anderen Verfahren Abweichend von § 40 FamFG werden Beschlüsse, durch die die Einwil- 176 ligung eines Elternteils in die Adoption ersetzt wird, erst mit Rechtskraft wirksam. Ausnahmsweise werden sie vorher wirksam, wenn das Gericht die sofortige Wirksamkeit anordnet (§ 198 Abs. 1 S. 2 FamFG). Auch 1 Str; wie hier Maurer, FamRZ 2010, 47; aA Erman/Saar § 1756 BGB Rn. 6; LG Wuppertal v. 25.11.2008 – 16 S 69/08, FamRZ 2009, 1183. 2 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 485.
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Kap. 4 B Rn. 177
Verfahren in Adoptionssachen
wenn dies der Fall sein sollte, wird es sich meist empfehlen, abzuwarten, bis der Beschluss rechtskräftig ist, und erst dann das Annahmeverfahren einzuleiten oder fortzuführen; denn andernfalls besteht das Risiko, dass die Annahme gem. § 1760 Abs. 1 BGB aufgehoben wird, wenn die Ersetzung der Einwilligung vor dem Oberlandesgericht keinen Bestand haben sollte1. Gegen den Beschluss ist das Rechtmittel der Beschwerde statthaft (§ 58 Abs. 1 FamFG). Wird der Antrag auf Ersetzung der Einwilligung eines Elternteils zurückgewiesen, ist nur das Kind beschwerdebefugt (§ 59 Abs. 2 FamFG), wird die Einwilligung ersetzt, ist der Elternteil, dessen Einwilligung ersetzt wurde, in seinen Rechten beeinträchtigt und daher beschwert (§ 59 Abs. 1 FamFG)2. 177
Der Beschluss über die Aufhebung des Annahmeverhältnisses wird, ebenfalls abweichend von § 40 FamFG, erst mit Rechtskraft wirksam (§ 198 Abs. 2 FamFG). Gegen die Ablehnung des Antrags auf Aufhebung des Annahmeverhältnisses ist nur der Antragsteller beschwerdebefugt (§ 59 Abs. 2 FamFG), gegen den Ausspruch der Aufhebung die übrigen Beteiligten (§ 59 Abs. 1 FamFG). d) Kosten und Gebühren
178
Das Verfahren wegen der Ersetzung der Einwilligung oder der Aufhebung der Annahme ist, wenn die Annahme eines Minderjährigen betroffen ist, gerichtsgebührenfrei. Lediglich gerichtliche Auslagen sind also zu erstatten.
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Betrifft das Verfahren die Annahme eines Volljährigen werden für Verfahren wegen Ersetzung der Einwilligung zur Annahme als Kind keine weiteren Gebühren erhoben. Für das Verfahren wegen Aufhebung der Annahme als Kind fallen 2 (weitere) Gebühren an (KV FamGKG Vorbem. 1.3.2. Abs. 1 Nr. 2, Nr. 1320)3.
II. Verfahren mit Auslandsbezug 1. Adoption Minderjähriger a) Allgemeines 180
Ca. 26 % der in Deutschland adoptierten Kinder sind Ausländer4. Ein erheblicher Teil hiervon betrifft Stiefkindadoptionen. Da in Deutschland mehr adoptionswillige Eltern leben als zur Adoption freigegebene Kinder vorhanden sind, hat jedoch auch die Adoption von Kindern, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in anderen Ländern haben, erhebliche Bedeutung. 1 Rspr. und Literatur zu dieser Frage liegen, soweit ersichtlich, nicht vor. 2 Vgl. Keidel/Meyer-Holz, § 59 FamFG Rn. 71; BayObLG v. 26.3.2002 – 1Z BR 35/01, FamRZ 2002, 1282. 3 Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Sieghörtner, Rn. 523. 4 Bamberger/Roth/Heiderhoff, Art. 22 EGBGB Rn. 7.
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Verfahren in Adoptionssachen
Rn. 182
Kap. 4 B
Diese Kinder leben oft unter sehr viel schlechteren Lebensbedingungen als sie in Deutschland geboten werden. Adoption ist grundsätzlich eine Möglichkeit, sowohl dem Wunsch der El- 181 tern, Verantwortung für ein Kind zu übernehmen, als auch dem Wunsch des Kindes, unter geordneten Verhältnissen in einem Familienverband aufzuwachsen, zu entsprechen. Die Adoption führt für das anzunehmende Kind allerdings zu gravierenden Veränderungen, oft wechselt es in einen anderen, ihm völlig unbekannten Kulturkreis. Der Kontakt zu bisherigen Angehörigen kann nicht mehr gepflegt werden. Es entsteht zu den Annehmenden ein weitgehendes Abhängigkeitsverhältnis. Um die Risiken, die hieraus für die betroffenen Kinder entstehen können, einzuschränken, ist das Verfahren der Adoption ausländischer Kinder stark reglementiert. b) Rechtsquellen Die wichtigsten Rechtsquellen des internationalen Adoptionsverfahrensrechts sind: – Das Adoptionsvermittlungsgesetz. Dieses Gesetz enthält erhebliche Anforderungen an Adoptionsvermittlungsstellen, die international tätig werden. Die internationale Adoptionsvermittlung von Kindern ist grundsätzlich den Landesjugendämtern sowie den Vermittlungsstellen, die für bestimmte Länder eine Zulassung erhalten haben, vorbehalten (§ 2a AdVermiG). – Das Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption (HAÜ) v. 29.5.19931. Neben Deutschland sind diesem Übereinkommen 84 Länder beigetreten2. Es fehlen vor allem die Staaten des arabischen Rechtskreises, denen die Adoption fremd ist. – Das Gesetz über die Ausführung des Haager Adoptionsübereinkommnes (AdÜbAG) v. 5.11.2001, das im Zusammenhang mit der Ratifikation des Vertrags erlassen wurde (aktuelle Fassung 17.12.2006). – Das Adpotinswirkungsgesetz (AdWirkG), das die Anerkennung, die Feststellung der Wirkungen von Adoptionen aufgrund ausländischer Sachvorschriften sowie die Umwandlung von Adoptionen, die aufgrund ausländischer Sachvorschriften ausgesprochen oder vereinbart wurden, regelt. – § 101 FamFG über die internationale Zuständigkeit, – §§ 108, 109 FamFG über die Anerkennung bzw. Feststellung der Wirksamkeit von im Ausland vorgenommenen Adoptionen. 1 Text BGBl. II 2001, 1034; Anhang zu Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/ Sieghörtner, Rn. 526 ff.; http://www.hcch.net/index_de. 2 Liste der beigetretenen Staaten unter http://www.hcch.net/index_de; Statustabelle sowie die Übersicht in Erman/Hohloch, Art. 22 EGBGB Rn. 22.
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182
Kap. 4 B Rn. 183
Verfahren in Adoptionssachen
c) Verfahren aa) Annahme von Kindern aus Staaten, die dem HAÜ beigetreten sind 183
Die Adoption im Ausland lebender minderjähriger Kinder richtet sich nach den Vorschriften des HAÜ, wenn ein Kind, das seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet eines Staates hat, der dem Übereinkommen beigetreten ist, zum Zweck der Adoption in das Gebiet eines anderen Staates wechseln soll, der ebenfalls dem Übereinkommen beigetreten ist (Art. 2 Abs. 1 HAÜ)1. Es ist mithin auch anzuwenden, wenn durch einen in Deutschland lebenden Ehepartner ein noch im Ausland lebendes Kind eines Ehegatten angenommen werden soll.
184
Das Verfahren beginnt mit dem Antrag der annahmewilligen Eltern an eine Adoptionsvermittlungsstelle gem. § 4 AdÜbAG. Dieser Antrag wird auch als Adoptionsbewerbung bezeichnet. Adoptionsvermittlungsstellen sind die zentralen Adoptionsvermittlungsstellen der Landesjugendämter, Adoptionsvermittlungsstellen der Jugendämter, soweit die zentrale Adoptionsvermittlungsstelle des Landesjugendamts ihnen die internationale Adoptionsvermittlung gestattet hat, sowie sonstige anerkannte Auslandsvermittlungsstellen im Rahmen ihrer Zulassung, die immer nur für bestimmte Länder erteilt wird (vgl. §§ 2a AdVermiG, 2 AdÜbAG)2.
185
Die adoptionswilligen Eltern haben an die Adoptionsvermittlungsstelle einen Antrag (die „Adoptionsbewerbung“) zu richten, in dem sie anzugeben haben, dass sie ein Kind annehmen wollen und aus welchem Land dieses Kind stammen soll (§ 4 Abs. 1, 2 Nr. 1 AdÜbAG). Weiterhin haben sie daran mitzuwirken, dass ein Adoptionseignungsbericht erstellt werden kann. Diesen erstellt das örtliche Jugendamt auf Antrag der Adoptionsbewerber (§§ 4 Abs. 2 Nr. 2 AdÜbAG, 7 Abs. 3 AdVermiG). Um Mehrfachbewerbungen zu vermeiden und die betroffenen Kinder zu schützen, ist in dem Antrag weiter anzugeben, dass eine weitere Bewerbung um Adoption eines Kindes im Ausland nicht anhängig ist (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 AdÜbAG). Für diesen Antrag an die Adoptionsvermittlungsstelle gibt es keine besonderen Formvorschriften. Daher ist insbesondere die notarielle Beurkundung nicht erforderlich. Kommt das Jugendamt zu einer positiven Bewertung der Adoptionseignung der Bewerber, ist der Bericht gem. § 7 Abs. 3 AdVermiG zu erstellen und der von den Adoptionsbewerbern benannten Adoptionsvermittlungsstelle durch das Jugendamt zuzuleiten (§ 7 Abs. 3 AdVermiG). Die Adoptionsvermittlungsstelle hat den Bericht an die zentrale Behörde im Ausland (Heimatstaat des Kindes) zu senden (Art. 15 Abs. 1, 2 HAÜ). Im Heimatstaat ist sodann der Bericht zu prüfen. Wenn die Adoption befürwortet wird, hat der Heimatstaat über 1 Vgl. allgemein zum Verfahren nach dem HAÜ Weitzel, NJW 2008, 186 sowie Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Emmerling de Oliveira, Rn. 264 ff.; zur Liste der beigetretenen Staaten s. Rn. 182. 2 Eine Liste der zugelassenen Auslandsadoptionsstellen findet sich zB unter http://www.blja.bayern.de/adresse/adoptionsvermittlung.
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Rn. 188
Kap. 4 B
das anzunehmende Kind gem. Art. 16 HAÜ einen Bericht zu verfassen und der zentralen Behörde des Aufnahmestaates zu übersenden (Art. 16 HAÜ). Die Auslandsadoptionsvermittlungsstelle hat den Vorschlag zu prüfen. Billigt sie den Vermittlungsvorschlag der ausländischen Behörde, ist dieser mit den Adoptionsbewerbern zu erörtern. Ist die Adoptionsvermittlungsstelle zu einem positiven Ergebnis gelangt 186 und sind die Eltern mit dem Vorschlag einverstanden, setzt der Fortgang des Verfahrens voraus, dass die Eltern eine „Bereiterklärung“ abgeben (§ 7 Abs. 1 AdÜbAG). Gegenstand dieser Erklärung ist die Bereitschaft, das von den ausländischen Behörden vorgeschlagene Kind anzunehmen (§ 7 Abs. 1 AdÜbAG). Es handelt sich um eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die gegenüber dem örtlich zuständigen Jugendamt abzugeben ist (§ 7 Abs. 1 S. 1 AdÜbAG). Sie bedarf der öffentlichen Beurkundung. Die Beurkundung kann durch einen Notar oder den zuständigen Beamten des Jugendamts erfolgen. Rechtsfolge dieser Erklärung ist unter anderem, dass der Adoptionsbewerber gegenüber öffentlichen Stellen für die Dauer von sechs Monaten für den Unterhalt des Kindes aufzukommen hat, soweit diese Stellen Zahlungen für den Unterhalt des anzunehmenden Kindes erbracht haben (§ 7 Abs. 2 AdÜbAG). Damit die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen den Adoptionsbewerbern und dem anzunehmenden Kind hergestellt werden kann, ist dem Kind gem. § 6 AdÜbAG die Einreise zu ermöglichen. Die Entscheidung, das Kind den Adoptionsbewerbern anzuvertrauen und auf diese Weise die Adoption zu ermöglichen, setzt eine doppelte positive Bewertung sowohl durch die Adoptionsvermittlungsstelle des Aufnahmelandes als auch durch die zentrale Behörde des Heimatstaates voraus: Nur wenn die zentralen Behörden beider Staaten zugestimmt haben, das Adoptionsverfahren fortzusetzen, kann die Entscheidung ergehen, das Kind den künftigen Adoptiveltern anzuvertrauen (Art. 17c HAÜ). Dieses doppelte Einvernehmen ist der Kern des Kinderschutzes durch das HAÜ1. Ist das Kind den künftigen Adoptiveltern anvertraut, haben diese grund- 187 sätzlich zwei Möglichkeiten – ggf. nach Ablauf der erforderlichen Probezeit –, die Adoption zu erreichen: – Sie können beantragen, dass durch das zuständige deutsche Familien- 188 gericht die Annahme ausgesprochen wird. Zuständig ist grundsätzlich das Amtsgericht am Sitz des Oberlandesgerichts (§§ 5 AdWirkG, 187 Abs. 4 FamFG), da sich zumindest die Zustimmungerfordernisse jedenfalls auch nach dem IPR des Staates richten, dem das anzunehmende Kind angehört. Zur Zuständigkeit s. oben Rn. 102–104, im Übrigen s. zum Verfahren Rn. 112 ff. Ist die Adoption durch ein deutsches Gericht ausgesprochen, erteilt nach Maßgabe von § 8 AdÜbAG die zentrale Adoptionsstelle eine Bescheinigung, dass die Adoption gem. dem HAÜ zustande gekommen ist (Art. 23 HAÜ). In diesem Fall ist die Adoption 1 Weitzel, NJW 2008, 186.
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Kap. 4 B Rn. 189
Verfahren in Adoptionssachen
auch in dem Heimatstaat des Kindes anzuerkennen, sofern sie nicht gegen den dortigen ordre public verstößt (Art. 24 HAÜ). 189
– Die adoptionswilligen Eltern können aber auch versuchen, im Heimatstaat des Kindes die Adoption herbeizuführen. Dort werden vor allem Anhörungen der Eltern und sonstiger naher Verwandter des Kindes leichter durchzuführen sein und die erforderlichen Zustimmungen leichter besorgt werden können. Die im Ausland durchgeführte Adoption ist im Inland anzuerkennen, wenn die zentrale Behörde des Heimatstaates des Kindes bescheinigt, dass die Adoption entsprechend dem HAÜ zustande gekommen ist, und nicht Gesichtpunkte des ordre public gegen die Anerkennung sprechen (Art. 23, 24 HAÜ, §§ 108 Abs. 2 FamFG, 2 AdWirkG). Dass die Voraussetzungen einer Bescheinigung gem. Art. 23 HAÜ vorliegen, bestätigt auf Antrag das Bundesamt für Justiz (§§ 9, 1 AdÜbAG). Für die Frage, ob der ordre public gem. Art. 24 HAÜ der Anerkennung entgegensteht, ist ein strenger Maßstab anzuwenden1. Stellt das Gericht fest, dass – im Fall der Dekretadoption (s. unten Rn. 202) – die ausländische Entscheidung anzuerkennen bzw. – im Fall der Vertragsadoption (s. unten Rn. 205) – wirksam ist, hat das Gericht weiterhin festzustellen, ob die Adoption einem nach deutschen Sachvorschriften begründeten Annahmeverhältnis gleichsteht oder jedenfalls, dass dies in Ansehung der elterlichen Sorge und des Unterhalts der Fall ist. Beruht die Adoption auf ausländischen Sachvorschriften und kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass nach diesen Vorschriften das Eltern-Kind-Verhältnis zu den leiblichen Eltern des anzunehmenden Kindes erloschen ist, hat das Gericht festzustellen, dass das Annahmeverhältnis einem nach den deutschen Sachvorschriften begründeten Annahmeverhältnis gleichsteht (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 AdWirkG). Kommt das Gericht demgegenüber zu dem Ergebnis, dass das Eltern-Kind-Verhältnis nicht erloschen ist, hat es festzustellen, dass das Annahmeverhältnis in Ansehung der elterlichen Sorge und der Unterhaltspflicht des Annehmenden einem nach deutschen Sachvorschriften begründeten Annahmeverhältnis gleichsteht (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 AdWirkG). Auf Antrag der Annehmenden kann das Gericht auch aussprechen, dass das Kind die Stellung eines nach deutschen Sachvorschriften angenommenen Kindes erhält (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 Nr. 2 AdWirkG). Zum Umwandlungsausspruch s. unten Rn. 206 ff. Diese Umwandlung ist mit dem HAÜ vereinbar (Art. 27 HAÜ). bb) Annahme von Kindern aus Staaten, die dem HAÜ nicht beigetreten sind
190
Auch in diesem Fall beginnt das Verfahren damit, dass die annahmewilligen Eltern einen Antrag bei der zuständigen Adoptionsvermittlungsstelle stellen müssen (§ 2a AdVermiG). Die Zuständigkeit richtet sich nach
1 Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Emmerling de Oliveira, Rn. 267.
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den oben dargestellten Grundsätzen (vgl. Rn. 184). Die Bewerbung sollte in einem persönlichen Gespräch erfolgen. Auch in diesem Fall ist ein Eignungsbericht durch das örtlich zuständige Jugendamt zu erstellen und der für die Auslandsadoption zuständigen Vermittlungsstelle zur Verfügung zu stellen (§ 7 Abs. 3 AdVermiG). Die für die Auslandsadoption zuständige Adoptionsvermittlungsstelle hat mit den Behörden des Heimatstaates des Kindes zusammenzuarbeiten. Im Grundsatz ist auch in diesen Fällen unter Beteiligung spezieller Behörden des Aufnahme- und Heimatstaates ein standardisiertes Verfahren zu durchlaufen, das der Struktur des Verfahrens gem. dem HAÜ entspricht1. Allerdings ist die erleichterte Anerkennung gem. Art. 23 HAÜ ausgeschlossen. cc) Adoption ausländischer Kinder im Inland Die internationale Zuständigkeit des für die Adoption zuständigen Fami- 191 liengerichts richtet sich nach § 101 FamFG (s. oben Rn. 97). Sie ist gegeben, wenn ein annehmender Ehegatte oder der Annehmende oder das Kind deutscher Staatsangehöriger ist bzw. seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Örtlich zuständig ist meist das Amtsgericht – Familiengericht – am Sitz 192 des Oberlandesgerichts, in dessen Bezirk der/die Annehmende(n) ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat/haben, da zumindest hinsichtlich der Notwendigkeit und Form der Zustimmung auch die Anwendung von Vorschriften des ausländischen Sachrechts einschließlich des internationalen Privatrechts in Betracht kommt (§§ 187 Abs. 4 FamFG, 5 AdWirkG), s. oben Rn. 103–106. Ist das anzunehmende Kind minderjährig und liegt ein Auslandsbezug 193 vor, hat das Gericht nicht nur die fachliche Äußerung des Jugendamts/einer anderen Adoptionsvermittlungsstelle gem. § 189 FamFG einzuholen, sondern auch das Landesjugendamt zu hören (§ 195 FamFG). Auslandsbezug liegt vor, wenn ein Adoptionsbewerber oder das Kind eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen oder staatenlos sind oder wenn ein Adoptionsbewerber oder das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder seinen Wohnsitz außerhalb der BRD haben (§ 11 Abs. 1 Nr. 2, 3 AdVermiG). Auf seinen Antrag ist das Landesjugendamt zu beteiligen (§ 188 Abs. 2 FamFG). Auch die Adoption mit Auslandsbezug ist ein Antragsverfahren (§ 1752 Abs. 1 BGB). Der Antrag bedarf der notariellen Beurkundung. S. hierzu und zu den allgemein mit vorzulegenden Urkunden Rn. 130–136. Urkunden und Belege, die nicht in deutscher Sprache errichtet wurden, sind in Ausfertigung und Übersetzung durch einen öffentlich bestellten und vereidigten Übersetzer vorzulegen.
1 Vgl. blja.bayern.de/themen/adoption/auslandsberuehrung.
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Kap. 4 B Rn. 195 195
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Richtet sich die Adoption nach ausländischen Sachvorschriften, hat das Familiengericht, auch wenn das Adoptionsverfahren im Inland geführt und die Adoption im Inland ausgesprochen wird, von Amts wegen festzustellen, ob das Eltern-Kind-Verhältnis des Kindes zu seinen bisherigen Eltern durch die Annahme erloschen ist, wenn ja, dass das Annahmeverhältnis einem nach den deutschen Sachvorschriften begründeten Annahmeverhältnis gleichsteht, andernfalls, dass das Annahmeverhältnis in Ansehung der elterlichen Sorge und der Unterhaltspflicht der Annehmenden einem nach den deutschen Sachvorschriften begründeten Annahmeverhältnis gleichsteht (§ 2 Abs. 1–3 AdWirkG). Wird diese Feststellung nicht getroffen, führt dies zwar nicht zur Nichtigkeit des Beschlusses, zumindest der Standesbeamte wird aber Beschwerde mit dem Ziel der Ergänzung einlegen1. Vertretbar erscheint auch, den Beschluss gem. § 43 FamFG zu ergänzen, wenn ein entsprechender Antrag gestellt wird. Es empfiehlt sich daher, auch diese Feststellungen zu beantragen. Ergibt sich bei der Prüfung des Antrags, dass ausländische Sachvorschriften zur Anwendung kommen und die Adoption nicht zum Erlöschen des ElternKind-Verhältnisses zwischen dem Anzunehmenden und seinen leiblichen Eltern führt, sollte der Antrag auf Ausspruch der Annahme mit einem Antrag auf Umwandlung, dass das Kind die Rechtsstellung eines nach den deutschen Sachvorschriften angenommenen Kindes erhält, verbunden werden (§ 3 AdWirkG)2. Dies empfiehlt sich, damit die ausländischen Eltern gleichzeitig auch zu diesem Punkt angehört werden.
Û
Wichtig: Das auf den Namen anzuwendende Recht richtet sich nicht nach dem Adoptionsstatut gem. Artt. 22, 23 EGBGB sondern nach dem Personalstatut gem. Art. 10 EGBGB. Da ein minderjähriges Kind durch die Adoption idR (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit erhält (§ 4 StAG), ist auf die Änderung des Namens in aller Regel deutsches Recht anzuwenden. Etwas anderes gilt aber, wenn auch die Annehmenden nicht deutsche Staatsangehörige sind.
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Hinsichtlich der durch das Gericht durchzuführenden Anhörungen ist zu beachten, dass neben dem örtlich zuständigen Jugendamt in den Fällen des § 11 AdVermiG auch das Landesjugendamt anzuhören ist (s. oben Rn. 161). Im Ausland lebende Eltern können uU im Wege der internationalen Rechtshilfe gehört werden. Sie gehören nicht zu dem Kreis der Personen, die gem. § 192 FamFG zwingend durch das erkennende Gericht persönlich gehört werden müssen. Entsprechendes gilt, wenn die Zustimmung von Personen erforderlich ist. Hierbei ist darauf zu achten, dass die Umwandlung gem. § 3 AdWirkG voraussetzt, dass die Eltern des anzunehmenden Kindes sowie evtl. weitere Personen, deren Zustimmung nach den ausländischen sachlich-rechtlichen Vorschriften erforderlich 1 Vgl. hierzu § 4 Abs. 1 Nr. 1d AdWirkG. 2 Vgl. Müller/Sieghörtner/Emmerling de Rn. 304.
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de
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ist, nicht nur der Adoption, sondern auch der Rechtsfolge der Beendigung des Eltern-Kind-Verhältnisses zugestimmt haben (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 AdWirkG). In der Zustimmung zur Adoption ist diese Zustimmung nicht konkludent enthalten, erforderlich ist in jedem Fall, dass die Zustimmung in Kenntnis des Erlöschens des Eltern-Kind-Verhältnisses erteilt wurde1. Eine Ersetzung der Zustimmung kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn das anzuwendende Recht diese Möglichkeit kennt, im Übrigen nach Art. 6 EGBGB durch Rückgriff auf deutsches Recht2. d) Beschluss Gegenüber einem Beschluss, der die Adoption rein aufgrund des inländischen Rechts ausspricht, ergeben sich folgende Abweichungen:
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– Kommt ausländisches Sachrecht zur Anwendung, hat der Beschluss 198 im Tenor Feststellungen zu treffen, ob das Eltern-Kind-Verhältnis des Anzunehmenden zu seinen leiblichen Eltern erlischt sowie ob das Annahmeverhältnis einem nach den deutschen Sachvorschriften begründeten Annahmeverhältnis gleichsteht bzw. ob dies nur hinsichtlich Sorge und Unterhaltspflicht der Annehmenden der Fall ist (s. § 2 Abs. 3 AdWirkG sowie oben Rn. 195). Wenn gleichzeitig die Umwandlung mit der Folge beantragt ist, dass der Anzunehmende die Rechtsstellung eines nach den deutschen Sachvorschriften angenommenen Kindes erhält, ist auch dies in den Beschlusstenor aufzunehmen. – Kommen ausländische Sachvorschriften zur Anwendung oder ist (wie 199 fast immer) zu erwarten, dass der Beschluss im Ausland zur Anerkennung gebracht werden soll, ist dieser ausführlich zu begründen (§ 38 Abs. 5 Nr. 4 FamFG). Auch wenn dem Antrag stattgegeben wird, sind daher in den Gründen die wesentlichen tatsächlichen Gesichtspunkte, auf die der Beschluss gestützt wird, sowie die Rechtsgrundlagen, auf die sich der Beschluss stützt, mitzuteilen. Schließlich sind auch die Rechtsgrundlagen mitzuteilen, aus denen sich ergibt, wie sich die Annahme auf die bestehenden Verwandtschaftsverhältnisse auswirkt. – Die Bekanntgabe des Beschlusses richtet sich nach § 197 Abs. 2 FamFG. Ein stattgebender Beschluss ist dem Annehmenden zuzustellen und wird mit der Zustellung wirksam. Hiergegen ist kein Rechtsmittel statthaft, auch nicht – entgegen dem Wortlaut des § 195 Abs. 2 FamFG – für das Landesjugendamt. Wird der Antrag zurückgewiesen, ist der Beschluss den Beteiligten, die den Antrag gestellt haben, sowie dem Jugendamt und dem Landesjugendamt förmlich zuzustellen, den übrigen Beteiligten ist er gem. § 15 Abs. 2 FamFG bekannt zu geben. Beschwerdebefugt gegen die Ab1 MüKo/Maurer, § 3 AdWirkG Rn. 6. 2 MüKo/Maurer, § 3 AdWirkG Rn. 6 sowie Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Emmerling de Oliveira, Rn. 308.
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lehnung der Adoption ist nur der Antragsteller (das ist bei Minderjährigen der Annehmende)1. e) Anerkennung der Adoption minderjähriger Kinder im Ausland/Umwandlung sog. „schwacher Adoptionen“ aa) Voraussetzungen der Anerkennung/Feststellung der Wirksamkeit Es sind drei Fälle zu unterscheiden: (1) Adoptionen aufgrund der Bestimmungen des HAÜ 201
Adoptionen durch Staaten, die dem HAÜ beigetreten sind, sind grundsätzlich durch jeden Vertragsstaat anzuerkennen. Voraussetzung ist, dass die zuständige Behörde des Staates, in dem die Adoption ausgesprochen wurde, bescheinigt hat, dass die Adoption nach den Bestimmungen des HAÜ zustande gekommen ist (Art. 23 HAÜ). Die Anerkennung kann dann nur versagt werden, wenn die Adoption der öffentlichen Ordnung des Vertragsstaates widerspricht (Art. 24 HAÜ). Maßgeblich ist insoweit der Zeitpunkt der Entscheidung über die Anerkennung2. Eine Ablehnung der Anerkennung kommt in erster Linie in Betracht, wenn die Anerkennung der Adoption dem Kindeswohl widersprechen würde3. (2) Dekretadoptionen von Staaten, die dem HAÜ nicht beigetreten sind
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Dekretadoptionen von Staaten, die nicht dem HAÜ beigetreten sind, ist die Anerkennung zu versagen, wenn die Gerichte des Staates, in dem die Adoption ausgesprochen wurde, nach deutschem Recht nicht international zuständig waren (§ 109 Abs. 1 Nr. 1 FamFG)4. Dies richtet sich nach § 101 FamFG.
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Weiterhin ist die Anerkennung zu versagen, wenn das Verfahren oder der Inhalt der Entscheidung mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts nicht vereinbar ist (§ 109 Abs. 1 Nr. 4 FamFG). Hierzu gehört auch der Fall, dass einem Beteiligten rechtliches Gehör nicht gewährt wurde (§ 109 Abs. 1 Nr. 2 FamFG). Im Einzelnen hat die neuere Rechtssprechung die Anerkennung versagt, wenn folgende Verfahrensmängel aufgetreten sind5: – Die leiblichen Eltern haben der Adoption nicht zugestimmt und sind auch nicht gehört worden.6
1 Prütting/Helms/Krause, § 197 FamFG Rn. 54. 2 Palandt/Thorn, Art. 22 EGBGB Rn. 10 auch zur Gegenauffassung; Erman/Hohloch, Art. 22 EGBGB Rn. 223. 3 Palandt/Thorn, Art. 22 EGBGB Rn. 10. 4 Erman/Hohloch, Art. 22 EGBGB Rn. 25. 5 Zur Kasuistik s. allgemein auch Erman/Hohloch, Art. 22 EGBGB Rn. 25. 6 LG Dresden v. 11.7.2011 – 2 T 1046/08, n.v.
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– Das anzunehmende Kind ist nicht persönlich gehört worden.1 – Nach dem ausländischen Verfahrensrecht findet keine Kindeswohlprüfung statt.2 – Nach dem ausländischen Verfahrensrecht wurde die Eignung der Annehmenden nicht geprüft.3 In materieller Hinsicht ist die Anerkennung aus folgenden Gründen versagt worden:
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– Verfolgen adoptionsfremder Zwecke4, – Einzeladoption gegen den Willen des Ehegatten, wobei zugleich das Kind gegen den Willen des Ehegatten des Annehmenden in die Hausgemeinschaft aufgenommen wurde5, – keine ausreichende Überlegungsfrist der Eltern nach der Geburt des Kindes6, – fehlende Zustimmung der Eltern, es sei denn, es liegt ein triftiger Grund vor7, – nicht ausreichend: Anwendung sachlich rechtlicher Vorschriften eines Rechts, das nach dem IPR des Staates, der die Adoption ausspricht, nicht berufen ist8. (3) Vertragsadoptionen von Staaten, die dem HAÜ nicht beigetreten sind Bei Vertragsadoptionen ist zu beachten: Verstöße gegen den verfahrens- 205 rechtlichen ordre public sind hier nicht denkbar9. Vielmehr ist gem. Art. 22, 23 EGBGB zu prüfen, ob der zwischen den Beteiligten geschlossene Vertrag den Anforderungen des danach anzuwendenden Rechts entspricht. Weiterhin ist zu prüfen, ob der Vertrag dem deutschen ordre public entspricht (Art. 6 EGBGB). Dementsprechend ist außerhalb des HAÜ eine Anerkennung der reinen vertraglichen Adoption gem. § 109 FamFG ausgeschlossen10. Vielmehr hat der Annehmende einen – notariell beurkundeten – Antrag gem. § 1752 BGB zu stellen. In Anlehnung an das anzuwendende ausländische Sachrecht ist dieser auf „Bestätigung“ oder „Bewilligung“ des Adoptionsvertrags bzw. des Ausspruchs der vereinbar1 OLG Hamburg v. 24.10.2011 – 2 Wx 25/11, n.v. 2 LG Stuttgart v. 18.4.2011 – 1T 33/10, n.v. 3 OLG Hamm v. 12.8.2010 – 15 Wx 20/10, FamRZ 2011, 310 auch für unterlassene Kindeswohlprüfung. 4 OLG Celle v. 5.12.2007 – 17 W 92/07, FamRZ 2008, 1109: Adoption zur Erreichung ausländerrechtlicher Ziele; OLG Köln v. 29.5.2009 – 16 Wx 16/09, FamRZ 2010, 49: Adoption zur Erreichung rein materieller Ziele. 5 Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Emmerling de Oliveira, Rn. 295. 6 Staudinger/Henrich, Art. 22 EGBGB Rn. 91. 7 Erman/Hohloch, Art. 22 EGBGB Rn. 25 mwN. 8 BayObLG v. 21.6.2000 – 1Z BR 186/99, BayObLGZ 2000, 180. 9 FAFamR/Schwarzer, Kap. 3 Rn. 381. 10 Erman/Hohloch, Art. 22 EGBGB Rn. 16.
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ten Adoption zu richten1. Wenn die Adoption dem Wohl des Kindes dient, ist ein entsprechender Beschluss zu erlassen2. Richtet sich nach deutschem IPR die Adoption nach deutschem Recht, hat der Vertrag keine Wirksamkeit. Vielmehr kann die Adoption dann nur nach den allgemeinen für das inländische Verfahren geltenden Vorschriften durch Beschluss erfolgen. bb) Voraussetzungen der Umwandlung 206
Die Umwandlung einer „schwachen Adoption“ nach ausländischen Vorschriften, durch die das Kind die Rechtsstellung eines nach den deutschen Sachvorschriften angenommenen Kindes erlangt, setzt voraus, dass die Umwandlung dem Wohl des Kindes dient, die erforderlichen Zustimmungen erteilt sind (s. hierzu oben Rn. 196) und überwiegende Interessen des Ehegatten oder der Kinder des Annehmenden oder des Angenommenen nicht entgegenstehen (§ 3 Abs. 1 AdWirkG). Weiterhin ist – als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal – erforderlich, dass eine ausländische Dekretadoption vorliegt, die anzuerkennen ist3.
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Folge der Umwandlung ist, dass das Verwandtschaftsverhältnis des leiblichen Kindes zu seinen Eltern erlischt (§ 1755 Abs. 1 BGB). Hinsichtlich der Kindeswohlprüfung wird derselbe Maßstab anzuwenden sein wie in § 1741 Abs. 1 BGB4. Hinsichtlich der Frage, ob der Umwandlung der Adoption überwiegende Interessen der Kinder des Annehmenden oder des Anzunehmenden oder aber überwiegende Interessen des Ehegatten des – regelmäßig – Annehmenden entgegenstehen, ist auf die Rechtsprechung zu §§ 1745, 1749 BGB zu verweisen5. cc) Nachadoption
208
Wenn die Wirkungen einer „schwachen Adoption“ als nicht ausreichend angesehen wurden, ist es zugelassen worden, im Inland ein erneutes Adoptionsverfahren durchzuführen, um bei dann gegebener Anwendung deutschen Rechts die Wirkungen des § 1755 BGB zu erreichen. Im Hinblick auf § 3 AdWirkG besteht für solche Anträge kein Rechtsschutzbedürfnis mehr6. dd) Verfahren
209
Die Anerkennung einer im Ausland ausgesprochenen oder vertraglich durchgeführten Adoption minderjähriger Kinder richtet sich nach §§ 108, 1 2 3 4 5 6
Erman/Hohloch, Art. 22 EGBGB Rn. 16. Staudinger/Henrich, Art. 22 EGBGB Rn. 98. Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Emmerling de Oliveira, Rn. 304. MüKo/Maurer, § 3 AdWirkG Rn. 5. MüKo/Maurer, § 3 AdWirkG Rn. 8. Erman/Hohloch, Art. 22 EGBGB Rn. 30.
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Rn. 213
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109 FamFG, 2, 4, 5 AdVermiG. Es ist zu unterscheiden, ob nach dem anzuwendenden ausländischen Recht die Adoption durch gerichtliche (behördliche) Entscheidung erfolgt (Dekretsystem) oder die Adoption vertraglich vereinbart wird (Vertragsadoption). In beiden Fällen richtet sich die Anerkennung nach §§ 108 Abs. 2 FamFG, 2, 4, 5 AdWirkG. International zuständig sind die deutschen Gerichte, wenn der Anneh- 210 mende, einer der annehmenden Ehegatten oder das Kind Deutscher ist oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (§§ 5 Abs. 1 AdWirkG, 101 FamFG)1. Örtlich zuständig ist das Amtsgericht am Sitz des Oberlandesgerichts, in 211 dessen Bezirk der Annehmende oder einer der Annehmenden seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§§ 5 Abs. 1 AdWirkG, 187 Abs. 1 FamFG). Hat kein Annehmender seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, ist auf den gewöhnlichen Aufenthalt des angenommenen Kindes abzustellen (§§ 5 Abs. 1 AdWirkG, 187 Abs. 2 FamFG). Beteiligt ist zunächst der Antragsteller (§ 7 Abs. 1 FamFG). Antragsbefugt 212 sind der Annehmende, bei der Annahme durch Ehegatten jeder einzelne von ihnen, das Kind, ein bisheriger Elternteil sowie in Zweifelsfällen das Standesamt (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 AdWirkG). Neben dem Antragsteller sind die Personen zu beteiligen, auf deren Rechtsstellung sich die Anerkennung bzw. Feststellung der Wirksamkeit auswirken kann: dies sind der/ die Annehmenden bzw. das Kind (s. auch § 188 Abs. 1 Nr. 1 FamFG). Weiterhin ist das Bundesamt für Justiz zu beteiligen (§ 4 Abs. 3 AdWirkG). Soll die Entscheidung gem. § 2 AdWirkG über die Wirkungen der Adoption auch gegenüber den bisherigen Eltern wirken, sind auch diese an dem Verfahren zu beteiligen (§§ 4 Abs. 2 S. 3, 5 Abs. 3 AdWirkG). Soll auch die Umwandlung der Adoption mit der Folge ausgesprochen werden, dass das Kind die Rechtsstellung eines nach den deutschen Sachvorschriften angenommenen Kindes erhält, sind immer die Eltern des Kindes zu beteiligen. Außerdem sind in diesem Fall auch das Jugendamt und die zentrale Adoptionsstelle des Landesjugendamts zu beteiligen (§ 5 Abs. 3 AdWirkG). Das Verfahren setzt einen Antrag durch eine antragsbefugte Person voraus (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 AdWirkG), s. auch oben Rn. 212. Gegenstand des Antrags ist die Anerkennung bzw. Feststellung der Wirksamkeit der Auslandsadoption. Im Fall der Anerkennung bzw. Wirksamkeit ist grundsätzlich auch festzustellen, ob das Eltern-Kind-Verhältnis durch die Adoption erloschen ist. Fehlt es hieran, ist festzustellen, dass das Annahmeverhältnis in Ansehung von Sorge und Unterhalt durch den Annehmenden einem nach deutschem Recht begründeten Annahmeverhältnis gleichsteht (§ 2 Abs. 1, 2 AdWirkG)2. Die zuletzt genannte Feststellung kann vermie1 Für Fälle des Wechsels des Aufenthalts während des Verfahrens s. Rn. 97. 2 Vgl. Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Emmerling de Oliveira, Rn. 284.
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Kap. 4 B Rn. 214
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den werden, wenn der Antragsteller zugleich beantragt, dass das angenommene Kind die Rechtsstellung eines nach den deutschen Sachvorschriften angenommenen Kindes erhält (§§ 2 Abs. 2 S. 2, 3 Abs. 1 AdWirkG). 214
Für den Antrag auf Anerkennung/Feststellung der Wirksamkeit der Adoption gelten an sich keine besonderen Formvorschriften (§ 4 AdWirkG). Für den Antrag auf Umwandlung der Adoption gilt gem. § 4 Abs. 1 S. 3 AdWirkG auch § 1752 Abs. 2 BGB. Er bedarf daher der notariellen Beurkundung. Gem. § 3 Abs. 1 Nr. 2 AdWirkG ist für die Umwandlung die Zustimmung der Personen erforderlich, die nach dem Recht, das für die Adoption maßgeblich ist, auch der Adoption zustimmen müssen1. Diese Zustimmungen sollten in Ausfertigung mit vorgelegt werden, sofern sie nicht zeitgleich mit der Antragstellung erteilt werden. Immer ist die Zustimmung des Kindes erforderlich (§ 3 Abs. 1 S. 3 AdWirkG)2. Ist die Adoption wirksam, wird das Kind durch den Annehmenden vertreten.
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Dem Antrag auf Anerkennung/Feststellung der Wirksamkeit sind nachfolgende Unterlagen beizufügen: – Die ausländische Adoptionsentscheidung bzw. der Annahmevertrag im Original bzw. wenn er wie idR den Beteiligten nicht im Original vorliegt, in beglaubigter Ausfertigung mit Legalisation (§ 438 Abs. 2 ZPO) und einer amtlichen Übersetzung ins Deutsche, – Rechtskraftvermerk für die ausländische Adoptionsentscheidung, – Geburtsurkunden des Kindes nach Durchführung der Adoption in beglaubigter Ausfertigung mit Legalisation und amtlicher Übersetzung ins Deutsche.
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Im Falle eines Annahmevertrags und wenn sich aus dem ausländischen Adoptionsdekret diese nicht ergeben: – Gerichtliches oder behördliches Protokoll über die Anhörung des Kindes zur Annahme3, – Zustimmungserklärungen der ausländischen Eltern und des Kindes, – Adoptionseignungsbericht, – Geburtsurkunde eines nichtehelichen Kindes zur Klärung der Zustimmungsbedürftigkeit, – Bericht der Adoptionsvermittlungsstelle über den Ablauf des ausländischen Adoptionsverfahrens4.
1 Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Emmerling de Oliveira, Rn. 308. 2 Müller/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira/Emmerling de Oliveira, Rn. 308. 3 Wurde das Kind nicht gehört, ist idR der ausländischen Entscheidung über die Adoption die Wirksamkeit zu versagen, Prütting/Helms/Hau § 109 FamFG Rn. 51. 4 MüKo/Maurer, § 5 AdWirkG Rn. 9.
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Rn. 221
Kap. 4 B
In dem Verfahren sind anzuhören der/die Annehmenden und das ange- 217 nommene Kind, sofern sie nicht Antragsteller sind. Weiterhin sind die Eltern des angenommenen Kindes zu hören, wenn sie an dem Verfahren beteiligt werden. Schließlich ist das Bundsamt für Justiz zu hören. Soll auch die Umwandlung der Adoption ausgesprochen werden, so dass das Kind die Rechtsstellung eines nach den deutschen Sachvorschriften angenommenen Kindes erhält, sind die jeweiligen Ehegatten und die Kinder des Angenommenen und des Annehmenden anzuhören1. Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die ausländische Adoption anerkannt werden kann bzw. wirksam ist, muss sich der Beschlusstenor zu folgenden Punkten verhalten:
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– Anerkennung (bei Dekretadoption) bzw. Feststellung der Wirksamkeit (bei Vertragsadoption) der ausländischen Adoption. – Bei Auslandsadoption mit „schwacher Wirkung“: Kein Erlöschen des Eltern-Kind-Verhältnisses des Angenommenen zu seinen leiblichen Eltern und Festsellung, dass in Ansehung der elterlichen Sorge und der Unterhaltspflicht des/der Annehmenden die Adoption einem nach den deutschen Sachvorschriften begründeten Annahmeverhältnis gleichsteht. Im Fall der Umwandlung tritt an die Stelle dieser beiden Feststellungen die Entscheidung, dass das Kind die Rechtsstellung eines nach den deutschen Sachvorschriften angenommenen Kindes erhält. – Bei Auslandsadoption mit „starker Wirkung“: Feststellung, dass das Eltern-Kind-Verhältnis des/der Angenommenen zu seinen bisherigen Eltern erloschen ist und Feststellung, dass das Annahmeverhältnis einem nach den deutschen Sachvorschriften begründeten Annahmeverhältnis gleichsteht. – Kosten. Hat der Antrag Erfolg, wird der Beschluss des Gerichts dem Annehmen- 219 den zugestellt (§ 197 Abs. 2 FamFG). Ab diesem Zeitpunkt ist er wirksam. Gegen ihn ist kein Rechtsmittel statthaft (§§ 197 Abs. 3 FamFG, 5 Abs. 4 AdWirkG). Die mit dem Zustellvermerk versehene Ausfertigung ist den übrigen Beteiligten sowie dem Standesamt formlos mitzuteilen. Wird der Antrag zurückgewiesen, ist er dem Antragsteller förmlich zuzu- 220 stellen. Dieser ist beschwerdebefugt (§ 59 Abs. 2 FamFG bzw. §§ 194, 195 FamFG, 5 Abs. 4 AdWirkG). Mit Eintritt der formellen Rechtskraft tritt in diesem Fall die Wirksamkeit des Beschlusses ein. 2. Adoption Volljähriger Die internationale Zuständigkeit richtet sich nach § 101 FamFG (s. oben Rn. 97).
1 MüKo/Maurer, § 5 AdWirkG Rn. 10.
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Kap. 4 B Rn. 222 222
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Für Volljährige findet eine Adoptionsvermittlung nicht statt. Daher sind die auf den Schutz von Kindern zugeschnittenen Vorschriften des HAÜ, des AdÜbAG, des AdVermiG und des AdWirkG auf die Adoption Volljähriger nicht anwendbar. Die Anerkennung im Ausland ausgesprochener Adoptionen richtet sich allein nach §§ 108, 109 FamFG.
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Kapitel 5 Sorgerecht und Umgangsrecht Inhaltsübersicht I. Arbeitshinweise 1. Das Selbstverständnis des Anwalts im Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Eltern und den Interessen des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vorbereitung des Mandats, Informationsaufnahme . . . . . . . 3. Überlegungen zu Kosten, Vergütung und Haftung a) Die gesetzliche Vergütungsstruktur (FamFG und FamGKG). . . . . . . . . . . . . . . . . b) Folgerungen. . . . . . . . . . . . . . . c) Das Vergütungsgespräch . . . d) Risiken und Haftungsgefahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorzüge und Grenzen der Mediation a) Wesen des Mediationsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . b) Freiwilligkeit der Konfliktparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Typische Problemfelder 1. Gemeinsame Sorge oder Alleinsorgeantrag? . . . . . . . . . . . 2. Gemeinsame elterliche Sorge trotz bestehender Spannungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Elterliche Konflikte bei bestehender gemeinsamer Sorge. . . . 4. Wechselverhältnis von Umgangsrecht und Sorgerecht . . . . 5. Beratung und Vorgehen bei Änderungen der Verhältnisse. . 6. Kindeswohl geht vor Elternrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Kinder nicht miteinander verheirateter Eltern . . . . . . . . . .
1 6
7 14 15 17
20 22
28 30 31 32 33 34 36
III. Verfahrensrecht 1. Verfahrensstruktur, Modelle und anwaltliche Arbeitsweise . 37 2. Stichwortübersicht . . . . . . . . . . 38 IV. Materielles Recht 1. Sorgerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 a) Funktion der elterlichen Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
b) Träger des Sorgerechts . . . . . . . . . 45 c) Inhalt der elterlichen Sorge aa) Das „Wohl des Kindes“ als Rechtsbegriff und der Elternkonsens . . . . . . . . . . . . . 47 bb) Elemente des Kindeswohls. . 70 cc) Wechselbeziehungen zwischen Sorgerecht und Umgangsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 81 (1) Vorsorgende Konfliktvermeidung . . . . . . . . . . . . 84 (2) Verhalten bei Störungen . 85 (3) Hartnäckige Umgangsverweigerung und Entfremdungssyndrom (PAS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 dd) Rechte und Pflichten der Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 (1) Zusammenlebende Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 (2) Dauernde Trennung der Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 (3) Zuständigkeiten, § 1687 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 d) Qualitätsmaßstäbe für die Ausübung der elterlichen Sorge . . . . 123 e) Wahl des richtigen Sorgerechtsmodells. . . . . . . . . . . . . . . . . 126 f) Vorbereitung von Alleinsorgeanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 aa) Kooperationsbereitschaft . . . 135 bb) Konflikte in Alltagsfragen . . 139 cc) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . 141 dd) Kindeswohl als Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 ee) Gefährdung des Kindeswohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 g) Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls (§ 1666 BGB) aa) Staatliches Wächteramt . . . . 153 bb) Sicherung der Bedürfnisse des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . 154 cc) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . 159 h) Vorgehen bei Änderungen der Verhältnisse, § 1696 BGB aa) Voraussetzungen. . . . . . . . . . . 160 bb) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . 166
231
Kap. 5 Rn. 1 cc) Vereinbarungen der Eltern . . dd) Rangfolge möglicher Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . ee) Reaktionen bei Verdacht des sexuellen Missbrauchs . i) Vertretungsfragen . . . . . . . . . . . . . j) Vermögenssorge und Haftung der Eltern aa) Genehmigungsbedürftigkeit von Rechtsgeschäften . . . . . . bb) Vermögenssorge . . . . . . . . . . . cc) Haftung der Eltern . . . . . . . . . k) Rolle und Einfluss des Kindes bei der Lösung familienrechtlicher Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . l) Besonderheiten bei Kindern nicht miteinander verheirateter Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sorgerecht und Umgangsrecht 169 170 173 182
191 196 205 212
2. Umgangsrecht a) Umgangsrecht der Eltern . . . 243 aa) Umgang: Rechte und Pflichten . . . . . . . . . . . . . . 243 bb) Inhaltliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . 246 cc) Vereinbarungen . . . . . . . . 254 dd) Loyalitätspflicht. . . . . . . . 256 ee) Einzelmaßnahmen . . . . . 258 ff) Weitere Einzelfälle: . . . . . 260 gg) Besonderheiten der Durchsetzung des Umgangsrechts. . . . . . . . . 261 b) Umgangsrecht des Kindes . . 280 c) Umgangsrecht Dritter . . . . . . 285
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Literaturverzeichnis:1 Büte, Das Umgangsrecht bei Kindern geschiedener oder getrenntlebender Eltern, 2. Aufl. 2005; Carl, Die Aufklärungspflicht des Verdachts eines sexuellen Missbrauchs in familiengerichtlichen und vormundschaftsgerichtlichen Verfahren, FamRZ 1995, 1183 ff.; Giers, Das Umgangsrecht nach § 1685 BGB, FamRB 2011, 229; Hohmann-Dennhardt, Kindeswohl und Elternrecht – Rechtsverhältnis von Eltern und Kindern, FPR 2008, 476; Hommerich, Das Zeitbudget der Rechtsanwälte in Scheidungs- und Folgesachen, 2002; Kindler, Umgangsregelungen im Einzelfall – Psychologische Aspekte, FPR 2009, 150; Kühne/Kluck, Sexueller Missbrauch – forensisch-psychologische und psychodiagnostische Aspekte, FamRZ 1995, 981 ff.; Lempp, Das Wohl des Kindes in §§ 1666 und 1671 BGB, NJW 1963, 1659; Löhnig, Das Recht des Kindes nicht verheirateter Eltern, 3. Aufl. 2010; Mähler/Mähler, Außergerichtliche Streitbeilegung – Mediation, in: Büchting/Heussen, Beck’sches Rechtsanwaltshandbuch, 10. Aufl. 2011, S. 1492–1533; Rakete-Dombek, Umgang um jeden Preis? – Pflicht zum Umgang nur für Kinder?, FPR 2008, 492; Röchling, Handbuch Anwalt des Kindes, 2. Aufl. 2009; Rösner/Schade, Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch von Kindern im familiengerichtlichen Verfahren, FamRZ 1993, 1133; Salgo, Verfahrensbeistandsschaft: Ein Handbuch für die Praxis, 2. Aufl. 2010; Schmid, Ausgewählte Rechtsprechung zu Sorge- und Umgangsrecht seit 2010, FamRB 2011, 348; Schröder/Bergschneider, Familienvermögensrecht, 2. Aufl. 2007; Schulz/Hauß, Familienrecht, 2008; Stadler/Salzgeber, Kontaktverweigerung bei Scheidungskindern, FF 2001, 85 ff.; Strecker, Versöhnliche Scheidung, 1996; Völker/Clausius, Sorge- und Umgangsrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2011.
I. Arbeitshinweise 1. Das Selbstverständnis des Anwalts im Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Eltern und den Interessen des Kindes 1
Im Sorge- und Umgangsmandat kann der Rechtsanwalt idR nicht, wie sonst im Zivil- und im übrigen Familienrecht, unerbittlicher Vollstrecker 1 Aufgeführt ist nur grundlegende und weiterführende Literatur. Für Spezialfragen wird auf die Angaben in den Fußnoten verwiesen.
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Rn. 5
Kap. 5
des Mandantenwillens, Durchsetzer eines „Anspruchs“ sein, weil Gegenstand des Mandats (aber nicht Mandant) auch stets das mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattete Kind ist. Daraus folgt die Notwendigkeit, stets bereit zu sein, die Mandanten an 2 ihre Elternverpflichtungen zu erinnern, die auf nichts Geringeres zielen, als die Verwirklichung des Kindeswohls. Kindeswohl geht vor Elternrecht. Was das im Einzelfall bedeutet, wird, wenn es der Mandant nicht selbst begreift, im Zweifel durch das Gericht bestimmt. Diese Gratwanderung zwischen der Rolle als parteilicher Ratgeber und Sachwalter des Kindeswohls macht bisweilen größere Probleme im Verhältnis Anwalt und Mandant, als die Bewältigung materiell-rechtlicher und prozessualer Fragen. Gelingt die Ausrichtung des Mandats auf das Kindeswohl infolge fehlender Einsicht des Mandanten-Elternteils nicht, so sollte die Niederlegung des Mandats erwogen werden1. Die Form der Rechtsverschaffung oder Konfliktlösung soll entsprechend 3 den Intentionen des Gesetzgebers des Kindschaftsrechtsreformgesetzes die Eigenverantwortung der Eltern stärken und die eigene Rechtspersönlichkeit des Kindes achten. Das bedeutet, nach Möglichkeit alle Formen der außergerichtlichen Konfliktlösung bevorzugt auszuschöpfen und die gerichtliche Regelung als ultima ratio bzw. als notwendige rechtsförmliche Protokollierung des Elternwillens anzusehen (s. dazu Rn. 169 f.). Als Annäherung an eine persönliche Arbeitsethik mag die Lektüre der 4 1983 veröffentlichten Verhaltensregeln der im Familienrecht tätigen Anwälte Englands dienen, die von Cramer in deutscher Übersetzung vorgelegt wurden2. Eine Selbstbefragung ermöglicht der Anwalts-Fragebogen des Münchner Modells3. Ein kraftvoll konfrontativer Brief- oder Schriftsatzstil ist in den wenigs- 5 ten Fällen geeignet, eine Konfliktlösung ohne Verletzungen einzuleiten. Ebenso wenig sind ausschweifende „Hintergrundschilderungen“ hilfreich, weil sie stets die Gefahr schaffen, dass die Parteien sich in überflüssige Kontroversen über Dinge begeben, die für das Gericht für die Ermittlung des Kindeswohls nicht wichtig sind. Hilfreich sind vielmehr eine Konzentration auf das Nötigste im Sinne einer Deeskalation und Widerstand gegen alle Versuche, „schmutzige Wäsche zu waschen“ und mit bloßen Unterstellungen zu arbeiten. Damit würde ein Parteivertreter eine Verletzung des ausdrücklichen gesetzlichen Gebots des § 1684 BGB, wonach Eltern alles zu unterlassen haben, was das Verhältnis des Kindes zum anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert, befördern4. Diese Erkenntnis liegt auch dem „Vorrang- und Beschleuni1 2 3 4
Büte, Umgangsrecht, Rn. 5. FamRZ 1987, 133. www.muenchener.anwaltverein.de/muenchener.modell/Fragebogen. In Anlehnung an das Plädoyer von Fritz, FAZ v. 7.11.2007, S. 12 für das „Cochemer Modell“ der integrierten Zusammenarbeit von Gericht, Jugendamt, Anwäl-
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gungsgebot“ des § 155 FamFG zugrunde. Dieses will bewusst die schriftsätzliche Vorbereitung (und damit nicht selten einhergehende Verschärfung) einer Kindschaftssache durch die schnelle richterliche Anhörung ersetzen (s.a. Rn. 37a). 2. Die Vorbereitung des Mandats, Informationsaufnahme 6
Das Erstgespräch mit den Mandanten muss durch eine Informationsaufnahme vorbereitet werden. Folgende Informationen sind einzuholen bzw. folgende Fragen sind zu erörtern: – Geburtsurkunde des Kindes, Wohnort, Aufenthalt, Schul- oder Kindergartenort – Namen von Betreuern oder Auskunftspersonen; Vorbereitung der Kontaktaufnahme zum zuständigen Sachbearbeiter des Jugendamts – Besteht eine Sorgerechtsentscheidung, die abgeändert werden soll? Welche zwingenden, das Kindeswohl nachhaltig berührenden Gründe gibt es hierfür? – Gibt es private Vereinbarungen über die Ausgestaltung des Umgangsrechts? – Welche Praxis, die als stillschweigende Vereinbarung gelten könnte, gab es bisher? Gegenseitige Vollmachten der Eltern? – Welche Tatsachen und Beweismittel stehen für ein Regelungs- oder Abänderungsbegehren zur Verfügung? Welche Umstände machen eine Sache dringlich für eine einstweilige Anordnung? (Eidesstattliche Versicherungen des Elternteils oder Dritter; Stellungnahmen von Betreuern, Lehrern, Arzt, Großeltern; eigene Wahrnehmungen und Notizen über Begebenheiten oder ungewöhnliche Vorkommnisse. Im Amtsermittlungsverfahren kann jede Form von Information wichtig werden, nur das Kind als Zeuge ist ausgeschlossen.) – Welche konkreten Vorstellungen und Möglichkeiten über die Ausgestaltung der elterlichen Sorge und die praktische Ausübung des Umgangsrechts bestehen, (schriftlich fixieren lassen!)? Welche Ersatzregelungen für den Fall der Erkrankung des Kindes oder sonstiger Hindernisse kommen in Betracht? Welche Ferienregelungen sollen getroffen werden? – Gibt es Anregungen für eine direkte Kommunikation zwischen den Eltern? – Verfahrensberatung: die Vorzüge der außergerichtlichen Konfliktlösung und gerichtliche Anträge als ultima ratio. Das Verfahren nach §§ 155, 156 FamFG lässt regelmäßig eine Flucht aus der Elternverantwortung durch „Delegation“ nicht mehr zu. S. auch Rn. 37a.
ten, freien Sachverständigen und Stadtverwaltungen. Das Cochemer Modell stand Pate für das Vorrang- und Beschleunigungsgebot des FamFG.
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Rn. 10
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3. Überlegungen zu Kosten, Vergütung und Haftung a) Die gesetzliche Vergütungsstruktur (FamFG und FamGKG)1 Das FGG-Reformgesetz, welches am 1.9.2009 in Kraft getreten ist, ent- 7 hält in Art. 2 eine völlige Neuregelung der Kostenvorschriften für Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die dort enthaltenen Wertvorschriften für das gerichtliche Verfahren lösen die bisherigen Verweise auf §§ 30 Abs. 2 KostO und 48 GKG ab und ersetzen sie. Diese Wertvorschriften bestimmen nach § 23 Abs. 1 RVG auch die Gegenstandswerte/Streitwerte für die Berechnung der Anwaltsvergütung. Kindschaftssachen (insbesondere Sorgerecht und Umgangsrecht):
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– Isoliertes Verfahren (Hauptsache) § 45 Abs. 1 FamGKG: 3000 Euro. Es handelt sich um einen Regelwert, der vom Gericht im Einzelfall heraboder heraufgesetzt werden kann, zB je nach Arbeitsaufwand des Gerichts etwa bei mehrfachen Anhörungen und schriftlichen Sachverständigengutachten2. – Verbundverfahren mit der Ehesache (Hauptsache) § 44 Abs. 2 FamGKG: Je Verfahren 20 % des Werts der Ehesache, höchstens 3000 Euro. Der Wert gilt unabhängig von der Anzahl der beteiligten Kinder3. – Einstweilige Anordnungen § 41 FamGKG (ersetzt auch § 24 RVG früherer Fassung): gebührenrechtlich gelten einstweilige Anordnungen stets als verschiedene Angelegenheiten im Sinne von § 17 RVG. Nach § 17 Nr. 4b RVG handelt es sich um eine selbständig neben der Hauptsache vergütungsfähige Angelegenheit. Nach § 16 Nr. 6 RVG sind Abänderungsverfahren zu bestehenden einstweiligen Anordnungen nicht gesondert zu vergüten. Durch Art. 47 Abs. 6 des FGG-RG wurde ua. der frühere § 18 Nr. 1 und 2 RVG aufgehoben. Nunmehr ist jede einstweilige Anordnung eine gebührenrechtlich eigene Angelegenheit. Regelmäßig 1/2 des Hauptsachewerts, also 1500 Euro im isolierten Verfahren und höchstens 1500 Euro in Folgesachen, abhängig vom Wert der Ehesache. Zwar entspricht der neue Hauptsachewert dem alten, ist der Wert in Folgesachen gegenüber dem früheren Wert (900 Euro) erhöht und wird die einstweilige Anordnung grundsätzlich höher bewertet als früher (500 Euro); bei näherer Betrachtung hingegen bleibt die Gebührenbewertung der anwaltlichen Tätigkeit in Kindschaftssachen unbefriedigend.
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aa) Vorgerichtliche Tätigkeit4: Geschäftswert nach § 45 Abs. 1 FamGKG 3000 Euro; regelmäßig entsteht eine 1,3 Geschäftsgebühr nach VV-RVG
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1 S. näher Kap. 14. 2 OLG Celle v. 11.2.2011 – 10 WF 399/10, FamRZ 2011, 993 = FamRB 2011, 211. 3 So auch bisherige Rechtslage: Keine Streitwerterhöhung bei mehreren Kindern, OLG Karlsruhe v. 19.9.2006 – 20 WF 132/06, FamRZ 2007, 848. 4 Zur außergerichtlichen Tätigkeit gehört das Vermittlungsverfahren bei Konflikten um den Vollzug von Umgangstiteln (§ 165 FamFG, vormals § 52a FGG).
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2400 mit 245,70 Euro. Die Hälfte davon ist auf die Verfahrensgebühr für ein darauf folgendes gerichtliches Verfahren anzurechnen. Es bleiben im isolierten Verfahren (Streitwert gleich) 122,85 Euro; im Verbundverfahren sind je nach Streitwert der Ehesache 0,65 aus 20 % des Werts der Ehesache, max. 1500 Euro, auf die Verfahrensgebühr des Verbundverfahrens anzurechnen. 11 bb) Gerichtliche Tätigkeit: Geht es um einen isolierten Antrag auf gerichtliche Regelung des Umgangsrechts1, so beträgt der Streitwert im Regelfall nach § 45 Abs. 1 FamGKG 3000 Euro. Es entsteht eine 1,3 Verfahrensgebühr nach VV-RVG 3100 und ggf. eine 1,2 Terminsgebühr2. Es kann eine 1,0 Einigungsgebühr3 nach VV-RVG 1003 Abs. 2 entstehen. Die zeitaufwendige und verantwortungsvolle Tätigkeit im Rahmen von Beweiserhebungen und Begutachtungen wird nicht gesondert vergütet. Im Verbundverfahren wirkt sich der anteilige Wert der Kindschaftssachen überhaupt nur im Bereich bis 10 000 Euro Ehesachenwert Gebühren erhöhend aus. 12 cc) Einstweilige Anordnungen4: Die Streitwerte betragen gem. § 41 FamGKG in Sorgerechts-, Umgangs- und Herausgabeverfahren sowie im Bereich des Gewaltschutzgesetzes jeweils 1500 Euro im isolierten Verfahren und höchstens 1500 Euro im Verbundverfahren. Die anteilige Vergütung der Kindschaftssachen im Verbund schwankt zwischen 1/4 und 1/3 der Vergütung in isolierten Verfahren. 13 Diese unterschiedliche Bewertung derselben anwaltlichen Tätigkeit kann, wie bisher schon, nur als gesetzgeberischer Missgriff bezeichnet werden. Die Gebühren der Ehesache müssen im Verbundverfahren die
1
2
3 4
Wird der Anwalt hier tätig, entsteht auch eine Geschäftsgebühr aus dem Wert von 3000 Euro (OLG Nürnberg v. 24.11.2005 – 10 WF 1407/05, MDR 2006, 658 = NJOZ 2006, 441; aA OLG Brandenburg v. 5.4.2006 – 9 WF 75/06, FamRZ 2006, 1473: 1000 Euro). Sie ist zur Hälfte auf die Verfahrensgebühr eines folgenden Streitverfahrens anzurechnen. Es kann eine 1,5 Einigungsgebühr entstehen (OLG Brandenburg v. 5.4.2006 – 9 WF 75/06, FamRZ 2006, 1473). Aufenthaltsbestimmungsrecht und Umgangsrecht sind verschiedene Gegenstände, die im isolierten Verfahren mit zusammengerechneten Werten (2 × 3000 Euro) abzurechnen sind, OLG Naumburg v. 20.11.2007 – 3 WF 335/07, FamRZ 2008, 1095. Auch bei einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung: OLG Schleswig v. 30.3.2007 – 15 WF 41/07, OLGReport 2007, 475; aA OLG Stuttgart v. 14.7.2006 – 8 WF 96/06, FamRZ 2007, 223; OLG Düsseldorf v. 5.2.2009 – II-10 WF 31/08, FamRB 2009, 145 = BeckRS 2009, 05638; die Begr., eine mündliche Verhandlung sei nicht vorgeschrieben, lässt sich nach neuem Recht, § 155 Abs. 2 FamFG, nicht halten. Daher hält Verf. auch eine Terminsgebühr bei schriftlichem Vergleich für möglich (Vorb. zu VV 3104 Abs. 1 Nr. 1). Klees in Mayer/Kroiß, RVG Nr. 1000 Rn. 18; s. die neue Bestimmung VV 1000 Abs. 5 S. 2. Zum Sonderfall VV 3101 Nr. 3 (nur 0,8 Verfahrensgebühr) s. Rn. 84a, Mustervereinbarung. Dazu Völker/Clausius, Sorge- und Umgangsrecht § 10 Rn. 28–30; das Folgende gilt auch für sog. vorläufige Anordnungen v.A.w. (zB § 156 Abs. 5 S. 2 FamFG).
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Folgesache mitfinanzieren. Liegt ein VKH-Fall vor, besteht bisweilen gar keine Alternative zum Verbund, weil ein späterer isolierter Verfahrensantrag uU als mutwillig angesehen werden könnte1. b) Folgerungen Ein solchermaßen ausgetragener Umgangsrechtsstreit kann nicht neben- 14 her geführt werden. Ein Zeitaufwand von bisweilen zehn Stunden2 ist einzukalkulieren. Der Verbund wird schlechter vergütet. Ein Ausgleich bei höheren Streitwerten findet nicht statt. Die Ehesache und andere Folgesachen müssen im Verbund den Umgangsstreit mitfinanzieren. Ein Ausgleich können die gesondert zu vergütenden einstweiligen Anordnungen sein. c) Das Vergütungsgespräch Die Bearbeitung von Sorge- und Umgangsstreitigkeiten ist nicht nur 15 schwierig und verantwortungsvoll, sondern auch zeitaufwendig und steht zugleich unter Zeitdruck – wegen des Beschleunigungsgebots, das Terminsverlegungen nur in zwingenden Ausnahmefällen zulässt und die Zeit zur etwaigen schriftsätzlichen Vorbereitung stark verkürzt; – wegen der Notwendigkeit, ständig Emotionen, Zweifel und Frustrationen der Eltern auszugleichen, wobei nicht selten die Grenzen zwischen Beratung und Betreuung verschwimmen; – wegen der häufig notwendig werdenden Anhörungen und Beweiserhebungen durch das Gericht im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes; – weil Ausmaß und Zeitpunkt überraschender Konflikte, die zB die Vorbereitung und Herbeiführung einer gerichtlichen Intervention durch einstweilige/vorläufige Anordnungen erfordern, sich nicht planen lassen. Wie aufgezeigt, trägt dem die gesetzliche Vergütungsstruktur nicht Rech- 16 nung. Der notwendigerweise betriebswirtschaftlich denkende Rechtsanwalt muss seinen Zeitaufwand an den gesetzlichen Maximalvergütungen messen und wird oft feststellen, dass er in keinem Verhältnis zu den erzielbaren gesetzlichen Vergütungen steht. 1 Allerdings müßte eine Jugendamtsvermittlung überwiegende Erfolgsaussicht gehabt haben: OLG Schleswig v. 9.6.2011 – 10 WF 86/11, BeckRS 2011, 16903. 2 Die Begr. des Entwurfs des FGG-RG (BT-Drucks. 16/6308, S. 306) zitiert eine Erhebung von Hommerich (2002) über den anwaltlichen Zeitaufwand in Scheidungs- und Folgesachen: Danach sollen für Sorge- und Umgangssachen durchschnittlich 93 Minuten in Folgesachen und 195 Minuten in isolierten Verfahren aufgewendet worden sein. Die Schätzung des Verfassers beruht auf der Annahme, dass dieser Aufwand für jeden Verfahrensgegenstand einzeln zu kalkulieren ist.
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Praxistipps: – Daraus folgt die Notwendigkeit, mit den Mandanten möglichst schon im Anschluss an das Erstgespräch eine schriftliche Vergütungsvereinbarung (§ 4 Abs. 1 S. 1 RVG) zu schließen, die entweder mit einer Erhöhung der Werte, mit der gesonderten Vergütung von Beweiserhebungen oder mit Stundensatzabrechnung arbeitet. – In Verfahrenskostenhilfesachen ist auch dann, wenn die Rechtswahrnehmung bereits unbedingt erfolgt, darauf zu achten, dass das Gericht seiner Pflicht zur zügigen Entscheidung nachkommt (Grundsatz des fairen Verfahrens), damit Mandant und Anwalt kalkulieren können, ob sie ein Verfahren auch ohne VKH durchführen wollen, was ja Ratenzahlungsvereinbarungen oder Dritthilfe voraussetzt. Es sollte im Zweifel nicht zur Sache verhandelt werden, bevor sich das Gericht zur VKH-Bewilligung geäußert hat1.
d) Risiken und Haftungsgefahren 17 Das Kostenrisiko des Mandanten ist durch § 81 Abs. 1 FamFG gegenüber dem früher geltenden § 13a FGG erhöht worden. Nunmehr trägt in isolierten Verfahren nicht mehr grundsätzlich jede Partei ihre eigenen Kosten; vielmehr kann das Gericht eine Kostenerstattung nach billigem Ermessen anordnen. Der Erfolg eines Antrags indiziert schon einmal die Kostenbelastung der Gegenseite. Kommt dann noch ein Regelfall nach § 81 Abs. 2 FamFG hinzu (etwa grobes Verschulden, falsche Angaben oder Verletzung der Mitwirkungspflicht), trägt die Antragsgegnerseite die Kosten. Umgekehrt kann es für den Antragsteller teuer werden, wenn ihm grobes Verschulden zur Last fällt, sein Antrag offensichtlich unbegründet ist, er falsche Angaben macht oder sich einer gerichtlich angeordneten Beratung nicht stellt (§§ 81 Abs. 2 Nr. 5, 156 Abs. 1 S. 4 FamFG). 18 Ein besonderes Risiko besteht uU für Mandanten, die VKH in Anspruch nehmen wollen. Wird statt eines möglichen und zumutbaren Verbundverfahrens ein isoliertes Verfahren gewählt, könnte die VKH wegen Mutwilligkeit versagt werden2.
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Praxistipp: Das Gericht ist nach dem Rechtsstaatsprinzip gehalten, über die VKH ex ante und schnell zu entscheiden3.
1 BVerfG v. 13.7.2005 – 1 BvR 175/05, DRsp 2005/12815; OLG Naumburg v. 12.3.1999 – 8 WF 54/99 – 8 UF 58/99, FamRZ 2000, 106. 2 Dazu näher Finke/Ebert, Rn. 236, 238; dort auch zu Recht Kritik an dieser Praxis, weil es ein durchaus billigenswertes Motiv für das isolierte Verfahren sein kann, wenn ohnehin streitige Unterhalts- und Zugewinnsachen nicht auch noch durch einen Streit ums Kind verschärft werden sollen. Deshalb ist offenbar die Kindschaftssache im Verbund eher selten. 3 BVerfG v. 5.12.2008 – 1 BvR 746/08, FamRZ 2009, 399.
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Haftungsgefahren1 für den Anwalt können sich daraus ergeben, dass das 19 Problem der Mutwilligkeit falsch eingeschätzt wird; dann verliert der Mandant uU sogar seinen Prozesskostenvorschussanspruch nach § 1360a Abs. 4 BGB. Vorsicht ist auch geboten bei Anträgen auf einstweilige Anordnungen, wenn die Sachlage nicht schwierig ist oder wenn der Mandant sich nicht um eine vorherige gütliche Regelung mit dem Jugendamt bemüht hat. Weil für diese Verfahrensart kein Anwaltszwang besteht, könnte das Gericht Mutwilligkeit annehmen oder die Notwendigkeit einer Anwaltsbeiordnung (§ 78 Abs. 2 FamFG) verneinen2. Dem sollte durch entsprechenden Sachvortrag zur Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage oder der Tatsachenfeststellung vorgebeugt werden. 4. Vorzüge und Grenzen der Mediation a) Wesen des Mediationsverfahrens Das Wesen des Mediationsverfahrens besteht darin, dass ein neutraler 20 Dritter (Mediator) die Konfliktparteien darin unterstützt, eine wechselseitige, faire Vereinbarung über die Probleme zu erarbeiten, die durch ihre Trennung entstanden sind. In diesem Verfahren verhandeln die Konfliktparteien (zugleich: Eltern) autonom mit dem Ziel einer ausgewogenen, interessengerechten Lösung auf der Grundlage der Verfahrensprinzipien Freiwilligkeit, Fairness, Eigenverantwortung und Verschwiegenheit des Mediators sowie Offenheit und Offenlegung seitens der Parteien. Das Verfahren gliedert sich üblicherweise in folgende Phasen, die hier auf die besondere Situation der Sorge- und Umgangskonflikte zugeschnitten sind: Phase 1
Gemeinsamer Empfang – gute Atmosphäre schaffen – Erwartungen der Teilnehmer erfragen – Mediationsprozess erklären – Grundregeln des Umgangs miteinander aushandeln – Zeitplan erstellen – Kosten klären.
Phase 2
Erarbeitung der zu behandelnden Themenbereiche – Faktensammlung – streitige und unstreitige Positionen klären – Gemeinsamkeiten und Differenzen aufzeigen und möglichst visualisieren – Klärung der Reihenfolge für die Behandlung der streitigen Fragen.
Phase 3
Bearbeitung der Konfliktfelder – anerkennen, dass es unterschiedliche Sichtweisen und ggf. kulturell bedingte unterschiedliche Einstellungen zu Erziehungsproblemen gibt – von der Positionsebene zur Interessenebene wechseln – Wünsche
1 Gebührenfreistellungsanspruch des Mandanten; vgl. OLG Düsseldorf v. 15.11.1991 – 3 WF 182/91, FamRZ 1992, 457. 2 Dazu BGH v. 18.2.2009 – XII ZB 137/08, FamRZ 2009, 857: kein Regel/Ausnahmeverhältnis für/gegen die Beiordnung = FamRB 2009, 240; OLG Düsseldorf v. 10.12.2009 – II-8 WF 204/09, FamRZ 2010, 580 = FamRB 2010, 42 (Sorgerechtsfall); OLG Zweibrücken v. 28.12.2009 – 2 WF 237/09, FamRZ 2010, 1002 = FamRB 2010, 176 (Umgangsrechtsfall); vgl. Motzer, FPR 2009, 158.
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Kap. 5 Rn. 21
Phase 4
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herausarbeiten, einerseits der Eltern, andererseits der Kinder – direkte Kommunikation herstellen – Reaktion der anderen Seite erfragen. Problemlösung und Einigung – zuerst Sammeln von Lösungsmöglichkeiten, dabei Optionen für die Einbeziehung von Hilfe Dritter erörtern – entspannende und vertrauensbildende Maßnahmen anregen – praktische Beispielsituationen durchspielen und theoretisch „lösen“ – dann erst Bewertung der Möglichkeiten und Auswahl – schriftliche Fixierung des Konzepts.
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Rechtliche Ausgestaltung nach Konsultation der Beratungsanwälte durch die Parteien – Vollmachten anregen und Regeln für die direkte Kommunikation vereinbaren – Vertragsabfassung.
Phase 6
Umsetzung – Begleitung etwa vereinbarter Kontrollgespräche – Nachverhandlungen.
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Praxistipps: – Diese Struktur des Herangehens an streitige Probleme ist auch gut geeignet für die Vorbereitung des Rechtsanwalts auf direkte Verhandlungen und Vierergespräche. – Die in den Verfahrensprinzipien und Phasen liegende Einübung von Kommunikation und Kooperation ist in hohem Maße geeignet, den Eltern den Blick auf die Interessen des Kindes und seine Zukunftsperspektiven zu öffnen. – Die Anwendung, oftmals auch nur die Kenntnis und die Tolerierung mediativer Elemente1 durch nicht unmittelbar am Konflikt beteiligte Dritte, nämlich die Verfahrensbevollmächtigten, die Gutachter, das beteiligte Jugendamt und das Gericht kann den Einigungsprozess entscheidend fördern.
21 Die Beschäftigung mit und die Einübung von interesseorientiertem, kooperativem Verhandeln führt zu einem gerade in Sorge- und Umgangssachen einigungsfördernden und damit „erfolgreichen“ Verhandlungsstil2. Die Elemente des kooperativen, ergebnisorientierten Verhandlungsstils sind: – Die Verhandlungspartner sind Problemlöser. – Das Ziel ist ein faires Verhandlungsergebnis, wobei auch ein Verhandlungsabbruch ein Ergebnis sein kann. – Konzessionen werden am Ende ausbalanciert.
1 S. die anschaulichen Praxisbeispiele aus der Sicht des Teams Gutachterin/Familienrichter: Spangenberg/Spangenberg, Kon:sens (heute ZKM) 1999, 48 ff. 2 S. weiterführend und zur Abgrenzung vom emotionalen/zu nachgiebigen bzw. vom fordernden/unsachlichen Verhandlungsstil Heussen, ZKM 2001, 80 ff., insbes. 82.
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Rn. 23
Kap. 5
– Bemühung um eine sachliche Einstellung zu Menschen und Problemen. – Vertrauen und Kontrolle werden ausbalanciert. – Positionen sind Arbeitshypothesen (Ausnahme: Basisdaten). – Angebote werden erst nach ausreichender Information gemacht. – Die Verhandlungslinie wird nach Sachlage offen gelegt. – Die Interessen werden abgewogen. – Der Abschluss erfolgt nach Sachlage. – Differenzen werden verdeutlicht, Kämpfe werden vermieden. – Man gibt nur bis zur Akzeptanzgrenze nach. b) Freiwilligkeit der Konfliktparteien Die Autonomie und volle Freiwilligkeit der Konfliktparteien in der Me- 22 diation ist (ua.) nur gewährleistet bei informierten Parteien, die jederzeit über ihre rechtliche Situation (Position) unterrichtet sind. Diese verfahrensbegleitende Aufklärung und Beratung kann der Mediator bei Wahrung seiner Allparteilichkeit und Unabhängigkeit nicht leisten, auch dann nicht, wenn er selbst Rechtsanwalt ist, und erst recht nicht, wenn er Vertreter der psychosozialen Profession ist. Im Idealfall hat deshalb jede Partei ihren verfahrensbegleitenden (parteilichen) Rechtsberater (Prozessbevollmächtigten), der allerdings nach der weit überwiegenden Praxis in der Familienmediation nicht unmittelbar an den Mediationsgesprächen teilnimmt. aa) Aufgabe dieses Anwalts des Vertrauens ist die Sicherung der Freiwilligkeit der Teilnahme des eigenen Mandanten an der Mediation durch Verfahrensberatung (über Wesen, Vorzüge und Nachteile des Mediationsprozesses im konkreten Einzelfall) und durch Rechtsberatung/Positionsbestimmung.
Û
Praxistipp: Dieser Aufgabe kann nur gerecht werden, wer sich zumindest Grundkenntnisse in der Familienmediation1 angeeignet hat und von ihren Vorzügen und Möglichkeiten überzeugt ist. Weitere Voraussetzung ist, dass der prozessbevollmächtigte Rechtsanwalt von dem Mandanten über den Entschluss zur Durchführung eines Mediationsverfahrens unterrichtet wurde, wenn dies nicht schon vom Beratungsanwalt selbst initiiert wurde. Die Fälle „eigenmächtiger“ Ausflüge der Mandanten in die Mediation sind nicht selten und können das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Anwalt erschüttern,
1 Vgl. grundlegend zur Mediation: Mähler/Mähler in: Büchting/Heussen, Beck’sches Rechtsanwaltshandbuch 2011, S. 1492 ff., und weiterführend Hohmann/Morawe, Praxis der Familienmediation, 2. Aufl. 2012 in Vorbereitung. Einen Praxisbericht geben Spangenberg ua., FPR 2009, 156.
Grisebach
241
23
Kap. 5 Rn. 24
Sorgerecht und Umgangsrecht
wenn sie darauf zurückzuführen sind, dass der Mandant (irrigerweise) glaubt, der eigene Anwalt wisse nichts von Mediation oder habe dort keine Aufgabe. Daraus folgt nicht nur die Aufgabe, sondern auch die Chance des Beratungsanwalts, sich vor dem Mandanten als umfassender Berater in allen Lebens- und Rechtssituationen zu profilieren. 24 In diesem Sinne sollte auch § 18 Abs. 2 der Berufsordnung (idF v. 1.7.2008) verstanden werden, wonach Mediation, bzw. der Umgang mit mediativen außergerichtlichen Streitbeilegungsmethoden Teil der anwaltlichen Berufsausübung und der Anwalt aufgefordert ist, den Mandanten rechtsgestaltend, konfliktvermeidend und streitschlichtend zu begleiten. 25 Für den als Mediator tätigen Anwalt heißt das, auch in der Tätigkeit als Mediator für beide Parteien dem anwaltlichen Berufsrecht unterworfen zu sein. In diesem Zusammenhang könnte gefragt werden, ob der Anwaltsmediator berufsrechtlich1 (Verbot der Umgehung des Gegenanwalts) gehalten ist, den Beratungsanwälten die Übernahme des Mediationsmandats anzuzeigen oder gar von ihrer Zustimmung abhängig zu machen. So gewiss eine kollegiale Zusammenarbeit zwischen Anwaltsmediator und Beratungsanwälten das Mediationsverfahren fördert und den Interessen der Mandanten dient, so gewiss wäre die Durchführung einer Mediation gewissermaßen hinter dem Rücken der Beratungsanwälte schädlich, weil dermaßen enttäuschte Beratungsanwälte schwerlich eine unbefangene Verfahrensberatung über den jeweils besten Weg unter Einschluss der Mediation leisten würden. Es sollte deshalb dem beruflichen Selbstverständnis eines Anwaltmediators entsprechen, in jeder Phase des Verfahrens sicherzustellen, dass die Parteien Kontakt zu ihren Beratungsanwälten halten; eine unmittelbare Kontaktaufnahme vom Mediator zum Beratungsanwalt kann die Allparteilichkeit des Mediators gefährden. 26 bb) In der umfassenden Familienmediation geht es idR um ein komplexes Geflecht unterschiedlicher Interessen persönlicher, ideeller und wirtschaftlicher Art. – Es ist legitim, aus Unterhalt, Versorgungsausgleich, Zugewinn und Hausrat ein Paket zu schnüren. – Es verbietet sich hingegen aus Gründen des Kindeswohls, die Interessen des Kindes (angemessenen Umgang mit beiden Eltern zu haben, Zuwendung von beiden und eine nach den Möglichkeiten beider Eltern optimale Förderung zu erfahren) zur Verhandlungsmasse zu machen (zB Absehen von einem Alleinsorgeantrag gegen höhere Kindes- oder Ehegattenunterhaltszahlungen; Gewährung tatsächlichen Umgangs gegen finanzielle Leistungen oder geldwerte Verzichte). Solche Verknüpfungen geraten schnell in die Nähe psychischer oder wirtschaftlicher Erpressung und sind deshalb a priori bedenklich. 1 Zu berufsrechtlichen Aspekten der Tätigkeit als Anwalt und Mediator vgl. Koch, ZKM 2001, 89 ff.
242
Grisebach
Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 28a
Kap. 5
– In der Vorbereitung der Klienten auf die Mediation als alternatives Konfliktlösungsmittel sollte deshalb den Themen Sorge- und Umgangsrecht ein eigenständiges Gewicht zugemessen werden, weil es hier nicht vorrangig um die Wahrung von Elterninteressen, sondern um die Sicherung der Interessen des Kindes selbst geht (Kindeswohl geht vor Elternrecht). cc) Mediatoren geraten an die Grenze ihrer Möglichkeiten1 und ihres beruflichen Selbstverständnisses,
27
– wenn die vorgeblichen Interessen des Kindes durch einen Elternteil instrumentalisiert und mit eigenen Interessen untrennbar vermischt worden sind, – wenn Kinder die „Bedürfnisse“ des sie betreuenden Elternteils verinnerlicht haben und den anderen Elternteil ohne nachvollziehbare Gründe ablehnen, – wenn Gewalt im Spiel ist2 – oder Drogenprobleme oder psychische Beeinträchtigungen die Wahrnehmung eines Elternteils trüben.
Û
Praxistipp: In solchen Fällen der fortgeschrittenen Konflikteskalation und dort, wo die Eigenverantwortlichkeit auch nur einer Elternpartei der Angst oder Hilflosigkeit gewichen ist, ist von der Inanspruchnahme eines Mediationsverfahrens abzuraten.
II. Typische Problemfelder 1. Gemeinsame Sorge oder Alleinsorgeantrag? Die Auseinandersetzung mit dieser Frage ist durch das Kindschaftsrechts- 28 reformgesetz weitgehend aus dem familiengerichtlichen Verbundverfahren herausgenommen und in die Phase der vorgerichtlichen (anwaltlichen) Beratung verlegt worden. Über das Sorgerecht wird idR nur noch auf ausdrücklichen Antrag eines Elternteils entschieden. Da das Prozessrecht nicht mehr dazu zwingt, sich mit der Sorgerechts- 28a wahl auseinanderzusetzen, könnte das zu einem Ausweichen vor der verantwortlichen Prüfung des besten Sorgerechtstyps führen. Dem sollte in der anwaltlichen Beratung entgegengewirkt werden. Jeder Elternteil muss sich aktiv mit seiner Rolle, seinen Möglichkeiten einerseits und den Bedürfnissen des Kindes andererseits auseinandersetzen (s. näher Rn. 41 ff.). 1 Vgl. näher Hohmann, AnwBl. 2001, 606. 2 Differenzierend und mit Blick auf Vorteile der Mediation gerade bei Beziehungsgewalt Gläßler, ZKM 2000, 206 ff.; in jedem Fall setzt der Einsatz von Mediation in diesen Fällen eine ausführliche Analyse der Gewaltursachen und eine Sicherstellung der Sicherheitsbedürfnisse der Opfer voraus.
Grisebach
243
Kap. 5 Rn. 29
Sorgerecht und Umgangsrecht
29 Die oben (Rn. 9 ff.) erörterte Vergütungsproblematik gewinnt an dieser Stelle eine weitere Schärfe. Für die Beratung gibt es keine taxmäßige Vergütung mehr; folglich sollte der Anwalt auf eine Vergütungsvereinbarung hinwirken (§ 34 Abs. 1 S. 1 RVG). Bleibt es hingegen bei der Beratung ohne folgendes gerichtliches Verfahren und wurde keine schriftliche Vergütungsvereinbarung geschlossen, so wird die „übliche Vergütung“ im Streitfall schwer durchzusetzen sein. Umso wichtiger wird die Absicherung durch ausreichende Vorschüsse. 2. Gemeinsame elterliche Sorge trotz bestehender Spannungen? 30 Ist ein Antrag auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge von einem Elternteil gestellt und – wie regelmäßig – mit Spannungen und Kontroversen zwischen den Elternteilen begründet worden, stellt sich für den anderen Elternteil und dessen Berater idR die Frage, wie demgegenüber der Wunsch nach Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge zur Geltung gebracht werden kann. Es gilt, die Schwächen eines unüberlegten, egoistischen Alleinsorgeantrags offenzulegen; die antragstellende Partei und ihr Berater haben Gelegenheit, die eigene Position zu überprüfen und ggf. zu korrigieren (s. Rn. 134). 3. Elterliche Konflikte bei bestehender gemeinsamer Sorge 31 Sowohl in Angelegenheiten des täglichen Lebens als auch in grundsätzlichen Fragen kann es zwischen Eltern Meinungsverschiedenheiten geben, die in der anwaltlichen Beratung erörtert, geschlichtet, oder notfalls zur Streitentscheidung zu Gericht oder in die Mediation getragen werden müssen (s. Rn. 96 ff.). 4. Wechselverhältnis von Umgangsrecht und Sorgerecht 32 Eine große Zahl von streitigen Alleinsorgerechtsanträgen oder Abänderungsanträgen nach § 1696 BGB wird überhaupt nur deshalb gestellt, weil der Elternteil, bei dem sich das Kind dauernd aufhält, dem Bedürfnis des anderen Elternteils nach größerer Teilhabe am Leben des Kindes nicht Rechnung zu tragen bereit ist. Dieser Wunsch wird dann als Einmischung, Anmaßung (weil vor der Trennung lange Zeit nur geringes Interesse bestanden habe) oder Belästigung missverstanden, die ablehnende Reaktion gegenüber dem „fordernden“ Elternteil fast immer mit Aspekten des „Kindeswohls“ begründet. Nur selten bleibt eine solche Haltung dem Kind verborgen. Häufig stürzt sie das Kind in Loyalitätskonflikte (s. Rn. 81 ff.). 5. Beratung und Vorgehen bei Änderungen der Verhältnisse 33 Veränderungen der Lebensumstände der Eltern wie Trennung, Umzug, neuer Partner, Fehlverhalten eines Elternteils, aber auch alters- und entwicklungsbedingte Wünsche des Kindes können Beratungs- und Hand244
Grisebach
Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 36
Kap. 5
lungsbedarf hervorrufen. Frühere Festlegungen und Entscheidungen zu elterlicher Sorge und Umgangsrecht haben keine Bestandskraft, sondern stehen unter dem ständigen Änderungsvorbehalt, dass sie zu jeder Zeit mit dem immer wieder neu zu definierenden „Wohl des Kindes“ vereinbar sein müssen (s. Rn. 160 ff.). 6. Kindeswohl geht vor Elternrecht1 Befragungen von Scheidungskindern als Erwachsene machen nachdenklich: Auf die Frage, wie sie die Trennung der Eltern erlebt hätten, klagten viele darüber, dass alle Beteiligten zwar das Kindeswohl ins Feld geführt, aber gleichwohl die Kindesinteressen nicht wirklich wahrgenommen hätten.
34
Nach dem Kindschaftsrechtsreformgesetz muss seit dem 1.7.1998 jeder 35 Alleinsorgeantrag einer positiven Einzelfallprüfung („große Kindeswohlprüfung“) unterzogen werden. Das ist in seiner Auswirkung gleichbedeutend mit einer Förderung und Stärkung des Kontinuitätsgrundsatzes („Kinder brauchen Beständigkeit“). Auch ist eine Art Vorrang des Elternkonsenses vor dem staatlichen Eingriff eingeführt worden, wobei die Konsenspflicht der Eltern Vorrang hat vor der Durchsetzung ihrer individuellen Elternrechte. Von einem Antragsteller für die elterliche Alleinsorge muss deshalb auch mehr verlangt werden als die formelhafte Behauptung mangelnder Verständnismöglichkeiten mit dem nicht betreuenden Elternteil (s. Rn. 47, 134). Das gesetzliche Instrumentarium ist daher idR kein Sanktionsrecht gegen elterliche Defizite und Fehlgriffe; es soll dem Kindeswohl dienen. Hierüber ist der Mandant immer wieder zu belehren. 7. Kinder nicht miteinander verheirateter Eltern Für Kinder nicht miteinander verheirateter Eltern blieb es auch nach der 36 Kindschaftsrechtsreform zum 1.7.1998 bei der Situation, dass die Kindesmutter Inhaberin der elterlichen Sorge ist, wobei sich der Gesetzgeber vergeblich bemüht hat, dies gerade nicht als Grundsatz zu formulieren. Der Gesetzgeber hat zwar die rechtliche Gleichstellung ehelicher und „nichtehelicher“ Kinder weitgehend auf der Ebene der eigenen Rechte des Kindes vollzogen, nicht aber auf der Ebene der Kindesväter. Das kann zu Enttäuschungen der Väter führen, die feststellen, dass sie auch in einer funktionierenden Partnerschaft mit der Kindesmutter rechtlich Väter „zweiter Klasse“ sind. In gewissem Umfang kann eine solche Enttäuschung durch die rechtzeitige rechtliche Beratung und die Gestaltung von Partnerschaftsverträgen vermieden werden (s. Rn. 239).
1 Dazu näher Hohmann-Dennhardt, FPR 2008, 476.
Grisebach
245
Kap. 5 Rn. 37
Sorgerecht und Umgangsrecht
III. Verfahrensrecht 1. Verfahrensstruktur, Modelle und anwaltliche Arbeitsweise 37 Das FamFG ersetzt ua. das 6. Buch der ZPO. Sorge- und Umgangsverfahren werden als „Kindschaftssachen“ bezeichnet. Für Kindschaftssachen (Sorgerecht, Umgangsrecht, Kindesherausgabe, Vormundschaft, Pflegschaft, Freiheitsentziehung) gelten die allgemeinen Vorschriften der §§ 1–110 und die besonderen Vorschriften der §§ 151–168 FamFG. Die am „Cochemer Modell“ ausgerichteten Verfahrensregeln sollen helfen, die Eltern in ihrer gemeinsamen Verantwortung für ihre Kinder zu stärken und streitige gerichtliche Entscheidungen zur Ausnahme werden zu lassen. Die wichtigsten Verfahrensgrundsätze sind bereits vor Inkrafttreten des FamFG am 1.9.2009 durch zahlreiche lokale „Modelle“1 vorweggenommen und praktisch erprobt worden. Es ist zu erwarten, dass die dort gewonnenen Erfahrungen auch den Umgang der Gerichte und Anwälte mit den neuen Vorschriften des FamFG prägen werden. 37a
Am Beispiel des „Münchner Modells“ (s. unten Fn. 1) soll dargestellt werden, was sich an der praktischen Arbeit des Anwalts deutlich gegenüber der Arbeitsweise vor dem 1.9.2009 verändert. Annahme des Mandats und Vorarbeiten – Alle verfügbaren Kontaktdaten aller Beteiligten sind zu ermitteln und aufzunehmen: Name, Anschrift, Telefon, Handy, E-Mail, Jugendamtssachbearbeiter, ggf. Kindergarten, Klassenlehrer. – Die Mandanten sind über Sinn und Zweck dieses neuen kooperativen Modells zu beraten, welches ihnen viel von der Möglichkeit nimmt, Verantwortung schlicht auf den Anwalt zu delegieren. Vielmehr werden die Eltern selbst laufend an ihre Verantwortung für die Lösung des Konflikts erinnert. – Minderbemittelte Mandanten müssen vorsichtshalber auf die Inanspruchnahme von Beratungs- und Schlichtungsangeboten der Jugendämter verwiesen werden, bevor gerichtliche Anträge unter Verfahrenskostenhilfe gestellt werden. Manche Gerichte verweigern die VKH, bevor nicht eine erfolglose Jugendamtsvermittlung nachgewiesen ist2. Für den Anwalt bedeutet das in diesen Fällen, dass er bis zu einem erfolgversprechenden VKH-Antrag auf eine Vergütung nach dem BerHG beschränkt ist.
1 ZB Amtsgerichte Cochem, München, Ebersberg, Augsburg, Fürstenfeldbruck, Rosenheim; vgl. www.muenchener.anwaltverein.de/muenchener.modell. 2 S. dazu Motzer, FPR 2009, 158; in einer Umgangssache hat das OLG Koblenz entschieden, dass Mutwilligkeit dann anzunehmen sei, wenn nicht dargelegt sei, dass die vorherige Anrufung des Jugendamts zur Vermittlung nicht in angemessener Zeit zum Erfolg geführt hätte (11.2.2009 – 11 WF 135/09, FamRZ 2009, 1230).
246
Grisebach
Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 37a
Kap. 5
Antrag – Der Antrag sollte alle Kontaktdaten enthalten. – Der Sachvortrag ist auf das Notwendigste zu beschränken, insbesondere Vorgeschichte, gegenwärtige Situation des Kindes, Antragsanlass, Zielvorstellungen. – Jegliche Polemik, alle Herabsetzungen und verbale Seitenhiebe sind zu unterlassen. – Der Antrag sollte vorab an den zuständigen Sachbearbeiter des Jugendamts gefaxt werden. Erwiderung – Das Gericht terminiert binnen vier Wochen und stellt den Antrag mit der Ladung zu. – Eine schriftliche Erwiderung ist nicht erforderlich, weil das Gericht in der Verhandlung ausgiebig Gelegenheit zur Stellungnahme gewähren soll. – Die bei der Schriftsatzarbeit eingesparte Zeit sollte in die Vorbereitung des Mandanten auf die Verhandlung investiert werden. Termin – Ziel des Vorrang- und Beschleunigungsgebots in § 155 FamFG ist es, faktische Präjudizierungen durch eine lange Verfahrensdauer zu vermeiden1. – Termine werden grundsätzlich nicht, oder nur im Einvernehmen aller Beteiligten verlegt. – Termine finden oft nachmittags statt und können mehrere Stunden dauern. Das stellt erhöhte Anforderungen an die Zeitplanung des Anwalts. – Der Mandant kommt vorwiegend selbst zu Wort. – Der geladene Jugendamtsmitarbeiter gibt einen mündlichen Bericht ab. – Alle Beteiligten sollen sich gemeinsam um eine Lösung bemühen. – Wird eine Vereinbarung noch nicht gefunden, soll das Gericht die Eltern in erster Linie auf außergerichtliche Beratungs-, Hilfs- und Vermittlungsangebote verweisen und für deren Dauer vorläufige Regelungen durch einstweilige Anordnungen treffen2.
1 Vgl. Hennemann, FPR 2009, 20; darin ist der deutsche Gesetzgeber auch durch den EuGHMR bestärkt worden (Entsch. iS Adam v. 4.12.2008 – 44036/02, FamRZ 2009, 1037). Kritisch Rasche, FF 2009, 192: „interdisziplinär verordneter Zwang zum Konsens“. 2 Zum einstweiligen Rechtsschutz s. Löhnig/Heiß, FamRZ 2009, 1101.
Grisebach
247
Kap. 5 Rn. 38
Sorgerecht und Umgangsrecht
Kooperation und außergerichtliche Einigungsbemühungen – In dieser Phase werden die Mandanten erhöhten Beratungsbedarf haben. Bei den Jugendamtsterminen ist der Anwalt nicht beteiligt. – Verweigert sich der Mandant solchen außergerichtlichen Einigungsbemühungen, muss er (mindestens) mit gerichtlichen Kostensanktionen1 rechnen. Termin und gerichtliche Entscheidung – Scheitert eine außergerichtliche Verständigung (die als gerichtliche Regelung protokolliert werden kann), findet ein 2. Termin statt. – Die Kinder sind anzuhören. – Die Gründe für den Dissens sind zu erörtern. – Soweit sinnvoll, wird die Einholung eines Gutachtens angeordnet. – Das Gericht entscheidet durch Beschluss. 2. Stichwortübersicht 38 zu den für Kindschaftssachen wichtigsten Regelungen des FamFG2 Stichwort
FamFG
Inhalt/Besonderheiten
s. auch unter Rn.
– örtlich
§ 152
FamG am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes; während der Anhängigkeit einer Ehesache dieses FamG
80
– sachlich
§ 111 Nr. 2
FamG
Beteiligte
§7
Antragsteller und unmittelbar Rechtsbetroffene (Eltern, Kind) von Amts wegen; Jugendamt auf Antrag
Anwaltszwang
§ 114 Abs. 1
ja, für Hauptsacheanträge in allen 1–6, 15, Familiensachen 19
– bei eAO
§ 114 Abs. 4 Nr. 1
nein, im Verfahren der einstweili- 12 gen Anordnung
Amtsermittlung – Beweismittel
§ 29 §§ 30, 31
Gericht klärt den Sachverhalt 58 ff. v.A.w. auf. Freibeweis möglich, also Glaubhaftmachung durch eidesstattliche Versicherung; diese hat mehr Gewicht als ein kraftvoller Schriftsatz
Zuständigkeit
87, 122, 214
1 Zu den dabei im Rahmen von § 81 Abs. 2 FamFG bedeutsamen Ermessensfragen s. Zimmermann, FamRZ 2009, 377 (380 f.). 2 Die Übersicht folgt in erster Linie dem Aufbau, sodann dem Sachzusammenhang des FamFG v. 17.12.2008, BGBl. I, S. 2586. Näher unten Kap. 12.
248
Grisebach
Sorgerecht und Umgangsrecht Stichwort
Rn. 38
FamFG
Inhalt/Besonderheiten
§ 163 Abs. 3
betroffenes Kind als Zeuge ausgeschlossen
Mitwirkungspflicht § 27
Kap. 5
s. auch unter Rn.
Beteiligte sind zur Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung verpflichtet; Feststellungslast!
6, 126 ff., 134, 291
persönliches Erscheinen
§§ 33 Abs. 1, Beteiligte müssen persönlich er§§ 34 Abs. 1, scheinen und sind grundsätzlich 160 anzuhören;
Anhörung
§ 157 Abs. 1
Erörterung der Kindeswohlgefähr- 148 dung
– Eltern
§ 156 Abs. 3 S. 3
Anhörung des Kindes vor Erlass einer eAO
– Kinder
§ 159
Kinder über 14 Jahren immer; 215 jüngere Kinder, wenn Neigungen, Bindungen oder Kindeswille entscheidungserheblich sind
Entscheidungen
§ 38 Abs. 1
immer durch Beschluss
– Überprüfung v.A.w.
§ 1696 Abs. 3 BGB
Sowohl rechtsändernde Entschei- 156 dungen als auch die Ablehnung solcher Entscheidungen soll das Gericht von sich aus nach angemessener Zeit überprüfen
Einstweilige Anord- §§ 49–57 nungen (eAO)
– Anlass für eAO
– Änderungen
keine Hauptsache erforderlich; Verfahren bleibt stets selbständig (§ 51 Abs. 3, 1); Hauptsache nur auf Antrag (§ 52 Abs. 2); uU Sperrfrist für Hauptsacheantrag (§ 52 Abs. 1, 2); Gericht kann auch Durchführungsanordnungen praktischer Art erlassen; eigene Kostenentscheidung (§ 51 Abs. 4)
215
229
272
8
§ 157 Abs. 3, immer bei Gefährdung des Kin88, 152, 156 Abs. 3 2 deswohls; während der Wirksam- 279 keit eines gerichtlichen Beratungsgebots § 1666 Abs. 3 BGB
für alle hier genannten Maßnah- 80, 152 men ist die eAO das gebotene und geeignete Durchsetzungsmittel
§ 54
auf Antrag; erneute Entscheidung 160 nach nachgeholter mündlicher Verhandlung
Grisebach
249
Kap. 5 Rn. 38
Sorgerecht und Umgangsrecht
Stichwort
FamFG
Inhalt/Besonderheiten
– Anfechtung
§ 57
keine Rechtsmittel gegen ohne 272 mündliche Verhandlung erlassene eAO-Beschlüsse, sondern Antrag auf mündl. Verhandlung, § 54 Entscheidungen nach mündl. Verhandlung sind anfechtbar in Sachen Sorgerecht, Herausgabe des Kindes, Verbleibensanordnung, Gewaltschutz; keine Anfechtung von Umgangsanordnungen
Rechtsmittel (Hauptsache)
§§ 58–75
Beschwerde, auch durch Kinder über 14 Jahren (§ 60) und Jugendamt (§ 59 Abs. 3)
– Abhilfe
§ 68
Nur bei eAO-Entscheidungen nach mündl. Verhandlung; es gelten die Verfahrensgrundsätze für den ersten Rechtszug
– Einlegung
§ 64
beim Erstgericht
– Entscheidung
s. auch unter Rn.
durch das Oberlandesgericht
– Frist
§ 63
bei eAO nach mündlicher Verhandlung zwei Wochen; bei Hauptsache ein Monat
– Begründung
§§ 117 Abs. 1 2, 65
in Familiensachen binnen zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung; sonst Sollvorschrift
– Rechtsbeschwerde
§ 70
nur bei Zulassung; Gründe: grundsätzliche Bedeutung oder notwendige Rechtsfortbildung oder Divergenz; BGH ist an die Zulassung gebunden
Verfahrenskostenhilfe
§§ 76 ff.
wie §§ 114 ff. ZPO
16, 18
§ 78 Abs. 2
Beiordnung wenn Rechtslage, Sachlage oder Tatsachenfeststellung schwierig
19
Kostenentscheidung
§§ 81, 150 Abs. 4
grundsätzlich nach billigem Ermessen, vgl. § 91a ZPO
17
– Erstattungspflicht
§§ 81 Abs. 2, in weiterem Umfang als bei § 13a 17 150 Abs. 4 FGG entscheiden Verfahrenserfolg und Verhalten im Verfahren
250
Grisebach
Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 38
Kap. 5
Stichwort
FamFG
Inhalt/Besonderheiten
s. auch unter Rn.
Rechtsmittel (Kosten)
§ 61
Das bisher in § 20a Abs. 1, 1 FGG enthaltene Verbot der isolierten Anfechtung von Kostenentscheidungen wurde aufgegeben im Hinblick auf die Notwendigkeit, das „billige Ermessen“ in § 81 FamFG überprüfen zu können;
§ 61
Beschwerdewert mind. 600 Euro
– Sanktionen bei prozessualem Fehlverhalten (Kostenpflicht)
§ 81 Abs. 2
Verfahrensanlass aus grobem Ver- 17 schulden, bei Mutwilligkeit, schuldhaft unwahren Angaben, schuldhafter Verletzung von Mitwirkungspflichten, insb. Verweigerung einer gerichtlich angeordneten Beratung nach § 156 Abs. 1, 4
Wirksamkeit
§ 40
alle Entscheidungen in Sorgeund Umgangssachen sind ab Bekanntgabe wirksam und vollstreckbar
Vollstreckung
§§ 86–96
aus Beschlüssen und gerichtlich gebilligten Vergleichen; keine Vollstreckungsklausel, es sei denn auswärtige Vollstreckung
– Ordnungsgeld, Ordnungshaft
§ 89 Abs. 1
insbesondere in Umgangssachen; 270 Ordnungsgeld bis zu 25 000 Euro; Maßnahme ist zugleich Beugemittel und Strafsanktion (!), deshalb keine Erledigung des Vollstreckungsinteresses durch Zeitablauf
– Zwang
§ 90
unmittelbarer Zwang, wenn nicht das Kindeswohl entgegensteht
einzelne Verfahrensgrundsätze
§§ 151–168a
– Verbund
§ 137 Abs. 3
270, 255, 84
271
nur auf Antrag, wenn es dem Kin- 66 f. deswohl entspricht
Grisebach
251
Kap. 5 Rn. 39
Sorgerecht und Umgangsrecht
Stichwort
FamFG
Inhalt/Besonderheiten
s. auch unter Rn.
– Beschleunigung
§ 155, 163
Kindschaftssachen sind vorrangig 5, 15 und beschleunigt zu behandeln; weniger Schriftsätze, mehr mündliche Erörterung; Termin binnen eines Monats; Verlegung nur aus zwingenden Gründen, Terminkollisionen des Anwalts sind kein Grund zur Verlegung; Gutachtern sollen Bearbeitungsfristen gesetzt werden
– gütliche Einigung, Vergleich
§ 156
Gericht soll auf Einvernehmen hinarbeiten; ein Parteivergleich ist gerichtlich zu billigen, wenn das Kindeswohl gewahrt ist
170
– Vermittlung
§ 165
Vormals § 52a FGG: gerichtliche Vermittlung bei Umgangskonflikten
262 ff.
– Verweis auf externe Beratung, Konfliktbeilegung
§ 156 Abs. 1 2, 3
Beratungs- und Hilfsangebote der Jugendämter; Mediatoren
20, 170
– Beratungspflicht
§ 156 Abs. 1 4, 5
Gericht kann Eltern Beratung auferlegen, dies aber nicht mit Zwangsmitteln durchsetzen (s. § 81 Abs. 2)
152
– Verfahrensbeistand („Anwalt des Kindes“)
§ 158
ersetzt den Verfahrenspfleger; Einsetzung ist unanfechtbar (§ 158 Abs. 3, 4); Beistand darf Vermittlungsgespräche nur auf besondere gerichtliche Weisung hin führen
218
– Vergütung des Verfahrensbeistands
§ 158 Abs. 7
einfacher Beistand pauschal 350 Euro inkl. NK, MwSt; erweiterter Beistand 550 Euro inkl. NK, MwSt, in jedem Rechtszug
226
IV. Materielles Recht 1. Sorgerecht 39 Die Legaldefinition des Begriffs der „elterlichen Sorge“ ist in § 1626 BGB enthalten und entspricht – bis auf redaktionelle Änderungen in der Formulierung – dem seit 1980 durch das Sorgerechtsgesetz eingeführten Terminus und Verständnis. Danach haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen. Das umfasst
252
Grisebach
Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 42
Kap. 5
– die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge), wobei diese Aufgabe in Abs. 2 dahin konkretisiert ist, dass die Eltern bei der Pflege und Erziehung die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln zu berücksichtigen haben; – die Sorge für das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge). Wesentliches formelles Instrument hierzu ist die gesetzliche Vertretung des Kindes durch die Eltern, § 1629 BGB. Das Kindschaftsrechtsreformgesetz hat mit Wirkung zum 1.7.1998 den 40 früheren gesetzlichen Fall einer obligatorischen gerichtlichen Sorgerechtsentscheidung im Scheidungsverfahren abgeschafft. Mit der früheren Praxis ging eine mehr oder weniger intensive Überprüfung des „Kindeswohls“ einher, mehr bei kontroversen Anträgen, weniger bei übereinstimmenden. Die Zustimmung zu der früheren Praxis1 war von der Sorge geprägt, dass ein übereinstimmender Vorschlag, es bei der gemeinsamen elterlichen Sorge zu belassen, durch Absprachen, einen wirtschaftlichen Handel oder durch Druck beeinflusst sein könnte. Die damit vorgezeichnete Dominanz des Familiengerichts als Wahrer des Kindeswohls war verbunden mit der zwangsweisen Eröffnung eines Konfliktfeldes, dem die im persönlichen Bereich entzweiten Eltern nicht ausweichen konnten. Das Kindschaftsrechtsreformgesetz hat die Verantwortung für die Wahl 41 des richtigen Sorgerechtsmodells den Eltern zurückgegeben und die obligatorische gerichtliche Kindeswohlkontrolle abgeschafft. Das FamFG schließlich verlangt in § 133 für die Scheidungsantragsschrift nur die Erklärung, ob eine Vereinbarung über das Sorge- und Umgangsrecht (und den Unterhalt) getroffen wurde, ohne dass über den Inhalt berichtet werden müsste. Das soll den Beteiligten in Erinnerung rufen, dass diese Themen von Bedeutung sein könnten. Die Einbeziehung einer Kindschaftssache in den Verbund müsste bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der Ehesache beantragt werden; das Gericht kann die Einbeziehung nur dann ablehnen, wenn es den Verbund aus Gründen des Kindeswohls nicht für sachgerecht hält (§ 136 Abs. 3 FamFG). a) Funktion der elterlichen Sorge Die gesetzliche Normierung des Begriffs der elterlichen Sorge und seiner – bedauerlicherweise unübersichtlich an unterschiedlichen Stellen des Gesetzes verstreuten – Einzelelemente nimmt den Erziehungsauftrag des Art. 6 Abs. 2 GG auf, wonach die Pflege und die Erziehung der Kinder einerseits das natürliche Recht der Eltern sind, anderseits aber auch die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht.
1 Vgl. Deutscher Familiengerichtstag, FamRZ 1997, 337 (340); Salgo, FamRZ 1996, 449 ff.
Grisebach
253
42
Kap. 5 Rn. 43
Sorgerecht und Umgangsrecht
43 Beides, Rechte und Pflichten, steht unter der Aufsicht des Staates. Ziel dieses Zusammenspiels von elterlicher Verantwortung einerseits und begrenzter staatlicher Aufsicht andererseits ist es, dem Kind die Möglichkeit zu geben, sich zur selbstverantwortlichen Persönlichkeit zu entfalten. Dabei arbeitet die Gesetzessystematik mit einem Pflichtennetz für die Eltern, das der altersgemäßen Entwicklung des Kindes entsprechend mit höherem Alter immer weiter wird. Das Ziel ist die stufenweise Erreichung der Selbstbestimmung kraft eigener Persönlichkeit. Die kinderpsychologische Forschung erkennt ein sich mit höherem Alter des Kindes festigendes emotionales Selbstbestimmungsrecht des Kindes an. Das schließt den Anspruch ein, im eigenen Selbstwertgefühl geachtet, im eigenen Willen nicht missachtet oder „entmündigt“ zu werden. Das alles steht neben dem Bedürfnis nach Kontrolle, Anlehnung und Schutz. 44 Neben diesem individuellen Bezug des Elternrechts besteht der gesellschaftliche Bezug des Elternrechts darin, ein wesentliches Element der Familie als soziale Lebenseinheit zu fördern. b) Träger des Sorgerechts 45 Die Träger des Elternrechts sind Mutter und Vater als biologische Erzeuger des Kindes. Sie nehmen das Elternrecht als eigenes Recht wahr, allerdings ausschließlich zugunsten und im Interesse des Kindes. Insoweit sind Eltern in ihrer rechtlichen Funktion mit Treuhändern vergleichbar1. 46 Die beiden Trägerpersonen der elterlichen Sorge, Vater und Mutter, sind in der Gesetzesformulierung verklammert durch den Begriff Eltern, womit einerseits Gleichberechtigung beider Eltern, andererseits strikte Gemeinsamkeit vom Grundsatz her ausgesprochen ist. c) Inhalt der elterlichen Sorge aa) Das „Wohl des Kindes“ als Rechtsbegriff und der Elternkonsens 47 (1) Der Begriff „Wohl des Kindes“ wird vom Gesetzgeber nicht als allgemein übergreifendes Ordnungsprinzip im Sorge- und Umgangsrecht definiert, sondern muss aus den Elementen zahlreicher Vorschriften abgeleitet werden (s. auch Rn. 74 ff.). Gleichwohl wird es in der Praxis seit jeher – auch nach dem Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1.7.1998 – so verstanden. „Jedes Kind hat von Geburt an ein unveräußerliches Recht auf die gelebte Beziehung zu beiden Eltern. Diese Eltern-Kind-Beziehung dauert ein Leben lang und endet nicht mit der Trennung der Eltern. Das Eltern-Kind-Verhältnis ist die Basis für eine gesunde körperliche, seelische und intellektuelle Entwicklung des Kindes. Nur eine positive Entwicklung der Beziehung zu beiden Eltern hat günstige Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl, auf die eigene Beziehungsfähigkeit, auf die 1 Böckenförde, Elternrecht – Recht des Kindes – Recht des Staates, Essener Gespräche 1980, 54 (72 ff.).
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Rn. 51
Kap. 5
Lebenszufriedenheit und die Lebensqualität des Kindes. In diesem Sinne sind die Vorzüge der gemeinsamen elterlichen Sorge gegenüber der Alleinsorge gerade darin zu sehen, dass die Bindungen des Kindes zu beiden Eltern besser aufrechterhalten und gepflegt werden, und dass das Verantwortungsgefühl und damit die Verantwortungsbereitschaft beider Eltern gegenüber dem Kind erhalten bleiben und gestärkt werden können, wodurch sich die Chancen vergrößern, dass das Kind trotz der Trennung zwei in jeder Hinsicht vollwertige Elternteile behält“1.
In § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB zB wird geregelt, dass bei dauernder Tren- 48 nung der Eltern ein Elternteil die Übertragung der elterlichen Sorge auf sich und zugleich die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge verlangen kann. Das setzt – bei Widerspruch des anderen Elternteils oder bei Kindern über 14 Jahren – voraus, dass die Begründung der Einzelsorge und die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge „dem Wohl des Kindes am besten entspricht“. Aus dieser Formulierung drängt sich zwar ein Vorrang der gemeinsamen elterlichen Sorge und ihr Verständnis als Regelfall förmlich auf; sie soll aber so nicht zu verstehen sein (s. Rn. 127). Die gerichtliche Kindeswohlprüfung zB in § 1671 BGB wird erforderlich 49 bei fehlender Zustimmung des anderen Elternteils (oder des älteren Kindes) zur Alleinsorge2 und hat sich am Maßstab des § 1697a BGB auszurichten: „Soweit nichts anderes bestimmt ist, trifft das Gericht … diejenige Entscheidung, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten dem Wohl des Kindes am besten entspricht“. Danach werden elterlicher Konsens und gerichtliche Kindeswohlprüfung zwar als gleichwertig, nicht aber als gleichrangig angesehen. Nach der Vorgabe des Gesetzes soll nämlich eine gerichtliche Kindeswohlkontrolle bei erklärtem elterlichen Konsens über die Belassung der gemeinsamen Sorge oder bei schlichtem Verschweigen des Themas unterbleiben (zum Fall des § 1671 Abs. 3 i.V.m. §§ 1666 ff. BGB s. unten Rn. 65, 97). Der Konsensvorrang enthält allerdings auch eine Konsenspflicht der El- 50 tern (§ 1627 S. 2 BGB), die bis zur Grenze der Zumutbarkeit strapaziert werden soll, bevor das Gericht eine Alleinsorgeentscheidung treffen darf3. Somit ist das „Kindeswohl“ das Prüfkriterium für die kontroversen Fälle streitiger oder gegenläufiger Sorgerechtsanträge.
1 Statt vieler: OLG München v. 15.3.1999 – 26 UF 1502/98, 26 UF 1659/98, FamRZ 1999, 1006 ff. 2 So Palandt/Diederichsen, § 1671 BGB Rn. 11 als Vertreter eines Vorrangs des elterlichen Konsenses. 3 So zB OLG Zweibrücken v. 1.10.1998 – 5 UF 24/98, NJW 1998, 3786; OLG München v. 15.3.1999 – 26 UF 1502/98, 26 UF 1659/98, FamRZ 1999, 1006.
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Kap. 5 Rn. 52
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52 (2) Unter diesem Begriff werden meist1 die folgenden Elemente erörtert: 53 Förderungsprinzip: Bei welchem Elternteil wird das Kind die besseren Entwicklungsbedingungen erhalten, gemessen an der Erziehungsfähigkeit einschließlich der Bindungstoleranz2 der Eltern, ihrer Persönlichkeit und ihren äußeren Lebensumständen? Beispiele: – Die persönliche Betreuung durch einen Elternteil entspricht dem Kindeswohl idR eher als die Fremdbetreuung durch Großeltern oder den neuen Lebenspartner3. – Aber: Die völlige Aufgabe des Anspruchs auf Selbstbetreuung des Kindes im Ehegattenunterhaltsrecht wirkt sich bisweilen auch auf die gerichtliche Abwägung in Sorgerechtsentscheidungen aus. Die Absicht der Fremdbetreuung soll kein Nachteil sein; dagegen lässt sich nur argumentieren, dass der andere Elternteil bereit und in der Lage sei, das Kind persönlich zu betreuen. – Die nicht optimale Wohnsituation eines Elternteils soll regelmäßig nicht den Ausschlag für oder gegen die Zuweisung der Alleinsorge geben4.
54 Kontinuitätsprinzip: Es besteht ein objektives Interesse des Kindes an einer kontinuierlichen persönlichen Entwicklung. Bei welchem Elternteil wird dies am besten gewährleistet? Der Vorteil der Fortdauer der gemeinsamen elterlichen Sorge wird gemeinhin in der Erfahrung gesehen, dass die Fortdauer familiärer und sozialer Bindungen wichtig für eine stabile und gesunde psychosoziale Entwicklung des heranwachsenden Menschen ist. Die Veränderung äußerer Umstände, zB durch Umzug oder Schulwechsel ist an anderer Stelle behandelt (dazu Rn. 166 ff.). Beispiel: Die Wahrung der Erziehungskontinuität kann sich trotz eines vorwerfbaren Fehlverhaltens der Mutter durchsetzen5. Andererseits darf eine beständige Fehlentwicklung nicht hingenommen werden, wenn sie nicht durch andere positive Aspekte aufgewogen wird6.
55 Welcher Elternteil kann Einheitlichkeit, Gleichmäßigkeit und Stabilität der Erziehungsverhältnisse und ihrer äußeren Umstände am besten gewährleisten7? 56 Ein häufiger Wechsel der Bezugs- und Betreuungsperson gilt als schädlich, vor allem bei Kindern im Vorschulalter8. Dabei hat die vertraute
1 2 3 4 5 6 7 8
ZB LG Stade v. 15.6.1998 – 9 T 170/98, FamRZ 1999, 1002. ZB LG Stade v. 15.6.1998 – 9 T 170/98, FamRZ 1999, 1002. BVerfG v. 5.11.1980 – 1 BvR 349/80, FamRZ 1981, 124 (126). OLG Brandenburg v. 26.8.2011 – 13 UF 144/11, Jurion 4K1321069. OLG Bamberg v. 29.3.1995 – 7 UF 265/93, FamRZ 1997, 102. OLG München v. 12.4.1991 – 26 UF 1464/89, FamRZ 1991, 1343 (1345). OLG Düsseldorf v. 1.2.1995 – 3 UF 1/95, FamRZ 1995, 1511 (1513). BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvL 25/80, 1 BvL 38/80, 1 BvL 40/80, 1 BvL 12/81, FamRZ 1982, 1179.
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Umgebung allein eine weit geringere Bedeutung als die gewachsenen Bindungen des Kindes an eine Betreuungsperson1. In der „Standardsituation“, in der ein – nachträglich deshalb meist als 57 überflüssig empfundenes – Sachverständigengutachten den Eltern im Wesentlichen gleiche Erziehungseignung attestiert, folgt unweigerlich regelmäßig die Empfehlung, letztlich dem Kontinuitätsprinzip zu folgen. Es wird damit für die Altersgruppe bis zu sechs Jahren zum entscheidenden Maßstab, wenn es darum geht, welchem von zwei widerstreitenden Sorgerechtsanträgen gefolgt werden soll2. Kindeswille3: Welche Regelung trifft den Willen und die Neigungen des 58 Kindes (s. Rn. 212 ff.)? Darauf Rücksicht zu nehmen, ist ein Gebot der Achtung der Menschenwürde des Kindes. Der Kindeswille allein wird idR nicht ausschlaggebend sein können, wenn es um die Frage der besseren Erziehungseignung eines Elternteils geht. Elternbindung: Zu welchem Elternteil hat das Kind die tragfähigere emo- 59 tionale Beziehung4? Diese Frage hängt eng mit dem Kontinuitätsprinzip zusammen und davon, welche Erziehungs- und Betreuungsanteile der jeweiligen Elternteil bisher im Leben des Kindes gehabt hat. Die Erforschung dieser Frage wird idR auf eine ausgeprägte und gleichmäßige Loyalität des Kindes zu beiden Elternteilen stoßen und bei direkter Befragung des Kindes keine eindeutigen Ergebnisse erbringen.
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Praxistipps: – Die Erhebung eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens sollte wegen der damit verbundenen Belastungen für das Kind und auch die Eltern nur in Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden; auch müssen dessen Kosten bedacht werden. – Will das Gericht zB bei der Beurteilung der Bindungstoleranz oder der Elternbindung von einem Gutachten absehen, muss es begründen, warum es selbst die erforderliche Sachkunde hat5. Auch darf nicht ohne Begründung unterstellt werden, dass etwa der Verfahrensbeistand diese Sachkunde habe.
Bei gleich starken Bindungen kann entscheidend sein, in welchem Maße die Eltern selbst dem Kind emotional zur Verfügung stehen6.
1 OLG Brandenburg v. 1.3.2001 – 9 WF 177/00, FamRZ 2001, 1021 (1022). 2 Statt vieler OLG Brandenburg v. 8.2.2001 – 9 WF 177/00, FamRZ 2001, 1021. 3 Dazu grundlegend BVerfG v. 27.6.2008 – 1 BvR 311/08, FamRZ 2008, 1737 = FamRB 2008, 334. 4 Vgl. FamRefK-Rogner, vor § 1671 BGB Rn. 16. 5 BVerfG v. 18.5.2009 – 1 BvR 142/09, FamZ 2009, 1389 (1390). 6 Vgl. OLG Düsseldorf v. 1.2.1995 – 3 UF 1/95, FamRZ 1995, 1511 (1513); dazu Kemper, FuR 1996, 151.
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61 Geschwisterbindung1: Kinder, die zusammen aufwachsen, helfen einander, das traumatische Erlebnis der Elterntrennung zu bewältigen oder abzumildern. Sind diese Kinder altersmäßig auch noch eng beieinander2, so können dies starke Gründe dafür sein, zumindest beim Aufenthaltsbestimmungsrecht einem Elternteil den Vorzug zu geben. Immer mehr Bedeutung erlangt die Bindungstoleranz (vgl. § 1684 Abs. 2 S. 1 BGB)3, dazu näher unten Rn. 83 f.
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Praxistipps: – Bei der Überprüfung von Sachverständigengutachten zu beachten: Das Gericht muss eine Gesamtabwägung4 vornehmen unter allen diesen Kriterien. Deshalb sollten sie in dem zurate gezogenen Sachverständigengutachten möglichst vollständig abgehandelt werden. – Der Anwalt muss die übliche Vorgehensweise und die Sicht der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf die sorge- und umgangsrechtliche Praxis5 kennen. Nur dann ist eine Einschätzung des Werts eines Gutachtens für das Mandat möglich. Auch gilt es, für die Erwartungen des Mandanten eine realistische Betrachtung zu ermöglichen.
62 Unter den genannten Prinzipien gibt es kein Rangverhältnis. Allerdings ist der Kindeswille bei unter 14 Jahre alten Kindern schon nach dem Gesetzeswortlaut weniger beachtlich. Das Förderungsprinzip wird vor allem in seiner äußeren, materiellen Ausprägung von der familienpsychologischen Gutachterpraxis als nachrangig zu den emotionalen Bindungen des Kindes angesehen. Je jünger die Kinder sind und bei im Wesentlichen gleicher Erziehungseignung beider Eltern wird dem Kontinuitätsprinzip entscheidende Bedeutung eingeräumt6. 63 (3) Der Vorrang des Elternkonsenses gilt jedoch nicht schrankenlos. Nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG steht dem Staat das Wächteramt über das Kindeswohl zu. Dieses ist vor allem durch die Eingriffsnormen der §§ 1666 ff. und 1696 BGB geprägt7. 1 OLG Brandenburg v. 6.9.2011 – 10 UF 74/10, Jurion 4K3141071; Spangenberg/ Spangenberg, Geschwisterbindung und Kindeswohl, FamRZ 2002, 1007. 2 Ist das nicht der Fall, soll die Bedeutung der Geschwisterbindung stark relativiert sein: OLG Zweibrücken v. 17.8.2000 – 5 UF 66/99, FamRZ 2001, 184 (185). 3 Vgl. BGH v. 16.3.2011 – XII ZB 407/10, Tz. 53–58, FamRZ 2011, 796; dazu Coester, FF 2011, 285 (287 f.). 4 S. zB OLG Brandenburg v. 16.4.2008 – 9 UF 191/07, FamRZ 2008, 1474: Bei im Wesentlichen gleicher Erziehungseignung der Eltern geben Nuancen den Ausschlag, etwa der entspanntere flexiblere Umgang des einen mit den Bedürfnissen des anderen Elternteils. 5 Dazu Kölch/Fegert, FamRZ 2008, 1573. 6 OLG Brandenburg v. 1.3.2001 – 9 WF 177/00, FamRZ 2001, 1022; Völker/Clausius, Sorge- und Umgangsrecht in der Praxis § 1 Rn. 208. 7 Von Verfassungs wegen sollen die Gerichte nur in schwerwiegenden Fällen in die elterliche Sorge eingreifen: BVerfG v. 19.12.2007 – 1 BvR 268/07, DRsp
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Rn. 68
Kap. 5
Dabei folgt aus dem Wesen der Eingriffsnormen, dass dem Familiengericht 64 keine allgemeine Plausibilitäts, Zweckmäßigkeits- oder Optimierungskontrolle hinsichtlich der elterlichen Entscheidungen zufällt, sondern nur eine anlassbezogene Kontrolle. Während bis dahin im Zusammenhang mit dem Zweck des § 1666 BGB von einer Missbrauchskontrolle gesprochen wurde, definiert das KiWoMaG v. 4.7.2008 (BGBl. I 2008, 1188) das staatliche Wächteramt im Zusammenhang von § 1666 BGB weiter1: – Nicht mehr die Sanktion eines elterlichen Versagens steht im Mittelpunkt2, sondern die Sicherstellung der Grundbedürfnisse des Kindes vor dem Hintergrund einer erwartbaren Entwicklung, wenn eine Gefährdung des Kindeswohls als möglich erkannt wurde. – Alle Eingriffe des Gerichts in die elterliche Sorge stehen unter dem Prinzip der Nachrangigkeit gegenüber dem realistischerweise zu erwartenden elterlichen Handeln. In erster Linie sollen die Eltern Gefahren für das Kind abwehren, vor allem, wenn sie diese, verschuldet oder nicht, selbst geschaffen haben. – Das Familiengericht soll in enger Zusammenarbeit mit dem Jugendamt eingreifen, wenn eine doppelte Prognose negative Ergebnisse erbracht hat: Man muss eine Gefährdung des Kindeswohls i.S. einer Entwicklungsstörung für möglich halten und eine mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit der Eltern erkennen, diese Gefährdung abzuwenden. (4) Der Gesetzgeber bestimmt einen Vorrang des Elternkonsenses gegen- 65 über dem staatlichen Wächteramt über das Kindeswohl, wenn es um die Beibehaltung der elterlichen Sorge im Zuge eines Scheidungsverfahrens geht, § 1671 BGB. Besteht der Elternkonsens darin, dass (stillschweigend) die gemeinsame elterliche Sorge beibehalten wird, findet eine gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung nicht statt. Ausnahme: Dem Gericht werden zufällig oder auf Hinweis des Jugendamts offenkundig dem Kindeswohl abträgliche Umstände bekannt, die einen Eingriff von Amts wegen nach § 1666 ff. BGB rechtfertigen.
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Besteht der Konsens darin, dass ein Elternteil die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den anderen Elternteil ausdrücklich billigt, hat das Gericht das idR hinzunehmen, ohne in eine Kindeswohlprüfung einzutreten.
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Nach § 1671 Abs. 3 BGB ist das nur dann anders, wenn es zwingend ist, 68 den unstreitigen Alleinsorgeantrag „nach anderen Vorschriften“ abzuweisen und die elterliche Sorge in bestimmter Weise anders zu regeln. Liegen 2008/1905; die Schwelle zur Prüfung der Notwendigkeit von Eingriffen ist deutlich gesenkt worden. S. dazu Rn. 153 ff. 1 S. dazu Meysen, NJW 2008, 1188. 2 Das Verhalten der Eltern in der Vergangenheit soll nur noch eine indizielle Rolle spielen; vgl. schon OLG Hamm v. 30.8.2005 – 1 UF 181/04, FamRZ 2006, 1476.
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Kap. 5 Rn. 69
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diese hohen Eingriffsvoraussetzungen vor und hält das Gericht den anderen Elternteil für geeigneter, so bedarf es keines förmlichen Antrags. Damit erhalten die in § 1671 Abs. 3 BGB berufenen §§ 1666 ff. BGB den Charakter von Ultima-Ratio-Eingriffsnormen. 69 (5) Der Staat als Wächter über das Kindeswohl zieht sich auch auf die unterstützende, die Entscheidung der Eltern nur fördernde Funktion zurück, wenn streitige Sorgerechtsfälle nach § 21 FamFG ausgesetzt werden können, damit fachkundige Hilfe (Beratung durch das Jugendamt, Mediation) in Anspruch genommen werden kann. Der mit dem „Vorzeigen“ dieses Mittels verbundene mittelbare Druck auf die Eltern kann für die Einigung der Eltern förderlich sein (s. hierzu und zum Folgenden näher Rn. 152 f.).
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Praxistipps: – Aus dieser Subsidiarität des familiengerichtlichen Eingreifens folgt in der Beratungspraxis die Notwendigkeit, mit den Eltern oder dem jeweiligen Mandanten-Elternteil die praktischen Fragen einerseits der gesetzlich angeordneten Selbstverantwortung, andererseits der niedrigen Überprüfungsschwelle für staatliche Maßnahmen rechtzeitig zu besprechen. – Falsche Erwartungen verhindern: Immer noch weit verbreitet ist die Erwartung, dass mit dem Gang zum Anwalt oder zu Gericht eine umfassende Lösung des familienrechtlichen Konflikts von Amts wegen frei Haus geliefert werde, einschließlich der Erfüllung des dringlichen Wunsches, dass der andere Elternteil vom Gericht deutlich in die Schranken gewiesen werde. Die Erwartung, in allen Konfliktlagen stets schnelle und wirksame „Hilfe“ durch das Familiengericht erlangen zu können, darf nicht leichtfertig genährt werden. Sie erweist sich in vielen Fällen als trügerisch und im Ergebnis als enttäuschend. Den Mandanten muss klargemacht werden, dass das Familiengericht nicht dazu da ist, jedes Versäumnis der Eltern oder jeden Fehler eines Elternteils zu korrigieren. – Falsche Erwartungen können zu Störungen des Vertrauensverhältnisses des Mandanten zum Anwalt führen. Das ist vermeidbar durch frühzeitige Beratung über das Wesen, die Chancen und die Gefahren der gesetzlich vorgegebenen elterlichen Selbstverantwortung bei der Wahrung und Verteidigung des „Kindeswohls“.
bb) Elemente des Kindeswohls 70 Die Ausübung der elterlichen Sorge zielt auf die Verwirklichung des Kindeswohls. Die (nicht im Gesetz, sondern von Praxis und Rechtsprechung formulierten) Elemente des Kindeswohls sind:
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Rn. 76
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(1) Die Sicherung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes1, was den 71 Schutz vor Verletzungen sowohl durch Dritte als auch durch die Eltern selbst umfasst, die Gewährleistung der Heilfürsorge, wie medizinische Behandlungen und Operationen, sowie die Gesundheitsvorsorge. Waren früher „entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere kör- 72 perliche und seelische Misshandlungen … unzulässig“, so begründet die seit 8.11.2000 geltende Neufassung des § 1631 Abs. 2 S. 2 BGB das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung, indem nun jede Art von körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen unzulässig ist, auch wenn sie nicht die Intensität von Misshandlungen erreichen. Beispiel: Unzulässig dürften sein der Klaps auf das Gesäß, das feste Zugreifen am Oberarm und die „leichte“ Ohrfeige, kränkende und herabsetzende Verhaltensweisen, Kälte im Umgang, Einsperren im Dunkeln, Gefährdungen und Verletzungen des kindlichen Selbstbewusstseins und Ehrgefühls2.
Sanktionen3: Der bloße Appellcharakter der Regelung erweist sich an der 73 Sanktionenregelung. Danach sind keine eigenen Erfüllungs-, Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche des Kindes begründet. Diese werden verdrängt durch die Spezialregelung der staatlichen Missbrauchsaufsicht in § 1666 BGB. Diese einzige Form des Rechtsschutzes (s. Rn. 153 ff.) greift nur dann, wenn im Einzelfall eine Gefährdung des Kindeswohls möglich erscheint. Die Kindeswohlgefährdung wäre gewissermaßen indiziert, weil das Gericht bei diesem Tatbestandsmerkmal die Wertentscheidung des Gesetzgebers in § 1631 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen hat. (2) Die Gewährleistung der geistigen Freiheit und Entwicklungsmöglich- 74 keit (Grundrecht), also die Erziehung mit schulischer Ausbildung sowie einer den Neigungen des Kindes entsprechenden Berufsausbildung. (3) Die Förderung der seelischen und emotionalen Entwicklung und Ori- 75 entierung des Kindes, also die Vermittlung von Werten, die Gewährung der Freiheit, sich den eigenen Emotionen entsprechend zu orientieren und zu binden. Zu diesem wohl aus § 1626 Abs. 2 BGB herzuleitenden Pflichtenbereich gehören auch die Betreuung und Unterstützung in Status- und Namensfragen sowie die speziell im Gesetz über die religiöse Kindererziehung (KErzG)4 geregelten Fragen der religiösen und weltanschaulichen Orientierung. (4) Das Bedürfnis des Kindes nach Zuwendung: Es sind Verhaltensweisen zu unterlassen, die zu einer körperlichen oder seelischen Isolierung des 1 2 3 4
Vgl. näher Huber/Scherer, FamRZ 2001, 797. Vgl. Palandt/Diederichsen, § 1631 BGB Rn. 7. Zum Strafrechtsschutz s. näher Hoyer, FamRZ 2001, 521. V. 15.7.1921, i.d. im RGBl., 939 veröffentlichten Fassung, zuletzt geändert durch Art. 63 des FGG-RG v. 17.12.2008 (BGBl. I, 2586); Schwab, FamRZ 1998, 345.
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Kap. 5 Rn. 77
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Kindes führen können (Grundrecht der Menschenwürde). Die Sicht des Kindes wird vielfach nachhaltig geprägt durch „schlechte Erfahrungen“. So empfindet das Kind den Auszug eines Elternteils („Verlassen des Partners“ aus der Erwachsenensicht) als gegen sich selbst gerichtet. Der beste Ausgleich in dieser Situation ist immer noch das gemeinsame Vermitteln der Gründe für die Trennung (s. Rn. 256 f.). 77 (5) Die Vermögenssorge (§ 1626 Abs. 1 S. 2, Alt. 2 BGB). Sie richtet sich auf die Betreuung, Bewahrung und Mehrung des dem Kinde gehörenden und zufließenden Vermögens, die Sicherstellung der finanziellen Mittel für den Lebensunterhalt sowie die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen (s. Rn. 196 ff.). Das formale Werkzeug dazu bietet die gesetzliche Vertretung, geregelt in § 1629 BGB. 78 (6) Die Gewährleistung eines Schutzes vor dem Versagen der Eltern selbst, sei es der betreuenden Person, sei es des anderen Elternteils. Die Gemeinsamkeit der elterlichen Sorge soll damit auch einen gegenseitigen Ausgleich von Schwächen, Fehlern und Defiziten beinhalten. 79 (7) Ist das geistige oder körperliche Wohl des Kindes durch Dritte bedroht, umfasst die elterliche Sorge in formeller und materieller Hinsicht jegliche Maßnahme, diese Gefahren abzuwehren, künftige Gefahren zu verhindern und Kompensation für bereits eingetretene Schäden zu verlangen. 80 (8) Die in der Praxis idR wichtigste Befugnis der Inhaber der elterlichen Sorge ist das Aufenthaltsbestimmungsrecht (§ 1631 Abs. 1 BGB). Es umfasst die Befugnis zu bestimmen, wo, an welchem Ort und ggf. bei welchem Elternteil, Verwandtenteil oder bei welcher Pflegeperson das Kind leben soll. Die Befugnis reicht bis zur Anordnung und Genehmigung ganz oder teilweise freiheitsentziehender Unterbringung. Umgekehrt setzt der systematisch benachteiligte Umgangsberechtigte hier an und verlangt als Gegenmittel die Entziehung und Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts. Hierfür kann auch vorläufiger Rechtsschutz durch einstweilige Anordnung in Betracht kommen1. Das (Dritten übertragene) Aufenthaltsbestimmungsrecht ändert nichts am Fortbestehen des Sorgerechts. Mit dem Inhaber des Sorgerechts teilt das Kind auch den Wohnsitz (§ 11 BGB). Deshalb schafft die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts keinen neuen Wohnsitz des Kindes und damit keine neue Gerichtszuständigkeit2.
1 Vgl. OLG Köln v. 11.1.2006 – 4 UF 229/05, FamRZ 2006, 1625; OLG Zweibrücken v. 25.1.2006 – 5 WF 2/06, FamRZ 2006, 872 = FamRB 2006, 239. 2 OLG Karlsruhe v. 1.2.2005 – 16 UF 267/04, FamRZ 2006, 486 = FamRB 2006, 80.
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Rn. 81
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cc) Wechselbeziehungen zwischen Sorgerecht und Umgangsrecht Die Gewährleistung der sog. Bindungsfreiheit des Kindes in § 1626 Abs. 3 81 BGB beinhaltet den Umgang des Kindes mit beiden Elternteilen als Bestandteil des Kindeswohls. Das gilt auch für die Respektierung von Bindungen des Kindes zu anderen Personen. Über die Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen Sorge-„Berechtigung“ und Umgangsrecht des nicht betreuenden Elternteils herrschen häufig Missverständnisse, die erhöhtes Konfliktpotential und damit Beratungsbedarf schaffen1.
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Praxistipps: – Der Anwalt sollte die spannungsgeladenen Situationen vor einem Umgangstermin oder bei der Übergabe des Kindes mit den Mandanten durchspielen. Nicht nur gezielt abfällige Bemerkungen über den anderen Elternteil sind zu vermeiden. Auch weniger deutliche ablehnende Reaktionen des eines Elternteils gegenüber dem anderen bleiben dem Kind nicht verborgen, es spürt die Ablehnung und macht sie sich entweder unbewusst zu Eigen oder ist in seinem Vertrauen zum nicht betreuenden Elternteil zumindest verunsichert2. – Es sollte auf einen Blickwechsel vom „eigenen Recht auf das Kind“ zum „Recht des Kindes auf Teilhabe an beiden Eltern“ hingewirkt werden. Indem beide Eltern ihr vermeintlich gutes „Recht“ auf das Kind geltend machen, stürzen sie es in einen Loyalitätskonflikt. Dieser kann nur bei frühzeitiger Offenlegung durch die Berater entschärft werden; später sind die Folgen oft nur noch mit therapeutischen Mitteln zu behandeln. Damit kann einer beharrlichen Vereitelung des Umgangs durch einen Elternteil vorgebeugt werden. Ein solches massives Fehlverhalten kann für eine Änderung der Sorgerechtszuständigkeit und die Anordnung einer Umgangspflegschaft ausreichen. Diese Eingriffsschwelle ist allerdings nur bei wirklich triftigen, das Kindeswohl nachhaltig berührenden Gründen erreicht, § 1696 BGB3. Diesen Zusammenhängen sollte in der Beratung der Parteien vor Einleitung förmlicher gerichtlicher Anträge besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Bei (noch) bestehender gemeinsamer elterlicher Sorge besteht die Ausgangshaltung des „antragswilligen“ Elternteils fast immer im Einfordern von „Rechten“, die Haltung des betreuenden Elternteils in der Verteidigung der eigenen hohen Meinung von sich selbst bei der Erfüllung der Elternpflicht. Am Ende stehen sich zwei kontroverse Alleinsorgeanträge nach § 1671 BGB gegenüber, die mit massiven Vorwürfen über die mangelnde Kooperationsfähigkeit des jeweils anderen Teils unterlegt werden.
1 Jaeger, FPR 2005, 70. 2 Völker/Clausius, Sorge- und Umgangsrecht in der Praxis § 2 Rn. 16. 3 OLG Köln v. 24.4.1998 – 25 UF 186/97, FamRZ 1998, 1463.
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Kap. 5 Rn. 81a
Sorgerecht und Umgangsrecht
81a
Deckt man diese Zusammenhänge mit mediativen Gesprächsansätzen (s. dazu Rn. 21) auf, so kann es gelingen, die Sachebene „Kind“ von der persönlichen Beziehungsebene zu trennen, den Unterschied zwischen der „Position“ Sorgerecht und dem eigentlichen „Interesse“ (mehr und freierer Umgang einerseits, Respekt vor der eigenen Betreuungsleistung andererseits) deutlich zu machen.
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Dabei helfen als Einstieg eine Belehrung über die Struktur der gesetzlichen Zuständigkeitsverteilung nach § 1687 BGB (s. Rn. 100) und ein Hinweis auf § 1626 Abs. 3 S. 1 BGB, wonach zum Wohle des Kindes auch der Umgang mit beiden Elternteilen gehört. Damit ist die Förderung (nicht nur die bloße Duldung)1 des Umgangs des Kindes mit dem nicht betreuenden Elternteil eine Pflichtaufgabe des sorgeberechtigten Elternteils.
82 Sorgerecht und Umgangsrecht als absolute (aber im Drittinteresse des Kindes auszuübende) Rechte beschränken sich gegenseitig; insbesondere schränkt das Umgangsrecht des einen das Sorgerecht des anderen Elternteils ein2. Umgekehrt ist die Ausübung des Umgangsrechts ebenfalls Pflichtaufgabe des nicht betreuenden Elternteils3. 83 Die Entwicklung und ggf. Einübung der eigenen Bindungstoleranz des betreuenden Elternteils, dh. das Tolerieren der Bindungen des Kindes an den anderen Elternteil, und, weitergehend, die aktive Förderung des Umgangs des Kindes mit dem anderen Elternteil (§ 1684 Abs. 2 BGB) bis hin zu der Qualität, die Zufriedenheit sowohl bei dem anderen Elternteil als auch bei dem Kind auslöst, sollte nicht nur als Pflicht begriffen werden, sondern als eines der wirksamsten Mittel zur Entspannung des gesamten Familienkonflikts.
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Praxistipps: – Ergibt die Ermittlung des Gerichts oder des Gutachters eine im Wesentlichen gleiche Erziehungseignung beider Eltern, so kann für den betreuenden Elternteil entscheidend sein, ob er darlegen kann, dass er alle Anstrengungen unternommen hat, um den geregelten Umgang des Kindes mit dem anderen Elternteil zu gewährleisten und zu fördern, indem das Kind zur Inanspruchnahme des Umgangs motiviert wird. Dies ist ein wesentlicher Teil der für die Bindungstoleranz zugrunde zu legenden elterlichen Fähigkeiten4.
1 AG München v. 10.3.1999 – 561 F 6502/98, DAVorm 1999, 310. 2 HM, zB BGH v. 21.10.1964 – IV ZB 338/64, BGHZ 42, 364; BGH v. 13.12.1968 – IV ZB 1035/68, BGHZ 51, 219. 3 § 1684 Abs, 1 Halbs. 2 BGB; AG Detmold v. 26.8.1998 – 16 F 165/97, FF 1999, 29 (30). 4 OLG Brandenburg v. 1.3.2001 – 9 WF 177/00, FamRZ 2001, 1021; mangelnde Bindungstoleranz gelte hingegen als starkes Indiz gegen die Erziehungseignung mit der Folge, dass eine Übertragung des Sorgerechts auf den anderen Elternteil in Frage kommt: OLG Brandenburg v. 2.10.2007 – 15 UF 71/07, DRsp 2007/22302.
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Rn. 84a
Kap. 5
– Die Fehlvorstellung, das Umgangsrecht des anderen sei gewissermaßen die Belohnung für dessen Wohlverhalten, kann für den allein Sorgeberechtigten schwere Einbußen seiner Befugnisse zur Folge haben, zB den Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts1. – Nicht selten geht damit auch eine befristete entspannende Entlastung des betreuenden Elternteils einher, der die gewonnene Zeit für sich selbst einsetzen kann. So kann die Analyse der Gründe für die Zurückhaltung einer Mutter gegenüber dem Wunsch des Vaters nach mehr oder zusätzlichem Umgang ergeben, dass dahinter der Vorwurf steckt, der Vater habe sich ja früher nie um das Kind gekümmert. – Indem man dafür wirbt, dass mehr Aufenthalte des Kindes beim Vater auch mehr Freizeit und Entlastung für die Mutter bedeuten, kann der Konflikt um den alten Vorwurf pragmatisch entschärft werden. (1) Vorsorgende Konfliktvermeidung Bindungstoleranz ist weit mehr als das allein schon durch die „gute Kin- 84 derstube“ gebotene Unterlassen abfälliger Bemerkungen über den anderen Elternteil, nämlich das Zulassen von Post- und Telefonkontakten, die Annahme und Weiterleitung von Geschenken. In geeigneten Fällen sollte man geradezu zu ihrem taktischen Einsatz raten. Der beratende Rechtsanwalt sollte sich hier mit offener Kritik und Hinweisen zur Verbesserung nicht zurückhalten. Es können damit nicht nur (ihrerseits oft taktisch motivierte) Alleinsorgeanträge des anderen Elternteils überflüssig gemacht werden. Der mit großzügigem Umgangsrecht bedachte Elternteil wird dies meist mit seiner Zustimmung zum Alleinsorgeantrag des betreuenden Teils belohnen, oder, im Idealfall, es kann einvernehmlich bei der gemeinsamen elterlichen Sorge verbleiben. Elternvereinbarungen, so sehr sie auch unter dem elterlichen Konsensvorrang zu begrüßen sind, schaffen leider keine verlässliche Rechtssicherheit. Die Haltung des BGH ist nicht eindeutig2.
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Praxistipp: Enthält die Einigung nur Regelungen über den Umgang und eine Herausgabe des Kindes, ist bereits das gerichtlich formlos gebilligte Vergleichsprotokoll („Vermerk“) Vollstreckungstitel, § 86 Abs. 2 S. 1 FamFG3.
1 KG v. 24.4.2008 – 19 UF 12/08, FamRZ 2008, 2054. 2 BGH v. 16.3.2011 – XII ZR 407/10, Tz. 76–78; dazu Coester, FF 2011, 285 (288 f.). 3 Dazu Haußleiter, NJW-Spezial 2011, 68.
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84a
Kap. 5 Rn. 84a
Sorgerecht und Umgangsrecht
Mustervereinbarung1 Gemeinsame elterliche Sorge Vorbemerkung Wir, V und M, die Eltern der Kinder A und B, wollen uns bei der Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge an die nachfolgende Vereinbarung halten. Wir verpflichten uns, die Umgangsregelungen dieser Vereinbarung in dem anhängigen Gerichtsverfahren 2 F 123/09 zu Protokoll des Gerichts zu erklären und eine Übernahme als gerichtlichen Beschluss herbeizuführen2. Wir sind darüber belehrt worden, dass diese Vereinbarung zwar jederzeit widerruflich ist; wir vereinbaren aber, dass ein etwaiger Widerruf nur auf triftige Gründe des Kindeswohls gestützt werden soll3. 1. Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge a) Wir bleiben auch nach der Trennung unserer persönlichen Beziehung Eltern unserer Kinder und wollen die elterliche Sorge gemeinsam ausüben. b) Wir werden unser Verhalten zueinander und zu unseren Kindern darauf ausrichten, die Beziehung unserer Kinder auch zum jeweils anderen Elternteil zu fördern, und verpflichten uns, alles zu unterlassen, was diese Beziehung beeinträchtigen könnte. c) Wir werden bei der Gestaltung unserer gemeinsamen Elternverantwortung das Privatleben des jeweils anderen Elternteils respektieren. 2. Lebensmittelpunkt Wir sind uns einig darüber, dass unsere Kinder bei M wohnen und dort ihren Lebensmittelpunkt haben. 3. Umgangsregelungen a) Soweit wir nichts anderes vereinbaren, gelten die Regeln unter b) und c); auf Wunsch eines Partners soll diese andere Vereinbarung schriftlich, auch per Fax oder E-Mail, getroffen werden. b) V beschäftigt sich in der Umgangszeit persönlich mit den Kindern und überlässt dies nicht Dritten. c) V hat das Recht und die Pflicht, mit den Kindern alle zwei Wochen von Freitag 14 h bis Sonntag 18 h zusammenzusein. V soll die Kinder am Freitag von der Schule abholen und am Sonntag wieder zur Wohnung von M zu1 Gebühren: Der Abschluss einer Vergütungsvereinbarung ist anzuraten, andernfalls fällt die Geschäftgebühr VV 2300 an; für den Umgangsteil zusätzlich die reduzierte Verfahrensgebühr (0,8) nach VV 3101 Nr. 3, auf die aber nach Vorb. 3 Abs. 4 die Hälfte der Geschäftsgebühr anzurechnen ist. Die Einigungsgebühr ist für den Umgangsteil (Ziff. 3) nach VV 1003 Abs. 2, im Übrigen nach VV 1000 S. 20 zu berechnen, maximal jedoch 1,5 aus Gesamtstreitwert. 2 Eine privatschriftliche oder notarielle Vereinbarung wäre nicht vollziehbar, dh. Vertragsverletzungen könnten nicht sanktioniert werden. 3 OLG Rostock v. 3.12.2007 – 10 WF 136/07, FamRZ 2008, 793 bemerkt, es sei umstritten, ob ein freier Widerruf oder nur ein solcher aus Gründen des Kindeswohls zulässig sein soll. Dagegen hält das OLG Brandenburg v. 10.12.2007 – 9 WF 367/07, FamRZ 2008, 2055 generell alle Elternvereinbarungen nur analog § 1696 BGB, also aus triftigen Gründen des Kindeswohls, für abänderbar.
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Rn. 84a
Kap. 5
rückbringen. Dieser Turnus beginnt am Wochenende nach Abschluss dieser Vereinbarung. d) In den Schulferien können die Kinder jeweils in der ersten Hälfte bei V sein. Die genauen Termine sollen wenigstens zwei Monate vorher schriftlich abgesprochen werden, um uns beiden eine zeitige Urlaubsplanung zu ermöglichen. Beabsichtigt V eine Reise mit den Kindern, informiert er M rechtzeitig über seine Pläne und den Aufenthalt der Kinder. e) Wir werden diese Regel und die Termine mit unseren Kindern besprechen und ihnen vermitteln, dass die vereinbarten Besuche bei V einem gemeinsamen Wunsch von uns beiden Eltern entsprechen und sie sich daran zu halten haben. Wir vermitteln unseren Kindern ferner, dass sie den Wunsch nach spontanen Zwischendurchbesuchen mit uns absprechen, und dass wir keine Heimlichkeiten hinter dem Rücken des anderen Elternteils wünschen. f) Ist V an einem Termin verhindert, soll dies rechtzeitig mitgeteilt und möglichst ein Ersatztermin vereinbart werden. Ist dies nicht möglich, besteht kein Anspruch auf Nachholung. Ist ein Kind krankheitshalber verhindert, soll der Grund unverzüglich mitgeteilt, auf Wunsch nachgewiesen und ein Ersatztermin nach Genesung vereinbart werden. g) Geburtstage verbringen unsere Kinder dort, wo sie sich gerade turnusgemäß aufhalten. Weihnachten und Ostern1 sollen abwechselnd bei V und M verlebt werden. h) Besuche bei den Eltern von V sind während seiner Besuchszeiten jederzeit möglich, Besuche bei anderen Personen sollen vorher mit M abgestimmt werden. i) Briefe werden ungeöffnet weitergeleitet; Telefonkontakte2 sind zu vorher abgesprochenen Zeiten möglich. 4. Information, Schule, Einwilligungen, Vollmacht3 a) Wir werden Elternabende möglichst im Wechsel wahrnehmen. Die Betreuungseinrichtungen werden von uns angewiesen, V jederzeit4 Auskunft über schulische und persönliche Belange der Kinder zu erteilen. b) Schulwechsel, Fächerabwahl, Ortswechsel (Umzug) und operative ärztliche Eingriffe werden gemeinsam vereinbart. Im Übrigen erteilen wir uns – auf Wunsch auf gesonderten Urkunden – gegenseitig Vollmacht, den anderen Elternteil in allen anderen persönlichen Angelegenheiten der Kinder zu vertreten.
1 Vgl. auch OLG Stuttgart v. 3.5.1999 – 15 WF 183/99, FamRZ 2000, 50. 2 Vgl. KG v. 28.10.2005 – 13 UF 119/05, FamRZ 2006, 878. 3 Zur Abgrenzung der Handlungsbefugnisse getrenntlebender Eltern s. Rn. 100 ff.; näher zur Sorgerechtsvollmacht Hoffmann, FamRZ 2011, 1544. 4 Vgl. § 1686 BGB und Rn. 113. Bei fehlendem Einvernehmen und persönlichem Kontakt wird keineswegs alle zwei Wochen, sondern eher alle drei Monate ein Bericht geschuldet. Die Möglichkeit, sich in zumutbarer Weise selbst die gewünschten Informationen anderweitig zu beschaffen, ist in Rechnung zu stellen, vgl. OLG Brandenburg v. 26.7.2007 – 9 UF 87/07, FamRZ 2008, 638.
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Kap. 5 Rn. 85
Sorgerecht und Umgangsrecht
5. Unterhalt für die Kinder Soweit nicht eine gesonderte Unterhaltsregelung getroffen ist, zahlt V Unterhalt nach der Düsseldorfer Tabelle zu Händen von M jeweils monatlich im Voraus. Auf Wunsch von M soll hierüber eine vollstreckbare Jugendamtsurkunde errichtet werden. Mehrbedarf (zB Nachhilfe, musische Förderung, Schullandheim) und Sonderbedarf (zB Selbstbeteiligung an Zahnbehandlung, Therapiekosten) können nur verlangt werden, wenn der Bedarf vor Fälligkeit angemeldet und nachgewiesen ist. 6. Konfliktbeilegung Wir verpflichten uns, Meinungsverschiedenheiten und Änderungswünsche möglichst außergerichtlich zu behandeln, ggf. mit Hilfe unserer Anwälte oder eines neutralen Dritten (Mediation).
(2) Verhalten bei Störungen 85 Kommt es nicht zu einer Kommunikation zwischen den Eltern oder, besser, zu einer solchen Vereinbarung, sind Kinder und nichtbetreuender Elternteil meist machtlos gegenüber den oft schon ritualisierten Mustern der Verweigerung oder Vereitelung des Umgangsrechts. Das gilt auch, wenn mühsam und langwierig erkämpfte gerichtliche Umgangsregelungen ohne positiven Einfluss auf das Verhalten des widerstrebenden Elternteils bleiben1. 86 Der nicht ständig betreuende Elternteil könnte zum einen den Versuch einer Änderung der Sorgerechtslage unternehmen. Er wird behaupten und versuchen zu belegen, dass das Verhalten des anderen (mit sorgeberechtigten) Teils eine Schädigung des Kindeswohls und eine schwere Verletzung der Sorgepflicht darstelle. Dem Familiengericht stehen durch das 2008 in Kraft getretene KiWoMaG in den §§ 1666 und 1696 BGB (s. Rn. 154 und näher Rn. 161) geeignete abgestufte Gegenmaßnahmen2 zur Verfügung.
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Praxistipp: Frühzeitig das zuständige Jugendamt einschalten und sich um eine Vermittlung bemühen. Das hat den Vorteil, dass das Jugendamt den Sachverhalt schon kennt und schneller reagieren kann. Entweder wird es selbst einen Regelungs- oder Änderungsantrag beim FamG stellen (§ 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII), oder es wird von Amts wegen vom
1 Vgl. zu den „Ritualen“ der Umgangsvereitelung Klenner, FamRZ 1995, 1529. 2 In Frage kommt zB die Herauslösung des Aufenthaltsbestimmungsrechts aus dem Sorgerecht, vgl. Völker/Clausius, Sorge- und Umgangsrecht in der Praxis § 2, Rn. 41; weitergehende Argumentation: Die fortgesetzte schuldhafte Vereitelung des Umgangsrechts liefere einen Grund, den Unterhaltsanspruch ganz oder teilweise nach § 1579 Nr. 6, 7 BGB herabzusetzen, vgl. OLG Karlsruhe v. 11.11.1997 – 2 UF 62/97, FamRZ 1999, 92 (93).
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 90
Kap. 5
FamG eingeschaltet. Dann hätte es weniger Zeit zur Beschäftigung mit dem Fall. Die abgestuften Mittel des Familiengerichts sind nun in § 1666 Abs. 3 87 BGB beispielhaft, also nicht abschließend geregelt. Der Entzug des Sorgerechts gegenüber dem uneinsichtigen Elternteil ist dabei nur ultima ratio (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB). Zuvor hat das Gericht einen frühen ersten Termin anzusetzen, dazu das Jugendamt zu laden und mit den Eltern ein „Erziehungsgespräch“ zu führen, in dem die mögliche Gefährdung des Kindeswohls durch das Verhalten des widerstrebenden Elternteils erörtert (§ 157 Abs. 1 FamFG) und das Potential für eine Änderung des Verhaltens überprüft wird. Dabei soll auf eine Kooperation der Eltern mit dem fachkundigen Jugendamt hingewirkt werden (zB durch Inanspruchnahme öffentlicher Hilfen wie Erziehungsberatung, § 28 SGB VIII). Die Warnfunktion dieses Termins setzt ganz bewusst auf die Autorität des Gerichts und die mehr oder weniger deutliche Drohung mit einer Änderung des Aufenthaltsbestimmungsrechts oder einem Sorgerechtsentzug. Das Gericht soll zwar zunächst appellieren, dann auf eine neue Vereinbarung hinwirken; es kann und soll aber auch durch einstweilige Anordnungen schnell Verbesserungen für das Kind herbeiführen.
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Bleibt der widerstrebende Elternteil davon unbeeindruckt, so kann das 89 Familiengericht im Rahmen eines laufenden Verfahrens nach § 1671 oder § 1666 BGB, im Rahmen eines Verfahrens über die Androhung oder Verhängung von Zwangsmitteln wegen Verstoßes gegen eine vollziehbare gerichtliche Vereinbarung (§ 89 Abs. 1 FamFG) oder von Amts wegen nach § 1696 BGB die bestehende Sorgerechtslage ändern. (3) Hartnäckige Umgangsverweigerung und Entfremdungssyndrom (PAS) Stets muss die Gefahr der schleichenden Entfremdung des Kindes vom 90 nicht betreuenden Elternteil gesehen werden. Jede lange Unterbrechung des tatsächlichen Umgangs kann im Extremfall zu einem EntfremdungsSyndrom (parental alienation-syndrome, PA-Syndrom, PAS) bei dem betroffenen Kind führen1. Hinter diesem Begriff verbirgt sich der Befund, dass das Kind den Kontakt zum anderen Elternteil verweigert, weil es diesbezüglich vom betreuenden Elternteil beeinflusst wurde. Charakteristisch sind folgende Symptome: – Das Kind äußert seine Aversionen gegen den anderen Elternteil ohne jedes erkennbare Schuldgefühl. – Die Ablehnung des anderen Elternteils vermag nicht oder nicht wirklich nachvollziehbar begründet zu werden.
1 Vgl. ausführlich dazu Schröder, FamRZ 2000, 592; Büte, Umgangsrecht Rn. 187 ff.; KG v. 30.5.2000 – 17 UF 1413/99, FamRZ 2000, 1606.
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Kap. 5 Rn. 91
Sorgerecht und Umgangsrecht
– Die übliche Ambivalenz eines Kindes getrenntlebender Eltern fehlt: Es äußert nicht, dass es bei beiden Eltern sein will und den Elternteil vermisst, bei dem es gerade nicht ist. – Die Aversion des Kindes erstreckt sich auch auf die Großeltern (Eltern des abgelehnten Elternteils). 91 Das PAS ist ohne sachverständige Hilfe von außen, die sorgfältige Exploration der Hintergründe und Abläufe und die Abwägung von harten Einschnitten und Reglementierungen des Sorge- und Umgangsrechts durch das Gericht kaum zu bewältigen. Die einzige Chance zu einem wirksamen Gegensteuern dürfte in der Möglichkeit des Gerichts liegen, auch ohne Anhängigkeit eines Hauptsacheverfahrens einstweilige Anordnungen1 zu erlassen. Wenn diese Versuche nicht schon die Einsicht der Eltern verändern, bleiben Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nach § 89 FamFG mangels wirksamer Durchsetzungsmittel nicht selten wirkungslos. 92 Dabei ist davor zu warnen, allein aus der (oft laienhaften) Diagnose „PAS“ bereits die Notwendigkeit von Interventionen oder Sanktionen gegen den beeinflussenden Elternteil abzuleiten. Bei aller Notwendigkeit, mindestens die fortgeschrittenen PAS-Symptome als Erscheinungen mit Krankheitswert einzuschätzen und die Hoffnung zu verwerfen, das Kind komme schon von allein wieder zu sich: Es kann nicht erwartet werden, dass schnelle Forderungen nach Durchsetzung des Umgangs „um jeden Preis“ oder die Übertragung des Sorgerechts auf den „unschuldigen“ Elternteil bei Gericht schnelles Gehör finden. Das Gericht muss sich in jedem Fall sachverständig beraten lassen.
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Praxistipp: Viele Sachverständige akzeptieren mittlerweile einen Zusatzauftrag des Gerichts nach § 163 Abs. 2 FamFG, eine Vermittlung zu versuchen. Der beratende Rechtsanwalt sollte aber über die zT erheblichen Kosten belehren. Die forensische kinderpsychologische Praxis warnt vor blindem Aktionismus, empfiehlt sorgfältige Aufklärung und lehnt das Reaktionsmuster „Schuld/Sühne/Rehabilitation“ ab2. Hier wirkt sich die mit dem Kindesalter wachsende Beachtung seiner Eigenpersönlichkeit aus. Spätestens bei zehn- bis dreizehnjährigen Kindern soll danach auch der beeinflusste Wille respektiert werden. Bei jüngeren Kindern sollen die „Gründe“ für die Verweigerung hinterfragt werden; es dürfe behutsam Einfluss genommen werden.
1 Vgl. näher zum Verfahren Fellenberg, FPR 2008, 125. 2 Vgl. näher und mit weiteren Literaturnachweisen Stadler/Salzgeber, FF 2001, 85; Peschel-Gutzeit, FPR 2003, 271.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 95
Kap. 5
Die anwaltlichen Verfahrensbevollmächtigten betroffener Elternteile sollten die wichtigsten richterlichen Eingriffsmöglichkeiten1
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– nach § 1684 Abs. 3 S. 3 und 4 BGB die Bestellung eines Umgangspflegers (sofern diese nicht offensichtlich aussichtslos ist)2, – Bestellung eines Verfahrensbeistands für das Kind zur Durchsetzung eines Umgangsrechts3, – Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts4, – teilweiser Entzug des Sorgerechts5 kennen und dort aktiv Überzeugungsarbeit leisten, wo die Gefahr gesehen wird, dass Zögerlichkeit des Gerichts zu einer Verhärtung der Symptome führen kann. Die genannten Maßnahmen sollen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Eingriffe in das Sorgerecht nur in dieser Reihenfolge ergriffen werden dürfen6. Allein wegen des mit seiner Klärung verbundenen beträchtlichen Zeit- 94 aufwands scheidet das „PAS-Argument“ für den Vertreter des in seinem Umgangsrecht verletzten Elternteils als schnelles Durchsetzungsmittel aus. Im günstigsten Fall hat man es mit einem selbstbewussten Kind zu tun, das die „Fehlleistung“ des einen Elternteils mit einem freiwilligen Wechsel zum anderen Elternteil quittiert. Das wäre eine spätestens ab einem Alter von 14 Jahren beachtliche und die Gerichte idR bindende Entscheidung (vgl. i.Ü. Rn. 228). Die Lage für den seines Umgangsrechts beraubten Elternteil kann aussichtslos werden, wenn der verweigernde Elternteil das Alleinsorgerecht hat. Für die als ultima ratio oft erwogene Änderung der Sorgerechtsent1 Vgl. näher Wohlgemuth, FF 1999, 138 ff.; wie wichtig es sein kann, schnell ein „Signal“ zu setzen, geht aus dem Fall des AG Fürstenfeldbruck v. 14.3.2001 – 1 F 138/01, FamRZ 2002, 118 hervor: Das Aufenthaltsbestimmungsrecht wurde der Mutter entzogen, nachdem diese durch allerlei Tricks den von Gutachtern als unbedenklich empfohlenen unbegleiteten Umgang des Kindes mit dem Vater vereitelt hatte. S. aber die folgende Fn. 2 BGH v. 26.10.2011 – XII ZB 247/11, FF 2012, 67 m. Anm. v. Völker S. 71: Diese Entscheidung ist wegen der mustergültigen Abhandlung der Prüfungsschritte bei Kindeswohlgefährdung sehr lesenswert. 3 Vgl. OLG Saarbrücken v. 16.7.2007 – 9 UF 37/07, FamRZ 2008, 86; OLG Saarbrücken v. 12.2.2007 – 6 UF 37/06, FamRZ 2007, 1678; dabei soll das Gericht Einzelheiten nicht Dritten (Ausnahme: Umgangspfleger) überlassen, sondern die Anordnung konkret nach Zeit, Ort und Häufigkeit fassen: OLG Stuttgart v. 10.1.2007 – 17 UF 190/06, FamRZ 2007, 1682 = FamRB 2007, 332. 4 Auch in Fällen hartnäckiger Umgangsvereitelung und mehrerer Gerichtsverfahren sind in der neueren Rspr. manche Obergerichte sehr zurückhaltend. Ein vollständiger Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts wird zB von OLG Koblenz v. 9.7.2008 – 9 UF 104/08, FamRZ 2008, 1973 grundsätzlich abgelehnt, ebenso die Zuweisung des Kindes in eine Pflegefamilie. Letzteres sei für das Kind eine Katastrophe; im Übrigen sei der wissenschaftliche Beweis für die Gefahr langfristiger Schäden durch Kontaktverweigerung nicht erbracht. 5 OLG Naumburg v. 18.4.2005 – 8 UF 43/05, DRsp 2005/10669. 6 S. BGH v. 26.10.2011 – XII ZB 247/11, FF 2012, 67 = FamRZ 2012, 99.
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Kap. 5 Rn. 96
Sorgerecht und Umgangsrecht
scheidung nach § 1696 BGB bestehen hohe Hürden. Triftige, das Kindeswohl nachhaltig berührende Gründe müssen die Übertragung der elterlichen Sorge auf den bisher nur umgangsberechtigten Teil rechtfertigen. Das könnte zB die Aussicht sein, auf diese Weise den bei dem Kind bestehenden schweren Loyalitätskonflikt aufzulösen. Das wiederum setzte – gleichgültig unter welchem Sorgerechtsmodell – die Mitwirkung beider Eltern voraus. Ist diese Kooperation nicht zu erreichen, kann die dem Kind fehlende erlebte „Elternebene“ auch nicht durch die Verschaffung des großzügigsten Umgangs ersetzt werden. Es bleibt oft die resignative Erkenntnis, dass die Beibehaltung der (unguten) Lage immer noch das kleinere Übel für das Kind ist1. dd) Rechte und Pflichten der Eltern 96 Je nachdem, ob – die Eltern räumlich zusammenleben und das Kind in ihrer gemeinsamen Obhut ist, – sie einvernehmlich getrenntleben, wobei das Kind seinen Lebensmittelpunkt bei einem Elternteil hat, – sie nicht einvernehmlich getrenntleben mit der Folge, dass gerichtliche Konfliktlösungen notwendig werden, – die gemeinschaftliche elterliche Sorge durch gerichtliche Entscheidung aufgehoben und Alleinsorge angeordnet ist, sind ihre Befugnisse unterschiedlich ausgestaltet. (1) Zusammenlebende Eltern 97 Leben die Eltern zusammen, gilt das universelle Einvernehmensprinzip des § 1627 BGB. Einvernehmen ist in allen Belangen des Kindes erforderlich. Es besteht die unbedingte Verpflichtung, Meinungsverschiedenheiten im Interesse des Kindes beizulegen. Gelingt dies in einer einzelnen, für das Kind bedeutsamen Angelegenheit nicht, so kann das Familiengericht auf Antrag zwar die Entscheidungsbefugnis zuweisen, nicht aber den Konflikt selbst entscheiden oder positiv regeln (Näheres dazu im folgenden Abschnitt). (2) Dauernde Trennung der Eltern 98 Mit der dauernden Trennung der Eltern ändert sich zwar nicht der formale Rahmen des Sorgerechts; es ändert sich aber die Qualität der Handlungsbefugnisse2, weil nunmehr §§ 1687 und 1687a BGB die Unterscheidung von wichtigen und weniger wichtigen Belangen des Kindes fordern: 1 So anschaulich der Fall des OLG Zweibrücken v. 29.8.2000 – 5 UF 39/99, FamRZ 2001, 639 ff. 2 Vgl. Knittel, DAVorm 1997, 649 (655).
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 101
Kap. 5
Nur in den Angelegenheiten, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist, verbleibt es bei der gemeinsamen Entscheidungsbefugnis und Entscheidungsverpflichtung. In allen Angelegenheiten des täglichen Lebens entscheidet der Elternteil allein, bei dem sich das Kind berechtigt aufhält. Eltern, die nicht mehr zusammenleben, wird ein erhöhtes Maß an Kon- 99 fliktkompetenz zugemutet. Damit einher geht das Risiko des Scheiterns. Das Urteil darüber sollen in erster Linie die Eltern selbst fällen, indem sie übereinstimmend die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf einen Elternteil beantragen. Ist darüber ein Konsens nicht möglich, endet die Elternautonomie: Das Familiengericht ist nach § 1671 BGB zur Prüfung und Entscheidung berufen, ob die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge und die Begründung der Alleinsorge dem Kindeswohl am besten entspricht. (3) Zuständigkeiten, § 1687 BGB Trennen sich die Eltern nicht nur vorübergehend, so bleibt es bei der ge- 100 meinsamen elterlichen Sorge mit den Besonderheiten, die § 1687 BGB für die Ausübung bereithält (s. Rn. 98). Geschah die Trennung einvernehmlich, wird in den wenigsten Fällen Bedarf für eine gerichtliche Konfliktlösungsentscheidung bestehen. War die Trennung nicht einvernehmlich, so kann es sein, dass nur über einen Aspekt des Sorgerechts, das Aufenthaltsbestimmungsrecht, ein Konflikt entsteht, weil zB ein Elternteil den anderen verlässt, umzieht und dabei das Kind mitnimmt oder aus einer funktionierenden Pflegefamilie heraus zu sich nimmt. Ein solcher isolierter Konflikt über das Aufenthaltsbestimmungsrecht (Lebensmittelpunkt des Kindes), der das noch bestehende gemeinsame Sorgerecht eigentlich nicht antasten soll, wäre als „Meinungsverschiedenheit“ über eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung durch das Familiengericht durch Einzelentscheidung zu klären (§ 1628 BGB; dazu auch Rn. 106, 141)1. Diese Möglichkeit zur Regelung von Einzelbestandteilen des Sorgerechts wäre nicht erforderlich gewesen, wenn es dem Gesetzgeber nicht um eine Stärkung der gemeinsamen elterlichen Sorge als Leitbild gegangen wäre. Um Konflikte bei noch bestehender gemeinsamer elterlicher Sorge zu begrenzen, hat der Gesetzgeber versucht, eine Abgrenzung der Befugnisse getrenntlebender Eltern vorzunehmen, und die Sorgerechtsausübungen aufgespalten in Angelegenheiten, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist (§ 1687 Abs. 1 S. 1 BGB), und Angelegenheiten des täglichen Lebens (§ 1687 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB). 1 Nach § 1628 BGB durch einstweilige Anordnung ist auch der Fall zu lösen, in dem der betreuende Elternteil erkrankt. Die Meinungsverschiedenheit, ob der Lebensgefährte oder der andere Elternteil zum Einsatz kommen soll, entscheidet das Gericht. Vgl. AG Holzminden v. 10.11.2001 – 12 F 382/01, FamRZ 2002, 560.
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101
Kap. 5 Rn. 102
Sorgerecht und Umgangsrecht
102
Die mangelnde Klarheit und Handhabbarkeit dieser gesetzgeberischen Differenzierung kritisiert mit Recht Schwab1. Der Zweck der Regelung soll darin bestehen, dem tatsächlich betreuenden Elternteil die notwendige Sicherheit zu geben und ständige Auseinandersetzungen um Detailfragen zu vermeiden2.
103
Von besonderer praktischer Bedeutung und eigentliches Ziel der gesetzgeberischen Differenzierung ist die Regelung der Zuständigkeit bei gemeinsam sorgeberechtigten, getrenntlebenden Eltern. Derjenige Elternteil, bei dem sich das Kind mit Einwilligung des anderen Elternteils oder aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung gewöhnlich aufhält, hat die Befugnis zu allen Entscheidungen und Angelegenheiten des täglichen Lebens (§ 1687 Abs. 1 S. 2 BGB). Kristallisiert sich im Einzelfall heraus, dass es sich doch um eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung handelt, ist die Einwilligung des anderen (getrenntlebenden) Elternteils einzuholen.
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Daraus ergibt sich folgende Abgrenzung: Innerhalb der vom Kind wahrgenommenen Lebensbereiche wie Schule, Freunde, Familie, und Sport gibt es weniger bedeutende (alltägliche) Regelungsbereiche und solche, die von erheblicher Bedeutung über den Tag hinaus sein sollen. Ausgehend von der Definition des Gesetzgebers (§ 1687 Abs. 1 S. 3 BGB) wird man unterscheiden müssen:
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Angelegenheiten des täglichen Lebens, sind solche, die häufig vorkommen und keine schwer abzuändernden Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben, oder solche, deren Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes rückgängig gemacht werden könnten3. Die Angelegenheiten des täglichen Lebens kann jeder Elternteil allein regeln und bestimmen (Alltagssorge oder kleines Sorgerecht). Am Beispiel des Aufenthaltsbestimmungsrechts (s. Rn. 80) wäre zB zu differenzieren zwischen der Grundentscheidung, bei welchem Elternteil das Kind lebt (Lebensmittelpunkt) als Angelegenheit von erheblicher Bedeutung, die nur gemeinschaftlich getroffen werden kann, und der Aufenthaltsbestimmung im Einzelfall (Wohnort, Reisen4, Besuche) als Angelegenheit des täglichen Lebens.
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Auch für Konflikte um Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung5 wollte der Gesetzgeber keine positiv regelnde Eingriffsbefugnis schaffen, sondern die Entscheidungsautonomie der Eltern wahren, indem lediglich 1 FamRZ 1989, 457 (468). 2 BT-Drucks. 13/4899, S. 58. 3 Palandt/Diederichsen, § 1628 BGB Rn. 4, § 1687 BGB Rn. 6; vgl. Soiné, FF 2000, 44. 4 Urlaubsreisen haben keine erhebliche Bedeutung für die Entwicklung des Kindes und a prori keine unabänderlichen Auswirkungen. Deshalb kann eine Streitentscheidung durch einstweilige Anordnung nicht erwartet werden. Notfalls bleibt der Streit unentschieden, § 1687 Abs. 1 S. 1 BGB. Vgl. OLG Karlsruhe v. 29.5.2007 – 16 WF 83/07, FamRZ 2008, 1368. 5 S. auch Schilling, NJW 2007, 3233; OLG Köln v. 26.10.1998 – 14 UF 170/98, FamRZ 1999, 249.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 109
Kap. 5
die Entscheidungskompetenz im Einzelfall auf das Gericht verlagert wird, § 1628 BGB. Die Möglichkeit zur richterlichen Einflussnahme ergibt sich allerdings mittelbar durch die Befugnis, die Übertragung des Alleinentscheidungsrechts mit Auflagen oder Beschränkungen zu versehen, § 1628 S. 2 BGB. Beispiele: Impfung, Operation, Einschulung in eine bestimmte Schule, Unterbringung im Kindergarten, Aufenthaltsbestimmungsrecht, Zusammenbringen mit neuen Partnern, Berufsausbildung, Namenswahl, Anlegung großer Vermögen, Bestimmung des religiösen Bekenntnisses, auch – je nach Lebensalter – längere Flugreise
Die Unterscheidung der Bereiche Alltagsdinge und Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung hat bereits umfänglich die Literatur und die Rechtsprechung beschäftigt1, eine Hilfestellung bei der Auswahl geeigneter gerichtlicher Maßnahmen gibt das aber nicht. Vielmehr hat die Einordnung im Einzelfall unter besonderer Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse des Kindes praktische Bedeutung nur für den Konflikt der getrenntlebenden Eltern.
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Praxistipp: Hier sind folgende Fragen mit den Mandenten zu erörtern: Überschreitet der Elternteil, bei dem sich das Kind aufhält, seine Befugnisse im Rahmen der Dinge des täglichen Lebens? Wenn nicht, kann er allein entscheiden und es bedarf keiner positiven Kompetenzzuweisung des Gerichts mehr. – Liegt eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung vor, muss das Gericht hingegen die eigentlich notwendige gemeinschaftliche Entscheidung der Eltern ersetzen.
Im Hinblick auf die vom Gesetzgeber beabsichtigte Reduzierung des Kon- 108 fliktstoffs wird eine enge Auslegung des Begriffs „erhebliche Bedeutung“ befürwortet2. Einen ersten Einstieg in ein individuelles Prüfschema bietet die Beispielstabelle in Anlehnung an Schwab3. Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung
Angelegenheiten des täglichen Lebens
Schule/Ausbildung: Wahl des Kindergartens, der Schulart und Schule, der Fächer und Fachrichtungen, Besprechung mit Lehrern über gefährdete Versetzung, Entscheidung über Internatserziehung, Wahl der Ausbildung und der Ausbildungsstätte
Schule/Ausbildung: Entschuldigung im Krankheitsfalle, Teilnahme an Sonderveranstaltungen, Notwendigkeit von Nachhilfe, unbedeutende Wahlmöglichkeiten im Rahmen des gewählten Ausbildungsgangs (zB Wahlfächer, Schulchor etc.)
1 Nachweise bei Soiné, FF 2000, 45, Fn. 16–20. 2 OLG München v. 25.1.2008 – 12 UF 1776/07, FamRZ 2008, 1103 = FamRB 2008, 204; Soiné, FF 2000, 44 (46); Finke, FF 2000, 187 (188). 3 FamRZ 1998, 457 (469).
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Kap. 5 Rn. 110
Sorgerecht und Umgangsrecht
Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung
Angelegenheiten des täglichen Lebens
Gesundheit: Operationen (außer in Eilfällen), medizinische Behandlungen mit erheblichem Risiko, grundlegende Entscheidungen der Gesundheitsvorsorge
Gesundheit: Behandlung leichterer Erkrankungen üblicher Art (zB Erkältungen)1, alltägliche Gesundheitsvorsorge, Routineimpfungen
Aufenthalt: Grundentscheidung, bei welchem Elternteil das Kind lebt, freiheitsentziehende Unterbringung
Aufenthalt: Aufenthaltsbestimmung im Einzelnen (Wahl des Wohnsitzes, Teilnahme an Ferienlager, Besuch bei Großeltern etc.)
Umgang: Grundentscheidung des Umgangs, § 1632 Abs. 2 BGB (betreffend das Ob und die Dimension des Umgangs), s. die Sonderschriften der §§ 1684, 1685 BGB2; Umgang mit dritten Bezugspersonen3
Umgang: Einzelentscheidungen im täglichen Vollzug (zB Kontakte des Kindes zu den Nachbarn, Fernhalten eines unerwünschten Freundes, Disco-Besuch, abendliche Ausgehzeit; Abholen von Schule oder Kindergarten)
Status4 und Namensfragen: sind stets von erheblicher Bedeutung, beachte hier auch Spezialnormen wie § 1617 Abs. 2 BGB Fragen der Religion: s. das vom KindRG vergessene RelKErzG Geltendmachung von Unterhalt: s. die Spezialnorm des § 1629 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1 BGB; allgemein ist die Geltendmachung von Unterhalt eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung Vermögenssorge: Grundlegende Fragen der Art der Anlage von Kindesvermögen, grundlegende Fragen der Verwendung
110
Vermögenssorge: vergleichsweise unbedeutende Angelegenheiten (etwa Verwaltung von Geldgeschenken)
Diese Differenzierung hat ausschließlich den Zweck, die „Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung“ dem notwendigen Einvernehmen beider Elternteile zuzuweisen, sofern diesen die elterliche Sorge (noch) gemein1 OLG Bamberg v. 26.8.2002 – 7 UF 94/02, FamRZ 2003, 1403 = FamRB 2003, 148. 2 Vgl. OLG Dresden v. 3.11.2004 – 21 UF 468/04, FamRZ 2005, 1275 = FamRB 2005, 133. 3 OLG Jena v. 24.5.2006 – 1 UF 503/05, FamRZ 2009, 894 (LS). 4 Die Ausstellung eines Kinderausweises, notfalls über § 1628 BGB entscheiden, OLG Karlsruhe v. 20.9.2004 – 16 WF 124/04, FamRZ 2005, 1187. Anfechtung der Abstammung: Dem widerstrebenden Elternteil ist das Sorgerecht partiell zu entziehen, die Bestellung eines Ergänzungspflegers reicht nicht aus, BGH v. 18.2.2009 – XII ZR 156/07, FamRZ 2009, 861 = FamRB 2009, 206.
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Rn. 113
Kap. 5
schaftlich zusteht (§ 1687 Abs. 1 S. 1 BGB). Nicht immer sind Eltern faktisch in der Lage, gemeinschaftlich zu handeln1. Aus der Abgrenzung von Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung einerseits zu Angelegenheiten des täglichen Lebens andererseits kann sich dann die Antwort auf die Frage ergeben, ob ein Elternteil allein handeln kann oder nicht. Die Beantwortung dieser Frage, etwas anders gestellt (darf ein Elternteil allein handeln?), kann auch für Dritte von großer Bedeutung sein (Schule, Arzt, Krankenhaus, Rechtsverkehr).
111
Ein besonderer Fall der Beteiligung Dritter an Entscheidungen im tägli- 112 chen Leben des Kindes betrifft die Alltagsmitsorge durch den Lebenspartner2 eines Elternteils: Das Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften3 hat mit der Anerkennung des „eingetragenen Lebenspartners“ das Alleinentscheidungsrecht des leiblichen Elternteils für die Angelegenheiten des alltäglichen Lebens auf den „Lebenspartner“ ausgedehnt, § 1687b Abs. 1 BGB. Der oder die Dritte muss dieses Recht im Einvernehmen mit dem sorgeberechtigten Elternteil ausüben. Nimmt man den Gesetzeswortlaut genau, wonach der Elternteil-Partner „allein sorgeberechtigt“ sein muss, dann käme die Regelung immer dann nicht zum Zuge, wenn das Sorgerecht nicht uneingeschränkt auf ihn übertragen ist. Motzer4 empfiehlt hierzu, den Begriff „allein sorgeberechtigt“ technisch zu verstehen und auf den Bereich der Mitsorgebefugnis in Alltagsfragen nach § 1687 Abs. 1 S. 2 BGB zu beziehen. Diese setzt voraus, dass das Kind seinen (auch befristeten) gewöhnlichen Aufenthalt beim Partner-Elterteil hat, und zwar mit Zustimmung des anderen Elternteils oder aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung. Fehlen diese Voraussetzungen, hat der andere Elternteil einen Herausgabeanspruch nach § 1632 Abs. 2 BGB5. Befindet sich das Kind in der Obhut eines Elternteils, sei es bei gemein- 113 samer Sorge, sei es bei Alleinsorge, hat der andere Elternteil ein Auskunftsrecht über die persönlichen Verhältnisse des Kindes, § 1686 BGB6. Das Auskunftsrecht besteht nur gegenüber dem anderen Elternteil, nicht gegenüber Dritten. Das erforderliche „berechtigte Interesse“ setzt idR voraus, dass der betreffende Elternteil keine andere Möglichkeit hat, sich die Informationen zu verschaffen, wenn zB kein Umgangsrecht besteht, 1 Wenn das auf eine Unfähigkeit zur Kommunikation zurückzuführen und die Prognose ungünstig ist, so kann dies für eine Aufhebung der gemeinsamen und die Anordnung der Alleinsorge ausreichen: OLG München v. 24.7.2001 – 26 UF 664/01, FamRZ 2002, 189. 2 Weiterführend Löhnig, FPR 2008, 157. 3 V. 16.2.2001, BGBl. I, 266. 4 FamRZ 2001, 1040. 5 Dieser (besser noch eine gerichtliche Herausgabeanordnung) ist Voraussetzung dafür, den eigenmächtigen Elternteil wegen Kindesentziehung, § 235 StGB, zu verfolgen. Vgl. auch BGH v. 9.2.2006 – 5 StR 564/05, FamRZ 2006, 1524. 6 Vgl. zum alten Recht, § 1634 Abs. 3 aF BGB, die überwiegend noch gültige Darstellung von Oelkers, NJW 1995, 1335.
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Kap. 5 Rn. 114
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dieses zeitweise ausgeschlossen ist, oder in größeren Zeitabständen ausgeübt wird, oder wenn das Kind selbst den Kontakt ablehnt (vgl. zur Bedeutung des Kindeswillens Rn. 81 und Rn. 227), bei großer räumlicher Entfernung und altersgemäß reduzierter Kommunikationsfähigkeit. Der entgegenstehende Wille des Kindes ist grundsätzlich für Inhalt und Umfang der Auskunft unbeachtlich1. Das Recht hängt nicht vom Wohlverhalten des Berechtigten ab, kann aber inhaltlich an dessen Verhalten ausgerichtet werden; es darf nicht für sachfremde Zwecke (zB Überwachung des Sorgeberechtigten) missbraucht werden2. Die Auskunftspflicht geht nicht soweit, dass der das Kind behandelnde Psychotherapeut von der Schweigepflicht entbunden werden müsste3. 114
Zeitlich werden nicht mehr als viermal jährlich Berichte geschuldet, zB über die persönliche/gesundheitliche/schulische Entwicklung des Kindes und seine Interessen. Die Berichte sollten ggf. Fotos, Zeugniskopien etc. enthalten, nicht erforderlich ist jedoch die Form eines laufend geführten Tagebuchs über die Lebensführung des Kindes4. Im Einzelfall ist bei gegebenem Anlass zu prüfen, ob die Auskunftserteilung dem Kindeswohl widerspricht5.
115
(4) Das Sorgerecht geschiedener Eltern unterscheidet sich qualitativ nicht von demjenigen dauernd getrenntlebender Eltern. Mit dem Ausspruch der Scheidung ist nicht mehr zwingend auch über die elterliche Sorge zu entscheiden. Entweder ist dies bereits in einer isolierten Entscheidung vorher geschehen, wobei diese Entscheidung bis zu einer Abänderung nach § 1696 BGB Bestand hat, oder die Eltern belassen es bei der in den Kompetenzen durch §§ 1687 und 1687a BGB strukturierten gemeinsamen Sorge.
116
Ist das Sorgerecht einem Elternteil allein übertragen worden, gilt für die Abgrenzung der Elternbefugnisse Folgendes: Hält sich das Kind, dessen Lebensmittelpunkt beim sorgeberechtigten Elternteil A ist, mit dessen Einwilligung oder aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung (Umgangsrechtsregelung) vorübergehend bei dem Elternteil B auf, geht die Befugnis zur alleinigen Entscheidung in Angelegenheiten der „tatsächlichen Betreuung“ auf diesen Elternteil B über. Dieser Begriff ist nicht gleichbedeutend mit den Angelegenheiten des täglichen Lebens, sondern will offensichtlich die banaleren und praktischeren Verrichtungen kennzeichnen,
1 Das KG hat bei einem 16-Jährigen mit gestörter Vaterbeziehung Informationen über eine psychotherapeutische Behandlung ausgenommen: KG v. 28.10.2010 – 19 F 52/10, BeckRS 2010, 29576. 2 BayObLG v. 7.12.1992 – 1Z BR 93/92, FamRZ 1993, 1487 (1488). 3 Vgl. Oelkers, NJW 1995, 1335. 4 OLG Brandenburg v. 26.7.2007 – 9 UF 87/07, FamRZ 2008, 638; OLG Koblenz v. 17.10.2001 – 13 UF 609/01, FamRZ 2002, 980 (2 × jährlich). 5 OLG Schleswig v. 5.3.1996 – 8 Wx 2/96, FamRZ 1996, 1355 (1356); OLG Hamm v. 10.1.1995 – 15 W 269/94, FamRZ 1995, 1288 (1289).
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Rn. 121
Kap. 5
die erforderlich sind, damit dieser Elternteil seiner Obhutsaufgabe überhaupt nachkommen kann. Beispiele: Ernährung, Bettruhe, Fernsehkonsum
Die gleiche Regelung gilt für den nur umgangsberechtigten Elternteil bei 117 Alleinsorgerecht des anderen Elternteils: Nach § 1687a BGB (Verweisung auf § 1687 Abs. 1 S. 4 BGB) hat der umgangsberechtigte Elternteil während der Dauer des Umgangsrechts die Befugnis zur Entscheidung in Angelegenheiten der „tatsächlichen Betreuung“1. Ein förmliches Vertretungsrecht in diesem Bereich gibt es zwar nicht; dies wird aber kompensiert durch das allgemeine Notvertretungsrecht des § 1629 Abs. 1 S. 4 BGB. Danach ist bei Gefahr im Verzuge jeder Elternteil berechtigt und verpflichtet, alle zum Wohl des Kindes notwendigen Handlungen mit Außenwirkung vorzunehmen.
118
Bei der Ausübung der Alleinentscheidungsrechte und der Notvertretungsbefugnis unterliegt der betreffende Elternteil einer allgemeinen Loyalitätspflicht gegenüber dem anderen Elternteil: Nach § 1684 Abs. 2 BGB hat jeder Elternteil alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigen oder die Erziehung erschweren könnte.
119
(5) Das Sorgerecht der Eltern oder des allein sorgeberechtigten Elternteils 120 ist in den Fällen dauerhafter Fremdbetreuung (Stiefkindfamilie, Pflegekindfälle) durch §§ 1682 und 1688 BGB eingeschränkt. In beiden Konstellationen hat sich ein faktischer und vom Kind auch emotional erlebter Familienverband gebildet, der durch Anordnungen oder Maßnahmen der Sorgeberechtigten nur dann aufgekündigt werden soll, wenn diese Maßnahmen das Kindeswohl nicht gefährden (§ 1682 BGB: Aufenthaltsbestimmung zugunsten der Stiefkindfamilie nach Ausfall des bisher bestimmungsberechtigten Elternteils). Die Pflegefamilie ist zwar in allen Dingen des täglichen Lebens ent- 121 scheidungsbefugt, allerdings nur, solange die Sorgeberechtigten nicht im Einzelfall etwas anderes bestimmen; diese Befugnis kann das Familiengericht einschränken oder aufheben, wenn dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist (§ 1688 BGB). Erweisen sich Dispositionen der sorgeberechtigten leiblichen Eltern (zB Herausnahme aus der Pflegestelle) als schädlich, so soll das Familiengericht vorrangig mit einer Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB helfen, bevor die elterliche Sorge nach § 1666 BGB ganz oder teilweise entzogen wird2. Dahinter steht zB das Be1 Dazu gehören zB nicht die Mitwirkungsrechte der „Erziehungsberechtigten“ nach dem SchulmitwirkungsG des Landes NRW: OVG NW v. 5.3.2001 – 19 B 1888/00, FamRZ 2002, 232. 2 KG v. 10.2.2005 – 13 UF 4/04, FamRZ 2005, 1923 = FamRB 2005, 325.
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Kap. 5 Rn. 122
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streben, abrupte Änderungen zu vermeiden oder das Kind allmählich auf einen Wechsel zu den leiblichen Eltern vorzubereiten1. Es können keine idealen Verhältnisse (Eltern) garantiert werden. Deshalb werden sich idR die leiblichen Eltern durchsetzen, auch wenn das Kind bei den Pflegeeltern objektiv positivere Verhältnisse genossen hätte2. 122
Praktische Konfliktfelder: – Die Ausübung der elterlichen Sorge darf durch Vollmacht auf Pflegeinstitutionen übertragen werden. Eine Vormundschaft ist unzulässig, solange die Eltern auch nur mittelbaren Einfluss nehmen können3. – Ist die allein sorgeberechtigte Mutter infolge von gesundheitlichen oder psychischen Defiziten zeitweise außerstande, sich ausreichend um das Kind zu kümmern, wird häufig vom behandelnden Arzt oder dem Jugendamt ein Sorgerechtsentzug von Amts wegen angeregt. Eine konkrete Kindeswohlgefährdung, die dies oder die Einweisung des Kindes in eine Pflegefamilie rechtfertigen könnte, liegt allerdings nicht vor, wenn die Mutter die ausreichende Versorgung des Kindes zB durch die Großmutter und/oder Nachbarn sicherstellen kann. In diesen Fällen sollten Eingriffe in das Sorgerecht nur nach sorgfältiger Sachverhaltsermittlung durch das Gericht und einen Verfahrensbeistand, nach Anhörung der Mutter und einer Folgenabwägung erfolgen (s.a. unten Rn. 158). – Soll das den Eltern zunächst nach § 1666 BGB entzogene Sorgerecht wieder auf sie übertragen werden, so haben die Pflegeeltern eine förmliche Beteiligtenstellung unter den Voraussetzungen des § 161 Abs. 1 FamFG; ein Beschwerderecht haben sie nur, wenn ihnen unmittelbar Pflichten auferlegt werden4. Das Gleiche gilt, wenn die Sorgeberechtigten das Kind aus der Pflegefamilie herausholen wollen5. Würde dadurch im Einzelfall das Kindeswohl nachhaltig beeinträchtigt, könnten die grundsätzlich durch Art. 6 Abs. 1 und 3 GG geschützten Bindungen des Kindes an die Pflegeeltern nur durch eine Verbleibensanordnung von Amts wegen nach § 1632 Abs. 4 BGB zur Geltung gebracht werden6. – Hält die Stiefkindfamilie die Einbenennung des Kindes (Annahme des neuen Familiennamens des Elternteils) aus Gründen des Kindeswohls für erforderlich, so ist dies nach § 1618 BGB sowohl bei Allein- wie bei gemeinsamer Sorge möglich. Die in jedem Falle notwendige Zustimmung des nicht sorgeberechtigten Elternteils kann vom Familienge-
1 OLG Brandenburg v. 6.11.2006 – 9 UF 142/06, FamRZ 2007, 851. 2 OLG Hamm v. 30.8.2005 – 1 UF 181/04, FamRZ 2006, 1476. 3 OLG Koblenz v. 24.2.2011 – 11 UF 153/11, FamRZ 2011, 1517 = FamRBint 2011, 52. 4 Vgl. OLG Hamburg v. 4.1.2008 – 2 UF 132/07, FamRZ 2009, 1001. 5 Marquart/Wilhelm, FPR 2004, 437. 6 Dazu BVerfG v. 31.3.2010 – 1 BvR 2910/09, FamRZ 2010, 865.
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Rn. 124
Kap. 5
richt ersetzt werden, wenn die Namensänderung zum Wohle des Kindes erforderlich ist1. – Betreiben die Inhaber der elterlichen Sorge die Herausnahme des Kindes aus der Pflegestelle und sieht das Gericht von einer Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB ab, weil das Kindeswohl nicht gefährdet ist, so soll der Verlust der bisherigen Bezugspersonen zumindest durch eine Umgangsregelung zugunsten der Pflegeeltern abgemildert werden (s. auch Rn. 288)2. d) Qualitätsmaßstäbe für die Ausübung der elterlichen Sorge aa) Das Gesetz kann die „perfekten“ Eltern nicht garantieren. Zwar gilt 123 elterliches Einvernehmen als Idealzustand, dieser lässt sich aber nicht verordnen; mit Konflikten ist immer zu rechnen. Kinder teilen nicht nur die sozialen Umstände der Eltern, sondern auch ihre Schwächen und Defizite. § 1697a BGB konstatiert als Auffangvorschrift für alle staatlichen Aufsichts- und Lenkungsmaßnahmen das Wohl des Kindes als Leitprinzip, dem unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten jede gerichtliche Entscheidung bestmöglich zu entsprechen hat. Wie ausgeführt, bedeutet das jedoch nicht, dass Kindern stets die optimale Lösung und Gestaltung zu bieten ist, denn das ist unter Berücksichtigung der Möglichkeiten der Eltern und ihrer vom Gesetz zu respektierenden Privatautonomie nicht immer darstellbar und auch nicht von Staats wegen zu garantieren.
Û
Praxistipp: Soll ein Regelungsantrag mit Defiziten des anderen Elternteils begründet werden, so ist sorgfältig zu differenzieren zwischen vorwerfbaren und naturgegebenen Defiziten. Letztere hätten das Kind und der andere Elternteil hinzunehmen, denn das Kind hat keinen Anspruch auf Gewährleistung einer „idealen“ Erziehung3.
bb) Bestehen Konflikte in Angelegenheiten des täglichen Lebens (s. 124 Rn. 105), so setzt das Gesetz auf das bestmögliche Einigungsbemühen der Eltern. Außer der Mahnung an die Eltern, dass ein Einigungsversuch Pflicht ist (§ 1627 BGB), wird mit der Kompetenzregelung des § 1687 Abs. 1 BGB und der Notgeschäftsführungsbefugnis nach § 1629 Abs. 1 S. 4 BGB kein positiver streitentscheidender Regelungsmechanismus zur Verfügung gestellt. Vielmehr besteht die Möglichkeit, das Alleinentscheidungsrecht des Elternteils, bei dem sich das Kind gewöhnlich aufhält, auf Antrag 1 S. OLG Köln v. 23.1.2006 – 4 UF 183/05, FamRZ 2006, 1872 = FamRB 2006, 305. 2 BayObLG v. 5.4.2000 – 1Z BR 108/99, FamRZ 2001, 563. 3 OLG Brandenburg v. 22.1.2008 – 9 UF 105/07, FamRZ 2008, 1556; st. Rspr.: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht dem Wunsch nach optimalen Eltern vor: OLG Brandenburg v. 18.12.2008 – 9 UF 122/08, FamRZ 2009, 994.
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Kap. 5 Rn. 125
Sorgerecht und Umgangsrecht
oder von Amts wegen einzuschränken oder aufzuheben, wenn das Kindeswohl dies erfordert (§ 1687 Abs. 2 BGB). Ein solcher Eingriff des Familiengerichts setzt nicht voraus, dass das Kindeswohl bereits gefährdet ist1. 125
cc) Treffen Kernkonflikte, die unter § 1628 BGB zu fassen und zu entscheiden sind, mit Konflikten der Alltagssorge zusammen (multiple Konfliktlage), wird die Grenze schnell erreicht werden, bei der der Antrag auf Aufhebung der gemeinsamen Sorge (§ 1671 BGB) folgerichtig und erfolgversprechend wäre. Dieser Antrag hat dann eine umfassende Kindeswohlprüfung und eine umfassende Untersuchung der Kooperationsfähigkeit der Eltern zur Folge. In Fällen multipler Konflikte dürfte dem Kindeswohl mit einer klaren Zuweisung der Alleinsorge mehr gedient sein als mit mehreren isolierten „Streitentscheidungen“. So förderlich es auch ist, wenn Eltern sich gemeinsam um das Kind kümmern, erzwungen werden kann dies nicht. Bei Dauerzwist leidet das Kind. Dann ist eine klare Alleinsorgeregelung vorzuziehen2. e) Wahl des richtigen Sorgerechtsmodells
126
aa) Für in der Ehe geborene oder durch Eheschließung ehelich gewordene Kinder gilt kraft Gesetzes solange die gemeinsame elterliche Sorge, bis dieser Zustand durch eine förmliche, ausdrücklich zu beantragende gerichtliche Entscheidung abgelöst und die alleinige elterliche Sorge eines Elternteils angeordnet wird (sog. Antragsprinzip).
127
Nach gesetzlichen Leitlinien für die Wahl des richtigen Sorgerechtsmodells sucht man vergeblich. Entgegen dem vom Text des § 1671 BGB erweckten Eindruck favorisiert das Gesetz nicht die gemeinsame elterliche Sorge. Die Gesetzesbegründung3 weist darauf hin, dass der Gesetzgeber sich jeder Wertung enthalten, kein Regel-/Ausnahme-Verhältnis und keine gesetzliche Vermutung für die Vorzugswürdigkeit der gemeinsamen elterlichen Sorge aufstellen wollte4. Die Entscheidung der Eltern über die beste Sorgerechtsform soll, also unbeeinflusst von Vorgaben des Gesetzgebers, ausschließlich am Kindeswohl orientiert getroffen werden. Allerdings geht die Entscheidungspraxis oft von einem „im Zweifel für das gemeinsame Sorgerecht“ aus und lässt eine Aufhebung der gemein-
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Soiné, FF 2000, 44 (45). Hohmann-Dennhardt, FF 2011, 181 (192). BT-Drucks. 13/4899, S. 63 f.; vgl. auch FamRefK-Rogner, vor § 1671, Rn. 14. Daraus schließen Völker/Clausius, Sorge- und Umgangsrecht in der Praxis § 1 Rn. 191, dass es kein gesetzliches Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen gemeinsamer elterlicher Sorge und Alleinsorge gebe. So auch BVerfG v. 18.12.2003 – 1 BvR 1140/03, FamRZ 2004, 354 = FamRB 2004, 113; BGH v. 29.9.1999 – XII ZB 3/99, FamRZ 1999, 1646; kritisch zur gemeinsamen Sorge Flügge, FPR 2008, 135, die (S. 136) sogar erwägt, die Belassung der gemeinsamen elterlichen Sorge als Eingriff in die Persönlichkeitsrechte beider Eltern zu sehen.
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Rn. 132
Kap. 5
samen Sorge nur dann zu, wenn dies für das Kindeswohl unbedingt erforderlich ist. Für die Lösung konkreter Konflikte ist die Suche nach einem normativen Sorgerechtsleitbild des Gesetzgebers aber auch nicht hilfreich. Es kommt entscheidend darauf an, ob im Einzelfall die angestrebte Alleinsorge dem status quo der gemeinsamen Sorge überlegen sein würde. Das allein ist Prüfungsmaßstab des Gerichts1 (s. Rn. 151, 153).
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bb) Bei der Aufgabe, sich über die persönliche Vorstellung des Kindes- 129 wohls Klarheit zu verschaffen, hilft es, wenn der Anwalt den Eltern eine Schwerpunktsetzung zB über den Lebensmittelpunkt des Kindes nach der Trennung der Eltern zu empfiehlt. Haben sich Eltern einmal über den überwiegenden Aufenthalt des Kindes bei dem einen oder dem anderen Teil geeinigt, so ist eine einseitige Änderung dieser Beschlusslage nicht möglich2. Wer davon abweichen will, muss eine gerichtliche Regelung anstreben. Er wird jedoch auf Zurückhaltung stoßen: Hat sich die bisherige Übung bewährt und würde die Erweiterung des Umgangsrechts zu der Bildung eines weiteren „Lebensmittelpunkts“ führen, so kann dies nach der auch ohne sachverständige Hilfe ausreichenden richterlichen Erfahrung die gesunde Entwicklung des Kindes beeinträchtigen3. cc) Viel zu spät und oft erst nach dem Scheitern eines solchen Experi- 130 ments stellt sich die Einsicht ein, dass eine schematische Gleichverteilung von Eltern-„Rechten“ und, mehr noch, Pflichten, in der Praxis kaum erfolgreich gelebt werden kann. Dies gilt zB für das sog. Wechselmodell, bei dem sich das Kind im Wochen- oder Zweiwochenrhythmus abwechselnd bei jedem Elternteil aufhält, also eigentlich zwei „Zu Hause“ hat. Das Amtsgericht Hannover4 hat sich im Jahre 2000 unter Berücksichtigung wissenschaftlicher und forensischer Erkenntnisse ausführlich mit den Vor- und Nachteilen des Wechselmodells einerseits und des sog. Residenzmodells andererseits befasst und – entgegen skeptischen Stimmen – belastbare Erkenntnisse über Gefährdungen für das Kind durch das Wechselmodell vermisst.
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Demgegenüber findet sich später zwar eine grundsätzliche Skepsis5 gegenüber diesem Modell, aber auch immer wieder die Bereitschaft, positi-
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S. LS 3 von OLG Köln v. 12.1.2001 – 25 UF 82/00, FamRZ 2002, 111. AG Bad Iburg v. 10.2.2000 – 7 F 27/00, FamRZ 2000, 1036. OLG Celle v. 27.3.2001 – 12 UF 261/00, FamRZ 2002, 121. AG Hannover v. 13.10.2000 – 608 F 2223/99 SO, FamRZ 2001, 846. S. weiterführend Coester, FF 2011, 10 (12); Kaiser, FPR 2008, 143; das OLG Zweibrücken v. 29.8.2000 – 5 UF 39/99, FamRZ 2001, 639, sieht in diesen Modellen eine überwiegend nicht ermutigende Entwicklung und beklagt, wie unendlich mühevoll oft die Bewältigung der Spätfolgen sei, wenn gerade in der Kleinkindphase zu wenig schwerpunkthafte Eigenbetreuung der Eltern stattfinde. Tatsächlich mögen derartige Modelle dann erfolgversprechend sein, wenn
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Kap. 5 Rn. 133
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ve Erfahrungen mit dem Wechselmodell zu akzeptieren und in solchen Fällen eine Anordnung des Residenzmodells abzulehnen1. Maßstab soll die feststellbare Unzufriedenheit des Kindes mit seinen Umgangserfahrungen sein und nicht Vorstellungen eines Elternteils2. Finke rät von diesem Modell dringend ab3. 133
Als Kompromisslösung der Eltern4 oder des Gerichts oder Experimentierfeld der Eltern eignet sich das Wechselmodell nicht, wie überhaupt das Gericht es nicht originär anordnen kann5, weil die Wahl dieses Modells oft eine unzureichende Bindungstoleranz verdeckt und die Gefahr besteht, dass elterliche Rituale wiederholt werden, was zu Langeweile oder Überforderung der Kinder führen kann.
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Praxistipps für nicht betreuende Elternteile: – In der Trennungsphase sollte der beratende Anwalt dem Elternteil, der das Kind nicht überwiegend betreut hat und dies auch künftig nicht kann, empfehlen, die Rolle des anderen Elternteils möglichst offen zu akzeptieren. – Der Mandant sollte angehalten werden, empfundene Mängel eher kooperativ als vorwurfsvoll anzusprechen. IdR wirkt nämlich die Stärkung des Selbstwertgefühls des betreuenden Elternteils entspannend. Das kommt nicht zuletzt dem Kind zugute und beugt vorschnellen gerichtlichen Anträgen auf vorläufige Regelung des Sorge- und Umgangsrechts vor. Solche Anträge in der Trennungsphase haben fast immer ihre Ursache in Ängsten und Verunsicherungen. – Sind die Eltern nicht zu einer Mindestkommunikation in der Lage oder willens, wird das Gericht durch einstweilige Anordnungen vorläufige „Positionen“ zuteilen, die von begünstigten Elternteil später nur schwer wieder geräumt werden. – Der Anwalt eines Vaters, der das gemeinsame Sorgerecht behalten will, wird dahingehend beraten, eher außer- und vorgerichtlich tätig zu werden, um die Mutter zu überzeugen, dass ein Alleinsorgerecht i.S.d. Kindesinteressen nicht erforderlich ist.
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sie an die gelebte Verantwortungsverteilung in der intakten Familie anknüpfen können. OLG Celle v. 4.1.2008 – 15 WF 241/07, FamRZ 2008, 2053; KG v. 21.2.2006 – 13 UF 115/05, FamRZ 2006, 1626 = FamRB 2006, 172. OLG Stuttgart v. 20.4.2004 – 18 UF 30/03, FamRZ 2004, 1397. In Finke/Ebert, Familienrecht § 4, Rn. 78. ZB wenn man sich nicht über die Barunterhaltspflicht einigen kann; dazu BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 161/04, FamRZ 2007, 707 = FamRB 2007, 163; OLG Brandenburg v. 26.10.2006 – 15 UF 64/06, FamRZ 2007, 1354. Vor allem nicht gegen den Willen eines Elternteils: OLG Brandenburg v. 1.7.2010 – 9 UF 7/09, FamRZ 2011, 120 (LS); OLG Stuttgart v. 14.3.2007 – 16 UF 13/07, FamRZ 2007, 1266.
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Rn. 134a
Kap. 5
– Nicht das Alleinsorgerecht als „Rechtsposition“ sollte im Mittelpunkt der Überlegungen stehen; ebenfalls nicht der Kampf um das gemeinsame Sorgerecht, sofern er lediglich demonstrieren soll, dass man nichts verloren oder aufgegeben habe. Vielmehr sollte dem Mandanten geholfen werden, eine klare Vorstellung zu entwickeln, wie er mit den praktisch vorhersehbaren Lebenssituationen des Kindes und seinen eigenen absehbaren Bedürfnissen umgehen wird. – Der Mandant ist anzuhalten, seine eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Ein positionsorientierter Blickwinkel der Eltern oder Beraters schadet. Nicht selten wird man zu der nahe liegenden Erkenntnis gelangen, dass die lockere und großzügige Ausweitung des Umgangsrechts bei formeller Alleinsorge des anderen Elternteils allen Beteiligten mehr Lebensqualität bringt, als der noch so „erfolgreiche“ Kampf um die Position des Mitsorgeberechtigten. f) Vorbereitung von Alleinsorgeanträgen Zunächst wird man sich um die Zustimmung des anderen Elternteils be- 134 mühen. Diese formlose Erklärung ist jederzeit ohne Begründung widerruflich. Liegt sie vor, unterbleibt eine gerichtliche Kindeswohlprüfung, es sei denn, es gibt Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung. Ist eine Zustimmung nicht zu erlangen und ist ein Elternteil der Mei- 134a nung, er sei besser geeignet, das Wohl des Kindes zu gewährleisten, wird das zu dem Antrag an das Familiengericht führen, die gemeinsame elterliche Sorge aufzuheben und die Alleinsorge des antragstellenden Elternteils zu begründen (§ 1671 BGB).
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Praxistipps: – Es sind zwei Prüfungsschritte erforderlich: 1. Entspricht die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Wohl des Kindes am besten? – 2. Entspricht die Übertragung der alleinigen Sorge gerade auf den Antragsteller dem Wohl des Kiindes am besten? – Der antragstellende Elternteil tut gut daran, die Gründe, die für die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge sprechen sollen, sorgfältig darzulegen und den Vortrag vorsorglich auch mit Beweismitteln zu unterlegen (in einstweiligen Anordnungsverfahren mit eidesstattlicher Versicherung). Zwar ist das Familiengericht nach § 29 FamFG zur Amtsermittlung verpflichtet; führen die Ermittlungen des Gerichts aber nicht oder nicht mit der erforderlichen Sicherheit zu dem Ergebnis, dass die gemeinsame elterliche Sorge aufzuheben sei, trägt der Antragsteller die sog. Feststellungslast.
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Kap. 5 Rn. 135
Sorgerecht und Umgangsrecht
– Dies bedeutet, – dass der Alleinsorgeantrag zurückzuweisen ist, wenn das Gericht sich nicht sicher ist, ob eine solche Regelung unter Aufhebung der bestehenden gemeinsamen Sorge dem Kindeswohl am besten entspricht1; – dass die antragstellende Partei gerade bei Verfahrenskostenhilfeanträgen besondere Sorgfalt in die Darlegung der einzelnen Gründe für die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge legen muss2. – Die Darlegung setzt anhand von Belegen eine Auseinandersetzung damit voraus, warum die Eltern zu gemeinsamem Handeln im Interesse ihrer Kinder nicht fähig seien oder, umgekehrt, warum die Eltern trotz bestehender Spannungen sehr wohl in der Lage waren, wichtige Entscheidungen gemeinsam zu treffen. aa) Kooperationsbereitschaft 135
In diesem Zusammenhang ist der Begriff der „Kooperationsbereitschaft“ ein Schlüsselbegriff, der sich zwanglos aus der vom Gesetzgeber vorausgesetzten Konsensverpflichtung ergibt.
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Praxistipps: – Der antragstellende Elternteil wird tunlichst seine eigene Kooperationsbereitschaft positiv und die Unfähigkeit des anderen negativ unter Beweis stellen3, während der für die Belassung der gemeinsamen Sorge streitende Elternteil gut daran tut, die eigene Kooperationsbereitschaft und Fähigkeit darzutun und mit Beispielen aus der Vergangenheit zu unterlegen. – Bevor der Anwalt zu gerichtlichen Anträgen rät, sollte darüber belehrt werden, dass das Gericht nach § 1666 Abs. 3 BGB mannigfache Möglichkeiten hat, die Eltern zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt zu verpflichten, damit dieses beraten oder einen konkreten Hilfeplan ausarbeiten kann. Auch könnte das Gericht von der Möglichkeit zur Aussetzung des Verfahrens nach § 21 FamFG Gebrauch machen, um die Möglichkeit zu geben, fachkundige private Hilfe in Anspruch zu nehmen oder eine Mediation durchzuführen (s. Rn. 158). Dahinter steht die Hoffnung, dass sich hochgehende Emotionen abkühlen werden. Andererseits sind Beratungsangebote und empfehlungen immer nur so gut wie die Bereitschaft der Eltern entwickelt ist, sich ihnen zu stellen und mitzuwirken. Erst wenn feststeht, dass die Konflikte zwischen den Eltern unüberbrückbar sind, wird das Gericht in Erwägung ziehen, dem Alleinsorgeantrag stattzugeben.
1 Finke, FF 2000, 187. 2 OLG Köln v. 22.3.1999 – 27 WF 36/99, FamRZ 2000, 499. 3 Finke, FF 2000, 187 (189).
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Rn. 138
Kap. 5
Kooperationsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit sind Voraussetzun- 136 gen für die Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge1. Das gilt auch für die Fälle, in denen ein Elternteil die Wiederherstellung der gemeinsamen elterlichen Sorge verlangt. Für die Fallgestaltung der nicht miteinander verheirateten Eltern s. unten Rn. 237. Die Begriffe Kooperationsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit sind 137 von der Praxis geprägt worden2. Man unterscheidet zwischen denjenigen Bereichen, in denen elterliches Einvernehmen unbedingt erforderlich ist und solchen, in denen Konflikte hingenommen werden können. Dabei wird angeknüpft an die Regelung des § 1687 BGB und die Unterscheidung zwischen Angelegenheiten, die für die Kindesbelange von erheblicher Bedeutung sind, und Angelegenheiten, die zum Bereich des Alltäglichen gehören (dazu Rn. 100 ff.). Daraus folgt, dass in dem relativ kleinen Bereich der Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung (s. Rn. 106–108)3 ein Konsens beider Eltern notwendig erreicht bzw. erreichbar sein muss. Fehlt es insoweit an der erforderlichen Kooperationsbereitschaft und 138 steht fest4, dass diese auch nicht mehr erreicht werden kann und dass dieser Zustand negative Auswirkungen auf das Kindeswohl hat, zB weil die Eltern ihre Beziehungskonflikte hemmungslos vor dem Kind austragen5, ist die gemeinsame elterliche Sorge auf Antrag einer Partei aufzuheben. Das gilt auch, wenn die Gründe für die fehlende Verständigungsmöglichkeit eindeutig auf Seiten desjenigen liegen, der die Aufhebung der gemeinsamen Sorge betreibt6 Ob diesem dann die Alleinsorge übertragen werden kann, ist eine andere Frage, die aus der Verweigerung der Kooperation auch den Schluss auf fehlende Bindungstoleranz und sich ankündigende Loyalitätsverweigerung ziehen kann. Im Interesse des Kindeswohls muss es zwar hingenommen werden, dass im Einzelfall der Verstoß gegen das Loyalitätsgebot des § 1684 Abs. 2 BGB sanktionslos bleibt. Ist das jedoch ein Dauerzustand und kommt auch noch Dominanz eines Elternteils hinzu, kann das die Alleinsorge des anderen als Gegengewicht rechtfertigen7. 1 Hingegen sind mangelhafte Kooperation und Kommunikation kein Grund für die Aufrechterhaltung einer Fremdunterbringung. Die Übertragung der Alleinsorge hat Vorrang vor einem Sorgerechtsentzug mit Fremdunterbringung. Vgl. OLG Brandenburg v. 24.2.2012 – 10 UF 360/11, Jurion ID 4K3491089. 2 Bode, FamRZ 1999, 1400. 3 Vgl. Finke, FF 2000, 187 (188); Soiné, FF 2000, 44 (46); Oelkers, Sorge- und Umgangsrecht in der Praxis § 1, Rn. 334. 4 Das KG v. 10.3.1999 – 3 UF 3500/98, FamRZ 1999, 1518 und KG v. 10.2.1999 – 19 UF 8972/98, FamRZ 1999, 808 sowie das OLG Dresden v. 23.10.1998 – 20 UF 397/98, FamRZ 1999, 324 und OLG Dresden v. 22.3.1999 – 20 UF 36/99, FamRZ 1999, 1156 sind der Auffassung, dass eine gemeinsame elterliche Sorge gegen den Widerspruch der Mutter oder bei fehlender subjektiver Verständnisbereitschaft eines Elternteils nicht möglich ist. 5 AG Fürstenfeldbruck v. 17.1.2001 – 1 F 1258/99, FamRZ 2002, 117. 6 BGH v. 12.12.2007 – XII ZB 158/05, FamRZ 2008, 592 = FamRB 2008, 140. 7 Vgl. OLG Brandenburg v. 2.6.2008 – 15 UF 95/07, FamRZ 2009, 709.
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Kap. 5 Rn. 139
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bb) Konflikte in Alltagsfragen 139
Handelt es sich hingegen um Konflikte der Eltern in Alltagsfragen, genügen Meinungsverschiedenheiten idR nicht für die Aufhebung der gemeinsamen Sorge1.
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Praxistipp: Der beratende Anwalt sollte abklären, ob die Betreuung des Kindes dem Grunde nach funktioniert und ob durch die wechselseitig attestierten Einigungsprobleme das Kindeswohl wirklich beeinträchtigt wird. Ist dies nicht der Fall, besteht wenig Aussicht, unter Berufung auf ungelöste Alltagskonflikte eine Änderung der Sorgerechtslage herbeizuführen.
140
Die Entscheidungen des Gerichts nach § 1671 BGB setzen eine Prognose zur Kooperationsfähigkeit voraus, die idR auf der Grundlage des bisherigen Verhaltens der Eltern zu treffen ist. Aufgabe des Vertreters des Antragsgegners ist es, die indizielle Bedeutung der Vergangenheit zu relativieren und den Blick auf Gegenwart und Zukunft zu richten. cc) Einzelfälle
141
Zur Frage, bis zu welchem Ausmaß Konflikte zwischen den Eltern oder Defizite einer Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge nicht entgegenstehen: – Erziehungsauffassungen und Erziehungsstile der Eltern darf das Gericht grundsätzlich nicht bewerten. Nur wenn es objektive Anhaltspunkte für mangelnde Erziehungseignung gibt2, kann sich dies im Rahmen einer Gesamtabwägung der Kindeswohlkriterien zulasten des betreffenden Elternteils auswirken. – Der BGH hatte in der ersten zur Sorgerechtsreformregelung ergangenen Entscheidung3 die Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart als Vorinstanz gebilligt, dass grundsätzlich jede Meinungsverschiedenheit zwischen getrenntlebenden Eltern ohne Rücksicht auf ihre Gründe und ohne Rücksicht auf Verschulden (zB einseitige Verweigerungshaltung eines Elternteils) die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge indizieren kann, wenn sich schädliche Auswirkungen dieser Situation auf das Kind nicht ausschließen ließen. Im konkreten Fall erstreckten sich die Konflikte der Eltern auf verschiedene wesentliche 1 Skeptisch OLG Nürnberg v. 20.7.2001 – 7 UF 684/01, FamRZ 2002, 188, wenn bei großem Konfliktpotential es voraussichtlich zu Streitereien über den Umfang der Mitentscheidungsbefugnisse nach § 1687 Abs. 1 BGB kommt. Anders und gegen die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge OLG Hamm v. 23.3.2006 – 4 UF 294/05, FamRZ 2006, 1058 = FamRBint 2007, 61. 2 Beispiele bei Weinreich/Klein/Ziegler, FA-Komm. § 1671 BGB Rn. 43 ff. 3 BGH v. 29.9.1999 – XII ZB 3/99, FamRZ 1999, 1646; Anm. Finke in FF 2000, 187 ff.
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Rn. 141
Kap. 5
Bereiche – das Umgangsrecht, die Vermögenssorge, finanzielle Angelegenheiten des Kindes. Da bei einer Gesamtbeurteilung negative Einflüsse auf das Wohl des Kindes nicht auszuschließen waren, billigte der BGH die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge. Insoweit handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung. Zwar wird es für möglich gehalten, dass ein Konflikt in einem Kernbereich der elterlichen Sorge, zB dem Aufenthaltsbestimmungsrecht, dann nicht zu einer Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge insgesamt nötigen muss, wenn dieser Konflikt durch eine gesonderte Entscheidung des Gerichts in diesem Teilbereich gelöst werden kann (zB Belassung der gemeinsamen elterlichen Sorge, aber Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf den überwiegend betreuenden Elternteil)1. Der BGH sah aber in der oben behandelten Entscheidung keine Veranlassung, dies näher auszuführen, weil sich im konkreten Fall Spannungen zwischen den Eltern in verschiedenen anderen Bereichen ergeben hatten. Ein festgestelltes Versagen der Eltern auf multiplen Spannungsfeldern schließt deshalb die Aufrechterhaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge eher aus als isolierte Konflikte. – Finke2 spricht sich zu Recht dafür aus, die Entscheidung des BGH nicht über die dort behandelte Sachverhaltskonstellation hinaus (multipler Konflikt mit schwerwiegenden Meinungsverschiedenheiten) überzubewerten. Auch die Ablehnung der Kooperation seitens eines Elternteils soll für sich gesehen nicht zur Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge nötigen, solange Aussicht besteht, dass dieses Defizit mit fachkundiger Hilfe (ZB eine vom Jugendamt organisierte Erziehungsbeistandschaft) oder durch eine isolierte Konfliktregelungsentscheidung des Gerichts nach § 1628 BGB überbrückt werden kann3. Das setzt voraus, dass es noch nicht zu wirklich schwerwiegenden Auseinandersetzungen gekommen ist. – Solange die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl nicht schadet und eine Alleinsorge keine eindeutigen Vorteile für das Kind bietet, sollte es bei der gemeinsamen Sorge bleiben (Finke)4. Diese Auffassung liegt auch einer Entscheidung des BGH zu einem Streit um die religiöse Erziehung zugrunde5. Die Aufhebung der gemeinsamen Sorge sei abzulehnen, wenn keine konkrete Gefahr für das Kindeswohl festgestellt sei. – Bei Konflikten um Aufenthaltsbestimmungsrecht, Umzug ins Ausland und Schulbesuch6. Hier werden regelmäßig isolierte Entscheidungen 1 BGH v. 29.9.1999 – XII ZB 3/99, FamRZ 1999, 1646, Urteilsgründe II b. 2 FF 2000, 187 (188). 3 OLG Hamm v. 2.3.1999 – 7 UF 536/98, FamRZ 1999, 1597 und OLG Hamm v. 19.4.1999 – 6 UF 205/98, FamRZ 2000, 26 (27). 4 Finke, FF 2000, S. 189. 5 BGH v. 11.5.2005 – XII ZB 33/04, MDR 2005, 1112. 6 BGH v. 16.3.2011 – XII ZB 407/10, FamRZ 2011, 796 m. Anm. Völker = FamRBint 2011, 51 = FamRB 2011, 171 und FamRB 2011, 174: Die Vorinstanz wurde aufgehoben, weil nicht hinreichend aufgeklärt war, ob ein Sorgerechts-
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Kap. 5 Rn. 142
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nach § 1628 BGB genügen. Werden Konflikte allerdings tätlich ausgetragen, macht ein weiterer mittelbarer Zwang zur Kooperation keinen Sinn1. – Pauschalierende Behauptungen über fehlende Kooperationsfähigkeit (des anderen Elternteils) genügen nicht, selbst dann nicht, wenn sie mit einzelnen Beispielen über Meinungsverschiedenheiten unterlegt sind2. – Solche Meinungsverschiedenheiten über die Ausübung des Sorgerechts können zu bedeutungslosen Randkonflikten werden, wenn der andere Teil aufzeigen kann, dass die Eltern sich zB über den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes und eine Umgangsregelung einigen konnten, erst recht, wenn diese sogar funktioniert. So kann die erreichte Teileinigung über Aufenthalt und Umgang zur entscheidenden Weichenstellung für die Erhaltung des gemeinsamen Sorgerechts werden. Solange also eine Kooperationsbereitschaft der Eltern ohne Gerichtsverfahren, aber uU mit Hilfe einer Erziehungsbeistandschaft, hergestellt werden kann, soll die gemeinsame elterliche Sorge aufrechterhalten werden3. – Haben sich die Eltern in Ausübung des gemeinsamen Aufenthaltsbestimmungsrechts auf den Lebensmittelpunkt des Kindes geeinigt, so kann sich ein Elternteil davon nicht einseitig lossagen. Ist das Aufenthaltsbestimmungsrecht geklärt, so ist auch große räumliche Entfernung zwischen den Eltern kein Grund, die gemeinsame elterliche Sorge zu beenden, und macht diese auch nicht unpraktikabel4. Die Eltern trifft auch bei Meinungsverschiedenheit eine aus § 1627 BGB (gegenseitiges Einvernehmen) folgende Einigungspflicht5. 142
Ist die Haltung des die Übertragung der Alleinsorge betreibenden Elternteils vor dem Hintergrund konkreter Vorkommnisse nachvollziehbar und die Prognose ungünstig, wird man eher damit rechnen müssen, dass das Gericht einen nachteiligen Einfluss dieser Situation auf das Kindeswohl annimmt. Dies wäre für die Entscheidung gegen das gemeinsame Sorgerecht von ausschlaggebender Bedeutung.
1 2 3
4 5
wechsel mit dem Kindeswohl vereinbar sei (Umzug nach Frankreich bei 8-jährigem Kind); OLG Nürnberg v. 17.11.1998 – 11 UF 1752/98, FamRZ 1999, 673 f. OLG Hamm v. 13.8.1999 – 5 UF 106/99, FamRZ 2000, 501 (502). OLG Naumburg v. 23.7.2001 – 14 UF 36/01, FamRZ 2002, 564 (565); OLG Köln v. 29.3.2005 – 4 UF 25/05, FamRZ 2005, 2087; OLG Hamm v. 1.2.2006 – 10 UF 147/04, FamRZ 2006, 1697. OLG Köln v. 20.11.2007 – 4 UF 209/07, FamRZ 2008, 636; im entschiedenen Fall hielt es das OLG für möglich, dass ein unterhaltsbezogenes Verschleiern der eigenen Vermögensverhältnisse den Unterhaltspflichtigen das Mitsorgerecht kosten kann. OLG Dresden v. 7.7.1999 – 10 UF 185/99, FamRZ 2000, 501. OLG Stuttgart v. 1.12.1998 – 18 UF 389/98, FamRZ 1999, 1596; zustimmend OLG Zweibrücken v. 2.3.2000 – 5 UF 134/99, FamRZ 2000, 1042.
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Û
Rn. 145
Kap. 5
Praxistipp: Der Elternteil, der das Kind in seiner Obhut hat, muss allerdings nachvollziehbare Gründe für das Scheitern der Kooperation vortragen und dem Eindruck entgegenwirken, er selbst verweigere aus (bloß) persönlichen Gründen die Kooperation.
Das OLG Karlsruhe und das OLG Köln1 betonen in diesem Zusammenhang die Konsenspflicht der Eltern in den Bereichen von „erheblicher Bedeutung“ (§ 1687 Abs. 1 S. 1 in Abgrenzung zu S. 3 BGB).
143
Jedenfalls hat die Einigungspflicht Vorrang vor Einzelmaßnahmen des Gerichts (zB Herauslösung des Aufenthaltsbestimmungsrechts), die wiederum Vorrang haben vor einer Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge. Eine verordnete Kooperation wird aber in den seltensten Fällen des gewünschten Effekt haben.
144
Wenn in OLG-Entscheidungen dieser Linie2 gleichwohl die vom BGH3 145 betonte Formel zitiert wird, das KindRG enthalte keinen Vorrang der gemeinsamen Sorge vor der Alleinsorge, so zeigt dies nur die relative Bedeutungslosigkeit eines Prinzips vor dem Wohl des Kindes im ganz speziellen Einzelfall4. So hat das OLG Brandenburg für einen Alleinsorgeantrag PKH gewährt, weil oft schon ein solcher Antrag indiziere, dass die Kooperationsfähigkeit ungenügend sei5.
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Praxistipp: – Die eine weitere gemeinsame Sorge ablehnende Haltung eines Elternteils sollte nicht auf „überkommene Sorgerechtsvorstellungen“ gestützt werden, weil es nicht auf die Vorstellungen der Eltern, sondern auf die Bedürfnisse des Kindes ankommt. Die Opposionshaltung muss konkret nachvollziehbar dargestellt werden. Fehlen überdies konkrete Anhaltspunkte für abträgliche Einflüsse auf das Wohl der Kinder, wird ein Alleinsorgeantrag kaum erfolgversprechend sein. – Beharrt der Mandant deshalb auf dem Fortbestand der gemeinsamen elterlichen Sorge, weil er glaubt, damit den anderen Teil zur Kooperation zwingen zu können, wird er damit kaum Erfolg haben. Die gemeinsame elterliche Sorge ist kein Mittel zur Er-
1 OLG Karlsruhe v. 29.10.1999 – 2 UF 32/99, FamRZ 2000, 1041 und OLG Köln v. 22.3.1999 – 27 WF 36/99, FamRZ 2000, 499. 2 OLG Karlsruhe v. 29.12.1999 – 2 UF 44/99, FamRZ 2000, 1595 (1596); OLG Karlsruhe v. 30.12.1999 – 2 UF 197/99, FamRZ 2000, 1605 (1606); ferner OLG Köln v. 21.1.2000 – 25 UF 223/99, FamRZ 2001, 183; OLG Brandenburg v. 14.5.2007 – 9 UF 55/06, DRsp 2007/10469 (anders der 10. Senat v. 2.4.2007 – 10 WF 74/07); OLG Frankfurt v. 22.3.2007 – 3 UF 54/07, NJW-RR 2008, 306. 3 BGH v. 29.9.1999 – XII ZB 3/99, FamRZ 1999, 1646; bestätigt in der Entscheidung BGH v. 12.12.2007 – XII ZB 158/05, FamRZ 2008, 592 = FamRB 2008, 140. 4 So im Ergebnis auch das Resumeé von Motzer, FamRZ 2001, 1034 (1036). 5 OLG Brandenburg v. 15.10.2007 – 10 WF 259/07, DRsp 2007/22283.
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Kap. 5 Rn. 146
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zwingung von Kooperation. Wenn die Gegensätze zwischen den Eltern der weiteren Entwicklung im Wege stehen, wird das Gericht die Alleinsorge anordnen1. 146
Für den um das gemeinsame Sorgerecht kämpfenden Elternteil sollte ein Votum des Jugendamts für die Alleinsorge dann kein entscheidendes Hindernis sein, wenn nach der Überzeugung des Gerichts die Schwierigkeiten aus der Vergangenheit behebbar sind. Selbst massive Vorwürfe des nicht betreuenden Elternteils an den anderen im Hinblick auf angeblich fehlende Erziehungseignung und massive Versäumnisse sollten den um das gemeinsame Sorgerecht kämpfenden Elternteil nicht entmutigen und eher veranlassen, die Vorwürfe auf ihre Ernsthaftigkeit hin zu hinterfragen.
147
Das KG2 (s. bei Rn. 138) hingegen sieht keine grundsätzlichen Vorteile der gemeinsamen elterlichen Sorge für das Kindeswohl. Der Gesetzgeber habe keinen Zwang zur Kommunikation einführen wollen. In diesem Punkt stellt tatsächlich die erstinstanzliche Praxis oft lieber auf praktische Vernunft ab, als den Versuch zu unternehmen, den Eltern ins Gewissen zu reden. Beispiel: Die gemeinsam sorgeberechtigten getrenntlebenden Eltern zweier sieben und zehn Jahre alten Mädchen berichten, sie seien nicht in der Lage, miteinander zu reden. Absprachen über die Kinder erfolgten durch schriftliche Nachrichten. Die Mutter trägt vor, sie sei nicht bereit, weiterhin mit dem Vater die gemeinsame elterliche Sorge auszuüben. Das Familiengericht3 hat ihrem Alleinsorgeantrag gegen den Widerstand des Vaters mit der Begründung stattgegeben, die Kommunikation über schriftliche Nachrichten sei „keine Basis für eine gemeinsame elterliche Sorge“; eine abweichende Entscheidung nach § 1671 Abs. 2 und 3 BGB (s. dazu Rn. 68) sei nicht veranlasst.
148
Eine solche Entscheidung würde aber der durch die Neufassung des § 1666 BGB betonten Pflichtenstruktur des elterlichen Sorgerechts nicht ausreichend Rechnung tragen. Diese verlangt ua., dass das Kind auch vor den Folgen des Versagens der eigenen Eltern geschützt werden soll (s. Rn. 78). Nach § 1671 Abs. 2 BGB muss geprüft werden, ob die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Kindeswohl wirklich am besten entspricht oder ob nicht die Eltern in die Pflicht genommen werden müssen, offen miteinander zu kommunizieren; nach Abs. 3 hätte ausgeschlossen werden müssen, dass das egoistische Verhalten beider Eltern eine solche Gefahr für das Kindeswohl darstellt, dass die elterliche Sorge nach § 1666 ff. BGB beiden ganz entzogen oder durch Teilentzug individuell gestaltet werden müsste. Um dieses einschneidende letzte Mittel den Eltern deutlich vor Augen zu führen, ist das Gericht nach § 157
1 BGH v. 12.12.07 – XII ZB 158/05, FamRZ 2008, 592 = FamRB 2008, 140. 2 KG v. 10.3.1999 – 3 UF 3500/98, FamRZ 1999, 1518 und KG v. 10.2.1999 – 19 UF 8972/98, FamRZ 1999, 808. 3 AG Augsburg v. 11.10.1999 – 404 F 1384/99, nv.
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Rn. 151
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Abs. 1 FamFG gehalten, mit den Eltern im Rahmen der ohnehin obligatorischen Anhörung eine Art Erziehungsgespräch zu führen. Ein Vertreter des Jugendamts muss anwesend sein, auch um die formale Autorität des Gerichts durch psychologisch-pädagogischen Sachverstand und konkrete öffentliche Hilfsangebote zu ergänzen1. Deren Inanspruchnahme kann aber direkt nicht erzwungen werden (§ 81 Abs. 2 FamFG).
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Praxistipp: – Zur Vorbereitung auf diese Erörterung der Kindeswohlgefährdung muss der Anwalt sich mit einer möglichen reaktiven Abwehr des Mandanten auseinandersetzen und dessen Verdacht einer massiven Misstrauensbekundung und Bevormundung durch Gericht und Jugendamt auszuräumen suchen. – Ein wesentliches Indiz für das Funktionieren der elterlichen Kooperation und Kommunikation ist die gegenseitige Information. – Scheitert das Erziehungsgespräch, hat das Gericht die Notwendigkeit einstweiliger Anordnungen zu prüfen (§ 157 Abs. 3 FamFG).
Nicht selten stellt sich nach Zeitablauf in der Beschwerdeinstanz heraus, 149 dass Besserung eingetreten und konkrete Hoffnung auf Verständnisfähigkeit der Eltern in den wichtigsten Kindesbelangen gegeben ist. Das Oberlandesgericht München hat in Kenntnis der BGH-Entscheidung v. 29.9.19992 an seiner Rechtsprechung festgehalten3, dass im Einzelfall eine Aufrechterhaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge auch gegen den Willen eines Elternteils möglich ist. Die Entscheidung des Amtsgerichts für die Belassung des gemeinsamen Sorgerechts trotz zahlreicher kleinerer Konflikte und Befürchtungen wurde gebilligt. Manche dieser Einzelfälle zeigen, dass die prinzipielle Präferenz für die 150 nach Möglichkeit aufrechtzuerhaltende gemeinsame elterliche Sorge im konkreten Fall zurückgestellt wurde, weil doch negative Einflüsse auf das Wohl der Kinder festgestellt oder konkret befürchtet werden mussten4. dd) Kindeswohl als Prüfungsmaßstab Schon bei der Beratung des Mandanten über den richtigen Antrag bzw. 151 das richtige Sorgerechtsmodell ist in Rechnung zu stellen, dass das Gericht zunächst vergleichen wird, wie die „Kindeswohlkriterien“ (s. Rn. 52 ff.) in den beiden Modellen der gemeinsamen und der Alleinsorge 1 2 3 4
Meysen, NJW 2008, 2673 ff. spricht von „Klartext“ und „Warnfunktion.“ BGH v. 29.9.1999 – XII ZB 3/99, FamRZ 1999, 1646. OLG München v. 29.9.2000 – 4 UF 224/00, nv. Weitere Einzelfälle: OLG Dresden v. 22.3.1999 – 20 UF 36/99, FamRZ 1999, 1156, insbesondere LS 3; OLG Düsseldorf v. 3.12.1998 – 6 UF 198/98, FamRZ 1999, 1157; OLG Hamm v. 15.4.1999 – 1 UF 175/98, FamRZ 1999, 1159, insbesondere LS 3.
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Kap. 5 Rn. 152
Sorgerecht und Umgangsrecht
erfüllt sind. Ergibt sich eine Gleichwertigkeit, bleibt es bei der gemeinsamen elterlichen Sorge. Sollte das Gericht der Alleinsorge den Vorzug geben wollen, so hätte es positiv festzustellen, dass die beantragte Entscheidung dem Wohl des Kindes am besten entspricht.
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Praxistipp: Das Kindeswohl als Prüfungsmaßstab taucht in ganz unterschiedlichen Varianten auf: – Durch § 1666 BGB sind Eingriffe bei Gefährdung des Kindeswohls zugelassen. – Nach § 1671 BGB ist die Alleinsorge aufzuheben, wenn dies dem Wohl des Kindes am besten entspricht. – Nach § 1672 BGB kann die Alleinsorge auf den Vater übertragen werden, wenn dies dem Wohl des Kindes dient. – § 1696 BGB lässt Änderungen gerichtlicher Entscheidung zu, wenn dies aus triftigen Gründen angezeigt ist, die das Wohl des Kindes nachhaltig berühren.
ee) Gefährdung des Kindeswohls 152
Vorher wäre zu prüfen, ob es zur Aufhebung der gemeinsamen Sorge eine weniger belastende „verhältnismäßige“ Alternative gibt. Das Instrumentarium stellt § 1666 Abs. 3 BGB zur Verfügung (dazu näher unten Abschnitt g). Die Vorschrift ist immer anwendbar, wenn erkennbar wird, dass ein Streit der Eltern über die Belassung oder Aufhebung des gemeinsamen Sorgerechts (§ 1671 BGB) zu einer Gefährdung des Kindeswohls (§ 1666 BGB) führen könnte. – Das Gericht kann anregen (§ 156 Abs. 1 S. 2 FamFG) oder die Eltern verpflichten (§§ 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB, 28 und 22, 22a SGB VIII), öffentliche Hilfen, wie Erziehungsberatung oder Kindertageseinrichtungen, in Anspruch zu nehmen. – Das Gericht kann die Eltern zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt verpflichten. – Das Gericht hat den Erfolg dieser Anordnungen in angemessenem Zeitabstand zu überprüfen (vgl. § 1696 Abs. 3 S. 2 BGB). – Das Gericht kann bei Differenzen über den Schulbesuch einen Ergänzungspfleger bestellen (§ 1666 Abs. 3 Nr. 2 BGB)1. – Das Gericht kann Schutzanordnungen (Wohnung, Kontakt, Annäherung) erlassen (§ 1666 Abs. 3 Nr. 3 und 4 BGB). – Das Gericht kann Elternerklärungen im Rahmen einer angeordneten psychologischen Begutachtung ersetzen (s. Rn. 61 und 159, Praxistipps)2, von der Schweigepflicht entbinden, eine Zustimmung zur Ope1 Vgl. Raack, FPR 2007, 478. 2 S.a. Meysen, NJW 2008, 2674.
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Rn. 156
Kap. 5
ration erteilen oder selbst den Antrag auf Hilfe zur Erziehung (§ 27 Abs. 1 SGB VIII) stellen (§ 1666 Abs. 3 Nr. 5 BGB). – Alle Maßnahmen können ohne Anhängigkeit einer Hauptsache durch einstweilige Anordnungen von Amts wegen angeordnet werden (§ 157 Abs. 3 FamFG)1. – Überwiegen nach allem die Vorteile der Alleinsorge, wird ein dahingehender Antrag Erfolg haben (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB). – In jeder Lage des Verfahrens soll das Gericht auf ein Einvernehmen der Beteiligten hinwirken. g) Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls (§ 1666 BGB) aa) Staatliches Wächteramt Das staatliche Wächteramt über das Wohl des Kindes hat in Art. 6 Abs. 2 153 S. 2 GG seinen Sitz. Ein Eingriff in das grundgesetzlich geschützte Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) darf nur unter den gesetzlich besonders bestimmten Voraussetzungen, deren ausgeprägteste der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel (s. § 1666a BGB) ist, erfolgen. Dieser Grundsatz wird in § 1666 Abs. 3 BGB und in den Verfahrensregeln der §§ 156, 157 FamFG aufgegriffen2. Auch kommt der grundsätzliche Vorrang des elterlichen Konsenses zum Ausdruck. bb) Sicherung der Bedürfnisse des Kindes Der mögliche staatliche Eingriff knüpft nach der seit 12.7.2008 geltenden veränderten Fassung des Gesetzes nicht mehr an eine festgestellte missbräuchliche Ausübung des Sorgerechts durch die Eltern, sondern an die Bedürfnisse des Kindes an. Bevor allerdings Eingriffe im eigentlichen Sinne erfolgen, steht dem Familiengericht ein abgestuftes Instrumentarium zur Verfügung, das von der Ermahnung über vorläufige Einzelanordnungen bis zu Eingriffen in den Rechtsbestand reicht (s. Rn. 152).
154
Ist die Sicherung der Bedürfnisse des Kindes (das körperliche, geistige 155 oder seelische Wohl oder sein Vermögen) immer noch gefährdet und sind die Eltern zur Abhilfe nicht in der Lage oder willens, trifft das FamG auf Antrag (auch und vor allem des Jugendamts) oder von Amts wegen die erforderlichen Maßnahmen. Länger dauernde Maßnahmen unterliegen dem Überprüfungsgebot des § 1696 Abs. 3 BGB. Die Regelfrist beträgt drei Monate.
1 Vgl. Fellenberg, FPR 2008, 125. 2 S. die auch oben Rn. 93 zitierte lesenswerte Entscheidung BGH v. 26.10.2011 – XII ZB 247/11, FamRZ 2012, 99.
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156
Kap. 5 Rn. 157
Û
Sorgerecht und Umgangsrecht
Praxistipps: – Die Mandanten müssen auf diese noch ungewohnt niedrige Eingriffsschwelle von Gericht und Jugendamt schon bei Übernahme des Mandats, und nicht erst mit Einreichung eigener gerichtlicher Regelungsanträge eingestellt werden. – Alle Behörden, vor allem das Jugendamt, sind nach § 22a Abs. 2 FamFG verpflichtet, die Familiengerichte auf Fälle möglicher Kindeswohlgefährdung aufmerksam zu machen. – Die Beratung über öffentliche Hilfsangebote, die Kontaktaufnahme mit dem Jugendamt oder der Versuch einer direkten Verständigung mit der Gegenseite (Vierergespräch, Moderation, Mediation) haben Vorrang vor vorbereitenden Schriftsätzen. – Wenn ein Verfahren schon anhängig ist, besteht durch das Vorrangund Beschleunigungsgebot (§ 155 FamFG: früher erster Termin binnen eines Monats) erheblicher Zeitdruck. – Wenn Schriftsätze eingereicht werden, sind sie tunlichst auf Sachverhaltsdarstellungen zu beschränken; konfrontative, unnötig wertende oder verletzende Ausführungen beeinträchtigen letztlich die Harmonieinteressen des Kindes und könnten sich als kontraproduktiv erweisen (wer poltert, offenbart die eigenen Spannungen; wer sachlich knapp bleibt, wirkt souverän). – Begründet ein Jugendamt die Anregung der Kindeswegnahme mit elterlichem Versagen, ist zu hinterfragen, ob es nicht mildere Mittel gibt1. Der betroffene Elternteil könnte dem Antrag des Jugendamtes die Spitze nehmen, indem einer zuverlässigen Drittperson (Großeltern, private Pflegeperson) förmlich Vollmacht zur Ausübung der tatsächlichen Obhut/des Aufenthaltsbestimmungsrechts erteilt wird. Das Gericht wird sich durch den Verfahrensbeistand von der Eignung der Bevollmächtigten überzeugen und kann des Weiteren mit Auflagen arbeiten.
157
Alle Eingriffe müssen nach wie vor besonders begründet werden2. Die Schwelle für rechtsverändernde Eingriffe des Gerichts ist ungeachtet der Änderungen im Gesetzeswortlaut unverändert geblieben, ebenso bleiben die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 3 GG verbindlich. Hingegen ist das Instrumentarium der Reaktionen auf mögliche Gefahren flexibler und schneller geworden. Die Jugendämter können und sollen sich früher an das Familiengericht wenden. Die Beratungs- und Hilfemöglichkeiten im Vorfeld eines gerichtlichen Eingriffs werden hervorgehoben. Die Eltern erhalten früher und eindringlicher Warnungen, wenn Gefährdungen des Kindeswohls erkennbar werden (frühes Handeln hilft besser). 1 S. van Els, FF 2009, 157 (159), zugl. Anm. zu OLG Köln v. 11.3.2008 – 4 UF 119/07, FamRZ 2009, 62 = FF 2009, 170. 2 BayObLG v. 9.5.1996 – 1 Z BR 203/95, FamRZ 1996, 1352.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 159
Kap. 5
Etwaige staatlichen Eingriffe haben nach wie vor nicht das Ziel, optimale 158 Bedingungen für das Kind zu schaffen, sondern konkret fassbare Gefahren abzuwenden. Ein Eingriff in das Sorgerecht der Eltern setzt eine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefährdung des Kindeswohls voraus. Je größer der zu erwartende Schaden, desto geringer sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Gefährdung. Die festzustellenden Beweisanzeichen müssen jedoch stets konkrete Verdachtsmomente betreffen; eine abstrakte (statistische) Gefährdung genügt nicht1. cc) Einzelfälle – Ist der anderweitig familiär gebundene Vater außerstande, das Kind zu 159 betreuen, und andererseits die Mutter nur sehr eingeschränkt in der Lage dazu2 (zB wegen einer Alkoholkrankheit), kann der Vater nicht ohne Einverständnis der noch gemeinsam sorgeberechtigten Mutter die Unterbringung des Kindes im Internat durchführen. Insoweit erweist sich das Elternrecht auf Pflege und Erziehung der eigenen Kinder als sehr weitgehend geschützt gegen staatliche Eingriffe. Dieser Schutz beruht auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. Art. 7 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention von 19893. – Ein Missbrauch des Sorgerechts (in der Terminologie der früheren Gesetzesfassung) liegt nicht vor, wenn die Mutter verhindert, dass das Jugendamt eine Vaterschaftsfeststellung durchführen kann oder dass Ermittlungsbehörden die Identität des Kindesvaters wegen einer vermuteten Sozialbetrugsstraftat erfahren. Soweit sichergestellt ist, dass durch das Verhalten der Mutter realisierbare Unterhaltsansprüche des Kindes nicht gefährdet werden, ist das Verhalten der Mutter zB auch durch ihre Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG geschützt4. – Verweigert die Mutter die (notwendige) Zustimmung zur gerichtlich angeordneten Begutachtung des Kindes im Umgangsrechtsstreit (zB mit der Begründung, sie scheue die Kosten des Sachverständigengutachtens), kann das Gericht das Verdikt des Sorgerechtsmissbrauchs nur dann aufrechterhalten und die Zustimmung nur dann nach § 1666 Abs. 3 Nr. 5 BGB ersetzen, wenn Feststellungen getroffen sind, dass dies zur Abwendung einer Gefahr für das geistige oder seelische Wohl des Kindes erforderlich ist. Es muss nachvollziehbar zu erkennen sein, dass das Kind bei einer (faktisch) länger dauernden Aussetzung des 1 Vgl. OLG Karlsruhe v. 25.5.2009 – 5 UF 224/08, FamRZ 2009, 1599: Zugrunde lag ein von einem Verein lancierter Verdacht, dass äthiopische Eltern ihre Tochter anlässlich einer Auslandsreise beschneiden lassen könnten. 2 Zum Ruhen der elterlichen Sorge bei Abwesenheit der Eltern vgl. BGH v. 6.10.2004 – XII ZB 80/04, FamRZ 2005, 29 = FamRBint 2005, 27. 3 In diesem Fall ist unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Mutter übertragen worden: OLG Hamburg v. 28.8.2000 – 12 UF 111/00, FamRZ 2001, 1088. 4 AG Fürth/B. v. 4.1.2001 – 205 F 1185/00, FamRZ 2001, 1089.
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Kap. 5 Rn. 160
Sorgerecht und Umgangsrecht
Umgangsrechts in seiner geistigen und körperlichen Entwicklung beeinträchtigt werden oder zB unter der Unterbindung der Kontakte leiden würde. Zur Klärung dieser Frage müsste das Sachverständigengutachten notwendig sein. Andernfalls müsste sich das Gericht hierüber durch sonstige Erkenntnisquellen ein eigenes Bild machen. Das wird idR voraussetzen, dass das Gericht das Kind selbst anhört; zu dieser Anhörung kann das Gericht auch den Sachverständigen hinzuziehen1. – Boykottiert ein Elternteil ein gerichtlich angeordnetes Gutachten über das Kind, so wäre die Durchsetzung mit Zwangsgeldandrohung und Festsetzung (§ 89 Abs. 1 FamFG) zwar möglich, könnte aber dem Beschleunigungsgebot widersprechen. Deshalb könnte man zB mit den Grundsätzen der Beweisvereitelung arbeiten2. Verweigert hingegen ein Elternteil die Begutachtung seiner eigenen Person, so fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage für Sanktionen3, das Gericht darf aber zur persönlichen Anhöhung einen Sachverständigen hinzuziehen und daraus Erkenntnisse ziehen4. – Der Entzug des Sorgerechts ist idR kein Mittel, um eine Kooperation mit dem Jugendamt zu erzwingen. Meist genügen Maßnahmen zur teilweisen Suspendierung des Sorgerechts5. – Führt die Unfähigkeit eines Elternteils zum „Loslassen“ (Gewähren von Bindungsfreiheit) zu einer untypischen Bindung des Kindes, so kann versucht werden, dem mit einem teilweisen Entzug des Sorgerechts zu begegnen6. – Wird hartnäckiges Schulschwänzen geduldet, kann dies ebenfalls zu einem teilweisen Entzug des Sorgerechts führen7. – Strebt die Mutter gegen den Willen des Kindes veränderte Verhältnisse an, kann dies einen Sorgerechtsentzug rechtfertigen8. – Die Mitgliedschaft in der Scientology-Kirche genügt nicht9. h) Vorgehen bei Änderungen der Verhältnisse, § 1696 BGB aa) Voraussetzungen 160
Eine materielle Rechtskraft im Sinne einer Unabänderlichkeit ist in den vom Kindeswohl beherrschten Sorgerechtssachen nicht denkbar. Viel1 2 3 4 5 6 7 8 9
OLG Hamm v. 25.8.2005 – 2 UF 240/05, FamRZ 2006, 359. OLG Naumburg v. 18.2.2005 – 8 WF 239/04, FamRZ 2006, 282. BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 1572/10, FamRZ 2011, 179 = FamRB 2011, 139. BGH v. 17.2.2010 – XII ZB 68/09, FamRZ 2010, 720 m. Anm. Stößer = FamRB 2010, 205. OLG Köln v. 28.10.2005 – 4 UF 129/05, FamRZ 2006, 877; OLG Köln v. 15.6.2006 – 27 UF 272/04, DRsp 2006/7564. OLG Frankfurt v. 11.5.2005 – 1 UF 94/03, FamRZ 2005, 1700. OLG Koblenz v. 11.5.2005 – 13 WF 282/05, FamRZ 2006, 57 = FamRB 2005, 358. OLG Frankfurt v. 13.11.2008 – 1 UF 72/08, FamRZ 2009, 990. AG Berlin-Tempelhof v. 8.8.2007 – 160 F 10520/07, FamRZ 2009, 987.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 164
Kap. 5
mehr sind Entscheidungen in Kindschaftssachen prinzipiell jederzeit abänderbar. Einstweilige Anordnungen sind auf Antrag nach mündlicher Verhandlung zu überprüfen. Erforderlich sind aber die besonderen Voraussetzungen des § 1696 BGB, 161 dh. es müssen triftige, das Wohl des Kindes nachhaltig berührende Umstände für eine Änderung sprechen. Diese Formel ist mit der Betonung der Erziehungskontinuität im Wesentlichen durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz von 1998 und das KiWoMaG v. 4.7.2008 (BGBl. I, 1188), jetzt im FamFG aufgegangen, unverändert geblieben. Die zum alten Recht ergangene Rechtsprechung bleibt einschlägig1. Der Maßstab des § 1696 BGB wird vor allem für kontroverse Abänderungsanträge Bedeutung erlangen, wenn die Aufhebung der gemeinsamen Sorge mit der Begründung verlangt wird, der nicht betreuende Elternteil kümmere sich zu wenig um das Kind2. Solange nicht dargelegt werden kann, dass das Kind in seiner Persönlichkeitsentwicklung hierdurch Schaden zu nehmen droht, dürfte das Abänderungsverlangen unbegründet sein.
162
Es ist zu fragen, ob eine Änderungsentscheidung deutliche und nachhalti- 163 ge Vorteile bringt. Eine Verbesserung der Situation des Kindes tritt nicht allein bei einem Konsens über Grundlagenfragen ein und schon gar nicht, wenn die Eltern in Alltagsfragen nur über das Internet verkehren3. Einvernehmen der Eltern über eine Änderung der Sorgerechtslage ist re- 164 gelmäßig zu beachten, wenn dies dem Kindeswohl nicht widerspricht, vgl. § 156 Abs. 1 FamFG. Unmittelbar abänderbar nach § 1696 BGB sind direkte Vereinbarungen aber nicht. Hier entschiede das Gericht völlig neu. Auch wenn das Einvernehmen zu Aufenthalt und Sorgerecht in einer gerichtlich gebilligten Elternvereinbarung (s. § 156 Abs. 1 FamFG) festgehalten ist, soll diese nach Ansicht des BGH4 nicht unmittelbar nach § 1696 Abs. 1 BGB abänderbar sein. Insoweit kann der Wortlaut der Vorschrift irreführend sein5. Vielmehr hätten diese Elternvereinbarungen im Rahmen der dann nach § 1671 BGB zu treffenden Entscheidung eine 1 Vgl. OLG Frankfurt v. 4.11.1999 – 1 UF 107/99, FamRZ 2000, 510; OLG Karlsruhe v. 29.12.1999 – 2 UF 44/99, FamRZ 2000, 1595; Motzer, FamRZ 2001, 1036. 2 OLG Frankfurt v. 23.1.1996 – 6 UF 250/95, FamRZ 1996, 889; nachhaltiges Desinteresse lässt OLG Dresden v. 27.2.2002 – 10 UF 743/01, FamRZ 2002, 973, genügen. 3 OLG Braunschweig v. 12.6.2001 – 1 UF 227/00, FamRZ 2002, 121. 4 BGH v. 16.3.2011 – XII ZB 407/10 (Erwägungen 77 und 78), FamRZ 2011, 796. Dagegen will das OLG Celle v. 12.8.2011 – 10 UF 270/10, FamRZ 2011, 1876, auf die Abänderung von Elternvereinbarungen den strengeren Maßstab des § 1696 BGB anlegen. 5 Hingegen fallen Vereinbarungen zu Umgang oder Herausgabe unmittelbar unter § 1696 BGB, vgl. Giers, BGH v. 16.3.2011 – XII ZB 407/10, FamRZ 2011, 796 m. Anm. Völker = FamRBint 2011, 51 = FamRB 2011, 171.
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Kap. 5 Rn. 165
Sorgerecht und Umgangsrecht
gewisse Indizwirkung. Zur Begründung verweist der BGH darauf, dass Eltern über das Sorgerecht im Ganzen oder Teilbereiche verbindlich nicht disponieren könnten. Diese Differenzierung ist für die Eingriffsschwelle von Bedeutung, die bei § 1671 BGB niedriger ist als bei § 1696 BGB.
Û
Praxistipp: In Verfahren nach §§ 1666, 1696 BGB entsteht den Anwälten nach überwiegender obergerichtlicher Meinung1 keine Einigungsgebühr, weil den Beteiligten die Dispositionsbefugnis fehle.
165
Der sachgerechte, unbeeinflusste Wunsch des Kindes nach einem Wechsel der Sorge- oder Betreuungsverhältnisse ist bei Kindern über 13 Jahren meist beachtlich2. bb) Einzelfälle
166
(1) Ein Umzug des Sorgeberechtigten mit dem Kind ist trotz der damit verbundenen Beschwernisse für den Umgangsberechtigten grundsätzlich hinzunehmen3. Anders ist bei noch bestehender gemeinsamer elterlicher Sorge der nicht abgesprochene, eigenmächtige Umzug unter Mitnahme des Kindes zu beurteilen. Hier droht dem zurückgelassenen Mitsorgeberechtigten ein Verlust an Mitsprache und Einfluss durch eine Art von erzwungener Kontinuität. Ist das Kind erst längere Zeit bei dem weggezogenen Elternteil, könnte ein Gericht eine Rückführung ablehnen, weil eine abermalige Ortsveränderung dem Kindeswohl schade. Hier muss der zurückgelassene Elternteil schnell handeln.
Û
Praxistipp: – Bei noch bestehender gemeinsamer Sorge sollte immer Einvernehmen hergestellt oder durch einstweilige Anordung die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts erwirkt werden. Im etwaigen Beschwerdeverfahren kann das Oberlandesgericht die Vollziehung aussetzen, § 64 Abs. 3 FamFG. Im Falle des eigenmächtigen Umzugs muss der Zurückgelassene sofort beim FamG eine einstweilige Anordnung auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf sich beantragen und glaubhaft machen, dass er bereit und in der Lage ist, die Betreuung des Kindes zu übernehmen. Ferner ist eine ernsthafte konkrete Beeinträchtigung des Kindeswohls glaubhaft zu machen4. Unter Geltung des Beschleunigungsgebots des FamFG muss das Gericht am früheren gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes (§ 154 FamFG) binnen Tagen terminieren und
1 ZB OLG München v. 16.9.2010 – 11 WF 1210/10, FamRZ 2011, 246. 2 OLG Hamm v. 10.5.2004 – 8 UF 19/04, FamRZ 2005, 746. 3 Ein Umzug innerhalb der EU ist idR vom Aufenthaltsbestimmungsrecht gedeckt: OLG Koblenz v. 9.8.2007 – 9 UF 450/07, FamRZ 2008, 813 = FamRBint 2008, 5; OLG Brandenburg v. 12.3.2007 – 10 UF 226/06, DRsp 2007/6971. 4 OLG Brandenburg v. 4.11.2008 – 10 WF 225/08, FamRZ 2009, 445.
300
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 167
Kap. 5
entscheiden, um die „Gewöhnungswirkung“ einer erzwungenen Kontinuität zu verhindern. So besteht Aussicht, dass der unfreiwillig zurückgelassene Mitsorgeberechtigte das Aufenthaltsbestimmungsrecht bekommt und für eine Rückführung des Kindes in die alte Umgebung sorgen kann1. – Dem anderen Elternteil, der mit dem Kind wegziehen will, ist hingegen dringend anzuraten, Einvernehmen herzustellen oder vorher das Aufenthaltsbestimmungsrecht durch eAO auf sich übertragen zu lassen. Jedenfalls sollte er nicht erwarten, aus dem eigenmächtigen Verbringen des Kindes Vorteile zu ziehen. – Die praktisch sehr häufige eigenmächtige Verletzung des gemeinsamen Aufenthaltsbestimmungsrechts erfährt leider zu selten eine wirksame Sanktion: Ist die erste Instanz noch geneigt, generalpräventiv Null-Toleranz zu zeigen, wird die berechtigte Kritik am Verhalten dieses Elternteils oft in der Beschwerdeinstanz aufgeweicht und geht in der Abwägung unter, ob denn die Herausgabe an den anderen Elternteil dem Kindeswohl entspreche2. Gerade in Fällen vorläufigen Rechtsschutzes verbleibt oft nach der nicht mehr anfechtbaren Oberlandesgericht-Entscheidung eine Frustration des benachteiligten Elternteils, der dann nicht mehr die Kraft aufbringt, in einem Hauptsacheverfahren weiter zu kämpfen (oder dies dem Kind nicht mehr zumuten will). Ergänzend zum ersten Praxistipp sollte erwogen werden, parallel zum vorläufigen Rechtsschutz auch ein Hauptsacheverfahren anzustrengen3. – Droht die Verbringung des Kindes ins Ausland oder ist danach mit einer Wiedereinreise zu rechnen, sollte im vorläufigen Rechtsschutz ein sog. Grenzbeschluss (vorläufige Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts, Herausgabeanordnung und Schließung der Schengener Grenzen) beantragt werden, vgl. unten Kap. 16 Rn. 305. (2) Wird die Abänderung der bei der Scheidung angeordneten gemeinsamen Sorge verlangt, weil die damals vorhandene Kooperationsbereitschaft infolge Auswanderung gegen den Willen des anderen Elternteils entfallen sei, so kann dies ein Abänderungsgrund nach § 1696 BGB sein4. Die neuere Rechtsprechung des BGH5 verlangt aber eine weitaus diffe1 S. OLG Saarbrücken v. 6.4.2011 – 6 UF 40/11, FamRZ 2011, 1739 = FamRB 2011, 335; BVerfG v. 27.6.2008 – 1 BvR 1265/08, FamRZ 2009, 189 = ZKJ 2008, 378; weiterführende Anm. v. Völker in FamRB 2008, 365. 2 ZB OLG München v. 20.10.2011 – 30 UF 1600/11, n.v. 3 Es sei denn, es liegt kein Regelungsbedürfnis vor, sollten einstweilige Anordnungen zB über das Aufenthaltsbestimmungsrecht grundsätzlich in einem Hauptsacheverfahren überprüft werden; vgl. Vogel, FF 2011, 196 (199); Büte FuR 2011, 7 (10). 4 OLG Nürnberg v. 11.2.2000 – 7 UF 4435/99, FamRZ 2000, 1603. 5 BGH v. 28.4.2010 – XII ZB 81/09, FamRZ 2010, 1060 m. Anm. Völker = FamRB 2010, 204 = FamRBint 2010, 51.
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301
167
Kap. 5 Rn. 168
Sorgerecht und Umgangsrecht
renziertere Abwägung: Die allgemeine Handlungsfreiheit des Auswanderungswilligen steht nicht zur Beurteilung des Familiengerichts, präjudiziert allerdings nicht in der entscheidenden Frage des Kindeswohls. Motive und Folgen der Auswanderung sind allein am Kindeswohl zu messen. Weder der Umgangsgrundsatz nach § 1626 Abs. 3 S. 1 BGB, noch das Wohlverhaltensgebot nach § 1684 Abs. 2 BGB sollen eine Vermutung der Kindeswohlschädlichkeit begründen1. Entscheidend ist eine umfassende Abwägung aller Elemente und Kriterien des Kindeswohls (dazu oben Rn. 52–61). 168
(3) Ein Schulwechsel rechtfertigt grundsätzlich keinen Eingriff2. Vor rechtskräftiger Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht gebietet es das Kindeswohl (Kontinuität), von einem Umzug mit Schulwechsel abzusehen3. cc) Vereinbarungen der Eltern
169
Vereinbarungen der Eltern zum Umgangsrecht oder zur Ausgestaltung des gemeinsamen Sorgerechts unterliegen niemals unmittelbar der gerichtlichen Abänderung. Eine solche kommt nur bei gerichtlichen Entscheidungen oder gerichtlich gebilligten Vereinbarungen in Betracht (s.a. Rn. 164).
Û
Praxistipp: Handeln Eltern außergerichtlich, etwa in einem Mediationsverfahren, oder vor Gericht als Protokollerklärung eine Änderung der Sorgerechtszuständigkeit und sonstige Konsequenzen aus tatsächlichen Veränderungen aus, so bindet ein übereinstimmender Elternvorschlag das Gericht im Abänderungsverfahren nach § 1696 BGB zwar nicht; ein gut begründeter Abänderungsvorschlag wird aber die Kindeswohlprüfung des Gerichts erleichtern und regelmäßig zur gewünschten Abänderungsentscheidung führen, vor allem dann, wenn dem Gericht dargelegt werden kann, dass er bereits praktiziert wird4.
1 Kritisch Rauscher, LMK 2010, 305039. 2 Nur der Extremfall, dass Schulunterricht ganz (zugunsten von Hauslehrern) verweigert wird, kann zu Einschränkungen des Sorgerechts führen: BGH v. 17.10.2007 – XII ZB 42/07, FamRZ 2008, 45. 3 Vgl. BVerfG v. 11.2.2009 – 1 BvR 142/09, FamRZ 2009, 1389 = FamRB 2009, 175. 4 Vgl. AG Landstuhl v. 4.7.1996 – 1 F 81/96, FamRZ 1997, 102; OLG Hamm v. 3.12.1980 – 5 UF 203/80, FamRZ 1981, 600; aA Bindung des Gerichts an den Elternvorschlag, wenn keine Anzeichen von Vernachlässigung oder Missbrauch vorliegen: OLG Dresden v. 30.10.2001 – 10 UF 438/01, FamRZ 2002, 632 mwN = FamRB 2002, 74.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 171
Kap. 5
dd) Rangfolge möglicher Reaktionen Gerade angesichts tatsächlicher oder rechtlicher Veränderungen, die mit 170 einer bisher bestehenden gerichtlichen/gesetzlichen Regelung nicht zu bewältigen sind, kommen der vom KindRG und vom FamFG geförderte elterliche Entscheidungsvorrang und die Subsidiarität aller staatlichen Maßnahmen zum Tragen. Bevor also mit der Behauptung, das Kindeswohl sei infolge Versagens des anderen Elternteils gefährdet, eine isolierte Maßnahme (Verbot, positive Einzelfallregelung, Stichentscheid) nach § 1666 BGB verlangt wird, müssen die Eltern alles ihnen Zumutbare unternehmen, um die Gefahr selbst abzuwenden („… wenn die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind …“). Öffentliche Hilfen zur Bewältigung von Erziehungs- oder Verständigungsproblemen haben Vorrang vor einem direkten Eingreifen des Gerichts, s. § 156 FamFG. Man sollte auch ein privat organisiertes Mediationsverfahren in Erwägung ziehen1. Kommt das nicht in Betracht, kann ein Neuregelungsantrag mit der ausdrücklichen Bereitschaft eingeleitet werden, mit dem Gericht in ein Vermittlungsgespräch zur Herbeiführung einer Verständigung einzutreten (§ 156 FamFG). Eine solche obligatorische gerichtliche Vermittlung kann schon einsetzen, wenn es Umsetzungsschwierigkeiten mit einer bereits existierenden oder gerichtlich gebilligten Regelung gibt. Insoweit hat die Verfahrensweise nach § 156 FamFG Vorrang vor Vollstreckungsmaßnahmen nach § 89 FamFG. Die gerichtliche Praxis machte von diesem Konfliktsteuerungsmittel nur zögernd Gebrauch, vor allem, weil es bei Richtern und Anwälten immer noch zu wenig Ausbildung in den Grundlagen der Kinderpsychologie und in der mediativen Konfliktlösung gibt. Das KiWoMaG und das FamFG haben die Familiengerichte nun dazu verpflichtet, ihnen neue Zuständigkeiten gegeben und sie zugleich unter Zeitdruck gestellt. Für die Mandanten ist es oft hinderlich, dass weder die externen Beratungskosten, noch die Mediationskosten als Kosten des Verfahrens gelten und (noch) nicht von der VKH erfasst werden.
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Praxistipp: Im Einvernehmen mit dem Gegner kann in geeigneten Fällen beim Gericht angeregt werden, einen Mediator als Sachverständigen zu bestellen, mit der Aufgabe, den Konflikt zu analysieren, zu dokumentieren und den Versuch einer Schlichtung zu unternehmen2.
Mögliche gerichtliche Einzelfallregelungen nach § 1628 BGB haben Vor- 171 rang vor einem Antrag auf Sorgerechtsabänderung. Ein Sorgerechtsabänderungsantrag nach § 1696 BGB wiederum hat Vorrang vor einem Antrag
1 Vgl. dazu näher Motzer, FamRZ 2000, 857; s. Spangenberg, FPR 2009, 156. 2 Sog. Altenkirchener Modell, benannt nach Absprachen zwischen Beteiligten, Richtern, Anwälten und Sachverständigen beim FamG Altenkirchen. Ähnlich das sog. Cochemer Modell, vgl. Söhnen, ZFE 2005, 340. In Bayern haben die FamGe München, Augsburg, Erding, Fürstenfeldbruck und Rosenheim eigene Modelle; vgl. www.muenchener.anwaltverein.de/modellverfahren_ag_bayern.htm.
Grisebach
303
Kap. 5 Rn. 172
Sorgerecht und Umgangsrecht
auf Eingriffe nach § 1666 BGB1. Die Prüfungsmaßstäbe beider Vorschriften sind je nach Rechtsschutzziel sauber voneinander zu trennen.
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Praxistipp: Beschneidet das Gericht das Sorgerecht eines Elternteils durch Einzelmaßnahmen (zB Entzug des Aufenthaltbestimmungsrechts) und stützt das undifferenziert auf beide Vorschriften, so kann darin eine Verletzung des Elterngrundrechts liegen, weil eine nach § 1696 BGB aus triftigen Gründen angezeigte Regelung eben nicht notwendigerweise hinreicht, um einen Eingriff wegen Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB zu begründen2.
172
Liegen nach Auffassung des Gerichts die Voraussetzungen für eine Abänderungsentscheidung nicht vor, wird zB ein Sorgerechtsentzug abgelehnt, so hat das Gericht diese Einschätzung von sich aus in angemessenem Zeitabstand zu überprüfen (§ 1696 Abs. 3 S. 2 BGB)3. ee) Reaktionen bei Verdacht des sexuellen Missbrauchs
173
Eine dramatische Veränderung im Umgang der Eltern miteinander und in aller Regel ein völliger Zusammenbruch der Kommunikation tritt in Fällen nachgewiesenen oder, häufiger noch, vermuteten sexuellen Missbrauchs ein. Diesen Sachverhalten4 kommt sowohl im Rahmen der Sorgerechtsprüfung nach § 1671 BGB (Frage der Erziehungseignung) als auch im Rahmen der Bewältigung von Umgangsrechtsverweigerungen und -ausschlüssen (§ 1684 BGB) erhebliche Bedeutung zu.
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(1) Der nachgewiesene oder eingeräumte sexuelle Missbrauch durch einen Elternteil schließt dessen Erziehungseignung und damit dessen Alleinsorge oder die Belassung der gemeinsamen Sorge aus5.
175
(2) Eine Schadensbegrenzung ist idR kaum möglich, wenn zur Untersuchung des Verdachts ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wird. Auch bei Einstellung des Verfahrens mangels hinreichend bewiesenen Tatverdachts bleibt meist ein böser Schatten. Der Wahrscheinlichkeitsgehalt von Aussagen des Kindes kann zwar durch Gutachten forensisch erfahrener Aussagepsychologen eingegrenzt werden, von Sicherheit wird man nur selten sprechen können. Die Verteidigungsmöglichkeiten des Verdächtigten sind meist gering.
1 2 3 4
Palandt/Diederichsen, § 1696 BGB Rn. 6. BVerfG v. 17.6.2009 – 1 BvR 467/09, FamRZ 2009, 1472. Dazu Meysen, NJW 2008, 2673 (2677). Vgl. näher dazu Kühne/Kluck, FamRZ 1995, 981; wird der Verdacht im „Kampf ums Kind“ instrumentalisiert, so kann es zum „Missbrauch des Missbrauchs“ kommen, vgl. Carl, FamRZ 1995, 1183 ff. 5 Völker/Clausius, Sorge- und Umgangsrecht in der Praxis § 1, Rn. 226.
304
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 178
Kap. 5
Wird das Familiengericht parallel mit dem Fall befasst, kann es auf den 176 Ausgang des Ermittlungs- oder Strafverfahrens nicht warten1. (3) Die Vertreter des zB von einem Verdacht betroffenen Vaters müssen 177 sich nicht selten mit dem Phänomen des tatsächlichen oder vermutlichen „Missbrauch des Missbrauchs“ auseinandersetzen. Es sind dies Fälle, in denen der Verdacht bewusst gestreut wird, um die mit einem Verdacht im gerichtlichen Verfahren fast immer einhergehende Unterbrechung oder wesentliche Erschwerung des Umgangs zu instrumentalisieren. Dieses Kalkül beruht auf der Erfahrung, dass die der Verwirklichung oder 178 dem Schutz des Kindeswohls verpflichteten Familienrichter das Hauptinteresse des betroffenen Vaters ignorieren müssen: Schnelle Aufklärung und Rehabilitierung, zügige Erledigung des Verfahrens, um den Druck von allen Beteiligten zu nehmen. Das Gericht wird sich in der Sache so lange wie möglich nach allen Seiten offen halten, sich Kenntnis von etwaigen Ermittlungsakten verschaffen, alle sinnvollen eigenen Aufklärungsmaßnahmen (idR Sachverständigengutachten mit aussagepsychologischen Testelementen2) ergreifen und sich hüten, die Untersuchung einseitig an vermuteten Geschehensabläufen zu orientieren.
Û
Praxistipp: – Die Kenntnis der wissenschaftlichen Methoden zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit3 ist für den Verfahrensbevollmächtigten unerlässlich zur Vorbereitung auf die mündliche Befragung des Sachverständigen oder zur Beratung über die Frage, ob ergänzende Untersuchungen beantragt oder durch Parteigutachten eingeführt werden sollen. Die genaue Dokumentation der angewendeten Methoden, Begründungen für unterlassene Tests und vor allem eine genaue Dokumentation der Aussagen des Kindes (nicht nur Zusammenfassungen!) sind Voraussetzungen dafür, die Überzeugungskraft und Verlässlichkeit eines Gutachtens beurteilen zu können4. – Die Fragestellungen an den gerichtlichen Sachverständigen sind im Strafverfahren andere als im Sorge-/Umgangsverfahren. Im Strafverfahren beurteilen Aussagepsychologen die Glaubwürdigkeit der Aussagen des Kindes. Im familiengerichtlichen Verfahren, das zu einer Sorge-/Umgangsregelung für das Kind führen soll, ist kinder- und jugendpsychiatrischer Sachverstand gefragt. Der im Ermittlungsverfahren tätige Gutachter ist nach den Vorgaben des
1 Zum Umgang mit Verdachtsfällen durch Familiengerichte vgl. Rösner/Schade, FamRZ 1993, 1133 (1138); Weychardt, FamRZ 1997, 444 (445). 2 Vgl. näher und mwN Kühne/Kluck, FamRZ 1995, 981 (983 ff.). 3 Vgl. Metzger, FPR 2008, 273; zur Frage der Sachverständigenablehnung Völker, FPR 2008, 287. 4 Vgl. Ballof, FF 2003, 83.
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Kap. 5 Rn. 179
Sorgerecht und Umgangsrecht
BGH1 dem Grundsatz in dubio pro reo verpflichtet, der Sachverständige im Umgangsverfahren dem Kindeswohl. – Der Anwalt der besorgten Mutter sollte es nicht hinnehmen, dass das Gericht sich allein mit dem – im strafrechtlichen Sinne möglicherweise entlastenden – Glaubwürdigkeitsgutachten aus dem Ermittlungsverfahren zufrieden gibt. Vielmehr sollte die Einholung eines speziellen kinderpsychatrischen Gutachtens beantragt werden2. 179
Das kostet sehr viel Zeit, was der Entfremdung zwischen Kind und Vater Vorschub leisten kann. Entfremdung droht auch, wenn das Kind die Verdachtsatmosphäre begriffen hat oder bewusst in sie eingeweiht worden ist.
180
Gegenüber dem Vater, der für eine Ausweitung des Umgangsrechts kämpft, hat selbst der nicht erwiesene oder sogar ausgeräumte Missbrauchsverdacht die unangenehme Folge („semper aliquid haeret“), dass das Gericht zu der Auffassung kommen kann, die Belastungen durch das Verfahren hätten das Kind verunsichert, weshalb das objektivierte Kindeswohl eine erzwungene Wiederherstellung des Kontakts gerade nicht zulasse3. Demgegenüber betonen andere4 mit Recht, dass der erzwungene längere Kontaktabbruch nahezu sicher eine Schädigung des Kindeswohls bewirke, die abzuwägen sei gegen die mögliche Gefahr einer Schädigung durch einen (weiteren) Missbrauch.
Û
Praxistipp: – Das Mandat, in dem der Missbrauchsverdacht auftaucht, führt für Berater und Prozessvertreter zu einem erhöhten Maß an Betreuungsaufwand, der einkalkuliert und honoriert werden muss. – Gefahren für das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant können entstehen, wenn das alleinige Ziel des Verfahrens, die Sicherung des Kindeswohls, überlagert wird durch in diesem Falle sachfremde Motive wie Bestrafung einerseits und Rehabilitation andererseits. – Eine sorgfältige und zeitnahe Dokumentation aller Kindesäußerungen und eigenen Beobachtungen des betreuenden Elternteils kann für die schnelle Klärung von Verdachtsmomenten und ihren Auswirkungen entscheidend sein. – Beweiswürdigung: Die Gefahr bewusst oder unbewusst instrumentalisierter Falschbehauptungen ist hoch. Vorsicht ist am Platze gegenüber Äußerungen Dritter aus dem semiprofessionellen
1 BGH v. 30.7.1999 – 1 StR 618/98, FamRZ 1999, 1648. 2 Vgl. aus der Sicht der Kinder- und Jugendpsychatrie Kölch/Fegert, FamRZ 2008, 1573 (1578). 3 OLG Düsseldorf v. 19.9.1991 – 3 WF 149/91, FamRZ 1992, 205 (206). 4 Kölch/Fegert, aaO halten es auch bei begründetem Verdacht nicht für vertretbar, den Umgang so lange auszusetzen, bis der Sachverständige eingeschaltet ist.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 184
Kap. 5
Milieu (Kindergärtnerinnen, Betreuer, Sozialarbeiter), die überdurchschnittlich oft durch Halbwissen, bewusste Parteilichkeit (zB um einen erhöhten Geständnisdruck zu erzeugen; „Hilfe statt Strafe“ als Anreiz, um den unterbrochenen Umgang wieder befürworten zu können) oder den Einfluss frischer Fortbildungen geprägt sind1. – Die regelmäßig eintretenden Unterbrechungen des laufenden Umgangs sollten so früh wie möglich durch vereinbarte oder gerichtlich angeordnete begleitete Umgangskontakte2 abgelöst werden. Die mit solchen Verfahren für den Vater und das Kind einhergehenden 181 Grundrechtseinschränkungen (Umgangsausschlüsse, Verfahrensverzögerungen) müssen gemildert werden durch die Durchsetzung eines befristeten Mindeststandards an Umgang (zB begleiteter Umgang, s. Rn. 279 ff.) sowie die Bestellung eines Verfahrensbeistands für das Kind bei erkennbarer Überforderung oder Verdachtsfixierung der Sorgeberechtigten. i) Vertretungsfragen3 aa) Die rechtsgeschäftliche Außenvertretung des Kindes nehmen die El- 182 tern gemeinschaftlich wahr, § 1629 Abs. 1 BGB, mit der Folge der schwebenden Unwirksamkeit, solange nur ein Elternteil gehandelt hat, § 177 BGB. Es empfehlen sich deshalb im Einzelfall für bestimmte Geschäftskreise 183 Untervollmachten4. Für den Empfang von Willenserklärungen genügt ein Elternteil. Die mögliche Einzelvertretung bei Gefahr im Verzuge (Notvertretungsrecht, s. dazu auch Rn. 79) löst eine sofortige Unterrichtungspflicht des anderen Elternteils aus. Bei der Gefahr von Interessenkollisionen5 sind die Eltern kraft Gesetzes auch dann von der Vertretung ausgeschlossen, wenn nur eine abstrakte Gefährdung der Kindesinteressen denkbar ist. Es sind dies die Fälle der §§ 1629 Abs. 2 S. 1, 1795, 1796 BGB, in denen für das Kind ein Ergänzungspfleger zu bestellen ist.
Û
Praxistipp: Zur ordnungsgemäßen Vertretung des Kindes im Verfahren auf Anfechtung der Abstammung genügt die Bestellung eines Ergänzungspflegers nicht. Vielmehr muss dem widerstrebenden Teil partiell das Sorgerecht entzogen werden (§ 1628 BGB); s. Rn. 109 Fn. 4.
1 Carl, FamRZ 1995, 1185 mwN. 2 Näher Vergho, FPR 2007, 296, auch zur „Regensburger Praxis.“ 3 Zu den Fragen rund um elterliche Sorge und Erbrecht vgl. Sarres, FuR 2012, 124 ff. 4 Zu Sorgerechtsvollmachten s. Hoffmann, FamRZ 2011, 1544. 5 Zum Begriff vgl. auch § 1796 Abs. 2 BGB und OLG Karlsruhe v. 21.8.1990 – 5 Wx 4/89, FamRZ 1991, 1337 (1338).
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Kap. 5 Rn. 185
Sorgerecht und Umgangsrecht
185
bb) Bei Trennung der Eltern bleibt es bei der grundsätzlich gemeinsamen Vertretungsbefugnis, eingeschränkt durch den Kreis der Geschäfte des täglichen Lebens, die nach § 1687 BGB auch der Elternteil allein vollziehen kann, bei dem sich das Kind gewöhnlich aufhält. Die bloße faktisch ausgeübte Obhut, nicht aber das bloße Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind1, genügt – solange die Obhut dauert – für die Befugnis, allein Unterhaltsansprüche gegen den anderen Elternteil geltend zu machen, § 1629 Abs. 2 S. 2 BGB. Diese Ansprüche sind im eigenen Namen geltend zu machen (gesetzliche Verfahrensstandschaft, § 1629 Abs. 3 BGB), solange die Eltern getrenntleben oder eine Ehesache zwischen ihnen anhängig ist.
186
Für die Anwendung des § 1629 Abs. 2 S. 2 BGB reicht es aus, wenn ein Elternteil das Kind überwiegend betreut und versorgt, auch wenn sein Beitrag den des anderen Elternteils nur geringfügig übersteigt.
187
Der Elternteil als gesetzlicher Prozessstandschafter wird nicht Inhaber der geltend gemachten Forderung. Mit der Volljährigkeit des Kindes endet die Prozessstandschaft und damit auch die Dispositionsbefugnis des Elternteils2.
188
Bei Alleinsorge und Wechsel des Kindes zum anderen Elternteil ist für dessen Unterhaltsklage ein Ergänzungspfleger zu bestellen3.
189
Unverheiratete Eltern mit Sorgeerklärung und geschiedene Eltern, denen noch gemeinsam das Sorgerecht zusteht, müssen Unterhaltsansprüche des Kindes gegen den anderen Teil im Namen des Kindes geltend machen, vertreten durch den die Obhut ausübenden Elternteil.
Û
Praxistipp: Wird die oben unter bb) behandelte Frage der tatsächlichen Obhut, die formelle Voraussetzung für die Befugnis ist, Unterhaltsansprüche gegen den anderen Elternteil geltend zu machen, nicht hinreichend aufgeklärt, oder ist dieser Punkt letztlich nicht aufklärbar, so geht dies zulasten des klagenden Elternteils. Die infolge einer Beweislastentscheidung anfallenden vergeblichen Prozesskosten können ein Schaden sein, der auf den Anwalt zurückfällt, der vor Klageerhebung nicht sorgfältig genug die Voraussetzungen für die Aktivlegitimation des klagenden Elternteils aufgeklärt hat4.
1 OLG Zweibrücken v. 26.9.1996 – 5 WF 99/96, FamRZ 1997, 570 (571); lebt das Kind bei keinem Elternteil, so bleibt es grundsätzlich bei den Vertretungsregeln des § 1629, dem Kind ist aber ein Ergänzungspfleger beizuordnen, OLG Stuttgart v. 26.4.2005 – 16 UF 65/05, FamRZ 2005, 1852 = FamRB 2005, 289. 2 OLG Naumburg v. 21.8.2000 – 14 WF 110/00, FamRZ 2001, 1236; OLG Düsseldorf v. 12.1.2001 – 6 UF 71/00, LS FamRZ 2001, 1235 = FamRB 2002, 39. 3 OLG Koblenz v. 3.7.2006 – 11 UF 164/06, FamRZ 2007, 412 = FamRB 2007, 39. 4 Vgl. den Fall OLG Hamburg v. 13.4.2000 – 2 UF 77/99, FamRZ 2001, 1235.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Û
Rn. 195
Kap. 5
Wichtig: Hier liegen erhebliche Haftungsgefahren für den Anwalt!
Einstweilen frei
190
j) Vermögenssorge und Haftung der Eltern aa) Genehmigungsbedürftigkeit von Rechtsgeschäften Zu prüfen ist, ob bei einer Gesamtbetrachtung aller schuldrechtlichen 191 und dinglichen Geschäfte ein Vorgang für das Kind nicht nur Vorteile bringt. In der Vermögensverwaltung bedürfen die Eltern gem. § 1643 BGB der familiengerichtlichen Genehmigung für die in §§ 1821, 1822 Nr. 1, 3, 5, 8–11, § 112 BGB genannten Geschäfte, die in § 1643 Abs. 2 BGB genannten erbrechtlichen Vorgänge sowie einseitige Geschäfte, § 1643 Abs. 3 i.V.m. § 1831 BGB. Diese familiengerichtlichen Eingriffsvorbehalte sind Ausnahmen vom Grundsatz der elterlichen Autonomie, welche eigentlich mit ungeschmälerter Vertretungsmacht versehen ist. Daraus folgt, dass eine Versagung der Genehmigung nach allen im Zeitpunkt der Entscheidung zu beurteilenden Gesamtumständen nur dann erfolgen darf, wenn das Geschäft nicht dem Interesse des Kindes entspricht. Insoweit ist der Genehmigungsvorbehalt dem Institut der gerichtlichen Kontrolle bei Kindeswohlgefährdung (§ 1666 BGB) angenähert; keineswegs soll er optimale Gestaltungen gewährleisten1.
192
Es wird sich bei diesen Geschäften nicht selten um eilbedürftige und 193 grundsätzlich wichtige Entscheidungen für die Ausgestaltung des Kindeswohls handeln. Den zur Genehmigung berufenen Familiengerichten obliegt dabei die Wahrung des Kindeswohls gegen möglicherweise divergierende Interessen der Eltern. Eltern sind nicht verpflichtet, rechtsgeschäftliche Genehmigungen für Erklärungen der Kinder zu erteilen.
194
Beispiel2: Ist der 17-jährige einem Dritten wegen eines Computerdelikts ersatzpflichtig und genehmigen die Eltern die von ihrem Kind abgegebene Unterlassungserklärung nicht, so sind sie dem Dritten bei Anwendung des Haftungsmaßstabs des § 1664 BGB nicht zum Ersatz vergeblicher Prozesskosten verpflichtet.
Der gerichtliche Streit um die Zulässigkeit von Einzelmaßnahmen kann die Familienharmonie beeinträchtigen.
1 OLG Zweibrücken v. 20.6.2000 – 5 UF 20/00, FamRZ 2001, 1236. 2 LG Bochum v. 28.6.1994 – 11 S 85/94, NJW-RR 1994, 1375.
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195
Kap. 5 Rn. 196
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Praxistipp: Es empfiehlt sich die Bitte an das Familiengericht (zuständig ist der Rechtspfleger), zur vorgelegten Frage einen Vorbescheid1 zu erlassen. Aufgrund dessen fällt die Beurteilung der eigenen Position und die Abschätzung des Werts etwaiger Rechtsmittelverfahren leichter.
bb) Vermögenssorge 196
Weil der Wortlaut des Gesetzes, § 1626 BGB, den Inhalt der diesbezüglichen Elternpflichten nicht wiedergibt, haben Rechtslehre und Praxis herausgearbeitet, dass die Vermögenssorge alle tatsächlichen und rechtlichen Maßnahmen umfasst, die darauf gerichtet sind, das Kindesvermögen zu erhalten, zu verwerten und zu vermehren, Schaden uU durch Abschluss einer Haftpflichtversicherung abzuwenden, wobei, wie stets bei gewissermaßen treuhänderischer Wahrnehmung von Rechten, die eigenen Interessen der Eltern zurückzustellen sind.
197
Nach § 1642 BGB haben Eltern das ihrer Verwaltung unterliegende Geld und sonstiges Vermögen des Kindes nach den Grundsätzen einer wirtschaftlichen Vermögensverwaltung2 anzulegen, soweit es nicht zur Bestreitung von Ausgaben bereitzuhalten ist. Diese Einschränkung wird näher definiert in § 1649 BGB, wonach die Einkünfte des Kindesvermögens, die zur ordnungsgemäßen Verwaltung des Vermögens nicht benötigt werden, für den Unterhalt des Kindes zu verwenden und damit zu entnehmen sind.
198
Eine erhebliche Einschränkung des Vermögenssorgerechts der Eltern findet statt, wenn Kinder von Todes wegen Vermögen erben, welches der Erblasser nach § 1638 BGB der Verwaltung der Eltern entzogen hat. Dann hat das Familiengericht von Amts wegen einen Ergänzungspfleger zu bestellen, dem Geltendmachung und Verwaltung dieses Vermögens obliegen. Der Sache nach ist das volle Ausübung der Vermögenssorge, so dass ein Gläubiger zB bei Pfändung des ererbten Vermögens den Ergänzungspfleger als Vertreter des Kindes angeben muss. Erbschaften und Schenkungen über 15 000 Euro müssen die Eltern unaufgefordert verzeichnen und dem Familiengericht anzeigen, § 1640 BGB.
199
Der beratende Anwalt kann in diesem Zusammenhang mit der Verwendungsregel des § 1649 BGB und Fragen konfrontiert werden, in welchem Umfang der Verwaltungsaufwand dem Kindesvermögen entnommen werden kann und inwieweit er den Eltern aufgrund ihrer Unterhaltspflicht persönlich zur Last fällt. 1 Von BVerfG v. 18.1.2000 – 1 BvR 321/96, BVerfGE 101, 397 ff. = FamRZ 2000, 731 in verfassungskonformer Auslegung von §§ 62, 55 FGG aF entwickelt; vgl. BayObLG v. 30.11.2004 – 3Z BR 125/04, FamRZ 2005, 828. S. § 352 Abs. 2 FamFG (Erbscheinsverfahren). 2 Palandt/Diederichsen, § 1642 BGB Rn. 1.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 202
Kap. 5
– Solange die Eltern einen Teil des Unterhalts aus den Vermögenserträgnissen entnehmen, haben sie auch die Verwaltungskosten anteilig zu tragen. – Der Finanzierungsaufwand für das von Eltern und Kind bewohnte Haus darf idR nicht, auch nicht darlehensweise, dem Kindesvermögen entnommen werden, weil die Eltern verpflichtet sind, die Wohnversorgung des Kindes kraft Unterhaltspflicht sicherzustellen. Diese wirtschaftliche Vermögensverwaltung geht über den Pflichtenrah- 200 men hinaus, der sich für den Vormund bei Mündelvermögen aus den §§ 1807 und 1808 BGB ergibt1. Einzelfälle
201
– Schenkt die Großmutter dem Kind ein Sparbuch mit der Maßgabe, dass es bei Eintritt der Volljährigkeit frei darüber verfügen könne, so dürfen Eltern das Geld nicht vorher auf eigenen Namen anlegen, auch nicht, wenn davon Unterhaltsaufwendungen und Weiterbildungskosten bezahlt werden sollen. – Auflaufende Zinsen des Kindesvermögens dürfen zwar grundsätzlich als eigene Einkünfte für den Unterhalt verwendet werden, nicht mehr jedoch, wenn die Zinsen fest wieder angelegt und damit der Vermögenssubstanz zugeführt waren. – Ausgaben i.S.v. § 1642 BGB sind zB auch Aufwendungen oder Steuern. § 1648 BGB bestimmt, dass Aufwendungen, die den Umständen nach für erforderlich gehalten werden dürfen, aus dem Kindesvermögen entnommen werden können. Ausgaben dürfen getätigt werden, wenn sie zB kraft gesetzlicher Verpflichtung unabweisbar sind. Können sie hingegen vermieden werden, wie zB durch Nutzung steuersparender Rechtskonstruktionen, so entspricht es einem allgemeinen familienvermögensrechtlichen Konsens, dass solche Sparmöglichkeiten genutzt werden müssen. Wenn schon die Selbstbeschränkung auf eine Mindestrendite bei gesetzlichen Spareinlagen pflichtwidrig ist2, dann gilt dies erst recht für die unterlassene Nutzung von Steuersparmöglichkeiten und naheliegender Erwerbsmöglichkeiten. – Es sind die „üblichen“ Möglichkeiten zur Vermögensmehrung zu nutzen3. Bei Prüfung der Frage, ob die Eltern ihrer gesetzlichen Vermögensbetreu- 202 ungspflicht nachgekommen sind oder diese verletzt haben, ist ein objektiver Maßstab anzulegen. Auf ein Verschulden der Eltern kommt es nicht an4. Festgestellt werden müsste, dass die Gefahr weiterer Fehler besteht, 1 Palandt/Diederichsen, § 1642 BGB Rn. 1. 2 LG Kassel v. 16.5.2002 – 8 O 1391/97, FamRZ 2003, 627. 3 BayObLG v. 20.5.1994 – 1Z BR 49/94, FamRZ 1994, 1191 = DRsp 1995/1294 dort zu Rn. 14. 4 St. Rspr. des BayObLG, zB v. 20.5.1994 – 1Z BR 49/94, FamRZ 1994, 1191.
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Kap. 5 Rn. 202
Sorgerecht und Umgangsrecht
wovon immer auszugehen ist, wenn tatsächlich bereits ein Schaden eingetreten ist; es genügt die Vermögensgefährdung1. Ferner muss festgestellt sein, dass die Eltern zur Abhilfe nicht bereit oder in der Lage sind. Die Beantwortung dieser Fragen2 ist Voraussetzung für die staatlichen Schutzmaßnahmen nach §§ 1666 Abs. 1 und 2, 1667 BGB durch das Familiengericht (Rechtspfleger3). Die nachfolgenden Maßnahmen sind abschließend aufgeführt, aber alternativ und auch nebeneinander möglich und können je nach dem Grad der Gefährdung und der Art des zu schützenden Vermögens nach dem Ermessen des Gerichts frei gestaltet werden. – Erste Maßnahme ist immer die Anhörung der Eltern, denn alle Eingriffe des Familiengerichts stehen unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit4.
Û
Praxistipp: Wer ein Tätigwerden des Gerichts bei bedeutender vermögensrechtlicher Brisanz anregt, sollte auf das notwendige rechtliche Gehör auch für das Kind hinweisen5 und verlangen, dass dem Kind ein Verfahrensbeistand bestellt wird6.
Sodann: – Anordnung eines Vermögensverzeichnisses und Anordnung der Rechnungslegung über die Verwaltung, ggf. mit Versicherung an Eides statt. – Anordnungen für eine bestimmte Anlage von Geld, bei Wertpapiervermögen Anordnung von Beschränkungen i.S.v. §§ 1814 BGB (Hinterlegung von Inhaberpapieren), 1815 BGB (Umschreibung von Inhaberpapieren auf den Namen des Kindes und Bindung einer Verfügung an die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts), 1816 BGB (Sperrung von Buchforderungen gegen die öffentliche Hand) und 1818 BGB (Anordnung der Hinterlegung von Wertpapieren, die nicht Inhaberpapiere i.S.v. § 1814 BGB sind). – Anordnung der Sicherheitsleistung für etwaige Nachteile aus der Vermögensverwaltung; hierdurch könnte die stärkste Maßnahme, die Entziehung der Vermögenssorge, abgewendet werden; erfolgt die Sicherheitsleistung nicht, bleibt nur noch die
1 2 3 4 5 6
OLG Frankfurt v. 4.4.2005 – 5 UF 317/04, DRsp 2005/9137. Vgl. Palandt/Diederichsen, § 1666 BGB Rn. 37. Näher zum Verfahren Staudinger/Coester, § 1666 BGB Rn. 206 ff. BayObLG v. 7.3.1989 – BReg.1a Z 51/88, FamRZ 1989, 1215 (1216). BVerfG v. 18.1.2000 – 1 BvR 321/96, FamRZ 2000, 731. So mit Recht auch für vermögensrechtliche Angelegenheiten Perlwitz/Weber, FamRZ 2011, 1350. KG v. 4.3.2010 – 17 UF 5/10, FamRZ 2010, 1171 = FamRB 2010, 235 kann mE nicht als Gegenstimme gelten, da es im entschiedenen Fall um die Genehmigung einer Erbausschlagung ging, für die ein Ergänzungspfleger bestellt wurde; Anm. Zorn, RPfl. 2010, 425: § 158 FamFG sehe keinen Verfahrenspfleger für vermögensrechtliche Angelegenheiten vor; mE zu eng.
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Grisebach
Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 208
Kap. 5
– Entziehung der Vermögenssorge, Bestellung eines Pflegers, Anordnung der Herausgabe des Vermögens. – Ggf. vorläufige Maßnahmen, zB im Wege des Arrestes. Die Maßnahmen nach § 1667 BGB stehen stets selbständig neben etwaigen Schadensersatzansprüchen des Kindes aus § 1664 BGB.
203
Wird das Familiengericht auf Anregung Dritter tätig, so haben diese kein 204 Beschwerde- und Akteneinsichtsrecht1. cc) Haftung der Eltern Haftung setzt Verschulden voraus; den Eltern kommt eine Haftungsprivi- 205 legierung zugute. Sie haften nur für die Sorgfalt wie in eigenen Angelegenheiten, § 1664 Abs. 1 BGB. Zugleich gilt § 1664 BGB als eigenständige Anspruchsgrundlage für etwaige Ansprüche des Kindes gegen die Eltern wegen Verletzung der aus der elterlichen Sorge folgenden Verpflichtung, insbesondere der Aufsichtspflicht. Für Verletzungen der Aufsichtspflicht, die zur Schädigung Dritter führen, gilt der – nicht privilegierte – Haftungsmaßstab des § 832 BGB; für diese Haftung gegenüber Dritten kann eine Haftpflichtversicherung unterhalten werden. Die praktische Bedeutung dieser Privilegierung wird dann deutlich, wenn 206 das Kind von Dritten geschädigt wird und hierzu möglicherweise ein Aufsichtsverschulden der eigenen Eltern beigetragen hat. Haftet nämlich ein Elternteil, steht er nach § 840 BGB neben dem anderen Schädiger als Gesamtschuldner und könnte von diesem oder dessen Haftpflichtversicherung auf Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 Abs. 2 BGB in Anspruch genommen werden. Haftet der Elternteil nicht, weil sein Verhalten im Ergebnis nicht grob fahrlässig war, entfällt das finanzielle Risiko eines Gesamtschuldnerausgleichs2. Überschreiten die Eltern die ihnen gezogenen Grenzen grob fahrlässig, haften sie dem Kind auf Rückerstattung nach § 1664 BGB3.
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Verursachen die Eltern Verluste durch grob fahrlässigen Umgang mit einem Sparbuch des Kindes, haften sie auf Schadensersatz4. Entstehen hingegen Spekulationsverluste im Rahmen der Vermögensverwaltung, in die auch eigenes Vermögen einbezogen ist, so gilt der „eigenübliche“ Risikomaßstab.
208
1 OLG Hamm v. 30.7.2003 – 11 WF 35/03, FamRZ 2004, 887. 2 Vgl. OLG Karlsruhe v. 11.8.2008 – 1 U 65/08, FamRZ 2009, 707; OLG Düsseldorf v. 26.2.1999 – 22 U 201/98, FamRZ 2000, 438. 3 LG Berlin v. 4.5.2001 – 8 O 159/01, n.v.; AG Bad Schwartau v. 16.12.1997 – 3 C 684/97, FamRZ 1999, 315; AG Nordhorn v. 22.2.2001 – 3 C 39/01, FamRZ 2002, 341. 4 OLG Köln v. 23.10.1996 – 2 U 20/96, FamRZ 1997, 1351.
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Kap. 5 Rn. 209
Sorgerecht und Umgangsrecht
209
Jeder Elternteil haftet dem Kind und Dritten gegenüber nur für das eigene Verschulden, zB im Rahmen der persönlichen Ausübung der Aufsichtspflicht. Die Haftungserleichterung gilt auch im Rahmen der tatsächlichen Ausübung der Obhut, zB während das Kind sich bei einem Elternteil allein aufhält, der dann die nach § 1687 BGB abzugrenzenden Befugnisse hat oder ein Umgangsrecht wahrnimmt (vgl. auch Rn. 100, 205)1.
210
Keine Privilegierung: § 1664 BGB gilt nicht bei Schädigung des eigenen Kindes infolge Verletzung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften2. Ferner begünstigt die Vorschrift nicht die Haushaltspraktikantin oder eine sonstige Aufsichtsperson kraft Auftrags3.
211
Stellt das Familiengericht im Rahmen von Überprüfungs- oder Ordnungsmaßnahmen nach §§ 1666, 1667 BGB mögliche Schadensersatzansprüche des Kindes fest, so hat es dem Kind für deren Prüfung und Durchsetzung einen Ergänzungspfleger zu bestellen. k) Rolle und Einfluss des Kindes bei der Lösung familienrechtlicher Konflikte
212
aa) Die Eigendynamik von Partnerkonflikten verdrängt oft die Fähigkeit, die Interessen des Kindes zu erkennen. Wenn beide Eltern sich als „wahre“ Vertreter der Kindesinteressen sehen, wird das Kind bald zum bloßen Objekt ihres Handelns. Mit dem Sorgerechtsgesetz von 1980 sind daher gesetzliche Instrumente zur Stärkung der eigenen Rechtsposition des Kindes in diesem Konflikt eingeführt worden.
213
bb) Sowohl die möglichst autonome Entscheidungsbefugnis der Familie als auch die gesetzlich vorgesehenen Eingriffsbefugnisse des Staates sind unter die gemeinsame Zielvorstellung der Verwirklichung des Kindeswohls gestellt worden (§§ 1626 Abs. 2, 1697a BGB). In jedem Lebensalter soll die Balance zwischen notwendiger Fremdbestimmung und schrittweiser Hinführung zur eigenverantwortlichen Mitwirkung an Entscheidungen durch einen Beratungsanspruch der Eltern und Kinder gefördert werden. Kinder, Jugendliche und ihre Eltern haben im Falle der Trennung oder bevorstehenden Scheidung der Eltern einen Anspruch auf individuelle Beratung und Unterstützung durch die Jugendämter, §§ 17, 28, 36 SGB VIII. Damit dieses Beratungsangebot bekannt wird und wahrgenommen werden kann, sollte hierauf schon in der anwaltlichen Erstberatung hingewiesen werden. Die Inanspruchnahme der Beratungsleistung und Hilfe des Jugendamts kann vom Gericht erzwungen werden (§ 1666 1 BGH v. 1.3.1988 – VI ZR 190/87, FamRZ 1988, 810. 2 Palandt/Diederichsen, § 1664 BGB Rn. 4; MüKo.BGB/Hinz, § 1664 BGB Rn. 6 unter Hinweis auf die Ablehnung einer Haftungsprivilegierung im Straßenverkehr zwischen Eheleuten, § 1359 BGB; vgl. BGH v. 11.3.1970 – IV ZR 772/68, BGHZ 53, 352. 3 BGH v. 17.10.1995 – VI ZR 358/94, FamRZ 1996, 155; BGH v. 1.3.1988 – VI ZR 190/87, FamRZ 1988, 810.
314
Grisebach
Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 215
Kap. 5
Abs. 3 Nr. 1 BGB). Es war ein Hauptanliegen des KiWoMaG, den Jugendämtern bei einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls eine möglichst frühzeitige Anrufung des Familiengerichts zu ermöglichen, ohne dass eine missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge bereits feststeht (§ 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII). cc) Das Gericht hat in allen Verfahren, die die Person des Kindes betref- 214 fen, die Mitwirkung (nicht nur die Anhörung) des Jugendamts1 zu veranlassen, § 162 FamFG. Umgekehrt sollen frühzeitig Informationen über etwaige Kindeswohlgefährdungen vom Jugendamt an das Familiengericht gehen (§ 22a Abs. 2 FamFG). Das Jugendamt muss sich alle notwendigen Informationen verschaffen, um abschätzen zu können, ob eine Gefahr für das Kindeswohl gegeben ist, ob diese voraussichtlich mit eigenen Mitteln und Kräften bewältigt werden kann oder ob Eingriffe des FamG erforderlich sind.
Û
Praxistipp: Ein Jugendamtsmitarbeiter kann nicht – wie ein Gehilfe des Gerichts – abgelehnt werden.
Selbst wenn die Eltern das Beratungsangebot nicht in Anspruch nehmen, soll das Jugendamt erzieherische und soziale Gesichtspunkte in Bezug auf die Entwicklung des Kindes einbringen, § 50 Abs. 2 SGB VIII (KJHG).
214a
Beispiele: Die noch nicht volljährige Tochter muslimischer Eltern wehrt sich gegen eine Zwangsverheiratung und wendet sich an das Jugendamt. Dieses kann bei Uneinsichtigkeit der Eltern eine Unterbringung der Jugendlichen mit deren Einverständnis im Jugendheim anordnen und darauf hinwirken, dass zu ihrem Schutz Anordnungen nach § 1666 Abs. 3 Nr. 3, 4 BGB erlassen werden oder den Eltern das Personensorgerecht entzogen wird2. Schutz vor drohender Genitalverstümmelung bei einer Reise in die Heimat der Mutter3.
dd) Im Rahmen der Amtsermittlung muss das Gericht das Kind persön- 215 lich anhören, §§ 34 Abs. 1, 159 Abs. 1 und 2 FamFG4. Dabei wird die bei Kindern unter 14 Jahren nicht obligatorische Anhörung in der Sache immer dann geboten sein, wenn es auf Neigungen, Bindungen und Willen des Kindes ankommt. Die Anhörung erfolgt in Abwesenheit der übrigen Verfahrensbeteiligten und kann (mit Zustimmung der Eltern) in deren Wohnung, nach freiem Ermessen des Gerichts aber auch im Richterzimmer, vor/nach der Schule, im Kindergarten oder sonst einer vertrauten 1 Zu dem Schutzauftrag des Jugendamts nach §§ 8a, 42 SGB VIII vgl. Willutzki, FPR 2008, 488. 2 OLG Köln v. 25.9.2000 – 14 UF 66/00, FamRZ 2001, 1087: Die Jugendliche hat ein eigenes Beschwerderecht. 3 BGH v. 15.12.2004 – XII ZB 166/03, FamRZ 2005, 344 = FamRBint 2005, 26 (511); OLG Karlsruhe v. 25.5.2009 – 5 UF 224/08, FamRZ 2009, 1599. 4 Vgl. Schael, FamRZ 2009, 265 (267 f.).
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315
Kap. 5 Rn. 216
Sorgerecht und Umgangsrecht
Umgebung durchgeführt werden. Das Gericht hat sich einen persönlichen Eindruck vom Kind zu verschaffen und muss – altersentsprechend mehr oder weniger – seinen Willen erforschen. Die Ergebnisse dieser richterlichen Amtsermittlung sind in Aktenvermerken festzuhalten und den Verfahrensbeteiligten nachträglich bekannt zu geben1. Altersgrenzen sind verfassungsrechtlich bedenklich2. 216
Nach § 159 Abs. 3 FamFG darf von der persönlichen Anhörung eines Kindes nur aus „schwerwiegenden Gründen“ abgesehen werden. Das müsste vom Gericht näher begründet werden3. Schwerwiegende Gründe sind die konkrete Gefahr, dass das Kind durch die Anhörung aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht wird oder eine gesundheitliche Beeinträchtigung droht. Die Anhörung des Kindes in der Beschwerdeinstanz muss vom entscheidenden Spruchkörper vorgenommen werden, wenn man von einer Enscheidung des Amtsgerichts abweichen will, oder wenn es auf den persönlichen Eindruck vom Kind und dessen Willen ankommt4. Das muss zwingend der gesamte Senat sein, wenn dieser entscheidet, hindert aber nicht die Möglichkeit der Übertragung der Angelegenheit auf den Einzelrichter nach § 68 Abs. 4 FamFG (Voraussetzung: ua. keine besonders schwierige Sach- oder Rechtslage)5.
217
Hingegen genügt nicht das folgende formelhafte Abwägungsergebnis: „Von einer Anhörung der Kinder ist abgesehen worden, weil damit eine Beunruhigung verbunden gewesen wäre, die in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem damit verbundenen Erkenntniszuwachs gestanden hätte, § 50b Abs. 3 FGG“. Zugrunde lag ein Fall sieben- und zehnjähriger Kinder, in dem zu prüfen war, ob die mangelhafte Kommunikation der Eltern miteinander ein ausreichender Grund für die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge sein könnte6.
218
ee) Das Kind ist in Sorgerechtssachen immer formell zu beteiligen. Die gesetzliche Vertretung des Kindes durch die Eltern läuft regelmäßig leer, wenn diese sich streiten. Statt eines partiellen Sorgerechtsentzugs und Bestellung eines Ergänzungspflegers ist vielmehr als milderes Mittel ein Beistand für das Kind zu bestellen7. Der Ergänzungspfleger soll also seltene Ausnahme bleiben.
1 2 3 4
OLG Saarbrücken v. 21.11.2005 – 2 UF 13/05, FamRZ 2006, 557. BVerfG v. 23.5.2007 – 1 BvR 156/07, FamRZ 2007, 1078 = FamRB 2007, 234. OLG Köln v. 14.1.1999 – 3 UF 309/98, FamRZ 1999, 617. BGH v. 28.4.2011 – XII ZB 81/09, FamRZ 2010, 1060; BGH v. 16.3.2011 – XII ZB 407/10, FamRZ 2011, 796. 5 S. Prütting/Helms, § 68 FamFG Rn. 31 ff. 6 AG Augsburg v. 11.10.1999 – 404 F 1384/99, n.v. 7 BGH v. 7.9.2011 – XII ZB 12/11, FamRZ 2011, 1859 m. Anm. Stößer = FamRZ 2011, 1788 = FamRB 2011, 371; gegen OLG Oldenburg v. 28.10.2010 – 14 UF 114/10, FPR 2011, 342; hierzu Schmid, FPR 2011, 5.
316
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 221
Kap. 5
Der Verfahrensbeistand1 für das Kind ist durch § 158 FamFG (früher § 50 218a FGG) gesichert. Damit folgte der Gesetzgeber Art. 12 Abs. 2 der UN-Kinderrechtekonvention. Das Gericht hat die Verpflichtung zur Beiordnung eines eigenen, aus der Staatskasse zu vergütenden Beistands für das Kind („Anwalt des Kindes“). Auslöser für die Bestellung wäre vor allem die konkrete Befürchtung, dass Eltern mit ihren eigenen Interessen in Konflikt mit denen des Kindes geraten2. § 158 Abs. 2 FamFG nennt als Regelfälle: Interessengegensatz zwischen 218b Kind und gesetzlichem Vertreter, wenn eine Entziehung der Personensorge in Betracht kommt, wenn das Kind von seiner Obhutsperson getrennt werden soll, wenn Ausschluss oder wesentliche Beschränkung des Umgangsrechts in Betracht kommen. Der Beurteilungsmassstab ist dabei der der Kindesbedürfnisse. Besondere Aufmerksamkeit gebührt dabei dem Merkmal des Interessengegensatzes, zB dann wenn ein Elternteil nicht „loslassen“ kann und die Wahrung der eigenen Interessen in den Vordergrund seines Vorgehens stellt. Auch wenn die Bestellung eines Verfahrensbeistands in das Eltern- und 219 Sorgerecht eingreift (§ 1630 Abs. 1 BGB), hat das FamFG eine Anfechtung der Bestellung oder deren Ablehnung bewusst ausgeschlossen (§ 158 Abs. 3 S. 3 FamFG). Allzu heftig und zeitraubend wurde unter der Geltung des früheren Rechtszustandes über die Berechtigung der Bestellung gerichtlich gestritten. Das widerspricht dem nunmehr geltenden Beschleunigungsgebot. Legt man die Formel vom Sachwalter des Kindeswillens funktional aus, 220 so erscheint der Verfahrensbeistand auch geeignet, Manipulationen des Kindeswillens in Fällen mittelschwerer PAS-Fälle (dazu Rn. 90 ff.) entgegenzuwirken und den Kindesinteressen in der oft von starken persönlichen Vorwürfen geprägten Auseinandersetzung der Eltern Geltung zu verschaffen. Der Familienrichter sollte die oft verfahrensberuhigende Funktion, die 221 ein Verfahrensbeistand in emotional hoch aufgeheizten Verfahren ausüben kann, nicht gering schätzen. Das Kind wird gewissermaßen vor allzu direkter Vereinnahmung durch die beteiligten Erwachseneninteressen abgeschirmt. Gerade in Situationen (zB Pflegekindfälle), in denen das Jugendamt als gesetzlicher Vertreter gegenüber den massiven Versuchen der Eltern zur Wiedererlangung des Umgangs- oder Sorgerechts überfordert erscheint, ist die Einsetzung eines Verfahrensbeistands das Mittel der Wahl. Demgemäß könnte ein konkreter Antrag eines Verfahrensbevollmächtigten dem Richter eine Brücke für einen Ausweg aus einer Situation bauen, die sich festzufahren droht.
1 Weiterführend Stötzel, FPR 2009, 27. 2 BVerfG v. 29.10.1998 – 2 BvR 1206/98, FamRZ 1999, 85 (86).
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Kap. 5 Rn. 222 222
Sorgerecht und Umgangsrecht
Voraussetzung für einen unbefangenen Umgang mit dem Verfahrensbeistand ist allerdings ein funktionierendes Vertrauensverhältnis zwischen Richter und Rechtsanwalt (Verfahrensbeistand).
Û
Praxistipp: Im Hinblick auf das restriktive Aufgabenverständnis des Gesetzes sollte der genaue Aufgabenkreis des Verfahrensbeistands mit dem Gericht bereits vor der Bestellung erörtert und im Bestellungsbeschluss möglichst präzise beschrieben werden. Das Aufgabengebiet des Beistands ist gegenüber dem früheren Rechtszustand stark pauschaliert worden. Es wird zwischen dem einfachen Beistand (Sachwalter der formalen Rechtsposition des Kindes) und dem erweiterten Beistand unterschieden. Nur der als „erweiterter“ bestellte Beistand soll befugt sein, die materiellen Kindesrechte wahrzunehmen und zB Vermittlungsgespräche mit den Beteiligten zu führen. Dazu muss das Gericht ihn ausdrücklich und im Einzelnen ermächtigen. Ein freies Handlungsermessen hat der Beistand dann nicht mehr (§ 158 Abs. 4 S. 3 FamFG)
223
Nach § 158 Abs. 5 FamFG soll die Bestellung eines Verfahrensbeistands unterbleiben, wenn das Kind einen eigenen Verfahrensbevollmächtigten hat, der eine unabhängige Geltendmachung des Kindeswillens gewährleistet. Das wird in der Praxis eher selten der Fall sein. Der vom vertretungsberechtigten Elternteil bestellte Anwalt könnte von dessen eigener Interessenlage allzu sehr geprägt sein, zB im Falle der Überforderung, der auch bei anwaltlicher Vertretung eintreten kann. Das ist nicht selten in den Fällen zu beobachten, in denen ein Elternteil mit dem Verdacht sexuellen Missbrauchs nicht mehr mit der nötigen Distanz umgehen kann1.
Û
Praxistipp: Will das Gericht von der Bestellung eines Verfahrensbeistands absehen, so bedarf das einer ausdrücklichen Begründung ähnlich wie beim Absehen von der Anhörung des Kindes.
224
Es wäre wünschenswert, wenn die verfahrensbevollmächtigten Anwälte sich mehr als Interessenvertreter des Kindes einbrächten, nämlich mehr kritische Distanz zum „Mandatsauftrag“ der Durchsetzung der Elterninteressen einnähmen. Umso weniger Signale geben sie dem Gericht, dass die Einsetzung eines Verfahrensbeistands für das Kind erforderlich sein könnte. Gerade wer an einer Straffung und Beschleunigung des Verfahrens interessiert ist, könnte wenig Interesse an der Einsetzung eines weiteren Beteiligten haben.
225
Umgekehrt ist es Aufgabe des Vertreters der anderen Partei, die gesetzlichen Gründe für die Notwendigkeit eines Beistands für das Kind aufzuzeigen. 1 Carl, FamRZ 1995, 1190.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 227
Kap. 5
In allen Fällen muss man bedenken, dass die Bestellung eines Verfahrensbeistands für das Kind offene Kritik des Gerichts daran bedeutet, dass eine Partei und ihr Anwalt nicht die Interessen des Kindes im Auge haben. Das kann, muss aber nicht zur Dämpfung hochgehender Emotionen beitragen.
225a
Kostenfragen: Die neu geregelte Vergütung des Verfahrensbeistands mit 226 Pauschalsätzen von 350 Euro für den einfachen Beistand und 550 Euro für den erweiterten Beistand (§ 158 Abs. 7 FamFG) war dieser verantwortungsvollen und sachlich attraktiven Anwaltsaufgabe nicht angemessen. Durch den nachträglich angefügten S. 2 ist nun klargestellt, dass die Vergütung in jedem Rechtszug und auch im einstweiligen Rechtsschutz neu entsteht1. Die Kostenfolgen einer intensiven Einbindung des Verfahrensbeistands sollten nicht unterschätzt werden. Die Eltern haften regelmäßig je zur Hälfte.
Û
Praxistipp: Der Mandant ist hierüber ebenso zu belehren2, wie über die erheblichen Kosten eines Sachverständigen.
ff) Der Kindeswille3 ist in Sorgerechtssachen zwar nicht streitentschei- 227 dend (Kindeswohl geht vor Kindeswille4), aber stets und grundsätzlich in jedem Alter im Gesamtzusammenhang beachtlich, vor allem, wenn er sich so deutlich artikuliert, dass er ohne Existenzgefährdung des Kindes nicht übergangen werden kann5. Stets muss er aber am objektiv verstandenen Kindeswohl gemessen werden6, und er muss unbeeinflusst sein7. Das gilt auch für über 14 Jahre alte Kinder, die schon eine eigene Beschwerdebefugnis haben, § 60 FamFG.
Û
Praxistipp: „Begünstigte“ Elternteile und ihre Anwälte, aber auch Verfahrensbeistände neigen oft dazu, den geäußerten Kindeswillen als streitentscheidend zu bewerten. Dem sollte die andere Seite entgegentreten, würde dadurch doch oft eine sorgfältige Abwägung aller Kriterien des Kindeswohls unterbleiben.
1 Näheres und Verfahrenshinweise bei Schneider, JurBüro 2010, 566; ferner Stößer, FamRZ 2010, 1976. 2 Vgl. Viefhues, FamRZ 2010, 2064; Menne, Anm. zu BGH v. 15.9.2010 – XII ZB 209/10, FamRB 2010, 364. 3 Dazu näher Röchling, FPR 2008, 481. 4 OLG Brandenburg v. 23.8.2010 – 15 UF 77/10, FamRZ 2011, 121. 5 So OLG Hamm v. 7.2.1996 – 6 UF 510/94, FamRZ 1096, 1097; großzügiger für den festgestellten ausdrücklichen Willen eines sechsjährigen Kindes OLG Frankfurt v. 3.7.2001 – 3 UF 373/98, juris-Dok.-Nr. 507212002. 6 OLG Köln v. 28.5.2004 – 4 UF 150/03, FamRB 2005, 40. 7 OLG Hamburg v. 26.10.2001 – 12 UF 22/01, 12 WF 52/01, FamRZ 2002, 566 (567) unter Berufung auf BVerfG v. 2.4.2001 – 1 BvR 212/98, FamRZ 2001, 1057.
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319
Kap. 5 Rn. 228 228
Sorgerecht und Umgangsrecht
In Umgangsrechtssachen hingegen ist der Kindeswille von uU ausschlaggebender Bedeutung, wenn er unbeeinflusst, nachvollziehbar und mit dem objektiv verstandenen Kindeswohl vereinbar ist1. Insoweit ist seit dem Sorgerechtsgesetz von 1980 eine Wende eingeleitet worden. Hatte damals noch der Rechtsausschuss des Bundestages gemeint, der entgegenstehende Wille des Kindes sei von untergeordneter Bedeutung2, so stehen heute die Erforschung und Bewertung des Kindeswillens im Zentrum der meisten streitigen Umgangsverfahren3. Beispiele: Will ein Elternteil mit dem Kind ins Ausland ziehen, so müsste das durch schwerwiegende Gründe gerechtfertigt sein, der Wille des (neunjährigen) Kindes darf nicht entgegenstehen und der Umgang des anderen Elternteils muss gewährleistet sein4. In PAS-Fällen (Rn. 90 ff.) ist der (beeinflusste oder freie) Kindeswille der zentrale Untersuchungsgegenstand, wenn es um die Wiederherstellung des Umgangskontakts des nicht betreuenden Elternteils geht. Im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG v. 1.4.20085 hat sich sich die Diskussion um den Wert zwangsweise durchgesetzter Umgangsregelungen verstärkt. Vor allem und richtigerweise wird eine mehr an den Bedürfnissen des Kindes und der Qualität der Kontakte ausgerichtete Entscheidungspraxis angemahnt6. Der Anordnung eines Umgangsrechts für einen 16-jährigen Jugendlichen steht uU dessen Persönlichkeitsrecht entgegen7.
229
Ob ein unbeeinflusster Kindeswille vorliegt, ist von Amts wegen, ggf. unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen, aufzuklären. Die möglichst zuverlässige Ermittlung des Kindeswillen ist in Umgangssachen (s. Rn. 243 ff.) ab einem Alter von drei Jahren durch das Gericht persönlich durch Anhörung des Kindes vorzunehmen8. Das ergibt sich auch aus § 159 Abs. 2 FamFG. Danach muss das Kind persönlich angehört werden, wenn (neben seinen Neigungen und Bindungen) auch sein Wille für die Entscheidung von Bedeutung ist9.
1 Staudinger/Peschel-Gutzeit, § 1634 aF BGB Rn. 191; Völker/Clausius, Sorgeund Umgangsrecht in der Praxis § 2, Rn. 81, 139; OLG Bamberg v. 12.5.1997 – 7 UF 215/96, FamRZ 1998, 970 (971); OLG Celle v. 15.7.1997 – 18 UF 70/97, FamRZ 1998, 973 (974). 2 Belchaus, Elterliches Sorgerecht 1980, § 1634 BGB, Rn. 6. 3 Finke, AnwBl. 2001, 603. 4 Beruht der Kindeswille auf pathologischem Verhalten der Eltern, ist er unbeachtlich: AG Daun v. 27.6.2007 – 2 F 300/05, FamRZ 2008, 1879; vgl. auch OLG Köln v. 18.1.2006 – 4 UF 209/04, FamRZ 2006, 1625 = FamRBint 2006, 76; zum vorläufigen Rechtsschutz für den Wegzugswilligen OLG Köln v. 11.1.2006 – 4 UF 229/05, FamRZ 2006, 1625. 5 BVerfG v. 1.4.2008 – 1 BvR 1620/04, FamRB 2008, 174. 6 Vgl. Rakete-Dombek, FPR 2008, 492 (494). 7 KG v. 2.2.2010 – 13 UF 189/09, FamRZ 2010, 122. 8 BVerfG v. 23.7.2007 – 1 BvR 156/07, FamRZ 2007, 1078. 9 S. dazu Schael, FamRZ 2009, 265 (267 f.).
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 233
Kap. 5
l) Besonderheiten bei Kindern nicht miteinander verheirateter Eltern1 aa) Das Sorgerecht steht grundsätzlich allein der Kindesmutter zu. Dabei 230 unterscheiden sich Begriff und Inhalt der elterlichen Sorge nicht von dem, wie er unter Rn. 47 ff. für eheliche Kinder beschrieben wurde. Nur die Mutter als allein sorgeberechtigter Elternteil hat auch Anspruch auf staatlichen Beistand (§ 1713 Abs. 1 S. 1 BGB). Qualität und Inhalt des Sorgerechts ändern sich nicht, wenn die Mutter mit dem Vater des Kindes zusammenlebt. Deshalb hat auch die Trennung der Eltern keinen unmittelbaren rechtlichen Einfluss. bb) Das Gesetz sieht eine gerichtliche Regelungsbefugnis nur für den Fall des dauernden Getrenntlebens der Eltern vor (§ 1672 Abs. 1 BGB), nicht aber für den Fall, dass die Eltern in einem faktischen Familienverband (harmonisch) zusammenleben. Diese bei ehelichen Kindern als selbstverständlich akzeptierte optimale Voraussetzung für die Verwirklichung des Kindeswohls wird bei nichtehelichen Kindern nicht mit der möglichen Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge belohnt.
231
Die gerichtliche Regelungsbefugnis bestand nach dem Wortlaut des 232 § 1672 BGB überhaupt nur unter der Voraussetzung einer Zustimmung der Mutter. § 1672 BGB hatte deshalb in der Praxis keine Bedeutung, wenn man von dem Sonderfall der bereits von der Mutter bewilligten Adoption des Kindes durch den Vater absieht: Nach § 1751 Abs. 1 S. 6 BGB kann der Vater nach Einwilligung der Mutter in die Adoption einen Alleinsorgeantrag auch ohne Zustimmung der Mutter stellen2. Diese vom BVerfG lange gebilligte (s. Rn. 234 Fn. 5) Rechtslage stand un- 233 ter dem Vorbehalt der Bewährung in der Praxis. Der Gesetzgeber müsse beobachten, ob tatsächlich zusammenlebende, nicht miteinander verheiratete Eltern regelmäßig eine gemeinsame Sorgeerklärung (s. unten Rn. 235) abgeben. Tatsächlich ist dies in nur knapp der Hälfte der Fälle so. Auch gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Ablehnung der gemeinsamen Sorgeerklärung durch die Mütter nicht immer auf Gründen des Kindeswohls beruht. Der Beschluss des BVerfG v. 21.7.2010 (s. Fn. 1) sah die Grenze der Verfassungswidrigkeit erreicht und erteilte dem Gesetz-
1 Die Darstellung berücksichtigt die Übergangsphase nach der Entscheidung des BVerfG v. 21.7.2010 – 1 BvR 420/09, FamRZ 2010, 1403 m. Anm. Luthin = FamRZ 2011, 452 = FamRB 2010, 301. Das BVerfG hat die §§ 1626a Abs. 1 Nr. 1 und 1672 Abs. 1 BGB für verfassungswidrig erklärt und mit Gesetzeskraft angeordnet, dass bis zu einer gesetzlichen Neuregelung der Vater auch ohne Zustimmung der Mutter durch gerichtliche Entscheidung am Sorgerecht beteiligt werden könne, wenn dies dem Kindeswohl entspreche. Zu den Hintergründen der Entscheidung vgl. Hohmann-Dennhardt, FF 2011, 181. 2 Einen Ausnahmefall, weil das Sorgerecht der Mutter wegen Zustimmung zur Adoption ruhte, behandelt BGH v. 26.9.2007 – XII ZB 229/06, FamRZ 2007, 1969 = FamRB 2008, 38.
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Kap. 5 Rn. 234
Sorgerecht und Umgangsrecht
geber einen Neuregelungsauftrag1. Auch der EuGHMR hatte Bedenken angemeldet2. 234
cc) Der Beschluss v. 21.7.2010 steht vorläufig am Ende einer langen Reihe von Entscheidungen, die sämtlich das Ziel hatten, die Rechte des nichtehelichen Vaters im Lichte von Art. 6 Abs. 2 GG zu stärken3. Vor allem für nicht miteinander verheiratete, aber zusammenlebende Eltern hat das BVerfG dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, die Möglichkeiten für ein gemeinsames Sorgerecht zu verbessern4. Um dies zu gewährleisten5 hatte der Gesetzgeber Möglichkeiten zur Begründung der gemeinsamen elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern geschaffen (§ 1626a ff. BGB).
235
Die öffentlich beglaubigte (§ 1626d BGB) gemeinsame (§ 1626a BGB Abs. 1 Nr. 1) unbedingte und unbefristete (§ 1626b Abs. 1) Erklärung beider Eltern, dass sie künftig die elterliche Sorge gemeinsam übernehmen wollen (Sorgeerklärung).
236
dd) Der Erwerb elterlicher Mitsorge oder einzelner Aspekte davon bleibt abhängig von einer Mitwirkung oder einer Zustimmung der Kindesmut1 Zum Redaktionsschluss lag der Referentenentwurf des BMJ vom 2.4.2012 vor. Die originäre Alleinsorge der Mutter bleibt bestehen; will der Vater das Mitsorgerecht erhalten, muss er nach einem Vermittlungsversuch vor dem Jugendamt einen Antrag bei Gericht stellen. Ein normales Verfahren findet nur statt, wenn die Mutter kindeswohlrelevante Gegenargumente vorträgt. Andernfalls wird im schriftlichen Verfahren entschieden. Der Entscheidung geht eine negative Kindeswohlprüfung voran; Übertragung der Mitsorge, wenn dies dem Kindeswohl nicht widerspricht. Dieses Antragsmodell wird auch von der vorherrschenden Tendenz in der Literatur vertreten, allerdings meist mit der Forderung nach einer erweiterten Kindeswohlprüfung etwa spiegelbildlich zu den zu § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB entwickelten Grundsätzen (die gemeinsame Sorge müsste dem Kindeswohl förderlicher sein, als die Beibehaltung der Alleinsorge). Vgl. dazu Maier/Büte in Gerhardt, FA-FamR Kap. 4 Rn. 166; Nake, DJBZ 2011, 101; Kinderrechtskommission des DFGT (Coester), FF 2011, 223. Sehr weitgehend der Vorschlag des Familienrechtsausschusses des DAV (Nr. 30/2012) vom März 2012: Mit der Feststellung/Anerkennung der Vaterschaft tritt gemeinsame Sorge ein. Die Mutter kann unter den Voraussetzungen des § 1671 BGB die Aufhebung der gemeinsamen Sorge beantragen. 2 EuGHMR v. 3.12.2009 – 22028/04 (Zaunegger), FamRZ 2010, 103 = FamRB 2010, 37. 3 S. die Übersicht bei Lipp, FamRZ 1998, 65 (68); Coester, FPR 2005, 60. 4 BVerfG v. 7.5.1991 – 1 BvL 32/88, FamRZ 1991, 913 ff.; BVerfG v. 7.3.1995 – 1 BvR 790/91, 1 BvR 540/92, 1 BvR 866/92, FamRZ 1995, 789 ff. 5 Das BVerfG hatte die gesetzliche Regelung zunächst für verfassungsgemäß erklärt (BVerfG v. 29.1.2003 – 1 BvL 20/99, FamRB 2003, 80 und BVerfG 1 BvR 933/01, FamRZ 2003, 285): Es seien derzeit keine Gründe erkennbar, wonach die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Sorgeerklärung den Vätern unzureichenden Zugang zur Mitsorge gewähre; allerdings solle der Gesetzgeber die Wirklichkeit beobachten und ggf. eingreifen. Für Eltern, die sich vor dem 1.7.1998 getrennt hatten, gilt die Übergangsvorschrift des Art. 224 § 2 Abs. 3 und 4 EGBGB: In diesen Fällen kann die Sorgeerklärung der Mutter durch gerichtliche Entscheidung ersetzt werden, wenn die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl dient.
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Grisebach
Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 237
Kap. 5
ter. Die Sorgeerklärung1 und die Zustimmungserklärung der Mutter sind höchstpersönlich; sie können nicht von einem gesetzlichen Vertreter/Betreuer abgegeben werden.
Û
Praxistipps: – Entschließt sich der Kindesvater zu einem Antrag auf gerichtliche Einräumung der elterlichen Mitsorge, hat seine Argumentation spiegelbildlich zu den von der Rechtsprechung zu § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB entwickelten Grundsätzen (s.o. Rn. 134–138) zu erfolgen. Die Einräumung der gemeinsamen Sorge muss dem Kindeswohl förderlicher sein als die Beibehaltung der alleinigen Sorge der Mutter2. Mindestvoraussetzung hierfür ist eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern3, ein Mindestmaß an Übereinstimmung und Kooperationsbereitschaft4. Hilfreich ist es also nicht, Defizite und Versäumnisse anzuprangern; vielmehr ist aufzuzeigen, wie diese überwunden werden sollen und können. – Die praktische Bedeutung des solchermaßen erweiterten Rechtsschutzes der Väter dürfte begrenzt sein, indiziert doch oft schon der Antrag eine tiefgreifende Störung der Vertrauensbeziehung zwischen den Eltern. Dann wäre die gemeinsame elterliche Sorge aber nicht vorteilhafter für das Kind als die Beibehaltung der Alleinsorge der Mutter. Andererseits wird es auch Fälle geben, in denen die Mutter allein schon vor dem Hintergrund eines jederzeit möglichen Überprüfungsantrags des Vaters ihren bisherigen Widerstand gegen eine gemeinsame Sorgeerklärung aufgibt. – Vorsicht und sorgfältige Abwägung aller Kindeswohlkriterien5 ist geboten bei dem Vorschlag, das Überprüfungsverfahren durch eine gerichtlich protokollierte Einigung6 über eine Sorgeerklärung beizulegen, es gewissermaßen einmal miteinander zu versuchen. – Verbleibt es bei der Allleinsorge der Mutter, kann sie sich ein Negativattest ausstellen lassen, das bescheinigt, dass keine Sorgeerklärung vorliegt (§ 58a SGB VIII). Zuständig ist das Jugendamt am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes.
Einstweilen frei
237
1 Weiterführend Altrogge, FPR 2008, 154. 2 S. aber Fn. 1 zu Rn. 233: Nach dem Referentenentwurf v. 2.4.2012 ist nur eine negative Kindeswohlprüfung beabsichtigt. 3 Diese fehlt regelmäßig, wenn der Antrag Ausdruck eines fortgesetzten Partnerkonflikts ist. 4 So die ersten Entscheidungen zur neuen Rechtslage KG v. 7.2.2011 – 16 UF 86/10, FamRZ 2011, 1659; OLG Rostock v. 11.2.2011 – 10 WF 39/11, MDR 2011, 860 = FamRB 2011, 336. 5 Dazu stellt Peschel-Gutzeit sechs Kriterien auf: FF 2011, 105 (109). 6 Zulässig: BGH v. 16.3.2011 – XII ZB 407/10, FamRZ 2011, 796 m. Anm. Völker = FamRBint 2011, 51 = FamRB 2011, 171.
Grisebach
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Kap. 5 Rn. 238
Sorgerecht und Umgangsrecht
238
Wird die gemeinsame elterliche Sorge vereinbart oder nach einer gerichtlichen Kindeswohlprüfung angeordnet, hat sie denselben Inhalt wie bei ehelichen Kindern. Tatsächliche Hindernisse in der Ausübung, zB durch unabgestimmten Wegzug eines Elternteils und fehlenden Kontakt, sollen grundsätzlich nicht zur sofortigen Änderung der gemeinsamen Sorge, sondern (milderes Mittel) zum Ruhen des Sorgerechts des „verhinderten“ Teils aus tatsächlichen Gründen nach § 1674 BGB führen1.
239
Die förmliche Sorgeerklärung kann auch schon vor der Geburt des Kindes abgegeben werden (§ 1626b Abs. 2 BGB). Sie ist auch schon (schwebend unwirksam) möglich, wenn die Kindesmutter noch verheiratet ist; sie wird dann mit rechtskräftiger Scheidung der Mutter und erfolgreicher Anfechtung der Ehelichkeit des Kindes wirksam2. Entschließen sich werdende, nicht miteinander verheiratete Eltern zum Abschluss eines Partnerschaftsvertrags, so wäre daran zu denken, eine formgerechte, öffentlich beurkundete Sorgeerklärung aufzunehmen. Abgesehen von diesem Fall können nicht miteinander verheiratete Eltern – anders als verheiratete Eltern – das Familiengericht nicht durch einfachen Konsens oder Vereinbarung zur Aufhebung der Alleinsorge der Mutter und Anordnung des gemeinsamen Sorgerechts veranlassen. Auch sonst sind Vereinbarungen über die Zuweisung der elterlichen Sorge3 zwar denkbar, bleiben aber ohne jede rechtliche Verbindlichkeit. Vereinbarungen über die Praxis der Ausübung und einzelne Aspekte des Kindeswohls hingegen sind zwar nicht durchsetzbar, schützen aber vor einseitiger Aufkündigung.
240
ee) Beim Tod der allein sorgeberechtigten Mutter4 oder bei Entziehung des alleinigen Sorgerechts fällt die elterliche Sorge nicht automatisch dem Vater zu, sondern erst nach einer familiengerichtlichen Entscheidung (auch von Amts wegen), die voraussetzt, dass die Entscheidung dem Kindeswohl dienlich ist (§§ 1678 Abs. 2, 1680 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 BGB)5. Stirbt der aufgrund gerichtlicher Entscheidung allein sorgeberechtigte Vater, so bedarf die Rückübertragung der elterlichen Sorge auf die Mutter ebenfalls einer förmlichen gerichtlichen Entscheidung; Gründe des Kindeswohls dürfen dem nicht entgegenstehen (§ 1680 Abs. 2 S. 1 BGB).
1 OLG Naumburg v. 4.7.2001 – 8 WF 135/01, FamRZ 2002, 258. 2 BGH v. 11.2.2004 – XII ZB 158/02, FamRZ 2004, 802 = FamRB 2004, 184; OLG Stuttgart v. 7.11.2007 – 16 WF 181/07, FamRZ 2008, 539 = FamRB 2008, 238; grundsätzlich zur Sorgeerklärung BGH v. 25.5.2005 – XII ZB 28/05, FamRZ 2005, 1469 = FamRB 2005, 325. 3 Allgemein dazu Reeckmann-Fiedler, FPR 1999, 142 ff.; OLG Dresden v. 21.5.1996 – 11 UF 507/95, FamRZ 1997, 49 (50): Eine Vereinbarung der Eltern zur elterlichen Sorge für den Fall der Trennung und Scheidung in einem notariellen Ehevertrag ist jederzeit frei widerruflich und entfaltet keine Bindungswirkung. 4 Vgl. Sarres, FuR 2012, 124 ff. 5 Vgl. BGH v. 2.2.2011 – XII ZB 241/09, FamRZ 2011, 552 m. Anm. Luthin = FamRB 2011, 109 und unten Rn. 291 (kein Eintreten der Großeltern, auch wenn diese das Kind betreuen).
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 244
Kap. 5
ff) Eine mittelbare – konfliktträchtige – Einflussnahme des nichteheli- 241 chen Elternteils auf das Sorgeverhalten des anderen ist bei schwerer Gefährdung des Kindeswohls, drohender Verwahrlosung oder Versagen durch die gebotene Beiladung des Vaters in Verfahren nach § 1666 BGB möglich (mögliche Verletzung eines subjektiven Rechts des Vaters nach § 1680 Abs. 3, Abs. 2 S. 2 BGB)1. gg) Die Feststellung des Gesetzgebers in § 1626 Abs. 3 BGB, dass der 242 Umgang des Kindes mit seinen Eltern zum Kindeswohl gehört, stärkt unmittelbar die Stellung des Kindesvaters. Das auch dem nicht sorgeberechtigten Elternteil des nichtehelichen Kindes kraft § 1684 BGB zustehende Umgangsrecht ist wie das Umgangsrecht für eheliche Kinder (s. Rn. 243 ff.) gestaltet, wird ebenso durchgesetzt und kann durch das Beratungs- und Unterstützungsangebot der Jugendämter nach § 18 Abs. 3 S. 3 SGB VIII (KJHG) vorbereitet werden. 2. Umgangsrecht a) Umgangsrecht der Eltern aa) Umgang: Rechte und Pflichten § 1684 Abs. 1 Halbs. 1 BGB definiert das Recht des Kindes auf Umgang 243 mit beiden Elternteilen, Halbs. 2 das Recht und die Pflicht der Eltern zum Umgang mit dem Kind. Die Kindesmutter hingegen, die ihr Kind zur Adoption freigegeben hat, kann kein Umgangsrecht mehr beanspruchen2. In § 1684 Abs. 1 S. 1 BGB ist ein allgemeines Prinzip formuliert, das über den ursprünglichen Hauptanwendungsbereich, das Umgangsrecht des nicht sorgeberechtigten Elternteils im engeren Sinne, weit hinaus reicht. Der Gesetzgeber unternahm damit einmal mehr den Versuch, mit Appellen eine allmähliche Änderung des elterlichen Bewusstseins und Verhaltens zu erreichen3. Entscheidungen des BVerfG aus jüngerer Zeit4 legen nahe, dass bei der materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Lösung von Umgangskonflikten und die Grundrechtspositionen beider Eltern und das Wohl des betroffenen Kindes sowie dessen Individualität als Grundrechtsträger gegeneinander abzuwägen sind.
1 OLG Schleswig v. 4.5.2011 – 12 UF 83/11, ZKJ 2011, 395. Vgl. zu einem praktischen Fall AG München v. 5.6.2002 – 511 F 5620/99, FamRZ 2002, 690. 2 OLG Stuttgart v. 21.3.2006 – 15 UF 4/06, FamRZ 2006, 1865 = FamRB 2006, 332; s.a. BGH v. 26.9.2007 – XII ZB 229/06, FamRZ 2007, 1969 = FamRB 2008, 38: das Sorgerecht der Mutter ruht. 3 FamRRefK-Rogner, § 1684, Rn. 3. 4 ZB BVerfG v. 26.9.2006 – 1 BvR 1827/06, FamRZ 2007, 105 = FamRB 2007, 73; BVerfG v. 24.7.2006 – 1 BvR 971/03, FamRZ 2007, 335 = FamRB 2007, 167.
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244
Kap. 5 Rn. 245 245
Sorgerecht und Umgangsrecht
Umgangsrecht und Umgangspflicht umfassen persönliche Besuche, Ferienaufenthalte ebenso wie Brief- und Telefonkontakte1. Wenn gesagt wird, der Umgangsberechtigte habe keinen Anspruch auf telefonische Erreichbarkeit des Sorgeberechtigten, zB um Absprachen zu treffen, so ist das nicht unbedenklich, verhindert es doch eine Verbesserung der Kommunikation zwischen den Eltern. Der Schutz des Persönlichkeitsrechts des Sorgeberechtigten, der sich hierdurch in seiner Privatsphäre kontrolliert sieht, muss im Interesse des Kindeswohls dem Wohlverhaltensgebot weichen. § 1684 Abs. 2 BGB enthält deshalb auch für die Fälle fortbestehender gemeinsamer Sorge die Wohlverhaltensmaßregel, dass alles zu unterlassen ist, was das Verhältnis des Kindes zu einem Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert. Insbesondere dürfen Eltern die Kinder nicht mit ihren persönlichen Problemen und Konflikten belasten2. bb) Inhaltliche Ausgestaltung
246
(1) Das Gesetz macht hierzu keine Vorgaben. Es gibt keine „Richtwerte“3, Beschränkungen des Umgangsrechts müssen nachvollziehbar begründet werden4. Wenn auch die Anspruchsposition des nicht betreuenden Elternteils gestärkt und durch die Normierung eines eigenen Kindesrechts (s. Rn. 280) auf Umgang flankiert wurde, so geht das Gesetz dennoch im Konfliktfall von einem Vorrang des Kindeswohls gegenüber dem Elternrecht aus. Das kommt deutlich in den Formulierungen der Vorbehalte in §§ 1671 Abs. 2, 1672 Abs. 1, 1684 Abs. 4 und 1696 BGB zum Ausdruck5.
247
Bei unter sechs Jahren alten Kindern6 ist einer regelmäßigen und periodischen Umgangsregelung (schematisch und verlässlich) vor einer freien und jeweils selbständig vereinbarten flexiblen Regelung der Eltern der Vorzug zu geben7.
248
Mitentscheidend sind ferner die individuellen, objektivierten Bedürfnisse des Kindes und die Möglichkeiten der Eltern.
249
Zurückhaltung bei Übernachtungen kleinerer Kinder ist nur noch einzelfallbezogen zu billigen8.
1 OLG Düsseldorf v. 13.5.1996 – 1 UF 86/96, FamRZ 1997, 46. 2 BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvL 25/80, 1 BvL 38/80, 1 BvL 40/80, 1 BvL 12/81, FamRZ 1982, 1179. 3 So mit Recht van Els, FF 2011, 319 ff.; kritische Anm. zu KG v. 10.1.2011 – 17 UF 225/10, FamRZ 2011, 825 („Regelübernachtung“ bei „Regelumgang“). 4 BVerfG v. 18.2.1993 – 1 BvR 692/92, FamRZ 1993, 662; BVerfG v. 7.3.2005 – 1 BvR 552/04, FamRZ 2005, 871. 5 Finke, FF 2001, 115 (116). 6 OLG Zweibrücken v. 9.5.1996 – 5 UF 44/96, FamRZ 1997, 45 (46). 7 OLG Oldenburg v. 16.11.2000 – 12 UF 134/00, FamRZ 2001, 1164. 8 OLG Zweibrücken v. 21.7.2008 – 5 UF 74/08, FamRZ 2009, 134 = FamRB 2009, 113; s. auch Kindler, FPR 2009, 150 (151).
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 253
Kap. 5
Der weitaus häufigste Aspekt des Kindeswohls, der in streitigen Umgangsrechtsentscheidungen eine Rolle spielt, ist die Vermeidung von Entfremdungen infolge längerer Unterbrechungen des Umgangsrechts (aus welchen Gründen auch immer). Solche Entfremdungszustände können bei kleineren Kindern (unter vier Jahren) bereits nach mehreren Wochen oder wenigen Monaten eintreten und Anlass geben, der Durchsetzung von Umgangskontakt den unbedingten Vorrang vor persönlichen Befindlichkeiten und Bedenken der Mutter als Folge des noch nicht verarbeiteten Partnerkonflikts zu geben1.
250
(2) Das Gericht ist an Anträge der Eltern nicht gebunden, erwartet aber 251 konkrete Anregungen, die den Rahmen des Möglichen oder Gewünschten abstecken. Das ist unproblematisch, solange es sich um gemeinsame Anregungen der Eltern handelt (im Sinne einer Einigung); ist mangels Einigung eine streitige Entscheidung erforderlich, so kann das Gericht den Umfang des Umgangs nicht vom jeweiligen Willen des Kindes abhängig machen, weil eine solche „Entscheidung“ nicht vollzugsfähig wäre2. (3) Den Ort der Ausübung des Umgangsrechts bestimmt grundsätzlich der Berechtigte, er holt und bringt das Kind und trägt die Kosten der Ausübung3. Sind allerdings die Aufwendungen wegen Ortsverschiedenheit so groß, dass die Zumutbarkeitsgrenze erreicht sein kann, oder ist das Kind transportunfähig, so sollen die Gerichte prüfen, ob der sorgeberechtigte Elternteil verpflichtet werden kann, dem Umgangsberechtigten zeitlich und organisatorisch entgegenzukommen4.
Û
252
Praxistipp: Der eingeführte Grundsatz, dass der Umgangsberechtigte das Kind an der Wohnung des Sorgeberechtigten abholt und es dorthin zurückbringt, sollte in geeigneten Fällen durchaus einmal aus kinderpsychologischem Blickwinkel in Frage gestellt werden. Wenn nämlich derjenige, bei dem das Kind überwiegend lebt, das Kind selbst zum Umgangsberechtigten bringt, zeigt er dem Kind, dass er den Umgang bejaht und selbst bereit ist, etwas dafür zu tun5.
(4) Der Umgangsberechtigte und das Kind haben keinen Anspruch auf eine „optimale“ Ausgestaltung der Regelung. Anträge auf Abänderung und 1 KG v. 23.1.2001 – 17 UF 9988/00, FamRZ 2001, 1163: In diesem Fall war dem Kind eine Verfahrenspflegerin beigeordnet worden. Die Gründe gehen aus dem Beschl. nicht hervor, dürften aber in der Unfähigkeit der Kindesmutter zu vermuten sein, die eigenen Schwierigkeiten mit der Verarbeitung des Partnerkonflikts den Belangen des Kindeswohls unterzuordnen. 2 OLG Brandenburg v. 12.1.2001 – 10 UF 186/00, FamRZ 2002, 974. 3 Dazu grundlegend BGH v. 9.11.1994 – XII ZR 206/93, FamRZ 1995, 215 f. 4 ZB das Kind zum Flughafen zu bringen und wieder abzuholen: BVerfG v. 5.2.2002 – 1 BvR 2029/00, FamRZ 2002, 809 = FamRB 2002, 261; Umgang notfalls in der Wohnung der Mutter: BVerfG v. 8.12.2004 – 1 BvR 1417/02, FamRZ 2005, 429. 5 Vgl. Lempp, Gerichtliche Kinder- und Jugendpsychatrie, S. 151–153.
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253
Kap. 5 Rn. 253a
Sorgerecht und Umgangsrecht
Ergänzung von Umgangsregelungen aus Zweckmäßigkeitsgründen oder zur Wahrung persönlicher Bedürfnisse des Elternteils1 werden gerade dann erfolglos bleiben oder gar nicht erst zeitgerecht beschieden werden können, wenn sie sehr kurzfristige Maßnahmen zum Ziel haben2.
Û
Praxistipp: Es kann für den Anwalt des Vaters gerade bei einem gleichzeitigen Konflikt um eine auf § 1570 BGB gestütze Forderung auf Trennungsunterhalt nützlich sein, konkrete Angebote zur Selbst-Übernahme der Betreuung des Kindes zu empfehlen. Diese hätten zwar auch eigennützig das Ziel, die Möglichkeiten der Mutter zur Ausweitung ihrer Erwerbstätigkeit zu stärken; zugleich aber würde der Anspruch auf mehr Umgang durch den Anspruch auf mehr Mitverantwortung positiv unterstützt. In der Praxis könnte das Gericht dazu neigen, diesem Ansatz auszuweichen, wenn das Umgangsrecht schon positiv geregelt ist.
253a Eine innerhalb der Grenzen der Umgangsbestimmung (am Kindeswohl orientiert und mit ihm vereinbar) durch die sorgeberechtigte Mutter getroffene Regelung darf das Gericht nicht durch eine vielleicht noch besser verträgliche andere Regelung ersetzen. cc) Vereinbarungen 254
Die Eltern können und sollen grundsätzlich die Art und Weise ihres Umgangs mit dem Kind selbst, zB durch Vereinbarungen (s. Muster Rn. 84a Nr. 3) regeln.
255
Nehmen diese Vereinbarungen eine Verknüpfung mit anderen, wirtschaftlichen Regelungsgegenständen vor (zB Verzicht der Mutter auf die Ausübung des Umgangsrechts gegen Freistellung von der Unterhaltspflicht durch den Vater), so ist das zwar nicht von vornherein sittenwidrig, bleibt aber bedenklich und unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle auf Vereinbarkeit mit dem Kindeswohl3. Zwar entfalten diese Vereinbarungen auch dann, wenn sie nicht gerichtsförmlich zustande gekommen sind, zwischen den Eltern eine Bindungswirkung, die ein einseitiges Abweichen nicht zulässt4. Elternvereinbarungen sind aber nur vollziehbar und ggf. mit Zwangsmitteln durchsetzbar, wenn sie vom Gericht gebilligt und durch vollstreckbare Verhaltenspflichten ausgefüllt sind5. Die Androhung eines 1 ZB der kuriose Kampf des spanischen Vaters, mit dem sechseinhalbjährigen Kind spanisch sprechen zu dürfen, obwohl das Kind dagegen war, weil es Schwierigkeiten in seiner deutschen Sprachentwicklung befürchtete: OLG München v. 18.2.2002 – 12 UF 1608/01, FamRZ 2002, 979. 2 AG Stuttgart v. 27.10.1999 – 20 F 1603/99, FamRZ 2000, 1598. 3 AG Essen-Steele v. 15.9.1999 – 13 F 45/99, FamRZ 2000, 1109 (LS). 4 Hammer, FamRZ 2005, 1209. 5 OLG Düsseldorf v. 10.8.1998 – 3 WF 127/98, FamRZ 1999, 522 (523); OLG Köln v. 24.1.1997 – 4 WF 4/97, FamRZ 1999, 172 (173); großzügiger OLG München v.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 257
Kap. 5
Zwangsgeldes erfordert keinen schuldhaften Verstoß; Verschulden muss aber bei der Festsetzung eines Zwangsgeldes gegeben sein. dd) Loyalitätspflicht Für Berater und Familiengericht eröffnet sich angesichts der destruktiven 256 Phantasie, mit der Eltern ihre persönlichen Konflikte oder Defizite auf dem Rücken der Kinder austragen ein weites Betätigungsfeld. Die Durchsetzung der Pflicht zu wechselseitiger Loyalität in Bezug auf das Kind ist ebenso notwendig wie praktisch schwierig. Das Gericht hat in § 1684 Abs. 3 S. 2 BGB die Befugnis erhalten, diese Pflichten bei den Beteiligten durch geeignete Maßnahmen durchzusetzen1. Einzelfälle:
257
– Das Oberlandesgericht Stuttgart leitete aus der Wohlverhaltenspflicht der Eltern ab, diesen dürften bestimmte Maßnahmen zur Wiederanbahnung eines abgebrochenen Umgangsrechts auferlegt werden, bis hin zur Familientherapie; für den Fall der Weigerung hat es die Verhängung eines empfindlichen Ordnungsgeldes angedroht (heutige Rechtsgrundlage: § 89 Abs. 1 FamFG)2. Dieser Weg war nicht unumstritten3, und bleibt es auch heute unter der Geltung des neuen § 1666 Abs. 3 Nr. 5 BGB. – Das Gericht kann auf eine Erziehungsbeistandschaft (vgl. Rn. 152) hinwirken. Verweigert ein Elternteil die Mitwirkung, könnte ein Richter die Anordnung einer Umgangspflegschaft in Erwägung ziehen. – Häufiger erwägen die Gerichte die Anordnung einer Umgangspflegschaft (§ 1684 Abs. 3 BGB, s. Rn. 269), dh. der beschränkten und befristeten Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für die Dauer der Umgangskontakte. Beauftragt wird regelmäßig das Jugendamt. Der Pfleger soll zu den angeordneten oder vereinbarten Terminen das Kind vom einen Elternteil holen und zum anderen bringen. Eine solche Anordnung ist uU dann indiziert, wenn der überwiegend betreuende Elternteil zu einem widerspruchsfreien Verhalten in Bezug auf das Umgangsrecht des anderen außerstande ist4. Die Anordnung einer Umgangspflegschaft hätte als milderes Mittel Vorrang vor einem Teilentzug des Sorgerechts bei nachhaltiger Vereitelung des Umgangsrechts5.
1 2 3 4 5
20.2.2002 – 16 WF 567/01, OLGReport 2001, 145: Protokollierung genüge, weil darin die stillschweigende Billigung der Vereinbarung zum Ausdruck komme. Zu den praktischen Grenzen dieser Befugnis s. Rn. 267. OLG Stuttgart v. 26.7.2000 – 17 UF 99/00, FamRZ 2001, 932 (933). OLG Nürnberg v. 6.3.2006 – 9 WF 1546/05, FamRZ 2006, 1146 = FamRB 2006, 270: keine Anordnung einer Fachberatung der Eltern. OLG Saarbrücken v. 16.7.2007 – 9 UF 37/07, FamRZ 2008, 86; OLG Zweibrücken v. 12.2.2007 – 6 UF 37/06, FamRZ 2007, 1678; OLG Brandenburg v. 21.11.2006 – 10 UF 128/06, FamRZ 2007, 577. Erman/Michalski/Döll, § 1666 BGB Rn. 8a.
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Kap. 5 Rn. 258
Sorgerecht und Umgangsrecht
– Das Oberlandesgericht Karlsruhe bejaht eine Pflicht zu aktivem Handeln in dem Sinne, dass mit dem Ziel auf das Kind einzuwirken sei, psychische Widerstände gegen den Umgang abzubauen und eine positive Einstellung zu gewinnen. Dies könne und solle durch die Anordnung gefördert werden, dass die Mutter das Kind auf die Kontakte zum Vater vorzubereiten habe. Diese Pflicht soll durch Zwangsgeldandrohungen unterstrichen werden. So gilt es als zu ahndender Verstoß, wenn die Mutter es gleichwohl der freien Entscheidung des Kindes überlässt, ob es mit dem umgangsberechtigten Vater mitgehen möchte1. ee) Einzelmaßnahmen 258
Gelingt eine Konfliktregelung durch Vereinbarung nicht, trifft das Familiengericht auf Antrag oder von Amts wegen Einzelmaßnahmen nach § 1684 Abs. 3 S. 1 BGB zur Durchsetzung der Loyalitätspflichten aus Abs. 2, dh. Maßnahmen zur Abwehr von Umgangsbehinderungen oder Umgangsüberschreitungen2, bzw. regelt Art und Umfang des Umgangsrechts positiv gegenüber den Eltern, dem Kind und Dritten.
259
Einschränkungen des Umgangsrechts und im Notfall dessen befristeter Ausschluss sind möglich, soweit dies zum Wohle des Kindes erforderlich ist3. Solche Einschränkungen müssen begründet werden; einen verbal geäußerten entgegenstehenden Kindeswillen hat das Gericht auf mögliche Beeinflussungen zu überprüfen4. Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Kindeswille manipuliert ist und die wirklichen Bindungsverhältnisse nicht widerspiegelt, darf er übergangen werden. ff) Weitere Einzelfälle:
260
– Keine Verletzung der Grundrechte des Kindes oder der sorgeberechtigten Person, wenn das Gericht den offensichtlich manipulierten Kindeswillen übergeht5. Zugrunde lag ein Fall, in dem die Mutter den Verdacht sexueller Handlungen des Vaters während des Umgangsrechts hatte und daraufhin das Umgangsrecht unterbrach; der Verdacht konnte durch ein kinderpsychologisches Gutachten nicht erhärtet werden. 1 OLG Karlsruhe v. 19.7.1999 – 2 WF 63/99, FamRZ 2000, 1296; OLG Karlsruhe v. 16.10.2001 – 5 WF 96/01, FamRZ 2002, 1125 und OLG Karlsruhe v. 21.12.2001 – 5 UF 78/01, FamRZ 2002, 1056; so auch OLG Saarbrücken v. 21.12.2006 – 9 UF 147/06, FamRZ 2007, 927 = FamRB 2007, 266. 2 Das Handy kann einer modernen Form der Umgangsüberschreitung aus der Sicht des sorgeberechtigten Elternteils Vorschub leisten; vgl. näher Söpper, FamRZ 2002, 73. 3 OLG Rostock v. 7.5.2009 – 10 UF 33/09, FamRZ 2010, 997: erhebliches Wutpotential des Vaters. 4 BVerfG v. 7.3.2005 – 1 BvR 552/04, FamRZ 2005, 871; BVerfG 8.3.2005 – 1 BvR 1986/04, FamRZ 2005, 1057 = FamRB 2005, 258. 5 BVerfG v. 2.4.2001 – 1 BvR 212/98, FamRZ 2001, 1057.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 260
Kap. 5
– Für das betont unspektakuläre, keineswegs eingriffsfreudige Umgehen der Gerichte mit den Folgen eines PA-Syndroms1 s. auch Rn. 90 ff. – Der Sorgeberechtigte darf zwar bestimmen, welchen dritten Personen das Kind anlässlich der Umgangskontakte mit dem anderen Elternteil begegnen darf oder nicht2; auf Antrag des Umgangsberechtigten kann das Familiengericht aber gem. § 1628 BGB davon abweichende Anordnungen treffen. In Fällen der Uneinigkeit bei gemeinsamem Sorgerecht muss zwangsläufig das Gericht entscheiden. – Bei Alkoholkrankheit des umgangsberechtigten Elternteils soll unbegleiteter Umgang wenigstens versucht werden3. – Grundsätzlich keine Umgangsverbote wegen der politischen Einstellung des Betreffenden4. – Völlig zerstrittene Eltern und Ängste des Kindes, die möglicherweise vom Vater mit verursacht waren5, genügen nicht für einen Ausschluss des Umgangsrechts. – Ängste der Mutter vor einem Verbringen des Kindes ins Ausland genügen nur dann, wenn sich hinreichende konkrete Anzeichen hierfür ergeben6. – Bloße Unwilligkeit des sorgeberechtigten Elternteils oder besondere Bindungen des Kindes an den neuen Lebenspartner des Sorgeberechtigten genügen nicht7. – Hartnäckiger Widerstand des Kindes, der auf Übergangsschwierigkeiten nach längerer Unterbrechung des Umgangs beruht: Ein Ausschluss würde dem richtig verstandenen Kindeswohl widersprechen8. – Geringes Alter des Kindes oder länger dauernde Unterbrechung des Kontakts genügen nicht9, auch dann nicht, wenn der nichteheliche Vater sich erst nach langer Zeit auf sein Kind „besinnt“. – Falls Einschränkungen angeordnet werden, sollen diese durch mehr Auskunftsrechte abgemildert werden10. – Einschränkungen in der Form von begleitetem Umgang bei Missbrauchsverdacht oder dem Verdacht pädophiler Neigungen11 ist von Instanzgerichten oft schon dann gebilligt worden, wenn der Verdacht
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
KG v. 30.5.2000 – 17 UF 1413/99, FamRZ 2000, 1606. HM seit BGH v. 21.10.1964 – IV ZB 338/64, BGHZ 42, 364. Vgl. KG v. 30.3.2001 – 17 WF 45/01, FamRZ 2002, 412. AG Bad Säckingen v. 7.6.2001 – 3 F 116/01, FamRZ 2002, 689. OLG Hamm v. 3.11.1998 – 7 UF 270/98, FamRZ 1999, 326. OLG Köln v. 19.8.1999 – 25 UF 169/99, FuR 2000, 238. OLG Bamberg v. 24.3.1999 – 7 UF 25/99, FamRZ 2000, 46 und OLG Jena v. 17.6.1999 – 1 UF 128/99, FamRZ 2000, 47. OLG Bamberg v. 24.3.1999 – 7 UF 25/99, FamRZ 2000, 46. OLG Karlsruhe v. 23.9.1998 – 18 UF 192/98, FamRZ 1999, 184. OLG Brandenburg v. 21.6.1999 – 9 UF 122/99, FamRZ 2000, 1106. BVerfG v. 29.11.2007 – 1 BvR 1635/07, FamRZ 2008, 494 = FamRB 2008, 138.
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Kap. 5 Rn. 260
Sorgerecht und Umgangsrecht
nicht von der Hand zu weisen war1. Das BVerfG hat daran erinnert (s. Fn. 8), dass ein begleitetes Umgangsrecht nicht stets bei einem nicht ausschließbaren Restrisiko gerechtfertigt sei, sondern erst dann, wenn konkrete Feststellungen einerseits die schädlichen Neigungen, andererseits eine konkrete Gefährdung des Kindes nahe legen2. Dann kommen bis zur Klärung in Betracht: Beschränkung auf begleitetes Umgangsrecht, Ausdünnung mit vermehrter Gewährung von „Telefonfenstern“, Ausschluss von Über-Nacht-Besuchen, diskrete Gestaltung prinzipiell „beobachteter“ Situationen3. – Ein längerer Ausschluss hingegen darf nur erfolgen, wenn andernfalls das Wohl des Kindes konkret4 gefährdet wäre (§ 1684 Abs. 4 S. 3 BGB). Das kommt in Betracht bei elf- und zwölfjährigen Kindern, die den Kontakt zum Vater ablehnen und nach Einstellung und Verfassung außerstande sind, die Konfliktsituation zu bewältigen5. Dabei wird im Allgemeinen angeknüpft an das Alter und den Entwicklungsstand des Kindes. Die emotionale Überforderung eines achtjährigen Kindes durch jahrelange Umgangsstreite kann den Ausschluss für zwei Jahre rechtfertigen6. – Es kann auch zu einer Abweichung von dem Grundsatz kommen, dass der Umgangsberechtigte den Ort des Kontakts bestimmt. So können täglich achtstündige Aufenthalte des Kindes beim Vater (alle zwei Wochen) das Kind bereits überfordern, und es kann eine Reduzierung auf wenige Stunden täglich angebracht sein7. – Die Entführung der Mutter, um das Umgangsrecht zu erzwingen, rechtfertigt noch nicht den Ausschluss des Umgangsrechts8. – Die Anordnung begleiteten Umgangs hat Vorrang vor dem zeitweisen völligen Ausschluss9.
1 OLG Frankfurt v. 30.6.1995 – 6 UF 60/95, FamRZ 1997, 42; OLG Celle v. 15.7.1997 – 18 UF 191/95, FamRZ 1998, 971 (973); OLG Brandenburg v. 8.8.2001 – 9 UF 28/01, FamRZ 2002, 414. 2 Trotz des gegenüber § 1666 Abs. 1 BGB „weicheren“ Wortlauts ist Eingriffsschwelle bei § 1684 Abs. 4 BGB auch die Gefährdung des Kindeswohls. Auch nach der Neufassung des § 1666 BGB ist nicht die Eingriffsschwelle (wohl aber die Hemmschwelle zur Einleitung von Verfahren) gesenkt worden. Stets müssen die verfassungsrechtlichen Vorgaben durch die Feststellung konkret drohender Gefahren und die Abwägung mit den Elterrechten gewahrt werden. 3 Im Kern ebenso Büte, Umgangsrecht Rn. 222. 4 OLG Saarbrücken v. 12.5.2005 – 9 UF 106/04, DRsp 2005/9213; OLG Nürnberg v. 9.8.2007 – 11 UF 305/07, FamRZ 2008, 715. 5 OLG Hamm v. 20.11.1998 – 11 UF 12/98, FamRZ 2000, 45. 6 OLG Saarbrücken v. 4.4.2006 – 9 UF 8/06, FamRZ 2007, 495 = FamRB 2007, 9. 7 So hat das AG Eschwege v. 9.6.2000 – 5 F 649/99, FamRZ 2001, 1162 nach einer intensiven Interaktionsbeobachtung der Kontakte zwischen Vater und Kind befunden, dass eine dreistündige Besuchsperiode den Möglichkeiten des Kindes besser entspricht als die schematische Freigabe des gesamten Tages. 8 OLG Hamm v. 30.10.1996 – 12 WF 248/96, FamRZ 1997, 1095 (1096). 9 OLG Saarbrücken v. 12.1.2005 – 9 UF 124/04, DRsp 2005/2516.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 263
Kap. 5
– Konkreter Entführungs- oder Entziehungsverdacht rechtfertigt den Ausschluss des Umgangsrechts1. gg) Besonderheiten der Durchsetzung des Umgangsrechts Der umgangsberechtigte Elternteil, der nur eine lose oder privatschriftliche Vereinbarung über das Umgangsrecht hat, kann diese nur durchsetzen, wenn er zuvor diese oder eine andere Regelung in einem förmlichen Verfahren vor dem Familiengericht durch Beschluss oder gerichtlichen gebilligten Vergleich durchsetzt, dh. vollziehbar macht. Ist das geschehen, bleibt er nicht auf die nachträgliche Geltendmachung seiner Rechte im Vollstreckungsverfahren nach § 89 FamFG beschränkt.
Û
261
Praxistipp: Es ist zweckmäßig und geboten, schon in den gerichtlichen Billigungsbeschluss die Belehrung nach § 89 Abs. 2 FamFG über die Folgen einer Zuwiderhandlung aufzunehmen2.
(1) Vor der Vollstreckung einer vollziehbaren, dh. gerichtlichen oder aus- 262 drücklich gerichtlich gebilligten Umgangsvereinbarung kann ein Vermittlungsverfahren (§ 165 FamFG, vormals § 52a FGG) versucht werden. Dieses gerichtskostenfreie Verfahren vor dem streitentscheidenden Richter hat an Attraktivität gewonnen3, weil die Rechtsprechung eine Bewilligung von VKH nunmehr im Einzelfall für möglich hält4. Während dieses Verfahrens sollen keine Ordnungsgeldandrohungen ergehen5. Das Gericht wird das Verfahren aber ablehnen, wenn ein gescheitertes anderes Vermittlungsverfahren oder ein Beratungsverfahren beim Jugendamt vorangegangen sind. Das Gericht lädt die Eltern und führt ihnen die Folgen der Nichteinigung und die gerichtlichen Eingriffsmittel (Ordnungsmittel, einstweilige Anordnungen, Änderungen der Umgangsregelung, Teil- oder voller Entzug des Sorgerechts) vor Augen. Sinnvollerweise wird das Gericht die Gründe erörtern, die einen problemlosen Vollzug der bestehenden Regelung verhindert haben. Das eröffnet die Chance für Modifikationen, weil die bisherige Regelung nicht wirklich den Interessen und Bedürfnissen beider Parteien entsprochen hatte. Das Gericht soll ermahnend und warnend argumentieren und den Eltern 263 die Folgen einer Nichteinigung deutlich vor Augen führen. Die Streit1 OLG Köln v. 19.8.1999 – 25 UF 169/99, FuR 2000, 239. 2 BVerfG v. 9.3.2011 – 1 BvR 752/10 Erwägungen 9 und 10, FamRZ 2011, 957 m. Anm. Borth = FamRB 2011, 239. Vgl. auch Schlünder, FamRB 2011, 324; BGH v. 17.8.2011 – XII ZB 621, 10, FamRZ 2011, 1729 = FamRB 2011, 339. 3 Zur Kritik an der bisherigen Regelung aus Mediatorensicht Morawe, FPR 2004, 193; vgl. auch Maier, FPR 2007, 301. 4 Der Antrag bedarf sorgfältiger Begr. zu den Kriterien des § 78 Abs. 2 FamFG; vgl. BGH v. 18.2.2009 – XII ZB 137/08, FamRZ 2009, 857; OLG Hamm v. 15.6.2011 – II-8 W 148/11, BeckRS 2011, 25086. 5 OLG Zweibrücken v. 12.5.1999 – 5 WF 36/99, FamRZ 2000, 299.
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333
Kap. 5 Rn. 264
Sorgerecht und Umgangsrecht
punkte sind festzuhalten. Folgen der fortdauernden Uneinigkeit der Eltern sind die förmliche Feststellung der Erfolglosigkeit der Vermittlung, die Prüfung und in aller Regel Verhängung von Ordnungsmitteln oder eine andere gerichtlich verordnete Umgangsregelung mit Ordnungsmittelandrohung. Liegt dem Scheitern der Vermittlung ein schuldhaftes Verhalten eines Elternteils zugrunde, muss dieser damit rechnen, dass er nicht nur die Kosten des sich anschließenden Vollstreckungsverfahrens, sondern auch die Kosten des Vermittlungsverfahrens zu tragen hat (§ 165 Abs. 5 S. 3 FamFG). 264
Das Protokoll soll das Ergebnis festhalten und ggf. das Scheitern und die Gründe dafür förmlich feststellen1. Diese Feststellung ist Verfahrensvoraussetzung für eine auf das Vermittlungsverfahren folgende gerichtliche Änderung des Sorge- oder Aufenthaltsbestimmungsrechts.
265
Der Vermittlung sind aber häufig praktische Grenzen gesetzt:
266
Widerstände sowohl des Sorgeberechtigten, als auch des Kindes soll das Gericht möglichst zu überwinden versuchen2.
Û
Praxistipp: Wenn das Kind sich weigert: Bis zum Alter von neun bis elf Jahren kann es erfolgversprechend sein, über das Gericht Einfluss auf Sorgeberechtigten und Kind zu nehmen, um eine Änderung des Verhaltens zu bewirken. Bei Kindern über zwölf Jahren hingegen setzt sich meist der Kindeswille durch3.
267
Das Gericht stößt allerdings dann auf Grenzen seiner Einflussnahme, wenn die Kommunikation zwischen Eltern zusammengebrochen ist und die Erkenntnisblockaden ohne therapeutische Hilfe nicht aufgedeckt und beseitigt werden können. Therapeutische Maßnahmen an und mit den Eltern kann das Gericht zwar anordnen, aber nicht durchsetzen. Zwar kann das Gericht ein kinderpsychologisches Sachverständigengutachten anordnen und notwendige Elternerklärungen ersetzen, nicht jedoch den sorgeberechtigten Elternteil durch Androhung von Zwangsgeldern zur Mitwirkung an seiner Entstehung zwingen4.
268
Das FamFG bietet keine gesetzliche Grundlage, eine ärztliche, psychologische oder psychiatrische Begutachtung einer Person zu erzwingen. Weigert sich zB der sorgeberechtigte Elternteil, einer angeordneten Begutachtung des Kindes zuzustimmen, kann dies zwar durch Zwangsmittel 1 OLG Naumburg v. 17.11.2004 – 8 UF 188/04, FamRZ 2005, 1577. 2 OLG Braunschweig v. 14.10.1998 – 1 UF 164/98, FamRZ 1999, 185; OLG Hamm v. 3.11.1998 – 7 UF 270/98, FamRZ 1999, 326; OLG Hamm v. 20.11.1998 – 11 UF 12/98, FamRZ 2000, 45. 3 Vgl. OLG Hamm v. 12.12.2007 – 10 WF 196/07, FamRZ 2008, 1371. 4 OLG Frankfurt v. 26.10.2000 – 6 WF 168/00, FamRZ 2001, 638 f.; unveränderte Rechtslage, auch im Hinblick auf § 1666 Abs. 3 Nr. 5 BGB.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 270
Kap. 5
oder durch gerichtliche Ersetzung der Zustimmung nach § 1666 Abs. 3 Nr. 5 BGB überwunden werden. Nicht direkt erzwingbar ist aber die (von Sachverständigenseite meist gewünschte) aktive Mitwirkung des Elternteils dran. So sehr auch bisweilen zur Auflösung einer PAS-Gefahr eine pädagogisch-psychologische Mediation sinnvoll wäre, sie kann nicht gerichtlich angeordnet werden. Das Gericht hat keine wirksame Möglichkeit, einem uneinsichtigen Elternteil die Inanspruchnahme einer Fachberatung aufzuerlegen1. Irrig ist auch die Vorstellung, das Gericht könne durch Beauftragung eines erfahrenen Mediators als Sachverständigen mittelbar einen pädagogisch-therapeutischen Zugang zu kooperationsunwilligen Elternteilen erlangen2. (2) Der Umgangspfleger3 nach § 1684 Abs. 3 und § 1685 Abs. 3 BGB hat 269 das Recht, die Herausgabe des Kindes zur Durchführung des Umgangs zu verlangen und für die Dauer des Umgangs den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen. Dem Umgangspfleger darf die Bestimmung der Modalitäten des Umgangs überlassen werden4. Die Anordnung ist unabhängig von der Feststellung einer Kindeswohlgefährdung (§ 1666 BGB)5, hat aber stets die Grenze zur verbotenen Gewaltanwendung zu beachten und die Frage zu stellen, ob ein erzwungener Umgang dem Kindeswohl dienlich ist. Das BVerfG bezweifelt das6. Anders als die ältere Rechtsprechung betrachtet die neuere die Anordnung einer Umgangspflegschaft nicht mehr als Eingriff in die elterliche Sorge des betreuenden Elternteils, weil das Gericht nur die grundrechtlich geschützten Rechtspositionen der Eltern untereinander ausgleiche7. (3) Vollstreckungsverfahren8: Mit Ordnungsgeld darf nur der schuldhafte 270 Verstoß gegen eine konkrete gerichtliche Regelung bestraft werden9. Der Verpflichtete trägt die Feststellungslast für mangelndes Verschulden, § 89 Abs. 4 S. 1 FamFG. An einer sanktionsfähigen Regelung fehlt es, wenn 1 OLG Nürnberg v. 6.3.2006 – 9 WF 1546/05, FamRZ 2006, 1146 = FamRB 2006, 270. 2 Die anfängliche Skepsis gegenüber der Vorstellung des Gesetzgebers in § 163 Abs. 2 FamFG, der eingesetzte Sachverständige könne neben seiner eigentlichen Aufgabe auch noch vermittelnd zwischen den Eltern tätig sein, ist inzwischen seltener zu beobachten. Vgl. Kölch/Fegert, FamRZ 2008, 1573 (1580). 3 S. Stötzel, FPR 2009, 27. Kritisch Salgo, FPR 2008, 401 (403), der eine empirische Untersuchung darüber vermisst, ob nicht stattfindender Umgang stets mit Kindeswohlgefährdung gleichgesetzt werden könne (S. 404); Müller, FPR 2008, 425 (426) spricht von „Spagat zwischen Kindeswille und Kindeswohl.“ 4 Näher Völker, Anm. zu BGH v. 26.10.2011 – XII ZB 247/11, FF 2012, 71, 72. 5 Vgl. OLG München v. 16.8.2011 – 26 UF 263/11, BeckRS 2011, 21902. 6 BVerfG v. 1.4.2008 – 1 BvR 1620/04, FamRB 2008, 174. 7 OLG Celle v. 16.12.2010 – 10 UF 253/10, FamRZ 2011, 574. 8 Vgl. Haußleiter, NJW-Spezial 2011, 68. Grundlegend zu Umgang und Zwang: Zempel, FF 2010, 238. 9 Konkret müssen Zeit und Ort des Umgangs beschrieben sein. Nicht zwingend erforderlich sind Verhaltenspflichten wie Bereithalten oder Abholen des Kindes; vgl. BGH v. 1.2.2012 – XII ZB 188/11, FamRZ 2012, 533 m. Anm. Hammer = FamRB 2012, 143.
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335
Kap. 5 Rn. 271
Sorgerecht und Umgangsrecht
das Erstgericht mit der Ordnungsgeldfestsetzung zugleich die Modalitäten des Umgangsrechts inhaltlich verändert1. Neben der Strafsanktion steht die (erhoffte) Beugefunktion des Ordnungsgeldes. Der Ordnungsgeldfestsetzung soll die Androhung und Belehrung über die Folgen der Zuwiderhandlung vorangehen (§ 89 Abs. 2 FamFG) und deshalb grundsätzlich schon im Androhungs- oder Billigungsbeschluss enthalten sein2; dabei ist auf die Belange des Kindes Rücksicht zu nehmen. Die Ermessensentscheidung des Gerichts („kann“ androhen) kann fehlerhaft sein, wenn im Erkenntnisverfahren die Auswirkungen gerade der jetzt umstrittenen Aspekte des Umgangs offen geblieben sind3.
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Praxistipps: – Wird ein Vollstreckungsbegehren auf einen zB mangels Belehrung nicht vollziehbaren Vergleich gestützt, soll das Gericht das als Neuregelungsantrag auslegen (§ 133 BGB analog). – Vor der Vollstreckung von Altregelungen aus der Zeit vor dem 1.9.2009 ist darauf zu achten, dass die Androhung und Belehrung nachgeholt/erneuert wird4.
In der Praxis erweist sich die Vollstreckung durch Ordnungsgeld als weitgehend wirkungslos und frustrierend. Mangels finanzieller Leistungsfähigkeit vieler Elternteile bleiben Zwangsgeldfestsetzungen aus oder werden nicht vollstreckt. Die gewaltsame Wegnahme des Kindes wurde wegen möglicher schädlicher Folgen für das Kind faktisch nicht praktiziert5. Man wird daher immer auch einen Antrag auf Abänderung der Sorgerechtszuweisung, §§ 1696 BGB, 166 FamFG in Erwägung ziehen müssen mit der Begründung, dass die nachhaltige schuldhafte Verletzung der Pflichten beim Umgang schwerwiegende Zweifel an der Erziehungsfähigkeit begründet. 271
Die Gewaltanwendung gegen das Kind selbst ist nach § 90 Abs. 2 S. 1 FamFG untersagt. Zwangsmaßnahmen gegen den widerstrebenden Elternteil können sich uU als Gewalt gegen das Kind auswirken. Dementsprechend ist die richterliche Praxis schon bei der Androhung von Zwangsmaßnahmen zurückhaltend, erst recht, wenn absehbar ist, dass später im Interesse des Kindeswohls eine Vollstreckung ohnehin unterbleiben würde6.
1 OLG Karlsruhe v. 12.9.2006 – 16 WF 105/05 (LS m. Anm. Frederici) juris-Praxisreport extra 11/06, 232. 2 BVerfG v. 9.3.2011 – 1 BvR 752/10, FamRZ 2011, 957 = FamRB 2011, 239. 3 OLG Karlsruhe v. 12.2.2007 – 20 WF 5/07, FamRZ 2007, 1180 = FamRB 2007, 331; dazu Soyka, FuR 2007, 184; für die Durchsuchung der Wohnung ist ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss erforderlich; näher dazu Gottschalk, FPR 2008, 417 (419). 4 BGH v. 17.8.2011 – XII ZB 621/10, FamRZ 2011, 1729 = FamRB 2011, 339. 5 Vgl. Finke, FF 2001, 115 (117); Theurer, ZFE 2005, 300. 6 Finke, AnwBl. 2001, 605.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Û
Rn. 271
Kap. 5
Praxistipps: – Bei nachhaltiger Umgangsverweigerung ist ein Antrag auf (ggf. teilweisen) Entzug des Sorgerechts als letztes Mittel stets der wiederholten Vollstreckung, erst Recht der Zwangshaft, vorzuziehen1. – Anträge auf Zwangshaft haben ebenso bedenkliche Folgen für das Kindeswohl wie die gewaltsame Wegnahme des Kindes. Bei bestehenden Unterhaltspflichten ist die Kürzung des Unterhaltsanspruchs nach § 1579 Nr. 7 BGB zu prüfen. Vergebliche Kosten für die Versuche zur Wahrnehmung des Umgangsrechts sind ua. schadensersatzrechtlich wegen Verletzung des Umgangsrechts als absolutes Recht i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB zu liquidieren2. – Das Umgangsrecht des gemeinsam oder nicht sorgeberechtigten Elternteils genießt strafrechtlichen Schutz durch § 235 StGB. Auch der Sorgeberechtigte kann Täter sein, wenn das Kind mit List oder Gewalt dem anderen Elternteil vorenthalten oder entzogen oder wenn dies geschieht, um das Kind ins Ausland zu verbringen. Die Strafverfolgung setzt einen Strafantrag voraus3. Auf diesen Aspekt muss in der Beratung – nicht nur in Fällen mit Bezug zum ausländischen Recht – hingewiesen werden. Ob im Einzelfall die Eröffnung eines Schlachtfeldes um strafrechtliche Sanktionen dem Kindeswohl nützt, bedarf sorgfältiger Abwägung. – Die Hilflosigkeit vieler Gerichte angesichts der Hartnäckigkeit einer den Umgang verweigernden Mutter führt oft zu einer jahrelangen Verfahrensdauer und einem faktischen Umgangsausschluss. Das Bemühen, die Gründe dafür mit Hilfe von Sachverständigen aufzuklären, tun ein Übriges. Besteht Anlass zu der Beanstandung, dass das Gericht den Fall nicht mit dem nötigen Nachdruck betreibt4, ist eine Untätigkeitsbeschwerde geboten, um das Gericht an seine verfassungsrechtlich abgesicherten Pflichten gegenüber dem Vater (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) zu erinnern5.
1 OLG Frankfurt v. 19.4.2005 – 6 UF 155/04, FamRB 2006, 299. 2 BGH v. 19.6.2002 – XII ZR 173/00, FamRZ 2002, 1099 = FamRB 2002, 295; AG Essen v. 17.12.1999 – 131 C 110/99, FamRZ 2000, 1110 und OLG Karlsruhe v. 21.12.2001 – 5 UF 78/01, FamRZ 2002, 1056 für das eheliche Kind; AG Gütersloh v. 19.3.1997 – 14 C 315/96, FamRZ 1998, 576 für den nichtehelichen Vater; grundsätzlich: Hohloch, FF 2004, 202. Ein Schaden entsteht aber nur bei enttäuschtem berechtigten Vertrauen. Daran fehlt es, wenn dem Umgangsberechtigten rechtzeitig abgesagt wurde (zB weil das Kind sich beharrlich weigerte). Die grundsätzliche Schadensersatzpflicht des Sorgeberechtigten darf nicht als „Strafe“ missverstanden werden.; vgl. dazu AG Bremen v. 14.8.2007 – 8 C 90/07, FamRZ 2008, 1399. 3 BGH v. 11.2.1999 – 4 StR 594/98, FamRZ 1999, 651 = FF 1999, 85 m. Anm. Rakete-Dombek. 4 Nach OLG Brandenburg v. 2.10.2006 – 10 WF 203/06, FamRZ 2007, 491 sind 18 Monate ohne Entscheidung zu lang. 5 Vgl. BVerfG v. 11.11.1999 – 1 BvR 122/94, FamRZ 2000, 413 (414); BVerfG v. 11.12.2000 – 1 BvR 661/00, FamRZ 2001, 753.
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Kap. 5 Rn. 272
Sorgerecht und Umgangsrecht
– Zweifel an der Durchsetzbarkeit einer erstrebten Umgangsregelung dürfen nicht dazu führen, dass dem Antragsteller die VKH verweigert wird1. 272
(4) Erlässt das Gericht im Verfahren der einstweiligen Anordnung (§§ 49, 157 Abs. 3, 156 Abs. 3 S. 2, 165 Abs. 5 S. 2 FamFG) eine bestimmte Umgangsregelung, dann ist diese Entscheidung nicht anfechtbar (§ 57 Abs. 1 Nr. 1 FamFG). Die dort genannte Ausnahme, dass einstweilige Anordnungen zum Sorgerecht anfechtbar seien, gilt nicht auch für das Umgangsrecht; dieses gilt nicht als Teil des Sorgerechts2. Auch der vollständige Ausschluss des Umgangsrechts ist nicht anfechtbar. Dem betroffenen Beteiligten bleibt nur der Antrag auf Abänderung nach mündlicher Verhandlung (§ 54 FamFG). Einstweilige Anordnungen bleiben bis zu Wirksamwerden einer anderweitigen Regelung in Kraft (§ 56 Abs. 1 S. 1 FamFG).
273
Die einstweilige Anordnung soll die Hauptsache nicht vorwegnehmen, ähnlich dem Grundgedanken von Arrest und einstweiliger Verfügung. Die Entscheidung ergeht entweder auf Antrag (§ 151 Abs. 1 FamFG) oder von Amts wegen (§ 1666 BGB). Das Verfahren bleibt auch bei Anhängigkeit einer Hauptsache selbständig (§ 51 Abs. 3 S. 1 FamFG) und ist es auch gebührenrechtlich (§ 18 RVG). Zur Hauptsache kommt es nur auf Antrag (§ 52 Abs. 1 S. 1 FamFG). Das Gericht kann dafür einen frühesten Zeitpunkt bestimmen, um die Wirkung einer einstweiligen Anordnung beobachten zu können (§ 51 Abs. 1 S. 2 und 3 FamFG).
274
(5) Eines der letzten juristischen Rechtsschutzmittel zur Durchsetzung des Umgangsrechts wäre ein Rekurs auf die die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).
275
Die Auslegung der Vorgaben der Konvention in Art. 6 und 8 durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat für die deutschen Gerichte über den Einzelfall hinaus normative Leitfunktion3. Danach erweitern beide Vorschriften den Beurteilungsmaßstab des Gerichts über das isolierte Kindeswohl hinaus auf den Schutz der (getrenntlebenden) Familie in der Form, dass der Staat verpflichtet ist, Hindernisse für den Umgang mit Kindern abzubauen4.
276
Die Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung eines zügigen Verfahrensweges zur Durchsetzung des elterlichen Umgangsrechts hat der EuGHMR zB in der „Elsholz-Entscheidung“5 betont und die Bundesrepublik Deutschland wegen Verletzung dieser Garantie auf effektiven
1 OLG Stuttgart v. 31.3.2006 – 17 WF 80/06, FamRZ 2006, 1060. 2 Die Rechtslage ist gegenüber §§ 621g S. 2, 620c S. 1 aF ZPO unverändert; dazu OLG Naumburg v. 18.10.2007 – 4 WF 114/07, juris. 3 BVerwG v. 16.12.1999 – 4 CN 9/98, NVwZ 2000, 810; Motzer, FPR 2007, 275 f. 4 S. weiterführend Groh, FPR 2009, 153 und Lenz, FPR 2004, 303. 5 EuGHMR v. 13.7.2000 – Beschw. 25735/94 Elsholz/BRD, FamRZ 2001, 341.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 279
Kap. 5
Rechtsschutz zu Schadensersatz verurteilt. Zugrunde lag der Fall des Umgangsrechts eines nichtehelichen Vaters. Die beanstandeten Verfahrensmängel waren: Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens trotz des Verdachts, dass der Kindeswille durch die Mutter manipuliert worden war; Verletzung des rechtlichen Gehörs durch unterlassene Aufklärung aller vom Vater aufgeworfenen tatsächlichen und rechtlichen Fragen; fehlende persönliche Anhörung des Vaters im Beschwerdeverfahren. Das seien Verstöße gegen Art. 8 (Schutz der Familie) und Art. 6 Abs. 1 EMRK (Gewährleistung eines fairen Verfahrens). Allerdings kann auch eine gewonnene Verfassungsbeschwerde die in aller 277 Regel bereits eingetretene Entfremdung nicht heilen. (6) Absehbare oder angekündigte Störungen des Umgangsrechts wie „Er- 278 krankungen“ des Kindes oder dessen „erklärte Weigerung“, ebenso telefonische Nichterreichbarkeit und Terminsverschiebungswünsche lösen nicht selten hektischen Beratungs- oder sogar Antragsbedarf aus1. Die Aussichten auf praktischen Schutz oder schnelle Hilfe durch das Gericht sind dann gering, weil dem Anliegen des betroffenen Elternteils aus zeitlichen Gründen weder durch eine „Zwangsberatung“ nach der Vorstellung des § 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB, eine Vermittlung durch das Jugendamt (§ 165 FamFG), noch durch gerichtliche Anordnungen wirksam entsprochen werden kann. Die Bestellung eines Umgangspflegers (s. Rn. 269) könnte eine disziplinierende Funktion haben. hh) Ein Mittel zur Durchsetzung des Umgangsrechts bei besonderer Schutzbedürftigkeit von Kind oder Mutter kann die Anordnung begleiteten Umgangs2 sein, § 1684 Abs. 4 S. 3 BGB. Das Verfahrensmittel dazu ist die einstweilige Anordnung (§ 49 FamFG). Das begleitete Umgangsrecht dient als Versuch, unterbrochenes Vertrauen und verlorene Kooperationsfähigkeit wieder aufzubauen. Dabei bezieht sich dieser Vertrauensaufbau in erster Linie auf die Ebene des Kindes, auch wenn diese durch die betreuende Mutter unzulässigerweise mit den Folgen des unverarbeiteten Partnerkonflikts beeinträchtigt worden ist. Grundlage dieser Maßnahme ist entweder eine Elternvereinbarung in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt oder die richterliche Anordnung.
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Praxistipp: – Der um den Wiedereinstieg in den Umgang kämpfende Vater tut gut daran, das ihm angebotene begleitete Umgangsrecht zu akzeptieren. Es erscheint jedenfalls nicht erfolgversprechend, das begleitete Umgangsrecht deshalb abzulehnen, weil der Kindesmutter ein Fehlverhalten vorzuwerfen sei, welches den Willen des Kindes
1 Vgl. die Fallbeispiele bei Finger, FuR 2008, 364. 2 Dazu Klinkhammer/Prinz, Handbuch Begleiteter Umgang; s.a. praktische Hinweise bei Fegert, FPR 2002, 219.
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339
279
Kap. 5 Rn. 279
Sorgerecht und Umgangsrecht
beeinflusst habe. Wegen des Vorrangs des Kindeswohls vor dem Elternrecht wird das Gericht über die Frage der Ursache des Kindeswiderstandes (Fehlverhalten der Mutter) nicht einmal ein Sachverständigengutachten einholen, wenn der Kindesvater von vornherein ein begleitetes Umgangsrecht ablehnt1. – Schon die Anträge sollten mit konkreten Vorschlägen zu Ort, Zeit, Verständigung und Bereitschaft der Begleitperson und einer Kostenregelung versehen sein. Das hat idR mehr Aussicht auf Erfolg als die Forderung an das Gericht, von Amts wegen „einzugreifen“. – Die vorherige Klärung der mitwirkungsbereiten Person, der Art ihrer Mitwirkung und der Kostentragung ist unbedingt anzuraten. Dabei wird es sich meist, aber nicht notwendigerweise, um eine Fachkraft des zuständigen Jugendamts handeln. Diese Gespräche (Hilfeplanungsgespräche) müssen der Formulierung einer konkreten Vereinbarung vorausgehen. – Zur Vorbereitung des Mandanten auf das Wesen und die Ziele des begleiteten Umgangs, insbesondere die Mitwirkungspflichten, kann das nachfolgende Muster einer Vereinbarung dienen. Es eignet sich vor allem als Leitfaden für die Erörterungen mit dem Gericht über den Sinn und die Gestaltung eines begleiteten Umgangs. Die Verwendung als außergerichtliche Vereinbarung setzt ein gewisses Maß an Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft voraus, weil sie als solche im Falle von Störungen nicht vollziehungsfähig wäre. Eine Elternvereinbarung in dieser oder anderer Form sollte idealerweise auch Grundlage jeder gerichtlichen Anordnung sein und könnte zB im Rahmen eines Vermittlungsverfahrens (§ 165 FamFG) ausgehandelt und gerichtlich gebilligt werden. – Begleiteter Umgang sollte nur in schwerwiegenden Fällen der Umgangsvereitelung erwogen werden, er verursacht erheblichen Aufwand und oft beträchtliche Kosten und wird uU von den Jugendämtern nur wenige Male mitgetragen2. Muster Elternvereinbarung3 Beteiligte: Kind, Eltern mit Kontaktdaten; Jugendhilfeeinrichtung vertreten durch … („Mitarbeiter“, oder sonstiger mitwirkungsbereiter Dritter)
1 OLG Köln v. 27.11.2000 – 27 UF 188/00, FamRZ 2001, 1163. 2 Vgl. OLG München v. 13.11.2002 – 4 UF 383/02, FamRZ 2003, 551 mit red. Anm. S. 552. 3 Formulierung unter Verwendung der Muster aus: Deutsche Standards zum begleiteten Umgang, 2008, S. 137–145.
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Sorgerecht und Umgangsrecht
Rn. 279
Kap. 5
1. Mitwirkungspflicht der Eltern 1.1 Die Eltern erkennen die Regeln des Leistungserbringers (zB Deutscher Kinderschutzbund Bayern1) für die Durchführung von begleitetem Umgang an. 1.2 Sie werden aktiv mit dem Leistungserbringer zusammenarbeiten. Sie halten Termine und Verabredungen ein, informieren über Verhinderungen und machen die Gründe auf Verlangen glaubhaft. 2. Mitwirkung des Leistungserbringers 2.1 Die Eltern willigen ein, dass der zuständige Mitarbeiter der Jugendhilfeeinrichtung personen- und fallbezogene Informationen mit anderen Mitarbeitern zum Zwecke der Förderung des Prozesses oder der Reflektion austauscht. 2.2 Die begleiteten Umgangskontakte finden in den Räumen des Jugendamts/Kinderschutzbundes … alle 2 Wochen, beginnend mit dem …, jeweils donnertags von 14–16 Uhr statt. Abweichungen hiervon können gesondert vereinbart werden. 2.3 Die Übergabe des Kindes zwischen den Eltern am Beginn und am Ende des Umgangskontaktes erfolgt in Gegenwart des Mitarbeiters. Der umgangsberechtigte Teil wird bereits 15 Minuten vor dem Termin dort sein und erst 15 Minuten nach Weggang des Kindes wieder gehen. 2.4 Während des Umgangstermins ist, soweit nicht Anderes vereinbart ist, der Berechtigte für die Versorgung und Verpflegung des Kindes verantwortlich. Der Gang zur Toilette erfolgt zusammen mit dem Mitarbeiter. 2.5 Der Mitarbeiter befindet sich ständig in Rufnähe/im gleichen Raum/im Nebenraum. Der Berechtigte und das Kind sind frei in der Gestaltung des Umgangskontakts. Der Mitarbeiter kann Ratschläge oder Anweisungen erteilen bei Anzeichen von Überforderung des Kindes, unangemessenem Verhalten des Berechtigten oder Verletzung abgesprochener Verhaltensregeln. 2.6 Der Berechtigte willigt ein, dass der Leistungserbringer Beobachtungen, Aufzeichnungen und sonstige Erkenntnisse über den Verlauf der Umgangskontakte mit dem Erziehungsberechtigten/der Hauptobhutsperson im Rahmen der begleitenden Beratungsgespräche zum Zwecke der Wiederherstellung einer Vertrauensbasis einfließen lässt. Im Falle der Anhängigkeit eines gerichtlichen Verfahrens darf und soll der Leistungserbringer darüber hinaus das Familiengericht informieren. 3. Dauer der Maßnahme 3.1 Diese Vereinbarung gilt für die vom Jugendamt als Kostenträger2 bewilligte Dauer, sonst für die Dauer von drei Monaten, soweit nicht abweichende Anordnungen des Familiengerichts vorliegen. 1 Abgedruckt in: Deutsche Standards, S. 136; bei der Verwendung dieser Vorlage ist zu beachten, dass die Regeln in Nr. 12 eine Information oder Einbeziehung der Anwälte ausschließen; die Durchführung derartiger außergerichtlicher Vereinbarungen befindet sich also allein in der Hand der Mandanten, die gehalten sind, bei Bedarf ihre Anwälte um Rat zu fragen. 2 Werden sonstige Dritte tätig, haben diese keinen Anspruch auf staatliche Vergütung, vgl. OLG Hamm v. 31.1.2008 – II 6 WF 17/08, FamRZ 2008, 1374.
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341
Kap. 5 Rn. 280
Sorgerecht und Umgangsrecht
3.2 Wenn die Maßnahme nicht auf einer Anordnung des Familiengerichts beruht, kann jeder Elternteil diese Vereinbarung jederzeit kündigen. In diesem Fall wird der Leistungserbringer in Abstimmung mit dem Jugendamt bei dem Familiengericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung anregen, soweit nicht eine einvernehmliche Elternvereinbarung über den Umgang vorgelegt wird. 3.3 Der Leistungserbringer ist zur Kündigung nur aus wichtigem Grund1 berechtigt. 4. … Ggf. Haftung, Verschiedenes
b) Umgangsrecht des Kindes 280
Durch Art. 9 Abs. 3 der UN-Kinderrechts-Konvention sind die Staaten verpflichtet worden, ein eigenes subjektives Recht des Kindes auf Umgang einzuführen2. Das ist mit § 1684 Abs. 1 BGB geschehen. Spiegelbildlich ist zusätzlich noch eine Pflicht der Eltern zum Umgang mit dem Kind formuliert worden.
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In der Wirklichkeit stehen dieser klaren Aussage Durchsetzungs- und Vertretungsprobleme entgegen. Zwar haben mehrere Oberlandesgerichte (Celle, Köln) die Durchsetzung des Umgangsrechts des Kindes gegen den widerstrebenden Elternteil gebilligt. Das BVerfG hatte aber schon in der Entscheidung v. 30.1.20023 Bedenken und hat vorläufigen Rechtsschutz gegen die zwangsweise Durchsetzung gewährt. Nun hat das BVerfG4 erklärt, das Umgangsrecht des Kindes sei regelmäßig nicht zwangsweise durchsetzbar. Der Zwang gegen den unwilligen Elternteil entspreche nicht dem Kindeswohl, weil er sich mittelbar auch gegen das Kind richte.
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Praxistipp: In den Ausnahmefällen, in denen danach noch eine förmliche gerichtliche Einforderung des Umgangsrechts des Kindes sinnvoll erscheint, ist zu beachten, dass es um ein höchstpersönliches Recht des Kindes geht, das nur von ihm, vertreten durch den gesetzlichen Vertreter, geltend gemacht werden kann. Der Sorgeberechtigte wäre nicht aktivlegitimiert5.
282
Das eigene Recht des Kindes auf Umgang mit seinen Eltern könnte durch eine Verzichtsvereinbarung der Eltern untereinander beeinträchtigt werden, zB wenn der Vater auf die Ausübung des Umgangsrechts verzichtet
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Dazu Deutsche Standards, S. 140/141. S. dazu BT-Drucks. 13/4899, S. 153. BVerfG v. 30.1.2002 – 1 BvR 2222/01, FamRZ 2004, 523. BVerfG v. 1.4.2008 – 1 BvR 1620/04, FamRZ 2008, 845 = FamRB 2008, 174. BGH v. 14.5.2008 – XII ZB 225/06, FamRZ 2008, 1334 = FamRB 2008, 237.
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Rn. 286
Kap. 5
und die Mutter ihn dafür von der Unterhaltspflicht freistellt1. Die Umgangsbefugnis ist als Bestandteil des natürlichen Elternrechts unverzichtbar. Wirksam wäre allenfalls eine Erklärung befristeter Nichtausübung in einem Fall, in dem der „Umgangsverzicht“ des Elternteils im besonderen Fall gerade zum Wohle des Kindes erfolgt, was wohl nur denkbar ist in den Fällen, in denen das Gericht im Streitfalle den Umgang ausschließen oder beschränken müsste. Gemeinsamkeit lässt sich ebenso wenig anordnen und durch Zwangsgeld erzwingen, wie der wirkliche Wille des Kindes ersetzt werden könnte.
282a
Beispiel: Lehnt der Vater mangels Interesses und zeitlicher Möglichkeiten einen Umgang ab, so wird das Recht des Kindes auf Umgang nicht durchgesetzt werden, wenn ein widerstrebender Umgang nicht feststellbar auch im Interesse des Kindes ist2.
Es bleibt somit weitgehend bei der auf eine langsame Bewusstseinsände- 283 rung zielenden Appellwirkung der Regelung eines eigenen Rechts des Kindes3. Diese kann unterstützt werden durch die Einsetzung eines psychologisch geschulten Umgangsbeistands, der versuchen soll, verhärtete Fronten durch Überzeugungsarbeit aufzubrechen4. Das Gleiche gilt für die Feststellung des Gesetzgebers, dass der Umgang 284 des Kindes mit seinen Eltern idR zum Kindeswohl gehöre, § 1626 Abs. 3 BGB. Nicht das so definierte Recht des Kindes ist in der Praxis umstritten, sondern die Frage, wie weit diesem Recht oder dem elterlichen Umgangsrecht gegen den Willen des Kindes Geltung verschafft werden soll (s. Rn. 269, 271). c) Umgangsrecht Dritter aa) § 1685 Abs. 2 BGB regelt das Umgangsrecht für Personen, mit denen das Kind früher in längerer häuslicher Gemeinschaft gelebt hat oder bei denen das Kind längere Zeit in Familienpflege war. In ihrer Allgemeinheit kann die Vorschrift angewendet werden auf folgenden Personenkreis:
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Vater des nichtehelichen Kindes, Pflegeeltern5, den (förmlichen) Lebenspartner oder früheren Lebenspartner, Großeltern, nicht aber Onkel und
286
1 Nach einem Beispiel des AG Essen-Steele v. 15.9.1999 – 13 F 45/99, FamRZ 2000, 1109 (LS). 2 OLG Nürnberg v. 11.6.2001 – 7 UF 201/01, FamRZ 2002, 413. 3 So der Rechtsausschuss des Bundestages, BT-Drucks. 13/8511, S. 68; kritisch auch Rauscher, FamRZ 1998, 329 (332); Skepsis auch von Richterseite: Finke, AnwBl. 2001, 601 (603). 4 Vgl. zur Umgangspflegschaft OLG Hamburg v. 26.10.2001 – 12 UF 22/01, 12 WF 52/01, FamRZ 2002, 566 (567) unter Hinweis auf OLG Köln v. 24.4.1998 – 25 UF 186/97, FamRZ 1998, 1463, wonach dies gegenüber einem Sorgerechtsentzug das mildere Mittel sei. 5 Büte, Umgangsrecht, Rn. 227.
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Tante, den früheren (einfachen) Lebensgefährten oder ehemaligen gleichgeschlechtlichen Partner1. Das schließt nicht aus, dass im Einzelfall Bindungen des Kindes (§ 1626 Abs. 3 S. 2 BGB) auch zu nichtförmlichen Lebensgefährten, dem „sozialen Vater“ oder heterosexuellen Lebensgefährten durch Umgangsgewährung gefördert und erhalten werden können. 287
Letzteres müsste positiv festgestellt sein; ist ein unbeeinflusster Kindeswille nicht festzustellen, so kommt ein Sachverständigengutachten in Betracht, dessen Einholung die Kindesmutter jedenfalls nicht nach Gutdünken ablehnen kann2.
288
bb) Der von § 1685 BGB erfasste Personenkreis kann eigene Rechte geltend machen, sonstige Personen nur ein abgeleitetes Recht oder ein aus dem Recht des Kindes auf Umgang mit diesen Personen abgeleitetes Recht. Aus dem eigenen Recht folgt auch ein eigenes Beschwerderecht im Falle von Beeinträchtigungen des Umgangsrechts.
289
Das Recht auf Umgang besteht nur, wenn die Kontaktpflege dem Wohle des Kindes dient. Sachliche Voraussetzung für die Gewährung eines Umgangsrechts ist vor allem eine bestehende Vertrauensbeziehung zwischen dem Kind und dem Umgang Suchenden, die durch Gewährung des Umgangs aufrechterhalten oder gepflegt werden kann (sozio-familiäre Beziehung). Zu überlegen wäre, dies weniger strikt zu handhaben beim biologischen Vater und bei Geschwistern (enge Blutsverwandte).
290
Das bedeutet zugleich, dass die Gewährung des Umgangsrechts eine bestehende oder frühere sozial-familiäre Beziehung voraussetzt und nicht zu deren Begründung oder zur Wiederbegründung abgerissener Beziehungen herangezogen werden kann3. Können diese Voraussetzungen von den „Anspruchstellern“ nicht dargelegt und bewiesen werden, kann der Umgang nicht gewährt werden4.
1 OLG Zweibrücken v. 22.3.1999 – 3 W 22/99, FamRZ 1999, 1161; OLG Dresden v. 17.12.1999 – 10 UF 503/99, MDR 2000, 705; OLG Hamm v. 19.5.2000 – 11 UF 22/00, FamRZ 2000, 1600 (1601). 2 OLG Karlsruhe v. 8.4.2002 – 2 WF 92/01 und 2 WF 93/01, FamRZ 2002, 997. 3 BVerfG v. 24.7.2006 – 1 BvR 971/03, FamRZ 2006, 1661. Grundlegend, insbesondere zur Beschwerdeberechtigung BGH v. 4.7.2001 – XII ZB 161/98 FamRZ 2001, 1449; Motzer, FPR 2007, 275 ff.; kein Beschwerderecht allein aufgrund der Verwandtschaft: OLG Hamm v. 25.1.2007 – 2 UF 258/06, FamRZ 2007, 1577. 4 Großeltern-Fälle: OLG Naumburg v. 2.10.2007 – 4 UF 123/07, FamRZ 2008, 915; OLG Celle v. 22.4.1999 – 18 UF 4/99, FF 2001, 28. Dabei handelt es sich nicht um einen Fall der klassischen Beweislast, sondern um die im Amtsermittlungsverfahren sog. Feststellungslast. Vgl. Liermann, FamRZ 2001, 704, Anm. zu OLG Hamm v. 23.6.2000 – 11 UF 26/00, FamRZ 2000, 1601; aus einem systemischen Familienverständnis heraus kritisch Spangenberg/Spangenberg FamRZ 2002, 48, die auf die Sachverhaltsbesonderheit hinweisen, dass die Mutter das Kind nach dem Tod des Vaters von den Großeltern weggenommen und damit einen Teil der notwendigen Trauerarbeit des Kindes vereitelt habe.
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Rn. 292
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cc) Haben die Großeltern über längere Zeit die Betreuung des Kindes 291 übernommen und will der sorgeberechtigte Elternteil das Kind lieber in einer Kindertagesstätte betreut sehen, setzt sich trotz bestehender „Gewöhnung“ des Kindes an die Großeltern das Erziehungsrecht der Eltern durch. Wollen die Großeltern geltend machen, dass die Fortsetzung der bisherigen Übung für das Kind besser sei, haben sie die Nachweis- bzw. Feststellungslast. Auch nach Wegfall des Alleinsorgerechts der Mutter setzt sich das Elternrecht des Vaters gegenüber den Großeltern durch; uU können diesen Teilbereiche der elterlichen Sorge übertragen werden, nicht aber eine Vormundschaft. Insoweit gibt es für sie auch kein Beschwerderecht1. Das Umgangsrecht des Vaters hat gegenüber dem Umgangsrecht der Großeltern Vorrang2. Verlangt der umgangsberechtigte Vater in einem Antrag nach § 1666 BGB 292 die Durchsetzung eines Umgangsrechts seiner Eltern, so haben diese im Verfahren weder eine Beteiligtenstellung noch ein Beschwerderecht3.
1 Vgl. §§ 64 Abs. 3 S. 2, 57 Abs. 3 FamFG; BGH v. 2.2.2011 – XII ZB 241/09, FamRZ 2011, 552 = FamRB 2011, 109. 2 BVerfG v. 24.7.2006 – 1 BvR 971/03, FamRZ 2007, 335 = FamRB 2007, 167. 3 OLG Zweibrücken v. 20.7.2006 – 5 WF 82/06, FamRZ 2007, 302.
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Kapitel 6 Unterhalt Inhaltsübersicht A. Auskunftsansprüche, Einkommensermittlung, Sozialleistungen, Steuern I. Auskunft (Nann) 1. Allgemeine Grundlagen . . . . . . 2. Die Auskunftserteilung a) Systematisch geordnete und vollständige Aufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auskunftsverpflichtung von Lohn- und Gehaltsempfängern . . . . . . . . . . . . . . . c) Auskunftsverpflichtung des Selbständigen . . . . . . . . . . . . . d) Auskunftserteilung über nicht wirtschaftliche Tatsachen. . . . . . . . . . . . . . . . . e) Anspruch auf ergänzende Auskunft . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Beleganspruch a) Konkretisierung des Beleganspruchs. . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umfang des Beleganspruchs 4. Beschränkung der Auskunftspflicht nach § 1605 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gerichtliche Geltendmachung des Auskunfts- und Beleganspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gegenstandswert . . . . . . . . . . . . 7. Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . 8. Eidesstattliche Versicherung . . II. Einkommensermittlung (Nann) 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriff des Einkommens . . . . . . 3. Einkommen bei Nichtselbständigen a) Maßgeblicher Zeitpunkt . . . b) Einkommen . . . . . . . . . . . . . . c) Abzugsposten im Einzelnen aa) Lohn, Einkommen- und Kirchensteuer sowie Solidaritätszuschlag . . . .
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bb) Vorsorgeaufwendungen . 164 cc) Berufsbedingte Aufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . 173 dd) Mehrbedarf für Krankheit, Behinderung und Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 ee) Berücksichtigungswürdige Schulden . . . . . . . . . . 190 ff) Vorwegabzug des Kindesunterhalts . . . . . . . . . . 201 gg) Berücksichtigung vermögensbildender Aufwendungen . . . . . . . . . . . . 211 4. Einkommen bei Selbständigkeit a) Maßgeblicher Zeitraum . . . . 214 b) Berechnung aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . 215 bb) Gewinnermittlung . . . . . 220 cc) Betriebseinnahmen . . . . . 227 dd) Abzugsfähige Posten . . . . 228 (1) Steuerliche Absetzung für Abnutzung (AfA) . . . . . 229 (2) Abschreibung für Gebäude . . . . . . . . . . 236 (3) Verhältnis der Abschreibungen zu Tilgungen . . . . . . . . . 239 (4) Anschaffungskosten für Umlaufvermögen . . . . . . . . . . . . 241 (5) Geringwertige Wirtschaftsgüter . . . 242 (6) Betriebliche Steuern und Versicherungen . . . . . . . . . . . . 243 (7) Betriebsfahrzeuge . . 244 (8) Fernsprechgebühren. . . . . . . . . . . . . . . . 245 (9) Löhne, Gehälter, Sozialausgaben. . . . . 246 (10) Miete für Geschäfts, Büro- und Praxisräume . . . . . . . 247 (11) Vermögensumschichtungen . . . . . . 248 (12) Zinszahlungen . . . . . 249
Kap. 6
Unterhalt (13) Investitionsabzugsbetrag . . . . . . . . . . . . . 250 III. Sozialleistungen (Geißler) . . . . 1. Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III (Arbeitsförderung) 2. Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. . . . . . . . . . . . . 3. Sozialhilfe (SGB XII) a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . b) Übergang von Ansprüchen gegen einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Voraussetzungen . . . . . . . bb) Ausschluss und Einschränkungen. . . . . . . . . . cc) Rechtswahrungsanzeige dd) Verfahrensrechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) . . . . . . . . . . . . a) Unterhaltsrechtliche Einordnung der Leistungen nach dem SGB II aa) Leistungsbezug durch den Unterhaltsschuldner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Leistungsbezug durch den Unterhaltsberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Typische Probleme bei Empfängern von Arbeitslosengeld II . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wohngeld nach dem WoGG . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kinderzuschlag nach § 6a BKGG . . . . . . . . . . . . cc) Übergang von Ansprüchen nach § 33 SGB II. . . c) Unterschiede zwischen Anspruchsübergang nach § 94 SGB XII und § 33 SGB II . . . . 5. Krankengeld. . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Elterngeld nach dem BEEG . . . 7. Pflegegeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Wohngeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Waisenrente . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Wiederaufleben von Witwenoder Witwerrenten . . . . . . . . . . . 11. Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz. . . . . . . . . . . . 12. Mutterschaftsgeld . . . . . . . . . . . 13. Leistungen im Zusammenhang mit dem Strafvollzug . . . .
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14. Hilfe für junge Volljährige . . . . . 308 15. Unterhaltsvorschussleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 IV. Steuern (Nann) 1. Grundlagen des Einkommensteuerrechts a) Steuerklassen . . . . . . . . . . . . . 310 b) Zusammenveranlagung – getrennte Veranlagung. . . . . . 329 c) Freibeträge aa) Eintragung . . . . . . . . . . . . . 341 bb) Zeitliche Wirkung . . . . . . 345 cc) Übertragung von Freibeträgen . . . . . . . . . . . . . . . 346 2. Auswirkungen des Steuerrechts auf die Feststellung des unterhaltspflichtigen Einkommens a) Berücksichtigung von Steuerbelastungen . . . . . . . . . 349 b) Berücksichtigung von Steuervorteilen . . . . . . . . . . . . 368 aa) Begrenztes Realsplitting . 370 bb) Mitwirkung bei Zusammenveranlagung und sonstigen Steuervorteilen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 cc) Aufteilung einer Steuererstattung zwischen den Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . 419 B. Kindesunterhalt (Krenzler)
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I. Arbeitshinweise 1. Arbeitstechnik 2. Typische Problemfelder II. Grund und Umfang des Unterhaltsanspruchs 1. Grundlagen a) Prüfungsschema . . . . . . . . . . . 426 b) Kindesunterhalt ist Verwandtenunterhalt. . . . . . . . . . 427 c) Kreis der Berechtigten aa) Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 bb) Kindeskinder und andere Verwandte . . . . . . . . . 431 d) Minderjährigkeit und Volljährigkeit. . . . . . . . . . . . . . 433 aa) Minderjährige unverheiratete Kinder . . . . . . . . 434 bb) Privilegiert volljährige Kinder (1) Umfang der Privilegierung . . . . . . . . . . . . . 435
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Kap. 6 (2) Voraussetzung der Privilegierung. . . . . . . cc) Nicht privilegiert volljährige Kinder in der Ausbildung . . . . . . . . . . . . dd) Volljährige nach abgeschlossener Ausbildung . ee) Identität des Unterhaltsanspruchs minderjähriger und volljähriger Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verheiratete und nicht verheiratete Kinder aa) Nachrangige Elternhaftung bei verheirateten Kindern . . . . . . . . . . . . . . . bb) Elternhaftung bei nicht verheirateten Kindern mit Kind . . . . . . . . . . . . . . f) Zeitliche Begrenzung aa) Gegenseitigkeitsverhältnis von Eltern und Kindern . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erkrankungen und Behinderungen . . . . . . . . . cc) Wiederaufleben der Unterhaltspflicht . . . . . . 2. Der Unterhaltsbedarf a) Regelbedarf, Mindestbedarf, Mehrbedarf, Sonderbedarf und Gerichtskostenvorschuss aa) Regelbedarf (1) Allgemeiner Bedarf . . (2) Kranken- und Pflegeversicherung . . . . . . . . (3) Taschengeld . . . . . . . . (4) Regelbedarf und Unterhaltstabellen . . . . . bb) Mindestbedarf . . . . . . . . . cc) Mehrbedarf . . . . . . . . . . . . dd) Sonderbedarf. . . . . . . . . . . ee) Gerichtskostenvorschuss . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Lebensstellung des Bedürftigen als Maßstab aa) Abgeleitete oder selbständige Lebensstellung bei Kindern . . . . . . . . . . . . bb) Das Maß des Unterhalts bei abgeleiteter Lebensstellung des Kindes . . . . . c) Individueller Unterhalt und Pauschalierungen in Unterhaltstabellen . . . . . . . . . . . . . .
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Unterhalt
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d) Aus- und Weiterbildung . . . . 495 aa) Ausbildungsanspruch . . . 496 bb) Ausbildungsgang . . . . . . . 503 cc) Weiterbildung . . . . . . . . . . 510 dd) Zweitausbildung . . . . . . . 517 e) Fremdbetreuung . . . . . . . . . . . 520 3. Unterhaltsbedürftigkeit a) Minderjährige und Volljährige . . . . . . . . . . . . . . . . 523 b) Einkünfte des Kindes aus Erwerbstätigkeit – Obliegenheit zur Erwerbstätigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 c) Unterhaltsleistungen Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 d) Das Kindergeld und seine Zuordnung aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . 537 bb) Verrechnung des Kindergeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 cc) Kindergeld ersetzende Leistungen . . . . . . . . . . . . . 547 e) Sonstige sozialstaatliche Leistungen aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . 548 bb) Unterhaltsvorschussgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 cc) Ausbildungsförderung . . 556 4. Leistungsfähigkeit des Verpflichteten a) Selbstbehalte und Mangelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 aa) Angemessener und notwendiger Selbstbehalt . . . 559 bb) Relativer und absoluter Mangelfall . . . . . . . . . . . . . 564 b) Gesteigerte Unterhaltspflicht und ihre Grenzen . . . 569 aa) Die Grenze des notwendigen Selbstbehalts . . . . . 570 bb) Verstärkte Erwerbsobliegenheit . . . . . . . . . . . 572 cc) Andere unterhaltspflichtige Verwandte und Vermögen des Kindes . . . . . . 580 III. Art der Unterhaltsgewährung 1. Bestimmungsrecht der Eltern . 585 a) Bestimmungsrecht bei minderjährigen Kindern . . . . . . . . 587 b) Bestimmungsrecht bei volljährigen Kindern . . . . . . . 588 c) Bestimmungsrecht als Gestaltungsrecht . . . . . . . . . . 590 d) Wirksame Ausübung des Bestimmungsrechts . . . . . . . . 591
Kap. 6
Unterhalt e) Rechtsfolgen des ausgeübten Bestimmungsrechts . . . . 593 f) Gerichtliche Überprüfung der Unterhaltsbestimmung . 596 2. Geldrente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 IV. Unterschiedliche Haftung der Eltern – Rangverhältnisse 1. Gleichrang von Betreuungsund Barunterhalt a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . c) Gleichrangige Entlastung der Eltern bei eigenen Einkünften des Kindes . . . . . . . . d) Wechsel in der Betreuungsperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Haftungsquoten der Eltern beim Barunterhalt . . . . . . . . . . . 3. Familienrechtlicher Ausgleichsanspruch . . . . . . . . . . . . . 4. Rangverhältnisse a) Grundlagen der Rangfolge . . aa) Minderjährige und Volljährige. . . . . . . . . . . . . bb) Kinder und Ehegatten des Unterhaltspflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gleichrangige . . . . . . . . . . . . . 5. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Änderungen 1. Lebenshaltungskosten und zunehmendes Alter a) Unterhalt als Prozentsatz des Mindestunterhalts . . . . . b) Automatische Anpassung . . 2. Andere Änderungsgründe . . . . . a) Nicht vorhergesehene und nicht vorhersehbare Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bindung an die unverändert gebliebenen Verhältnisse . . . 3. Präklusion – die Zeitschranke des § 238 Abs. 2 FamFG . . . . . . 4. Die Abänderung der verschiedenen Unterhaltstitel und der Abänderungszeitpunkt a) Privatschriftliche Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gerichtliche Vergleiche und sonstige Vollstreckungstitel gem. § 239 Abs. 1 FamFG. . . c) Endentscheidungen (Beschlüsse). . . . . . . . . . . . . . . . . .
601 603 607 609 611 613 614 615 616 617 619
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d) Abänderungszeitpunkt – die Schranke des § 238 Abs. 3 FamFG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 e) Darlegungs- und Beweislast . 645 VI. Beschränkung und Wegfall des Unterhalts, Verzicht 1. Minderjährige Kinder . . . . . . . . . 646 2. Volljährige Kinder . . . . . . . . . . . . 647 a) Selbstverschuldete Bedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 b) Verletzung der eigenen Unterhaltspflicht . . . . . . . . . . 651 c) Vorsätzliche schwere Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen oder einen seiner nahen Angehörigen . . 652 d) Billigkeitsprüfung. . . . . . . . . . 655 3. Verfahrensfragen . . . . . . . . . . . . . 656 4. Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658 VII. Unterhalt für die Vergangenheit und Rückforderung überzahlten Unterhalts . . . . . . . . . . . 659 VIII. Fristen und Verjährung . . . . . . . 667 IX. Verfahrensfragen 1. Die Titulierung von Kindesunterhaltsansprüchen . . . . . . . . 668 2. Vereinfachtes Verfahren . . . . . . 670 3. Die Abänderung von Unterhaltstiteln a) Die vereinfachte Abänderung gem. § 655 aF ZPO . . . . 675 b) Abänderungsverfahren gem. § 238 FamFG . . . . . . . . . 676
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X. Fälle mit Auslandsbezug 1. Anzuwendendes materielles Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 2. Geltendmachung und Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686
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C. Ehegattenunterhalt
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I. Grundlagen und Voraussetzungen (Niederl) . . . . . . . . . . 688 1. Überblick über die Unterhaltsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689 2. Unterschiedliche Streitgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 3. Prüfungsschema . . . . . . . . . . . . . 696 4. Die Unterhaltsarten im Einzelnen a) Familienunterhalt nach § 1360 BGB. . . . . . . . . . . . . . . . 697 aa) Naturalunterhalt . . . . . . . 698
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Kap. 6 bb) Taschengeldanspruch . . . . . . cc) Verfahrens- bzw. Prozesskostenvorschuss. . . . . . . . . . . b) Trennungsunterhalt nach § 1361 BGB. . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Getrenntleben der Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bedürftigkeit und Erwerbsobliegenheit . . . . . . . . . . . . . . (1) Anzahl und Alter von zu betreuenden Kindern . . . (2) Dauer der Ehe und der Trennung . . . . . . . . . . . . . . (3) Alter und Gesundheit des bedürftigen Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Berufliche Vorbildung des Ehegatten und früher ausgeübte Tätigkeit . . . . . (5) Wirtschaftliche Verhältnisse der Ehegatten . . . . . (6) Vermögensverwertung . . (7) Haushaltsführung für einen neuen Lebenspartner . . . . . . . . . . . . . . . . (8) Wohnvorteil . . . . . . . . . . . cc) Inverzugsetzung . . . . . . . . . . . dd) Mehrbedarf . . . . . . . . . . . . . . . ee) Sonderbedarf . . . . . . . . . . . . . . ff) Vorsorgeunterhalt . . . . . . . . . gg) Darlegungs- und Beweislast hh) Vereinbarungen zum Trennungsunterhalt . . . . . . . . . . . . c) Nachehelicher Unterhalt nach §§ 1569 ff. BGB aa) Grundsatz der Eigenverantwortung und nacheheliche Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Angemessenheit eigener Erwerbstätigkeit. . . . . . . . . . . cc) Übersicht über die Unterhaltstatbestände . . . . . . . . . . . dd) Einsatzzeitpunkte . . . . . . . . . ee) Inverzugsetzung . . . . . . . . . . . ff) Die Unterhaltstatbestände im Einzelnen (1) Unterhalt wegen Betreuung eines Kindes, § 1570 BGB (a) Neuregelung des Anspruchs nach dem UÄndG 2007 . . . . . . . . (b) Gemeinsames Kind . .
350
Unterhalt 700 701 702 704 709 715 718 721 722 723 724 726 727 730 733 734 735 739 740
741 744 749 751 753
755 757
(c) Basisunterhalt während der ersten drei Lebensjahre des Kindes . . . . . . . 760 (d) Billigkeitsunterhalt nach Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes . . . . . . . . . . . . 761 (e) Beweislast und Befristung . . . . . . . . . . . . . 778 (f) Überobligatorisch erzieltes Einkommen und Betreuungsbonus . . . . . . 782 (2) Unterhalt wegen Alters, § 1571 BGB. . . . . . . . . . . . . . . 785 (a) Altersgrenzen . . . . . . . . . 787 (b) Fehlende Erwerbserwartung . . . . . . . . . . . . . 789 (c) Einsatzzeitpunkte . . . . . 793 (3) Unterhalt wegen Krankheit oder Gebrechen, § 1572 BGB. . . . . . . . . . . . . . . 798 (a) Krankheit . . . . . . . . . . . . . 799 (b) Erwerbsunfähigkeit . . . . 800 (c) Einsatzzeitpunkte . . . . . 808 (4) Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit, § 1573 Abs. 1 und Abs. 4 BGB . . . . . . . . . . . 815 (a) Angemessene Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . 816 (b) Subsidiarität. . . . . . . . . . . 817 (c) Erwerbsbemühungen . . . 818 (d) Keine nachhaltige Sicherung der Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . 825 (5) Aufstockungsunterhalt, § 1573 Abs. 2 BGB . . . . . . . . 829 (a) Lebensstandardgarantie 830 (b) Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . 832 (c) Subsidiarität. . . . . . . . . . . 836 (6) Unterhalt wegen Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung, § 1575 BGB (a) Ausbildungsunterhalt . . 837 (b) Fortbildungsunterhalt . . 841 (7) Unterhalt aus Billigkeitsgründen, § 1576 BGB . . . . . . 846 gg) Unterhalt für die Vergangenheit und Rückforderung von überzahltem Unterhalt . . . . . . . 850 hh) Vorsorgeunterhalt. . . . . . . . . . . . 857 (1) Krankenvorsorgeunterhalt . 858 (2) Altersvorsorgeunterhalt . . . 862
Kap. 6
Unterhalt ii) Art der Unterhaltsgewährung . . . . . . . . . . . . jj) Sicherheitsleistung . . . . . kk) Vereinbarungen zum nachehelichen Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bedürftigkeit des Berechtigten 6. Selbstbehalt des Verpflichteten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Höhe des nachehelichen Unterhalts (Schlünder) 1. Arbeitshinweise a) Arbeitstechnik b) Typische Problemfelder 2. Grundlagen a) Einleitung aa) Die ehelichen Lebensverhältnisse als Maß nach § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Inhalt und Umfang nach § 1578 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 und 3 BGB . . . . . . . . . . . . . cc) Herabsetzung und zeitliche Begrenzung nach § 1578b BGB . . . . . . . . . . . dd) Beschränkung oder Versagung des nachehelichen Unterhaltsanspruchs wegen grober Unbilligkeit nach § 1579 BGB . . . . . . . . . . . . b) Die Entwicklung der ehelichen Lebensverhältnisse in Gesetzgebung und Rechtsprechung aa) Der nacheheliche Unterhalt nach dem Ehegesetz v. 6.7.1938 . . . bb) Das gesetzgeberische Anliegen des 1. Eherechtsreformgesetzes v. 14.6.1976 . . . . . . . . . . . . cc) Der Bemessungszeitpunkt nach der früheren Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Surrogatrechtsprechung des BGH . . . . . . . . ee) Die wandelbaren ehelichen Lebensverhältnisse und das UÄndG 2007 ff) Die Entscheidung des BVerfG v. 25.1.2011 . . . .
863 865 866 872 873
877 878 879
880
881
882
885 887 889 891
gg) Die weitere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892 c) Bedarf und Obergrenze des Unterhaltsanspruchs . . . . . . . 893 d) Prüfungsreihenfolge bei der Bemessung des Bedarfs . . . . . 900 3. Die ehelichen Lebensverhältnisse a) Die Surrogatrechtsprechung 905 b) Der erweiterte Begriff der ehelichen Lebensverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911 c) Die praktischen Folgen der Surrogatrechtsprechung aa) Das Ende der Anrechnungsmethode . . . . . . . . . 913 bb) „Aktivierbare Bedarfsposten“ . . . . . . . . . . . . . . . . 914 cc) Anspruch auf gleiche Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . 915 dd) Gewandeltes Rollenverständnis . . . . . . . . . . . . 916 d) Die maßgeblichen Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 918 aa) Erwerbseinkommen . . . . 919 (1) Erwerbseinkommen aus überobligatorischer Tätigkeit (a) Überobligatorisches Einkommen . . . . . . . . . . . . . 920 (b) Ist überobligatorisches Einkommen bedarfsprägend? . . . . . . . . . 924 (c) Berechnung . . . . . . 927 (d) Konkreter Betreuungsaufwand und abstrakter Betreuungsbonus . . . . . . . 931 (e) Überobligatorisches Einkommen und Partnerversorgung . . . . . . . 935 (2) Tatsächliches und fiktives Einkommen . 936 (3) Haushaltsführung und Kindesbetreuung . . . . . . . . . . . . . 941 bb) Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung . . 942 cc) Wohnvorteil . . . . . . . . . . . 945 dd) Kapitalerträge und wirtschaftliche Nutzungen
351
Kap. 6 (1) Vermögenserträge im Allgemeinen. . . . . (2) Zinseinkünfte . . . . . . (3) Zinsen aus Zahlungen auf den Zugewinnausgleich . . . . . . (4) Nutzungsvorteil eines privat genutzten Dienstfahrzeugs. . . . . ee) Auszahlung einer Lebensversicherungssumme . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Rente bei oder nach der Scheidung . . . . . . . . . . 4. Der gesamte und der angemessene Lebensbedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen a) Der Bedarf im Allgemeinen aa) Arten des Bedarfs. . . . . . . bb) Elementarbedarf und Quotenunterhalt . . . . . . . cc) Mehrbedarf . . . . . . . . . . . . (1) Berufsbedingter Mehrbedarf . . . . . . . . . (2) Altersbedingter Mehrbedarf . . . . . . . . . (3) Krankheitsbedingter Mehrbedarf . . . . . . . . . (4) Kosten für Diät und Kur . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Behinderungsbedingter Mehrbedarf . . . . . . (6) Kinderbetreuungskosten und Kindergartenbeiträge . . . . . . dd) Sonderbedarf. . . . . . . . . . . ee) Verfahrenskostenvorschuss . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Mindestbedarf . . . . . . . . . c) Der trennungsbedingte Mehrbedarf aa) Trennungsbedingter Mehrbedarf als Korrektiv . . . . . . . . . . . . . . bb) Konkreter Vortrag erforderlich . . . . . . . . . . . . (1) Trennungsbedingter Mehrbedarf bei konkreter Bedarfsermittlung . . . . . . . . . . . (2) Trennungsbedingter Mehrbedarf beim Quotenunterhalt . . . .
352
Unterhalt
950 953 955 956 d) 958 959
962 963 966 969 970
e)
971 f) 975 g) 977 978 979 980 983
985 989
990 991
(3) Trennungsbedingter Mehrbedarf bei der Anrechnungsmethode. . . . (4) Trennungsbedingter Mehrbedarf und Mangelfall . . . . . . . . . . . cc) Checkliste der Bedarfspositionen des trennungsbedingten Mehrbedarfs und deren Höhe. . . . . . . . . . Kosten einer Kranken- und Pflegeversicherung aa) Angemessene Versicherung für Krankheit und Pflegebedürftigkeit . . . . . . . bb) Erlöschen der Mitversicherung mit Rechtskraft der Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zweistufige Berechnung (Vorwegabzug) . . . . . . . . . . . dd) „Duisburger Formel“. . . . . ee) Kranken- und Altersvorsorgeunterhalt . . . . . . . . . . . ff) Beihilfe im öffentlichen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kosten einer Schul- oder Berufsausbildung, Fortbildung oder Umschulung . . . . . . . . . . . Altersvorsorgeunterhalt nach § 1578 Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . Konkrete Bedarfsermittlung aa) Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . bb) Eigenes Einkommen des Unterhaltsberechtigten . . . cc) Probleme der konkreten Methode . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Quotenunterhalt oder konkrete Methode . . . . (2) Auskunft . . . . . . . . . . . . (3) Die einzelnen Bedarfspositionen . . . . . . . . . . . (4) Beweislast . . . . . . . . . . . (5) Die einzelnen Bedarfspositionen . . . . . . . . . . . (6) Das Abänderungsverfahren . . . . . . . . . . . . dd) Relative Sättigungsgrenze (1) Unterhaltsrechtliche Leitlinien der OLGe . . . (2) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Auffassung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Literatur . . . . . . . . . . . . .
993 994
995
996 999 1000 1004 1005 1006 1007 1009 1013 1017 1018 1019 1020 1021 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1030 1031
Kap. 6
Unterhalt (5) Einzelne Bedarfpositionen aus der Rechtsprechung . . . . ee) Objektiver Maßstab (1) Die Formel der Rechtsprechung . . . . (2) Andere Kriterien der Begrenzung. . . . . (a) Keine Vermögensbildung zulasten des Verpflichteten . . . . . (b) Wegfall der personalen Grundlage . . . . . . . . . . . . (c) Leistungsfähigkeit des Verpflichteten . . . . . (d) Möglichkeit der Befristung nach § 1578b BGB . . . . ff) Die konkrete Berechnung (1) Das Vorgehen bei der konkreten Methode . . . . . . . . . . (2) Kann von der konkreten Methode wieder abgewichen werden? . . . . . . . . . . . gg) Wesentliche Abänderungsgründe . . . . . . . . . . hh) Altersvorsorgeunterhalt neben dem Elementarunterhalt . . . . . . ii) Begrenzung nach § 1578b BGB . . . . . . . . . . 5. Die Veränderung der ehelichen Lebensverhältnisse vor und nach der Scheidung a) Die Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses aa) Das unterhaltsrechtliche Stichtagsprinzip. . bb) Der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . b) Veränderungen der ehelichen Lebensverhältnisse vor der Scheidung aa) Veränderungen vor der Trennung . . . . . . . . . bb) Veränderungen zwischen Trennung und Scheidung . . . . . . . . . . . .
1032 1033 1034
1035 1036 1037 1038
1039
1040 1043 1047 1048
1049 1054
1055
c) Veränderungen der ehelichen Lebensverhältnisse nach der Scheidung aa) Einkommensverbesserungen (1) Einkommensverbesserungen nach der Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1057 (2) Steuern und Sozialabgaben . . . . . . . . . . . . . . 1060 (3) Fallgruppen der fiktiven Berechnung der Einkommensteuer . . . . 1063 (4) Wegfall von Unterhaltsverpflichtungen Kindern gegenüber . . . . 1064 (5) Wegfall von Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . 1065 bb) Einkommensminderungen (1) Einkommensminderungen im engen Sinn . . . . 1066 (2) Inanspruchnahme von Altersteilzeit . . . . . . . . . 1070 (3) Eintritt in den Ruhestand und krankheitsbedingter Rückgang des Einkommens . . . . . . . . . 1074 (4) Dauerhafte Absenkung des Einkommens . . . . . 1075 cc) Veräußerung einer Immobilie nach Scheidung 1076 (1) Veräußerung von Miteigentum . . . . . . . . . . . . 1077 (2) Veräußerung von Alleineigentum . . . . . . . 1078 (3) Teilverbrauch des Veräußerungserlöses . . . . . 1079 (4) Kauf einer anderen Immobilie. . . . . . . . . . . . 1080 (5) Erwerb der Miteigentumshälfte des anderen Ehegatten . . . . . . . . . . . . 1083 (6) Teilungsversteigerung . 1084 (7) Weiternutzung nach Scheidung; Nutzungsentschädigung . . . . . . . . 1085 (8) Erträge aus Zahlungen auf den Zugewinnausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . 1086 dd) Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach Scheidung . 1089 ee) Unterhaltspflichten gegenüber Kindern
1056
353
Kap. 6 (1) Unterhaltspflicht gegenüber dem minderjährigen Kind. . . . . . . . . . 1091 (2) Unterhaltspflicht gegenüber dem volljährigen Kind . . . . . . . . . . . . 1095 (3) Unterhaltspflicht gegenüber nicht gemeinsamen Kindern . . . . . . . . 1099 (4) Nach Scheidung entstehende Unterhaltspflicht für minderjährige Kinder . . . . . . 1100 (5) Unterhaltspflicht gegenüber Stiefkindern. 1102 ff) Unterhaltspflicht gegenüber dem betreuenden Elternteil nach § 1615l BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1103 gg) Versorgung eines Lebenspartners . . . . . . . . . . . . . . . . . 1104 (1) Anderweitige Deckung des Lebensbedarfs oder Surrogat . . . . . . . . . . . . . . 1105 (2) Erwerbstätigkeit und Partnerdienste . . . . . . . . 1110 (3) Erwerbsobliegenheit und Partnerdienste . . . . 1111 hh) Vorsorgeaufwendungen . . . 1112 ii) Renteneinkommen (1) Frühere und neue Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . 1113 (2) Zeiträume des Rentenerwerbs . . . . . . . . . . . . . . . 1116 (3) Rentenbezug durch beide Eheleute . . . . . . . . 1126 (4) Berechtigter bezieht Rente, Verpflichteter Erwerbseinkommen . . . 1127 (5) Neuentstehen eines Unterhaltsanspruchs. . . 1128 (6) Unfallrente . . . . . . . . . . . 1129 (7) Änderung eines Unterhaltstitels durch Bezug einer Rente . . . . . . . . . . . 1130 d) Veränderungen nach der Scheidung, die den Unterhalt nicht beeinflussen aa) Unerwartete, vom Normalverlauf erheblich abweichende Entwicklung („Karrieresprung“) . . . . . . . . 1131 bb) Vermögenseinkünfte nach der Trennung oder Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1137
354
Unterhalt cc) Splittingvorteil des wiederverheirateten Pflichtigen und andere Vorteile aus der neuen Ehe (1) Splitting- und (begrenzter) Realsplittingvorteil . . . . 1139 (2) Synergieeffekte durch Zusammenleben . . . . . . . . . . . . . 1144 (3) Sonstige Vorteile aus der Wiederverheiratung des Unterhaltspflichtigen . 1145 dd) Kindergeld . . . . . . . . . . . 1149 ee) Nach Trennung oder Scheidung entstehende Verbindlichkeiten . . . . 1150 ff) Erwerbseinkünfte nach Erreichen der Regelaltersgrenze . . . . . . . . . . 1151 gg) Freiwillige Leistungen Dritter. . . . . . . . . . . . . . . 1155 hh) Verbraucherinsolvenz und Restschuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . 1157 6. Die Deckung des Bedarfs nach den ehelichen Lebensverhältnissen a) Halbteilungsgrundsatz aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . 1159 bb) Halbteilungsgrundsatz bei Erwerbseinkommen und anderen Einkommensarten . . . . . . . 1163 cc) Beschränkung durch den Ehegattenselbstbehalt . . . . . . . . . . . . . . . 1165 b) Der Erwerbsanreiz aa) Erwerbsanreiz auf Erwerbseinkommen, fiktives Einkommen und Partnerversorgung . . . . 1168 bb) Höhe des Erwerbsanreizes . . . . . . . . . . . . . 1172 cc) Erwerbsanreiz in anderen Fällen . . . . . . . 1176 c) Die Leistungsfähigkeit nach § 1581 BGB . . . . . . . . . 1177 d) Berechnungsmethoden aa) Differenz-, Additionsund Anrechnungsmethode . . . . . . . . . . . . . 1185
Unterhalt bb) Surrogatrechtsprechung und Differenzmethode . . . . . . . . . . . . . 1187 cc) Additionsmethode . . . . 1190 dd) Fallgruppen der Anrechnungsmethode . . . . 1191 ee) Grundsatz der Angemessenheit . . . . . . . . . . . 1192 7. Herabsetzung und zeitliche Begrenzung des Unterhalts wegen Unbilligkeit a) Frühere Rechtslage aa) Rechtslage vor dem 1.1.2008 . . . . . . . . . . . . . . 1193 bb) Entwicklung der Rechtsprechung . . . . . . . 1196 b) Neuregelung durch das UÄndG 2007 . . . . . . . . . . . . . 1199 aa) Dogmatischer Ansatz. . 1200 bb) Struktur des § 1578b BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 1204 cc) Voraussetzungen von § 1578b BGB . . . . . . . . . . 1206 (1) An den ehelichen Lebensverhältnissen orientierte Bemessung . . . . . . . . . . . . . . 1207 (2) Belange eines dem Berechtigten anvertrauten gemeinschaftlichen Kindes (Kinderschutzklausel) . . . . . . . . . . . 1208 (3) Der ehebedingte Nachteil . . . . . . . . . . 1210 (4) Die Höhe des ehebedingten Nachteils . . 1223 (5) Der Ersatzmaßstab des „angemessenen Lebensbedarfs“ . . . . 1224 (6) Die umfassende Billigkeitsabwägung . . 1229 c) Abänderungsfragen . . . . . . . 1231 d) § 1578b BGB im Verhältnis zu den einzelnen Unterhaltstatbeständen aa) Unterhalt wegen Betreuung eines Kindes (§ 1570 BGB) . . . . . . . . . . 1240 bb) Unterhalt wegen Alters (§ 1571 BGB) . . . . . . . . . . 1242 cc) Unterhalt wegen Krankheit (§ 1572 BGB) . . . . . . 1245
Kap. 6 dd) Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit (§ 1573 Abs. 1 BGB) . . . . . . . . . . ee) Aufstockungsunterhalt (§ 1573 Abs. 2 BGB) . . . ff) Unterhalt wegen Ausbildung/Umschulung (§ 1575 BGB) . . . . . . . . . gg) Unterhalt aus Billigkeitsgründen (§ 1576 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . e) § 1578b BGB im Verhältnis zu § 1579 BGB. . . . . . . . f) Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . III. Der Rang im Unterhaltsrecht (Schlünder) 1. Prinzipien der unterhaltsrechtlichen Rangordnung . . . 2. Vereinbarungen über den Rang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die reformierte Rangordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Minderjährige unverheiratete Kinder und Kinder i.S. des § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB aa) Absoluter Vorrang und Kindeswohlprinzip . . . bb) Ziele der Reform . . . . . cc) Absoluter Vorrang im Mangelfall der zweiten Rangstufe . . . . . . . . . . . . dd) Minderjährige unverheiratete Kinder . . . . . . ee) Privilegierte Volljährige . . . . . . . . . . . . . . . b) Kinderbetreuende Elternteile, Ehegatten und geschiedene Ehegatten bei Ehe von langer Dauer (§ 1609 Nr. 2 BGB) . . . . . . . aa) Betreuende Elternteile (1) Betreuungsbedürftigkeit gemeinsamer Kinder. . . . . . . . (2) Unterhaltsanspruch wegen Betreuung eines Kindes . . . . . . bb) Ehen von langer Dauer c) Sonstige Ehegatten und geschiedene Ehegatten (§ 1609 Nr. 3 BGB) . . . . . . .
1253 1254 1255 1256 1257 1261
1267 1271 1275
1278 1280 1284 1290 1291
1293
1294 1297 1299 1302
355
Kap. 6 d) Sonstige Kinder (§ 1609 Nr. 4 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . e) Enkelkinder und weitere Abkömmlinge (§ 1609 Nr. 5 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . f) Eltern (§ 1609 Nr. 6 BGB) . . g) Weitere Verwandte der aufsteigenden Linie (§ 1609 Nr. 7 BGB) . . . . . . . . h) Unterhaltsansprüche nach dem LPartG . . . . . . . . . 4. Mittelbare Auswirkungen der Rangfolge . . . . . . . . . . . . . . . a) Angemessener Lebensbedarf des Pflichtigen . . . . . b) Rangfolge und unterhaltsrelevantes Einkommen . . . IV. Ausschlussgründe (Meyer-Götz) 1. Verwirkung des Unterhalts nach § 1579 BGB . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Grundsätze . . . b) Die einzelnen Verwirkungstatbestände aa) § 1579 Nr. 1 BGB (kurze Ehedauer) . . . . . . bb) § 1579 Nr. 2 BGB (verfestigte Lebensgemeinschaft) . . . . . . . . . cc) § 1579 Nr. 3 BGB (schwere Straftat). . . . . . dd) § 1579 Nr. 4 BGB (mutwillig herbeigeführte Bedürftigkeit) . . . . . . . . . ee) § 1579 Nr. 5 BGB (Verletzung von Vermögensinteressen des Verpflichteten) . . . . . . . . ff) § 1579 Nr. 6 BGB (gröbliche Verletzung der Unterhaltspflicht vor der Trennung) . . . . . . . . . gg) § 1579 Nr. 7 BGB (schwerwiegendes Fehlverhalten) . . . . . . . . hh) § 1579 Nr. 8 BGB (sonstiger schwerwiegender Grund) . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolgen der Härtefallklausel: Wegfall, Herabsetzung oder zeitliche Begrenzung des Unterhaltsanspruchs . . . . . . . . . . . d) Darlegungs- und Beweislast. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
356
Unterhalt
1303 1305 1306 1307 1308 1309 1310 1312
1313 1316
1323 1326 1332 1342
1354
1367 1369 1385
1390 1392
2. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sonstige Erlöschensgründe . . a) Wegfall des Unterhaltsbedarfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterhaltsverzicht . . . . . . . c) Wiederverheiratung . . . . . . d) Tod des Berechtigten . . . . . 4. Verwirkung nach § 242 BGB .
1393 1396 1397 1398 1399 1400 1404
D. Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes (Caspary) I. Arbeitshinweise . . . . . . . . . . . 1407 II. Typische Problemfelder . . . . . 1408 III. Die Ansprüche nach § 1615l BGB . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterhalt während des Mutterschutzes: § 1615l Abs. 1 S. 1 BGB . . . . . . . . . . . . 2. Ersatz von Schwangerschaftsund Entbindungskosten: § 1615l Abs. 1 S. 2 BGB . . . . . 3. Krankheitsunterhalt: § 1615l Abs. 2 S. 1 BGB . . . . . . . . . . . . 4. Betreuungsunterhalt: § 1615l Abs. 2 S. 2 bis 5 BGB . . . . . . . . a) Betreuungsunterhalt nach § 1615l Abs. 2 S. 2 und 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verlängerung des Unterhaltsanspruchs über drei Jahre hinaus: § 1615l Abs. 2 S. 4 und 5 BGB . . . . aa) Kindbezogene Gründe. bb) Elternbezogene Gründe . . . . . . . . . . . . . . c) Bedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bedürftigkeit . . . . . . . . . . . . e) Leistungsfähigkeit . . . . . . . 5. Rangfragen und Ersatzhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mehrere Unterhaltsgläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mehrere Unterhaltsschuldner . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vater und Ehemann der Mutter . . . . . . . . . . . bb) Mehrere Väter . . . . . . . . c) Ersatzhaftung . . . . . . . . . . . 6. Darlegungs- und Beweislast .
1409 1417 1418 1421 1424 1430
1431 1436 1440 1446 1456 1460 1464 1465 1473 1474 1480 1481 1484
IV. Ansprüche bei Totgeburt oder Fehlgeburt: § 1615n BGB. . . . 1487
Auskunftsansprüche
Rn. 1
V. Erstattung der Beerdigungskosten: § 1615m BGB . . . . . . . 1491 VI. Tod des Pflichtigen: §§ 1615l Abs. 3 S. 4, 1615n BGB . . . . . . 1492 VII. Zusatzfragen 1. Auskunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unterhalt für die Vergangenheit und Sonderbedarf . . . . . . . 3. Verwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zeitliche Befristung . . . . . . . . . 7. Steuerliche Abzugsfähigkeit .
1493 1496 1501 1505 1506 1507 1508
E. Elternunterhalt (Caspary/Hauß) I. Arbeitshinweise . . . . . . . . . . . . 1509 II. Problemfelder . . . . . . . . . . . . . . 1510 III. Die Unterhaltspflicht gegenüber Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 3. Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . a) Einkommen . . . . . . . . . . . . . b) Selbstbehalt. . . . . . . . . . . . . . c) Vermögen. . . . . . . . . . . . . . . . d) Vorrangige Unterhaltsverpflichtungen . . . . . . . . . . aa) Kinder . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ehegatte (1) Gescheiterte Ehe . . . (2) Intakte Ehe . . . . . . . . (a) Pflichtiges Kind Hauptverdiener .
1511 1513 1517 1528 1531 1549 1554 1566 1567 1571 1572
Kap. 6 A
(b) Pflichtiges Kind mit geringfügigem Einkommen 1579 (c) Pflichtiges Kind ohne Einkommen . . . . . . . . . . . 1586 (d) Doppelverdienerehe . . . . . . . . . 1587 cc) Unverheiratete Mutter, § 1615l BGB. . . . . . . . . . 1588 4. Mehrere Unterhaltsschuldner und Ersatzhaftung . . . . . . 1589 a) Ehegatte des bedürftigen Elternteils. . . . . . . . . . . . . . . 1590 b) Verwandte des bedürftigen Elternteils. . . . . . . . . . . . . . . 1591 c) Gleich nahe Verwandte . . . 1592 d) Ersatzhaftung . . . . . . . . . . . 1594 5. Darlegungs- und Beweislast . 1599 IV. Sonstige Fragen 1. Auskunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rückständiger Unterhalt und Sonderbedarf. . . . . . . . . . . . . . . 3. Verwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . .
1601 1606 1608 1614 1615
V. Bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung . . . . . . . . . 1616 1. Voraussetzungen und Umfang der Grundsicherung . . . . 1617 2. Auswirkungen auf den Elternunterhalt . . . . . . . . . . . . 1622
1576
A. Auskunftsansprüche, Einkommensermittlung, Sozialleistungen, Steuern I. Auskunft 1. Allgemeine Grundlagen Grundlage jeder Unterhaltsberechnung ist die umfassende Kenntnis der 1 Einkommensverhältnisse der Beteiligten. Die Auskunft soll sowohl dem Unterhaltsberechtigten als auch dem Unterhaltspflichtigen Gewissheit über die gegenseitigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse geben, soweit dies zur Geltendmachung und Überprüfung eines UnterhaltsanNann
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Kap. 6 A Rn. 2
Auskunftsansprüche
spruchs erforderlich ist. Der Auskunftsanspruch soll die Beteiligten in die Lage versetzen, einen Rechtsstreit zu vermeiden, Unterhaltsforderungen richtig zu bemessen und begründete Einwendungen vorzubringen. Hierdurch soll das Kostenrisiko für das Betragsverfahren begrenzt werden. 2
Der Auskunfts- und Beleganspruch findet seine gesetzliche Grundlage für – den Trennungsunterhalt in § 1361 Abs. 4 BGB i.V.m. § 1605 BGB, – den nachehelichen Unterhalt in § 1580 BGB i.V.m. § 1605 BGB, – den Anspruch nicht miteinander verheirateter Eltern in § 1615l Abs. 3 S. 1 BGB i.V.m. § 1605 BGB, – den Verwandtenunterhalt in § 1605 BGB, – bei Lebenspartnerschaft in §§ 5, 12 Abs. 2 S. 2, 16 Abs. 2 S. 2 LPartG i.V.m. §§ 1360a Abs. 3, 1361 Abs. 4, 1605 BGB. Die zentrale Vorschrift für den Auskunfts- und Beleganspruch ist damit § 1605 BGB.
3
Hinsichtlich des Familienunterhalts ergibt sich die Auskunftspflicht allerdings nicht aus § 1605 BGB, da § 1360a Abs. 3 BGB nicht auf § 1605 BGB verweist. Allerdings wird aus der Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft nach § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB auch ein wechselseitiger Anspruch hergeleitet, sich über die für die Höhe des Familienunterhalts und eines Taschengelds maßgeblichen finanziellen Verhältnisse zu informieren. Seinem Umfang nach geht dieser Anspruch nicht nur auf Unterrichtung in groben Zügen. Vielmehr wird die Erteilung einer Auskunft in der Weise geschuldet, wie sie zur Feststellung des Unterhaltsanspruchs erforderlich ist. Die Auskunftspflicht entspricht damit derjenigen, wie sie nach § 1605 Abs. 1 S. 1 BGB besteht. Allerdings wird die Vorlage von Belegen oder die eidesstattliche Versicherung der Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben nicht geschuldet. Eine solche Kontrollmöglichkeit soll mit dem in einer Ehe herrschenden Vertrauen nicht zu vereinbaren sein1.
4
Eine Pflicht zur Auskunftserteilung besteht, wenn und soweit die Auskunft für die Bemessung des Unterhalts von Bedeutung sein kann. Dagegen besteht ein Auskunftsanspruch jedoch dann nicht, wenn die Auskunft die Unterhaltsverpflichtung unter keinem Gesichtspunkt beeinflussen kann2. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Unterhaltspflichtige unstreitig unbeschränkt leistungsfähig ist und ein Quotenunterhalt nicht geschuldet wird, so dass der Unterhalt nach der Warenkorbmethode konkret bestimmt wird3. 1 BGH v. 2.6.2010 – XII ZR 124/08, FamRZ 2011, 21 = FamRB 2011, 4; a.A. Schwab, Kap. IV Rn. 590. 2 BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 15/84, FamRZ 1985, 791; BGH v. 13.4.1983 – IVb ZR 373/81, FamRZ 1983, 674; BGH v. 29.6.1983 – IVb ZR 391/81, FamRZ 1983, 996 (998). 3 BGH v. 22.6.1994 – XII ZR 100/93, FamRZ 1994, 1169.
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Auskunftsansprüche
Rn. 8
Kap. 6 A
Erhebt der Unterhaltspflichtige den Verwirkungseinwand nach § 1579 5 BGB, bleibt er dennoch zur Auskunftserteilung und Belegvorlage verpflichtet. Die nach § 1579 BGB vorzunehmende Interessenabwägung kann nur unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse erfolgen. Ob der Unterhaltsanspruch zu versagen ist, ist anhand einer differenzierenden Einzelfallprüfung zu entscheiden. § 1579 BGB gibt auch die Möglichkeit, den Unterhaltsanspruch lediglich herabzusetzen oder zeitlich zu befristen; die vollständige Versagung ist selbst bei Vorliegen grober Unbilligkeit nicht die Regel. Stets hat eine Gesamtwürdigung der ehelichen Verhältnisse stattzufinden. Dabei kommt es in besonderem Maße auch auf Art und Umfang der beiderseitigen Lebensdispositionen und Abhängigkeiten der Ehegatten an. Dies kann ohne Kenntnis der wirtschaftlichen Verhältnisse beider Ehegatten, insbesondere der Einkünfte, nicht hinreichend gewürdigt werden1. Etwas anderes gilt nur dann, wenn konkrete Umstände vorliegen, die so gravierend sind, dass sie auch ohne die Einbeziehung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse sicher zu einem Ausschluss des Unterhalts führen2. Ein Auskunfts- und Beleganspruch besteht auch dann nicht, wenn der Unterhaltspflichtige über Erwerbseinkommen verfügt, das die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt hat, und die Auskunft für die Bemessung des Ehegattenunterhalts deshalb nicht benötigt wird3, es sei denn, der Unterhaltspflichtige wäre nach § 1581 BGB nur begrenzt leistungsfähig.
6
Bei wechselseitigen Auskunfts- und Belegansprüchen besteht kein Zu- 7 rückbehaltungsrecht, da ein Gegenseitigkeitsverhältnis nach §§ 273, 320 BGB nicht gegeben ist4. Eltern haften für den Unterhalt ihrer volljährigen Kinder anteilig nach 8 Maßgabe ihrer Einkommensverhältnisse5. Zur Berechnung der Haftungsquote wird das Einkommen beider Elternteile benötigt. Der zur Ermittlung der Haftungsquote erforderliche Auskunftsanspruch des einen gegen den anderen Elternteil ergibt sich nicht aus § 1605 Abs. 1 BGB. Die Auskunftspflicht folgt vielmehr unmittelbar aus § 242 BGB. Sie ist Folge der Rechtsbeziehungen der Eltern zueinander wegen ihrer gleichrangigen Unterhaltshaftung gegenüber ihren volljährigen Kindern6.
1 BGH v. 29.6.1983 – IVb ZR 391/81, FamRZ 1983, 996; OLG Bamberg v. 21.7.2005 – 2 UF 70/05, FamRZ 2006, 344 = FamRB 2005, 355; OLG Zweibrücken v. 21.10.2010 – 6 UF 77/10, FamRZ 2011, 1066. 2 BGH v. 29.6.1983 – IVb ZR 391/81, FamRZ 1983, 996. 3 BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 15/84, FamRZ 1985, 791. 4 OLG Bamberg v. 19.9.1984 – 2 WF 173/84, FamRZ 1985, 610. 5 BGH v. 4.11.1987 – IVb ZR 75/86, FamRZ 1988, 159 (161); BGH v. 5.6.1985 – IVb ZR 24/84, FamRZ 1985, 917 (919). 6 BGH v. 9.12.1987 – IVb ZR 5/87, FamRZ 1988, 268 (269); KG v. 6.6.2008 – 18 UF 215/07, FamRZ 2009, 702.
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Kap. 6 A Rn. 9 9
Auskunftsansprüche
Der von seinem volljährigen Kind im Wege eines Stufenantrags auf Unterhalt in Anspruch genommene Elternteil hat auf Verlangen – jedoch nur in groben Zügen – auch über die Einkommensverhältnisse seines Ehegatten Auskunft zu erteilen, soweit dies erforderlich ist, um dessen Anteil am Familienunterhalt bestimmen zu lassen. Ein Beleganspruch besteht allerdings nicht1.
10 Geht der Unterhaltsanspruch gem. § 94 SGB XII auf den Träger der Sozialhilfe oder gem. § 33 SGB II auf den Träger der Grundsicherung über, erwirbt der Träger der Sozialhilfe nach § 94 Abs. 1 S. 1 SGB XII bzw. der Träger der Grundsicherung nach § 60 SGB II auch den damit zusammenhängenden Auskunftsanspruch. Der Träger der Sozialhilfe kann deshalb nach § 94 Abs. 1 S. 1 SGB XII i.V.m. § 1605 Abs. 1 BGB vom Unterhaltspflichtigen Auskunft verlangen. Darüber hinaus hat der Träger der Sozialhilfe auch die Möglichkeit, nach § 117 SGB XII Auskunft zu verlangen. Die Auskunftspflicht und die Mitwirkungspflicht Dritter im Falle der Gewährung einer Grundsicherung sind in § 60 SGB II geregelt. 11 Zwar wird gem. § 1605 Abs. 1 S. 1 BGB Auskunft nur „auf Verlangen“ geschuldet. Es gibt daher keine allgemeine Pflicht zur ungefragten Offenbarung veränderter Verhältnisse. Jedoch kann in besonderen Fällen eine sich aus § 242 BGB ergebende Obliegenheit zur ungefragten Information bestehen2. Voraussetzung ist, dass ein Verschweigen über grundlegende Änderungen der Verhältnisse evident unredlich erscheinen würde. Ein evident unredliches Verhalten kann vorliegen, wenn der Unterhaltsberechtigte eine rechtskräftig zugesprochene Unterhaltsrente entgegennimmt, ohne die zwischenzeitlich erfolgte Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder eine deutliche Steigerung des eigenen Einkommens mitzuteilen. Evident unredlich ist das Schweigen des Berechtigten, wenn der Verpflichtete die zwischenzeitlich eingetretene Änderung weder erwarten noch erkennen konnte, während der Unterhaltsberechtigte durch die fortlaufende Annahme der Unterhaltsrente den Irrtum des Verpflichteten noch unterstützt hat3. Auf Seiten des Unterhaltspflichtigen kann eine Obliegenheit zur ungefragten Information bestehen, wenn aufgrund eingeschränkter Leistungsfähigkeit nur ein reduzierter Unterhalt geschuldet wurde, die Leistungsfähigkeit später aber wieder bestand. Allerdings muss auch insoweit das Verschweigen der zwischenzeitlich wieder eingetretenen Leistungsfähigkeit evident unredlich erscheinen4.
1 BGH v. 2.6.2010 – XII ZR 124/08, FamRZ 2011, 21 = FamRB 2011, 4; OLG Jena v. 3.7.2008 – 1 UF 397/07, FamRZ 2009, 891 = FamRB 2008, 328; OLG Hamm v. 15.12.2010 – II-5 WF 157/10, FamRZ 2011, 1302. 2 BGH v. 19.2.1986 – IVb ZR 71/84, FamRZ 1986, 450, Hoppenz, FamRZ 1989, 337; BGH v. 29.1.1997 – XII ZR 257/95, FamRZ 1997, 483 (484); BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 107/06, FamRZ 2008, 1325 = FamRB 2008, 230. 3 BGH v. 23.4.1986 – IVb ZR 29/85, FamRZ 1986, 794. 4 BGH v. 25.11.1987 – IVb ZR 96/86, FamRZ 1988, 270.
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Auskunftsansprüche
Rn. 15
Kap. 6 A
Während eines laufenden Unterhaltsverfahrens besteht für die Beteiligten mit Rücksicht auf die nach § 138 Abs. 1 ZPO bestehende prozessuale Wahrheitspflicht die Obliegenheit, alle den Unterhaltsanspruch beeinflussenden Änderungen unverzüglich mitzuteilen1. Dies folgt nun aus § 235 Abs. 3 FamFG. Danach besteht während des Verfahrens die Verpflichtung, dem Gericht auch ohne Aufforderung wesentliche Veränderungen mitzuteilen. Ein Verstoß hiergegen kann einen Prozessbetrug darstellen und auf Seiten des Unterhaltsberechtigten zu einer Verwirkung des Unterhaltsanspruchs führen.
12
Verstößt der Unterhaltspflichtige2 gegen die Obliegenheit zur ungefragten 13 Information, kann dies zu Schadensersatzansprüchen des Unterhaltsberechtigten führen3. Der Unterhaltsberechtigte kann insoweit ohne Rücksicht auf Verzugsregeln rückständigen Unterhalt und ohne Rücksicht auf eine bereits erfolgte Verurteilung zusätzlichen Unterhalt als Verzugsschaden geltend machen. Verstößt der Unterhaltsberechtigte gegen die Obliegenheit zur ungefrag- 14 ten Information, kann dies zu einer Verwirkung der Unterhaltsansprüche nach § 1579 Nr. 3 BGB führen4. Ein Vergleich kann, gleichgültig ob er im Unterhaltsverfahren oder außergerichtlich geschlossen wurde, nach § 123 BGB angefochten werden5. Nimmt der Unterhaltsberechtigte rechtskräftig zuerkannten Unterhalt weiter entgegen, ohne dass er die zwischenzeitliche Aufnahme einer Erwerbstätigkeit offenbart, liegt hierin allein noch keine sittenwidrige Schädigung. Erst das Hinzutreten besonderer Umstände führt zu einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung, die nach § 826 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. Informiert der Unterhaltsberechtigte den Verpflichteten nicht ungefragt über einen erheblichen Anstieg seines eigenen Einkommens, kann dies zur Verwirkung des Anspruchs auf nachehelichen Unterhalt nach § 1579 Nr. 5 BGB führen6. 2. Die Auskunftserteilung a) Systematisch geordnete und vollständige Aufstellung Die Auskunft ist durch Vorlage einer systematisch geordneten und voll- 15 ständigen Aufstellung sämtlicher Angaben zu erteilen, die erforderlich sind, damit der Berechtigte ohne übermäßigen Arbeitsaufwand seinen Unterhaltsanspruch überprüfen kann7. Dies folgt aus §§ 260, 261 BGB. Erforderlich ist eine geschlossene Aufstellung, zeitlich nacheinander er-
1 2 3 4 5 6 7
BGH v. 19.5.1999 – XII ZR 210/97, FamRZ 2000, 153 (154). BGH v. 25.11.1987 – IVb ZR 96/86, FamRZ 1988, 270 (271). OLG Bremen v. 9.2.1999 – 4 UF 121/98, FamRZ 2000, 256. Vgl. dazu Erman/Graba, § 1579 BGB Rn. 15. BGH v. 19.5.1999 – XII ZR 210/97, FamRZ 2000, 153 (154). BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 107/06, FamRZ 2008, 1325 = FamRB 2008, 230. BGH v. 29.6.1983 – IVb ZR 391/81, FamRZ 1983, 996 (998).
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Kap. 6 A Rn. 16
Auskunftsansprüche
teilte Auskünfte genügen nicht1. Teilweise wurde die Auffassung vertreten, die Auskunft sei gem. § 126 Abs. 1 BGB persönlich zu unterschreiben2. Nach Auffassung des BGH erfordert eine Auskunft nach § 260 Abs. 1 BGB zwar eine eigene und schriftlich verkörperte Erklärung des Auskunftsschuldners, die jedoch nicht die Schriftform nach § 126 BGB erfüllen muss und auch durch einen Boten, zB einen Rechtsanwalt, an den Gläubiger übermittelt werden darf3. Es ist daher nicht erforderlich, dass der Auskunftspflichtige die Auskunft persönlich unterschreibt.
Û
Wichtig: In der Praxis werden häufig nur Gehaltsabrechnungen und Steuerbescheide vorgelegt; hierdurch wird der Auskunftsanspruch jedoch nicht erfüllt, da es an einer systematisch geordneten und vollständigen Aufstellung fehlt. In der Praxis sollte stets darauf geachtet werden, dass die Auskunft durch Vorlage einer systematisch geordneten und vollständigen Aufstellung erteilt wird, da nur diese Gegenstand einer eidesstattlichen Versicherung sein kann.
b) Auskunftsverpflichtung von Lohn- und Gehaltsempfängern 16 Lohn- und Gehaltsempfänger sind verpflichtet, das gesamte Bruttoeinkommen mitzuteilen. Die einzelnen Monate sind getrennt darzustellen4, damit Einkommensveränderungen während des Auskunftszeitraums erkannt werden können. Alle Abzüge gesetzlicher Art sind konkret darzustellen, ferner das sich ergebende Nettoeinkommen5. Insbesondere sollte auf folgenden Angaben bestanden werden: – Monatliches Bruttoeinkommen, Art und Höhe der gesetzlichen Abzüge, monatliches Nettoeinkommen; – bei infolge von Mehrarbeit schwankendem Einkommen sollten das monatliche Brutto- und Nettoeinkommen für die normale Arbeitszeit und die entsprechende Brutto- und Nettovergütung für die geleistete Mehrarbeit dargestellt werden; – Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, 13. Monatsgehalt; – Zuschläge und Zulagen, zB Tantiemen, Provisionen, Schichtzulagen, Geld- und Sachzuwendungen, insbesondere Pkw-Nutzung; – Krankheitszeiten, in denen keine Lohnfortzahlung erfolgte, sowie gezahlte Krankenzuschüsse; – Steuerklasse und Steuerfreibeträge. 1 OLG Köln v. 7.5.2002 – 4 WF 59/02, FamRZ 2003, 235. 2 OLG München v. 15.2.1995 – 12 WF 524/95, FamRZ 1995, 737; OLG München v. 15.11.1995 – 12 UF 1301/95, FamRZ 1996, 738; OLG München v. 25.11.1997 – 12 UF 1480/97, FamRZ 1999, 453; OLG Hamm v. 11.10.2004 – 11 WF 219/04, FamRZ 2005, 1194 = FamRB 2005, 35. 3 BGH v. 28.11.2007 – XII ZB 225/05, FamRZ 2008, 600 = FamRB 2008, 97. 4 OLG Bamberg v. 23.10.1985 – 2 WF 215/85, FamRZ 1986, 492. 5 BGH v. 29.6.1983 – IVb ZR 391/81, FamRZ 1983, 996 (998).
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Auskunftsansprüche
Rn. 20
Kap. 6 A
Wechselte der Auskunftspflichtige während des relevanten Zeitraums 17 seinen Arbeitsplatz, muss auch auf Auskunft über das Einkommen aus der früheren Tätigkeit bestanden werden, da das frühere Einkommen im Falle einer Obliegenheitsverletzung für die Unterhaltsfestsetzung von Belang sein kann. Dies gilt vor allen Dingen für den Fall, dass der Arbeitsplatz aufgegeben wurde, ohne dass eine anderweitige Tätigkeit aufgenommen wurde. Sofern während des relevanten Zeitraums der Arbeitsplatz gewechselt wurde, sollte auf einer Auskunft über den Inhalt des neuen Arbeitsvertrags bestanden werden1.
18
c) Auskunftsverpflichtung des Selbständigen Der Selbständige schuldet die Vorlage einer systematisch geordneten und 19 vollständigen Aufstellung, in welcher sämtliche Einnahmen und Ausgaben ausgewiesen sind2. Ausgaben sind so konkret darzustellen, dass der Berechtigte sie auf unterhaltsrechtliche Relevanz überprüfen kann, dh. sie müssen so konkret bezeichnet werden, dass die allein steuerlich beachtlichen Ausgaben von den unterhaltsrechtlich relevanten Ausgaben abgegrenzt werden können. Die Aufzählung einzelner Kostenarten genügt nicht. Vielmehr müssen die einzelnen Ausgabenarten und die darauf entfallenden Beträge genau gekennzeichnet werden. d) Auskunftserteilung über nicht wirtschaftliche Tatsachen Die Verpflichtung zur Erteilung einer Auskunft über nicht wirtschaftli- 20 che, persönliche Umstände kann zwar nicht direkt aus § 1605 Abs. 1 BGB hergeleitet werden. Die Auskunftsverpflichtung folgt jedoch aus § 242 BGB als Nebenpflicht aus dem gesetzlichen Unterhaltsrechtsverhältnis, soweit die Auskunft benötigt wird, um die Leistungsfähigkeit beurteilen zu können. So hat der unterhaltsberechtigte Ehegatte seine Bemühungen, eine Erwerbstätigkeit zu finden, darzustellen3. Über die Fortentwicklung einer die Leistungsfähigkeit einschränkenden weiteren Gesundheitsbeeinträchtigung ist Auskunft zu erteilen4. Auch kann es obliegen, Auskunft über Veränderungen der familiären Verhältnisse zu erteilen, zB über Wiederheirat, Geburt eines weiteren Kindes, Wegfall einer Unterhaltsverpflichtung. Der Unterhaltspflichtige kann auch Auskunft über den Verbleib des dem Unterhaltsberechtigten im Wege des Zuge-
1 BGH v. 29.9.1993 – XII ZB 97/93, FamRZ 1994, 101. 2 BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 59/83, FamRZ 1985, 357; OLG Koblenz v. 11.6.1999 – 11 UF 402/98, FamRZ 2000, 605; OLG München v. 15.11.1995 – 12 UF 1301/95, FamRZ 1996, 738 (739). 3 OLG Braunschweig v. 7.11.1986 – 1 WF 99/86, FamRZ 1987, 284. 4 OLG Schleswig v. 25.5.1982 – 8 UF 358/81, FamRZ 1982, 1018.
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Kap. 6 A Rn. 21
Auskunftsansprüche
winnausgleichs zugeflossenen Kapitals verlangen, um ggf. einen gerichtlichen Abänderungsantrag vorzubereiten1. e) Anspruch auf ergänzende Auskunft 21 Sofern anzunehmen ist, dass die erteilte Auskunft aufgrund unverschuldeter Unkenntnis oder eines entschuldbaren Irrtums des Auskunftspflichtigen unvollständig oder unrichtig ist, besteht ein Anspruch auf Auskunftsergänzung2. Dies kann der Fall sein, wenn Positionen nach der Erfüllung des Beleganspruchs unklar geblieben sind, zum Beispiel Positionen der einkommensteuerlichen Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 1, 3 EStG, wie Personalkosten, Zinsaufwand, Abschreibungen und einer erweiterten Erläuterung bedürfen. Beispiel: Der Unterhaltspflichtige weist Personalkosten aus und der Unterhaltsberechtigte befürchtet, dass die Lebensgefährtin des Pflichtigen auf der Lohnliste steht.
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Eine eidesstattliche Versicherung gemäß § 260 Abs. 2 BGB kann nur verlangt werden, wenn anzunehmen ist, dass der Auskunftspflichtige schuldhaft unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht hat. Ist ein Verschulden nicht anzunehmen, kommt nur der Anspruch auf Auskunftsergänzung, nicht aber auf Abgabe der eidesstattlichen Versicherung in Betracht. f) Zeitraum
22 Bei Einkünften aus nicht selbständiger Erwerbstätigkeit erstreckt sich die Auskunftsverpflichtung über einen Jahreszeitraum3. Es kann Auskunft über das Einkommen für das abgelaufene Kalenderjahr oder für die letzten 12 Kalendermonate verlangt werden.
Û
Praxistipp: Wird die Auskunft nicht für die letzten 12 Kalendermonate, sondern für das abgelaufene Kalenderjahr verlangt, besteht die Gefahr, dass zwischenzeitlich eingetretene Tarifanhebungen oder Besoldungsanpassungen oder Veränderungen der Dienstalterstufe eines Beamten übersehen werden. Es sollte deshalb auf einer Auskunft über die Einkünfte der letzten 12 Kalendermonate bestanden werden. Bei stark schwankenden monatlichen Einkünften, insbesondere bei Provisionen und Tantiemen, wird Auskunft für einen längeren Zeitraum geschuldet, idR für die letzten drei Kalenderjahre.
1 OLG Karlsruhe v. 13.3.1990 – 18 UF 156/89, FamRZ 1990, 756. 2 BGH v. 1.12.1983 – IX ZR 41/83, FamRZ 1984, 144 (146). 3 BGH v. 29.6.1983 – IVb ZR 391/81, FamRZ 1983, 996 (998).
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Auskunftsansprüche
Rn. 28
Kap. 6 A
Bei Einkommen aus selbständiger Tätigkeit und aus Kapitalvermögen ist grundsätzlich Auskunft für die letzten drei aufeinanderfolgenden Jahre zu erteilen1. Im Einzelfall kann auch Auskunft über einen längeren Zeitraum verlangt werden, wenn gerade dieser länger zurückliegende Zeitraum wesentliche Bedeutung für die wirtschaftlichen Verhältnisse im Unterhaltszeitraum besitzt2.
23
Bei Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft sollte sich die Auskunft nicht auf das Kalenderjahr, sondern auf das laufende Wirtschaftsjahr v. 1.7. bis zum 30.6. beziehen.
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g) Kosten Der Auskunftspflichtige hat die durch die Auskunftserteilung entstehen- 25 den Kosten, insbesondere die Steuerberaterkosten, zu tragen. Der Auskunftsberechtigte trägt jedoch die Sachverständigenkosten für eine notwendig werdende Wertermittlung3. In fremder Sprache abgefasste Belege sind auf Kosten des Auskunftspflichtigen zu übersetzen4.
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3. Der Beleganspruch a) Konkretisierung des Beleganspruchs Neben dem Anspruch auf Auskunftserteilung steht der Anspruch auf 27 Vorlage von Belegen. Es handelt sich nach dem eindeutigen Wortlaut des § 1605 Abs. 1 BGB um zwei getrennte Ansprüche, die auch einzeln geltend gemacht werden können5. Der Beleganspruch besteht nach § 1605 Abs. 1 S. 2 BGB nur über die Höhe der Einkünfte. Belege hinsichtlich des Vermögens werden nicht geschuldet. Die Belege müssen im Urteilstenor genau bezeichnet werden. Dies erfordert, dass bereits aus der anwaltlichen Antragstellung eindeutig ersichtlich ist, welche Belege verlangt werden.
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Praxistipp: Es empfiehlt sich, bereits bei der Antragstellung deutlich zwischen dem Auskunftsanspruch einerseits und dem Beleganspruch andererseits zu differenzieren. Ein Auskunftsbeschluss mit einer unbestimm-
1 BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 59/83, FamRZ 1985, 357 (359); BGH v. 4.11.1981 – IVb ZR 624/80, FamRZ 1982, 151 (152); BGH v. 7.4.1982 – IVb ZR 678/80, FamRZ 1982, 680 (681). 2 BGH v. 13.4.1983 – IVb ZR 374/81, FamRZ 1983, 680 (681); BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 59/83, FamRZ 1985, 357 (358); BGH v. 2.6.2004 – XII ZR 217/01, FamRZ 2004, 1177 = FamRB 2004, 316. 3 BGH v. 6.5.1982 – IX ZR 36/81, FamRZ 1982, 682. 4 OLG Koblenz v. 14.9.1989 – 11 WF 1008/89, FamRZ 1990, 79. 5 OLG München v. 11.8.1995 – 12 WF 918/95, FamRZ 1996, 307.
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Kap. 6 A Rn. 29
Auskunftsansprüche
ten Vorlageverpflichtung ist wertlos, weil aus ihm nicht vollstreckt werden kann. Der Auskunftsantrag und der Beschlusstenor müssen, damit aus dem Beschluss vollstreckt werden kann, die Belege so genau bezeichnen, dass es dem Gerichtsvollzieher möglich ist, die Belege aus den übrigen Unterlagen des Auskunftspflichtigen auszusondern und dem Auskunftsberechtigten zu übergeben1. Es reicht nicht aus, wenn – wie in der Praxis häufig – die Vorlage „entsprechender Belege“ beantragt wird. 29 Der Auskunftsberechtigte muss sich nicht mit Fotokopien begnügen. Er kann vielmehr die Vorlage der Originale verlangen. Geschuldet wird jedoch nur eine vorübergehende Überlassung der Originale ohne Besitzaufgabe. Der Auskunft Begehrende kann Kopien anfertigen, bevor er die Originale zurückgibt2. b) Umfang des Beleganspruchs 30 Der nicht selbständig Tätige hat insbesondere folgende Belege vorzulegen: – Die Lohn, Gehalts- bzw. Bezügeabrechnungen für den Auskunftszeitraum, also für die letzten 12 Kalendermonate bzw. das letzte Kalenderjahr. Zu beachten ist, dass Beamte und Richter nur eine neue Bezügemitteilung erhalten, wenn sich gegenüber dem Vormonat etwas geändert hat. – die Lohnsteuerkarte bzw. die elektronische Lohnsteuerbescheinigung, – die Einkommensteuererklärung für das abgelaufene Kalenderjahr, – den letzten Einkommensteuerbescheid, – Abrechnungen über Provisionen, Tantiemen und Spesen, – den Rentenbescheid. 31 Darüber hinaus kann bei einem Auszubildenden regelmäßig die Vorlage des Ausbildungsvertrags verlangt werden. 32 Bei Arbeitsplatzwechsel während des Auskunftszeitraums ist der neue Arbeitsvertrag vorzulegen, ferner die mit dem früheren Arbeitgeber geschlossene Ausscheidungsvereinbarung, aus der eine etwaige Abfindung ersichtlich ist. 33 Bei Angestellten kann zusätzlich zu den Gehaltsabrechnungen auch die Vorlage des Anstellungsvertrags verlangt werden, um die Höhe einer Gewinnbeteiligung, die Berechnungsgrundlage einer Provision sowie weitere zusätzliche Leistungen ermitteln zu können.
1 OLG Stuttgart v. 12.6.1990 – 18 UF 94/90, FamRZ 1991, 84. 2 KG v. 12.2.1982 – 17 WF 315/82, FamRZ 1982, 614; OLG Frankfurt v. 30.9.1996 – 6 WF 179/96, FamRZ 1997, 1296.
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Rn. 39
Kap. 6 A
Auch Rentner und Pensionäre haben Auskunft zu erteilen und Belege 34 vorzulegen1. Stets sollte darauf bestanden werden, dass der letzte Rentenanpassungsbescheid des Rentenversicherungsträgers vorgelegt wird. Neben dem Einkommensteuerbescheid sollte stets auch auf Vorlage der 35 dazugehörenden Einkommensteuererklärung bestanden werden. Denn der Einkommensteuerbescheid kann nur mit Blick auf die Einkommensteuererklärung richtig ausgewertet werden. So sind aus der Anlage V zur Einkommensteuererklärung bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung die Gebäudeabschreibungen nach § 7 Abs. 4, Abs. 5 EStG ersichtlich, die unterhaltsrechtlich nicht relevant sind. Der selbständig Tätige hat vorzulegen: – Bilanzen mit Gewinn- und Verlustrechnungen und den Anlagespiegel nach § 4 Abs. 1 EStG bzw. die Einnahmen-Überschuss-Rechnungen nach § 4 Abs. 3 EStG sowie betriebswirtschaftliche Auswertungen2,
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– die Umsatzsteuerbescheide und Erklärungen, – Summen- und Saldenlisten und betriebswirtschaftliche Auswertungen, – die Einkommensteuerbescheide und die dazugehörenden Einkommensteuererklärungen, – die Beitragsmitteilung der Kranken- und Pflegeversicherung, – Nachweise zur Art und Höhe von Altersvorsorgemaßnahmen, insbesondere die Police der für Zwecke der Altersversorgung vorgesehenen Lebens- oder Rentenversicherung. Ein Geschäftsabschluss nach § 4 Abs. 1 EStG enthält eine testierte Bilanz, eine Gewinn- und Verlustrechnung sowie eine Erläuterung des Anlagevermögens (Anlagespiegel).
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Die Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG stellt die Einnahmen und Ausgaben gegenüber und enthält grundsätzlich auch eine Erläuterung des Anlagevermögens.
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Auf der Vorlage des Anlagespiegels sollte stets bestanden werden, um die 39 steuerlich geltend gemachten Abschreibungen auf unterhaltsrechtliche Relevanz überprüfen zu können. Der Jahresabschluss ist spätestens sechs Monate nach Abschluss des Geschäftsjahres, grundsätzlich also zum 30.6. des Folgejahres, vorzulegen (vgl. hierzu auch § 264 Abs. 1 HGB)3. Auf Vorlage der Umsatzsteuerbescheide und der Umsatzsteuererklärungen sollte insbesondere dann bestanden werden, wenn – wie häufig – die Gewinne des selbständig Tätigen in der Trennungsphase stark rückläufig sind. Die Angaben zum Eigenverbrauch und die Art und Höhe der Umsät1 BGH v. 13.4.1983 – IVb ZR 373/81, FamRZ 1983, 674 (675). 2 BGH v. 7.4.1982 – IVb ZR 678/80, FamRZ 1982, 680. 3 OLG Bamberg v. 7.9.1988 – 2 WF 188/88, FamRZ 1989, 423.
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Auskunftsansprüche
ze in der Umsatzsteuererklärung ermöglichen ggf. einen Rückschluss auf die Geschäftstätigkeit und die Ausgaben für den privaten Bedarf des Auskunftspflichtigen. Umsatzsteuererklärungen, die monatlich abgegeben werden, besitzen einen hohen Informationswert über die fortlaufenden Einkünfte des selbständig Tätigen. Es sollte deshalb insbesondere bei stark schwankenden oder deutlich rückgängigen Einkommen darauf geachtet werden, dass nicht nur die Umsatzsteuererklärungen des abgelaufenen Kalenderjahres vorgelegt werden. Vielmehr sollte auch auf der Vorlage der Umsatzsteuererklärungen des laufenden Jahres bestanden werden. 40 Die Vorlage von Summen- und Saldenlisten sowie der betriebswirtschaftlichen Auswertungen macht insbesondere dann Sinn, wenn geltend gemacht wird, die Gewinne seien während des laufenden Veranlagungszeitraums deutlich zurückgegangen. 41 Bei selbständig Tätigen sollte auch stets darauf geachtet werden, dass aus dem aktuellen Einkommensteuerbescheid die laufenden Steuervorauszahlungen ersichtlich sind. Ansonsten wäre zusätzlich noch der aktuelle Vorauszahlungsbescheid anzufordern. 42 Wird der Auskunftspflichtige zusammen mit seinem neuen Ehegatten steuerlich veranlagt, darf er in dem Einkommensteuerbescheid und der dazugehörenden Einkommensteuererklärung sämtliche Angaben schwärzen, die ausschließlich seinen neuen Ehegatten betreffen oder in denen Werte für ihn und seinen Ehegatten zusammengefasst sind, ohne dass sein eigener Anteil daraus entnommen werden kann1. Denn die Angaben, die ausschließlich den neuen Ehegatten betreffen, werden vom Auskunftsanspruch nicht umfasst. Beträge, die beide Ehegatten gleichmäßig treffen, müssen dagegen angegeben werden, weil anderenfalls der Anteil des Auskunftspflichtigen nicht ersichtlich gemacht werden kann. Wenn insoweit aus dem Steueranteil des Auskunftspflichtigen zugleich Schlüsse auf die Verhältnisse seines neuen Ehegatten gezogen werden können, muss dies hingenommen werden2. 43 Ist der Auskunftspflichtige nicht alleiniger Gesellschafter, müssen gleichwohl die testierten Bilanzen mit Gewinn- und Verlustrechnungen nach § 4 Abs. 1 EStG bzw. die Einnahmen-Überschuss-Rechnungen nach § 4 Abs. 3 EStG vorgelegt werden. Ein etwaiges Geheimhaltungsinteresse der Mitgesellschafter tritt zurück, da sich der Gesetzgeber in § 236 Abs. 1 FamFG (früher § 643 Abs. 2 ZPO) eindeutig für den Vorrang des Unterhaltsinteresses vor dem Geheimhaltungsinteresse entschieden hat3. 44 Streitig ist, ob die Vorlage von Geschäftsbüchern verlangt werden kann. Im Regelfall wird das nicht verlangt werden können, da sonst eine umfas1 BGH v. 7.5.2003 – XII ZR 229/00, FamRZ 2003, 1836 (1838) = FamRB 2004, 39. 2 BGH v. 13.4.1983 – IVb ZR 374/81, FamRZ 1983, 680 (682). 3 BGH v. 10.8.2005 – XII ZB 63/05, FamRZ 2005, 1986 = FamRB 2005, 360.
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Kap. 6 A
sende Geschäftskontrolle möglich wäre und damit die Zumutbarkeitsgrenze überschritten werden würde1. Etwas anderes mag im Einzelfall gelten, wenn trotz Vorlage der Bilanzen 45 mit Gewinn- und Verlustrechnungen bzw. der Einnahmen-ÜberschussRechnungen und der Erläuterungen hierzu noch konkreter weiterer Aufklärungsbedarf besteht. Allerdings sind Kleinlichkeiten zu vermeiden. Die Vorlage von Kontounterlagen wird grundsätzlich nicht geschuldet. 46 Bei Börsenspekulationen sind weder die Wertpapierabrechnungen noch die jährlichen Depotauszüge vorzulegen2. 4. Beschränkung der Auskunftspflicht nach § 1605 Abs. 2 BGB Nach § 1605 Abs. 2 BGB kann vor Ablauf von zwei Jahren eine erneute 47 Auskunft nur verlangt werden, wenn glaubhaft gemacht wird, dass der zur Auskunft Verpflichtete später wesentlich höhere Einkünfte oder weiteres Vermögen erworben hat. Zwischen Trennungsunterhalt und nachehelichem Unterhalt besteht keine Identität3. Deshalb stellt die Auskunft zur Geltendmachung und Bezifferung des Getrenntlebensunterhalts auch keine Erfüllung der Auskunftserteilung zur Geltendmachung und Bezifferung des nachehelichen Unterhalts innerhalb der Zeitgrenze des § 1580 S. 2 BGB i.V.m. § 1605 Abs. 2 BGB dar4, so dass für die Berechnung des nachehelichen Unterhalts eine erneute Auskunft verlangt werden kann.
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Die Sperrfrist gilt nicht für einen Auskunftsberechtigten, der zunächst 49 für sich selbst eine Auskunft verlangt und erhalten hat und später in Prozessstandschaft für ein minderjähriges Kind erneut Auskunft fordert5. Streitig ist die Frage, ab wann die Sperrfrist des § 1605 Abs. 2 BGB läuft. 50 Bei einer rechtskräftigen Titulierung durch Beschluss beginnt die Frist mit dem Tag der letzten mündlichen Verhandlung6. Wurde im schriftlichen Verfahren entschieden, beginnt die Sperrfrist des § 1605 Abs. 2 BGB mit Ablauf der den Beteiligten gesetzten letzten Frist7. Bei einem Ver-
1 OLG Schleswig v. 13.3.1979 – 8 UF 96/78, FamRZ 1981, 53 (54). 2 OLG Stuttgart v. 20.9.2001 – 17 WF 232/01, FamRZ 2002, 635 = FamRB 2002, 36. 3 BGH v. 13.1.1988 – IVb ZR 7/87, FamRZ 1988, 370 m. Anm. Schmitz, S. 700 f. 4 OLG Hamm v. 18.8.1995 – 10 WF 244/95, FamRZ 1996, 868; OLG Hamm v. 19.5.2003 – 4 WF 51/03, FamRZ 2004, 377; OLG Jena v. 10.10.1996 – WF 119/96, FamRZ 1997, 1280; OLG Brandenburg v. 14.8.1997 – 9 WF 82/97, FamRZ 1998, 1192. 5 OLG Brandenburg v. 14.8.1997 – 9 WF 82/97, FamRZ 1998, 1192. 6 OLG Hamburg v. 24.9.1984 – 12 WF 123/84 U, FamRZ 1984, 1142. 7 AG Essen v. 10.12.1992 – 104 F 209/92, FamRZ 1993, 593.
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gleich – gleichgültig ob gerichtlich oder außergerichtlich – beginnt die Sperrfrist mit dem Vergleichsabschluss1. 51 Vor Ablauf der Zweijahresfrist kann eine erneute Auskunft verlangt werden, wenn der Berechtigte glaubhaft macht, dass sich beim Verpflichteten eine atypische Einkommensentwicklung ergeben hat. Die Sperrfrist gilt nicht bei vorläufigen Unterhaltsregelungen2 oder bei befristeten Vergleichen3 oder bei atypischen Entwicklungen, zB bei Wiederverheiratung4. 52 Liegt eine zeitlich befristete Unterhaltsregelung vor, greift die Sperrfrist des § 1605 Abs. 2 BGB nicht ein. Denn eine Bezifferung der weiter bestehenden Unterhaltsansprüche wäre ohne eine erneute Auskunft über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht möglich5. 5. Gerichtliche Geltendmachung des Auskunfts- und Beleganspruchs 53 Der Auskunftsantrag kann in Verbindung mit einem Antrag auf Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung und einem noch unbezifferten Zahlungsantrag als Stufenantrag geltend gemacht werden. Zulässig ist auch ein isolierter Auskunftsantrag.
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Praxistipp: Dieser ist aber in der Praxis regelmäßig nicht sinnvoll, da die Auskunft die Bezifferung bzw. Abänderung eines Unterhaltsanspruchs ermöglichen soll. Dieses Ziel wird mit dem Stufenantrag konsequent verfolgt. Mit dem Stufenantrag werden von Anfang an alle Stufen anhängig6. Über jede Stufe ist durch Teilentscheidung, am Ende durch Schlussentscheidung zu entscheiden. Nach jeder Teilentscheidung muss die Fortsetzung des Verfahrens beantragt werden. Nach § 38 Abs. 1 FamFG wird nicht mehr durch Urteil, sondern durch Beschluss entschieden.
54 Ergibt die Auskunft, dass ein Zahlungsanspruch nicht besteht, tritt keine Erledigung der Hauptsache ein. Denn eine Erledigung der Hauptsache setzt voraus, dass der Antrag zunächst zulässig und begründet war und nach Antragstellung unzulässig oder unbegründet wurde. Da der – noch nicht bezifferte – Leistungsantrag aber von vornherein unbegründet war, kann keine Erledigung eintreten. In diesen Fällen kann das Gericht gem. 1 OLG Düsseldorf v. 16.10.1992 – 3 WF 179/92, FamRZ 1993, 591; OLG Karlsruhe v. 7.6.1991 – 2 A WF 52/91, FamRZ 1991, 1470; OLG München v. 16.10.2009 – 2 WF 1575/09, FamRZ 2010, 816. 2 OLG Karlsruhe v. 8.1.1992 – 2 A WF 87/90, FamRZ 1992, 684. 3 OLG Hamm v. 25.8.2004 – 5 WF 329/04, FamRZ 2005, 1585 = FamRB 2005, 130. 4 OLG Brandenburg v. 30.10.2002 – 15 WF 273/02, FamRZ 2003, 1684 = FamRB 2003, 251. 5 OLG Hamm v. 24.11.1989 – 5 UF 278/89, FamRZ 1990, 657 (658). 6 BGH v. 8.2.1995 – XII ZR 24/94, FamRZ 1995, 797.
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§ 243 S. 2 Nr. 2 FamFG die Kosten nach billigem Ermessen dem Antragsgegner aufgeben, wenn er vor Beginn des Verfahrens einer Aufforderung zur Auskunftserteilung und Vorlage von Belegen über das Einkommen nicht oder nicht vollständig nachgekommen ist, es sei denn, dass eine Verpflichtung hierzu nicht bestand. Ein Stufenantrag kann auch im Scheidungsverbund gem. § 137 FamFG gestellt werden. In diesem Fall muss über das Auskunftsbegehren vor der Entscheidung über den Ehescheidungsantrag verhandelt und durch Teilentscheidung entschieden werden1.
55
Im Falle der gerichtlichen Geltendmachung müssen sowohl die verlang- 56 ten Auskünfte als auch die geforderten Belege konkret bezeichnet werden, § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Es ist deshalb erforderlich, dass der Zeitraum, für den die Auskunft begehrt wird, und die Einkommensarten genau angegeben werden. Verfahrenskostenhilfe ist für alle Stufen des Stufenantrags zu beantragen 57 und zu belegen. Teilweise wird die Auffassung vertreten, Verfahrenskostenhilfe sei auch für die zunächst unbezifferte Leistungsstufe zu gewähren, nach der Bezifferung müsse aber ein neuer Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für die Leistungsstufe gestellt werden2. Nach anderer Auffassung umfasst die uneingeschränkte Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe den entsprechend den Darlegungen des Antragstellers im Bewilligungszeitraum aufgrund der Auskunft nachträglich bezifferten Leistungsantrag3. Nach bis zum 31.8.2009 geltender Rechtslage konnte das Gericht zwar 58 nach § 273 Abs. 1 ZPO die Vorlage von Einkommensunterlagen anordnen, jedoch nicht erzwingen. Eine unmittelbare Anfrage des Gerichts beim Arbeitgeber war nach § 273 Abs. 2 ZPO nicht zulässig, jedoch konnte das Gericht nach § 273 Abs. 2 ZPO unmittelbar bei Behörden nachfragen. Einkommensunterlagen, die ein Beteiligter besaß, waren nach § 420 ZPO vorzulegen. Nach § 377 Abs. 3 ZPO besaß das Gericht nach früherer Rechtslage die Möglichkeit, eine Gehaltsbescheinigung unmittelbar beim Arbeitgeber einzuholen. Darüber hinaus konnte das Gericht im laufenden Verfahren den Beteiligten nach § 142 Abs. 1 ZPO aufgeben, Auskunft über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu erteilen und Belege vorzulegen. Kam ein Beteiligter dieser Aufforderung nicht nach, konnte sich das Gericht nach § 643 Abs. 2 ZPO direkt an den Arbeitgeber, an Sozialleistungsträger und Versicherungsunternehmen, bei Unterhalt für minderjährige Kinder auch an das Finanzamt wenden.
1 BGH v. 19.3.1997 – XII ZR 277/95, FamRZ 1997, 811; OLG Hamm v. 1.9.1993 – 5 UF 146/92, FamRZ 1994, 773. 2 OLG München v. 20.10.1992 – 26 WF 964/92, FamRZ 1993, 340. 3 OLG Celle v. 9.2.1994 – 10 WF 18/94, FamRZ 1994, 1043.
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Auskunftsansprüche
59 Nach der nun geltenden Regelung in § 235 Abs. 1 FamFG kann das Gericht anordnen, dass der Antragsteller und der Antragsgegner Auskunft über ihre Einkünfte, ihr Vermögen und ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse erteilen sowie bestimmte Unterlagen vorlegen, soweit dies für die Bemessung des Unterhalts von Bedeutung ist. Das Gericht kann ferner anordnen, dass der Antragsteller und der Antragsgegner schriftlich versichern, dass die Auskunft wahrheitsgemäß und vollständig ist. Diese Versicherung kann nicht durch einen Vertreter erfolgen. In dieser Weise hat das Gericht nach § 235 Abs. 2 FamFG vorzugehen, wenn ein Beteiligter dies beantragt und der andere Beteiligte vor Beginn des Verfahrens seiner Auskunftspflicht entgegen einer Aufforderung innerhalb angemessener Frist nicht nachgekommen ist. Kommt ein Beteiligter innerhalb der ihm vom Gericht nach § 235 Abs. 1 FamFG hierfür gesetzten Frist nicht oder nicht vollständig nach, kann das Gericht, soweit dies für die Bemessung des Unterhalts von Bedeutung ist, nach § 236 Abs. 1 FamFG über die Höhe der Einkünfte Auskunft und bestimmte Belege bei Arbeitgebern, Sozialleistungsträgern sowie der Künstlersozialkasse, Sozialleistungsträgern, Versicherungsunternehmen oder Finanzämtern anfordern. Banken sind nicht genannt und können daher nicht um Auskunft ersucht werden. Der in § 236 Abs. 1 FamFG aufgeführte Personenkreis ist ungeachtet persönlicher Beziehungen zu einem der Beteiligten zur Auskunft verpflichtet und kann sich nicht auf ein Geheimhaltungsinteresse berufen. Werden die Auskünfte nicht vollständig erteilt bzw. die Belege nicht vollständig vorgelegt, kann dies zu Kostennachteilen führen, § 253 Abs. 1 S. 4 FamFG i.V.m. § 243 S. 2 Nr. 3 FamFG. 60 Neu ist im Verhältnis zur früheren Regelung des § 643 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO, dass die Beschränkung der Auskunftspflicht der Finanzämter auf Verfahren, die den Unterhalt minderjähriger Kinder betreffen, nicht mehr aufrechterhalten bleibt, sondern diese Verpflichtung generell für alle Unterhaltsansprüche gilt.
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Wichtig: Aus diesen dem Gericht an die Hand gegebenen Möglichkeiten darf nicht gefolgert werden, das Prinzip der Dispositionsmaxime in Familiensachen sei zugunsten des Amtsermittlungsgrundsatzes aufgehoben worden. Es verbleibt vielmehr auch in Unterhaltssachen bei dem allgemeinen Grundsatz, wonach das Familiengericht nicht von Amts wegen den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln hat, sondern es den Beteiligten obliegt, die für sie günstigen Tatsachen selbst vorzutragen. Die §§ 235, 236 FamFG beziehen sich ihrem Zweck nach lediglich auf die Beschleunigung des Unterhaltsverfahrens in Bezug auf die Ermittlung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse.
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Auskunftsansprüche
Rn. 64
Kap. 6 A
6. Gegenstandswert Der Gegenstandswert des Auskunfts- und Beleganspruchs ist nicht identisch mit dem Leistungsinteresse. IdR wird nach § 3 ZPO der Gegenstandswert mit 1/3 bis 1/5 des Werts des voraussichtlichen Unterhaltsanspruchs angenommen werden können.
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Hiervon zu unterscheiden ist der Wert der Beschwer im Auskunftsverfahren. Der Wert der Beschwer des Auskunftsberechtigten richtet sich üblicherweise nach dessen Leistungsinteresse und kann mit 1/3 bis 1/5 des Werts des voraussichtlichen Unterhaltsanspruchs angenommen werden.
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Die Beschwer des Auskunftspflichtigen richtet sich dagegen nach seinem 63 Interesse, die Auskunft nicht erteilen zu müssen. Maßgebend ist deshalb der Wert eines notwendigen Arbeitsaufwandes zur Erstellung der Auskunft. Dies gilt auch dann, wenn diese Kosten – etwa das Honorar für einen Steuerberater – bei einer späteren Steuererklärung ohnehin entstanden wären1. Ein Geheimhaltungsinteresse kann nur dann zusätzlich bewertet werden, wenn es sich nicht aus unterhaltsrechtlichen Gründen, sondern aus Gründen herleiten lässt, die nichts mit der streitbefangenen Rechtsbeziehung der Beteiligten zu tun haben2. Der Umstand, dass der Auskunftspflichtige sich bei Offenlegung einer ihm gewährten Abfindung seinem Arbeitgeber gegenüber haft- oder schadensersatzpflichtig machen könnte, ist bei der Bemessung der Beschwer nicht zu berücksichtigen. Denn Drittbeziehungen führen nicht zu einem unmittelbar aus der Verpflichtung zur Auskunft fließenden rechtlichen Nachteil und haben deshalb als reine Fernwirkung nicht nur für den Streitgegenstand und die daran zu orientierende Bemessung des Gegenstandswerts, sondern gleichermaßen für die Beschwer außer Betracht zu bleiben. Aus einem Haftungsrisiko gegenüber einem am Auskunftsverfahren nicht beteiligten Dritten kann ein schützenswerts wirtschaftliches Interesse an einer Geheimhaltung gegenüber dem die Auskunft Begehrenden nicht hergeleitet werden3. Kommt es bei einem Stufenantrag nicht zur Bezifferung des Zahlungs- 64 anspruchs („stecken gebliebener Stufenantrag“), so bestimmt sich der Wert des Stufenantrags nach dem gem. § 3 ZPO geschätzten Wert des noch nicht bezifferten Zahlungsantrags bei Einreichung des Antrags und richtet sich nicht nach dem Wert des Auskunftsanspruchs. Im Rahmen der danach gebotenen Schätzung ist die Zahlungserwartung des Klägers insoweit zu berücksichtigen, als er aufgrund seiner Antragsbegründung objektiv gesehen Leistungen zu erwarten hat4. 1 BGH v. 23.9.1992 – XII ZR 231/91, FamRZ 1993, 306; BGH v. 20.6.2007 – XII ZB 142/05, FamRZ 2007, 1461 = FamRB 2007, 300. 2 BGH v. 30.1.1991 – XII ZB 156/90, FamRZ 1991, 791. 3 BGH v. 11.5.2005 – XII ZB 63/05, FamRZ 2005, 1064 = FamRB 2005, 360; BGH v. 10.8.2005 – XII ZB 63/05, FamRZ 2005, 1986 = FamRB 2005, 360. 4 KG v. 27.6.2006 – 1 W 89/06, FamRZ 2007, 69; OLG Brandenburg v. 9.1.2006 – 10 WF 313/05, FamRZ 2007, 71.
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Auskunftsansprüche
7. Vollstreckung 65 Voraussetzung der Vollstreckung ist das Vorliegen einer Entscheidung mit vollstreckungsfähigem Inhalt. Dies ist nur der Fall, wenn die geschuldeten Auskünfte und Belege konkret bezeichnet und daher genau bestimmt sind. Insbesondere müssen der Zeitraum, für den die Auskunft erteilt wird, und der Zeitpunkt, für den das Vermögen dargestellt werden soll, konkret in der Entscheidung angegeben werden. Ebenfalls müssen die Belege konkret bezeichnet werden. Allerdings kann der Beschlusstenor anhand der Ausführungen im Tatbestand und den Entscheidungsgründen ausgelegt werden. 66 Die Vollstreckung des Auskunftsanspruchs erfolgt nach §§ 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 888 ZPO. Denn Auskünfte sind Wissenserklärungen, es wird deshalb eine unvertretbare Handlung geschuldet. Im Vollstreckungsverfahren ist zu prüfen, ob die titulierten Auskünfte erteilt und die Belege vorgelegt werden können. Nicht existierende Belege können nicht vorgelegt werden, insoweit wäre die titulierte Leistung unmöglich und die Vollstreckung aus der Entscheidung unzulässig1. 67 Im Vollstreckungsverfahren wird nicht geprüft, ob der Vollstreckungstitel der materiellen Rechtslage entspricht2. 68 Der im Vollstreckungsverfahren erhobene Einwand, die titulierte Auskunft sei erteilt, die Belege seien vorgelegt worden, wird gem. § 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 891 ZPO und nicht im Wege der Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO geltend gemacht3. 69 Die Vollstreckung erfordert keine vorausgehende Vollstreckungsandrohung. Es können vielmehr sofort durch Beschluss Zwangsmittel festgesetzt werden.
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Praxistipp: Es sollte – was in der Praxis immer wieder übersehen wird – darauf geachtet werden, dass der Beschluss eine Kostenregelung enthält, wonach der Auskunftsschuldner die Kosten der Zwangsvollstreckung zu tragen hat.
70 Das beigetriebene Zwangsgeld steht nicht dem Auskunftsgläubiger, sondern der Staatskasse zu4. 71 Die Vollstreckung ist beendet, sobald die Auskunft erteilt ist und die Belege vorgelegt wurden.
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BGH v. 18.12.1991 – XII ZR 79/91, FamRZ 1992, 535. OLG München v. 27.5.1992 – 12 WF 707/92, FamRZ 1992, 1207. OLG Bamberg v. 6.7.1992 – 7 WF 101/92, FamRZ 1993, 581. BGH v. 2.3.1983 – IVb ARZ 49/82, FamRZ 1983, 578.
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Hat der Auskunftsschuldner zwar ein gegen ihn verhängtes Zwangsgeld 72 voll bezahlt, die Auskunft aber dennoch nicht erteilt, kann ein erneutes Zwangsgeld festgesetzt werden1. Die Vollstreckung des Beleganspruchs erfolgt nach § 120 Abs. 1 FamFG 73 i.V.m. § 883 ZPO grundsätzlich durch den Gerichtsvollzieher, da es sich bei der Verpflichtung, Belege vorzulegen, um eine vertretbare Handlung handelt.
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Praxistipp: Der Auskunftsanspruch wird nach § 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 888 ZPO, der auf Überlassung gerichtete Beleganspruch nach § 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 883 ZPO vollstreckt. Werden beide Ansprüche gemeinsam vollstreckt, sollten im Vollstreckungsantrag beide Anträge klar getrennt werden.
8. Eidesstattliche Versicherung Die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung kann nach § 260 Abs. 2 BGB verlangt werden, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass die Auskunft nicht mit der erforderlichen Sorgfalt erteilt wurde.
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Voraussetzung ist stets, dass eine Auskunft in Form eines Bestandsver- 75 zeichnisses erteilt wurde2. Wurden nur – wie in der Praxis häufig – Belege vorgelegt, nicht aber auch eine schriftliche Aufstellung über die Einkünfte, kann eine eidesstattliche Versicherung nicht verlangt werden. Es genügt nicht, dass der Auskunftspflichtige die Auskunft zunächst ver- 76 weigert oder Belege verspätet vorgelegt hat. Die Feststellung, dass die Auskunft in einzelnen Punkten unvollständig oder unrichtig ist, begründet nicht ohne weiteres die Annahme mangelnder Sorgfalt. Der in solchen Fällen zunächst gegebene Verdachtsgrund ist entkräftet, wenn den Umständen nach anzunehmen ist, dass die mangelhafte Auskunft auf unverschuldeter Unkenntnis oder auf einem entschuldbaren Irrtum des Auskunftspflichtigen beruht. In einem solchen Fall kommt nur ein Anspruch auf ergänzende Auskunft in Betracht. Die auf einen inhaltlichen Mangel des Vermögensverzeichnisses begründete Verpflichtung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung setzt deshalb neben der Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der Auskunft die Feststellung voraus, dass sich die Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit bei gehöriger Sorgfalt hätte vermeiden lassen3. Auch im Verfahren auf Abgabe der eidesstattlichen Versicherung ist Kleinlichkeit zu vermeiden4.
1 2 3 4
OLG Brandenburg v. 13.6.1997 – 10 W 37/96, FamRZ 1998, 180. BGH v. 1.12.1983 – IX ZR 41/83, FamRZ 1984, 144. BGH v. 1.12.1983 – IX ZR 41/83, FamRZ 1984, 144. BGH v. 1.12.1983 – IX ZR 41/83, FamRZ 1984, 144.
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Kap. 6 A Rn. 77
Auskunftsansprüche
77 Der Unterhaltspflichtige kann einer Verpflichtung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung entgehen, wenn er die eidesstattliche Versicherung freiwillig vor dem Gericht der freiwilligen Gerichtsbarkeit nach § 410 Nr. 1 FamFG abgibt. 78 Die Vollstreckung einer Verpflichtung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung erfolgt nach § 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 899 ZPO. Zwangsmittel dürfen erst festgesetzt werden, wenn der Auskunftsschuldner zum Termin zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung nicht erschienen ist oder die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung verweigert hat1. Muster eines Auskunfts- und Belegantrags I)
Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin 1) Auskunft zu erteilen durch Vorlage einer systematisch geordneten und vollständigen Aufstellung über a) seine sämtlichen Bruttoeinkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in der Zeit vom 1.4.2011 bis zum 31.3.2012 und die in diesem Zeitraum vorgenommenen gesetzlichen Abzüge, b) seine sämtlichen Bruttoeinnahmen aus selbständiger Arbeit in den Jahren 2009, 2010 und 2011 und die in diesen Jahren nach Steuerrecht vorgenommenen Abzüge, c) seine Einkünfte aus Kapitalvermögen in den Jahren 2009, 2010 und 2011 sowie d) seine sämtlichen sonstigen Einkünfte in den Jahren 2009, 2010 und 2011, 2) die erteilten Auskünfte zu belegen durch a) Vorlage der von seinem Arbeitgeber ausgestellten und sämtliche Bruttoeinkünfte und gesetzlichen Abzüge nach Art und Höhe enthaltenen Gehaltsabrechnungen für die Zeit vom 1.4.2011 bis 31.3.2012, b) Vorlage der Jahresabschlüsse einschließlich Gewinn- und Verlustrechnungen, der Einnahmen-Überschuss-Rechnungen und der Umsatzsteuererklärungen sowie der Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2009, 2010 und 2011, c) Vorlage der Einkommensteuererklärung für 2011 nebst den gesetzlich vorgeschriebenen Anlagen, d) Vorlage des Einkommensteuerbescheides für 2011 und e) Vorlage von Bankbescheinigungen zur Anlage des Vermögens und dessen Ertrags in den Jahren 2009, 2010 und 2011.
II)
Der Antragsgegner wird gegebenenfalls verpflichtet, die Richtigkeit und Vollständigkeit der Auskünfte an Eides statt zu versichern.
1 OLG Düsseldorf v. 11.6.1997 – 3 WF 85/97, FamRZ 1997, 1495.
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Einkommensermittlung
Rn. 81
Kap. 6 A
III) Der Antragsgegner wird verpflichtet, an die Antragstellerin den sich aus den Auskünften ergebenden Unterhalt ab 1.4.2012 monatlich im Voraus zu bezahlen.
II. Einkommensermittlung 1. Allgemeines Die Einkommensermittlung erfolgt für Berechtigte und Verpflichtete nach den gleichen allgemeinen Grundsätzen. Bei der Ermittlung und Zurechnung von Einkommen ist zu unterscheiden, ob es um Verwandtenoder Ehegattenunterhalt sowie um die Bedarfsbemessung einerseits oder die Feststellung der Bedürftigkeit/Leistungsfähigkeit andererseits geht.
79
Nur in Ausnahmefällen kann bei nahezu uneingeschränkter Leistungsfähigkeit des Pflichtigen auf eine genaue Einkommensermittlung verzichtet werden:
80
– Beim Kindesunterhalt, wenn der Unterhaltspflichtige seine uneingeschränkte Leistungsfähigkeit einräumt und nur der Bedarf des unterhaltsberechtigten Kindes festzustellen ist. Der Bedarf kann sich dann pauschal aus der höchsten Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle oder nach den Umständen des Einzelfalls ergeben. – Ist beim Ehegattenunterhalt das Einkommen des Unterhaltspflichtigen so hoch, dass der nach einer Quote berechnete Unterhalt dazu führen würde, dass der Unterhaltsberechtigte den Unterhalt ansparen und damit Vermögen bilden könnte, wird anstelle eines Quotenunterhalts der konkrete an den ehelichen Lebensverhältnissen gemessene Bedarf des Unterhaltsberechtigten festzustellen sein. Auch in diesen Fällen kann eine exakte Einkommensermittlung auf Seiten des Unterhaltspflichtigen entbehrlich sein. 2. Begriff des Einkommens Das unterhaltsrechtliche Einkommen ist nicht immer identisch mit dem 81 steuerrechtlichen Einkommen. Zur Feststellung des der Bestimmung des Unterhalts unterliegenden Einkommens sind sowohl auf Seiten des Berechtigten als auch des Verpflichteten unterschiedslos alle zufließenden Einkünfte anzurechnen, gleichgültig, welcher Art sie sind und aus welchem Anlass sie gezahlt werden1. Dabei zählen zu den Einkünften i.S.d. § 1577 Abs. 1 BGB nicht nur Erwerbseinkünfte, sondern auch Vermögenserträge und sonstige wirtschaftliche Nutzungen, die die Ehegatten aus ihrem Vermögen ziehen. Entsprechendes gilt beim Verwandtenunter-
1 BGH v. 7.5.1986 – IVb ZR 55/85, FamRZ 1986, 780; BGH v. 24.11.1993 – XII ZR 136/92, FamRZ 1994, 228 (230).
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Kap. 6 A Rn. 82
Einkommensermittlung
halt. Zu erfassen sind alle Einkünfte aus allen Einkommensarten, gleichgültig, ob es sich um Geldeinkünfte oder um geldwerte Vorteile handelt. 82 Die Oberlandesgerichte Brandenburg, Braunschweig, Bremen, Celle, Dresden, Frankfurt, Hamburg, Hamm, das Kammergericht, die Oberlandesgerichte Koblenz, Köln, Naumburg, Oldenburg, Rostock, Saarbrücken, Schleswig und Jena haben Unterhaltsleitlinien bzw. Unterhaltsgrundsätze bzw. unterhaltsrechtliche Hinweise veröffentlich, die bei der Ermittlung des Einkommens im jeweiligen Gerichtsbezirk herangezogen werden können1. Gleiches gilt für das Oberlandesgericht Düsseldorf, welches zur Ergänzung der Düsseldorfer Tabelle2 Leitlinien zum Unterhalt veröffentlicht hat3. Die Familiensenate der süddeutschen Oberlandesgerichte Bamberg, Karlsruhe, München, Nürnberg, Stuttgart und Zweibrücken verwenden seit 1.1.2002 die unterhaltsrechtlichen Leitlinien der Familiensenate in Süddeutschland4 als Orientierungshilfe für den Regelfall und unter Beachtung der Rechtsprechung des BGH, wobei die Angemessenheit der Ergebnisse in jedem Fall zu überprüfen ist. Dem süddeutschen Gedanken nach einer Vereinheitlichung und damit einer Kalkulierbarkeit der Rechtsprechung folgend werden bundeseinheitliche Leitlinien angestrebt5. Die Leit- und Richtlinien sind derzeit auf dem Stand 1.1.2011 bis auf die Unterhaltsleitlinien des Oberlandesgericht Saarbrücken und des Oberlandesgerichts Düsseldorf. Diese sind auf dem Stand 1.1.20106. 83 Zum Einkommen gehören auch solche Beträge, die zwar nicht eingezogen werden, aber zumutbar eingezogen werden könnten7. Dies folgt aus der unterhaltsrechtlichen Obliegenheit, Einkommen aus Vermögen in möglichst zumutbarem Umfang für den eigenen Unterhalt und den Unterhalt der Berechtigten einzusetzen. 84 Für die Unterhaltsberechnung ist nur der Teil des Einkommens maßgeblich, der zur Deckung des laufenden Lebensbedarfs zur Verfügung steht und dafür eingesetzt wurde oder bei Anlegung eines objektiven Maßstabs eingesetzt werden könnte8. Dies ist das bereinigte Einkommen. Es wird ermittelt, indem von den Bruttoeinkünften unterhaltsrechtlich zulässige Posten abgezogen werden. Abzugsposten sind Geldmittel, die für andere Zwecke als den laufenden Lebensbedarf verwendet werden.
1 Alle Leitlinien verfügbar unter www.famrb.de; Leitlinien 2010 und 2011 auch verfügbar unter www.famrz.de. 2 Verfügbar unter www.famrb.de oder www.famrz.de. 3 Verfügbar unter www.famrb.de oder www.famrz.de. 4 Verfügbar unter www.famrb.de oder www.famrz.de. 5 FamRZ 2003, 909; FamRZ 2005, 1306. 6 Umfassender Abdruck in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband 47–47. S. auch unter www.famrb.de und unter www.famrz.de. 7 BGH v. 15.11.1989 – IVb ZR 3/89, FamRZ 1990, 283 (288). 8 BGH v. 7.5.1986 – IVb ZR 55/85, FamRZ 1986, 780.
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Einkommensermittlung
Rn. 88
Kap. 6 A
Vom Bruttoeinkommen sind abzuziehen:
85
– Lohn- oder Einkommensteuer, Kirchensteuer und der Solidaritätszuschlag; – Vorsorgeaufwendungen für Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit; dies sind die notwendige Kranken- und Pflegeversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung. Kapitalversicherungen sind im Einzelfall zu berücksichtigen. Ggf. auch Kapitallebensversicherungen, insbesondere bei Selbständigen. Weiter können abgezogen werden:
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– Berufsbedingte Aufwendungen, Werbungskosten oder Betriebsausgaben; – Aufwendungen für einen berechtigten Mehrbedarf wegen Alters, Behinderung oder Krankheit; – Berücksichtigungsfähige Schulden: Zinsen und ggf. Tilgung sind abzuziehen, die Abzahlung soll im Rahmen eines vernünftigen Tilgungsplanes in angemessenen Raten erfolgen. Beim Verwandtenunterhalt sowie bei der Ermittlung der Leistungsfähigkeit/Bedürftigkeit für den Ehegattenunterhalt erfolgt hier eine Abwägung nach den Umständen des Einzelfalls. Bei der Zumutbarkeitsabwägung, die hier angestellt werden muss, sind die Interessen des Unterhaltsschuldners, des Drittgläubigers und des Unterhaltsgläubigers, vor allem minderjähriger Kinder, mit zu berücksichtigen; – Unterhaltsleistungen für Kinder und sonstige vorrangige Unterhaltspflichten; – berücksichtigungswürdige Aufwendungen des Verpflichteten für die zusätzliche private Altersvorsorge. Einstweilen frei
87
3. Einkommen bei Nichtselbständigen a) Maßgeblicher Zeitpunkt Da der Unterhalt nach §§ 1361 Abs. 4 S. 2, 1585 Abs. 1 S. 2, 1612 Abs. 1, 88 3 BGB im Voraus und monatlich zu bezahlen ist, muss bei der Einkommensermittlung festgestellt werden, welches Einkommen dem Unterhaltspflichtigen und dem Unterhaltsberechtigten in Zukunft zur Verfügung stehen wird. Erforderlich ist eine Prognose. Diese wird auf den Daten der jüngsten Vergangenheit zu erstellen sein. Man wird, wenn keine besonderen Einzelfallumstände vorliegen, davon ausgehen können, dass das zuletzt in der Vergangenheit bezogene Einkommen auch in der Zukunft zur Verfügung stehen wird. Wegen der Unregelmäßigkeit der Einkünfte muss auf das monatsdurchschnittliche Jahreseinkommen abgestellt werden. Für die Berechnung können entweder die Einkünfte der
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Kap. 6 A Rn. 89
Einkommensermittlung
letzten zwölf Kalendermonate oder die Einkünfte des letzten Kalenderjahres herangezogen werden.
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Praxistipp: Das Jahreseinkommen lässt sich bei ganzjähriger Vollerwerbstätigkeit entweder dem Ausdruck der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung oder der Gehaltsabrechnung für den Monat Dezember, soweit dort die aufgelaufenen Jahresbeträge aufgelistet wurden, entnehmen. Ein anderer Weg ist es, alle Monatsabrechnungen zu sammeln und sodann die Bruttobeträge der einzelnen Monate zu addieren. Einmalige Sonderzahlungen werden auf diese Weise erfasst. Stets sollte geprüft werden, ob es zu Gehaltserhöhungen oder – zB wegen Erkrankung, Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit – zu vorübergehenden Einkommensreduzierungen gekommen ist.
89 Ändert sich im Laufe eines Jahres das Einkommen wesentlich und nachhaltig, wird eine Korrektur zu erfolgen haben. Es muss dann auf die neue Situation konkret reagiert werden. Beispiel: Der unterhaltspflichtige Ehemann verfügte zunächst über Einkünfte als Studienrat und wurde nach der beamtenrechtlichen Besoldungsgruppe A 13 vergütet. Wird er während der letzten zwölf Kalendermonate zum Oberstudienrat befördert, der nach Besoldungsgruppe A 14 vergütet wird, wäre es falsch, auf sein Durchschnittseinkommen der letzten zwölf Kalendermonate abzustellen. In einem solchen Fall wird man die Einkünfte für die Zeit bis zur Beförderung und die Einkünfte nach der Beförderung gesondert zu ermitteln und den jeweiligen Unterhaltszeiträumen zugrunde zu legen haben. Hinsichtlich des laufenden Unterhalts kann das Einkommen in einem derartigen Fall in der Weise ermittelt werden, dass das letzte Monatseinkommen mit 12 multipliziert und eventuelles Weihnachts- und Urlaubsgeld zugeschlagen wird.
b) Einkommen 90 aa) Löhne, Gehälter sowie das Urlaubs-, Weihnachtsgeld und andere Zulagen wie Tantiemen und Gewinnbeteiligungen bilden das Bruttoeinkommen. Soweit Zahlungen nicht monatlich anfallen, werden sie auf ein Jahr umgelegt und mit den Nettobeträgen angerechnet. 91 bb) Urlaubs- und Weihnachtsgeld und sonstige Zuwendungen, auch Tantiemen und Gewinnbeteiligungen, sind als Einkommen anzusehen. Sie werden auf das Jahr umgelegt und mit den Nettobeträgen angerechnet. Jubiläumszuwendungen werden auf das durchschnittliche Nettoeinkommen des Jahres, in dem sie zugewendet werden, umgelegt und als unterhaltsrechtlich relevantes Einkommen behandelt. Handelt es sich um einmalige höhere Zahlungen, sind diese auf einen angemessenen Zeitraum, idR auf mehrere Jahre zu verteilen.
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Einkommensermittlung
Rn. 92a
Kap. 6 A
cc) Eine vom Arbeitgeber gezahlte Abfindung besitzt Lohnersatzfunktion 92 und dient der Auffüllung der Einkommensnachteile, die mit dem vorzeitigen Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit verbunden sind1. Abfindungen sind deshalb als Einkommen zu bewerten und, wie sonstige einmalige Zuwendungen, je nach Höhe auf einen angemessenen Zeitraum zu verteilen2. Der Unterhaltspflichtige muss die Abfindung zur Aufstockung der nach oder während der Arbeitslosigkeit erzielten Einkünfte bis zur Höhe seines früheren Einkommens verwenden3. Bei beengten wirtschaftlichen Verhältnissen ist er aber nicht gehalten, die aus der Abfindung zur Verfügung stehenden Mittel bis zum vollständigen Verbrauch einzusetzen4. Soweit die Abfindung bei der Berechnung des Unterhalts berücksichtigt wird, findet wegen des Verbots der Doppelverwertung kein güterrechtlicher Ausgleich mehr statt5. Bei der unterhaltsrechtlichen Behandlung einer Abfindung sind die Be- 92a sonderheiten zu beachten, die sich daraus ergeben, dass es sich um Einkommen im Zusammenhang mit der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses handelt. Erlangt der Unterhaltspflichtige im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis sogleich eine neue Arbeitsstelle, die ihm ein der früheren Tätigkeit vergleichbares Einkommen erbringt, bedarf es der Heranziehung der Abfindung nicht. Kann der Unterhaltspflichtige hingegen sein früheres Einkommen nicht mehr erzielen, ist die Abfindung grundsätzlich zur Aufstockung des verringerten Einkommens einzusetzen. Dies gilt insbesondere, wenn der Unterhaltspflichtige nur noch Lohnersatzleistungcn bezieht, die erheblich hinter dem bisherigen Einkommen zurückbleiben. Für den Fall, dass der Unterhaltspflichtige zwar ein neues Arbeitsverhältnis erlangt, das daraus bezogene Einkommen aber hinter dem früheren zurückbleibt, hatte der BGH zunächst die Auffassung vertreten, eine Abfindung und die Erträge hieraus seien nicht auf den Unterhalt zu verwenden6. Da die Quelle der Abfindung in dem beendeten Arbeitsverhältnis liegt und dadurch der Bezug zu den ehelichen Lebensverhältnissen hergestellt ist, hat der BGH diese Rechtsprechung jedoch aufgegeben. Nach nunmehriger Auffassung mangelt es für eine Aufstockung auf das bisherige Einkommensniveau nicht an einem Bezug
1 OLG Hamm v. 1.9.1998 – 2 UF 60/98, FamRZ 1999, 929. 2 BGH v. 25.2.1987 – IVb ZR 28/86, FamRZ 1987, 930; BGH v. 14.1.1987 – IVb ZR 89/85, FamRZ 1987, 359; OLG Karlsruhe v. 12.10.2000 – 2 UF 214/99, FamRZ 2001, 1615. 3 OLG Dresden v. 15.9.1999 – 20 UF 259/99, FamRZ 2000, 1433. 4 BGH v. 19.12.1989 – IVb ZR 9/89, FamRZ 1990, 269 (271). 5 BGH v. 11.12.2002 – XII ZR 27/00, FamRZ 2003, 432 = FamRB 2003, 173; BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 185/01, FamRZ 2004, 1352 = FamRB 2004, 314; Gerhardt/ Schulz, FamRZ 2005, 145; Maurer, FamRZ 2005, 757; Schulz, FamRZ 2006, 1237; Hoppenz, FamRZ 2006, 1242; OLG Frankfurt v. 24.6.1999 – 6 UF 134/98, FamRZ 2000, 611 (612). 6 BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, FamRZ 2003, 590 m. Anm. Graba, FamRZ 2003, 746.
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Kap. 6 A Rn. 93
Einkommensermittlung
zu den früher gelebten ehelichen Lebensverhältnissen. Aus diesem Grund ist die Abfindung bereits bei der Bedarfsermittlung zu berücksichtigen1. 93 dd) Überstundenvergütungen werden idR in voller Höhe dem Einkommen zugerechnet2. Für Überstunden gilt, dass sie in bestimmtem Umfang nach der Lebensanschauung noch als zur normalen Arbeitsmühe gehörend angesehen werden müssen, und zwar was ihre Anrechenbarkeit, nicht jedoch was eine Obliegenheit zu ihrer Ableistung betrifft. Als „normal“ in diesem Sinne gelten Überstunden dann, wenn sie in geringem Umfang anfallen oder die abgeleisteten Überstunden das im Beruf des Unterhaltsschuldners übliche Maß nicht überschreiten3 und regelmäßig anfallen, also einen typischen regulären und untrennbaren Bestandteil des ausgeübten Berufs darstellen4. Die Überstundenvergütung wird unterhaltsrechtlich erst nach tatsächlichem Zahlungsfluss berücksichtigt. Vergütungen für Überstunden, die deutlich über das berufstypisch übliche Maß hinausgehen, sind nach Billigkeitsgesichtspunkten und unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls sowie des in § 1577 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens anzurechnen. 94 Sofern keine gesteigerte Unterhaltsverpflichtung besteht, ist es unterhaltsrechtlich hinzunehmen, wenn statt der Zahlung einer Überstundenvergütung eine Freizeitabgeltung gewählt wird, da lediglich die Obliegenheit zu einer Vollzeittätigkeit besteht. 95 ee) Die gleichen Erwägungen gelten für Einkünfte aus einer Nebentätigkeit, die neben einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Sie sind daher zumindest teilweise anzurechnen, wenn sie die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt haben. Es handelt sich um eine überobligationsmäßige zusätzliche Arbeitsbelastung, die mit der Situation eines Überstunden leistenden Arbeitnehmers vergleichbar ist. Der Umfang der Anrechnung richtet sich nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls5. Folgt die Nebentätigkeit notwendig aus dem Hauptberuf – zB Gutachtertätigkeit eines Krankenhausarztes oder Prüfungstätigkeit eines Hochschullehrers –, gehört sie zum typischen Berufsbild, so dass eine volle Anrechnung der Einkünfte aus der Nebentätigkeit zu erfolgen haben wird. Ist die Nebentätigkeit dagegen nur ein Nebenprodukt aus einer Haupttätigkeit – zB eine Kommentatorentätigkeit eines Ministerialbeamten –, werden die Einkünfte daraus nur teilweise anzurechnen sein6. Nebentätigkeit ist für den Betroffenen oft mit einem deutlich höheren Einsatz als das Ableisten von Überstunden verbunden.
1 2 3 4 5 6
BGH v. 18.4.2012 – XII ZR 65/10, bei Drucklegung noch nicht veröffentlicht. BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144. BGH v. 25.6.1980 – IVb ZR 530/80, FamRZ 1980, 984. BGH v. 1.6.1983 – IVb ZR 389/81, FamRZ 1983, 886. BGH v. 25.6.1980 – IVb ZR 530/80, FamRZ 1980, 984. OLG München v. 18.2.1982 – 26 UF 1217/81, FamRZ 1982, 801 (802).
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Einkommensermittlung
Rn. 101
Kap. 6 A
Hat die Nebentätigkeit mit der Haupttätigkeit nichts zu tun, liegt es deshalb nahe, die Einkünfte aus der Nebentätigkeit unterhaltsrechtlich auf Seiten des Unterhaltspflichtigen unberücksichtigt zu lassen, wenn der Unterhaltspflichtige bereits im Hauptberuf vollschichtig erwerbstätig ist und mehr als der Mindestbedarf des Berechtigten gedeckt ist1. ff) Über die Anrechenbarkeit von Auslösungen und Spesen ist nach Maß- 96 gabe des Einzelfalls zu entscheiden. Spesen sind idR voll dem unterhaltspflichtigen Einkommen zuzurech- 97 nen, wenn sie in Wahrheit verschleiertes Arbeitseinkommen sind und soweit sie nicht durch konkreten Mehraufwand aufgezehrt werden. Für die Berechnung echter Spesen, also Zuwendungen, die der Deckung tatsächlich arbeitsbedingten Mehraufwands dienen, kommt es darauf an, in welcher Höhe Aufwendungen dem Unterhaltsschuldner tatsächlich entstanden sind und entstehen und welche häusliche Ersparnisse infolge der Spesenverwendung eintreten2. Eine Auslösung ist ein Mehraufwendungsersatz aus Anlass auswärtigen 98 Arbeitseinsatzes. Es ist hier mit Sorgfalt zu prüfen, ob sich dahinter nicht Teileinkommen verbirgt, dem realer Mehraufwand nicht gegenübersteht. In jedem Fall handelt es sich insgesamt um Einkommensbestandteile, bei denen in jedem Einzelfall konkret zu prüfen ist, ob und in welcher Höhe ihnen realer Mehraufwand gegenübersteht. Nach den Unterhaltsleitlinien gelten Ersatz für Spesen und Reisekosten 99 sowie Auslösungen idR als Einkommen. Damit zusammenhängende Aufwendungen sind, vermindert um häusliche Ersparnis, abzuziehen. Bei Aufwendungspauschalen – außer Kilometergeld – kann ein Drittel als Einkommen angesetzt werden. gg) Vermögenswirksame Leistungen vermindern das Einkommen nicht. Sie sind Bestandteile des Lohns und damit grundsätzlich unterhaltspflichtiges Einkommen. Jedoch sind dem Unterhaltspflichtigen etwaige Zusatzleistungen des Arbeitgebers für die vermögenswirksame Anlage (mit dem Nettobetrag) sowie die staatliche Sparzulage, die der Unterhaltspflichtige erhält, weil er einen bestimmten Betrag spart, als Ausgleich für die nicht gegebene Verfügbarkeit zu belassen. Sie erhöhen sein Einkommen nicht3.
100
hh) Eine für den Arbeitnehmer in Form einer betrieblichen Altersvorsorge abgeschlossene Direktversicherung soll einen Einkommensbestandteil darstellen4. Allerdings stand dieser Betrag während des Zusammenlebens
101
1 2 3 4
OLG Hamm v. 9.1.1998 – 5 UF 152/97, FamRZ 1999, 43. OLG Frankfurt v. 21.12.1993 – 3 UF 117/93, FamRZ 1994, 1031 (1032). BGH v. 25.6.1980 – IVb ZR 530/80, FamRZ 1980, 984. OLG München v. 10.1.1997 – 12 WF 1262/96, FamRZ 1997, 613 (614).
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Kap. 6 A Rn. 102
Einkommensermittlung
der Ehegatten nicht frei zur Verfügung, vielmehr handelte es sich um eine zweckgebundene Versicherungszahlung. Deshalb wird der vom Arbeitgeber in die Direktversicherung einbezahlte Betrag unterhaltsrechtlich nicht zu berücksichtigen sein und damit das Einkommen nicht erhöhen. Nach anderer Auffassung ist eine vom Arbeitgeber gezahlte Direktversicherung auch im Mangelfall kein unterhaltsrechtlich relevanter Einkommensbestandteil, da sie dem Unterhaltspflichtigen zur Deckung seines persönlichen Lebensbedarfs nicht zur Verfügung steht1. Beiträge eines Arbeitgebers können niemals Einkommen des Arbeitnehmers sein, § 1 Abs. 2 Nr. 2 BetrAVG. Geprüft werden sollte stets, ob eine Gehaltsumwandlung nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BetrAVG vorliegt. Nach der Rechtsprechung des BGH ist es sowohl dem unterhaltsberechtigten als auch dem unterhaltspflichtigen Ehegatten grundsätzlich zuzubilligen, einen Betrag von bis zu 4 % ihrer jeweiligen Gesamtbruttoeinkommen des Vorjahres für eine zusätzliche Altersvorsorge einzusetzen2. 102
ii) Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist voll anrechenbares Einkommen. Krankengeld soll den Verdienstausfall ganz oder teilweise ausgleichen, hat damit Lohnersatzfunktion und ist deshalb voll für die Unterhaltsbemessung verwendbares Einkommen. Dies gilt ebenso für Krankentagegeld und Krankenhaustagegeld aus privater Versicherung, auch wenn es das übliche Arbeitseinkommen übersteigt. Besteht infolge der Krankheit ein erhöhter Bedarf, ist ein angemessener Betrag dafür abzusetzen. Ein Erwerbstätigenbonus ist vom Krankengeld, wie vom Arbeitslosengeld I, nicht abzusetzen3.
103
jj) Zum Einkommen zählen auch alle Renten, gleich welcher Zweckbestimmung, einschließlich etwaiger Zulagen und Zuschläge und Sozialleistungen, deren Anrechenbarkeit sich nach § 1610a BGB richtet:
104
– Altersrenten, Pensionen, sonstige Ruhestandsbezüge sind regelmäßig wiederkehrende, gleichbleibende Geldbeträge, die an die Stelle des Arbeitseinkommens treten und die voll für Unterhaltszwecke zu berücksichtigen sind. Bei vorzeitigem Altersruhestand ist bis zur Erreichung der vollen Altersgrenze vom früheren Arbeitseinkommen auszugehen4.
105
– Rente wegen Erwerbsminderung gem. § 43 SGB VI tritt an die Stelle des Erwerbseinkommens und ist deshalb bei der Unterhaltsbemessung zu berücksichtigen, jedoch sind besondere Aufwendungen, die sich aus der zugrunde liegenden gesundheitlichen Behinderung ergeben, als konkreter Mehraufwand abzusetzen5. 1 OLG Celle v. 4.8.2004 – 12 WF 228/04, FamRZ 2005, 297. 2 BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354. 3 BGH v. 19.11.2008 – XII ZR 129/06, FamRZ 2009, 307 = FamRB 2009, 104 und FamRB 2009, 105. 4 OLG Celle v. 16.3.1993 – 15 WF 29/93, FamRZ 1994, 517. 5 BGH v. 21.1.1981 – IVb ZR 548/80, FamRZ 1981, 338 (339).
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Einkommensermittlung
Rn. 116
Kap. 6 A
– Unfallrente, Verletztenrente sind unterhaltspflichtiges Einkommen, jedoch muss ein unfallbedingter Sonderbedarf abgezogen werden1. § 1610a BGB ist zu beachten.
106
– Schwerstbeschädigtengrundrente, -zulage und Pflegezulage nach §§ 31 107 und 35b BVG sind nach allgemeiner Meinung unterhaltspflichtiges Einkommen2. Sie werden als pauschaler Ausgleich für die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit und für Mehraufwendungen gewährt nach Abzug eines Betrags für tatsächliche Mehraufwendungen. § 1610a BGB ist zu beachten. – Ausgleichsrente (§ 32 BVG) und Berufsschadensausgleichsrente (§ 30 108 III BVG) haben Einkommensersatzfunktion. – Der Ehegattenzuschlag nach § 33a BVG soll die Erfüllung einer Unterhaltspflicht erleichtern. Wegen seiner Zweckbestimmung ist er unterhaltsrechtlich beachtlich3. Einstweilen frei
109
110, 111
– Renten nach dem Bundesentschädigungsgesetz wegen Schäden an Körper und Gesundheit (§§ 28 ff. BEG) und Schadens im beruflichen Fortkommen (§§ 64 ff. BEG) sind Einkommensersatz und deshalb unterhaltspflichtiges Einkommen4.
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– Die Unfallrente (Verletztenrente, Versehrtenrente) hat Einkommensersatzfunktion5. Behinderungsbedingter Mehrbedarf ist im Einzelnen darzulegen und ggf. zu beweisen6.
113
– Blindengeld ist unterhaltsrechtlich entsprechend der Grundrente zu behandeln. § 1610a BGB ist anwendbar7.
114
– Wiedergutmachungsrente ist nach allgemeinen Grundsätzen unterhaltspflichtiges Einkommen. Konkreter Mehrbedarf ist eventuell abzuziehen8.
115
– Lastenausgleichsrenten sind als Einkünfte abzgl. konkreter Mehraufwendungen zu berücksichtigen. Allein die Zweckbestimmung ent-
116
1 BGH v. 20.1.1982 – IVb ZR 647/80, FamRZ 1982, 252. 2 BGH v. 16.9.1981 – IVb ZR 674/80, FamRZ 1981, 1165; BGH v. 20.1.1982 – IVb ZR 647/80, FamRZ 1982, 252; BGH v. 13.4.1983 – IVb ZR 373/81, FamRZ 1983, 674. 3 BGH v. 20.1.1982 – IVb ZR 647/80, FamRZ 1982, 252. 4 BGH v. 13.4.1983 – IVb ZR 373/81, FamRZ 1983, 674 (675). 5 BGH v. 20.1.1982 – IVb ZR 647/80, FamRZ 1982, 252 (253). 6 OLG Brandenburg v. 16.6.2009 – 10 UF 124/08, NJW-RR 2009, 1371. 7 OLG Hamm v. 5.9.1989 – 1 UF 43/89, FamRZ 1990, 405 (406). 8 BGH v. 13.4.1983 – IVb ZR 373/81, FamRZ 1983, 674.
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Kap. 6 A Rn. 117
Einkommensermittlung
zieht sie noch nicht grundsätzlich der Wertung als unterhaltspflichtiges Einkommen. 117
– Waisen- und Halbwaisenrente sind als eigenes Einkommen des Kindes anzurechnen. Sie kommen beiden „Eltern“ im Verhältnis ihrer Haftungsanteile zugute, weil sich der Unterhalt um den Rentenbetrag mindert und die Haftung der „Eltern“ für den Restbetrag bestehen bleibt. Die Halbwaisenrente kommt dem überlebenden Elternteil in voller Höhe zugute. Wird die Halbwaisenrente nach dem Tod des Stiefvaters gewährt, kommt die Entlastung durch die Halbwaisenrente wie sonstiges Kindesvermögen beiden „Eltern“ im Verhältnis ihrer Haftungsanteile zugute. Im Verhältnis zwischen Kind und betreuendem Elternteil bleibt die Handhabung dem Einzelfall überlassen1.
118
– Rentennachzahlungen sind nicht für vergangene Zeiträume, sondern als künftige Unterhaltsgewährung auf einen Zeitraum verteilt unterhaltsrechtlich zu berücksichtigen.
119
– Leibrenten; soweit sie aus der Veräußerung von Vermögen herrühren, sind auch die Tilgungsanteile heranzuziehen2. Bei „Sozialleistungen“ i.S.d. § 1610a BGB ist die dort vorgesehene „widerlegbare“ gesetzliche Vermutung zu beachten.
120–127 Einstweilen frei 128
kk) BAföG-Leistungen sind als Einkommen anzurechnen, auch wenn die Förderung nur darlehensweise gewährt wird. Durch die darlehensweise gewährten Leistungen wird die augenblickliche Bedürftigkeit des Empfängers in gleicher Weise gemindert wie durch endgültig gewährte Leistungen. Wegen der günstigen Darlehensbedingungen ist einem Studierenden idR die Aufnahme eines BAföG-Darlehens zumutbar. Es hat eine Zumutbarkeitsprüfung stattzufinden. Wird die Zumutbarkeit bejaht, unterlässt der Studierende aber die Antragstellung, ist ihm ein fiktives Einkommen zuzurechnen. Rückzahlungsraten aus einem BAföG-Darlehen sind erst dann vom Einkommen eines Unterhaltsberechtigten abzuziehen, wenn bereits eine Rückzahlungsverpflichtung besteht oder unmittelbar bevorsteht3. Vorausleistungen nach §§ 36, 37 BAföG stellen kein Einkommen dar.
129
ll) Das staatliche Kindergeld wird Eltern gewährt, um ihre Unterhaltslast gegenüber ihren Kindern zu erleichtern. Aus diesem Grund ordnet § 1612b Abs. 1 BGB an, dass das auf das Kind entfallende Kindergeld zur Deckung seines Barbedarfs zu verwenden sei. Die Regelung setzt den allgemein
1 BGH v. 17.9.1980 – IVb ZR 552/80, FamRZ 1980, 1109; BGH v. 21.1.2009 – XII ZR 54/06, FamRZ 2009, 762 = FamRB 2009, 172 und FamRB 2009, 173. 2 BGH v. 24.11.1993 – XII ZR 136/92, FamRZ 1994, 228. 3 BGH v. 27.11.1985 – IVb ZR 78/84, FamRZ 1986, 148.
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anerkannten Grundsatz um, dass das Kindergeld wirtschaftlich dem Kind zusteht und insbesondere dazu bestimmt ist, dessen Existenzminimum zu sichern1. § 1612b BGB regelt allerdings nur die unterhaltsrechtliche Behandlung des Kindergeldes. Der steuerliche Grundsatz, dass es sich beim Kindergeld um eine staatliche Leistung für das Kind an die Eltern handelt, die diese wirtschaftlich entlasten soll, wird nicht berührt. Kindergeld steht beiden Eltern zu, wird jedoch aus Gründen der Vereinfachung gem. § 64 Abs. 1 EStG immer nur an einen Berechtigten ausbezahlt. Der BGH hat Kindergeld zunächst als Einkommen bezeichnet2. Inzwischen vertritt er die Auffassung, dass Kindergeld kein anrechenbares Einkommen sei3. Auch bei der Bemessung des Ehegattenunterhalts stellt das Kindergeld für den BGH kein Einkommen mehr dar4.
130
mm) Bei Kinderzulagen aus der gesetzlichen Unfallversicherung oder Kinderzuschüssen aus der gesetzlichen Rentenversicherung wird Kindergeld nach §§ 65 EStG nicht gewährt. Diese Leistungen sind jedoch iHd. fiktiven Kindergeldes wie Kindergeld zu behandeln, § 1612c BGB. Dasselbe gilt, wenn für das Kind im Ausland oder von einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung Kindergeld oder eine vergleichbare Leistung gewährt wird und deshalb Anspruch auf deutsches Kindergeld nicht besteht5.
131
Der Familienzuschlag nach §§ 39 ff. BBesG sowie die kindbezogenen Be- 132 standteile der Dienstbezüge sind unterhaltsrechtlich relevantes Einkommen6. Für Landesbeamte finden sich in den jeweiligen Landesbesoldungsgesetzen entsprechende Regelungen. Einen Familienzuschlag der Stufe 1 nach § 40 Abs. 1 BBesG erhalten Beamte, Richter oder Soldaten, wenn sie verheiratet sind oder wenn sie geschieden und aus der geschiedenen Ehe mindestens iHd. Familienzuschlags zum Unterhalt verpflichtet sind. Ist ein Ehegatte seinem geschiedenen Ehegatten aus erster Ehe vorrangig unterhaltspflichtig und ist er nach der Scheidung eine zweite Ehe eingegangen, beruht die Zahlung des Familienzuschlags somit auf zwei alternativen Rechtsgründen (§ 40 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 BBesG). Der Familienzuschlag ist deswegen nicht stets der neuen Ehe vorbehalten und soll auch nicht nur deren Belastung mildern. Nach § 40 Abs. 1 Nr. 3 BBesG wird er vielmehr auch bewilligt, um die Unterhaltslasten aus der geschiedenen Ehe abzumildern. In solchen Fällen entsteht durch die neue Ehe des Unterhaltspflichtigen keine finanzielle Veränderung. Der Familien-
1 2 3 4 5 6
BVerfG v. 6.7.2004 – 1 BvL 4/97, BVerfGE 108, 52, 69. BGH v. 29.1.1992 – XII ZR 239/90, FamRZ 1992, 539 (541, 543). BGH v. 16.4.1997 – XII ZR 233/95, FamRZ 1997, 806. BGH v. 16.4.1997 – XII ZR 233/95, FamRZ 1997, 806. OLG München v. 26.2.1993 – 2 WF 548/93, FamRZ 1994, 456. BGH v. 23.11.1988 – IVb ZR 20/88, FamRZ 1989, 172; BGH v. 14.2.1990 – XII ZR 51/89, FamRZ 1990, 981 (983); BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327.
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zuschlag wird dann nicht erst durch die neue Ehe ausgelöst, weil er schon zuvor wegen der fortdauernden Unterhaltspflicht aus erster Ehe gewährt wurde. Einem vorrangig unterhaltsberechtigten ersten Ehegatten kann der Anteil des Familienzuschlags deswegen nicht nachträglich durch Eingehung einer zweiten Ehe vollständig entzogen werden1. Der BGH vertrat zunächst2 die Auffassung, wenn der Familienzuschlag nach § 40 Abs. 1 BBesG sowohl wegen des Unterhaltsanspruchs aus einer geschiedenen Ehe als auch wegen einer bestehenden zweiten Ehe gezahlt werde, sei er bei der Bemessung des vorrangigen Unterhaltsanspruchs der geschiedenen Ehefrau nur hälftig zu berücksichtigen. Diese Rechtsprechung hat der BGH dann jedoch aufgegeben3 und die Auffassung vertreten, der Familienzuschlag sei bei der Bemessung in voller Höhe zu berücksichtigen. Zur Begründung führte er aus, schon die wechselseitige Angleichung der Unterhaltsansprüche der ersten und der zweiten Ehefrau im Wege der Dreiteilung sorge dafür, dass der Einkommensvorteil beiden Ehegatten in gleichem Umfang zugute komme. Zwischenzeitlich hat jedoch das BVerfG die Rechtsprechung zur Dreiteilung teilweise als verfassungswidrig bewertet4. Der BGH dürfte zu seiner früheren Auffassung, den Familienzuschlag nur hälftig zu berücksichtigen, zurückgekehrt sein5. 133
nn) Freiwillige unentgeltliche Zuwendungen eines Dritten (zB Geldleistungen, kostenloses Wohnen) mindern idR die Bedürftigkeit nicht, denn es besteht kein rechtlicher Anspruch auf sie. Die Anrechenbarkeit einer solchen Leistung hängt grundsätzlich vom Willen des Zuwendenden ab. Dies ergibt sich aus § 267 BGB. Geht der Wille, wie idR, dahin, den Berechtigten zusätzlich zu unterstützen, ohne den Verpflichteten von dessen Unterhaltspflicht zu entlasten, dann ist die Zuwendung unterhaltsrechtlich nicht zu berücksichtigen6.
134
Im Mangelfall kann die freiwillige Zuwendung im Rahmen einer Billigkeitsabwägung bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit bzw. Bedürftigkeit gegen den Willen des Zuwendenden angerechnet werden.
1 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197; BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327; OLG Celle v. 19.1.2005 – 15 UF 139/04, FamRZ 2005, 716 = FamRB 2005, 190; OLG Oldenburg v. 31.1.2006 – 12 UF 91/05, FamRZ 2006, 1127 = FamRB 2006, 234. 2 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197. 3 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1191 = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327; Hahne, FF 2009, 178 (183). 4 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 m. Anm. Borth = FamRB 2011, 66, S. 445 ff., sowie Anm. Gerhardt, FamRZ 2011, 537 und Götz, FamRZ 2011, 871. 5 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281. 6 BGH v. 6.3.1985 – IVb ZR 74/83, FamRZ 1985, 584.
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Erbringt der Berechtigte seinerseits gegenüber dem Dritten unentgeltli- 135 che Zuwendungen, fehlt es idR am Merkmal der Unentgeltlichkeit. So stellen freiwillige Zuwendungen des Arbeitgebers keine Schenkung dar, vielmehr haben sie Lohncharakter1. Diese werden im Zweifel wegen des Arbeitseinsatzes und als Ansporn für die weitere Tätigkeit gewährt. In Wirklichkeit handelt es sich um vermögenswerte Geldleistungen, die die Tätigkeit des Pflichtigen abgelten. In Höhe des Werts der Gegenleistung sind deshalb die Zuwendungen als Einkommen anzurechnen. Die Höhe des anzurechnenden Betrags hat unter Berücksichtigung des Einzelfalls das Gericht zu ermitteln und ggf. nach § 287 ZPO zu schätzen2. Bei Zuwendungen eines neuen Partners an den Berechtigten und Gegen- 136 leistungen des Berechtigten an den neuen Partner ist zu prüfen, ob diese als Einkommen zu behandeln sind. Führt der Berechtigte unentgeltlich den Haushalt eines neuen Partners, dann können dessen Leistungen nicht mehr als unentgeltlich beurteilt werden. Den wirklichen Wert der Leistung muss sich der Berechtigte als angemessene Vergütung bedarfsmindernd auf seinen Unterhaltsanspruch anrechnen lassen. Erbringt der neue Partner seinerseits keine Leistungen, muss sich der Berechtigte grundsätzlich eine angemessene Vergütung für seine Dienste anrechnen lassen, wenn der Dritte leistungsfähig ist. Diese Vergütung ist zu fingieren und dann als Einkommen zu behandeln. Bei der Beurteilung, welchen objektiven Wert die Leistungen haben, können Richtsätze, die der Lebenserfahrung entsprechen und auf die abgegebenen Verhältnisse abgestimmt sind, sowie Richtlinien, die zur Bestimmung von Schadenersatzrenten für die Verletzung oder Tötung von Hausfrauen entwickelt worden sind, als Anhaltspunkt dienen, es sei denn im Einzelfall liegen besondere Umstände vor, die eine Abweichung erforderlich machen3. Führt jemand einem leistungsfähigen Dritten den Haushalt, so ist hierfür ein Einkommen anzusetzen. Bei Haushaltsführung durch einen Nichterwerbstätigen geschieht dies idR mit einem monatlichen Betrag von 200 bis 550 Euro4. Unter dem Gesichtspunkt ersparter Wohn- und Haushaltskosten kann bei Zusammenleben der Partner nach den Umständen des Einzelfalls die Bedürftigkeit des Berechtigten gemindert oder die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten gesteigert sein. Die Bedürftigkeit ist gemindert, wenn der Berechtigte in die Wohnung des neuen Partners aufgenommen wird und dieser alle Wohnkosten alleine trägt. Aufgrund der anderweitigen Deckung seines Wohnbedarfs kann der Berechtigte nicht den vollen Unterhalt verlangen. Wird der Verpflichtete aufgenommen, kann seine Leistungsfähigkeit durch die anderweitige Deckung des Wohnbedarfs gesteigert sein.
1 2 3 4
OLG München v. 7.12.1994 – 12 UF 1150/94, FamRZ 1995, 1069. BGH v. 23.4.1980 – IVb ZR 527/80, FamRZ 1980, 665 (668). BGH v. 28.3.1984 – IVb ZR 64/82, FamRZ 1984, 662. ZB unterhaltsrechtliche Leitlinien der Familiensenate in Süddeutschland Ziff. 6.
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Eine freiwillige Zuwendung Dritter kann vorliegen, wenn Eltern ihrem Kind kostenlos Wohnraum zur Verfügung stellen oder Geld zum Erwerb einer Immobilie schenken. Dagegen ist keine freiwillige Leistung anzunehmen, wenn der Lebensgefährte dem Berechtigten die Nutzung seiner Wohnung gewährt. Lebt der wiederverheiratete Unterhaltspflichtige in einer seinem neuen Ehegatten gehörenden Immobilie, gewährt der neue Ehegatte den Wohnvorteil nicht als freiwillige Zuwendung Dritter, sondern als Familienunterhalt nach § 1360a BGB. Deshalb ist in derartigen Fällen der Wohnvorteil beim Selbstbehalt zu berücksichtigen1.
139
oo) Wohnwertvorteil2. Das mietfreie Wohnen im eigenen Heim stellt einen geldwerten Vorteil dar (§ 100 BGB). Daher sind bei der Bestimmung des Unterhaltsbedarfs nach den ehelichen Lebensverhältnissen die Gebrauchsvorteile eines im Eigentum eines oder beider Ehegatten stehenden, selbst bewohnten Familienheims einzubeziehen. Der Wert derartiger Nutzungsvorteile ist den Einkünften der Ehegatten hinzuzurechnen, soweit er die Belastungen übersteigt, die durch allgemeine Grundstückskosten und -lasten, Zins- und Tilgungsraten sowie sonstige verbrauchsunabhängige Kosten entstehen3.
140
Der Abzug vermögensbildender Tilgungsleistungen vom Wohnwert kann gerechtfertigt sein, da Bemessungsgrundlage für die ehelichen Lebensverhältnisse nur die tatsächlich zum Verbrauch verfügbaren Mittel sind. Die Teilhabe des anderen Ehegatten an der hierin liegenden Vermögensbildung erfolgt über den Zugewinnausgleich oder nach Gemeinschaftsrecht4. Der Wohnwert ist jedenfalls dann um Tilgungsleistungen zu kürzen, wenn die Immobilie im gemeinschaftlichen Eigentum beider Ehegatten steht, da die Vermögensmehrung beiden zugutekommt. Bei Gütertrennung oder nach Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags kommen die Tilgungsleistungen nur noch dem Eigentümer-Ehegatten zugute. In diesen Fällen können Tilgungsleistungen jedenfalls dann nicht mehr berücksichtigt werden, wenn das während der Ehe tatsächlich ausgeübte Konsumverhalten die Lebensführung zugunsten der Vermögensbildung nach objektiven Kriterien unverhältnismäßig beschränkt hat5.
141
Von dem Wohnwert sind die mit dem Eigentumserwerb verbundenen Kosten abzusetzen, weil der Eigentümer nur iHd. Differenz günstiger lebt als der Mieter. Der Vorteil des mietfreien Wohnens ist während der Ehezeit sowohl durch die verbrauchsunabhängigen Kosten, soweit diese
1 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 (974) = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173. 2 Vgl. dazu Borth, FamRB 2003, 328. 3 BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 21/05, FamRZ 2007, 879 = FamRB 2007, 228. 4 BGH v. 29.3.1995 – XII ZR 45/94, FamRZ 1995, 869. 5 BGH v. 4.11.1981 – IVb ZR 624/80, FamRZ 1982, 151; BGH v. 12.7.1985 – IVb ZR 66/88, FamRZ 1989, 1160; BGH v. 18.12.1991 – XII ZR 2/91, FamRZ 1992, 423.
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nicht nach § 556 BGB, §§ 1 und 2 BetrKV umlagefähig sind, als auch durch die gezahlten Zins- und Tilgungsleistungen geschmälert. Selbst wenn mit der Tilgung der Kredite stets eine Vermögensbildung verbunden ist, steht dies zunächst einer Schmälerung des Wohnvorteils durch die tatsächlich geleisteten Zahlungen nicht entgegen, weil regelmäßig auch der andere Ehegatte über den Zugewinnausgleich von der Vermögensbildung profitiert. Erst wenn dies ausgeschlossen ist, betreibt der Eigentümer mit der Tilgung seiner Kredite eine Vermögensbildung zulasten des Unterhaltsanspruchs des anderen Ehegatten. Bis zur Zustellung des Ehescheidungsantrags profitiert der andere Ehegatte aufgrund des Zugewinnausgleichs an den Tilgungsleistungen, die der Grundstückseigentümer erbringt. Demgemäß sind bis zur Zustellung des Scheidungsantrags neben den verbrauchsunabhängigen Grundstückskosten und den Zinsbelastungen auch die Tilgungsleistungen des Grundstückseigentümers zu berücksichtigen1. Demgegenüber wird der Wertzuwachs für das im Eigentum eines Ehegatten stehende Haus durch weitere Darlehenstilgungen ab Zustellung des Scheidungsantrags nicht mehr über den Zugewinnausgleich ausgeglichen und kommt nur noch dem Eigentümer allein zugute. Der Tilgungsteil der Darlehensraten ist also nicht nur im Rahmen des nachehelichen Unterhalts grundsätzlich nicht mehr zu berücksichtigen2, sondern bereits ab Zustellung des Ehescheidungsantrags3, weil er zur einseitigen Vermögensbildung eines Ehegatten führt. Allerdings können in diesem Fall Tilgungsleistungen von bis zu 4 % des Gesamtbruttoeinkommens des Vorjahres als angemessene zusätzliche Altersvorsorge berücksichtigt werden4. Gleiches muss bei Gütertrennung gelten. Die Höhe des anzurechnenden Wohnvorteils bestimmt sich entweder nach – dem objektiven Mietwert5 oder – dem angemessenen Wohnwert6 der benutzten Räume.
1 BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 21/05, FamRZ 2007, 879 (881) = FamRB 2007, 228. 2 BGH v. 5.4.2000 – XII ZR 96/08, BGH v. 5.4.2000 – XII ZR 96/98, FamRZ 2000, 950 (952); BGH v. 22.10.1997 – XII ZR 12/96, FamRZ 1998, 87 (88 f.). 3 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 (965) = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170. 4 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 (966) = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170; BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 (1821) = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354. 5 BGH v. 5.4.2000 – XII ZR 96/98, FamRZ 2000, 950 (951). 6 BGH v. 22.4.1998 – XII ZR 161/96, FamRZ 1998, 899.
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Der objektive Wohnwert entspricht der auf dem Markt erzielbaren Kaltmiete. Maßgebend sind Ortslage, Größe, Beschaffenheit und der Zuschnitt vergleichbarer Wohnungen ohne Wohnnebenkosten. Die wertbildenden Faktoren, also qm-Zahl, Anzahl der Räume, Herstellungsjahr etc. sollten ebenso vorgetragen werden wie Mietpreise der in der Nachbarschaft liegenden und vergleichbaren Immobilien. Es ist die Frage zu stellen, in welcher Höhe auf dem Wohnungsmarkt für dieses konkrete Objekt Kaltmiete erzielt werden könnte.
144
Wird das Eigenheim nur von einer oder wenigen Personen und nicht in vollem Umfang benutzt, stellt der nicht benutzte Teil des Eigenheims nach der Rechtsprechung des BGH „totes Kapital“ dar1. In diesen Fällen ist der Wohnwert nicht iHd. auf dem Markt erzielbaren objektiven Mietpreises, sondern nur als eingeschränkter Gebrauchsvorteil anzusetzen. Der Gebrauchsvorteil des an sich zu großen Eigenheims wird danach zu bestimmen sein, welche Miete der in der Wohnung verbleibende Ehegatte für eine dem ehelichen Lebensstandard entsprechend kleinere Wohnung aufwenden würde. Dieser Betrag wird nach oben durch den objektiven Wohnwert des Eigenheims begrenzt. Es ist die Frage zu stellen, in welcher Höhe der im Eigenheim verbliebene Ehegatte objektiv Miete bezahlen würde, wenn er ausgezogen wäre und sich eine dem ehelichen Standard entsprechend kleinere Wohnung genommen hätte2. In der Praxis kann es im Einzelfall hilfreich sein, wenn ermittelt wird, in welcher Höhe der ausgezogene Ehegatte für eine kleinere Wohnung Miete bezahlt. In vielen Fällen wird man davon ausgehen können, dass der im Eigenheim verbliebene Ehegatte, wäre er ausgezogen, Miete in gleicher Höhe wie der ausgezogene Ehegatte bezahlen würde.
145
Der objektive Wohnwert ist bei sämtlichen Arten von Unterhaltsansprüchen anzusetzen, wenn eine vollumfängliche Nutzung der Immobilie gegeben ist und kein „totes Kapital“ aufgedrängt wurde. Dies wird insbesondere in folgenden Fällen anzunehmen sein: – Beim nachehelichen Unterhalt: Der objektive Wohnwert ist maßgebend im Rahmen der Bedarfsermittlung nach § 1578 Abs. 1 BGB, wenn zumindest noch ein Ehegatte das Eigenheim bewohnt3, – beim Trennungsunterhalt: ab Zustellung des Scheidungsantrags oder nach abschließender Regelung der vermögensrechtlichen Folgen der Ehe4
1 BGH v. 12.7.1989 – IVb ZR 66/88, FamRZ 1989, 1160 (1162); BGH v. 22.4.1998 – XII ZR 161/96, FamRZ 1998, 899 (901). 2 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 (965) = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170. 3 BGH v. 5.4.2000 – XII ZR 96/98, FamRZ 2000, 950 (952). 4 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 (965) = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170; BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35.
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Rn. 147
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– bei Zusammenleben des unterhaltsberechtigten Ehegatten mit Kindern, für die voller Unterhalt einschließlich Wohnkosten bezahlt wird1, – bei Aufnahme eines volljährigen Kindes, welches aufgrund eigener Einkünfte nicht unterhaltsberechtigt ist, – bei Aufnahme eines neuen Lebensgefährten; hier könnte allerdings auch daran gedacht werden, auf den angemessenen Wohnwert zurückzugreifen und (fiktive) Mietzahlungen, die der neue Lebensgefährte erbringt oder erbringen müsste, zuzuschlagen. Wird auf den objektiven Wohnwert abgestellt, können nicht zusätzlich (fiktive) Mietzahlungen des neuen Lebensgefährten berücksichtigt werden. – Bei Teilvermietung: Insoweit wäre allerdings auch daran zu denken, auf den angemessenen Wohnwert auf Seiten des Ehegatten abzustellen und die Einnahmen aus der Vermietung zu addieren. Der objektive Wohnwert wird auch dann anzusetzen sein, wenn ein Ehe- 146 gatte nach der Trennung oder Scheidung eine neue Immobilie erwirbt und mietfrei wohnt2, denn insoweit kann kein „totes Kapital“ aufgedrängt worden sein. Der angemessene Wohnwert kann nur in Ansatz gebracht werden, wenn 147 „totes Kapital“ vorliegt. Dies ist insbesondere in den Fällen denkbar, in denen ein Ehegatte aus dem Eigenheim auszieht und der andere Ehegatte im Eigenheim verbleibt. Die für beide Ehegatten bislang ausreichende eheliche Wohnung wird nach Auszug des einen Ehegatten für den anderen zu groß. Ihm wird der vom ausziehenden Ehegatten genutzte Teil der Wohnung aufgedrängt. Solange keine Obliegenheit besteht, die Ehewohnung aufzugeben, sie zu vermieten oder zu veräußern, wird daher nur der angemessene Wohnwert in Ansatz zu bringen sein. Die Obliegenheit, die Ehewohnung aufzugeben, zu vermieten oder zu veräußern, besteht nicht, wenn mit einer Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft gerechnet werden kann. Mit der Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft kann während der Dauer des Getrenntlebens gerechnet werden. Man wird deshalb im Regelfall beim Trennungsunterhalt auf den angemessenen Wohnwert abzustellen haben. Dies gilt auch bei längerer Trennungszeit3. Ist eine Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft allerdings nicht mehr zu erwarten, etwa wenn ein Scheidungsantrag rechtshängig ist oder die Ehegatten die vermögensrechtlichen Folgen ihrer Ehe abschließend geregelt haben, sind solche Ausnahmen von der grundsätzlichen Berücksichtigung des vollen Mietwerts nicht mehr gerechtfertigt4. 1 2 3 4
BGH v. 18.12.1991 – XII ZR 2/91, FamRZ 1992, 423. BGH v. 22.10.1997 – XII ZR 12/96, FamRZ 1998, 87. BGH v. 20.10.1999 – XII ZR 297/97, FamRZ 2000, 351. BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 (965) = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170 in Abgrenzung zu BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 21/05, FamRZ 2007, 879 = FamRB 2007, 228.
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Kap. 6 A Rn. 148
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Nach Zustellung des Scheidungsantrags, spätestens aber nach Scheidung der Ehe besteht im Regelfall keine Veranlassung mehr, ein zu großes Eigenheim zu behalten. Unterhaltsrechtlich besteht die Obliegenheit, jedenfalls nach der Scheidung eine wirtschaftlich angemessene Nutzung des für den im Eigenheim verbleibenden Ehegatten an sich zu großen Hauses zu verwirklichen1. Zumutbarkeitsgesichtspunkte sind zu berücksichtigen, die beiderseitigen Interessen der geschiedenen Ehegatten sind abzuwägen. Der im Eigenheim verbleibende Ehegatte ist nach der Scheidung grundsätzlich gehalten, entweder durch Vermietung einzelner Räume, ggf. durch Vermietung des gesamten Objekts, im Einzelfall auch selbst durch eine Veräußerung2 eine wirtschaftlich angemessene Nutzung aus dem Eigenheim zu ziehen. Nur wenn sich nach Abwägung aller Einzelfallumstände, insbesondere auch unter Berücksichtigung des Kindeswohls, eine Teil- oder Vollvermietung oder eine Veräußerung des Eigenheims als nicht möglich oder als nicht zumutbar erweisen sollte, wird auch beim nachehelichen Unterhalt nur auf den angemessenen Wohnwertvorteil abzustellen sein.
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Beim Elternunterhalt ist der angemessene Wohnwert zugrunde zu legen, weil gem. § 1603 Abs. 1 BGB ein Bestandsschutz für den bisherigen Lebensstandard des Unterhaltspflichtigen besteht3.
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Fraglich ist, ob sich beim Kindesunterhalt der Wohnvorteil nach der objektiven Marktmiete oder nach einem den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen angemessenen Wohnwert bemisst. Hierzu wird die Ansicht vertreten, auch insoweit sei zu differenzieren, ob die Eltern des minderjährigen, Unterhalt begehrenden Kindes getrenntleben oder ob das Ehescheidungsverfahren bereits in die Wege geleitet worden sei4. Es solle jeweils die für diese Fälle bestehende Rechtsprechung zum Wohnwertvorteil im Ehegattenunterhalt Anwendung finden. Leben die Ehegatten getrennt, soll während der Dauer des Getrenntlebens für die Berechnung des Kindesunterhalts im Regelfall ebenfalls nur auf den angemessenen Wohnwert abgestellt werden5. Nach der Scheidung der Eltern ist dagegen auch für die Berechnung des Kindesunterhalts der objektive Wohnwert maßgebend. Auf den objektiven Wohnwert ist auch dann im Rahmen des Minderjährigenunterhalts abzustellen, wenn die Eltern des Kindes, welches Unterhalt begehrt, nicht miteinander verheiratet gewesen sind6.
151
Sowohl vom objektiven als auch vom angemessenen Wohnwert können Abzüge vorgenommen werden: 1 BGH v. 19.12.1989 – IVb ZR 9/89, FamRZ 1990, 269 (271). 2 BGH v. 4.11.1987 – IVb ZR 81/86, FamRZ 1988, 145 (149). 3 BGH v. 19.3.2003 – XII ZR 123/00, FamRZ 2003, 1179 = FamRB 2003, 280 und FamRB 2003, 282. 4 Gerhardt, FamRZ 1993, 1139. 5 OLG Brandenburg v. 5.7.2001 – 10 WF 49/01, FamRZ 2002, 981. 6 OLG Rostock v. 3.6.2004 – 10 UF 22/04, FamRZ 2005, 645 (646).
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Rn. 151
Kap. 6 A
– Verbrauchsunabhängige Nebenkosten kürzen den Wohnwert und können abgezogen werden1. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es sich um nicht umlagefähige Kosten i.S.v. § 556 Abs. 1 BGB, §§ 1 und 2 BetrKV handelt. Für Grundsteuer und Versicherungsbeiträge trifft dies nicht zu, da diese üblicherweise auf den Mieter umgelegt werden können2. Verbrauchsabhängige Kosten können nicht abgezogen werden; sie gehören zu den allgemeinen Lebenshaltungskosten und sind regelmäßig auf einen Mieter umzulegen. Eine Ausnahme hiervon besteht, wenn der Ehegatte diese Kosten auch im Interesse des anderen Ehegatten weiter aufbringt, weil beispielsweise beabsichtigt ist, das Eigenheim zu veräußern. In derartigen Fällen können die Grundsteuer und die Versicherungsbeiträge teilweise vom Wohnwert abgezogen werden3. – Notwendige, konkret anfallende Instandhaltungsaufwendungen sind idR abzuziehen4. Bei Wohnanlagen sind Rücklagen für Instandhaltungsaufwendungen abziehbar, nicht aber Gebäudeabschreibungen.
Û
Praxistipp: Während des Getrenntlebens ist bis zum Abschluss einer vermögensrechtlichen Vereinbarung, längstens bis zur Zustellung des Ehescheidungsantrags, der angemessene Wohnwert maßgebend. Zinsleistungen sind zu berücksichtigen. Tilgungsleistungen sind zu berücksichtigen, soweit sie dem anderen Ehegatten über das eheliche Güterrecht oder Gemeinschaftsrecht ebenfalls zugute kommen. Nach Abschluss einer güterrechtlichen Vereinbarung, spätestens ab Zustellung des Scheidungsantrags, ist auf den objektiven Wohnwert abzustellen. Zinsleistungen können, soweit sie in einem angemessenen Verhältnis stehen, berücksichtigt werden. Tilgungen können, wenn sie nur noch einem Ehegatten zugute kommen, als zusätzliche Altersvorsorgemaßnahme bis zu 4 % des Bruttovorjahreseinkommens berücksichtigt werden. Verbrauchsunabhängige Nebenkosten sind zu berücksichtigen, soweit sie nicht auf einen Mieter umgelegt werden können, Grundsteuer und Gebäudeversicherung können nicht berücksichtigt werden.
1 BGH v. 22.4.1998 – XII ZR 161/96, FamRZ 1998, 899; BGH v. 20.11.1999 – XII ZR 297/97, FamRZ 2000, 351; BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 (965) = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170; anders: OLG Düsseldorf v. 3.9.2007 – II-7 UF 87/07, FamRZ 2008, 895. 2 BGH v. 27.5.2009 – XII ZR 78/08, FamRZ 2009, 1300 = FamRB 2009, 335, FamRB 2009, 270, FamRB 2009, 271 und FamRB 2009, 272 unter Aufgabe von BGH v. 20.10.1999 – XII ZR 297/97, FamRZ 2000, 351. 3 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 (965) m. Anm. Büttner = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170; BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 (24) m. Anm. Maurer S. 204 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35. 4 BGH v. 20.11.1996 – XII ZR 70/95, FamRZ 1997, 281.
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Kap. 6 A Rn. 152
Einkommensermittlung
Verbrauchsabhängige Nebenkosten können nicht abgezogen werden. Notwendige, konkret anfallende Instandhaltungskosten sind in angemessenem Umfang abzuziehen. 152
Verfügt der Unterhaltsberechtigte über einen nicht eheprägenden Wohnvorteil, kann nach § 1577 Abs. 1 BGB die Obliegenheit zur optimalen Vermögensausnutzung oder gar zur vollständigen Vermögensverwertung bestehen. Vermögen darf nicht ohne weiteres zum Erwerb von Immobilieneigentum eingesetzt werden, wenn durch eine verzinsliche Anlage des Kapitals höhere Erträge zu erwirtschaften wären. Unter Umständen kann deshalb die Obliegenheit zur Vermögensumschichtung bestehen1. Vermögenserträge, die in zumutbarer Weise erzielt werden könnten, tatsächlich aber nicht erzielt werden, sind als fiktives Einkommen anzurechnen. Allerdings muss zunächst eine Zumutbarkeitsprüfung durchgeführt werden. Die Kapitalanlage in Form von Immobilieneigentum muss schlechterdings unwirtschaftlich sein. Bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung ist die Frage zu stellen, welchen Ertrag die Immobilienanlage abwirft und welchen Ertrag man bei einer anderen Anlageform erwirtschaften könnte. Insoweit ist ein Renditevergleich vorzunehmen. Bei diesem Renditevergleich sind vom Wohnwert Zins- und Tilgungsleistungen abzuziehen, bevor der tatsächlich erzielte Ertrag in das Verhältnis zum Ertrag bei einer anderen Anlageform gesetzt wird2.
153
Zur Berechnung des Ehegattenunterhalts nach Übertragung des hälftigen Miteigentumsanteils am gemeinsamen, noch mit Schulden belasteten Haus auf den anderen Ehegatten beschäftigt sich eine Entscheidung des BGH vom Mai 20013: Nach der Scheidung übertrug die unterhaltsberechtigte Frau ihren hälftigen Miteigentumsanteil an der vormals ehelichen Wohnung auf den unterhaltspflichtigen Mann. Vom Ausgleichsbetrag von ca. 79 000 Euro erwarb sie unter Inanspruchnahme eines Darlehens iHv. ca. 93 000 Euro ein Einfamilienhaus, in welchem sie mit der jüngeren Tochter wohnte.
154
Nach Auffassung des BGH bemisst sich der Vorteil, der einem Ehegatten aus dem mietfreien Wohnen im eigenen Haus zuwächst und der deshalb bei der Ermittlung des unterhaltsrechtlich relevanten Einkommens dieses Ehegatten zu berücksichtigen ist, grundsätzlich nach den tatsächlichen Verhältnissen4.
155
Für die Ermittlung der Einkünfte, die dem Ehegatten zuzurechnen sind, der nach Veräußerung des Familienheims eine neue Immobilie erworben hat, muss grundsätzlich von dem tatsächlichen, um den Zinsaufwand ge-
1 BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35; BGH v. 5.4.2000 – XII ZR 96/98, FamRZ 2000, 950 (951). 2 BGH v. 22.10.1997 – XII ZR 12/96, FamRZ 1998, 87 (89). 3 BGH v. 3.5.2001 – XII ZR 62/99, FamRZ 2001, 1140 (1143). 4 BGH v. 5.4.2000 – XII ZR 96/98, FamRZ 2000, 950 (951).
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Einkommensermittlung
Rn. 156
Kap. 6 A
minderten Wohnwert ausgegangen werden1. Zwar kann die Obliegenheit bestehen, das in einem Eigenheim gebundene Vermögen zur Erzielung höherer Erträge umzuschichten. Ob eine solche Obliegenheit zur Vermögensumschichtung besteht, bestimmt sich jedoch nach Zumutbarkeitsgesichtspunkten, wobei unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls, auch der beiderseitigen früheren wie jetzigen Wohnverhältnisse, die Belange des Unterhaltsberechtigten und die des Unterhaltspflichtigen gegeneinander abzuwägen sind. Es kommt darauf an, ob den Unterhaltsverpflichteten die Unterhaltslast besonders hart trifft; dem Vermögensinhaber muss jedoch ein gewisser Entscheidungsspielraum verbleiben. Die tatsächliche Anlage des Vermögens muss sich als eindeutig unwirtschaftlich darstellen, nur dann kann der Unterhaltsberechtigte auf eine andere Anlageform und daraus erzielbare Beträge verwiesen werden2. Soweit danach ein etwaiger Vorteil, der dem Unterhaltsberechtigten aus dem mietfreien Wohnen im eigenen Haus zuwächst oder der Zinsgewinn, den der Unterhaltsberechtigte im Falle einer Obliegenheit zur Vermögensumschichtung aus dem in seinem Eigenheim gebundenen Kapital erzielen könnte, einkommenssteigernd zu berücksichtigen ist, handelt es sich um eheprägendes Einkommen des unterhaltsberechtigten Ehegatten, welches nach der Differenzmethode zu berücksichtigen ist und welches nicht nach der Anrechnungsmethode vom Bedarf des Unterhaltsberechtigten in Abzug gebracht werden darf. Da im Ausgangsfall die Ehegatten bereits während der Ehe mietfrei im eigenen Heim gewohnt haben, ist mit dem Auszug des unterhaltsberechtigten Ehegatten und der Übertragung des Miteigentumsanteils auf den Unterhaltspflichtigen der Wohnwert, den der unterhaltsberechtigte Ehegatte aus der mietfreien Mitbenutzung des bis dahin gemeinsamen Hauses gezogen hat, nicht ersatzlos entfallen. Vielmehr findet er sein Surrogat in den Nutzungen, die der unterhaltsberechtigte Ehegatte aus dem Erlös seines Miteigentumsanteils am ursprünglich gemeinsamen Immobilieneigentum zieht. Soweit der unterhaltsberechtigte Ehegatte mit diesem Erlös sein neues Eigenheim finanziert hat, setzt sich der eheprägende Wohnvorteil an dem ursprünglich gemeinsamen Haus in dem Vorteil fort, der dem unterhaltsberechtigten Ehegatten aus mietfreiem Wohnen in seinem neuen Eigenheim zuwächst. Für den Zinsgewinn, den der unterhaltsberechtigte Ehegatte im Falle einer Obliegenheit zur Vermögensumschichtung aus dem in seinem Eigenheim gebundenen Eigenkapital ziehen könnte, gilt, soweit dieses Kapital aus dem Erlös des früheren Miteigentumsanteils stammt, nichts anderes3. Der Unterhaltspflichtige muss sich den objektiven Wohnwert für das von ihm übernommene und von ihm bewohnte frühere gemeinsame Haus anrechnen lassen. Gegen1 BGH v. 22.10.1997 – XII ZR 12/96, FamRZ 1998, 87 (88). 2 BGH v. 3.5.2001 – XII ZR 62/99, FamRZ 2001, 1140 (1143); BGH v. 18.12.1991 – XII ZR 2/91, FamRZ 1992, 423; BGH v. 22.10.1997 – XII ZR 12/96, FamRZ 1998, 87 (89). 3 BGH v. 3.5.2001 – XII ZR 62/99, FamRZ 2001, 1140 (1143).
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Kap. 6 A Rn. 157
Einkommensermittlung
zurechnen sind jedoch die Zinsen, die der Unterhaltspflichtige zur Finanzierung des Erwerbs des früheren Miteigentumsanteils des unterhaltsberechtigten Ehegatten aufwenden muss1. 157
Mit Urteil v. 13.6.2001 hat der BGH nicht nur seine frühere Rechtsprechung zur Anrechnungsmethode aufgegeben, sondern sich auch mit der Berücksichtigung von Zinsvorteilen beschäftigt, die aus dem Kapital erzielt werden, das dem unterhaltsberechtigten Ehegatten nach der Scheidung aus der Veräußerung des in seinem Alleineigentum stehenden Eigenheims zugeflossen ist2. Während der Ehe waren die ehelichen Lebensverhältnisse durch das mietfreie Wohnen im Haus des unterhaltsberechtigten Ehegatten geprägt, so dass sich der eheangemessene Bedarf grundsätzlich auch durch die daraus gezogenen Nutzvorteile erhöhte. Mit der Veräußerung des Hauses nach der Scheidung sind diese Nutzvorteile allerdings für beide Ehegatten entfallen, so dass ein (fiktiver) Ansatz des Wohnvorteils nicht mehr in Betracht kommt. Diese Einbuße muss von beiden Ehegatten getragen werden3. Verblieben sind allerdings auf Seiten des unterhaltsberechtigten Ehegatten die Zinsvorteile aus dem Verkaufserlös, die an die Stelle des Nutzvorteils getreten sind und daher mit in die Differenz- bzw. Additionsmethode einzubeziehen sind4.
158
Erwirbt ein Ehegatte den Miteigentumsanteil des anderen an dem ehemals gemeinsamen Familienheim, so kann die Berücksichtigung eines Wohnvorteils bei der Bemessung des nachehelichen Unterhalts nicht mit der Begründung außer Betracht bleiben, die Ehegatten seien so zu behandeln, als hätten sie das Haus an einen Dritten veräußert und den Erlös verteilt. Mit der Übertragung des Miteigentumsanteils auf den anderen Ehegatten entfallen auf Seiten des übertragenden Ehegatten die Nutzvorteile aus dem bislang gemeinsam genutzten Familienheim. An ihre Stelle tritt für den veräußernden Ehegatten der Erlös als Surrogat der Nutzvorteile seines Miteigentumsanteils. Für den übernehmenden Ehegatten verbleibt es grundsätzlich bei einem Wohnvorteil, und zwar nunmehr iHd. vollen Werts, gemindert um die schon bestehenden Kosten und Lasten sowie um die Zinsbelastungen, die durch den Erwerb der anderen Hälfte anfallen5.
159
pp) Der geldwerte Vorteil, der dadurch entsteht, dass der Arbeitgeber einen Dienstwagen zur Verfügung stellt, ist ein nach § 287 Abs. 1 ZPO zu schätzender Einkommensbestandteil. Die Überlassung eines Fahrzeugs durch den Arbeitgeber zur Eigennutzung während der Freizeit stellt eine 1 2 3 4
BGH v. 5.4.2000 – XII ZR 96/98, FamRZ 2000, 950 (952). BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986 ff. = FamRB 2002, 3. BGH v. 11.4.1990 – XII ZR 42/89, FamRZ 1990, 989 (991). BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986 (991) = FamRB 2002, 3; zu Erträgen aus einem im Zugewinnausgleich erworbenen Vermögen, vgl. BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 = FamRB 2007, 290. 5 BGH v. 1.12.2004 – XII ZR 75/02, FamRZ 2005, 1159 (1161) = FamRB 2005, 286 und FamRB 2005, 287.
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Einkommensermittlung
Rn. 161
Kap. 6 A
dem unterhaltspflichtigen Einkommen zuzurechnende Sachzuwendung dar. Nach den Bewertungsrichtlinien des Steuer- und Sozialversicherungsrechts ist der private Nutzwert pauschal mit monatlich 1 % des auf volle 100 Euro abgerundeten Listenpreises des Fahrzeugs anzusetzen, § 8 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 4 EStG. Kann das Fahrzeug auch für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte genutzt werden, erhöht sich der Wert für jeden Kilometer um 0,03 %. Der Monatswert muss auch dann angesetzt werden, wenn das Fahrzeug dem Arbeitnehmer im Kalendermonat nur zeitweise zur privaten Nutzung zur Verfügung steht, zB bei Überlassung im Laufe eines Monats. Für volle Kalendermonate, in denen dem Arbeitnehmer kein Dienstwagen zur Verfügung steht, brauchen die Monatsbeträge nicht angesetzt werden. Der unterhaltsrechtlich als Einkommensbestandteil einzusetzende und 160 nach § 287 Abs. 1 ZPO zu schätzende Nutzwert des Dienstwagens ist indes nicht identisch mit dem steuerlichen Gehaltsanteil und wird durch die mit ihm verbundene Steuermehrbelastung nicht erschöpft1. Es kann nicht unterstellt werden, dass ein Unterhaltsschuldner sich einen gleich teuren und repräsentativen Pkw angeschafft hätte, wenn ihm ein Dienstwagen nicht zur Verfügung gestellt worden wäre. Maßgebend ist daher die Ersparnis bei den verbrauchsunabhängigen Kosten, die dem Unterhaltsschuldner durch die Möglichkeit der Privatnutzung des Dienstwagens entsteht, weil er hierdurch von der Anschaffung und Unterhaltung eines seinem Einkommen, seinen Unterhaltspflichten und seinen laufenden Verbindlichkeiten entsprechenden Fahrzeugs freigestellt worden ist. Unter Berücksichtigung der Steuermehrbelastung sind idR Beträge zwischen 150 Euro und 300 Euro angemessen2. Ein Anhaltspunkt für die Schätzung des Nutzvorteils eines Dienstwagens kann die ADAC-Tabelle sein3. Übernimmt der Arbeitgeber auch die Benzinkosten, kann es gerechtfertigt sein, wenn der Ansatz pauschaler berufsbedingter Aufwendungen entfällt4. Wurde der Vorteil der privaten Pkw-Nutzung bereits in der Gewinn- und Verlustrechnung gewinnerhöhend berücksichtigt, kann dem sonstigen Einkommen des Pflichtigen nicht zusätzlich ein Betrag hinzugerechnet werden5.
1 OLG München v. 19.2.1999 – 12 UF 1545/98, FamRZ 1999, 1350 (1351); OLG Karlsruhe v. 2.8.2006 – 16 WF 80/06, FamRZ 2006, 1759 = FamRB 2007, 6; vgl. auch OLG Bamberg v. 4.1.2007 – 2 UF 182/06, FamRZ 2007, 1818. 2 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739 (1745) = FamRB 2008, 293 und FamRB 2008, 294 billigt die Hinzurechnung von 200 Euro für die private Nutzung eines dienstlich zur Verfügung gestellten Pkw. 3 OLG Zweibrücken v. 25.10.2007 – 6 UF 138/06, FamRZ 2008, 1655; aA OLG Hamm v. 30.10.2008 – 2 UF 43/08, FamRZ 2009, 981. 4 OLG München v. 19.2.1999 – 12 UF 1545/98, FamRZ 1999, 1350. 5 OLG Celle v. 7.2.2008 – 17 UF 203/07, FamRZ 2008, 997.
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161
Kap. 6 A Rn. 162
Einkommensermittlung
c) Abzugsposten im Einzelnen aa) Lohn, Einkommen- und Kirchensteuer sowie Solidaritätszuschlag 162
Nach dem In-Prinzip1 sind Steuern nur in der Höhe abzuziehen, in der sie im maßgeblichen Kalenderjahr tatsächlich entrichtet wurden2. Steuererstattungen und Steuernachzahlungen werden in dem Jahr berücksichtigt, in welchem sie tatsächlich geflossen sind. Eine fiktive Steuerberechnung ist nur ausnahmsweise durchzuführen.
163
Der Steuervorteil aufgrund des begrenzten Realsplittings nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG ist erst zu berücksichtigen, wenn er eingetreten ist. Allerdings besteht die Obliegenheit, die Steuervorteile des begrenzten Realsplittings (derzeit können Unterhaltsleistungen iHv. maximal 13 805 Euro jährlich als Sonderausgaben in Ansatz gebracht werden) in Anspruch zu nehmen, wenn der Berechtigte seine Zustimmung erteilt3. Nimmt der Verpflichtete aber trotz Zustimmung des Berechtigten die Vorteile des Realsplittings nicht in Anspruch, ist sein Einkommen fiktiv um den Steuervorteil zu erhöhen, den er bei Geltendmachung des Realsplittings erlangt hätte. Die Inanspruchnahme eines Freibetrags kann dem Unterhaltspflichtigen aber nur dann angesonnen werden, wenn die betreffenden Belastungen durch – freiwillige Zahlung, – Anerkenntnis oder – gerichtlicher Verpflichtung feststeht4.
Û
Praxistipp: Die Höhe der abziehbaren Steuern kann durch die Vorlage von Jahresverdienstbescheinigungen des Arbeitgebers, welche die steuerlichen Abzüge enthalten, und durch Einkommensteuerbescheinigungen oder durch Vorlage des Ausdrucks der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung nachgeprüft werden. Bei Selbständigen sollte auch auf der Vorlage des aktuellen Vorauszahlungsbescheides bestanden werden.
1 OLG Bamberg v. 11.9.2002 – 2 WF 150/02, FamRZ 2003, 762 = FamRB 2003, 84. 2 BGH v. 24.1.1990 – XII ZR 2/89, FamRZ 1990, 499; BGH v. 31.1.1990 – XII ZR 35/89, FamRZ 1990, 503; BGH v. 28.11.1990 – XII ZR 1/90, FamRZ 1991, 670; BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197. 3 BGH v. 13.4.1988 – IVb ZR 46/87, FamRZ 1988, 820. 4 BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 33/97, FamRZ 1999, 372; BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197; BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 882 = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231.
400
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Einkommensermittlung
Rn. 167
Kap. 6 A
bb) Vorsorgeaufwendungen Bei Einkünften aus nicht selbständiger Tätigkeit sind abziehbar die Beiträge zur
164
– Rentenversicherung und berufsständischen Versicherungen, – Arbeitslosenversicherung, – Kranken- und Pflegeversicherung, – Unfallversicherung und – betrieblichen Altersvorsorge. Es kommt auf die aktuelle Höhe der Aufwendungen an1. Bei der gesetzlichen Krankenversicherung kann nur der Arbeitnehmeranteil abgesetzt werden. Die gleichen Grundsätze gelten bei der privaten Krankenversicherung: Den Zahlungen des Arbeitnehmers an seinen privaten Krankenversicherer sind die dem Arbeitnehmer von dessen Arbeitgeber erstatteten Beiträge, die regelmäßig aus der Gehaltsabrechnung ersichtlich sind, gegenzurechnen. Gleiches gilt hinsichtlich der Pflegeversicherungsbeiträge.
165
Die Beitragsbemessungsgrenze zur gesetzlichen Rentenversicherung und zur Arbeitslosenversicherung beträgt im Jahr 2012 in den alten Bundesländern monatlich 5600 Euro, jährlich 67 200 Euro, in den neuen Bundesländern monatlich 4800 Euro, jährlich 57 600 Euro. Der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung lag seit 1.1.2008 bei 19,9 %, er wurde zum 1.1.2012 auf 19,6 % gesenkt. Der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung bleibt für 2012 bei 3,0 %. Die Beitragsbemessungsgrenze zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung liegt seit 1.1.2012 bei monatlich 3825 Euro, jährlich 45 900 Euro.
166
Neben gesetzlichen und betrieblichen Aufwendungen für die Altersvor- 167 sorge können teilweise zusätzlich freiwillige Versicherungsleistungen abgezogen werden. Die bisherige Prämisse, durch die aus dem Erwerbseinkommen abzuführenden Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung sowie die Durchführung des Versorgungsausgleichs werde eine angemessene Altersvorsorge erreicht, erweist sich als nicht mehr haltbar. Vielmehr hat sich zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Lebensstandard im Alter nur dann zu sichern ist, wenn neben der primären Altersvorsorge durch die gesetzliche Rentenversicherung noch weitere private Leistungen für eine zusätzliche Altersvorsorge erbracht werden. Die zusätzliche, auf Freiwilligkeit und Eigeninitiative beruhende Altersvorsorge wird vom Staat mit Zulagen und Steuererleichterungen, ua. durch die im Einkommensteuerrecht geregelte sog. Riester-Rente, gefördert. Dabei kann der Berechtigte zwischen einer privaten oder betrieblichen Altersvorsorgeart wählen. 1 BGH v. 30.1.1985 – IVb ZR 70/83, FamRZ 1985, 471; BGH v. 26.9.1990 – XII ZR 45/89, FamRZ 1991, 304.
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401
Kap. 6 A Rn. 168 168
Einkommensermittlung
Mit Rücksicht auf diese Entwicklung hat der BGH bei der Inanspruchnahme auf Zahlung von Elternunterhalt Leistungen des Unterhaltspflichtigen für eine zusätzliche Altersvorsorge als vom Einkommen abzugsfähig anerkannt, soweit bis zu weiteren 5 % des Bruttoeinkommens zusätzliche Altersvorsorge betrieben wird1. Auch beim Ehegatten- und Kindesunterhalt erkennt der BGH Aufwendungen der zusätzlichen Altersvorsorge von bis zu 4 % des Gesamtbruttoeinkommens des Vorjahres als angemessene zusätzliche Altersvorsorge an. Dabei kommt es nicht darauf an, ob bereits während der Ehezeit Beiträge für eine solche Altersvorsorge gezahlt wurden2. Darüber hinausgehende Leistungen müssen unterhaltsrechtlich außer Betracht bleiben. Ob bereits während der Ehezeit höhere Beiträge als 4 % des Gesamtbruttoeinkommens des Vorjahres gezahlt wurden, spielt keine Rolle, da dies sonst auf eine einseitige Vermögensbildung des unterhaltspflichtigen Ehegatten hinauslaufen würde. Voraussetzung ist aber stets, dass die Aufwendungen für eine zusätzliche Altersvorsorgemaßnahme auch tatsächlich erfolgen. Die Berücksichtigung fiktiver Beträge ist nicht möglich.
Û
Praxistipp: Es sollte stets darauf geachtet werden, dass die Zahlungen in eine zusätzliche Altersvorsorgemaßnahme durch Vorlage des Vertrags und aktueller Zahlungsbelege nachgewiesen wird.
169
Im Übrigen hängt die Berücksichtigungsfähigkeit davon ab, ob der als vorrangig anzusehende Elementarunterhalt und der der primären Altersvorsorge dienende Altersvorsorgeunterhalt aufgebracht werden können. Außerdem obliegt die Bemessung des Unterhalts einer abschließenden Angemessenheitsprüfung3. Diese zusätzliche Altersvorsorge kann beispielsweise über eine Lebensversicherung, eine Direktversicherung nach dem BetrAVG, einen Sparplan, Wertpapiere, Fonds, soweit es sich nicht um rein spekulative Anlageformen handelt oder die Tilgung von Immobilienschulden erfolgen. Abziehbar ist eine Gesamtaltersversorgung bis zu 24 % des Bruttoeinkommens, dh. bei Nichtselbständigen mit einem Einkommen unter der Beitragsbemessungsgrenze neben der gesetzlichen Rente zusätzlich 4 %, ebenso bei Beamten, bei Selbständigen einschließlich einer eventuell vorhandenen berufsständischen Versorgung 24 %4. Bei einem von der gesetzlichen Rentenversicherung befreiten Gesell-
1 BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 149/01, FamRZ 2004, 792 (793) = FamRB 2004, 213. 2 BGH v. 27.5.2009 – XII ZR 111/08, FamRZ 2009, 1207 = FamRB 2009, 234 und FamRB 2009, 235. 3 BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 (1821) = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354; BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197. 4 Gerhardt, FamRZ 2007, 945 (947); OLG Hamm v. 30.10.2008 – 2 UF 43/08, FamRZ 2009, 981 (984).
402
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Einkommensermittlung
Rn. 172
Kap. 6 A
schafter und Geschäftsführer einer GmbH ist es gerechtfertigt, 24 % des Bruttoeinkommens für die Altersvorsorge zu berücksichtigen1. Bei Selbständigen sind Beiträge für Altersvorsorge, Kranken- und Pflege- 170 versicherung sowie Unfallversicherung abzugsfähig, soweit diese angemessen sind. Bei der Kranken- und Pflegeversicherung sind entsprechende Kosten einer Privatversicherung einschließlich Zusatzversicherung und Eigenanteilen angemessen. Altersvorsorgeaufwendungen sind angemessen, wenn sie sich im Verhältnis zu den erzielten Einkünften an der gesetzlichen Rentenversicherung orientieren. In Anlehnung an die Beitragssätze der gesetzlichen Rentenversicherung ist ein Anteil von 20 % des Bruttoeinkommens als primäre Altersvorsorge und bis zu 4 % des Bruttoeinkommens für eine über die primäre Altersvorsorge hinausgehende zusätzliche Altersvorsorge zu berücksichtigen, so dass der Selbständige die Summe dieser primären und zusätzlichen Altersvorsorge, also 24 % des Bruttoeinkommens, vorab für seine Altersvorsorge aufwenden darf2. Entscheidend ist, dass die Aufwendungen tatsächlich geleistet werden. Bei Selbständigen können auch Beiträge zu einer freiwilligen Lebensversicherung als Vorsorgeaufwendungen anerkannt werden, wenn keine sonstigen Ansprüche auf eine angemessene Altersvorsorge bestehen und es sich bei der Lebensversicherung um keine Übersicherung handelt. Sind bereits während der Ehe Aufwendungen für die Altersvorsorge getätigt worden, besteht in dieser Höhe ein Indiz für die Angemessenheit der Aufwendungen. Werden die Beträge nach der Trennung erheblich erhöht, muss in jedem Einzelfall überprüft werden, ob die erhöhten Beträge berücksichtigungsfähig sind.
171
Leben die Ehegatten nur getrennt, sind sie aber noch nicht geschieden, 172 sind der nicht erwerbstätige Ehegatte und die Kinder idR in der gesetzlichen Krankenversicherung bei dem sozialversicherungspflichtig tätigen Ehegatten beitragsfrei mitversichert, so dass dem Berechtigten kein zusätzlicher eigener Krankenvorsorgebedarf erwächst. Nach der Scheidung kann ein solcher Bedarf entstehen, denn die Mitversicherung endet mit der Rechtskraft der Scheidung (§ 9 SGB V).
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Praxistipp: Der nicht selbständig versicherte Ehegatte besitzt aber die Möglichkeit, innerhalb einer Frist von drei Monaten gegen Beitragszahlung als freiwilliges Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung beizutreten. Deshalb kann es sinnvoll sein, wenn auf Rechtsmittel gegen den Scheidungsausspruch nicht verzichtet wird, so dass der bei-
1 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739 (1745) = FamRB 2008, 293 und FamRB 2008, 294. 2 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739 (1745) = FamRB 2008, 293 und FamRB 2008, 294.
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403
Kap. 6 A Rn. 173
Einkommensermittlung
tragsfreie Krankenversicherungsschutz auch noch nach Verkündung des Scheidungsurteils bis zu dessen Rechtskraft fortbesteht. cc) Berufsbedingte Aufwendungen 173
Unterhaltsrechtlich stellen die Werbungskosten die berufsbedingten Aufwendungen dar. Steuerrechtlich wird nach § 9a EStG rückwirkend ab 1.1.2011 eine Werbungskostenpauschale iHv. 1000 Euro zuerkannt. Berufsbedingte Aufwendungen sind nur bei Einkünften aus nicht selbständiger Tätigkeit zu berücksichtigen. Es handelt sich insbesondere um Kosten für die Fahrten zum Arbeitsplatz, Anschaffung von Bekleidung, außerhäusliche Verpflegung, Fachliteratur, Beiträge zu Berufsverbänden etc. Soweit sie zur Erzielung des Einkommens erforderlich sind und vom Arbeitgeber nicht erstattet werden, sind sie konkret darzulegen. Eine Pauschalierung setzt voraus, dass berufsbedingte Aufwendungen entstehen. Dies ist bei Einkünften aus Krankengeld nicht der Fall1. Sie müssen sich von den privaten Lebenshaltungskosten nach objektiven Merkmalen eindeutig abgrenzen lassen2 und sind im Rahmen des Angemessenen vom Nettoeinkommen aus nicht selbständiger Tätigkeit abzuziehen. Bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte kann eine Pauschale von 5 % des Nettoeinkommens angesetzt werden. Übersteigen die berufsbedingten Aufwendungen diese Pauschale, sind sie im Einzelfall konkret darzulegen.
174
Einige Unterhaltsleitlinien setzen Untergrenzen und Obergrenzen an, andere Leitlinien, beispielsweise die Süddeutschen Unterhaltsleitlinien, enthalten dagegen keine Mindest- und Höchstbegrenzungen. Eventuell erfolgt eine Einschränkung im Mangelfall.
175
Neben der Pauschale können keine Einzelposten gesondert in Abzug gebracht werden. Mit der Inanspruchnahme der Pauschale sind alle berufsbedingten Aufwendungen abgegolten.
176
Der BGH hat in mehreren Entscheidungen die pauschale Kürzung des Nettoeinkommens von 5 % bis 10 % für berufsbedingte Aufwendungen im Rahmen des tatrichterlichen Ermessens gebilligt3.
177
Werden berufsbedingte Aufwendungen mit einer Pauschale des Nettoeinkommens in Ansatz gebracht, muss das Bruttoeinkommen vor der Be-
1 BGH v. 19.11.2008 – XII ZR 129/06, FamRZ 2009, 307 (308) = FamRB 2009, 104 und FamRB 2009, 105. 2 BGH v. 21.1.2009 – XII ZR 54/06, FamRZ 2009, 762 (766) = FamRB 2009, 172 und FamRB 2009, 173; BGH v. 22.10.2009 – XII ZR 24/04, FamRZ 2007, 193. 3 BGH v. 23.11.1983 – IVb ZR 15/82, FamRZ 1984, 151 (153); BGH v. 26.5.1982 – IVb ZR 715/80, FamRZ 1982, 887; BGH v. 7.4.1982 – IVb ZR 673/80, FamRZ 1982, 579 (581); BGH v. 19.7.2000 – XII ZR 161/98, FamRZ 2000, 1492 (1494); BGH v. 6.2.2002 – XII ZR 20/00, FamRZ 2002, 536 (537) = FamRB 2002, 132.
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Rn. 180
Kap. 6 A
rechnung der Pauschale um Steuern und Vorsorgeaufwendungen bereinigt werden. Wird die Pauschale in Ansatz gebracht, ist damit auch ein Gewerkschaftsbeitrag abgegolten, der nicht neben der Pauschale zusätzlich berücksichtigt werden kann.
178
Bei der konkreten Bemessung berufsbedingter Aufwendungen müssen 179 alle Aufwendungen nach Art und Höhe dargelegt und bei Bestreiten nachgewiesen werden. Die Aufwendungen müssen eindeutig von privaten Lebenshaltungskosten abgegrenzt werden können. Dass bestimmte Werbungskosten steuerlich anerkannt werden, weil sie durch die Kosten der Berufsausübung veranlasst sind, reicht unterhaltsrechtlich nicht aus1. Die Höhe eines dem Grunde nach nachgewiesenen oder behaupteten Aufwandes kann nach § 287 Abs. 1 ZPO geschätzt werden. Zu den weiteren konkret darzulegenden berufsbedingten Aufwendungen gehören: – Abschreibungen der Anschaffungskosten von berufsbedingt benötigten Gegenständen, – Anzeigen und sonstige Bewerbungskosten eines Arbeitslosen, – Arbeitsmittel wie Telefonkosten, Arbeitskleidung, Fachliteratur, – Beiträge zu Berufsverbänden und Gewerkschaften, – Beiträge für Betriebsratstätigkeit, – Fahrtkosten, – Fortbildungskosten, – Kinderbetreuungskosten, soweit die Betreuung durch Dritte infolge der Berufstätigkeit erforderlich ist, – Reisekosten für beruflich veranlasste Reisen, soweit diese nicht vom Arbeitgeber erstattet werden, – Steuerberaterkosten, soweit die Zuziehung eines Steuerberaters zweckdienlich erscheint, denn geringere Steuern kommen auch dem anderen Ehegatten zugute, – Taxikosten, sofern sie beruflich notwendig und nicht unangemessen hoch sind, – Telefonkosten für berufliche Zwecke, – Umzugskosten, soweit sie beruflich veranlasst sind; hiervon wird man bei einer Verlegung der Arbeitsstätte an einen anderen Ort, idR aber nicht bei einem Wohnungswechsel innerhalb desselben Ortes auszugehen haben.
1 BGH v. 21.1.2009 – XII ZR 54/06, FamRZ 2009, 762 = FamRB 2009, 172 und FamRB 2009, 173.
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181
Werden Fahrtkosten als konkret angefallener berufsbedingter Mehraufwand geltend gemacht, können die Kosten für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel anerkannt werden. Wird ein eigenes Fahrzeug benutzt, muss nachgewiesen werden, dass der Gebrauch zur Ausübung der beruflichen Tätigkeit notwendig ist. Dies ist der Fall, wenn die Arbeitsstätte nicht oder nicht zumutbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden kann, wenn das Fahrzeug für die Berufstätigkeit benötigt wird oder wenn der Verpflichtete aus persönlichen Gründen, beispielsweise Krankheit oder Behinderung, auf die Benutzung eines eigenen Pkw dringend angewiesen ist.
182
Für die notwendigen Kosten der berufsbedingten Nutzung eines Kraftfahrzeugs kann der nach den Sätzen des § 5 Abs. 2 Nr. 2 JVEG anzuwendende Betrag von derzeit 0,30 Euro pro gefahrenen Kilometer angesetzt werden. In der Kilometerpauschale sind auch regelmäßig sämtliche PkwKosten einschließlich derjenigen für Abnutzung und Finanzierungsaufwand enthalten1. Sofern im Unterhaltsverfahren mit dem Ansatz der Kilometerpauschale gearbeitet wird, können daneben keine Kreditkosten für die Anschaffung des Fahrzeugs berücksichtigt werden.
183
Bei Selbständigen werden alle anfallenden Ausgaben bereits als Betriebsausgaben berücksichtigt, so dass daneben keine berufsbedingten Aufwendungen anfallen.
184
Berufsbedingte Aufwendungen des geschäftsführenden Gesellschafters einer GmbH sind jedenfalls dann zu berücksichtigen, wenn in die Unterhaltsberechnung nur das Einkommen aus der Geschäftsführertätigkeit, nicht aber sonstige Einkünfte aus der Gesellschaft eingestellt werden2.
185
Bei Renteneinkünften fallen ebenfalls keine berufsbedingten Aufwendungen an, deshalb erfolgt kein pauschaler oder konkreter Abzug. dd) Mehrbedarf für Krankheit, Behinderung und Alter
186
Ein Mehrbedarf kann bestehen, wenn aufgrund konkreter Umstände des Einzelfalls zusätzliche Mittel für besondere Aufwendungen benötigt werden. Diese müssen vorhersehbar sein und regelmäßig anfallen. Ein unterhaltsrechtlich relevanter Mehrbedarf kann infolge Krankheit, Unfall, Alter, Pflegebedürftigkeit, Gebrechlichkeit sowie aufgrund von Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung entstehen. Die Kosten für eine Haushaltshilfe aus gesundheitlichen Gründen können ebenfalls einen Mehrbedarf darstellen3. 1 BGH v. 1.3.2006 – XII ZR 157/03, FamRZ 2006, 846 (847) = FamRB 2006, 199; OLG Hamm v. 19.7.2000 – 6 UF 296/99, FamRZ 2000, 1367; OLG Hamm v. 20.6.1997 – 11 UF 189/96, FamRZ 1998, 561. 2 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739 (1746) = FamRB 2008, 293 und FamRB 2008, 294. 3 BGH v. 23.11.1983 – IVb ZR 15/82, FamRZ 1984, 151.
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Rn. 192
Kap. 6 A
Ein behaupteter Mehrbedarf muss substantiiert vorgetragen und nachgewiesen werden, indem konkrete Tatsachen dargelegt werden. IdR kann durch die Vorlage von Belegen über die Ausgaben der konkrete Nachweis über Art und Höhe des Mehrbedarfs geführt werden. Pauschalen können nicht berücksichtigt werden1.
187
Ein Mehrbedarf wird berücksichtigt, soweit er nach Prüfung der näheren 188 Umstände angemessen ist. Wird eine Sozialleistung nach § 1610a BGB erbracht, kommt ein Mehrbedarf nur in Betracht, wenn die tatsächlich anfallenden Kosten die Sozialleistung übersteigen. Ein Mehrbedarf kann sowohl beim Berechtigten als auch beim Verpflichteten anfallen. Beim Verpflichteten erfolgt ein Abzug vom Nettoeinkommen. Beim Berechtigten wird, wenn er über Einkommen verfügt, der Mehrbedarf ebenfalls vom Einkommen abgezogen. Liegt kein Einkommen vor, ist der Mehrbedarf zusätzlich zur Ehegattenunterhaltsquote an den Berechtigten zu bezahlen. Allerdings wird der in diesem Fall zu zahlende Mehrbedarf vom Einkommen des Verpflichteten abzuziehen sein, bevor die Unterhaltsquote gebildet wird.
189
ee) Berücksichtigungswürdige Schulden Schulden sind im Rahmen der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten zu 190 berücksichtigen, §§ 1581 S. 1, 1603 Abs. 1 BGB. Verpflichtungen im Sinne dieser Bestimmungen sind vor allem Schulden. Soweit der Unterhaltspflichtige fällige Verbindlichkeiten zu begleichen hat, treten diese in Konkurrenz zu dem Lebensbedarf des Berechtigten und des Pflichtigen. Der Unterhaltsanspruch des Berechtigten genießt deshalb keinen Vorrang vor anderen Verbindlichkeiten des Pflichtigen2. Da nach §§ 1581, 1603 BGB durch die Schulden die Leistungsfähigkeit be- 191 schränkt wird, führt dies, wenn keine zusätzlichen Mittel zur Deckung vorhanden sind, in vielen Fällen zu einem Mangelfall. Nach den Grundsätzen der Mangelfallberechnung ist dann im Wege einer Billigkeitsabwägung zu beurteilen, ob und in welchem Umfang die Schulden noch berücksichtigungswürdig sind und inwieweit es andererseits angebracht ist, den Unterhalt zu kürzen. Längerfristige ehebedingte Verbindlichkeiten, die noch vor der Trennung mit Einverständnis des anderen Ehegatten entstanden sind und die auch bei Fortbestehen der Ehe aus dem gemeinsamen Einkommen zu bezahlen gewesen wären, können auch im Rahmen der Bedarfsbemessung eine Rolle spielen3. Denn diese Mittel hätten bei Fortbestand der Ehe nicht 1 OLG Hamm v. 21.8.1998 – 7 UF 39/97, FamRZ 1999, 1349. 2 BGH v. 9.5.1984 – IVb ZR 74/82, FamRZ 1984, 657; BGH v. 7.4.1982 – IVb ZR 681/80, FamRZ 1982, 678. 3 BGH v. 16.4.1997 – XII ZR 233/95, FamRZ 1997, 806; BGH v. 19.10.1988 – IVb ZR 97/87, FamRZ 1989, 159.
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Kap. 6 A Rn. 193
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zum Konsum zur Verfügung gestanden und mindern deshalb das Einkommen. Dies rechtfertigt es, die Raten für solche Verbindlichkeiten vom Einkommen wie Steuern und Vorsorgeaufwendungen abzuziehen. 193
Typische ehebedingte Verbindlichkeiten sind: – Voreheliche Schulden eines Ehegatten, die auch nach der Eheschließung weiter bezahlt werden mussten, – bis zur Trennung begründete eheliche Schulden, insbesondere Konsumkredite oder Immobilienverbindlichkeiten, – Kredite, die nach der Trennung zur Deckung von Ausgaben aus der Zeit des Zusammenlebens aufgenommen wurden.
194
Neben Krediten für Konsumgüter wie zB Kraftfahrzeug, Möbel, Urlaubsreisen gilt dies auch für Verbindlichkeiten zur Vermögensbildung, insbesondere für im Zusammenhang mit dem Erwerb von Immobilieneigentum stehende Schulden. Alle bei der Trennung noch zu leistenden Abzahlungen für ein Eigenheim mindern den Wohnwert, soweit sie nach einem objektiven Maßstab wirtschaftlich vertretbar sind.
195
Bei Selbständigen gilt im Ergebnis für betriebliche Aufwendungen das Gleiche, denn Darlehen für notwendige Anschaffungen kürzen als Ausgaben den Gewinn. Bei Selbständigen ist jedoch darauf zu achten, dass die Zinsen bereits in der Einnahmen-Überschuss-Rechnung nach § 4 Abs. 3 EStG bzw. in der Gewinn- und Verlustrechnung berücksichtigt wurden.
196
Abzugsfähig sind nicht von vornherein sämtliche Schulden, die der Unterhaltspflichtige zu tilgen hat, sondern nur die unterhaltsrechtlich berücksichtigungsfähigen Verbindlichkeiten. Ob und inwieweit dieses Merkmal im Einzelfall erfüllt ist, muss unter umfassender Interessenabwägung beurteilt werden. In diese Interessenabwägung sind der Zeitpunkt und die Art des Entstehens der Verbindlichkeiten, der Zweck der Verbindlichkeiten, die Interessen des Pflichtigen an der Tilgung der Verbindlichkeiten, die Möglichkeit des Pflichtigen die monatlichen Zahlungen auf die Verbindlichkeit zu reduzieren und die Verbindlichkeiten dadurch zeitlich zu strecken, die Kenntnis des Pflichtigen von Grund und Höhe des Unterhaltsanspruchs zum Zeitpunkt der Begründung der Verbindlichkeiten und die Begründung der Verbindlichkeiten im Einvernehmen mit dem Berechtigten mit einzubeziehen.
197
Soweit es sich um Unterhalt minderjähriger unverheirateter Kinder handelt, denen der unterhaltspflichtige Elternteil nach § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB verschärft unterhaltspflichtig ist, muss ferner beachtet werden, dass diesen Kindern im Regelfall jede Möglichkeit fehlt, durch eigene Anstrengungen zur Deckung ihres notwendigen Unterhaltsbedarfs beizutragen. Auf Schulden, die leichtfertig, für luxuriöse Zwecke oder ohne
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Rn. 203
Kap. 6 A
verständlichen Grund eingegangen wurden, kann sich der Unterhaltspflichtige grundsätzlich nicht berufen1. Der Bedarf des Berechtigten erhöht sich nicht dadurch, dass er Mittel für 198 eine neue Schuldentilgung benötigt. Nach der Trennung aufgenommene und nichtprägende Schulden des Berechtigten haben keinen Einfluss auf dessen Bedürftigkeit. Nichtprägende Verbindlichkeiten aus einem nach der Trennung aufge- 199 nommen Darlehen zur Anschaffung von Hausratsgegenständen sind nur abzugsfähig, wenn das Eingehen der Verbindlichkeit unvermeidbar war2. Nur wenn und soweit Anschaffungen zur normalen Haushaltsführung dringend erforderlich sind und nicht mit den zur Verfügung stehenden Mitteln finanziert werden können, kann wegen der betreffenden Aufwendungen ein Abzug in Betracht kommen. Dies setzt voraus, dass das Eingehen der Verbindlichkeiten unvermeidbar war und kostengünstigere Alternativen nicht zur Verfügung standen, was der Unterhaltspflichtige im Einzelfall darzulegen und zu beweisen hat3. Die Darlegungs- und Beweislast für die Berücksichtigungsfähigkeit von 200 Verbindlichkeiten trägt der Unterhaltspflichtige, da es im Ergebnis um eine Herabsetzung seiner Leistungsfähigkeit geht. ff) Vorwegabzug des Kindesunterhalts Unterhaltszahlungen für eheliche Kinder und sonstige Unterhaltsberechtigte, für die bereits während bestehender Ehe Leistungen erbracht wurden, sind ehebedingte Verbindlichkeiten. Der Kindesunterhalt ist zur Errechnung des Ehegattenunterhalts vorab vom Einkommen des Pflichtigen abzuziehen. Der Vorwegabzug bei der Bedarfsermittlung gilt für gemeinschaftliche minderjährige Kinder und für Adoptivkinder.
201
Unterhalt für ein nicht gemeinsames Kind ist vorweg abzuziehen, wenn der Unterhalt bereits während der Ehe bezahlt wurde und der Kindesunterhalt für dieses Kind damit nie für den ehelichen Lebensbedarf zur Verfügung stand4.
202
Der für ein während der Trennungszeit geborenes außereheliches Kind gezahlte Unterhalt ist vorweg in Abzug zu bringen5.
203
1 BGH v. 25.10.1995 – XII ZR 247/94, FamRZ 1996, 160 (161); BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 1/91, FamRZ 1992, 797; BGH v. 15.11.1989 – IVb ZR 3/89, FamRZ 1990, 283; BGH v. 25.1.1984 – IVb ZR 43/82, FamRZ 1984, 358 (360). 2 OLG Köln v. 20.4.2000 – 14 WF 45/00, FamRZ 2000, 1434. 3 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 117/96, FamRZ 1998, 1501 (1503). 4 BGH v. 25.2.1987 – IVb ZR 36/86, FamRZ 1987, 456 (458). 5 BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 98/97, FamRZ 1999, 367.
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Kap. 6 A Rn. 204
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204
Unterhalt für ein nach der Trennung geborenes1 oder adoptiertes Kind2 ist bei der Bedarfsermittlung vorweg abzuziehen. Die Berücksichtigung einer hierdurch bedingten Einkommensminderung findet ihre Grenze erst in einem unterhaltsbezogen vorwerfbaren Verhalten. Dies ist nicht der Fall, wenn ein geschiedener Ehegatte eine neue Familie gründet. In solchen Fällen wäre es verfehlt, die Unterhaltspflicht für ein neu hinzugekommenes Kind bei der Bemessung des Unterhaltsbedarfs eines früheren Ehegatten unberücksichtigt zu lassen3.
205
Hieran ändert auch die Entscheidung des BVerfG4 nichts. Nach Auffassung des BVerfG verstößt die Rechtsprechung des BGH zu den wandelbaren Lebensverhältnissen unter Anwendung der Dreiteilungsmethode gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil der Gesetzgeber mit der Ausrichtung des Unterhaltsmaßes an den ehelichen Lebensverhältnissen auch auf die individuellen Einkommensverhältnisse der Ehegatten im Zeitpunkt der Rechtskraft der Scheidung Bezug genommen hat. Ein während der Trennungszeit geborenes nichteheliches Kind hat danach aber die ehelichen Lebensverhältnisse zum Zeitpunkt der Rechtskraft der Ehescheidung geprägt5. Die Unterhaltsverpflichtung gegenüber einem nach Rechtskraft der Ehescheidung geborenen Kind ist als sonstige Verpflichtung i.S.v. § 1581 S. 1 BGB zu berücksichtigen. Die gem. § 1581 BGB vorzunehmende Billigkeitsprüfung führt dazu, dass wegen des Vorrangs des minderjährigen Kindes gem. § 1609 Nr. 1 BGB sich der Erstehegatte zur Hälfte an dem für ein nach der Scheidung geborenes Kind zu beteiligen hat, was rechnerisch einem Vorwegabzug vor Errechnung des Ehegattenunterhaltsanspruchs entspricht6. Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man den Begriff der ehelichen Lebensverhältnisse gem. § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB dahingehend auslegt, dass auch nach der Scheidung geborene Kinder keine erheblich vom Normalverlauf abweichende Entwicklung darstellen und somit eine bedarfsprägende Wirkung vorliegt7.
206
Vorweg abzuziehen ist auch der Unterhalt für ein volljähriges Kind8. Kindesunterhalt für nachrangige volljährige Kinder darf bei der Bedarfsermittlung nur abgezogen werden, wenn der angemessene Bedarf des Ehegatten gesichert ist9. 1 BGH v. 28.1.2009 – XII ZR 119/07, FamRZ 2009, 579 (582) = FamRB 2009, 178 und FamRB 2009, 138. 2 BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35. 3 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327. 4 BVerfG v. 25.1.2011 – BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 = FamRB 2011, 66. 5 OLG Brandenburg v. 22.3.2011 – 10 UF 85/09, FamRZ 2011, 1301. 6 Maier, FuR 2011, 184. 7 Vgl. Borth, FamRZ 2011, 447. 8 BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 68/84, FamRZ 1986, 553 (555); BGH v. 25.2.1987 – IVb ZR 36/86, FamRZ 1987, 456 (458). 9 OLG München v. 17.2.2000 – 12 WF 622/00, FamRZ 2001, 1618.
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Rn. 209
Kap. 6 A
Maßgebend für die Höhe des Vorwegabzugs war bis 31.12.2007 der volle 207 Tabellenunterhalt ohne anteilige Verrechnung des Kindergeldes1, und zwar idR ohne Rücksicht auf eine Titulierung des Kindesunterhalts2. Seit dem 1.1.2008 wird nicht mehr der Tabellenunterhalt, sondern sowohl der Unterhalt für volljährige als auch für minderjährige Kinder mit dem tatsächlichen Zahlbetrag vorweg abgezogen3. Aufgrund der Neuregelung des § 1612b Abs. 1 Nr. 1 BGB ist das Kindergeld künftig bedarfsdeckend anzusetzen, wodurch sich nach dem Willen des Gesetzgebers auch die Verteilungsmasse für den Ehegattenunterhalt erhöht. Auch beim volljährigen Kind ist nicht der volle Tabellenbetrag, sondern der um das staatliche Kindergeld verminderte Tabellenbetrag vorweg in Abzug zu bringen. Denn das staatliche Kindergeld ist in voller Höhe auf den Unterhaltsbedarf des volljährigen Kindes anzurechnen4. Entfällt der Kindesunterhalt, ist er bei Feststellung der ehelichen Lebens- 208 verhältnisse auch nicht mehr in Abzug zu bringen. Die ehelichen Lebensverhältnisse folgen den Veränderungen, die sich aus dem jeweiligen Unterhaltsbedarf gemeinschaftlicher Kinder ergeben. Fällt Kindesunterhalt weg, erhöht sich der Unterhaltsbedarf, sofern nicht die frei werdenden Mittel nach objektivem Urteil der Vermögensbildung oder anderen nicht dem Lebensbedarf zuzurechnenden Zwecken dienen5. Die angemessenen Kosten des Umgangs eines barunterhaltspflichtigen 209 Elternteils mit seinem Kind können zu einer maßvollen Erhöhung des Selbstbehalts oder einer entsprechenden Minderung des unterhaltsrelevanten Einkommens führen, wenn dem Unterhaltspflichtigen das anteilige Kindergeld ganz oder teilweise nicht zugutekommt und er die Umgangskosten nicht aus den Mitteln bestreiten kann, die ihm über den notwendigen Selbstbehalt hinaus verbleiben6. Nach der früheren – auf dem Rechtszustand vor dem Inkrafttreten des KindRG am 1.7.1998 beruhenden – Rechtsprechung des BGH hatte der Umgangsberechtigte die üblichen Kosten, die ihm bei der Ausübung des Umgangsrechts entstehen, wie Fahrt-, Übernachtungs-, Verpflegungskosten und Ähnliches grundsätzlich selbst zu tragen. Er konnte deshalb diese Kosten weder unmittelbar im Wege der Erstattung noch mittelbar im Wege einer Einkom1 BGH v. 16.4.1997 – XII ZR 233/95, FamRZ 1997, 806. 2 BGH v. 12.7.1990 – XII ZR 85/89, FamRZ 1990, 1091. 3 BVerfG v. 14.7.2011 – 1 BvR 932/10, FamRZ 2011, 1490 ff. = FamRB 2011, 299; BGH v. 27.5.2009 – XII ZR 78/08, FamRZ 2009, 13 = FamRB 2009, 335, FamRB 2009, 270, FamRB 2009, 271 und FamRB 2009, 272; BGH v. 24.6.2009 – XII ZR 161/08, FamRZ 2009, 1477; BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 7/05, FamRZ 2008, 1414 = FamRB 2008, 231; BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 (966) m. Anm. Büttner = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170; OLG Hamm v. 24.1.2008 – 2 UF 166/07, FamRZ 2008, 893; OLG Celle v. 7.2.2008 – 17 UF 203/07, FamRZ 2008, 997; OLG Hamm v. 6.3.2008 – 2 UF 117/07, FamRZ 2008, 1937 = FamRB 2008, 265. 4 BGH v. 26.10.2005 – XII ZR 34/03, FamRZ 2006, 99 = FamRB 2006, 3. 5 BGH v. 20.7.1988 – XII ZR 73/89, FamRZ 1990, 1085. 6 BGH v. 23.2.2005 – XII ZR 56/02, FamRZ 2005, 706 = FamRB 2005, 163.
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mensminderung geltend machen, und zwar weder gegenüber dem unterhaltsberechtigten Kind noch gegenüber einem unterhaltsberechtigten Ehegatten1. 210
An dieser Rechtsprechung hat der BGH im Hinblick auf die zwischenzeitlich veränderte Rechtslage nicht mehr uneingeschränkt festgehalten. Nach § 1684 BGB hat einerseits das Kind das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil; andererseits ist aber auch jeder Elternteil zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt. Beides ist Ausfluss seiner Verantwortung für dessen Wohl, §§ 1618a, 1626, 1631 BGB. Da das Unterhaltsrecht dem Unterhaltspflichtigen nicht die Möglichkeit nehmen darf, sein Umgangsrecht zur Erhaltung der Eltern-Kind-Beziehung auszuüben, sind die damit verbundenen Kosten konsequenterweise unterhaltsrechtlich zu berücksichtigen, wenn und soweit sie nicht anderweitig, insbesondere nicht aus dem anteiligen Kindergeld, bestritten werden können. Deshalb ist entweder der Selbstbehalt maßvoll zu erhöhen oder das unterhaltsrechtlich relevante Einkommen um die Kosten des Umgangs zu vermindern, wenn dem Pflichtigen das Kindergeld ganz oder teilweise nicht zugutekommt und er die Kosten des Umgangs sonst nicht bestreiten kann2. gg) Berücksichtigung vermögensbildender Aufwendungen
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Ob und ggf. in welchem Umfang die Ehegatten Teile ihres Einkommens nicht verbrauchen, sondern für Vermögensbildung einsetzen, hängt von der individuellen Entscheidung der Ehegatten ab. Allgemeingültige Erfahrungssätze gibt es hierzu nicht3. Bei besonders hohen Einkünften ist es regelmäßig nicht angemessen, diese in vollem Umfang zur Deckung des laufenden Unterhaltsbedarfs zu verwenden, soweit die Ehegatten bereits während des Zusammenlebens Teile des Einkommens für Vermögensbildung eingesetzt haben, wobei hinsichtlich der Höhe in jedem Einzelfall unter Anwendung eines objektiven Maßstabs zu prüfen ist, ob es sich um ein übermäßiges Sparen handelt. Bei der Bemessung des Unterhalts ist ein objektiver Maßstab anzulegen und derjenige Lebensstandard entscheidend, der vom Standpunkt eines vernünftigen Betrachters bei Berücksichtigung der konkreten Einkommens- und Vermögensverhältnisse angemessen erscheint. Eine aus dieser Sicht zu dürftige Lebensführung bleibt ebenso außer Betracht wie ein übertriebener Aufwand4. Bei der Bedarfsermittlung sind nach einem objektiven Maßstab vermögensbildende Ausgaben, die bereits das Konsumverhalten während des Zusammenlebens geprägt haben, als Abzugsposten zu berücksichtigen, soweit es sich um einen im Verhältnis zum Einkommen angemessenen Betrag handelt. 1 BGH v. 9.11.1994 – XII ZR 206/93, FamRZ 1995, 215 (216); BGH v. 19.6.2002 – XII ZR 173/00, FamRZ 2002, 1099 (1100) = FamRB 2002, 295. 2 BGH v. 23.2.2005 – XII ZR 56/02, FamRZ 2005, 706 = FamRB 2005, 163. 3 BGH v. 27.4.1983 – IVb ZR 372/81, FamRZ 1983, 678. 4 BGH v. 25.1.1984 – IVb ZS 43/82, FamRZ 1984, 358 (360).
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Rn. 215
Kap. 6 A
Der unterhaltsberechtigte Ehegatte kann von seinem Einkommen keine 212 vermögensbildenden Aufwendungen abziehen, weil der Pflichtige durch einen höheren Unterhalt sonst die Vermögensbildung auf Seiten des Berechtigten mitfinanzieren würde. Der Unterhalt dient nur zur Finanzierung der Lebenshaltungskosten, nicht zur Schaffung von Vermögen. Bei der Leistungsfähigkeit ist zu berücksichtigen, dass die Vermögensbil- 213 dung dem Unterhalt nicht vorgeht. Wird der Unterhaltspflichtige bei einem Abzug von vermögensbildenden Ausgaben leistungsunfähig, kommt ein Abzug nicht in Betracht. Der Unterhaltspflichtige hat zur Wahrung seiner Leistungsfähigkeit vermögensbildende Maßnahmen einzuschränken oder ganz zu unterlassen und finanzielle Belastungen abzubauen, die er aus Gründen der Vermögensbildung eingegangen ist1. Vermögensbildende Ausgaben im Rahmen der vom BGH zugebilligten ergänzenden Altersvorsorge2 sind zu berücksichtigen. 4. Einkommen bei Selbständigkeit a) Maßgeblicher Zeitraum Die Einkünfte des selbständig Tätigen unterliegen Schwankungen. Das 214 Einkommen muss auf der Grundlage einer Prognose ermittelt werden. Grundlage der Prognose ist das Durchschnittseinkommen der letzten Jahre, damit nicht ein zufällig besonders günstiges oder ungünstiges Wirtschaftsjahr als Maßstab für die Zukunft dient. IdR sind die Ergebnisse der drei dem jeweiligen Unterhaltszeitraum vorausgehenden Kalenderjahre maßgebend3. Liegen besondere Umstände vor und lassen die Ergebnisse der Vorjahre deshalb keinen zuverlässigen Schluss auf die Höhe des laufenden Einkommens zu, kann sich der Zeitraum bis auf fünf Jahre verlängern4. Es kommt im Einzelfall allerdings auch in Betracht, dass der Tatrichter das zuletzt erreichte Einkommen der Unterhaltsberechnung zugrunde legt, wenn mit einer stetigen Weiterentwicklung der Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit nicht zu rechnen ist5. b) Berechnung aa) Grundlagen Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die Feststellung des Einkommens aufgrund einer selbständigen bzw. unternehmerischen Tätigkeit enthalten das HGB, die AO und das EStG. 1 BGH v. 3.6.1987 – IVb ZR 64/86, FamRZ 1987, 913 (916). 2 BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354. 3 BGH v. 2.6.2004 – XII ZR 217/01, FamRZ 2004, 1177 = FamRB 2004, 316; BGH v. 7.4.1982 – IVb ZR 678/80, FamRZ 1982, 680. 4 BGH v. 2.6.2004 – XII ZR 217/01, FamRZ 2004, 1177 = FamRB 2004, 316; BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 59/83, FamRZ 1985, 357. 5 BGH v. 30.1.1985 – IVb ZR 70/83, FamRZ 1985, 471.
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Den Umfang des zu versteuernden Einkommens einer natürlichen Person bestimmt § 2 EStG.
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Der Einkommensteuer unterliegen Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger Arbeit, aus nichtselbständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen, aus Vermietung und Verpachtung und aus sonstigen Einkünften i.S.d. § 22 EStG. Einkünfte, die steuerfrei sind, legt § 3 EStG fest. Solche Einkünfte sind für die Unterhaltsfestsetzung von erheblicher Bedeutung.
218
Für bestimmte steuerfreie Lohnersatzleistungen ist nach § 32b EStG der Progressionsvorbehalt zu beachten.
219
Nicht der Besteuerung unterliegen bestimmte Vermögensmehrungen, die aber bei der Unterhaltsfestsetzung ggf. zu berücksichtigen sind, wie Lotteriegewinne, Erbschaften, Überschüsse aus der Veräußerung privaten Grundbesitzes und privaten Kapitalvermögens. bb) Gewinnermittlung
220
Das EStG kennt vier Arten der Gewinnermittlung:
221
(1) Den Betriebsvermögensvergleich nach § 4 Abs. 1 EStG. Der Gewinn ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsvermögen am Schluss des Wirtschaftsjahres und dem Betriebsvermögen am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahres, vermehrt um den Wert der Entnahmen und vermindert um den Wert der Einlagen. Auf der Grundlage der Buchführungsunterlagen wird eine Vermögensübersicht (Bilanz) erstellt. Die Jahresbilanz ist ein Geschäftsabschluss, der zu einem bestimmten Stichtag in einer übersichtlichen Gliederung das Verhältnis des betrieblich gebundenen Vermögens zu den betrieblichen Schulden und sonstigen Belastungen darstellt. Im Rahmen einer ordnungsgemäßen Buchführung müssen alle Geschäftsvorgänge aufgezeichnet und für die Jahresabschlüsse herangezogen werden. Die Buchführung kann in Form der einfachen (in sehr seltenen Fällen) oder doppelten Buchführung durchgeführt werden. Bei der doppelten Buchführung werden alle Geschäftsvorgänge in Grundbüchern und Personenbüchern erfasst. Daneben werden auch alle Vorgänge in Sachbücher eingetragen. Diese enthalten Bestandskonten, auf denen alle Ab- und Zugänge einzeln verbucht werden. Anders als bei der Einnahmen-Überschuss-Rechnung nach § 4 Abs. 3 EStG werden Geschäftsvorgänge hier nicht erst beim tatsächlichen Zufluss von Einnahmen und Ausgaben gebucht, sondern bereits dann, wenn sich das Betriebsvermögen bereits geändert hat.
222
Neben der Bilanz wird bei der doppelten Buchführung eine Gewinn- und Verlustrechnung erstellt. Der Saldo stellt die Differenz zwischen Erträgen und Aufwendungen dar. Die Gewinn- und Verlustrechnung ist ähnlich
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Einkommensermittlung
Rn. 227
Kap. 6 A
aufgebaut wie die Einnahmen-Überschuss-Rechnung nach § 4 Abs. 3 EStG. (2) Den Betriebsvermögensvergleich nach handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung gem. § 5 EStG – Gewinn bei Vollkaufleuten und bestimmten anderen Gewerbetreibenden.
223
(3) Die Einnahmen-Überschuss-Rechnung nach § 4 Abs. 3 EStG. Steuer- 224 pflichtige, die nicht aufgrund gesetzlicher Vorschriften verpflichtet sind, Bücher zu führen und regelmäßig Abschlüsse zu machen, und die auch keine Bücher führen und keine Abschlüsse machen, können als Gewinn den Überschuss der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben ansetzen. Hierbei scheiden Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben aus, die im Namen und für Rechnung eines anderen vereinnahmt und verausgabt wurden (durchlaufende Posten). Als Gewinn wird somit der jährliche Überschuss der Betriebseinnahmen 225 über die Betriebsausgaben erfasst. Die Betriebseinnahmen sind in dem Wirtschaftsjahr anzusetzen, in dem sie dem Steuerpflichtigen zugeflossen sind. Die Betriebsausgaben sind in dem Wirtschaftsjahr abzusetzen, in dem sie tatsächlich getätigt wurden. Aufgrund dieses Zufluss-AbflussPrinzips können sich bei den Gewinnermittlungen spürbare Verschiebungen ergeben, die sich auch in der Einkommensermittlung im Unterhaltsverfahren niederschlagen können. Da der Unterhaltspflichtige hierdurch seine Einkommensverhältnisse steuern kann, ist die Einnahmen-Überschuss-Rechnung für mehrere Jahre zu fordern. Zudem werden Barentnahmen, betriebliche Darlehen und Aufwendungen für private Lebensführung nicht erfasst. (4) Die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forstwirtschaft nach Durchschnittssätzen gem. § 13a Abs. 2 EStG.
226
cc) Betriebseinnahmen Bei selbständig Tätigen gibt es verschiedene und vielfältige Einnahmemöglichkeiten. Die typischen sind insbesondere – Umsatzerlöse, dh. die bei Veräußerung von Waren sowie bei Veräußerung von Anlagevermögen erhaltenen Erlöse; – Sachentnahmen, also der Wert der für den Unternehmer und für Dritte entnommenen sowie der Eigenverbrauch von Waren und Leistungen auf Kosten der Betriebsausgaben; – Aufwandsentschädigungen und Zuschüsse, die unterhaltsrechtlich jedenfalls dann als Einkommen anzurechnen sind, wenn sie zur teilweisen Deckung des Lebensbedarfs tatsächlich zur Verfügung stehen und die in Rechnung gestellten Beträge höher sind als die tatsächlich entstandenen Aufwendungen; letztere müssen als Betriebsausgaben abgesetzt werden; Nann
415
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Kap. 6 A Rn. 228
Einkommensermittlung
– Leistungsentgelte, also Entgelte und Honorare für berufliche Leistungen sowie laufende Einnahmen für Dienstleistungen und Warenlieferungen; – Zinsen aus gewährten Darlehen; – Krankenhaustagegelder sowie Steuererstattungen; – vereinnahmte Mehrwertsteuer, vom Finanzamt erstattete Vorsteuer sowie die Mehrwertsteuer für den Eigenverbrauch. dd) Abzugsfähige Posten 228
Betriebsausgaben (Werbungskosten) können unterhaltsrechtlich auf ihre Angemessenheit überprüft werden. Sie können nur dann als abzugsfähig anerkannt werden, wenn sie tatsächlich im Abrechnungsjahr aufgewendet wurden und betriebsnotwendig waren. Beruft sich der Unterhaltspflichtige, der eine Beschränkung seiner Leistungsfähigkeit behauptet, auf sein steuerpflichtiges Einkommen aus seinem Gewerbe, muss er seine Einnahmen und Aufwendungen im Einzelnen so darstellen, dass die allein steuerlich beachtlichen Aufwendungen von solchen, die unterhaltsrechtlich von Bedeutung sind, abgegrenzt werden können1. Hierzu gehört, dass hinreichend substantiiert dargelegt wird, und zwar sowohl hinsichtlich Art als auch Umfang der Werbungskosten, dass diese zur Aufrechterhaltung des Gewerbebetriebs unbedingt nötig sind. (1) Steuerliche Absetzung für Abnutzung (AfA)
229
Bei Wirtschaftsgütern, deren Verwendung oder Nutzung durch den Steuerpflichtigen zur Erzielung von Einkünften sich erfahrungsgemäß auf einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckt, ist jeweils für ein Jahr der Teil der Anschaffungs- oder Herstellungskosten abzusetzen, welcher bei gleichmäßiger Verteilung dieser Kosten auf die Gesamtdauer der Verwendung oder Nutzung auf ein Jahr entfällt (Absetzung für Abnutzung in gleichen Jahresbeträgen). Die Absetzung bemisst sich hierbei nach der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer des Wirtschaftsgutes. Die AfA bedeutet deshalb eine reine Abschreibung der Anschaffungs- und Herstellungskosten von Wirtschaftsgütern. Der Wertverlust der Wirtschaftsgüter wird in Form von Teilbeträgen auf die Gesamtnutzungsdauer verteilt. Der anteilige Betrag wird in die jährliche Gewinn- und Verlustrechnung bzw. in die Einnahmen-Überschuss-Rechnung nach § 4 Abs. 3 EStG übernommen.
230
Die AfA führt somit zu einer Minderung des Gewinns bei der jährlichen Gewinn- und Verlustrechnung und auch bei der Einnahmen-ÜberschussRechnung, bei der sich an sich das Betriebsvermögen nicht auswirkt, in dem die AfA als Betriebsausgaben abgeschrieben werden können.
1 BGH v. 23.4.1980 – IVb ZR 510/80, FamRZ 1980, 770.
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Einkommensermittlung
Rn. 236
Kap. 6 A
Gesetzlich geregelt sind verschiedene Formen der Abschreibungen:
231
– In § 7 Abs. 1 S. 1–3 EStG die lineare AfA, – in § 7 Abs. 2 EStG die degressive AfA, bei welcher der Steuerpflichtige bei beweglichen Wirtschaftsgütern statt der Absetzung für Abnutzung in gleichen Jahresbeträgen die Absetzung für Abnutzung in fallenden Jahresbeträgen bemessen kann, – in § 7 Abs. 1 S. 4 EStG die Leistungs-AfA, – in § 7 Abs. 1 S. 5, Abs. 4 S. 3 EStG die außergewöhnliche AfA und – in § 7 Abs. 6 EStG die Absetzung für Substanzverringerung. Erhöhte Abschreibungen und Sonderabschreibungen können nach § 7d 232 EStG und § 7g EStG geltend gemacht werden. Die gewöhnliche, steuerlich angenommene Nutzungsdauer beträgt bei Büromaschinen und Pkw fünf Jahre, bei Ladeneinrichtungen acht Jahre und bei Maschinen zehn Jahre.
233
Unterhaltsrechtlich werden die Abschreibungen zugelassen, wenn die In- 234 vestitionen betriebsnotwendig und wirtschaftlich sinnvoll waren. Dies ist stets darzulegen, zu überprüfen und bei berechtigten Zweifeln nachzuweisen. Dem Unterhaltsberechtigten ist es unterhaltsrechtlich nicht zuzumuten, leichtfertige Risikogeschäfte, unnötige Investitionen oder sonstige Fehlspekulationen indirekt mitzufinanzieren. Maßgeblich ist, ob die Investition im Rahmen einer verantwortungsbewussten Betriebsführung erfolgte. Die zur linearen Abschreibung von der Finanzverwaltung herausgege- 235 benen AfA-Tabellen geben regelmäßig den tatsächlichen Wertverzehr wieder. Dies gilt insbesondere für die vom Bundesministerium der Finanzen erstellten Tabellen für die allgemein verwendbaren Anlagegüter. Die in diesen Tabellen für die einzelnen Anlagegüter angegebene betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer beruht auf Erfahrungen der steuerlichen Betriebsprüfung. Diese Erfahrungswerte können im Rahmen der Berechnung des unterhaltsrechtlich relevanten Einkommens übernommen werden. Die AfA-Tabellen haben somit die Vermutung der Richtigkeit für sich. Sie binden jedoch die Gerichte nicht und sind unbeachtlich, sofern sie erkennbar nicht auf Erfahrungswissen beruhen, also offensichtlich unzutreffend sind. In diesen Fällen hat das Gericht die Nutzungsdauer zu schätzen oder durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu ermitteln1. (2) Abschreibung für Gebäude Abschreibungen für die Abnutzung von Gebäuden berühren das berücksichtigungsfähige Einkommen idR nicht. Erfahrungsgemäß wirken sich 1 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 19/01, FamRZ 2003, 741 = FamRB 2003, 291.
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Kap. 6 A Rn. 237
Einkommensermittlung
Abschreibungen für die Abnutzung von Gebäuden sowie Instandsetzungskosten erheblich zugunsten des Steuerpflichtigen aus, ohne dass diese Posten unterhaltsrechtlich in gleicher Weise anerkannt werden können. Abschreibungen für die Abnutzung von Gebäuden berühren das unterhaltsrechtlich maßgebende Einkommen nicht, weil ihnen lediglich ein Verschleiß von Gegenständen des Vermögens zugrunde liegt und die zulässigen steuerlichen Pauschalen vielfach über das tatsächliche Ausmaß der Wertminderung hinausgehen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass sie durch eine günstige Entwicklung des Immobilienmarktes ausgeglichen werden können1. 237
Instandhaltungskosten können unterhaltsrechtlich nur insoweit berücksichtigt werden, als es sich um notwendigen Erhaltungsaufwand handelt und nicht um solchen für Ausbauten und wertsteigernde Verbesserungen, die der Vermögensbildung dienen2.
238
Bleiben Abschreibungen für die Abnutzung von Gebäuden unberücksichtigt, muss auch die durch die Abschreibung erzielte Steuerersparnis außer Betracht bleiben. Bei einer solchen Fallgestaltung ist – in Abweichung von dem Grundsatz, dass durch Feststellung des unterhaltsrelevanten Einkommens die tatsächlich entrichtete Steuer in Abzug zu bringen ist – eine fiktive Steuerberechnung vorzunehmen, nämlich zu ermitteln, in welcher Höhe Steuern auf das nicht durch die Verluste reduzierte übrige Einkommen des Unterhaltspflichtigen zu entrichten wären3. (3) Verhältnis der Abschreibungen zu Tilgungen
239
Das in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärte Verhältnis der Abschreibungen zu den betriebsbezogenen Verbindlichkeiten stellt sich insbesondere dann, wenn zur Betriebsgründung oder Betriebsführung benötigtes Kapital fremdfinanziert wurde. Zusätzlich zu den Abschreibungen können in diesen Fällen die Kreditzinsen abgesetzt werden. Die Tilgungsleistungen werden dagegen grundsätzlich nicht zusätzlich berücksichtigt4. Etwas anderes muss jedoch gelten, wenn die Tilgungsleistungen höher sind als die Abschreibungen. In derartigen Fällen bedarf es eines Vergleichs der längerfristig betrachteten AfA zu den laufenden Tilgungen. Grundsätzlich werden in derartigen Fällen sowohl die Tilgungen als auch die AfA zu berücksichtigen sein. Dies bedeutet zwar, dass Verbindlichkeiten zurückgeführt werden, was im Ergebnis einer Vermögensbildung gleichkommt; auf der anderen Seite ist dies betriebswirtschaftlich geboten, um die Kreditfähigkeit eines Unternehmens zu erhalten. Im Übrigen standen die für die Tilgung eingesetzten Mittel den Ehegatten 1 BGH v. 20.11.1996 – XII ZR 70/95, FamRZ 1997, 281 (283). 2 BGH v. 26.10.1983 – IVb ZR 13/82, FamRZ 1984, 39 (41). 3 BGH v. 1.12.2004 – XII ZR 75/02, FamRZ 2005, 1159 (1161) = FamRB 2005, 286 und FamRB 2005, 287. 4 OLG Düsseldorf v. 3.6.1981 – 5 UF 256/80, FamRZ 1982, 1108.
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Rn. 242
Kap. 6 A
auch nicht zum Konsum zur Verfügung, so dass die ehelichen Lebensverhältnisse durch die Schuldentilgung geprägt waren. Die Abschreibungen nach § 7 EStG sind ein vereinfachendes steuerliches 240 Instrument zur pauschalen Berücksichtigung des Wertverlustes eines Wirtschaftsgutes und ein Korrektiv dafür, dass steuerrechtlich die Tilgungen nicht berücksichtigt werden. Deshalb ist es unterhaltsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn Abschreibungen bei der Einkommensermittlung berücksichtigt, Tilgungen aber unberücksichtigt bleiben. Dies ist aber nur dann sachgerecht, wenn die Abschreibungen und die Tilgungen sich in etwa entsprechen. In den meisten Fällen, in denen Investitionskapital fremdfinanziert wurde, entsprechen sich aber Abschreibungen und Tilgungen nicht. In diesen Fällen ist es erforderlich, dass für die Unterhaltsbestimmung anstelle der Abschreibungen die Tilgungsleistungen berücksichtigt werden. Teilweise wird ein sog. Cash-flow gebildet1. Dies bedeutet, dass zum Jahresergebnis die Abschreibungen und Rückstellungen hinzugerechnet werden. Von dem so errechneten Betrag sind dann die Steuern, die Vorsorgeaufwendungen sowie die planmäßigen Tilgungen abzuziehen. Unterbleibt die Berücksichtigung der Tilgungsleistungen, wird der Bedarf zu hoch angesetzt, weil die Lebensverhältnisse durch die die Abschreibungen übersteigenden Tilgungsleistungen und das entsprechend reduzierte Einkommen bestimmt waren. Die Cash-flow-Methode ermöglicht deshalb eine genaue Feststellung der ehelichen Lebensverhältnisse, weil die Abschreibung zumindest zu einem bestimmten Teil für die Tilgung von Betriebsverbindlichkeiten herangezogen wird. (4) Anschaffungskosten für Umlaufvermögen Kosten für Wareneinkäufe sind stets anzuerkennen, wenn der Erwerb 241 und der Preis wirtschaftlich und betrieblich sinnvoll waren. (5) Geringwertige Wirtschaftsgüter Diese können nach § 6 Abs. 2 EStG sofort in voller Höhe abgesetzt wer- 242 den, wenn die Anschaffungs- oder Herstellungskosten des einzelnen Wirtschaftsgutes 410 Euro nicht übersteigen. Dazu gehören insbesondere Arbeitskleidung, Fachliteratur, Werkzeuge und Arbeitsmittel. Bei diesen Gegenständen handelt es sich idR um langlebige Wirtschaftsgüter. Unterhaltsrechtlich ist es deshalb auch möglich, die Abschreibung auf einen längeren Zeitraum zu verteilen2. Kleinlichkeiten sollten jedoch vermieden werden.
1 Schwab/Borth, Handbuch des Scheidungsrechts, IV, 852. 2 OLG Hamm v. 22.3.1991 – 12 UF 210/90, FamRZ 1991, 1310.
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Kap. 6 A Rn. 243
Einkommensermittlung
(6) Betriebliche Steuern und Versicherungen 243
Gewerbe- und Umsatzsteuern sind zu berücksichtigen. Beträge für private Steuern und Versicherungen sind auszusondern. (7) Betriebsfahrzeuge
244
Aufwendungen für Betriebsfahrzeuge (Anschaffungskosten, Steuer, Versicherung, Wartung und Reparatur) sind unter Abzug des Privatanteils bei privater Nutzung nach einer nach § 287 ZPO zu erfolgenden Schätzung abzuziehen. (8) Fernsprechgebühren
245
Bei Verwendung des Betriebstelefons auch als privates Telefon ist ein zu schätzender Anteil für die private Nutzung abzuziehen. Wird das private Telefon auch für das Geschäft benutzt, muss eine Aufteilung der Gebühren hinsichtlich der beruflichen und der rein privat geführten Telefongespräche stattfinden. Auch insoweit sind Schätzungen möglich. (9) Löhne, Gehälter, Sozialausgaben
246
Nur ein angemessenes Entgelt ist als Ausgabe abzuziehen. Die Lohnkosten müssen stets unter diesem Gesichtspunkt geprüft werden. Schätzungen nach § 287 ZPO sind möglich. Häufig ist die Situation anzutreffen, dass die Ehefrau während intakter Ehe im Unternehmen des Mannes angestellt war und anlässlich der Trennung aus dem Unternehmen ausscheidet. Mit Ausscheiden der Ehefrau als Arbeitnehmerin kann sich ein veränderter Gewinn des Ehemannes ergeben, es sei denn, er stellt eine Ersatzkraft ein. Besonders kritisch wird das angemessene Entgelt der auf der Gehaltsliste des Unternehmers stehenden Lebensgefährtin oder der neuen Ehefrau zu beleuchten sein. (10) Miete für Geschäfts, Büro- und Praxisräume
247
Bei den Kosten (Miete, Heizung etc.) ist zu prüfen, ob ein Privatnutzanteil abzuziehen ist. (11) Vermögensumschichtungen
248
Bei der Veräußerung von nicht abnutzbarem Anlagevermögen können vom Veräußerungserlös die ursprünglichen Anschaffungskosten oder die noch nicht erfolgten Abschreibungen abgezogen werden. (12) Zinszahlungen
249
Die nach § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 EStG betroffenen Zinszahlungen für betriebsbedingte Kredite können abgezogen werden. Die Schuldentilgung 420
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Sozialleistungen
Rn. 250
Kap. 6 A
selbst gehört nicht zu den Betriebsausgaben. Bei Anschaffungskrediten werden die Tilgungen idR über die Abschreibungen berücksichtigt. (13) Investitionsabzugsbetrag Für die künftige Anschaffung oder Herstellung eines Wirtschaftsgutes kann gem. § 7g EStG seit dem 1.1.2008 der Steuerpflichtige einen Investitionsabzugsbetrag in Anspruch nehmen. Der Abzugsbetrag kann auch für gebrauchte Wirtschaftsgüter in Anspruch genommen werden. Da die Abwicklung außerhalb der Bilanz erfolgt – im Gegensatz zur früheren Ansparrücklage – beeinflusst der Investitionskostenabzug nicht den im Jahresabschluss ausgewiesenen steuerlichen Gewinn, sondern wird separat steuermindernd erfasst. Die Investitionsfrist beträgt drei Jahre. Bevor das Wirtschaftsgut angeschafft ist, können 40 % der Anschaffungskosten vom Gewinn abgesetzt werden. Dazu kommen im Anschaffungsjahr bis zu 18 %. Wenn die begünstigte Investition nicht erfolgt, wird der Investitionskostenabzug rückgängig gemacht. Es folgt eine Änderung des früheren Steuerbescheides ex tunc mit verzinster Nachversteuerung und keine Auflösung ex nunc mit Verzinsung der nachzuzahlenden Steuern. Es sind 6 % Zinsen auf die Steuern zu zahlen. Erfolgt die Investition planmäßig, so kann der Abzugsbetrag im Ergebnis gewinnneutral auf die Anschaffungskosten übertragen werden. Es bleiben nur 60 % der Anschaffungskosten abzuschreiben, da sich die Bemessungsgrundlage für die AfA reduziert.
III. Sozialleistungen Literaturverzeichnis: Brosius-Gersdorf, Das Elterngeld als Einkommensersatzleistung des Staates, NJW 2007, 177; Büttner, Wie ist Pflegegeld bei Unterhaltsansprüchen zu berücksichtigen?, FamRZ 2000, 596; Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., Empfehlungen für die Heranziehung Unterhaltspflichtiger in der Sozialhilfe (SGB XII), Eigenverlag 2008; Doering-Striening, Trennung und Scheidung – gibt es Bezüge zum sozialen Entschädigungsrecht?, FPR 2009, 447; Eberl-Borges/Schüttlöffel, Sozialstaat und Verwandtensolidarität, FamRZ 2006, 589; Götsche, Auswirkungen des Bezugs von Hartz-IV-Leistungen im Unterhaltsrecht, FamRB 2006, 563; Götsche, Aktuelles zum Bezug von Hartz-IV-Leistungen, FamRB 2006, 373; Günther, Übergang von Unterhaltsansprüchen auf Sozialhilfeträger bei Gewährung von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, FPR 2005, 461; Hußmann, Der gesetzliche Forderungsübergang nach § 33 SGB II, FPR 2007, 354; Hußmann, Auswirkungen der neuen Sozialgesetzgebung auf das Unterhaltsrecht, FPR 2004, 534; Klatt, Anrechenbarkeit von Elterngeld bei Unterhaltsansprüchen (§ 11 BEEG), FPR 2007, 349; Klinkhammer, Existenzminimum, Erwerbsanreiz und Düsseldorfer Tabelle, FamRZ 2007, 85; Klinkhammer, Arbeitslosengeld II und Unterhaltsregress nach § 33 SGB II – Fortentwicklungsgesetz, FamRZ 2006, 1171; Klinkhammer, Änderungen im Unterhaltsrecht nach „Hartz IV“, FamRZ 2004, 1909; Klinkhammer, Die bedarfsorientierte Grundsicherung nach dem GSiG und ihre Auswirkungen auf den Unterhalt, FamRZ 2002, 997; Kuller, § 33 Abs. 1 S. 2 SGB II – cessio legis exzessiv, FamRZ 2011, 255; Kuntze, Unter-
Nann/Geißler
421
250
Kap. 6 A Rn. 251
Sozialleistungen
haltsrückgriff nach dem SGB II mit Auslandsbezug durch die Jobcenter und Optionskommunen, FPR 2011, 166; Renken, Unterhaltsverpflichtungen bei Bezug von SGB II-Leistungen, FPR 2007, 352; Reinecke, Die Bedarfsgemeinschaft, FPR 2009, 452; Sartorius, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, §§ 41 ff. SGB XII, FPR 2009, 465; Scholz, Das neue Elterngeld, FamRZ 2007, 7; Scholz, Änderungen des SGB II und ihre Auswirkungen auf den Unterhalt, FamRZ 2006, 1417; Scholz, Widersprüche zwischen Unterhaltsrecht und Sozialrecht und ihre Bedeutung für die Praxis, FamRZ 2004, 751; Schürmann, Reformen im Sozialrecht – die Änderungen zum 1.1.2011, FamRB 2011, 17; Schürmann, Reformierte Sozialgesetze und das Unterhaltsrecht, FamRZ 2011, 1188.
251
Unterhaltsberechtigten, aber auch Unterhaltspflichtigen fließen in unterschiedlichen Formen Sozialleistungen zu1. Sie sind entsprechend ihrem Leistungszweck danach zu unterscheiden, ob sie Lohnersatz- oder Unterhaltsersatzfunktion haben. Sozialleistungen mit Lohnersatzfunktion sind unterhaltsrechtlich wie Einkünfte aus nichtselbständiger oder selbständiger Arbeit zu behandeln. Sie sind bei der Ermittlung des für die Unterhaltsberechnung maßgebenden Einkommens uneingeschränkt zu berücksichtigen. Sozialleistungen mit Unterhaltsfunktion sind keine Einkünfte, die die Bedürftigkeit mindern, soweit sie nur subsidiär gewährt werden und Vorleistungen nach Überleitung des entsprechenden Unterhaltsanspruchs v. Unterhaltspflichtigen zurückgefordert werden können2. Werden also nur subsidiäre Leistungen erbracht, entfällt die unterhaltsrechtliche Bedürftigkeit des Empfängers nicht3. Nachfolgend wird für praxisrelevante Sozialleistungen dargestellt, ob ihnen Lohnersatz- oder Unterhaltsersatzfunktion zukommt: 1. Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III (Arbeitsförderung)
252
Die Entgeltersatzleistungen nach § 116 SGB III – Arbeitslosengeld I (§ 117 SGB III)4, Teilarbeitslosengeld (§ 150 SGB III), Übergangsgeld (§ 160 SGB III), Kurzarbeitergeld (§ 169 SGB III) und Insolvenzgeld (§ 183 SGB III) – haben Lohnersatzfunktion. Ein Erwerbstätigenbonus ist beim Bezieher von Arbeitslosengeld I nicht in Abzug zu bringen. Arbeitslosengeld I, das nach Ende einer überobligatorischen Arbeit gezahlt wird, beruht nicht auf überobligatorischer Arbeit, sondern ist in normalem Umfang in die Differenzrechnung einzustellen5. Der wegen eines leiblichen Kindes gewährte erhöhte Leistungssatz des Arbeitslosengeldes I (vgl. § 129 SGB III) ist auch im Fall der Wiederverheiratung des Unterhaltspflichtigen Bestandteil seines zur Bemessung des nachehelichen Unterhalts maßgeb1 Zum Verhältnis von Unterhalts- und Sozialrecht ausführl. Scholz, FamRZ 2004, 751; Münder, NJW 2001, 2201 (2205 f.). 2 BGH v. 25.2.1987 – IVb ZR 36/86, FamRZ 1987, 456 (458). 3 S. etwa BGH v. 25.11.1992 – XII ZR 164/91, FamRZ 1993, 417. 4 BGH v. 20.3.1984 – VI ZR 14/82, NJW 1984, 1811; vgl. auch BGH v. 19.11.2008 – XII ZR 129/06, FamRZ 2009, 307 (309) = FamRB 2009, 104 und FamRB 2009, 105. 5 OLG Köln v. 22.9.2005 – 14 WF 123/05, FamRZ 2006, 342 (343) = FamRB 2006, 105.
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Sozialleistungen
Rn. 253
Kap. 6 A
lichen Einkommens. Außer Betracht zu bleiben hat dagegen der Teil des Arbeitslosengeldes, der aufgrund der Wiederverheiratung geleistet wird1. 2. Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit Die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (vgl. §§ 43, 45 SGB VI) 253 haben mit Wirkung zum 1.1.2001 die frühere Berufsunfähigkeits- und Erwerbsunfähigkeitsrente ersetzt. Bestand am 31.12.2000 Anspruch auf eine Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, besteht der jeweilige Anspruch bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres weiter, solange die Voraussetzungen vorliegen, die für die Bewilligung der Leistung maßgebend waren (§ 302b SGB VI). Rentenzahlungen wegen Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI stellen wegen ihrer Einkommensersatzfunktion Einkünfte i.S.d. § 1577 Abs. 1 BGB dar und beeinflussen daher die Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten2. Als Sozialleistung mit Lohnersatzfunktion, die nicht darauf abzielt, schädigungsbedingte Mehraufwendungen zu kompensieren, sondern nur die tatsächliche Erwerbsminderung auszugleichen, wird sie von den §§ 1578a, 1610a BGB grundsätzlich nicht erfasst. Besondere Aufwendungen, die sich aus der zugrundeliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung ergeben, sind allerdings gleichwohl zu berücksichtigen, sofern sie hinreichend vorgetragen und belegt sind3. Solange der Unterhaltsberechtigte tatsächlich noch keine Rente erhält (weil etwa der Rentenantrag noch nicht beschieden ist), bedarf er weiterhin der Unterhaltsleistung durch den Verpflichteten. Der Unterhaltspflichtige schuldet dabei aber nicht nur Vorschuss unter dem Vorbehalt der Rückzahlung.
Û
Praxistipp: Um eine Benachteiligung des Unterhalt Leistenden zu vermeiden, kann er dem Berechtigten, der den Rentenantrag gestellt hat, zur Abwendung der Bedürftigkeit zins- und tilgungsfreie Darlehen mit der Verpflichtung anbieten, im Falle der endgültigen Ablehnung des Rentenantrags auf deren Rückzahlung zu verzichten. Zur Sicherung des Anspruchs auf Rückzahlung solcher Darlehen kann der Anspruch auf Rentennachzahlung gem. § 53 Abs. 2 Nr. 1 SGB I abgetreten werden. Dem Unterhaltsberechtigten obliegt es, einen in dieser Weise angebotenen Kredit zur Behebung oder Verminderung seiner Bedürftigkeit anzunehmen und zur Sicherheit auf Verlangen den Anspruch auf Rentennachzahlung abzutreten4.
1 BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 163/04, FamRZ 2007, 983 m. Anm. Schürmann = FamRB 2007, 227. 2 Vgl. BGH v. 23.3.1983 – IVb ZR 358/81, FamRZ 1983, 574; vgl. auch OLG Hamm v. 11.1.2010 – II 4 UF 107/09, FamRZ 2010, 814. 3 OLG Köln v. 25.10.2000 – 27 WF 179/00, FamRZ 2001, 1524. 4 Vgl. BGH v. 23.3.1983 – IVb ZR 358/81, FamRZ 1983, 574.
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Kap. 6 A Rn. 254 254
Sozialleistungen
Bezieht ein Unterhaltspflichtiger eine Berufsunfähigkeits- oder – nach jetzt geltendem Recht – eine Erwerbsminderungsrente, so ist seine Leistungsfähigkeit nicht lediglich nach seinem Renteneinkommen zu beurteilen. Der Bezug der Berufsunfähigkeitsrente gebietet nämlich nicht zwingend den Schluss, dass der Rentenbezieher nicht in der Lage ist, leichte Tätigkeiten auszuüben1. 3. Sozialhilfe (SGB XII) a) Allgemeines
255
Das BSHG wurde zum 1.1.2005 aufgehoben2. Die Sozialhilfe ist seither im SGB XII geregelt. Da §§ 5 Abs. 2, 7 Abs. 2 SGB II für Erwerbsfähige und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden Personen grundsätzlich nur noch Leistungen nach dem SGB II vorsehen, wird Sozialhilfe in der Form der Hilfe zum Lebensunterhalt nur noch an nicht erwerbsfähige Personen einschließlich der dazu gehörenden Bedarfsgemeinschaft gewährt. Für die in der Sozialhilfe verbliebenen Personen kommt eine Erwerbsobliegenheit nur noch in Ausnahmefällen in Betracht (§ 11 Abs. 4 SGB XII). Nach § 2 SGB XII ist die Sozialhilfe nachrangig. § 2 Abs. 2 S. 1 SGB XII sieht ausdrücklich vor, dass Verpflichtungen Unterhaltspflichtiger unberührt bleiben. Die Sozialhilfe ist damit eine klassische Sozialleistung mit Unterhaltsfunktion.
256
Zusammen mit dem BSHG wurde zum 1.1.2005 auch das GSiG3 aufgehoben4. Mit dem GSiG wurde v. 1.1.2003 an für Personen, die das 65. Lebensjahr vollendet haben oder die als Volljährige auf Dauer voll erwerbsgemindert sind, der grundlegende Lebensbedarf durch eine eigenständige Sozialleistung gewährleistet5.
257
Die Grundsicherung ist nunmehr eine Leistung der Sozialhilfe (§§ 41 ff. SGB XII)6. Ob ein Anspruch auf Grundsicherungsrente zu bejahen ist, hängt davon ab, ob dem Antragsteller Einkommen oder Vermögen zur Verfügung steht, aus dem er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann (§ 41 Abs. 1 SGB XII). Tatsächlich gezahlte Unterhaltsleistungen mindern den Anspruch auf Grundsicherungsleistungen7. Streitig war, ob Leistungen nach dem GSiG beim Ehegattenunterhalt auf den Bedarf anzurechnen
1 OLG Jena v. 23.2.2006 – 1 UF 218/05, FamRZ 2006, 1299 (1300). 2 Durch Art. 68 Abs. 1 Nr. 1, 5 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB v. 27.12.2003, BGBl. I, 2003, 3022. 3 Art. 12 des Altersvermögensgesetzes v. 26.6.2001, BGBl. I, 1310. 4 Art. 68 Abs. 1 Nr. 1, 5 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB v. 27.12.2003, BGBl. I, 3022. 5 Zu Einzelheiten s. Münder, NJW 2002, 3661; Klinkhammer, FamRZ 2002, 997. 6 S. zur Grundsicherung auch Satorius, FPR 2009, 465. 7 BGH v. 20.12.2006 – XII ZR 84/04, FamRZ 2007, 1158 m. Anm. Scholz = FamRB 2007, 262; s. auch LSG NRW v. 3.7.2006 – L 9 B 12/06 SO, FamRZ 2006, 1566.
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Rn. 258
Kap. 6 A
sind1. Leistungen auf Grundlage der §§ 41 ff. SGB XII sind jedenfalls im Grundsatz nicht als bedarfsdeckendes Einkommen anzusehen2. Denn nach § 8 Nr. 2 SGB XII umfasst die Sozialhilfe auch die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach den §§ 41 ff. SGB XII, so dass gem. § 2 Abs. 2 S. 1 SGB XII Unterhaltspflichten unberührt bleiben3. Regelmäßig wird freilich § 43 Abs. 2 S. 1 SGB XII greifen, wonach Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten gegenüber ihren Kindern und Eltern unberücksichtigt bleiben, sofern deren jährliches Gesamteinkommen i.S.d. § 16 SGB IV unter einem Betrag von 100 000 Euro liegt4. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen5 sind Grundsicherungsleistungen nicht nachrangig. Sie sind somit als Einkommen anzusehen (denkbar ist auch der Ansatz fiktiven Einkommens)6 und reduzieren den unterhaltsrechtlichen Bedarf7. Dies stützt sich nicht zuletzt auf § 94 Abs. 1 S. 3 Halbs. 2 SGB XII, wonach ein Anspruchsübergang bei Kindes- und Elternunterhalt ausgeschlossen ist. Aus der allgemeinen Pflicht zur Rücksichtnahme und Loyalität kann sich ergeben, dass ein volljähriges, erwerbsunfähiges Kind darauf verwiesen wird, vorrangig Leistungen nach §§ 41 ff. SGB XII in Anspruch zu nehmen und damit ein Unterhaltsanspruch gegen die Eltern entfällt8. Demgegenüber sieht § 94 Abs. 1 S. 1 SGB XII für den Ehegattenunterhalt einen Ausschluss des Anspruchsübergangs nicht vor. § 43 Abs. 2 S. 1 SGB XII ist damit auf den Ehegattenunterhalt nicht anwendbar. Der Unterhaltsanspruch geht in diesen Fällen auf den Sozialhilfeträger über, wenn Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gewährt wird. b) Übergang von Ansprüchen gegen einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen Korrespondierend mit § 2 SGB XII sieht § 94 SGB XII vor, dass Unterhaltsansprüche nach bürgerlichem Recht bis zur Höhe der geleisteten Aufwendungen kraft Gesetzes auf den Träger der Sozialhilfe übergehen9. Während für den Übergang vertraglich begründeter Unterhaltsansprüche 1 Vgl. etwa OLG Zweibrücken v. 27.6.2003 – 2 UF 151/02, FamRZ 2003, 1850 (1852); aA hingegen OLG Bremen v. 11.11.2004 – 5 UF 40/04, FamRZ 2005, 801 = FamRB 2005, 192; s. auch Klinkhammer, FamRZ 2002, 997 (1000). 2 Vgl. BGH v. 2.3.2011 – XII ZR 44/09, FamRZ 2011, 713 (716) = FamRB 2011, 135; OLG Hamm v. 20.7.2005 – 12 UF 180/04, FamRZ 2006, 125 (126). 3 Vgl. auch BSG v. 26.8.2008 – B 8/9b SO 16/07 R, FamRZ 2009, 44 (45). 4 S. dazu Günther, FPR 2005, 461; Hußmann, FPR 2004, 534 (540). 5 Vgl. die gesetzliche Vermutung in § 43 Abs. 2 S. 2 SGB XII. 6 Dazu OLG Brandenburg v. 2.1.2007 – 9 UF 159/06, FamRZ 2008, 174 (176); OLG Frankfurt v. 23.1.2008 – 5 UF 146/07, juris. 7 BGH v. 20.12.2006 – XII ZR 84/04, FamRZ 2007, 1158 (1159) m. Anm. Scholz = FamRB 2007, 262; OLG Frankfurt v. 23.1.2008 – 5 UF 146/07, juris. 8 Vgl. OLG Naumburg v. 25.6.2008 – 4 WF 42/08, FamRZ 2009, 701. 9 Ausführlich dazu Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., Empfehlungen für die Heranziehung Unterhaltspflichtiger in der Sozialhilfe (SGB XII), Eigenverlag 2008.
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Kap. 6 A Rn. 259
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§ 93 SGB XII maßgeblich ist, richtet sich der für die Praxis bedeutsame Übergang von Unterhaltsansprüchen nach bürgerlichem Recht ausschließlich nach § 94 SGB XII. Die Vorschrift ist auch dann für Unterhaltsansprüche allein maßgeblich und ein Rückgriff auf § 93 SGB XII ausgeschlossen, wenn nicht alle Voraussetzungen des § 94 SGB XII erfüllt sind und damit ein Anspruchsübergang ausscheidet (dh. kein Rückgriff auf § 93 SGB XII bei Unterhaltsansprüchen gegen Verwandte zweiten Grades, bei denen nach § 94 Abs. 1 S. 3 SGB XII ein Anspruchsübergang ausgeschlossen ist). Die speziellere Regelung des § 7 UVG verdrängt hingegen § 94 SGB XII. Der Anspruchsübergang nach § 94 SGB XII – eine echte cessio legis i.S.v. § 412 BGB – erfasst nur die Hauptforderung, nicht auch den Zinsanspruch aus rückständigem Unterhalt1. Nach § 94 Abs. 1 S. 1 SGB XII geht mit der Hauptforderung auch der unterhaltsrechtliche Auskunftsanspruch über. Maßgeblich sind dabei die §§ 1580, 1605 BGB2. Neben den sich daraus ergebenden zivilrechtlichen Möglichkeiten (zB Stufenklage nach § 254 ZPO) kann der Träger der Sozialhilfe auch den öffentlich-rechtlichen Auskunftsanspruch nach § 117 SGB XII nutzen3. Über ihn können ua. auch v. Ehegatten und Arbeitgeber des Unterhaltspflichtigen Auskünfte verlangt werden. aa) Voraussetzungen 259
Voraussetzung für die cessio legis ist, dass tatsächlich Sozialhilfeleistungen erbracht worden sind und zwischen dieser Leistungserbringung und einem bestehenden Unterhaltsanspruch eine Zeitidentität gegeben ist. – Leistungserbringung
260
Der Leistungsberechtigte muss rechtmäßig4 Geld- oder Sachleistungen5 v. Sozialhilfeträger erhalten haben. Ein Anspruchsübergang ist aber dann ausgeschlossen, wenn Sozialhilfe und Unterhalt mit ihren Leistungen nicht auf den gleichen Bedarf zielen. Kann die von der Sozialhilfe gewährte Leistung nicht als Unterhalt beansprucht werden, fehlt es an der Unterhaltsersatzfunktion (etwa wenn die Sozialhilfe Mietschulden zur Sicherung der Unterkunft tilgt)6. Es muss sich um ein und dieselbe Person handeln, der Hilfe gewährt wurde und die unterhaltsberechtigt ist. Werden Sozialhilfeleistungen für mehrere Personen einer Bedarfsgemeinschaft erbracht, müssen sie daher auf die einzelnen Empfänger aufgeteilt werden7. 1 OLG Hamm v. 22.11.2001 – 8 WF 168/01, FamRZ 2002, 983. 2 Vgl. auch BGH v. 7.5.2003 – XII ZR 229/00, FamRZ 2003, 1836 (1838) m. Anm. Strohal = FamRB 2004, 39. 3 Zur Anwendung des Auskunftsanspruchs beim Elternunterhalt LSG NRW v. 14.9.2009 – L 20 SO 96/08, FamRZ 2010, 599. 4 Vgl. dazu auch LPK-SGB XII/Münder, § 94 Rn. 10. 5 Zu darlehensweisen Leistungen OLG Hamm v. 27.6.2000 – 2 WF 225/00, FamRZ 2001, 1237. 6 Vgl. BGH v. 18.12.1991 – XII ZR 2/91, FamRZ 1992, 423 (425). 7 Vgl. im Einzelnen Scholz, FamRZ 2004, 751 (755).
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Rn. 263
Kap. 6 A
– Zeitidentität In den Zeiträumen, für die die Sozialhilfe bewilligt und bestimmt war, 261 muss ein fälliger Unterhaltsanspruch bestanden haben. Fehlt es in diesen Zeiträumen also an der Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten, scheidet ein Rückgriff des Sozialhilfeträgers auch dann aus, wenn der Unterhaltsverpflichtete zu einem späteren Zeitpunkt leistungsfähig wird. – Unterhaltsanspruch § 94 SGB XII erfasst alle Unterhaltsansprüche nach bürgerlichem Recht. 262 Unterhaltsansprüche nach dem LPartG (§§ 5, 12 LPartG) gehen ebenfalls auf den Sozialhilfeträger über. Ein Anspruchsübergang kommt nur dann in Betracht, wenn alle zivilrechtlichen Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs zu bejahen sind. Betreut ein Kind einen pflegebedürftigen Elternteil, ist es denkbar, dass es seine Unterhaltspflicht durch die damit in Natur erbrachten Unterhaltsleistungen erfüllt. Insoweit würde ein zivilrechtlicher Unterhaltsanspruch, der auf den Träger der Sozialhilfe übergehen könnte, entfallen1. Bei mehreren Unterhaltsschuldnern ist allein die Rangfolge nach dem BGB maßgeblich. Nachrangige Unterhaltsschuldner dürfen deshalb nur dann herangezogen werden, wenn die vorrangigen nicht leistungsfähig sind.
Û
Wichtig: Ein auf den Sozialhilfeträger übergegangener Unterhaltsanspruch setzt voraus, dass überhaupt ein vom Leistungsträger zu deckender zivilrechtlicher Unterhaltsanspruch besteht. Der Sozialhilfeträger hat insoweit den zivilrechtlichen Unterhaltsbedarf des Kindes schlüssig und nachvollziehbar darzulegen2.
Der Sozialhilfeträger muss sich einen wirksamen Unterhaltsverzicht ent- 263 gegenhalten lassen. Die Frage der Wirksamkeit ist nach bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen zu entscheiden3. Zunächst ist ein Verzicht nur im Hinblick auf den nachehelichen Unterhalt zulässig (§ 1585c BGB)4. Im Übrigen ist ein Verzicht auf zukünftigen Unterhalt nach §§ 1614 Abs. 1, 1360a Abs. 3, 1361 Abs. 4 S. 4, 1615l Abs. 3 S. 1 BGB, §§ 5 S. 2, 12 S. 2 LPartG unwirksam. Der Verzicht auf nachehelichen Unterhalt kann aber nach § 138 BGB nichtig oder die Berufung auf ihn kann nach § 242 BGB verwehrt sein. Eine Unterhaltsabrede kann dann sittenwidrig sein, wenn die Ehegatten damit auf der Ehe beruhende Familienlasten objektiv zum Nachteil der Sozialhilfe geregelt haben5. Entscheidend ist der Zeitpunkt des Verzichts6. Auch ohne dass ihm eine Schädigungsabsicht zugrunde 1 2 3 4 5
Vgl. OLG Oldenburg v. 14.1.2010 – 14 UF 134/09, FamRZ 2010, 992. Vgl. OLG Brandenburg v. 23.7.2009 – 9 UF 61/08, FamRZ 2010, 302. Grundlegend BVerfG v. 6.2.2001 – 1 BvR 12/92, FamRZ 2001, 343. Entsprechend anwendbar auf Lebenspartner nach § 16 LPartG. BGH v. 25.10.2006 – XII ZR 144/04, FamRZ 2007, 197 (198) = FamRB 2007, 65; s. auch BGH v. 6.2.2009 – V ZR 130/08, FamRZ 2009, 865. 6 OLG Koblenz v. 20.3.2000 – 13 UF 540/99, FamRZ 2001, 227.
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Kap. 6 A Rn. 264
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liegen müsste, ist ein notariell vereinbarter Verzicht sittenwidrig, wenn zum Zeitpunkt des Verzichts bereits Bedürftigkeit bestand und der Verzichtende zwangsläufig auf Sozialhilfe angewiesen sein wird1. Der Hinweis des Unterhaltsschuldners auf einen wirksamen Unterhaltsverzicht kann etwa dann treuwidrig nach § 242 BGB sein, wenn sich die zurzeit des Unterhaltsverzichts bestehenden und erwarteten Verhältnisse nachträglich so entwickelt haben, dass überwiegende schutzwürdige Interessen der gemeinschaftlichen Kinder der Geltendmachung des Unterhaltsverzichts entgegenstehen2. Ein Unterhaltsverzicht des Hilfeempfängers ist auch dann unwirksam, wenn er zeitlich nach dem Anspruchsübergang erklärt wird.
Û
Wichtig: Der Anspruchsübergang nach § 94 SGB XII hat keine Auswirkungen auf einen etwaigen Befristungseinwand, weil der Sozialhilfeträger sich diesen gem. §§ 412, 404 BGB entgegenhalten lassen muss. Das muss auch gelten, wenn der Unterhaltspflichtige vom Sozialhilfeträger nach § 94 Abs. 4 S. 2 SGB XII auf künftigen Unterhalt in Anspruch genommen wird und die Befristung erst in der Zukunft eingreift3.
bb) Ausschluss und Einschränkungen 264
Der Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Sozialhilfeträger ist nach § 94 Abs. 1 S. 3 Halbs. 1 Alt. 1 ausgeschlossen, wenn der unterhaltsberechtigte Hilfeempfänger mit dem Verpflichteten in einer Bedarfsgemeinschaft/Einsatzgemeinschaft (§ 19 SGB XII) lebt. Der von § 19 SGB XII erfasste Personenkreis ist begünstigt, weil dessen Einkommen und Vermögen bereits bei der Gewährung der Hilfeleistung in die Entscheidung einbezogen ist. Andernfalls würden Einkommen und Vermögen des Unterhaltsschuldners doppelt berücksichtigt werden. Der Übergang ist auch dann ausgeschlossen, wenn der Unterhaltspflichtige mit dem Hilfeempfänger im zweiten oder entfernteren Grade verwandt ist (§ 94 Abs. 1 S. 3 Halbs. 1 2. Alt. SGB XII); mithin können etwa nicht Großeltern für eine Hilfeleistung an das Enkelkind in Regress genommen werden. Nach § 94 Abs. 1 S. 4 SGB XII ist die Heranziehung auch von Verwandten ersten Grades ausgeschlossen für Sozialhilfeleistungen an Schwangere oder an Personen, die ihr Kind bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres betreuen. Davon nicht berührt sind jedoch Unterhaltsansprüche, die nicht auf Verwandtschaft beruhen (etwa gegenüber dem Erzeuger oder dem [früheren] Ehemann). § 94 Abs. 2 SGB XII sieht eine Härteregelung 1 BGH v. 9.7.1992 – XII ZR 57/91, FamRZ 1992, 1403; OLG Köln v. 15.12.1998 – 4 UF 113/98, FamRZ 1999, 920; grds. dazu BGH v. 11.2.2004 – XII ZR 265/02, FamRZ 2004, 601 m. Anm. Borth = FamRB 2004, 105. 2 BGH v. 30.11.1994 – XII ZR 226/93, FamRZ 1995, 291; OLG Koblenz v. 20.3.2000 – 13 UF 540/99, FamRZ 2001, 227. 3 BGH v. 28.4.2010 – XII ZR 141/08, FamRZ 2010, 1057 = FamRB 2010, 229.
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Rn. 265
Kap. 6 A
für Eltern von behinderten und pflegebedürftigen Kindern vor, in dem der auf den Sozialhilfeträger übergehende Unterhaltsanspruch pauschal abgegolten wird. Der allgemeine Anspruchsübergang nach § 94 Abs. 1 SGB XII ist aber nur dann auf die Pauschalbeträge des § 94 Abs. 2 SGB XII begrenzt, wenn die Eltern eines volljährigen Leistungsempfängers in Anspruch genommen werden, der Leistungsempfänger behindert oder pflegebedürftig ist – ohne dass er Eingliederungshilfe i.S.d. § 53 Abs. 1 SGB XII beziehen muss1 – und Leistungen nach dem dritten, sechsten oder siebten Kap. des SGB XII erbracht werden2. Die Regelung greift allerdings nicht bei der Unterhaltspflicht von Kindern gegenüber pflegebedürftigen Eltern. Die gesetzliche Vermutung in § 94 Abs. 2 S. 2 SGB XII, wonach der Unterhaltsanspruch des Kindes iHd. genannten Beträge übergeht und mehrere Unterhaltspflichtige zu gleichen Teilen haften, ist ausdrücklich widerlegbar. Dies setzt allerdings einen Vortrag der unterhaltspflichtigen Eltern zur Leistungsunfähigkeit oder zur abweichenden anteiligen Haftung voraus3. Der privilegierte Anspruchsübergang nach § 94 Abs. 2 SGB XII setzt nicht voraus, dass die unterhaltspflichtigen Eltern für das behinderte oder pflegebedürftige Kind Kindergeld erhalten4. Der Anspruchsübergang ist nach § 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB XII auch dann 265 eingeschränkt bzw. ausgeschlossen, wenn der Unterhaltspflichtige bereits selbst Leistungsberechtigter auf Hilfe zum Lebensunterhalt ist oder beim Übergang des Unterhaltsanspruchs (wenn auch nur zum Teil) werden würde. Um festzustellen, ob ein Unterhaltspflichtiger leistungsberechtigt auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach den §§ 27 ff. SGB XII würde, ist sein potenzieller Bedarf und seine potenzielle Bedürftigkeit, wenn er als Unterhaltsverpflichteter in Anspruch genommen würde, zu prüfen5. Der Anspruchsübergang ist nach § 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII ausgeschlossen, soweit er eine unbillige Härte bedeuten würde. Unbillige Härte ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der von den Gerichten voll nachprüfbar ist und den sich wandelnden Anschauungen in der Gesellschaft unterliegt6. Diese Härte kann in materieller oder immaterieller Hinsicht und entweder in der Person des Unterhaltspflichtigen oder in derjenigen des Hilfeempfängers bestehen. Vorrangig ist jedoch zu prüfen, ob bereits die Vorschriften des bürgerlichen Rechts über die Herabsetzung des Unterhaltsanspruchs, seinen Wegfall oder seine zeitliche Beschrän1 OLG Frankfurt v. 14.7.2010 – 2 UF 238/09, FamRZ 2011, 226 (227). 2 BGH v. 23.6.2010 – XII ZR 170/08, FamRZ 2010, 1418 m. Anm. Kieninger = FamRB 2010, 297. 3 BGH v. 23.6.2010 – XII ZR 170/08, FamRZ 2010, 1418 m. Anm. Kieninger = FamRB 2010, 297. 4 BGH v. 23.6.2010 – XII ZR 170/08, FamRZ 2010, 1418 m. Anm. Kieninger = FamRB 2010, 297. 5 Vgl. zur sozialhilferechtlichen Einkommensermittlung Ehinger in: Ehinger/ Griesche/Rasch, Rn. 282; Scholz, FamRZ 2004, 751 (757). 6 BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 251/01, FamRZ 2004, 1097 = FamRB 2004, 283; BGH v. 23.6.2010 – XII ZR 170/08, FamRZ 2010, 1418 m. Anm. Kieninger = FamRB 2010, 297.
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Kap. 6 A Rn. 265
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kung eingreifen1. Eine zivilrechtliche Störung familiärer Beziehungen i.S.d. § 1611 BGB genügt grundsätzlich nicht, um eine unbillige Härte nach § 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII zu begründen und damit einen Anspruchsübergang auszuschließen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der nach § 1611 BGB zu beurteilende Lebenssachverhalt aus Sicht des Sozialhilferechts auch soziale Belange erfasst, die einen Übergang des Anspruchs nach öffentlich-rechtlichen Kriterien ausschließen2. Eine Inanspruchnahme des Unterhaltspflichtigen kann aus der Sicht des Sozialhilferechts etwa dann soziale Belange vernachlässigen3, wenn der Unterhaltspflichtige die leistungsberechtigte Person vor Eintreten der Sozialhilfe über das Maß seiner zumutbaren Unterhaltsverpflichtung hinaus gepflegt und betreut hat4 bzw. solche Pflegeleistungen weiterhin erbringt. Das gilt insbesondere dann, wenn der Leistungsträger durch die familiäre Pflege weitere Leistungen erspart, die das von ihm nach § 64 SGB XII zu zahlende Pflegegeld noch deutlich übersteigen5. Eine unzumutbare Härte kann auch dann vorliegen, wenn die laufende Heranziehung in Anbetracht der sozialen und wirtschaftlichen Lage des Unterhaltspflichtigen mit Rücksicht auf die Höhe und Dauer des Bedarfs zu einer nachhaltigen und unzumutbaren Beeinträchtigung des Unterhaltspflichtigen und der übrigen Familienmitglieder führen würde6. Das kann etwa dann denkbar sein, wenn beim Elternunterhalt auch ein unterhaltsrechtlich deutlich überobligatorisch erzieltes Erwerbseinkommen der Ehefrau bei der Inanspruchnahme eines Verheirateten berücksichtigt würde7. Hingegen wird beim Elternunterhalt eine unverschuldete völlige Entfremdung des Kindes von seiner Mutter als nicht ausreichend erachtet8. Regelmäßig sollte § 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII beim Elternunterhalt aber kaum noch Bedeutung haben, weil das unterhaltspflichtige Kind durch den hohen Selbstbehalt, den der BGH ihm zubilligt, idR ausreichend geschützt ist9. Nach § 94 Abs. 3 SGB XII scheidet ein Anspruchsübergang auch dann aus, wenn er sich nach bürgerlich-rechtlichen Maßstäben auf fiktive Einkünfte stützt10. 1 Vgl. BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 (189) m. Anm. Schürmann = FamRB 2004, 144. 2 BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 148/09, FamRZ 2010, 1888 m. Anm. Hauß = FamRB 2010, 360. 3 S. dazu auch BGH v. 23.7.2003 – XII ZR 339/00, FamRZ 2003, 1468 (1470). 4 Vgl. etwa OLG Koblenz v. 27.11.2000 – 13 UF 192/00, FamRZ 2001, 1237; OLG Köln v. 18.11.1999 – 14 UF 55/99, FamRZ 2000, 1242. 5 OLG Oldenburg v. 14.1.2010 – 14 UF 134/09, FamRZ 2010, 992. 6 S. auch die Beispiele bei BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 251/01, FamRZ 2004, 1097 = FamRB 2004, 283; BGH v. 23.6.2010 – XII ZR 170/08, FamRZ 2010, 1418 m. Anm. Kieninger = FamRB 2010, 297. 7 OLG Celle v. 9.12.2009 – 15 UF 148/09, FamRZ 2010, 817. 8 OLG Hamm v. 6.8.2009 – II 2 UF 241/08, FamRZ 2010, 303; vgl. auch OLG Celle v. 2.11.2010 – 10 UF 176/10, FamRZ 2011, 984. 9 Vgl. Scholz, FamRZ 2004, 751 (760). 10 BGH v. 31.5.2000 – XII ZR 119/98, FamRZ 2000, 1358; OLG Köln v. 29.12.2009 – 4 WF 183/09, FamRZ 2010, 1380.
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Rn. 268
Kap. 6 A
cc) Rechtswahrungsanzeige Unterhalt für die Vergangenheit kann der Sozialhilfeträger neben den im 266 Zivilrecht nur ausnahmsweise vorgesehenen Fällen (§§ 1613 Abs. 2, 1585b, 1615l Abs. 3 S. 4 BGB) auch nach § 94 Abs. 4 S. 1 SGB XII fordern. Das gilt allerdings nur von der Zeit an, zu welcher er dem Unterhaltspflichtigen die Erbringung der Leistung schriftlich mitgeteilt hat. Diese schriftliche Mitteilung (Rechtswahrungsanzeige) ist kein Verwaltungsakt, sondern lediglich schlichtes Verwaltungshandeln1. Sie muss nicht, sollte aber aus Beweisgründen förmlich zugestellt werden2. Die Mitteilung hat zwar die Wirkung einer Mahnung, muss jedoch nicht ihre bürgerlich-rechtlichen Voraussetzungen erfüllen. Mit Zugang der Mitteilung kann Unterhalt für die Vergangenheit gefordert werden, wenn die vorstehend erörterten Voraussetzungen für einen Übergang auf den Sozialhilfeträger erfüllt sind. Nach § 94 Abs. 4 S. 2 SGB XII hat der Sozialhilfeträger auch die Mög- 267 lichkeit, künftige Unterhaltsansprüche bis zur Höhe der bisherigen monatlichen Aufwendungen geltend zu machen, wenn die Leistung voraussichtlich für einen längeren Zeitraum erbracht wird. Allgemein wird angenommen, dass bei einem Zeitraum von länger als sechs Monaten diese Voraussetzung erfüllt ist3. In den Ausspruch eines seiner Klage stattgebenden Urteils ist die Bedingung aufzunehmen, dass der Sozialhilfeträger künftig Sozialhilfe iHd. zugesprochenen Beiträge leistet4. dd) Verfahrensrechtliche Folgen Aufgrund der cessio legis ist der Leistungsberechtigte und bisherige Unterhaltsgläubiger – außer im Fall des § 94 Abs. 5 SGB XII – nicht mehr zur Geltendmachung des Anspruchs berechtigt. Mit dem gesetzlichen Forderungsübergang entfällt auch die Prozessführungsbefugnis des Unterhaltsberechtigten. Künftigen Unterhalt kann der Unterhaltsberechtigte jedoch auch bei Bezug von Sozialhilfeleistungen in eigenem Namen geltend machen5. Erhält der Unterhaltsberechtigte erstmals während eines laufenden Unterhaltsverfahrens Sozialhilfe und geht damit der rechtshängige Anspruch auf den Sozialhilfeträger über, so führt der Hilfeempfänger den Rechtsstreit gem. § 265 Abs. 2 ZPO in Prozessstandschaft fort6. Allerdings muss er den Klageantrag iHd. Anspruchsübergangs auf Zahlung an den Sozialhilfeträger umstellen7. 1 2 3 4
LPK-SGB XII/Münder, § 94 Rn. 82. Vgl. Eberl-Borges/Schüttlöffel, FamRZ 2006, 589 (593). LPK-SGB XII/Münder, § 94 Rn. 83. BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 1/91, FamRZ 1992, 797 zur Vorgängerregelung § 90 BSHG; ausdrücklich zu § 94 Abs. 4 S. 2 SGB XII OLG Stuttgart v. 4.5.2006 – 15 WF 110/06, FamRZ 2006, 1769 (1770) = FamRB 2006, 367. 5 BGH v. 14.6.1995 – XII ZR 171/94, FamRZ 1995, 1131. 6 BGH v. 14.6.1995 – XII ZR 171/94, FamRZ 1995, 1131. 7 Vgl. auch BGH v. 27.9.2000 – XII ZR 174/98, NJW-RR 2001, 1081.
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Kap. 6 A Rn. 269 269
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Nach § 94 Abs. 5 S. 1 SGB XII kann der Sozialhilfeträger im Einvernehmen1 mit dem Leistungsberechtigten den übergegangenen Unterhaltsanspruch zum Zweck der gerichtlichen Geltendmachung auf diesen zurückübertragen. Das Einvernehmen sollte im Rahmen einer umfassenden schriftlichen (vgl. §§ 398, 410 BGB) Vereinbarung, in der die beiderseitigen Rechte und Pflichten geregelt sind, hergestellt werden (Rückabtretungsvereinbarung). In ihr sollten etwa Regelungen zur Hinzuziehung eines Rechtsanwalts getroffen, zu möglichen Kosten und zur Frage Stellung genommen werden, inwieweit Vergleiche ohne Zustimmung des Sozialhilfeträgers geschlossen oder Anträge auf einstweilige Anordnung gestellt werden können2.
Û
Praxistipp: Die Rückübertragung bietet sich aus prozessökonomischen Gründen an, wenn der Unterhaltsanspruch nur teilweise übergegangen, im Übrigen aber beim Leistungsberechtigten verblieben ist. Mit einer einheitlichen Klage werden dann zwei unterschiedliche Ansprüche verfolgt, deren jeweilige Besonderheiten im Sachvortrag zu beachten sind.
270
Soweit ein Sozialhilfeempfänger nach § 94 Abs. 5 S. 1 SGB XII rückübertragene Unterhaltsansprüche geltend macht, steht ihm ein Anspruch auf Prozesskostenvorschuss gegen den Sozialhilfeträger zu, der als Vermögenswert seine Bedürftigkeit i.S.d. §§ 76 ff. FamFG ausschließt3. Die Rückübertragung an den Leistungsempfänger wird trotz der öffentlichrechtlichen Gesetzesgrundlage durch privatrechtliche Abtretung nach § 398 BGB vollzogen, der ein Auftragsverhältnis zwischen dem Sozialhilfeträger und dem Leistungsempfänger zugrunde liegt (§ 662 BGB). Dabei übernimmt der Leistungsempfänger unentgeltlich die Besorgung eines Geschäfts des Sozialhilfeträgers4. Dem Leistungsberechtigten steht aus § 94 Abs. 5 S. 2 SGB XII ein Anspruch auf Prozesskostenvorschuss gegen den Sozialhilfeträger zu, den er als zu seinem Vermögen gehörend für die Kosten der Prozessführung einzusetzen hat.
271
Für die Geltendmachung laufenden Unterhalts ab Rechtshängigkeit der Klage ist dem Leistungsberechtigten indessen stets Prozesskostenhilfe zu bewilligen, soweit nach seinem Vortrag Erfolgsaussicht besteht und er selbst bedürftig ist. Auch wenn er in der Vergangenheit Sozialhilfe bezogen hat und der Sozialhilfeträger deshalb iHd. bisherigen monatlichen Aufwendungen nach § 94 Abs. 4 S. 2 SGB XIII selbst auf laufenden Unter-
1 Vgl. dazu etwa OLG Frankfurt v. 1.4.1999 – 5 WF 123/98, FamRZ 1999, 1283. 2 Zu Einzelheiten s. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, Eigenverlag 2008, Rn. 220. 3 BGH v. 2.4.2008 – XII ZB 266/03, FamRZ 2008, 1159 m. Anm. Günther = FamRB 2008, 206. 4 Vgl. OLG Oldenburg v. 3.4.2003 – 12 WF 22/03, FamRZ 2003, 1761 (1762); OLG Frankfurt v. 1.4.1999 – 5 WF 123/98, FamRZ 1999, 1283 (1284).
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Rn. 273
Kap. 6 A
halt klagen könnte, hat der Leistungsberechtigte ein begründetes und anerkennenswertes Interesse, den Unterhalt künftig v. Pflichtigen und nicht v. Sozialamt zu erhalten1. Der Unterhaltsgläubiger kann deshalb für eine beabsichtigte Klage auf laufenden Unterhalt ab Rechtshängigkeit nicht darauf verwiesen werden, im Interesse des Sozialhilfeträgers zu handeln und gegen diesen einen Prozesskostenvorschuss geltend zu machen. Sofern laufende Unterhaltsansprüche ab Rechtshängigkeit auf den Sozialhilfeträger übergehen, bleibt der Leistungsempfänger – auch ohne Rückübertragung – nach § 265 Abs. 2 S. 1 ZPO prozessführungsbefugt; insoweit hat er seinen Antrag auf Zahlung an den Sozialhilfeträger umzustellen2. Zwar sieht § 94 Abs. 5 S. 1 SGB XII ausdrücklich die Rückübertragung 272 kraft Gesetzes übergegangener Unterhaltsansprüche vor, weshalb es auch dem Gebot der Prozessökonomie entspricht, die beim Unterhaltsgläubiger verbliebenen und die v. Sozialleistungsträger rückübertragenen Ansprüche in einem einheitlichen Verfahren geltend zu machen. Allein der Gesichtspunkt der Prozessökonomie begründet aber regelmäßig kein im Bewilligungsverfahren zu berücksichtigendes Interesse des Sozialleistungsberechtigten an einer einheitlichen Geltendmachung bei ihm verbliebener und v. Sozialleistungsträger rückübertragener Unterhaltsansprüche. Lediglich dann, wenn der Leistungsberechtigte durch den Verweis auf den Vorschuss eigene Nachteile erleiden würde oder wenn sich die Geltendmachung rückübertragener Ansprüche neben den beim Unterhaltsgläubiger verbliebenen Unterhaltsansprüchen kostenrechtlich nicht auswirkt, ist der Einsatz des Vorschusses nicht zumutbar3. Ist der Unterhaltsanspruch bei Forderungsübergang bereits für den Hilfe- 273 empfänger tituliert, kann der Sozialhilfeträger unter Beachtung des § 727 ZPO die Titelumschreibung beantragen4. Umgekehrt kann der Titel auf den Unterhaltsberechtigten nach § 727 ZPO umgeschrieben werden, wenn die Sozialhilfeleistung (teilweise) eingestellt wird. Der Sozialhilfeträger ist auch bei einer Abänderungsklage nach § 323 ZPO passiv legitimiert, wenn er Inhaber des übergegangenen Anspruchs ist5.
1 BGH v. 2.4.2008 – XII ZB 266/03, FamRZ 2008, 1159 m. Anm. Günther = FamRB 2008, 206. 2 Vgl. BGH v. 14.6.1995 – XII ZR 171/94, FamRZ 1995, 1131 (1134). 3 BGH v. 2.4.2008 – XII ZB 266/03, FamRZ 2008, 1159 m. Anm. Günther = FamRB 2008, 206. 4 OLG Stuttgart v. 5.12.2000 – 8 WF 84/00, FamRZ 2001, 838 = MDR 2001, 695; s. zu Einzelheiten auch OLG Karlsruhe v. 5.8.2003 – 5 WF 87/03, FamRZ 2004, 556. 5 BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 1/91, FamRZ 1992, 797; zur Abänderung eines Vergleichs OLG Karlsruhe v. 21.12.2004 – 2 UF 103/04, FamRZ 2005, 1756.
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Kap. 6 A Rn. 274
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4. Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) 274
Das am 1.1.2005 in Kraft getretene SGB II1 regelt die Grundsicherung für Arbeitsuchende2. Das SGB II hat die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe für Erwerbsfähige zu einer einheitlichen Leistung, dem Arbeitslosengeld II, zusammengeführt. Leistungen nach dem SGB II erhalten Personen zwischen 15 und 65 Jahren, die erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (vgl. § 7 Abs. 1 SGB II)3. Nicht erwerbsfähige Angehörige, die mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten Sozialgeld (§ 19 Abs. 1 S. 2 SGB II). Grob skizziert sind unter der in § 7 Abs. 2 und 3 SGB II normierten Bedarfsgemeinschaft erwerbsfähige Hilfebedürftige zu verstehen, die mit Familienangehörigen oder Partnern in einem Haushalt zusammenleben und wirtschaften4. Im Übrigen gilt für nicht erwerbsfähige Menschen weiterhin das Sozialhilferecht, das im SGB XII geregelt ist (vgl. dazu Rn. 255). Hinsichtlich der unterhaltsrechtlichen Berücksichtigung der Leistungen nach dem SGB II ist zwischen dem Unterhaltsgläubiger und dem Unterhaltsschuldner zu unterscheiden5. a) Unterhaltsrechtliche Einordnung der Leistungen nach dem SGB II aa) Leistungsbezug durch den Unterhaltsschuldner
275
Da der Bezug von Leistungen nach dem SGB II Erwerbsfähigkeit voraussetzt, ist in einem ersten Schritt im Hinblick auf den Unterhaltsschuldner zu prüfen, ob er seiner Erwerbsobliegenheit nachgekommen und ob ihm ein fiktives Einkommen zuzurechnen ist. Das SGB II nimmt den Arbeitsuchenden dabei zwar stärker als nach alter Rechtslage in die Pflicht (vgl. etwa §§ 10, 15 SGB II), allein der Bezug von Arbeitslosengeld II gibt jedoch noch keine Antwort darauf, ob der Unterhaltsschuldner seinen Verpflichtungen genügt6. So muss ein auf Zahlung des Regelbetrags in Anspruch genommener Elternteil im Rahmen seiner gesteigerten Erwerbsobliegenheit seine tatsächliche Leistungsunfähigkeit substantiiert darlegen und beweisen. Der bloße Hinweis auf den Bezug von Arbeitslosengeld II genügt dem nicht7. 1 Das SGB II ist Art. 1 des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt v. 24.12.2003, BGBl. I 2003, 2954 („Hartz IV“). 2 Vgl. zu den Änderungen des SGB II durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches SGB v. 24.3.2011, BGBl. I 453 Schürmann, FamRZ 2011, 1188. 3 Zu den Auswirkungen des SGB II auf das Unterhaltsrecht ausführl. Scholz, FamRZ 2006, 1417. 4 Vgl. auch Reinecke, FPR 2009, 452. 5 Vgl. Klinkhammer, FamRZ 2004, 1909 (1913). 6 OLG Brandenburg v. 7.2.2008 – 9 UF 157/07, FamRZ 2008, 2304 (2305); zu Einzelheiten Klinkhammer, FamRZ 2004, 1909 (1913). 7 OLG Brandenburg v. 17.3.2005 – 9 UF 148/04, NJW-RR 2005, 949; OLG Koblenz v. 6.2.2006 – 7 WF 107/06, FamRZ 2006, 1296.
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Û
Rn. 278
Kap. 6 A
Praxistipp: Im Kindesunterhaltsprozess berufen sich Unterhaltsverpflichtete häufig auf mangelnde Leistungsfähigkeit wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II und verweisen auf erfolglose Bemühungen um eine Vollbeschäftigung1. Es besteht aber auch eine Pflicht zur Ausübung einer Nebenerwerbstätigkeit. Bei fehlenden Bemühungen um Nebeneinkünfte, ist deshalb auch der Ansatz eines fiktiven Einkommens in Erwägung zu ziehen2.
Hat der Unterhaltsschuldner keine unterhaltsrechtliche Pflicht verletzt, 276 stellt sich im zweiten Schritt die Frage, ob die Leistungen nach dem SGB II bei ihm als unterhaltsrechtliches Einkommen anzusetzen sind. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist – im Gegensatz zur früheren Arbeitslosenhilfe und zum Arbeitslosengeld3 – nicht als Lohnersatz konzipiert, sondern dient grundsätzlich der Sicherung des Lebensunterhalts. Ob das Arbeitslosengeld II dennoch beim Unterhaltsverpflichteten als unterhaltsrechtlich relevantes Einkommen zu qualifizieren ist4, kann in der familienrechtlichen Praxis dahinstehen. Denn die addierten Sozialleistungen (Arbeitslosengeld II und Kosten der Unterkunft) liegen gewöhnlich nicht über dem Selbstbehaltssatz nach der Düsseldorfer Tabelle, so dass ein allein auf das Arbeitslosengeld II gerichteter Anspruch schon an der mangelnden Leistungsfähigkeit des Schuldners scheitern wird5. Im Übrigen bedarf es einer genauen Betrachtung der einzelnen Leistun- 277 gen nach dem SGB II: So kam dem zum 1.1.2011 weggefallenen6 befristeten Zuschlag nach Bezug von Arbeitslosengeld gem. § 24 SGB II wie dem früheren Arbeitslosengeld Lohnersatzfunktion zu7. Er war eine neben die Sicherung des Lebensunterhalts tretende zusätzliche Leistung8. Auf Seiten des Unterhaltsschuldners war er als verfügbares Einkommen für den Unterhalt einzusetzen9. Das gem. § 16b SGB II als Zuschuss zum Arbeitslosengeld II gewährte Einstiegsgeld gehört ebenfalls nicht zu den Leistungen zur Sicherung des
1 2 3 4
5 6 7 8 9
Vgl. etwa OLG Brandenburg v. 7.2.2008 – 9 UF 157/07, FamRZ 2008, 2304. Vgl. auch KG Berlin v. 1.10.2010 – 13 UF 91/10, FamRZ 2011, 1302. Vgl. BGH v. 25.2.1987 – IVb ZR 36/86, FamRZ 1987, 456 = MDR 1987, 653. So etwa Nr. 2.2. der Unterhaltsrechtlichen Leitlinien – ua. – der Familiensenate des OLG Braunschweig; Götsche, FamRB 2006, 53 (55); vgl. aber auch OLG Stuttgart v. 5.2.2008 – 18 UF 225/07, FamRZ 2008, 1653; OLG München v. 28.11.2005 – 16 UF 1262/05, FamRZ 2006, 1125; OLG Celle v. 15.3.2006 – 15 UF 54/05, FamRZ 2006, 1203; offengelassen Klinkhammer, FamRZ 2004, 1909 (1913). Renken, FPR 2007, 352 (353). Vgl. Schürmann, FamRB 2011, 17 (18). OLG München v. 28.11.2005 – 16 UF 1262/05, FamRZ 2006, 1125; s. auch OLG Zweibrücken v. 24.5.2005 – 6 WF 84/05, FamRZ 2006, 135. Klinkhammer, FamRZ 2006, 1171 (1172). Klinkhammer, FamRZ 2004, 1909 (1914).
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Kap. 6 A Rn. 279
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Lebensunterhalts1. Es ist beim Unterhaltsschuldner als unterhaltsrechtliches Einkommen zu berücksichtigen. Gem. § 16d SGB II sollen für erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die keine Arbeit finden können, Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden. Werden Gelegenheiten für im öffentlichen Interesse liegende, zusätzliche Arbeiten gefördert, ist den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zusätzlich zum Arbeitslosengeld II eine angemessene Entschädigung für Mehraufwendungen zu zahlen („Ein-Euro-Jobs“). Diese Mehraufwandsentschädigung ist ebenfalls als unterhaltsrechtliches Einkommen zu berücksichtigen2. Im Rahmen der gesteigerten Erwerbsobliegenheit eines Unterhaltspflichtigen für Minderjährigenunterhalt geht eine vollschichtige Arbeit auf dem freien Arbeitsmarkt einer Beschäftigung nach § 16d SGB II vor, so dass sich der Unterhaltspflichtige, der eine solche öffentlich geförderte und bezahlte Beschäftigung ausübt, ein fiktives Einkommen zurechnen lassen muss3. 279
Leistungen nach SGB II setzen Erwerbsfähigkeit voraus. Erwerbsfähige Hilfebedürftige können und sollen erwerbstätig sein. Sie dürfen Nebeneinkünfte erzielen. Bei einer tatsächlich ausgeübten Erwerbstätigkeit ist das daraus resultierende Einkommen zunächst um Steuern und Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung zu kürzen; weiter sind sonstige Versicherungsbeiträge, soweit gesetzlich vorgesehen oder nach Grund und Höhe angemessen, geförderte Vorsorgeaufwendungen und Werbungskosten abzuziehen (§ 11b Abs. 1 Nrn. 1–5 SGB II). Das bereinigte Einkommen aus Erwerbstätigkeit ist dann noch gem. § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 6 i.V.m. Abs. 3 um einen Freibetrag zu kürzen, der einen Arbeitsanreiz schaffen soll4. Zum Teil wird ein Unterhaltsschuldner, der neben den Leistungen nach dem SGB II Einkünfte aus geringfügiger Beschäftigung erzielt oder dem solche fiktiv zuzurechnen sind, insoweit als leistungsfähig angesehen, als sein Einkommen unter Einschluss der Leistungen nach dem SGB II über dem Selbstbehalt liegt. Die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners soll sich dabei danach bemessen, welches Einkommen ihm nach Anwendung der Anrechnungsvorschrift des § 11b SGB II verbleibt5. Es wird auch erwogen, den Wohnkostenanteil im Selbstbehalt herabzusetzen, wenn die Kosten für Unterkunft und Heizung des Unterhaltsschuldners ganz oder überwiegend durch Sozialleistungen nach dem SGB II getragen werden6. Fraglich ist freilich, ob dieser unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeitsbegriff noch mit sozialrechtlichen Grundsätzen in Einklang steht.
280
Leistungen, die der Unterhaltsberechtigte nach den §§ 19 ff. SGB II bezogen hat, können ausnahmsweise als Einkommen zu behandeln sein, wenn die Nichtberücksichtigung treuwidrig wäre, etwa weil nicht mehr 1 2 3 4
OLG Celle v. 15.3.2006 – 15 UF 54/05, FamRZ 2006, 1203. Hußmann, FPR 2007, 354 (358). OLG Brandenburg v. 15.2.2011 – 10 UF 106/10, FamRZ 2011, 1302. Zu Einzelheiten der Berechnung vgl. Scholz, FamRZ 2006, 1417 (1419); s. auch Schürmann, FamRZ 2011, 1188. 5 KG Berlin v. 1.10.2010 – 13 UF 91/10, FamRZ 2011, 1302. 6 OLG Brandenburg v. 23.12.2010 – 9 UF 79/10, FamRZ 2011, 733.
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Rn. 282
Kap. 6 A
davon auszugehen ist, dass der Leistungsträger die Unterhaltsansprüche auf sich überleitet1. Nach § 9 Abs. 2 SGB II wird das zur Verfügung stehende Einkommen auf 281 die einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft verteilt. Lebt ein Unterhaltspflichtiger mit einem unterhaltsberechtigten Kind gemeinsam in einer Bedarfsgemeinschaft und leben andere unterhaltsberechtigte Kinder außerhalb der Gemeinschaft, dann führt die bedarfsgemeinschaftsinterne Umschichtung nach § 9 Abs. 2 SGB II nicht zu einer unterhaltsrechtlich relevanten Einkommensreduzierung2. Werden dem Unterhaltspflichtigen Leistungen nach dem SGB II gerade deshalb gewährt, weil sein an sich vorhandenes – und unterhaltsrechtlich zu berücksichtigendes – Einkommen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft in der Weise umverteilt worden ist, dass er seinen sozialrechtlich bestehenden Bedarf nicht mehr selbst decken kann, können diese Leistungen nicht als unterhaltsrechtlich relevantes Einkommen qualifiziert werden. Wird der Unterhaltspflichtige in diesen Fällen so behandelt, als verfüge er über sein gesamtes Einkommen, kann ihm andererseits nicht noch zusätzlich der Teil zugerechnet werden, den er nur wegen seiner bedarfsgemeinschaftsinternen Reduzierung des Einkommens nach dem SGB II beanspruchen kann3. Nach § 11b Abs. 1 Nr. 7 SGB II4 werden Aufwendungen, die der Leistungs- 282 berechtigte zur Erfüllung gesetzlicher Unterhaltsansprüche zu erbringen hat, bis zu dem in einem Unterhaltstitel, einer notariell beurkundeten Unterhaltsvereinbarung oder einer freiwillig errichteten Jugendamtsurkunde5 festgelegten Betrag v. Einkommen abgesetzt. Der Regelung liegt der Gedanke zugrunde, dass titulierte Unterhaltsansprüche bereits aufgrund der Möglichkeit einer jederzeitigen Pfändung dem Empfänger von Sozialleistungen nicht als bereites Einkommen zur Verfügung stehen. § 11b Abs. 1 Nr. 7 SGB II, der ausschließlich die sozialrechtliche Anrechnung des Einkommens betrifft, spielt dann eine Rolle, wenn der Unterhaltsschuldner mit weiteren Personen in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, denen gegenüber er selbst gar nicht oder nachrangig zum Unterhalt verpflichtet ist oder wenn ein Unterhaltstitel bereits vor dem Leistungsbezug nach dem SGB II geschaffen wurde. Wird ein Leistungsberechtiger bei Leistung des titulierten Anspruchs selbst hilfebedürftig, hat er auf einen Wegfall dieser Verpflichtung hinzuwirken6. § 11b Abs. 1 Nr. 7 SGB II führt aber nicht zu einer Ausweitung der unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners7. Die Regelung eröffnet nicht 1 Vgl. OLG Celle v. 29.5.2006 – 10 UF 107/06, FamRZ 2006, 1715; s. auch OLG Brandenburg v. 23.6.2009 – 10 UF 133/08, juris. 2 OLG Bremen v. 19.7.2006 – 4 UF 46/06, FamRZ 2007, 1036 (1037). 3 OLG Bremen v. 19.7.2006 – 4 UF 46/06, FamRZ 2007, 1036 (1038). 4 Geändert durch Gesetz v. 29.3.2011, BGBl. I 453. 5 Vgl. BSG v. 9.11.2010 – B 4 AS 78/10 R, FamRZ 2011, 810. 6 Vgl. Schürmann, FamRB 2010, 231. 7 OLG Hamm v. 28.4.2009 – 13 UF 2/09, FamRZ 2010, 570; OLG Düsseldorf v. 9.6.2010 – II-8 UF 46/10, FamRZ 2010, 1740; Schürmann, FamRB 2010, 231.
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Kap. 6 A Rn. 283
Sozialleistungen
die Möglichkeit eines anrechnungsfreien Hinzuverdienstes in Höhe einer bestehenden Unterhaltsverpflichtung neben dem Bezug von Arbeitslosengeld II, wenn der Unterhaltsanspruch nicht bereits bei Beginn des Bezugs von Arbeitslosengeld tituliert war1.
Û
Praxistipp: Es spricht zwar grundsätzlich nichts dagegen, dass ein Unterhaltspflichtiger freiwillig Unterhalt in bestimmter Höhe und ab einem bestimmten Zeitpunkt in der erforderlichen Form tituliert, wenn er aus unterhaltsrechtlicher Sicht den titulierten Unterhalt unter Wahrung seines Selbstbehalts erwirtschaftet, es jedenfalls ab Beginn des Unterhaltszeitraums zu erwarten ist und entsprechende Leistungen an den Unterhaltsberechtigten erbringt oder erbringen will2. Gleichwohl lässt sich aus § 11b Abs. 1 Nr. 7 SGB II keine Verpflichtung oder unterhaltsrechtliche Obliegenheit des Leistungsbeziehers ableiten, losgelöst von einer unterhaltsrechtlichen Bewertung oder gerichtlichen Klärung einen Unterhaltstitel zu erstellen. Das sollte beachtet werden, wenn ein Leistungsempfänger von der Gegenseite aufgefordert wird, wegen der Anrechnungsfreiheit nach § 11b Abs. 1 Nr. 7 SGB II einen Unterhaltstitel zu erstellen3. Durch die Erhöhung des notwendigen Selbstbehalts in der Düsseldorfer Tabelle für Erwerbstätige v. 1.1.2011 an von 900 Euro auf 950 Euro sollte zwar nach Möglichkeit auch verhindert werden, dass wegen Unterhaltsverpflichtungen (ergänzende) Ansprüche nach dem SGB II enstehen4. Die Titulierung von Unterhalt kann aber im Hinblick auf die Anrechnungsregelung des § 11b Abs. 1 Nr. 7 SGB II und im Zusammenspiel mit den weiteren Absetzbeträgen des § 11b SGB II auch bei einem Selbstbehalt von 950 Euro noch dazu führen, dass es zu ergänzenden Ansprüchen auf Leistungen nach dem SGB II kommt5. Sobald ein Unterhaltstitel vorliegt, sollte der Unterhaltspflichtige ihn dem Sozialleistungsträger vorlegen, damit diese Unterhaltspflicht bei künftigen Berechnungen der Leistungen nach dem SGB II gewürdigt wird6.
bb) Leistungsbezug durch den Unterhaltsberechtigten 283
§ 33 SGB II wurde mit Wirkung v. 1.8.2006 an neu gefasst7 und die ursprüngliche Anspruchsüberleitung mittels Verwaltungsakt durch eine 1 OLG Hamm v. 28.4.2009 – 13 UF 2/09, FamRZ 2010, 570; aA aber OLG Brandenburg v. 6.2.2007 – 10 UF 157/06, FamRZ 2007, 1905; OLG Schleswig v. 26.5.2009 – 12 WF 188/09, FamRB 2010, 231; OLG Koblenz v. 6.2.2006 – 7 WF 107/06, FamRZ 2006, 1296; KG Berlin v. 1.10.2010 – 13 UF 91/10, FamRZ 2011, 1302. 2 Vgl. auch OLG Brandenburg v. 7.2.2008 – 9 UF 157/07, FamRZ 2008, 2304 (2306). 3 Renken, FPR 2007, 352 (354). 4 S. Soyka, FamRZ 2011, 73. 5 Vgl. mit Beispiel Riegner, FPR 2011, 129. 6 S. auch AG Rotenburg v. 8.2.2007 – 16 F 9/07, FamRZ 2007, 1919. 7 Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende v. 20.7.2006, BGBl. I 1706.
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Rn. 286
Kap. 6 A
cessio legis ersetzt (zu Einzelheiten s. Rn. 288). Eine Konsequenz des gesetzlichen Forderungsübergangs nach § 33 SGB II ist, dass das einem Unterhaltsberechtigten nach § 7 SGB II gewährte Arbeitslosengeld II grundsätzlich nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist1. Arbeitslosengeld II ist beim Unterhaltsberechtigen demnach nicht bedarfsdeckend und lässt als subsidiäre Leistung den Unterhaltsanspruch nicht entfallen2. Die Geltendmachung von Unterhalt durch den Hilfeempfänger kann jedoch treuwidrig sein, wenn er infolge des Ausschlusses des Anspruchsübergangs (vgl. § 33 Abs. 2 SGB II) insbesondere für die Vergangenheit durch Arbeitslosengeld II oder das Sozialgeld und den Unterhalt mehr als seinen Bedarf erhalten würde3. Das gem. § 16b SGB II als Zuschuss zum Arbeitslosengeld II gewährte Einstiegsgeld hat auch auf Seiten des Unterhaltsberechtigten Lohnersatzfunktion, so dass es in die Unterhaltsberechnung einzustellen ist4. Es dient nicht der Sicherung des Lebensunterhalts, sondern der Eingliederung in den Arbeitsmarkt und soll einen Anreiz für die Fortführung einer aufgenommenen Erwerbstätigkeit darstellen5.
284
b) Typische Probleme bei Empfängern von Arbeitslosengeld II In Unterhaltsprozessen unter Beteiligung von Empfängern von Arbeitslosengeld II stellen sich gewöhnlich auch Fragen zur Berücksichtigung der Wohnkosten, des Kinderzuschlags und des Anspruchsübergangs.
285
aa) Wohngeld nach dem WoGG Bis einschließlich 2004 erhielten Sozialhilfeempfänger neben der Sozial- 286 hilfe Wohngeld nach dem WoGG. Seit dem 1.1.2005 erhalten sowohl Sozialhilfeempfänger als auch Empfänger von Leistungen des Arbeitslosengeldes II und des Sozialgeldes nach SGB II ihre angemessenen Wohnkosten in vollem Umfang als Leistungen nach dem SGB XII bzw. SGB II. Dementsprechend sind Empfänger von Leistungen nach dem SGB II, bei deren Berechnung Kosten der Unterkunft berücksichtigt worden sind, von Wohngeld nach dem WoGG ausgeschlossen (vgl. § 7 WoGG). Die Kosten für Unterkunft sind in voller Höhe als Aufwendungen i.S.d. § 33 Abs. 1 S. 1 SGB II anzusehen6. Diese Leistungen sind beim Unterhaltsgläubiger nicht zu berücksichtigen. Der Unterhaltsschuldner wird also nicht dadurch entlastet, dass der kommunale Träger der Grundsicherung 1 BGH v. 10.11.2010 – XII ZR 37/09, FamRZ 2011, 97 = FamRB 2011, 38 = FamRBint 2011, 28. 2 BGH v. 19.11.2008 – XII ZR 129/06, FamRZ 2009, 307 (309) m. Anm. Günther = FamRB 2009, 104 und FamRB 2009, 105. 3 Vgl. BGH v. 17.3.1999 – XII ZR 139/97, FamRZ 1999, 843 (847) noch zu § 91 BSHG. 4 OLG Celle v. 15.3.2006 – 15 UF 54/05, FamRZ 2006, 1203. 5 Im Ergebnis so auch Klinkhammer, FamRZ 2006, 1171 (1172). 6 Scholz, FamRZ 2006, 1417 (1422).
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Kap. 6 A Rn. 287
Sozialleistungen
Leistungen für die Unterkunft erbringt, die früher als Wohngeld gewährt wurden1. bb) Kinderzuschlag nach § 6a BKGG 287
Mit Wirkung zum 1.1.2005 wurde im Kontext mit SGB II der § 6a BKGG eingeführt2. Er sieht einen einkommensabhängigen Kinderzuschlag zugunsten des betreuenden Elternteils vor3. Der Kinderzuschlag ist für Eltern gedacht, bei denen ihr eigener Bedarf nach dem SGB II durch eigenes Einkommen sichergestellt werden kann, sie aber Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld in Anspruch nehmen müssten, wenn sie zusätzlich noch den Bedarf ihres Kindes zu decken hätten. Nach § 11 Abs. 1 S. 3 SGB II ist der Kinderzuschlag zwar als Einkommen dem jeweiligen Kind zuzurechnen. Unterhaltsrechtlich ist der Kinderzuschlag jedoch nicht als Einkommen des Kindes einzuordnen. Der Anspruch steht nämlich nach § 6a BKGG nicht dem Kind, sondern dem betreuenden Elternteil zu, in dessen Haushalt es lebt. Unterhaltsrechtlich darf er deshalb nur beim Einkommen des betreuenden Elternteils berücksichtigt werden4. Er ist nicht nach § 1612c BGB auf den Kindesunterhalt anteilig anzurechnen, da er nicht anstelle des Kindergeldes gezahlt wird. cc) Übergang von Ansprüchen nach § 33 SGB II
288
Entsprechend § 94 SGB XII sieht auch die Grundsicherung für Arbeitsuchende in § 33 SGB II eine Bestimmung zum Übergang von Ansprüchen des Leistungsberechtigten gegen andere, vorrangig verpflichtete Dritte, die auch im Ausland leben können5, auf die Leistungsträger (dh. die nach § 44b Abs. 1 SGB II errichtete Arbeitsgemeinschaft6)7 vor. Dieser Anspruchsübergang vollzieht sich seit dem 1.8.2006 kraft Gesetzes und ist v. Familiengericht zu beachten8. Die cessio legis erfasst auch Unterhaltsansprüche, die schon vor Inkrafttreten der Norm entstanden sind, sofern sie nicht bereits übergeleitet wurden9. Macht der Träger der Grundsicherung den übergegangenen Unterhaltsanspruch geraume Zeit nicht geltend, kann das uU zur Verwirkung führen10. Korrespondierend 1 S. auch OLG Celle v. 15.3.2006 – 15 UF 54/05, FamRZ 2006, 1203 (1204). 2 Art. 46 des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, BGBl. I 2003, 2954. 3 Ausführlich zu § 6a BKGG Hauß, FamRB 2005, 146. 4 Klinkhammer, FamRZ 2006, 1909 (1912). 5 Zu Problemen des Rückgriffs bei Auslandsbezug vgl. Kuntze, FPR 2011, 166. 6 Vgl. zur Prozessführungsbefugnis der Arbeitsgemeinschaft BGH v. 1.12.2010 – XII ZR 19/09, FamRZ 2011, 197 = FamRB 2011, 67. 7 Vgl. OLG Zweibrücken v. 18.4.2007 – 5 WF 16/07, FamRZ 2008, 647. 8 Zur Neufassung des Gesetzes Klinkhammer, FamRZ 2006, 1171. 9 Klinkhammer, FamRZ 2006, 1171 (1173); Scholz, FamRZ 2006, 1417 (1424); s. auch Hußmann, FPR 2007, 354 (355); vgl. auch BGH v. 23.2.2011 XII ZR 59/09, FamRZ 2011, 1386 m. Anm. Schürmann = FamRB 2011, 283. 10 AG Geldern v. 2.10.2009 – 11 F 200/09, FamRZ 2010, 816.
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Rn. 288
Kap. 6 A
mit § 94 SGB XII geht mit dem Unterhaltsanspruch auch der Auskunftsanspruch des Unterhaltsgläubigers auf die Träger der Grundsicherung über (vgl. § 33 Abs. 1 S. 4 SGB II i.V.m. § 1605 BGB). Dieser Anspruch ist zivilrechtlicher Natur und damit auch nur zivilrechtlich durchsetzbar1. Gem. § 33 Abs. 1 S. 1 SGB II geht der Anspruch auf die Träger der Grundsicherung dann über, wenn und soweit sie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erbracht haben. Zu diesen Leistungen gehören das Arbeitslosengeld II, die Leistungen für Unterkunft und Heizung2 (§§ 19 Abs. 1 S. 1, 22 SGB II), das Sozialgeld (§ 19 SGB II), die Zuschüsse zu Beiträgen freiwillig Versicherter nach § 26 SGB II, der Zuschuss für Auszubildende nach § 22 Abs. 7 SGB II3 in der bis zum 31.3.2011 geltenden Fassung (vgl. jetzt § 27 Abs. 4 SGB II) sowie Leistungen für Bildung und Teilhabe (§ 28 SGB II). Auch darlehensweise gewährte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§§ 24 Abs. 1 S. 1, 42a SGB II) werden von § 33 I SGB II erfasst4. Nicht zu den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zählen die Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, die die Bundesagentur für Arbeit zu zahlen hat (§§ 3 S. 1 Nr. 3a, 173 S. 2 SGB VI, § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V, § 20 Abs. 1 Nr. 2a SGB XI) und das Einstiegsgeld nach § 16b SGB II.
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Wichtig: Auch wenn ein Unterhaltsanspruch infolge Anspruchsübergangs vom Leistungsträger geltend gemacht wird, kommt es auf den Bedarf nach unterhaltsrechtlichen Grundsätzen an5.
Der durch das Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente v. 21.12.20086 neu eingefügte § 33 Abs. 1 S. 2 SGB II7, nach dem ein Anspruchsübergang auch stattfindet, soweit Kinder unter Berücksichtigung von Kindergeld nach § 11 Abs. 1 S. 4 SGB II keine Leistungen empfangen haben und bei rechtzeitiger Leistung des Anderen keine oder geringere Leistungen an die Mitglieder der Haushaltsgemeinschaft erbracht worden wären, ist ohne Übergangsregelung zum 1.1.2009 in Kraft getreten. Die Regelung findet grundsätzlich ab Inkrafttreten Anwendung, jedoch nicht auf bis dahin abgeschlossene Sachverhalte. Vor Inkrafttreten des § 33 Abs. 1 S. 2 SGB II bestand keine Rechtsgrundlage für einen Anspruchsübergang hinsichtlich derjenigen Leistungen, die der Träger anderen Mitgliedern der Bedarfs- bzw. Haushaltsgemeinschaft erbracht hat8. Der Träger der SGB II-Leistungen kann damit von einem Unterhaltspflichtigen auch dann die Unterhaltsleistung eines unterhalts1 2 3 4 5 6 7
LSG Baden-Württemberg. v. 27.9.2011 – L 13 AS 4950/10, juris. Vgl. Ehinger in: Ehinger/Griesche/Rasch, Rn. 556e. OLG Brandenburg v. 23.6.2009 – 10 UF 233/08, juris. Umstritten, dafür: OLG Celle v. 9.1.2008 – 15 WF 293/07, FamRZ 2008, 928. Vgl. OLG Brandenburg v. 9.11.2010 – 10 UF 23/10, juris. BGBl. I 2008, 2917 (2930). Ausführlich zum Anwendungsbereich mit instruktiven Beispielen, Kuller, FamRZ 2011, 255. 8 BGH v. 1.12.2010 – XII ZR 19/09, FamRZ 2011, 197 = FamRB 2011, 67.
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441
Kap. 6 A Rn. 289
Sozialleistungen
berechtigten Kindes fordern, wenn er zwar für das Kind keine Aufwendungen nach dem SGB II erbracht hat, das gezahlte Kindergeld aber den übrigen Mitgliedern der Bedarfs- bzw. Haushaltsgemeinschaft – ggf. anteilig – noch zur Verfügung gestanden hätte, falls der Unterhaltspflichtige rechtzeitig und in voller Höhe den geschuldeten Unterhalt gezahlt hätte1. Es ist also jeweils zu prüfen, wie sich eine Unterhaltsleistung des Unterhaltspflichtigen gegenüber dem Kind in der nach den konkreten Umständen des Einzelfalles geschuldeten Höhe auf die Höhe der Leistungen des Leistungsträgers an die Bedarfsgemeinschaft ausgewirkt hätte2. Umstritten ist, ob sich der Anspruchsübergang der Höhe nach auf den Kindergeldbetrag beschränkt3.
Û
Praxistipp: Der Anspruchsübergang nach § 33 Abs. 1 S. 2 SGB II erfordert die Prüfung, welcher Anteil am Kindergeld des unterhaltsberechtigten Kindes bei rechtzeitiger Leistung von Unterhalt für die übrigen Mitglieder der Bedarfs- bzw. Haushaltsgemeinschaft – ggf. zusätzlich – noch zur Verfügung gestanden hätte. In Höhe dieses Anteils hätte sich der Sozialleistungsanspruch der übrigen Mitglieder der Haushaltsgemeinschaft reduziert, so dass die SGB II-Leistungen an die Mitglieder der Haushaltsgemeinschaft entsprechend geringer ausgefallen wären4.
Dem Träger von Leistungen nach dem SGB II kann allein aufgrund eines Leistungsbescheids keine Rechtsnachfolgeklausel (§ 727 ZPO) im Zusammenhang mit § 33 Abs. 1 S. 2 SGB II erteilt werden, da die Rechtsnachfolge insoweit auch den Nachweis des Bestehens einer Haushaltsgemeinschaft zwischen Kind und Leistungsempfänger voraussetzt5. 289
Der Übergang von Unterhaltsansprüchen soll sowohl nach § 94 SGB XII als auch nach § 33 SGB II nicht dazu führen, dass der Unterhaltsschuldner selbst auf Unterstützung durch den Sozialstaat angewiesen ist. Deshalb geht der Anspruch nach § 33 Abs. 2 S. 3 SGB II nur über, soweit Einkommen und Vermögen der unterhaltsverpflichteten Person das nach den §§ 11 und 12 SGB II zu berücksichtigende Einkommen übersteigen. Bezieht also der Unterhaltsschuldner selbst Arbeitslosengeld II, geht der Unterhaltsanspruch nicht auf die Träger der Grundsicherung über, weil er dann über kein Einkommen oder Vermögen i.S.d. §§ 11, 12 SGB II verfügt oder sein Einkommen oder Vermögen nicht ausreicht, um seinen Lebensunterhalt zu decken. Auch fiktive Einkünfte können nicht als Einkommen des Schuldners berücksichtigt werden, so dass eine cessio legis 1 Kuller, FamRZ 2011, 255. 2 OLG Brandenburg v. 26.1.2010 – 10 UF 105/09, FamRZ 2011, 228 (229). 3 Bejahend: OLG Brandenburg v. 26.1.2010 – 10 UF 105/09, FamRZ 2011, 228 (230); verneinend etwa: LPK-SGB II/Münder, § 33 Rn. 12. 4 Kuller, FamRZ 2011, 255 (258). 5 OLG Hamm v. 28.1.2011 – 12 UF 4/11, FamRZ 2011, 1318.
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Sozialleistungen
Rn. 290
Kap. 6 A
nicht in Betracht kommt, wenn der Unterhaltsschuldner mittellos ist, ihm aber nach Unterhaltsrecht wegen unzureichender Bemühungen um einen Arbeitsplatz fiktive Einkünfte zugerechnet werden1. Fraglich ist, ob nur der Unterhaltspflichtige selbst nicht sozialhilfebedürftig werden darf oder auch die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen geschützt sind. Nach § 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB XII ist allein die Person des Unterhaltspflichtigen maßgebend. Im Hinblick auf § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II ist § 33 Abs. 2 S. 3 SGB II jedoch so anzuwenden, dass der Unterhaltsbedarf sowohl des Unterhaltspflichtigen als auch der mit ihm in Haushaltsgemeinschaft lebenden Kinder und des Partners gedeckt sein muss2.
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Praxistipp: In Einzelfällen kann auch bei Erwerbseinkünften aus einer Beschäftigung ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II entstehen3. Aufgrund der Freibetragsregelungen im SGB II ist es denkbar, dass der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt unter dem sozialrechtlichen Förderungsbetrag liegt. Bei Nachweis des Erreichens der SGB II-Grenze im Unterhaltsprozess wird deshalb zum Teil empfohlen, auf eine Heraufsetzung des Selbstbehalts auf die Grenzen des Existenzminimums nach dem SGB II hinzuwirken4. Geht dies fehl, ist zu prüfen, ob nicht Leistungen nach dem SGB II beantragt werden können.
In Übereinstimmung mit § 94 Abs. 5 SGB XII sieht § 33 Abs. 4 SGB II vor, 290 dass die Träger den auf sie übergegangenen Anspruch im Einvernehmen mit dem Empfänger der Leistungen auf diesen zur gerichtlichen Geltendmachung rückübertragen und sich den geltend gemachten Anspruch abtreten lassen können. Der bisherige Unterhaltsgläubiger kann damit nach einer Rückübertragung den Unterhaltsanspruch für die Vergangenheit weiter geltend machen. Auch § 33 Abs. 4 SGB II sieht vor, dass Kosten, mit denen der Leistungsempfänger durch die Rückübertragung belastet wird, zu übernehmen sind. Es gelten damit die gleichen Grundsätze wie bei § 94 SGB XII (vgl. Rn. 272). Auch hier kann bei einer Rückabtretung der auf das Amt übergangenen Unterhaltsansprüche und der anschließenden Klage auf Zahlung von Unterhalt Prozesskostenhilfe grundsätzlich nicht bewilligt werden, weil es an der Bedürftigkeit des Empfängers der Sozialleistungen fehlt. Ihm steht nämlich gegen den Sozialhilfeträger ein Anspruch auf Prozesskostenvorschuss zu. Dies gilt aber nicht, wenn die Durchsetzung des Vorschussanspruchs bloße Förmelei wäre. Etwa dann, wenn sich die Geltendmachung rückübertragener Ansprüche neben den beim Unterhaltsgläubiger verbliebenen Unterhaltsansprüchen kostenrechtlich nicht auswirkt, wie dies im Hinblick auf die Bestimmung des 1 OLG Brandenburg v. 30.3.2011 – 13 UF 84/10, FamRZ 2011, 1826; zum Ganzen mit Beispielen auch Scholz, FamRZ 2006, 1417 (1423). 2 Ausführlich dazu Hußmann, FPR 2007, 354 (356). 3 Vgl. auch Schürmann, FamRZ 2005, 148. 4 So Hußmann, FPR 2007, 354 (357).
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Kap. 6 A Rn. 291
Sozialleistungen
§ 42 Abs. 5 S. 2 GKG bei zwischen Eingang des Prozesskostenhilfeantrags und Rechtshängigkeit der Klage fällig werdenden Unterhaltsansprüchen regelmäßig der Fall ist1. Soweit der Leistungsempfänger im gerichtlichen Verfahren unterliegt, sind auch die Kosten der Gegenseite zu übernehmen2.
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Praxistipp: Hat der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit dem Unterhaltsberechtigten die Rückübertragung des Unterhaltsanspruchs vereinbart, so ist der Unterhaltsberechtigte im Hinblick auf den Anspruch aktiv legitimiert. Das gilt auch für noch nicht abgeschlossene Fälle aus der Zeit vor dem 1.8.2006, und zwar unabhängig davon, ob der Leistungsträger den Unterhaltsanspruch nach dem damals geltenden § 33 SGB II bereits auf sich übergeleitet hatte3.
291
Bis zur Höhe der bisherigen monatlichen Aufwendungen kann der Träger der Grundsicherung nach § 33 Abs. 3 S. 2 SGB II auch Klage auf künftige Leistungen erheben, wenn die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts voraussichtlich für längere Zeit erbracht werden müssen. In Entsprechung zu § 94 Abs. 4 SGB XII können die Träger der Grundsicherung über die bürgerlich-rechtlichen Regelungen hinaus nach § 33 Abs. 3 SGB II Unterhalt für die Vergangenheit geltend machen. Voraussetzung ist auch bei § 33 SGB II eine Rechtswahrungsanzeige. Hat der Leistungsträger dem Unterhaltspflichtigen aber vor dem 1.8.2006 die Gewährung von Leistungen mitgeteilt, so kann diese Mitteilung nicht als die nach § 33 Abs. 3 S. 1 SGB II erforderliche Rechtswahrungsanzeige angesehen werden und eröffnet deshalb nach der genannten Bestimmung nicht die Möglichkeit der Inanspruchnahme des Unterhaltspflichtigen für die Vergangenheit4. c) Unterschiede zwischen Anspruchsübergang nach § 94 SGB XII und § 33 SGB II
292
Zwischen § 94 SGB XII und dem Anspruchsübergang nach dem SGB II gibt es Unterschiede5. So gehen nach § 33 SGB II nicht nur Unterhaltsansprüche, sondern auch sonstige zivilrechtliche (etwa Rückforderungsansprüche nach § 528 BGB, Ansprüche aus Altenteilsverträgen oder auf den Pflichtteil) oder öffentlich-rechtliche (etwa Steuererstattung)6 Ansprüche gegen einen anderen, der nicht Leistungsträger ist, kraft Gesetzes 1 OLG Köln v. 20.8.2008 – 4 WF 94/08, FamRZ 2009, 135. 2 Vgl. fachliche Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 33 SGB II 33.52 u. 53 abzurufen unter www.arbeitsagentur.de. 3 BGH v. 19.11.2008 – XII ZR 129/06, FamRZ 2009, 307 (308) m. Anm. Günther = FamRB 2009, 104 und FamRB 2009, 105. 4 BGH v. 23.2.2011 – XII ZR 59/09, FamRZ 2011, 1386 m. Anm. Schürmann = FamRB 2011, 283. 5 Ausführlich Scholz, FamRZ 2006, 1417 (1421). 6 Vgl. Bayerisches Landesamt für Steuern, Erl. v. 10.7.2007 – S 0166 – 17 St41M.
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Sozialleistungen
Rn. 293
Kap. 6 A
auf die Träger der Grundsicherung über. Im Sozialhilferecht müssen diese sonstigen Ansprüche durch Verwaltungsakt übergeleitet werden (vgl. § 93 SGB XII). Während gem. § 33 Abs. 4 S. 3 SGB II die Träger der Leistungen Unterhaltsansprüche vor dem Familiengericht geltend machen müssen, sind die anderen Ansprüche vor dem jeweils sachlich zuständigen Gericht einzuklagen1. Wie bei § 94 SGB XII ist auch bei § 33 SGB II der Anspruchsübergang in bestimmten Fällen ausgeschlossen (vgl. etwa § 33 Abs. 2 S. 1 SGB II). Gleichwohl kennt § 33 SGB II – im Gegensatz zu § 94 Abs. 1 S. 3 SGB XII – keine Beschränkung des Rückgriffs auf Verwandte ersten Grades. Damit können beispielsweise auch Unterhaltsansprüche von Enkeln gegen ihre Großeltern auf Träger der Leistungen nach dem SGB II übergehen. Ein Anspruchsübergang findet allerdings gem. § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB II dann nicht statt, wenn volljährige Kinder, die das 25. Lebensjahr vollendet und ihre Erstausbildung abgeschlossen haben, und sonstige Verwandte (zB Eltern, Enkel, Großeltern) ihren Unterhaltsanspruch nicht geltend machen. Es steht zu ihrer Disposition, ob sie den Unterhaltsschuldner in Anspruch nehmen. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Träger der Grundsicherung die Gewährung von Arbeitslosengeld II davon abhängig machen dürfen, dass der Hilfebedürftige diesen Unterhaltsanspruch geltend macht2. Im Falle der Geltendmachung geht der Unterhaltsanspruch jedoch auf die Träger der Grundsicherung über, wenn sie in der Zukunft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erbringen. Für die Vergangenheit findet kein Anspruchsübergang statt3. Ein entscheidender Unterschied zu § 94 SGB XII ist auch, dass nach dem 293 Gesetzeswortlaut bei § 33 SGB II unbillige Härten nicht berücksichtigt werden. Der Unterhaltsschuldner ist insoweit nur noch nach unterhaltsrechtlichen Maßstäben geschützt. Die Inanspruchnahme wird damit durch den angemessenen Eigenbedarf (§ 1603 Abs. 1 BGB) sowie den notwendigen Selbstbehalt (§ 1603 Abs. 2 S. 1, 2 BGB) bei Unterhaltsansprüchen minderjähriger nicht verheirateter und privilegierter volljähriger Kinder gegen ihre Eltern begrenzt.
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Praxistipp: Nicht gerichtlich geklärt ist, ob die Aufzählung der Ausschlusstatbestände in § 33 SGB II tatsächlich abschließend ist. In der Literatur wird zum Teil mit nachvollziehbaren Argumenten dafür plädiert, den Anspruchsübergang bei § 33 SGB II auch bei unbilliger Härte analog § 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII und iHv. 56 % der Unterkunftskosten analog § 94 Abs. 1 S. 6 SGB XII sowie bei den „Ein-Euro-Jobs“ auszuschließen4. Bei Streitigkeiten mit dem Sozialleistungsträger sollte diesen Punkten deshalb besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
1 2 3 4
S. dazu auch Hußmann, FPR 2007, 354 (355). So auch Hußmann, FPR 2007, 354 (356). Scholz, FamRZ 2006, 1417 (1422). Vgl. insbesondere Hußmann, FPR 2007, 354 (358).
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Kap. 6 A Rn. 294 294
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Regelmäßig werden nicht lediglich dem Unterhaltsgläubiger, sondern auch dessen Angehörigen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft zusammenleben, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erbracht. Ein Anspruchsübergang kommt in diesen Fällen nur dann in Betracht, wenn und soweit dem jeweiligen Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft ein Unterhaltsanspruch zusteht und gerade ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erbracht worden sind. Ggf. sind die Gesamtaufwendungen für die Bedarfsgemeinschaft auf deren einzelne Mitglieder aufzuteilen. Mithin können Unterhaltsansprüche, die Kindern gegen einen Elternteil zustehen, auf den Leistungsträger übergehen, wenn er für die Kinder als Teil einer Bedarfsgemeinschaft Leistungen erbringt. Kinder, die Sozialgeld nach § 19 Abs. 1 S. 2 SGB II beziehen, sind dabei selbst als Leistungsempfänger i.S.d. § 33 Abs. 1 S. 1 SGB II anzusehen. Im Hinblick auf § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 2a SGB II ist davon auszugehen, dass ein Anspruchsübergang auf einer Bedarfsgemeinschaft angehörende Kinder grundsätzlich möglich ist. Die Überleitung ist ausnahmsweise unabhängig von der Voraussetzung der Geltendmachung durch den Leistungsberechtigten zulässig, wenn dieser minderjährig ist1.
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Praxistipp: Bei den Leistungen der Grundsicherung handelt es sich immer um Einzelansprüche. Nach der Systematik des SGB II gibt es keinen Anspruch der Bedarfsgemeinschaft, so dass aus der Bedarfsgemeinschaft auch keine Gesamtgläubigerschaft abgeleitet werden kann. Daher gehört es bei der Unterhaltsklage durch den Leistungsträger zur Schlüssigkeit, die Aufteilung der Leistungen auf die einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft darzulegen2.
5. Krankengeld 295
Krankengeld nach den §§ 44–51 SGB V ist wegen seiner Einkommensabhängigkeit und der daraus folgenden Lohnersatzfunktion unterhaltsrechtlich als Einkommen zu behandeln3. Bezieht der Unterhaltspflichtige Krankengeld, sind davon bereits im Rahmen der Bedarfsbemessung weder pauschale berufsbedingte Kosten noch ein Erwerbstätigenbonus abzusetzen4.
1 OLG Brandenburg v. 16.12.2008 – 10 UF 129/08, FamRZ 2009, 1254; bestätigt durch BGH v. 1.12.2010 – XII ZR 19/09, FamRZ 2011, 197 = FamRB 2011, 67. 2 Vgl. OLG Brandenburg v. 16.12.2008 – 10 UF 129/08, FamRZ 2009, 1254; BGH v. 1.12.2010 – XII ZR 19/09, FamRZ 2011, 197 = FamRB 2011, 67. 3 BGH v. 19.11.2008 – XII ZR 129/06, FamRZ 2009, 307 (309) = FamRB 2009, 104 und FamRB 2009, 105. 4 BGH v. 19.11.2008 – XII ZR 129/06, FamRZ 2009, 307 (309) = FamRB 2009, 104 und FamRB 2009, 105.
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Sozialleistungen
Rn. 297
Kap. 6 A
6. Elterngeld nach dem BEEG Zum 1.1.2007 hat der Gesetzgeber das BErzGG durch das Gesetz zum 296 Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz – BEEG)1 ersetzt. Elterngeld nach dem BEEG wird nur für v. 1. Januar 2007 an geborene Kinder gezahlt. Für Kinder, die vor diesem Stichtag geboren wurden, verbleibt es gem. § 27 Abs. 1 BEEG beim Erziehungsgeld nach dem BErzGG, das mit bestimmten Maßgaben (vgl. § 27 Abs. 2–4 BEEG) weiterhin anzuwenden ist. Damit trat das BErzGG im Hinblick auf das Erziehungsgeld erst am 31.12.2008, im Übrigen am 31.12.2006 außer Kraft. Elterngeld wird nach § 2 Abs. 1 BEEG iHv. 67 Prozent des in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1800 Euro monatlich für volle Monate gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt. Aufgrund dieser Neuausrichtung der familienpolitischen Leistungen erhält erstmals der betreuende Elternteil, der seine Erwerbstätigkeit unterbricht oder reduziert, einen am individuellen Einkommen orientierten Ausgleich für finanzielle Einschränkungen2. Insoweit kommt dem Elterngeld eine Lohnersatzfunktion zu und ist deswegen als Einkommen des bezugsberechtigten Elternteils zu berücksichtigen3. Nach § 2 Abs. 5 BEEG erhalten aber auch Eltern, die nicht voll erwerbstätig sind, einen Mindestbetrag iHv. 300 Euro, wenn vor der Geburt des Kindes kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt worden ist. Diese „Mindestelterngeldleistung“4 hat keine Lohnersatzfunktion5. Dem unterschiedlichen Charakter des Elterngeldes wird § 11 S. 1 BEEG gerecht, indem er vorsieht, dass Unterhaltsverpflichtungen durch die Zahlung des Elterngeldes und vergleichbarer Leistungen der Länder nur insoweit berührt werden, als die Zahlung 300 Euro monatlich übersteigt. Elterngeldleistungen, die die Grenze von 300 Euro überschreiten, sind somit als unterhaltsrechtliches Einkommen zu behandeln6. Das bedeutet: Bezieht ein Unterhaltsberechtigter Elterngeld, so vermindert das übersteigende Elterngeld seine Bedürftigkeit. Bei einem Unterhaltsverpflichteten (etwa gegenüber den Eltern)7 erhöht das übersteigende Elterngeld seine Leistungsfähigkeit8. Entsprechend der alten Rechtslage (§ 9 S. 2 BErzGG) ist Elterngeld gem. § 11 S. 4 BEEG ausnahmsweise als anrechenbares Einkommen zu berücksichtigen, soweit über eine Herabsetzung des Unterhalts aus Billigkeits1 Art. 1 des Gesetzes zur Einf. des Elterngeldes v. 5.12.2006, BGBl. I 2748. 2 BT-Drucks. 16/1889, S. 15. 3 BGH v. 10.11.2010 – XII ZR 37/09, FamRZ 2011, 97 = FamRB 2011, 38 = FamRBint 2011, 28. 4 So der GesetzE, vgl. BT-Drucks. 16/1889, S. 15. 5 OLG Brandenburg v. 23.12.2010 – 9 UF 79/10, FamRZ 2011, 733; OLG Brandenburg v. 9.11.2010 – 10 UF 23/10, juris. 6 OLG Bremen v. 8.10.2008 – 4 WF 74/08, FamRZ 2009, 343 (344). 7 Klatt, FPR 2007, 349. 8 Scholz, FamRZ 2007, 7 (9).
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Kap. 6 A Rn. 298
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gründen nach § 1361 Abs. 3, § 1579 oder § 1611 Abs. 1 BGB oder über den Unterhaltsanspruch eines minderjährigen Kindes (§ 1603 Abs. 2 BGB) zu entscheiden ist. Dabei ist zu differenzieren: Bei den §§ 1579, 1361 Abs. 3, 1611 Abs. 1 BGB greift die Rechtsfolge des § 11 S. 4 BEEG nur ein, wenn der Unterhaltsberechtigte das Elterngeldgeld bezieht, im Fall des § 1603 Abs. 2 BGB nur, wenn der Unterhaltspflichtige das Elterngeld erhält1. Deshalb berührt das an die zweite Ehefrau des seinen Kindern aus erster Ehe unterhaltspflichtigen Schuldners ausgezahlte Elterngeld dessen Unterhaltspflicht auch dann nicht, wenn der Anspruch der zweiten Ehefrau auf Familienunterhalt mit dem Kindesunterhalt gleichrangig ist und sich im absoluten Mangelfall dann auch auf die Quote des geschuldeten Kindesunterhalts auswirkt2. Aber auch soweit Elterngeld nach § 11 S. 4 BEEG als Einkommen des Unterhaltspflichtigen zu berücksichtigen ist (etwa gegenüber dem Unterhaltsanspruch minderjähriger Kinder), ist es unterhaltsrechtlich nur einzusetzen, wenn und soweit dessen eigener Selbstbehalt sichergestellt ist3. Stellt ein unterhaltspflichtiger Elternteil den Antrag, den Auszahlungszeitraum des Elterngeldes zu verlängern, so werden die Monatsbeträge halbiert (vgl. § 6 BEEG). Die Wahl der Verlängerung des Auszahlungszeitraums soll sich jedoch nicht zum Nachteil eines minderjährigen Kindes auswirken. Die Verlängerung kann daher aus unterhaltsrechtlicher Sicht als leichtfertig angesehen werden, so dass der volle Betrag des Elterngeldes fiktiv zugerechnet werden kann4. Da das Elterngeld kein Erwerbseinkommen ist, darf der 300 Euro übersteigende Teil bei der Berechnung des Ehegattenunterhalts nicht um einen Erwerbstätigkeitsbonus von 3/7 nach der Düsseldorfer Tabelle bzw. von 1/10 nach den Süddeutschen Leitlinien gekürzt werden. 7. Pflegegeld 298
Pflegegeld wird etwa gewährt nach § 37 SGB XI (Soziale Pflegeversicherung)5 oder nach § 64 SGB XII (Sozialhilfe). Anspruchsberechtigt ist regelmäßig die pflegebedürftige Person. Die Leistungen nach diesen Vorschriften sind abzgl. des notwendigen Pflegeaufwands als unterhaltsrelevantes Einkommen des Pflegebedürftigen zu behandeln6. Für sie gilt jedoch die Vermutung der §§ 1610a, 1361 Abs. 1, 1578a BGB7, die im
1 Vgl. OLG Bamberg v. 13.4.2011 – 7 UF 17/11, FamRZ 2011, 1302; OLG Brandenburg v. 23.12.2010 – 9 UF 79/10, FamRZ 2011, 733. 2 Noch zu § 9 S. 2 BErzGG BGH v. 21.6.2006 – XII ZR 147/04, FamRZ 2006, 1182 (1183) m. Anm. Luthin = FamRB 2007, 69. 3 Noch zu § 9 S. 2 BErzGG BGH v. 12.4.2006 – XII ZR 31/04, FamRZ 2006, 1010 m. Anm. Borth = FamRB 2006, 232. 4 OLG Bamberg v. 13.4.2011 – 7 UF 17/11, FamRZ 2011, 1302; vgl. auch OLG Brandenburg v. 23.12.2010 – 9 UF 79/10, FamRZ 2011, 733. 5 S. zur Pflegeversicherung auch Büttner, FamRZ 1995, 193. 6 Vgl. etwa OLG Hamm v. 21.12.2005 – 11 UF 197/05, FamRZ 2006, 1537. 7 Vgl. BGH v. 24.4.1996 – XII ZR 7/96, FamRZ 1996, 933; BGH v. 2.3.2011 – XII ZR 44/09, FamRZ 2011, 713 (716) = FamRB 2011, 135.
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Sozialleistungen
Rn. 299
Kap. 6 A
Einzelfall widerlegt werden kann1. Wird Pflegegeld nach § 37 SGB XI oder eine vergleichbare Geldleistung an eine Pflegeperson (§ 19 SGB XI) weitergeleitet, bleibt dies nach § 13 Abs. 6 SGB XI bei der Ermittlung von Unterhaltsansprüchen und Unterhaltsverpflichtungen der Pflegeperson unberücksichtigt2. Nur in den Fällen des § 1361 Abs. 3, der §§ 1579, 1603 Abs. 2 und des § 1611 Abs. 1 BGB ist es unterhaltsrechtlich in Ansatz zu bringen, ferner dann, wenn die Pflegeperson selbst Unterhaltsansprüche geltend macht und von ihr (ohne die Pflege) erwartet werden kann, dass sie ihren Unterhaltsbedarf ganz oder teilweise durch eigene Einkünfte decken könnte. Pflegegeld, das an eine Pflegeperson weitergeleitet wird, ist jedoch dann kein unterhaltsrechtliches Einkommen der Pflegeperson, wenn der Pflegebedürftige mit dem Unterhaltspflichtigen in gerader Linie verwandt ist (etwa Pflege der alten Schwiegermutter oder des gemeinsamen behinderten Kindes)3. Die Regelung des § 13 Abs. 6 SGB XI dürfte auf nach anderen Vorschriften gezahlte Pflegegelder entsprechend anwendbar sein. Andernfalls wäre in diesen Fällen mit der Rechtsprechung vor Einführung des § 13 Abs. 6 SGB XI4 davon auszugehen, dass der nicht verbrauchte Teil des Pflegegeldes Einkommen des Pflegenden ist5. Pflegegeld enthält nämlich auch einen Bestandteil, der als Anerkennung für die Leistungen der Pflegeperson bei der Gewährung des Naturalunterhalts dienen soll6. In diesen Fällen wurde ein Drittel des Pflegegeldes als Einkommen des Pflegenden angesehen7. § 13 Abs. 6 SGB XI kann nur bei Pflegepersonen zur Anwendung kommen, die nicht erwerbsmäßig einen Pflegebedürftigen pflegen. Die Vorschrift gilt deshalb nicht, wenn Pflegeleistungen gewerbsmäßig erbracht werden. Die hieraus erzielten Einkünfte sind unterhaltsrechtlich voll zu berücksichtigen. Bei Beziehern von Pflegegeld nach § 39 Abs. 1 SGB VIII (KJHG) ist derje- 299 nige Teil des Pflegegeldes, der für den Bar- und Betreuungsbedarf des Kindes geleistet wird, nach wirtschaftlicher Betrachtung dem Kind zuzurechnen und kann daher kein Einkommen beim Pflegenden sein. Hingegen ist der auf den Erziehungsbeitrag entfallende Teil des Pflegegeldes unterhaltsrechtlich dem das Pflegegeld Beziehenden als Einkommen zuzurechnen8.
1 Dazu OLG Köln v. 4.12.2007 – 4 WF 189/07, FamRZ 2008, 1276. 2 Vgl. BGH v. 1.3.2006 – XII ZR 157/03, FamRZ 2006, 846 (848) = FamRB 2006, 199; s. auch Büttner, FamRZ 2000, 596 (597). 3 S. dazu OLG Karlsruhe v. 21.12.2004 – 2 UF 103/04, FamRZ 2005, 1756; OLG Koblenz v. 15.11.1999 – 13 UF 172/99, FamRZ 2000, 826; OLG Schleswig v. 16.5.2002 – 10 WF 61/02, FamRB 2003, 114. 4 Eingeführt durch Gesetz v. 21.7.1999, BGBl. I, S. 1656. 5 Vgl. BGH v. 25.11.1992 – XII ZR 164/91, FamRZ 1993, 417; BGH v. 24.4.1996 – XII ZR 7/96, FamRZ 1996, 933. 6 BGH v. 18.4.1984 – IVb ZR 80/82, FamRZ 1984, 769. 7 OLG Hamm v. 28.10.1998 – 8 UF 146/98, FamRZ 1999, 852. 8 OLG Köln v. 15.10.2009 – 4 WF 160/09, FamRZ 2010, 904 = FamRB 2010, 3.
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Kap. 6 A Rn. 300
Sozialleistungen
8. Wohngeld 300
Wohngeld ist im Unterhaltsrecht grundsätzlich als Einkommen zu berücksichtigen1. Es bleibt aber außer Betracht, soweit es lediglich unvermeidbare erhöhte Aufwendungen für den Wohnbedarf ausgleicht. Der BGH geht davon aus, dass dem Bezug von Wohngeld idR ein entsprechend erhöhter Wohnkostenbedarf gegenübersteht. Der Bezug von Wohngeld sei ein Anhalt dafür, dass den Wohngeldempfänger Wohnkosten treffen, die auch unterhaltsrechtlich als erhöht zu werten seien2. Soweit das der Fall ist, dient das Wohngeld dem Ausgleich dieses unvermeidbar erhöhten Aufwands mit der Folge, dass der Bedarf des Berechtigten auf das unter den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen „normale“ Maß zurückgeführt wird. Nur mit dem dafür nicht verbrauchten Teilbetrag ist das Wohngeld als Einkommen zu berücksichtigen3. Rechnerisch ist das Wohngeld damit zunächst auf die Differenz zwischen den Wohnkosten, die im pauschalierten notwendigen Eigenbedarf enthalten sind, und der tatsächlich gezahlten Miete anzurechnen. Ein etwa noch verbleibender Teil ist dem bei der Unterhaltsregelung zu verteilenden Einkommen zuzurechnen4. Beispiel: Der 75-jährige V macht einen Mindestbedarf von 770 Euro geltend. Seine Miete beträgt 420 Euro, er bezieht 100 Euro Wohngeld. Der Anteil für Unterkunft nach der Düsseldorfer Tabelle (Anm. A 5) beträgt beim Mindestbedarfsatz 360 Euro. Die Mietkosten übersteigen damit den Mindestbetrag um 60 Euro. Damit ist Wohngeld iHv. 40 Euro vom Bedarf abzuziehen, da lediglich 60 Euro dazu dienen, den unterhaltsrechtlich erhöhten Wohnkostenbedarf abzudecken5.
301
Zwar wird im Allgemeinen angenommen werden können, dass den Wohngeldempfänger Wohnkosten treffen, die auch unterhaltsrechtlich als erhöht zu bezeichnen sind6. Im Prozess muss der Wohngeldempfänger aber darlegen, dass das Wohngeld dazu bestimmt ist, einen erhöhten Wohnbedarf auszugleichen7. 9. Waisenrente
302
Einzelne Sozialgesetze sehen für Hinterbliebene Waisen- und Halbwaisenrenten vor (vgl. etwa § 48 SGB VI, § 67 SGB VII). Dieser Rentenan1 BGH v. 17.3.1982 – IVb ZR 646/80, FamRZ 1982, 587; BGH v. 16.6.1982 – IVb ZR 709/80, FamRZ 1982, 898; BGH v. 18.4.1984 – IVb ZR 59/82, FamRZ 1984, 772; s. auch OLG Hamm v. 27.1.2006 – 11 WF 333/05, FamRZ 2006, 718: Wohngeld als Einkommen gem. § 48 Abs. 3 S. 1 GKG. 2 BGH v. 17.3.1982 – IVb ZR 646/80, FamRZ 1982, 587. 3 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRB 2003, 239 = NJW 2003, 1660. 4 BGH v. 17.3.1982 – IVb ZR 646/80, FamRZ 1982, 587; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 5 Nach BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003,860 = FamRB 2003, 239. 6 BGH v. 18.4.1984 – IVb ZR 59/82, FamRZ 1984, 772. 7 BGH v. 19.12.1984 – IVb ZR 54/83, FamRZ 1985, 374.
450
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Sozialleistungen
Rn. 303
Kap. 6 A
spruch steht den Kindern selbst zu. Bezieht ein Kind eine Waisen- oder Halbwaisenrente, mindert sich seine Unterhaltsbedürftigkeit und damit sein Unterhaltsanspruch in entsprechender Höhe1. Das gilt auch, wenn ein Kind Rente nach dem Tod des Stiefvaters erhält. Soweit eine Waisenrente nach dem Tode eines Elternteils gewährt wird, sei es des barleistungspflichtigen oder des anderen Teils, richtet sich der Unterhaltsanspruch iHd. vollen Bedarfs gegen den überlebenden Elternteil. Ihm kommt dann auch die Minderung der Bedürftigkeit durch die Waisenrente in voller Höhe zugute2. Da Betreuung und Barunterhalt idR als gleichwertig anzusehen sind, mindert die Rente jeden Unterhaltsteil zu 1/2. Die für ein minderjähriges Kind gezahlte Halbwaisenrente ist deshalb auf seinen Barunterhaltsanspruch gegen den Elternteil, bei dem das Kind lebt, nur zur Hälfte anzurechnen3. Wird dagegen Waisenrente nach dem Tod eines Stiefelternteils gewährt, während die unterhaltspflichtigen Eltern des Kindes weiterhin beide in Anspruch genommen werden können, kann die Waisenrente nicht einseitig der Entlastung eines Elternteils dienen. Die Entlastung durch die Waisenrente muss vielmehr beiden Eltern im Verhältnis ihrer Haftungsanteile zugute kommen4. 10. Wiederaufleben von Witwen- oder Witwerrenten In der Sozialversicherung und der Beamtenversorgung hat die Wiederver- 303 heiratung des überlebenden Ehegatten Auswirkungen auf seine Hinterbliebenenansprüche (vgl. § 44 Abs. 2 BVG, §§ 46 Abs. 3, 90, 107, 243, 269 Abs. 2 bis 4 SGB VI, § 61 Abs. 3 BeamtVG)5. Wird die zweite Ehe aufgelöst, lebt der Anspruch auf Witwenversorgung wieder auf. Ein von dem überlebenden Ehegatten infolge Auflösung der Ehe erworbener neuer Versorgungs, Unterhalts- oder Rentenanspruch ist regelmäßig auf die Hinterbliebenenversorgung anzurechnen. Jedoch sind bei der Bemessung des Unterhaltsanspruchs des überlebenden Ehegatten gegen seinen geschiedenen Partner wiederauflebende Witwenrenten, die er aus der vorausgegangenen Ehe erhält, nicht anspruchsmindernd zu berücksichtigen6. Die Renten sind weder ganz noch teilweise bei der Bemessung der Höhe der Unterhaltsverpflichtung zu berücksichtigen. Die wiederauflebende Witwenrente hat keine Unterhaltsersatzfunktion in Bezug auf die Zweitehe7. Der unterhaltspflichtige Ehegatte aus der Zweitehe soll nicht entlastet werden. Die wiederauflebende Witwenversorgung ist auch gegenüber dem nach § 1579 BGB gekürzten Unterhaltsanspruch aus der 1 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 138/04, FamRZ 2006, 1597 = FamRB 2006, 329. 2 BGH v. 17.9.1980 – IVb ZR 552/80, NJW 1981, 168. 3 BGH v. 21.1.2009 XII ZR 54/06, FamRZ 2009, 762 = FamRB 2009, 172 und FamRB 2009, 173. 4 BGH v. 17.9.1980 – IVb ZR 552/80, NJW 1981, 168; OLG Stuttgart v. 12.5.2005 – 11 UF 307/04, FamRZ 2006, 59 = FamRB 2005, 288. 5 Ausführlich dazu Dieckmann, FamRZ 1987, 231. 6 BGH v. 13.12.1978 – IV ZR 49/77, NJW 1979, 815; BGH v. 4.4.1979 – IV ZR 62/78, FamRZ 1979, 470. 7 BVerfG v. 12.11.1974, 1 BvR 505/68, BVerfGE 38, 187 (200).
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Kap. 6 A Rn. 304
Sozialleistungen
zweiten Ehe subsidiär1. Der subsidiäre Anspruch des Unterhaltsberechtigten auf die wiederauflebende Witwenrente soll ausnahmsweise aus Billigkeitsgründen (§ 242 BGB) aber dann einzubeziehen sein, wenn der dem Unterhaltsverpflichteten verbleibende Betrag erheblich niedriger ist als die Bezüge des Unterhaltsberechtigten2. 304
Ansprüche auf Hinterbliebenenrente aus der Versicherung des vorletzten Ehegatten nach § 243 SGB VI entstehen freilich erst gar nicht, wenn der geschiedene Ehegatte vor dem Tod seines ersten Ehegatten eine neue Ehe eingeht. Mit der Wiederverheiratung entsteht ein gesetzlicher Unterhaltsanspruch gegen den neuen Ehepartner; die gesetzliche Unterhaltspflicht des früheren Ehepartners erlischt (§ 1586 BGB). Daher ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, dass eine Witwe oder ein Witwer hinsichtlich der Hinterbliebenenversorgung auf die Ansprüche aus der folgenden Ehe verwiesen wird3. 11. Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz
305
Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wie beispielsweise Kleiderzulage (§ 15)4, Berufsschadensausgleich (§ 30)5, BeschädigtenGrundrente (§ 31)6, Schwerstbeschädigtenzulage (§ 31 Abs. 4)7, Ausgleichsrente (§ 32) und Ehegattenzuschlag (§ 33a)8 hat die Rechtsprechung eine Lohnersatzfunktion zugesprochen. Leistungen nach dem BVG haben zwar entsprechend dem Zweck des Gesetzes primär Entschädigungsfunktion. Der BGH rechnet die Leistungen aber grundsätzlich dem Einkommen des Unterhaltspflichtigen zu – was konsequenterweise auch für den Unterhaltsberechtigten gelten muss9 –, soweit sie nicht durch den tatsächlichen Mehrbedarf aufgezehrt werden10. Er geht davon aus, dass die Bestimmung einer dem Unterhaltspflichtigen gewährten Leistung zum Ausgleich besonderer Aufwendungen oder zu ähnlichen Verwendungszwecken nicht dazu führt, dass sie bei der Ermittlung des unterhaltserheblichen Einkommens von vornherein außer Ansatz zu lassen wäre11. Es komme vielmehr auf den tatsächlichen Mehraufwand an, den der Empfänger einer derartigen Zulage hat. Soweit der Empfänger diesen darlegt und beweist, 1 BGH v. 4.6.1986 – IVb ZR 48/85, FamRZ 1986, 889. 2 Vgl. OLG Düsseldorf v. 5.2.1996 – 2 UF 82/95, FamRZ 1996, 947; OLG Düsseldorf v. 21.3.1997 – 3 UF 242/96, FamRZ 1998, 743; OLG Koblenz v. 12.5.1987 – 11 UF 776/86, FamRZ 1987, 1154. 3 BVerfG v. 21.5.2007 – 1 BvR 1649/01, FamRZ 2007, 1630 (1631). 4 BGH v. 7.4.1982 – IVb ZR 673/80, FamRZ 1982, 579. 5 BGH v. 20.1.1982 – IVb ZR 647/80, FamRZ 1982, 252. 6 BGH v. 21.1.1981 – IVb ZR 548/80, FamRZ 1981, 338; BGH v. 16.6.1982 – IVb ZR 709/80, FamRZ 1982, 898. 7 BGH v. 16.9.1981 – IVb ZR 674/80, FamRZ 1981, 1165. 8 BGH v. 20.1.1982 – IVb ZR 647/80, FamRZ 1982, 252. 9 Vgl. Doering-Striening, FPR 2009, 447 (450). 10 BGH v. 16.9.1981 – IVb ZR 674/80, FamRZ 1981, 1165. 11 BGH v. 21.1.1981 – IVb ZR 548/80, FamRZ 1981, 338.
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Sozialleistungen
Rn. 307
Kap. 6 A
wird die Zulage von den tatsächlichen Aufwendungen aufgezehrt. Sowohl bezüglich der Grundrente nach § 31 BVG als auch hinsichtlich dem Kleider- und Wäschezuschuss (§ 15 BVG) greift die widerlegbare Vermutung der §§ 1587a, 1610a BGB durch1, wonach diesen Leistungen Aufwendungen des Leistungsempfängers für einen Körper- bzw. Gesundheitsschaden iHd. empfangenen Leistungen gegenübersteht2. Das gilt jedoch nicht für die Berufsschadensausgleichsrente nach § 30 BVG3. 12. Mutterschaftsgeld Das Mutterschaftsgeld sowie der Zuschuss zum Mutterschaftsgeld haben Lohnersatzfunktion und sind deshalb als Einkommen zu berücksichtigen (§§ 13, 14 MuSchG)4.
306
13. Leistungen im Zusammenhang mit dem Strafvollzug Ein Strafgefangener kann Einkommen in Form von Hausgeld, Eigengeld 307 sowie Überbrückungsgeld beziehen. Das Hausgeld (§ 47 StVollzG) übersteigt regelmäßig selbst unter Berücksichtigung der freien Unterkunft, Verpflegung, Bekleidung und Gesundheitsfürsorge den Mindestbedarf der notwendigen Ausgaben des Inhaftierten nicht und ist ihm daher auch bei gesteigerter Unterhaltspflicht (§ 1603 Abs. 2 S. 1 BGB) zu belassen5. Abweichendes kann im Einzelfall gelten, wenn die aus dem Hausgeld zu bestreitenden notwendigen Bedürfnisse anderweitig gedeckt sind6. Über Bezüge, die einem Gefangenen zum Eigengeld gutgeschrieben werden (§§ 52, 83 Abs. 2 StVollzG), kann er verfügen und es für den Kindesunterhalt einsetzen7. Das Überbrückungsgeld (§ 51 StVollzG) soll den notwendigen Lebensunterhalt seiner Unterhaltsberechtigten in einer Übergangsphase sichern8. Da erst nach Haftentlassung darüber verfügt werden kann, steht es auch unterhaltsrechtlich frühestens von diesem Zeitpunkt an zur Verfügung. Für laufenden, während der Haft verlangten Unterhalt ist es mithin nicht verfügbar9. Die besondere Zuwendung für Haftopfer nach § 17a StrRehaG wird als unterhaltsrechtlich relevantes Einkommen angesehen10. Fraglich ist freilich, ob nicht für diese Haftopferrente die
1 S. dazu Doering-Striening, FPR 2009, 447 (450). 2 OLG München v. 9.2.1994 – 12 UF 887/92, FuR 1994, 172; OLG Nürnberg v. 3.12.1992 – 10 UF 2975/92, FuR 1993, 170. 3 OLG Hamm v. 17.9.1991 – 1 UF 104/91, FamRZ 1992, 186. 4 Vgl. etwa OLG Zweibrücken v. 26.1.1987 – 5 WF 63-64/86, FamRZ 1987, 820; OLG Brandenburg v. 9.11.2010 – 10 UF 23/10, juris. 5 OLG München v. 16.6.2009 – 4 UF 350/08, FamRZ 2010, 127. 6 Vgl. dazu OLG Hamm v. 14.1.2004 – 11 UF 89/03, FamRZ 2004, 193 = FamRB 2004, 179; OLG Hamm v. 26.10.2010 – II-2 UF 55/10, FamFR 2011, 32. 7 OLG München v. 16.6.2009 – 4 UF 350/08, FamRZ 2010, 127. 8 Vgl. BGH v. 16.7.2004 – IXa ZB 287/03, NJW 2004, 3714. 9 OLG München v. 16.6.2009 – 4 UF 350/08, FamRZ 2010, 127. 10 OLG Brandenburg v. 29.9.2010 – 9 WF 259/10, FamRZ 2011, 647.
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Kap. 6 A Rn. 308
Steuern
Vorschrift des § 1610a BGB eingreift, wonach eine Deckungsvermutung hinsichtlich schadensbedingter Mehraufwendungen bestünde. 14. Hilfe für junge Volljährige 308
Leistungen, die ein Berechtigter nach § 41 SGB VIII (KJHG) erhält, sind gem. § 10 Abs. 1 SGB VIII gegenüber Unterhaltsansprüchen nachrangig und führen deshalb nicht zum Erlöschen der Unterhaltsansprüche. Der Unterhaltspflichtige soll durch diese Leistungen nicht entlastet werden1. 15. Unterhaltsvorschussleistungen
309
Unterhaltsvorschussleistungen sind nur im Verhältnis zum barunterhaltspflichtigen Elternteil subsidiär. Im Verhältnis zu den Großeltern sind sie anzurechnendes Einkommen des Kindes und mindern dessen Bedürftigkeit. Das gilt sowohl für bereits gezahlten als auch noch zu gewährenden Vorschuss2.
IV. Steuern 1. Grundlagen des Einkommensteuerrechts a) Steuerklassen 310
Die Steuer wird entsprechend der Steuerklasse vom Lohn abgeführt.
311
In die jeweilige Steuerklasse werden die Arbeitnehmer eingegliedert. Dies folgt aus § 38b EStG. Das Steuerrecht kennt folgende Steuerklassen: Steuerklasse I:
Arbeitnehmer, die ledig, dauerhaft getrennt lebend oder geschieden sind.
Steuerklasse II:
Derselbe Personenkreis wie zuvor; dem Steuerpflichtigen werden ihm zuzuordnende Kinder zugerechnet; im Übrigen wird ein Entlastungsbetrag gewährt.
Steuerklasse III:
Arbeitnehmer, – die verheiratet sind, wenn beide Ehegatten unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind und nicht dauernd getrennt leben und – der Ehegatte des Arbeitnehmers keinen Arbeitslohn bezieht oder – der Ehegatte des Arbeitnehmers auf Antrag beider Ehegatten in die Steuerklasse V eingereiht wird; – die verwitwet sind, wenn sie und ihr verstorbener Ehegatte im Zeitpunkt seines Todes unbeschränkt einkommen-
1 OLG Köln v. 30.8.2001 – 14 UF 143/00, FamRZ 2002, 555. 2 OLG Dresden v. 18.9.2009 – 20 UF 331/09, FamRZ 2010, 736.
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Geißler/Nann
Steuern
Rn. 316
Kap. 6 A
steuerpflichtig waren und in diesem Zeitpunkt noch nicht dauernd getrennt gelebt haben, für das Kalenderjahr, das dem Kalenderjahr folgt, in dem der Ehegatte verstorben ist; – deren Ehe aufgelöst worden ist, wenn – im Kalenderjahr der Auflösung der Ehe beide Ehegatten unbeschränkt einkommensteuerpflichtig waren und nicht dauernd getrennt gelebt haben und – der andere Ehegatte wieder geheiratet hat, von seinem Ehegatten nicht dauernd getrennt lebt und er und sein neuer Ehegatte unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind, – für das Kalenderjahr, in dem die Ehe aufgelöst worden ist. Steuerklasse IV:
Arbeitnehmer, die verheiratet sind, wenn beide Ehegatten unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind und nicht dauernd getrennt leben und der Ehegatte des Arbeitnehmers ebenfalls Arbeitslohn bezieht.
Steuerklasse V:
Wie bei Steuerklasse IV, wenn der Ehegatte des Arbeitnehmers auf Antrag beider Ehegatten in die Steuerklasse III eingereiht wird.
Steuerklasse VI:
Arbeitnehmer, die nebeneinander von mehreren Arbeitgebern Arbeitslohn beziehen, für die Einbehaltung der Lohnsteuer von Arbeitslohn aus dem zweiten und weiteren Dienstverhältnis.
Zweck der Steuerklassen ist es, die unterschiedlichen Einkommensteuer- 312 tarife (Grundtabelle/Splittingtabelle) sowie Frei- und Pauschbeträge für Werbungskosten, Sonderausgaben u.Ä. in den Steuertabellen zu berücksichtigen und damit den Lohnsteuerabzug zu vereinfachen. Das Bundesministerium der Finanzen gibt keine amtlichen Lohnsteuer- 313 tabellen mehr heraus. Es ist aber ermächtigt, auf der Grundlage des § 32a EStG und des § 39b EStG einen Programmablauf für Lohnsteuer-Tabellen zur manuellen Berechnung der Lohnsteuer zu erstellen1. Seit 2003 sind die Tarifstufen vollständig entfallen, damit wird nun die Einkommensteuer/Lohnsteuer stufenlos berechnet.
314
Folgende Freibeträge werden beim Lohnsteuerabzug berücksichtigt:
315
aa) Der tarifliche Grundfreibetrag beträgt für Alleinstehende ab 2009 316 7834 Euro, ab 1.1.2010 und ab 1.1.2011 8004 Euro in den Steuerklassen I, II, IV. Für Verheiratete beträgt der tarifliche Grundfreibetrag in der Steuerklasse IV das Doppelte, also ab 2009 15 668 Euro, ab 1.1.2010 und auch ab 1.1.2011 16 008 Euro; für 2012 ist der Grundfreibetrag nicht verändert worden.
1 BMF BStBl. I 2000, 1397.
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Kap. 6 A Rn. 317
Steuern
317
bb) Der Arbeitnehmer-Pauschbetrag beträgt nach § 9a S. 1 Nr. 1 EStG rückwirkend ab 1.1.2011 1000 Euro und wird bei der Ermittlung der Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit von den Einnahmen als Werbungskosten abgezogen. Ein höherer Betrag wird nur dann berücksichtigt, wenn die Werbungskosten mehr als 1000 Euro jährlich betragen. Der Arbeitnehmerpauschbetrag steht sowohl unbeschränkt als auch beschränkt einkommensteuerpflichtigen Arbeitnehmern zu. Früher gewährte Werbungskosten-Pauschbeträge, der Weihnachtsfreibetrag und der Arbeitnehmerfreibetrag sind in den Arbeitnehmerpauschbetrag eingeflossen.
318
Beim Lohnsteuerabzug wird der Arbeitnehmerpauschbetrag in den Steuerklassen I bis V berücksichtigt, § 39b Abs. 2, S. 5 Nr. 1 EStG.
319
cc) Der Sonderausgaben-Pauschbetrag ist mit 36 Euro nach § 10c Abs. 1 EStG sowie mit 72 Euro für zusammen veranlagte Ehepaare zu berücksichtigen.
320
Der pauschale Ansatz von Vorsorgeaufwendungen im Veranlagungsverfahren mittels Vorsorgepauschale (§ 10c Abs. 2–5 EStG in der am 31.12.2009 geltenden Fassung – aF) wurde mit Wirkung ab 2010 abgeschafft. Eine Vorsorgepauschale wird ab 2010 ausschließlich im Lohnsteuerabzugsverfahren berücksichtigt (§ 39b Abs. 2 S. 5 Nr. 3 und Abs. 4 EStG).
320a Über die Vorsorgepauschale hinaus werden im Lohnsteuerabzugsverfahren keine weiteren Vorsorgeaufwendungen berücksichtigt. Die Eintragung eines Freibetrags auf der Lohnsteuerkarte (§ 39a EStG) ist wie bisher nicht möglich. Die Günstigerprüfung bei der Vorsorgepauschale ist im Lohnsteuerabzugsverfahren weggefallen. 321
dd) Daneben können zusätzliche Altersvorsorgeaufwendungen im Rahmen der sog. Riester-Förderung nach § 10a EStG geltend gemacht werden. Dieser weitere Sonderausgabenabzug geht auf das AVmG v. 26.6.2001 zurück.
322
ee) Neu eingeführt wurde 2004 der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende nach § 24b EStG von 1308 Euro. Der Haushaltsfreibetrag nach § 32 Abs. 7 EStG wurde ab 2002 in drei Schritten abgeschmolzen und existiert seit 2005 nicht mehr, nachdem das BVerfG den Ausschluss in ehelicher Gemeinschaft lebender unbeschränkt steuerpflichtiger Eltern vom Abzug des Haushaltsfreibetrags (und der Kinderbetreuungskosten) mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt hatte1.
323
Der Entlastungsbetrag soll die regelmäßig höheren Lebensführungskosten von Alleinerziehenden berücksichtigen, die einen gemeinsamen Haushalt nur mit ihren Kindern führen und unbeschränkt steuerpflichtig sind. Er wirkt sich wie der frühere Haushaltsfreibetrag durch Eintrag der 1 BVerfG v. 10.11.1998 – 2 BvR 1057/91 ua., FamRZ 1999, 285 ff.; BFH v. 29.1.1999 – VI R 176/90, BStBl. II 1999, 182.
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Steuern
Rn. 327
Kap. 6 A
Steuerklasse II aus (§ 38b Nr. 2, § 39b Abs. 2 S. 5 Nr. 4 EStG). Es wird dabei vorausgesetzt, dass mindestens ein Kind, das das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, mit dem Steuerpflichtigen eine Haushaltsgemeinschaft bildet und der Steuerpflichtige sowie sein Kind in der gemeinsamen Wohnung mit Hauptwohnsitz gemeldet sind. Eine Haushaltsgemeinschaft mit anderen Personen, zB eine eheähnliche Lebensgemeinschaft, darf nicht vorliegen, wobei eine Ausnahme zugunsten volljähriger Kinder, für die ein Freibetrag oder Kindergeld zu berücksichtigen ist, gewährt wird. ff) Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 6 EStG: Grundsätzlich erhält jeder El- 324 ternteil die Hälfte des vollen Kinderfreibetrags. Dies gilt bei einem Elternpaar, das nicht nach § 26 Abs. 1 S. 1 EStG zusammen veranlagt wird. Bei Ehegatten, die zusammen veranlagt werden, verdoppelt sich der Freibetrag. Der volle Kinderfreibetrag beträgt 4368 Euro, der halbe Kinderfreibetrag demnach 2184 Euro. Den für Ehegatten maßgeblichen vollen Kinderfreibetrag erhalten auch alleinstehende Elternteile, wenn der andere Elternteil im Ausland lebt oder seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind nicht im Wesentlichen, dh. zumindest zu 75 %, nachkommt oder wenn der Aufenthaltsort des anderen Elternteils nicht zu ermitteln ist. In die Lohnsteuertabelle wird der Kinderfreibetrag nicht eingearbeitet; er 325 spielt nur bei den Nebensteuern, also bei der Kirchensteuer und dem Solidaritätszuschlag eine Rolle. Sofern die Berücksichtigung des Kinderfreibetrags günstiger als der Empfang des Kindergeldes sein sollte, wird dies nachträglich bei der Veranlagung zur Einkommensteuer berücksichtigt. Dies ist in §§ 31, 36 Abs. 2 EStG ausdrücklich festgelegt, in denen zunächst klargestellt wird, dass der Familienlastenausgleich durch den Kinderfreibetrag oder das Kindergeld herbeigeführt wird. Übersteigt die durch den Kinderfreibetrag sich ergebende Freistellung die jährliche Kindergeldleistung, ist bei der Veranlagung zur Einkommenssteuer der Kinderfreibetrag abzuziehen und das Kindergeld zu verrechnen. Seit 2007 wird Kindergeld – ebenso wie der Kinderfreibetrag – noch bis zum 25. Lebensjahr (bisher 27. Lebensjahr) gewährt.
326
gg) Der Freibetrag für Betreuung, Erziehung und Ausbildung gem. § 32 327 Abs. 6 EStG wurde aufgrund der Beschlüsse des BVerfG zu den Kinderfreibeträgen v. 18.11.19981 für jedes Kind bis zum 16. Lebensjahr ab 1.1.2000 eingeführt, er wird zusätzlich zum Kinderfreibetrag gewährt. Ab dem 1.1.2004 wurde der Kinderfreibetrag um eine Ausbildungs- und Erziehungskomponente erweitert. Seitdem wird daneben der Ausbildungsfreibetrag nach § 33a Abs. 2 EStG von 924 Euro nur noch für volljährige Kinder berücksichtigt, die sich in Berufsausbildung befinden und auswärtig untergebracht sind.
1 BVerfG v. 18.11.2008 – 2 BvR 1057/91 ua., FamRZ 1999, 285 ff.
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457
Kap. 6 A Rn. 328 328
Steuern
Kinderbetreuungskosten können nach § 9c EStG als Sonderausgaben berücksichtigt werden. Dies ist iHv. 2/3 der Kinderbetreuungskosten bis maximal 4000 Euro pro Kind und Jahr möglich. b) Zusammenveranlagung – getrennte Veranlagung
329
Maßgebende Bestimmung ist § 26 Abs. 1 S. 1 EStG. Danach besteht ein Wahlrecht der Ehegatten zwischen der getrennten Veranlagung und der Zusammenveranlagung. Voraussetzung ist, dass – die Ehegatten beide unbeschränkt einkommensteuerpflichtig i.S.d. § 1 Abs. 1 oder 2 oder des § 1a EStG sind und – nicht dauernd getrenntleben und – diese Voraussetzungen zu Beginn des Veranlagungszeitraums vorgelegen haben oder im Laufe des Veranlagungszeitraums eingetreten sind.
330
Dies bedeutet, dass unbeschränkt einkommensteuerpflichtige Ehegatten, selbst wenn sie nur einen Tag im Jahr zusammengelebt haben, das Wahlrecht zwischen Zusammenveranlagung und getrennter Veranlagung ausüben können. Liegen diese Voraussetzungen dagegen nicht vor, muss eine Einzelveranlagung durchgeführt werden.
331
Für den Veranlagungszeitraum der Eheschließung können die Ehegatten außerdem statt der Zusammenveranlagung oder getrennten Veranlagung die besondere Veranlagung nach § 26c EStG wählen.
332
Wird eine Ehe im Veranlagungszeitraum – durch Tod oder Scheidung – aufgelöst, kann für diese Ehe kein Wahlrecht ausgeübt werden, wenn einer der Ehegatten in demselben Veranlagungszeitraum wieder geheiratet hat und für die neue Ehe die gemeinsame Veranlagung gewählt wird, § 26 Abs. 1 S. 2 EStG. Dies gilt nicht, wenn eine Ehe durch Tod aufgelöst worden ist und die Ehegatten der neuen Ehe die besondere Veranlagung nach § 26c EStG wählen.
333
Die Zusammenveranlagung nach §§ 26, 26b EStG und die besondere Veranlagung nach §§ 26, 26c EStG können nur durchgeführt werden, wenn sie von den Ehegatten gewählt werden. Die entsprechenden Erklärungen sind beim Finanzamt schriftlich oder zu Protokoll abzugeben, § 26 Abs. 2 S. 2, 3 EStG.
334
Wählt einer der Ehegatten die getrennte Veranlagung, werden die Ehegatten getrennt veranlagt, §§ 26 Abs. 2 S. 1, 26a EStG. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass der Ehegatte, der die Zusammenveranlagung wünscht, den anderen Ehegatten, der seine Zustimmung zur Zusammenveranlagung verweigert und die getrennte Veranlagung wählt, zivilrechtlich auf Zustimmung zur Zusammenveranlagung und damit auf Abgabe einer Willenserklärung in Anspruch nimmt.
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Steuern
Rn. 339
Kap. 6 A
Werden Ehegatten zusammen veranlagt, gilt das Splittingverfahren. Die 335 Zusammenveranlagung wird in § 26b EStG geregelt. Danach wird die Einkommensteuer für die Hälfte des gemeinsam zu versteuernden Einkommens beider Ehegatten aus der Einkommensteuergrundtabelle ermittelt und der ermittelte Steuerbetrag danach verdoppelt. Werden Ehegatten getrennt veranlagt, wird das Einkommen jedes Ehegatten nach dem Grundtarif gem. § 32a EStG versteuert. Die getrennte Veranlagung wird in § 26a EStG geregelt.
336
Zusammenveranlagung und getrennte Veranlagung setzen nach § 26 337 Abs. 1 EStG voraus, dass die unbeschränkt steuerpflichtigen Ehegatten während des Veranlagungszeitraums nicht dauernd getrennt gelebt haben. Lebten die Ehegatten während des Veranlagungszeitraums dauernd getrennt, kommt nur eine Einzelveranlagung in Betracht. Der Trennungsbegriff im Steuerrecht ist mit dem Begriff des Getrenntlebens nach §§ 1565, 1567 BGB weitgehend identisch, jedoch nicht deckungsgleich. Ein Getrenntleben i.S.d. § 1567 BGB schließt ein dauerndes Getrenntleben i.S.d. § 26 EStG idR ein, weil an den Trennungsbegriff des § 1567 BGB strengere Anforderungen zu stellen sind. Nach steuerrechtlichen Grundsätzen leben Ehegatten dauernd getrennt, 338 wenn die zum Wesen der Ehe gehörende Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft nach dem Gesamtbild der Verhältnisse auf die Dauer nicht mehr besteht. Unter Lebensgemeinschaft versteht man die räumliche, persönliche und geistige Gemeinschaft der Ehegatten. Wirtschaftsgemeinschaft ist die gemeinsame Erledigung der die Ehegatten gemeinsam berührenden wirtschaftlichen Fragen ihres Zusammenlebens. Leben die Ehegatten nicht räumlich getrennt, spricht eine Vermutung gegen dauerndes Getrenntleben. Wenn sich die Ehegatten nur vorübergehend räumlich, zB aus beruflichen Gründen trennen, ist die eheliche Lebensund Wirtschaftsgemeinschaft grundsätzlich noch nicht aufgehoben. Von einem Fortbestehen einer Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft kann sogar dann ausgegangen werden, wenn die Ehegatten infolge zwingender äußerer Umstände für eine nicht absehbare Zeit räumlich voneinander getrenntleben, zB infolge Krankheit oder Verbüßung einer Freiheitsstrafe, sie aber die erkennbare Absicht haben, die eheliche Verbindung aufrechtzuerhalten und nach dem Wegfall der Hindernisse die eheliche Gemeinschaft wiederherzustellen.
Û
Praxistipp: Während ein gescheiterter Versöhnungsversuch nach § 1567 Abs. 2 BGB das Trennungsjahr nicht unterbricht, eröffnet ein gescheiterter Versöhnungsversuch im Steuerrecht die Möglichkeit zur gemeinsamen steuerlichen Veranlagung. Dies gilt selbst dann, wenn der Versöhnungsversuch nur einen Tag gedauert hat. In der Praxis sollte deshalb darauf geachtet werden, dass im Termin zur mündlichen VerNann
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339
Kap. 6 A Rn. 340
Steuern
handlung über den Scheidungsantrag der während der Trennung der Ehegatten durchgeführte, aber gescheiterte Versöhnungsversuch im Protokoll festgehalten wird. Ggf. sollte in der Scheidungsantragsschrift schon auf einen gescheiterten Versöhnungsversuch hingewiesen werden. 340
Die im Scheidungsverfahren zum Getrenntleben getroffenen Feststellungen sind zwar für die steuerliche Beurteilung nicht bindend. Die objektive Feststellungslast für ein nicht dauerndes Getrenntleben trifft die Ehegatten. Haben die Ehegatten im Ehescheidungsverfahren übereinstimmend vorgetragen, sie hätten im Kalenderjahr dauernd getrennt gelebt, liegt hierin aber ein gewichtiges Indiz für ein dauerndes Getrenntleben i.S.v. § 26 EStG mit der Folge, dass eine Zusammenveranlagung nicht durchgeführt werden kann. Allerdings müssen demgegenüber die Finanzbehörden die Behauptung der Ehegatten widerlegen, sie hätten im Kalenderjahr nicht dauernd getrennt gelebt, sie hätten zumindest im Veranlagungszeitraum einen (wenn auch gescheiterten) Versöhnungsversuch unternommen. Insofern kann einer übereinstimmenden Erklärung der Ehegatten im Protokoll zur mündlichen Verhandlung über den Ehescheidungsantrag entscheidende Bedeutung zukommen. c) Freibeträge aa) Eintragung
341
Die Pauschbeträge nach § 33b EStG werden von der Gemeinde bereits bei der Ausstellung der Lohnsteuerkarte von Amts wegen eingetragen, § 39a Abs. 2 S. 1 EStG. Gleiches gilt für die Kinderfreibeträge, § 39 Abs. 3 EStG.
342
Auf Antrag wird der gesamte Freibetrag, der nach § 39a Abs. 1 EStG in Betracht kommt, vom Finanzamt eingetragen, § 39a Abs. 2 S. 2 EStG.
343
Änderungen der Steuerklassen oder der Kinderfreibeträge werden von der Gemeinde, andere Änderungen werden vom Finanzamt auf der Lohnsteuerkarte eingetragen. Die Lohnsteuerkarte gilt noch bis 31.12.2012.
344
Vorsorgeaufwendungen werden bereits beim Lohnsteuerabzug automatisch berücksichtigt, sie sind deshalb von jeglicher Eintragung auf der Lohnsteuerkarte ausgeschlossen. bb) Zeitliche Wirkung
345
Die Berücksichtigung von Freibeträgen noch während des laufenden Jahres kann nach § 39a Abs. 2 S. 3 EStG nur bis zum 30.11. des Kalenderjahres beantragt werden. Der Mindestfreibetrag beläuft sich auf 600 Euro, § 39a Abs. 2 S. 4 EStG. Wird nach dem 31.1. eines Kalenderjahres ein Freibetrag auf der Lohnsteuerkarte eingetragen, ist der ermittelte Jahresbetrag gleichmäßig von Beginn der Antragstellung auf die restlichen Monate umzurechnen. 460
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Steuern
Rn. 349
Kap. 6 A
cc) Übertragung von Freibeträgen Sofern keine Zusammenveranlagung nach §§ 26, 26b EStG erfolgt, kann 346 der einem Elternteil zustehende Kinderfreibetrag auf Antrag des anderen Elternteils auf diesen übertragen werden, wenn der antragstellende Elternteil im Wesentlichen der Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind nachkommt, § 32 Abs. 6 S. 6 EStG. Da ein Elternteil, in dessen Obhut sich das minderjährige Kind befindet, nach § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB seine Unterhaltsverpflichtung im Regelfall durch Pflege und Erziehung erfüllt, ist eine Übertragung auf ihn nur möglich, wenn das Kind von einem Elternteil betreut wird, der auch den Barunterhalt erbringt. Ein Elternteil kommt seiner Barunterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind im Wesentlichen nach, wenn er sie mindestens zu 75 % erfüllt. Bei einem minderjährigen Kind kann dem Elternteil, in dessen Wohnung das Kind nicht gemeldet ist, der zustehende Betreuungsfreibetrag auf Antrag des anderen Elternteils übertragen werden (§ 32 Abs. 6 S. 6 EStG).
347
Nach § 32 Abs. 6 S. 7 EStG kann der Kinderfreibetrag einvernehmlich auf 348 einen Großelternteil oder auf einen Stiefelternteil übertragen werden.
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Wichtig: Die Übertragung des Kinderfreibetrags kann Einfluss auf die übrigen durch ein Kind bedingten Steuerentlastungen, die vom Kinderfreibetrag abhängen, haben. Dies sind – die zumutbaren Belastungen nach § 33 Abs. 3 EStG, – die Ausbildungsfreibeträge nach § 33a Abs. 2 EStG, – die Übertragungsmöglichkeit des Pauschbetrags nach § 33b Abs. 5 EStG, – die Entlastungen beim Solidaritätszuschlag nach § 51a Abs. 2 EStG.
2. Auswirkungen des Steuerrechts auf die Feststellung des unterhaltspflichtigen Einkommens a) Berücksichtigung von Steuerbelastungen Bei der Einkommensermittlung stellen die Steuern neben den Vorsor- 349 geaufwendungen idR den wichtigsten, weil größten Abzugsposten dar. Bei der in Betracht kommenden Lohn- und Einkommensteuer, der Kirchensteuer, dem Solidaritätszuschlag und – bei Selbständigen – uU auch der Mehrwertsteuer handelt es sich um Jahressteuern, die zunächst nur als Vorschuss oder mit monatlichen Abzügen vom Arbeitseinkommen erhoben werden. Später wird mit zeitlichem Abstand zum jeweiligen Veranlagungszeitraum ein förmliches Veranlagungsverfahren durchgeführt, das mit Nachforderungen oder Rückerstattungen endet.
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461
Kap. 6 A Rn. 350 350
Steuern
Die steuerliche Belastung des Einkommens kann auf verschiedene Weise ermittelt werden: – Es wird vom Gesamtbetrag der Steuern ausgegangen, die im Prüfungszeitraum bezahlt wurden. Danach sind ohne Rücksicht auf die tatsächlich für das betreffende Jahr geschuldete Steuern nur die tatsächlich einbehaltene Steuer, die geleisteten Vorschüsse, die Nachzahlungen und die Erstattungen maßgebend. Dies nennt man In-Prinzip. – Eine andere Methode ist es, auf die von den Finanzbehörden bereits vorgenommene oder noch vorzunehmende Veranlagung abzustellen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, welche Zahlungen im betreffenden Zeitraum konkret geleistet wurden. Insoweit spricht man vom FürPrinzip.
351
Nach der Rechtsprechung gilt das In-Prinzip. Steuern werden danach grundsätzlich in der Höhe angerechnet, in der sie im Prüfungszeitraum auch tatsächlich entrichtet wurden1. Ergeben sich bei der späteren Veranlagung zur Einkommensteuer oder beim Lohnsteuerjahresausgleich Erstattungen, wird das Einkommen im Jahr der Erstattung um den Erstattungsbetrag erhöht. Für den erst nach dem Jahr der Erstattung fällig werdenden Unterhalt ist diese Einkommenserhöhung aber nur dann zu berücksichtigen, wenn auch künftig mit Erstattungen in vergleichbarer Höhe zu rechnen ist. Bei Nachforderungen vermindert sich das Einkommen um den Nachforderungsbetrag im Jahr der Nachzahlung2. Sind sich die Eheleute nicht einig, wem die Steuererstattung oder die Nachzahlungsverpflichtung zuzuordnen ist, muss diese Frage vorweg geklärt werden. Ebenso muss im Falle einer Wiederverheiratung vorab geklärt werden, ob und in welchem Umfang Erstattungen oder Nachzahlungen den Unterhaltspflichtigen oder dessen neuen Ehegatten betreffen.
352
Allerdings kann es im Einzelfall zulässig und geboten sein, die abzuziehende Einkommensteuer nicht nach dem In-Prinzip, sondern nach dem Für-Prinzip zu ermitteln. Nach Auffassung des BGH dürfen die geläufigen Methoden zur Ermittlung des Durchschnittseinkommens und zum Steuerabzug bei der Einkommensermittlung für Selbständige nicht als Dogma missverstanden werden3. Es ist vielmehr Aufgabe der Tatsacheninstanzen, unter den gegebenen Umständen des Einzelfalls eine geeignete Methode zur möglichst realitätsgerechten Ermittlung des Nettoeinkommens als Grundlage der Unterhaltsberechnung nach den ehelichen Lebensverhältnissen zu finden4.
1 BGH v. 14.2.1990 – XII ZR 51/89, FamRZ 1990, 981; BGH v. 23.11.1988 – IVb ZR 20/88, FamRZ 1989, 172 (174). 2 BGH v. 16.6.1982 – IVb ZR 727/80, FamRZ 1983, 152. 3 BGH v. 2.6.2004 – XII ZR 217/01, FamRZ 2004, 1177 (1178) = FamRB 2004, 316. 4 BGH v. 21.9.2011 – XII ZR 121/09, FamRZ 2011, 1851 m. Anm. Schürmann = FamRB 2011, 362.
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Steuern
Rn. 356
Kap. 6 A
Sind fiktive Einkünfte in die Unterhaltsberechnung einzustellen, können die Steuern weder nach dem In-Prinzip noch nach dem Für-Prinzip bemessen werden. Es muss vielmehr eine fiktive Steuerberechnung vorgenommen werden.
353
In der gerichtlichen Praxis ergibt sich aufgrund aktueller Veränderungen der Verhältnisse immer wieder die Notwendigkeit, nicht auf die Einkommensverhältnisse eines vergangenen Zeitraums zurückzugreifen, sondern die zukünftigen Einkommensverhältnisse auf der Grundlage der zwischenzeitlich veränderten Umstände festzulegen. Dies gilt insbesondere bei folgenden Sachlagen:
354
– Bei einer Veränderung der Lohnsteuerklasse während eines laufenden Unterhaltsprozesses ist diese Lohnsteuerklassenänderung zu berücksichtigen. – Bei einer Veränderung des Einkommens eines Beamten, bspw. durch Erreichen der nächsten Dienstaltersstufe oder einer höheren Besoldungsgruppe oder wegen Veränderung des Familienzuschlags, sind die hierdurch bedingten steuerlichen Veränderungen, soweit sie bis zur letzten mündlichen Verhandlung im Unterhaltsprozess eingetreten sind, zu berücksichtigen. Entsprechendes gilt für Arbeitnehmer, bei denen vergleichbare Veränderungen ihres Einkommens eintreten. – Bei einer unerwarteten, vom Normalverlauf erheblich abweichenden atypischen Entwicklung der Einkommensverhältnisse, die bei der Unterhaltsberechnung nicht zu berücksichtigen ist, kann nicht auf die tatsächlich gezahlten Steuern abgestellt werden, vielmehr müssen fiktive Steuern in die Einkommens- und Unterhaltsberechnung eingestellt werden. – Gleiches gilt bei Zugrundelegung eines fiktiven Einkommens wegen Verletzung einer Erwerbsobliegenheit. – Bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach längerer Arbeitslosigkeit kann nicht auf das Einkommen der letzten zwölf Kalendermonate abgestellt werden. Vielmehr muss das künftige Erwerbseinkommen einschließlich Urlaubs- und Weihnachtsgeld ermittelt werden. In all diesen Fällen wäre zwar eine Schätzung der Veränderung des Einkommens nach § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. § 287 Abs. 2 ZPO möglich. Eine solche Schätzung ist allerdings nur dann zulässig, wenn eine exakte Berechnung der künftig zu bezahlenden Steuern nicht möglich ist. Die Berechnung der Steuerlast kann jedoch mit Hilfe der Steuertabellen und der gängigen EDV-unterstützten Berechnungsprogramme mit der für das Unterhaltsverhältnis ausreichenden Genauigkeit bestimmt werden und ist jedenfalls genauer als eine Schätzung nach § 287 Abs. 2 ZPO.
355
Bereits erkennbare Veränderungen der Steuerbelastung, zB durch die 356 Trennung der Ehegatten, werden erst dann berücksichtigt, wenn sie sich konkret ausgewirkt haben. Der BGH hat es in mehreren Fällen abgelehnt,
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463
Kap. 6 A Rn. 357
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die Bestimmung des für die Unterhaltsfestsetzung maßgebenden Einkommens abweichend von den tatsächlich entrichteten Steuern aufgrund einer fiktiven Berechnung der Steuerlast zuzulassen. 357
In einer Vielzahl von Fällen bemisst sich die Steuerlast des Unterhaltspflichtigen im Jahr der Trennung noch nach Steuerklasse III, während im Jahr nach der Trennung die Einkünfte nach der Steuerklasse I oder – falls ein Entlastungsbetrag nach § 24a EStG geltend gemacht werden kann – nach Steuerklasse II zu versteuern sind. Solange die Steuerklassenänderung nicht vollzogen wurde, sondern fälschlicherweise auch im Jahr nach der Trennung zunächst noch Steuer nach Steuerklasse III anstelle von Steuer nach Steuerklasse I oder Steuerklasse II bezahlt wird, muss auf die tatsächlich gezahlte Steuer abgestellt werden. Wird die Steuerklasse erst später geändert, bleibt dem Unterhaltspflichtigen häufig nur ein Abänderungsantrag.
358
Bei der Ermittlung der ehelichen Lebensverhältnisse für den Ehegattenunterhalt kommt es nicht fiktiv auf die in der Ehe gegebene Steuerbelastung nach Steuerklasse III an. Wird das Einkommen inzwischen nach Steuerklasse I oder II besteuert, sind die danach berechneten Steuern maßgeblich. Das damit verbundene Absinken der Nettoeinkünfte ist, wenn es erheblich ist, von beiden Ehegatten gleichermaßen zu tragen. Der Rückgang der Einkünfte wird dann sowohl bei der Bedarfsbemessung als auch im Rahmen der Leistungsfähigkeit berücksichtigt. Die durch die Trennung verursachte steuerliche Mehrbelastung hat zwar nicht mehr die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt. Insoweit setzt sich jedoch der Gesichtspunkt durch, dass die ehelichen Lebensverhältnisse und damit der Bemessungsmaßstab für den Unterhaltsanspruch durch das tatsächliche Einkommen des Pflichtigen geprägt werden1.
359
Bei einer Wiederverheiratung des Pflichtigen, die zu einem Splittingvorteil in der neuen Ehe führt, wurde der Steuervorteil zunächst vom BGH als unterhaltspflichtiges Einkommen auch im Verhältnis zum geschiedenen Ehegatten angesehen2. Eine Ausnahme wurde nur im Mangelfall gemacht, soweit der Splittingvorteil aus der neuen Ehe benötigt wurde, um den Lebensbedarf des neuen Ehegatten zu decken3. Das BVerfG hat diese Rechtsprechung des BGH wegen Verstoßes gegen Art. 6 GG für verfassungswidrig erklärt und ausgeführt, die Steuervorteile, die der Gesetzgeber ausschließlich der neuen Ehe eingeräumt habe, dürften nicht dem geschiedenen Ehegatten unterhaltserhöhend zugute kommen, da der Splittingvorteil der neuen Ehe nicht in der alten Ehe angelegt sei und der
1 BGH v. 24.1.1990 – VII ZR 2/89, BGH v. 24.1.1990 – XII ZR 2/89, FamRZ 1990, 499 (502). 2 BGH v. 23.4.1986 – IVb ZR 33/85, FamRZ 1986, 798; BGH v. 4.11.1987 – IVb ZR 81/86, FamRZ 1988, 145. 3 BGH v. 3.7.1985 – IVb ZR 16/84, FamRZ 1985, 911 (912).
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Steuern
Rn. 361
Kap. 6 A
Splittingvorteil aus der alten Ehe mit der Beendigung des Zusammenlebens entfallen sei1.
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Wichtig: Dieser Grundsatz ist für Unterhaltszeiträume ab der Verkündung der Entscheidung des BVerfG v. 7.10.2003 anzuwenden, da die vorher gefestigte Rechtsprechung des BGH zum Ehegattensplitting seither obsolet und eine neue Rechtslage eingetreten ist2.
Mit Rücksicht auf diese Entscheidung des BVerfG konnte der BGH seine 360 bisherige Rechtsprechung zur Behandlung des Splittingvorteils bei der Bemessung des Ehegattenunterhalts nicht aufrechterhalten. Da eine auf dem Splittingvorteil beruhende steuerliche Entlastung von Verfassungs wegen der neuen Ehe zugewiesen ist, hat der Splittingvorteil aus der neuen Ehe die ehelichen Lebensverhältnisse der geschiedenen Ehe nicht geprägt. Der Splittingvorteil aus der neuen Ehe ist daher bei der Bemessung des Unterhalts des geschiedenen früheren Ehegatten nicht zu berücksichtigen. Für die Ermittlung des unterhaltsrelevanten Einkommens des Unterhaltspflichtigen ist deshalb ein aus der neuen Ehe ggf. vorhandener Splittingvorteil zu eliminieren und eine fiktive Steuerberechnung anhand der Grundtabelle vorzunehmen, soweit es um die Inanspruchnahme auf Zahlung von Ehegattenunterhalt geht3. Dies bezieht sich insbesondere auf den Splittingvorteil nach § 26b EStG, auf außergewöhnliche Belastungen nach § 33a EStG, das Realsplitting nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG sowie Familienzuschläge nach § 40 BBesG und vergleichbaren Landesgesetzen. Bemisst sich der Anspruch auf nachehelichen Unterhalt gegen einen wieder verheirateten Ehegatten nach seinem fiktiv ohne den Splittingvorteil der neuen Ehe errechneten Einkommen, ist auch ein eventueller Realsplittingvorteil auf der Grundlage dieses fiktiv nach der Grundtabelle bemessenen Einkommens zu bestimmen4. Diese Rechtsprechung hielt der BGH für die Zeit ab 1.1.2008 nicht mehr 361 aufrecht5. Der BGH vertrat die Auffassung, schulde ein Unterhaltspflichtiger sowohl einem geschiedenen als auch einem neuen Ehegatten Unterhalt, so sei der nach den ehelichen Lebensverhältnissen gem. § 1578 Abs. 1 BGB zu bemessende Unterhaltsbedarf jedes Berechtigten im Wege der Dreiteilung des Gesamteinkommens des Unterhaltspflichtigen und beider Unterhaltsberechtigter zu ermitteln. Sei der Unterhaltsbedarf eines geschiedenen Ehegatten durch den hinzugekommenen Unterhaltsbedarf eines neuen Ehegatten herabzusetzen, sei im Rahmen der dann ge-
1 BVerfG v. 7.10.2003 – 1 BvR 246/93 u. 1 BvR 2298/94, FamRZ 2003, 1821. 2 OLG Koblenz v. 3.8.2004 – 11 UF 809/03, FamRZ 2005, 720. 3 BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 (1819) = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354. 4 BGH v. 23.5.2007 – XII ZR 245/04, FamRZ 2007, 1232 = FamRB 2007, 261. 5 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327.
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Kap. 6 A Rn. 362
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botenen Dreiteilung das Gesamteinkommen einschließlich des Splittingvorteils aus der neuen Ehe zugrunde zu legen1. Dies gelte ebenso für einen Familienzuschlag der Stufe 1 nach § 40 Abs. 1 BBesG2. 362
In der Folgezeit wurde die Auffassung vertreten, für die Fälle des Aufeinandertreffens von Unterhaltsansprüchen eines geschiedenen und eines neuen Ehegatten, die beide über Einkommen verfügen, seien auf der Grundlage des ab dem Jahr 2008 geltenden Unterhaltsrechts die tatsächlichen – also unter Einbeziehung des Splittingvorteils aus der neuen Ehe ermittelten – Einkünfte sowohl der Ehegatten als auch des Unterhaltspflichtigen zu addieren und nach Bereinigung um berufsbedingte Aufwendungen und den Erwerbstätigenbonus durch die Personenzahl der Unterhaltsgemeinschaft zu teilen3. Der sich hiernach ergebende Bedarf sei um eigene Einkünfte des unterhaltsberechtigten Ehegatten zu kürzen. Sodann sei im Rahmen einer Kontrollberechnung das Einkommen des Unterhaltspflichtigen nach der Steuerklasse I zu berechnen. Ergebe sich im Rahmen dieser Kontrollberechnung ein niedrigerer Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten, mithin ein Unterhaltsanspruch in einer Höhe, der dem geschiedenen Ehegatten auch ohne die Wiederverheiratung des Unterhaltspflichtigen zustünde, so habe dieser nur Anspruch auf den sich im Rahmen der Kontrollberechnung ergebenden niedrigeren Betrag4.
363
Nachdem das BVerfG5 entschieden hat, dass die Rechtsprechung des BGH zur Dreiteilung teilweise als verfassungswidrig zu bewerten sei, kann die Rechtsprechung des BGH nicht aufrechterhalten bleiben. Bei Zusammenleben der Ehegatten in der zweiten Ehe wirkt sich der Splittingvorteil der neuen Ehe nicht auf die erste Ehe aus6. Letztlich gilt daher wieder die Rechtslage, die vor der Rechtsprechung zur Dreiteilung des
1 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327 unter Aufgabe der vorherigen BGH-Rspr. v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 (1819) = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354. 2 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327 unter Aufgabe der Entscheidung BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 (797 f.) = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197. 3 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 (1916) = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327. 4 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 (1916) = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327; BGH v. 17.12.2008 – XII ZR 9/07, FamRZ 2009, 41; BGH v. 28.1.2009 – XII ZR 119/07, FamRZ 2009, 579 (583) = FamRB 2009, 178 und FamRB 2009, 138; OLG Düsseldorf v. 5.5.2008 – II-2 UF 135/06, FamRZ 2008, 1245; Gerhardt/Gutdeutsch, FamRZ 2007, 778; Gutdeutsch, FamRZ 2006, 1072; Klinkhammer, FF 2007, 13; Hahne, FF 2009, 178 (182 f.). 5 BVerfG v. 25.1.2011 – BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 = FamRB 2011, 66. 6 Gerhardt/Gutdeutsch, FamRZ 2011, 597 (599); Borth, FamRZ 2011, 445; Gerhardt/Gutdeutsch, FamRZ 2011, 772.
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Rn. 368
Kap. 6 A
BGH gegolten hat1. Es ist daher eine fiktive Steuerberechnung nach getrennter Veranlagung durchzuführen. Demgegenüber kommt Kindern aus einer früheren Ehe des Unterhaltspflichtigen der mit der Wiederverheiratung verbundene Steuervorteil stets zugute, da es im Verwandtenunterhalt grundsätzlich auf das tatsächlich vorhandene Einkommen, mithin auch auf die reale Steuerbelastung, ankommt2.
364
Hat der Unterhaltspflichtige für einen geschiedenen Ehegatten und für 365 Kinder aus dieser Ehe Unterhalt zu leisten, ist im ersten Schritt der Unterhalt des geschiedenen Ehegatten auf der Grundlage der Einkommensbesteuerung nach der Grundtabelle (Steuerklasse IV) zu berechnen. Dabei sind die Unterhaltsansprüche der vorrangigen gemeinsamen Kinder nur in dem Umfang abzusetzen, in dem sie sich ohne den Splittingvorteil aus der neuen Ehe ergeben würden3. Im zweiten Schritt ist dann unter Berücksichtigung des Splittingvorteils aus der neuen Ehe der Kindesunterhalt zu ermitteln. Der Vorrang des Unterhalts minderjähriger Kinder gegenüber Ehegatten gilt auch im Mangelfall für das gesamte verfügbare Einkommen und schließt den Splittingvorteil aus der neuen Ehe des Unterhaltspflichtigen ein4.
366
Steuervorteile, die infolge Wiederverheiratung für Stiefkinder gewährt 367 werden, bleiben für die Bemessung des Unterhalts des geschiedenen Ehegatten ebenso unberücksichtigt. Denn dieser Vorteil soll nur dem zustehen, der dafür auch aufkommt5. b) Berücksichtigung von Steuervorteilen Steuervergünstigungen, die durch Eintragung von Freibeträgen oder durch 368 Abschreibungsmöglichkeiten erzielt werden können, sind unterhaltsrechtlich zu berücksichtigen. Sie führen zu einer Verringerung der Steuerbelastung und damit zu einer Erhöhung des für Unterhaltszwecke zur Verfügung stehenden Nettoeinkommens. Alle erzielbaren Steuervorteile sind Einkommen, auch wenn sie durch wirtschaftliche oder persönliche 1 Vgl. BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 (1819) = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354. 2 BGH v. 17.9.2008 – XII ZR 72/06, FamRZ 2008, 2189 = FamRB 2008, 360; BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 882 = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231; OLG München v. 19.4.2004 – 4 WF 137/04, FamRZ 2004, 892; OLG Köln v. 30.9.2004 – 10 UF 81/04, FamRZ 2005, 650; aA OLG Oldenburg v. 31.1.2006 – 12 UF 91/05, FamRZ 2006, 1127 = FamRB 2006, 234. 3 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739 (1746) = FamRB 2008, 293 und FamRB 2008, 294. 4 BGH v. 17.9.2008 – XII ZR 72/06, FamRZ 2008, 2189 = FamRB 2008, 360. 5 OLG Hamm v. 17.4.1996 – 5 UF 183/95, FamRZ 1997, 26.
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Kap. 6 A Rn. 369
Steuern
Lebensgestaltung – wie Wiederheirat oder weitere nicht gemeinschaftliche Kinder –, die keinen Bezug zum Unterhaltsberechtigten hat, eintreten. Allerdings sind mit Aufwendungen verbundene Steuervorteile unterhaltsrechtlich nur zu berücksichtigen, wenn der Aufwand selbst als abzugsfähige Belastung anerkannt ist1. Ist dies nicht der Fall, verbleibt die Steuerersparnis beim Unterhaltspflichtigen und spielt für die Bemessung des Unterhalts keine Rolle2. Beispiel: Nach der Scheidung erwirbt der Unterhaltspflichtige eine Eigentumswohnung. Zum Erwerb nimmt er ein Darlehen auf, welches zu verzinsen ist. Er bezieht die Wohnung nicht selbst, sondern vermietet sie an einen Dritten, welcher Miete bezahlt. Der Unterhaltspflichtige kann steuerliche Verluste aus Vermietung und Verpachtung geltend machen. Da die nach der Scheidung gekaufte und vermietete Eigentumswohnung die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt hat, sind sowohl die vom Unterhaltspflichtigen zu zahlenden Darlehenszinsen als auch die von ihm empfangenen Mietzahlungen nicht zu berücksichtigen. Auch die Steuervorteile aus den Verlusten aus Vermietung und Verpachtung dürfen unterhaltsrechtlich nicht berücksichtigt werden, sie verbleiben dem Unterhaltspflichtigen.
369
Der Unterhaltsverpflichtete muss dafür Sorge tragen, dass sein laufendes Einkommen nicht durch unnötig hohe Steuerabzüge geschmälert wird. Er ist deshalb verpflichtet, Steuervorteile, die er kennt und die er in zumutbarer Weise erzielen könnte, in Anspruch zu nehmen, indem er rechtzeitig entsprechende Freibeträge auf der Lohnsteuerkarte eintragen lässt. aa) Begrenztes Realsplitting
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Unterhaltsleistungen an gesetzlich unterhaltsberechtigte Personen zählen grundsätzlich nicht zu den einkommensteuerlich abzugsfähigen Ausgaben. Dies gilt auch für freiwillige Unterhaltsleistungen, § 12 S. 1, 2 EStG. Das EStG sieht jedoch zwei Ausnahmen von dem Abzugsverbot vor: – Unterhaltsleistungen an den geschiedenen oder getrenntlebenden Ehegatten können, wenn dieser im Inland lebt, bis zu 13 805 Euro jährlich nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG als Sonderausgabe abgezogen werden. Der jährliche Höchstbetrag von 13 805 Euro erhöht sich seit dem 1.1.2010 um den Betrag, der im jeweiligen Veranlagungszeitraum nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 EStG im Bereich der Krankenvorsorge für die Absicherung des dauernd getrenntlebenden oder geschiedenen unbeschränkt einkommenspflichtigen Ehegatten aufgewandt wurde. Allerdings sind diese Einkünfte vom Leistungsempfänger nach § 22 Nr. 1a EStG als sonstige Einkünfte zu versteuern. Man bezeichnet dies als begrenztes Realsplitting. – Sofern von der Möglichkeit des § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG kein Gebrauch gemacht wird, können Unterhaltsleistungen aufgrund einer gesetzli1 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 19/01, FamRZ 2003, 741 = FamRB 2003, 291. 2 BGH v. 1.10.1986 – IVb ZR 68/85, FamRZ 1987, 36.
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Rn. 372
Kap. 6 A
chen Unterhaltsverpflichtung als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt werden, soweit sie dem Steuerpflichtigen zwangsläufig entstehen, § 33a Abs. 1 EStG. Hierzu bedarf es keiner Zustimmung des Unterhaltsberechtigten. Dabei bleiben Unterhaltsleistungen an eine Person, für die der Steuerpflichtige oder eine andere Person einen Kinderfreibetrag erhalten kann, außer Betracht. Der Unterhaltshöchstbetrag beläuft sich auf 8004 Euro, wenn der unterhaltsberechtigte Ehegatte keine Einkünfte und nur geringes Vermögen hat. Hat er Einkünfte oder Vermögen, werden diese mit Ausnahme eines Freibetrags von 624 Euro hiervon abgezogen1.
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Wichtig: Im Falle von Unterhaltsleistungen nach § 1615l Abs. 1, 2 BGB kann der Unterhaltspflichtige das Realsplitting nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG nicht geltend machen, da dies nach dem Wortlaut nur für Ehegatten bzw. geschiedene Ehegatten gilt. Insoweit können Unterhaltsleistungen ebenfalls nach § 33a Abs. 1 EStG als außergewöhnliche Belastung in besonderen Fällen bis zu jährlich 8004 Euro vom steuerpflichtigen Einkommen abgezogen werden. Ferner darf für die Mutter kein Anspruch auf Kindergeld oder einen Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 6 EStG bestehen (zB für eine Auszubildende oder Studentin).
Nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG können auf bürgerlich-rechtlicher oder 371 privatrechtlicher Verpflichtung beruhende oder freiwillige Unterhaltsleistungen an den geschiedenen oder dauernd getrenntlebenden, unbeschränkt steuerpflichtigen Ehegatten bis zu 13 805 Euro im Kalenderjahr als Sonderausgaben abgezogen werden2. Voraussetzung ist, dass der Unterhalt zahlende Ehegatte den Sonderausgabenabzug beantragt und der den Unterhalt empfangende Ehegatte diesem Antrag ausdrücklich zustimmt. Hierdurch werden die gesamten in dem Kalenderjahr geleisteten Unterhaltsaufwendungen begrifflich zu Sonderausgaben, gleichgültig, ob es sich um einmalige, laufende, voraus- oder nachentrichtete Leistungen handelt. Wird der Antrag vom Unterhalt zahlenden Ehegatten gestellt, die Zustimmung zum Sonderausgabenabzug vom Unterhalt empfangenden Ehegatten aber nicht erteilt oder widerrufen oder ist der den Unterhalt empfangende Ehegatte nicht unbeschränkt steuerpflichtig, können die notwendigen Unterhaltsleistungen bis zu einem Höchstbetrag von 8004 Euro als außergewöhnliche Belastung nach § 33a Abs. 1 EStG berücksichtigt werden. Der Erbe des unterhaltspflichtigen Ehegatten kann Unterhaltsleistungen 372 an den geschiedenen Ehegatten des Erblassers (§ 1586b BGB) nicht nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG als Sonderausgabe abziehen.
1 Vgl. Borth FamRZ 2010, 416 (418). 2 BGH v. 17.2.2010 – XII ZR 104/07, FamRZ 2010, 717 = FamRB 2010, 144.
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Nach Auffassung des BFH ist das begrenzte Realsplitting verfassungskonform1.
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Unterhaltsleistungen, die nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG als Sonderausgaben geltend gemacht werden können, sind einmalige oder laufende Barzahlungen sowie Sachzuwendungen, die ohne Gegenleistung gewährt werden. Es ist nicht maßgebend, ob der Unterhaltsempfänger die Unterhaltsleistungen aufgrund seiner eigenen Einkommens- und Vermögensverhältnisse rechtlich fordern könnte und ob der Unterhaltsgeber nach seiner Leistungsfähigkeit zur Gewährung des Unterhalts verpflichtet ist. Entscheidend ist, dass die Unterhaltsleistungen tatsächlich erbracht wurden. Auch der Verwendungszweck beim Empfänger spielt für den Sonderausgabenabzug nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG keine Rolle: es kommt nicht darauf an, ob der Unterhaltsempfänger den ihm gewährten Unterhalt für seine Lebensführung ausgibt oder anspart. Auch die auf die Unterhaltsleistungen entfallende Einkommensteuer, die der Unterhaltspflichtige dem Unterhaltsberechtigten erstattet hat, ist eine Unterhaltsleistung2 und kann deshalb als Sonderausgabe steuerlich geltend gemacht werden.
Û
Wichtig: Überlässt der geschiedene Ehegatte dem anderen aufgrund einer Unterhaltsvereinbarung das beiden gehörende Haus zur alleinigen Nutzung, kann er den Mietwert seines Miteigentumsanteils und die von ihm getragenen verbrauchsunabhängigen Kosten (bspw. die Grundsteuer und die Gebäudeversicherung) für den Miteigentumsanteil des anderen Ehegatten als Sonderausgabe nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG abziehen3.
375
Erbringt das Sozialamt für die Unterhaltsschuld Vorleistungen, kann der Unterhaltsschuldner das begrenzte Realsplitting erst in dem Veranlagungszeitraum geltend machen, in welchem er den auf das Sozialamt übergegangenen Anspruch tatsächlich erfüllt hat.
376
Der Höchstbetrag von derzeit 13 805 Euro gilt für die gesamten Unterhaltsleistungen an den Unterhaltsempfänger. Dieser Betrag erhöht sich nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 EStG um die Krankheitsvorsorge für die Absicherung des dauernd getrenntlebenden oder geschiedenen unbeschränkt einkommenspflichtigen Ehegatten. Übersteigen die Unterhaltsleistungen den Höchstbetrag, so kann der übersteigende Teil nicht als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt werden.
377
Der Antrag kann jeweils nur für ein Kalenderjahr und im Laufe des Jahres zum Zweck der Eintragung eines Freibetrags oder der Anpassung von Einkommensteuervorauszahlungen gestellt werden. Sowohl der Antrag 1 BFH v. 25.7.1990 – X R 137/88, BStBl. II 1022. 2 BFH v. 28.11.2007 – XI B 78/07, FamRZ 2008, 888. 3 OLG Köln v. 18.11.1997 – 4 UF 63/97, FamRZ 1999, 113.
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Kap. 6 A
als auch die Zustimmung des Unterhaltsempfängers können wegen der rechtsgestaltenden Wirkung der Erklärung nicht zurückgenommen oder nachträglich beschränkt werden. Der Antrag auf Durchführung des begrenzten Realsplittings ist bei nachträglicher Zustimmung des Unterhaltsempfängers ein rückwirkendes Ereignis i.S.v. § 175 AO und deshalb auch nach Bestandskraft des Bescheides zu berücksichtigen. Soweit nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG Unterhaltsleistungen als Sonderaus- 378 gaben geltend gemacht werden, verdrängen diese bei der Berechnung den Sonderausgabenpauschbetrag von 36 Euro gem. § 10c Abs. 1 EStG. Dies ist bei der Berechnung der Steuerlast zu berücksichtigen, da in dieser der Pauschbetrag bereits enthalten ist.
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Wichtig: Die Steuervorteile aus dem begrenzten Realsplitting können entweder – in der jährlichen Einkommensteuerermittlung als Sonderausgabenabzug nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG oder – durch Eintragung eines Freibetrags nach § 39a Abs. 1 Nr. 2 EStG bis zu monatlich 1150,42 Euro = 13 850 Euro jährlich als Sonderausgaben geltend gemacht werden.
Der Unterhalt empfangende Ehegatte muss dem begrenzten Realsplitting 379 zustimmen. Er ist aus der sich aus § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB ergebenden Pflicht zur ehelichen Solidarität zur Abgabe der Zustimmungserklärung verpflichtet, weil er damit die finanzielle Belastung des Unterhaltsverpflichteten mindert und dessen Leistungsfähigkeit erhöht. Hinter dieser unterhaltsrechtlichen Nebenverpflichtung (§ 242 BGB) steht eine sich aus dem Wesen der Ehe ergebende umfassende familienrechtliche Verpflichtung, die finanzielle Belastung des jeweils anderen Teils zu mindern, soweit dies ohne Verletzung eigener Interessen möglich ist1. Diese Verpflichtung bleibt als Nachwirkung der Ehe auch nach der Scheidung (sog. nacheheliche Solidarität) weiterbestehen2. Verstöße gegen solche Verpflichtungen können Schadensersatzansprüche begründen3 und im Einzelfall zu einer Verwirkung von Unterhaltsansprüchen nach § 1579 Nr. 5 BGB führen4. Allerdings muss die Mitwirkung am begrenzten Realsplitting aus unterhaltsrechtlicher Sicht bei Abwägung der beiderseitigen Interessen auch zumutbar sein5.
1 2 3 4 5
BGH v. 13.10.1976 – IV ZR 104/74, FamRZ 1977, 38 (40). BGH v. 13.4.1988 – IVb ZR 46/87, FamRZ 1988, 820. BGH v. 13.4.1988 – IVb ZR 46/87, FamRZ 1988, 820. OLG Koblenz v. 23.6.2008 – 13 UF 746/07, FF 2009, 83. BGH v. 23.3.1983 – IVb ZR 369/81, FamRZ 1983, 576.
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Kap. 6 A Rn. 381
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381
Der Anspruch des Unterhalt leistenden Ehegatten gegenüber dem Unterhalt empfangenden Ehegatten auf Erteilung der Zustimmungserklärung ist zivilrechtlicher Natur. Ob die Verweigerung rechtsmissbräuchlich ist, haben Finanzbehörden oder Finanzgerichte nicht zu prüfen. Die zivilrechtliche Zustimmung kann nicht davon abhängig gemacht werden, ob die geltend gemachten Aufwendungen überhaupt als Unterhaltsleistungen anerkannt werden. Denn die Verpflichtung des Unterhaltsempfängers, dem begrenzten Realsplitting zuzustimmen, besteht auch dann, wenn Streit über die Höhe der erbrachten Unterhaltsleistungen oder die steuerliche Anerkennungsfähigkeit der erbrachten Leistungen besteht1.
382
Die Zustimmung zur Durchführung des begrenzten Realsplittings ist als öffentlich-rechtliche Willenserklärung formfrei. In der Praxis erfolgt sie zwar regelmäßig durch Unterzeichnung der „Anlage U“ zur Einkommensteuererklärung. Da sie aber formfrei ist, kann die Unterzeichnung der „Anlage U“ nicht gerichtlich erzwungen werden2. Es genügt, dass die Zustimmung in einer für das Finanzamt nachprüfbaren Form zum Ausdruck gebracht wird.
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Praxistipp: Es ist deshalb falsch, im gerichtlichen Verfahren einen Antrag zu stellen, der auf eine Verpflichtung zur Unterzeichnung der Anlage U abzielt. Ein derartiger Antrag müsste zurückgewiesen werden. Vielmehr ist zu beantragen, den Unterhalt empfangenden Ehegatten auf Abgabe seiner Zustimmung zum Sonderausgabenabzug zu verpflichten.
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Im Falle der rechtskräftigen Verpflichtung zur Abgabe der Zustimmung zum begrenzten Realsplitting gilt die Zustimmung nach § 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 894 ZPO als abgegeben.
384
Eine Pflicht zur Zustimmung zum begrenzten Realsplitting besteht auch dann, wenn der unterhaltspflichtige Ehegatte einen Freibetrag nach § 39a Abs. 1 Nr. 2 EStG eintragen lassen will. Wird der Freibetrag während des laufenden Jahres eingetragen, so verteilt das Finanzamt den gesamten Freibetrag auf die verbleibenden Monate bis zum Jahresende, § 39a Abs. 2 S. 6 EStG.
385
Nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 S. 3, 4 EStG wirkt die einmal erteilte Zustimmung auch über den Zeitraum eines Kalenderjahres hinaus. Sie kann aber vor Beginn des Kalenderjahres, für das das Realsplitting erstmals nicht gelten soll, gegenüber dem Finanzamt widerrufen werden. 1 BGH v. 29.4.1998 – XII ZR 266/96, FamRZ 1998, 953; OLG Bremen v. 26.1.2001 – 4 UF 109/00, FamRZ 2001, 1371. 2 BGH v. 29.4.1998 – XII ZR 266/96, FamRZ 1998, 953 (954); OLG Oldenburg v. 28.10.2010 – 14 UF 141/10, FamRZ 2011, 1226; OLG Koblenz v. 29.10.2001 – 13 UF 240/01, FamRZ 2002, 1129; OLG Stuttgart v. 30.7.1992 – 15 WF 477/91, FamRZ 1993, 206.
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Rn. 390
Kap. 6 A
Praxistipp: Wer die einmal erteilte Zustimmung zur Durchführung des begrenzten Realsplittings widerrufen will, muss den Widerruf bis zum 31.12. des laufenden Jahres gegenüber dem Finanzamt aussprechen. Für das Folgejahr wird das begrenzte Realsplitting dann nicht durchgeführt.
Da die einmal erteilte Zustimmung zur Durchführung des begrenzten 386 Realsplittings über den Zeitraum des Kalenderjahres, in welchem die Zustimmung erklärt wurde, bis zum Widerruf fortwirkt, ist es nicht erforderlich, jedes Jahr aufs Neue mit dem unterhaltsberechtigten Ehegatten wegen des Realsplittings zu korrespondieren. Falsch wäre es daher, den Unterhalt empfangenden Ehegatten auf Zustimmung zur Durchführung des Realsplittings zu verpflichten, wenn dieser in der Vergangenheit die Zustimmungserklärung bereits einmal abgegeben hat und die Zustimmungserklärung nicht widerrufen wurde. Es besteht keine Zustimmungspflicht, wenn der Unterhaltsverpflichtete erklärt, er werde gegen die von ihm zu tragende steuerliche Mehrbelastung des unterhaltsberechtigten Ehegatten aufrechnen. Denn die vom Verpflichteten abzugebende Freistellungserklärung von steuerlichen und sonstigen Belastungen soll dem unterhaltsberechtigten Ehegatten doch trotz des Realsplittings den ungekürzten Unterhaltsanspruch sichern1.
387
Der Unterhaltsberechtigte kann dem Anspruch des Unterhaltspflichtigen auf Zustimmung zum begrenzten Realsplitting kein Zurückbehaltungsrecht entgegensetzen, wenn dieser für die Zeit, für die er die Zustimmung zum begrenzten Realsplitting begehrt, seine Unterhaltsverpflichtung erfüllt hat2.
388
Der Unterhaltsberechtigte ist auch dann verpflichtet, die Zustimmung 389 zur Geltendmachung von Unterhaltszahlungen als Sonderausgaben zu erteilen, wenn er Sozialhilfe erhält und der unterhaltspflichtige Ehegatte die Unterhaltszahlungen an den Träger der Sozialhilfe erbringt. Denn eine Unterhaltszahlung i.S.v. § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG kann auch darin liegen, dass der unterhaltspflichtige Ehegatte Sozialhilfe, die der andere Ehegatte erhalten hat, an den Träger der Sozialhilfe zurückbezahlt oder an das Sozialamt auf den Unterhalt Zahlungen erbringt3. Da der unterhaltsberechtigte Ehegatte durch die Zustimmung zur Durchführung des begrenzten Realsplittings keinen Nachteil erleiden soll, ist die Zustimmungsverpflichtung davon abhängig, dass der Unterhaltspflichtige die finanziellen Nachteile ausgleicht, die dem Berechtigten durch das begrenzte Realsplitting erwachsen. Die Zustimmung zur Durchführung des
1 OLG Köln v. 10.3.1988 – 14 UF 267/87, FamRZ 1988, 1059. 2 OLG Stuttgart v. 19.9.2000 – 18 UF 247/00, FamRZ 2001, 1370; OLG Hamm v. 27.12.1990 – 2 WF 537/90, FamRZ 1991, 832. 3 OLG Köln v. 30.9.2000 – 27 WF 165/00, FamRZ 2001, 1569.
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Kap. 6 A Rn. 391
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begrenzten Realsplittings kann daher nur Zug-um-Zug gegen eine verbindliche Erklärung verlangt werden, durch die sich der Unterhaltsverpflichtete zur Freistellung des Berechtigten von den ihm entstehenden Nachteilen verpflichtet1. Dem Unterhaltsberechtigten sind nicht nur die Nachteile, die ihm aus dem Realsplitting entstehen, zu erstatten; er ist vielmehr von allen eventuellen Nachteilen freizustellen. 391
Von einer Sicherheitsleistung kann der Unterhaltsberechtigte seine Zustimmung nur abhängig machen, wenn zu besorgen ist, dass der Unterhaltspflichtige seine Verpflichtung zum Ausgleich der finanziellen Nachteile nicht oder nicht rechtzeitig erfüllen wird.
392
Der unterhaltsberechtigte Ehegatte ist nicht nur von steuerlichen, sondern von allen eventuellen Nachteilen, die ihm aufgrund des begrenzten Realsplittings entstehen können, freizustellen. Zu den Nachteilen, die der Verpflichtete dem Berechtigten auszugleichen hat, gehören in erster Linie die Steuerbelastung oder Steuermehrbelastung des Berechtigten. In dem Jahr, in dem der Verpflichtete diese Steuerlast ersetzt, kann er diesen Betrag von seinem Einkommen als zusätzliche Steuerzahlung absetzen.
Û
Wichtig: Der vom Verpflichteten ausgeglichene Nachteil des Berechtigten stellt selbst eine Unterhaltsleistung i.S.v. § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG dar. Die Unterhaltsleistungen, die der unterhaltspflichtige Ehegatte als Sonderausgaben nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG geltend machen kann, setzen sich also zusammen aus – den Barunterhaltszahlungen und Krankenversicherungsbeiträgen, – eventuellen Sachzuwendungen, – dem Mietwert des dem anderen Ehegatten überlassenen Miteigentumsanteils an der gemeinsamen Immobilie und den von ihm getragenen verbrauchsunabhängigen Kosten für den Miteigentumsanteil des anderen Ehegatten und – dem ausgeglichenen Realsplittingnachteil.
393
Von der Freistellung von sonstigen Nachteilen über die in Rn. 396 bezeichneten hinaus kann der Berechtigte seine Zustimmung zur Durchführung des begrenzten Realsplittings nur abhängig machen, wenn er solche sonstigen Nachteile im Einzelfall substantiiert darlegt. Hierzu zählen insbesondere die finanziellen Auswirkungen außerhalb des Einkommensteuerrechts, beispielsweise der Verlust der Arbeitnehmersparzulage2, der Sparprämie und der Eigenheimzulage.
1 OLG Nürnberg v. 8.1.2004 – 11 WF 3859/03, FamRZ 2004, 1967. 2 OLG Hamm v. 23.11.1988 – 5 UF 240/88, FamRZ 1989, 638.
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Rn. 398
Kap. 6 A
Freizustellen ist auch von Einkommensteuervorauszahlungen, soweit diese auf den Unterhaltszahlungen beruhen1. Der Unterhaltsberechtigte hat deshalb dem Unterhaltspflichtigen auch den Vorauszahlungsbescheid vorzulegen, damit der Unterhaltspflichtige prüfen kann, ob er weiterhin das begrenzte Realsplitting durchführen will. Bei konkreten Zweifeln an der Richtigkeit des Bescheides hat der Unterhaltsberechtigte dagegen Einspruch einzulegen2.
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394
Wichtig: Nach einer Entscheidung des BSG entfällt bei der Geltendmachung des Realsplittings der Versicherungsschutz für Familienangehörige in der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn das steuerpflichtige Gesamteinkommen des Berechtigten nunmehr die Grenze des § 10 Abs. 1 Nr. 5 Halbs. 1 SGB V übersteigt3.
Steuerberaterkosten können unter besonderen Umständen, insbesondere 395 bei Unerfahrenheit des Unterhaltsberechtigten, als Nachteil geltend gemacht werden. Sie müssen jedoch dann im Zweifel nicht erstattet werden, wenn der Unterhaltspflichtige die vorbehaltlose Freistellung angeboten hat4. Der Unterhaltspflichtige ist nicht nur verpflichtet, von den Steuern frei- 396 zustellen, die anfielen, wenn nur die Unterhaltszahlungen zu versteuern wären. Er ist vielmehr verpflichtet, die gesamte Mehrsteuer, die infolge des begrenzten Realsplittings unter Berücksichtigung eventuell weiteren Einkommens des Berechtigten anfällt, auszugleichen5. Zur Freistellung bzw. zum Ersatz steuerlicher und sonstiger Nachteile ist der Unterhaltsschuldner auch dann verpflichtet, wenn er keine Freistellungserklärung abgegeben hatte, denn die bindende Freistellungserklärung des Unterhaltspflichtigen begründet die Verpflichtung zur Freistellung nicht, sondern sichert sie lediglich.
397
Auf den Anspruch auf Freistellung bzw. Erstattung aller eventuellen 398 Nachteile, die dem unterhaltsberechtigten Ehegatten infolge seiner Zustimmung zum begrenzten Realsplitting entstehen können, ist § 1585b Abs. 3 BGB weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar6. Denn der 1 OLG Hamburg v. 27.2.2004 – 12 UF 166/03, FamRZ 2005, 519 (520); OLG Bamberg v. 26.2.1987 – 2 UF 360/86, FamRZ 1987, 1047 (1048); OLG Köln v. 4.2.1988 – 14 WF 277/87, FamRZ 1988, 951 (952). 2 OLG Köln v. 4.2.1988 – 14 WF 277/87, FamRZ 1988, 951 (952). 3 BSG v. 3.2.1994 – 12 RK 5/92, FamRZ 1994, 1239. 4 BGH v. 13.4.1988 – IVb ZR 46/87, FamRZ 1988, 820; OLG Hamm v. 9.2.1987 – 6 UF 472/86, FamRZ 1987, 1046. 5 OLG Hamm v. 14.5.1986 – 10 UF 717/85, FamRZ 1987, 489. 6 BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 108/02, FamRZ 2005, 1162 = FamRB 2005, 264; BGH v. 9.10.1985 – VIb ZR 39/84, FamRZ 1985, 1232; OLG Saarbrücken v. 11.3.2009 – 6 WF 19/09, FamRZ 2009, 1905; aA OLG Hamburg v. 27.4.1999 – 2 UF 3/99, FamRZ 2000, 888.
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Kap. 6 A Rn. 399
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Ausgleichsanspruch dient nicht der Befriedigung des laufenden Lebensunterhalts, sondern gleicht lediglich aus Gründen von Treu und Glauben einen konkret entstehenden Nachteil des Unterhaltsberechtigten im Hinblick auf den mindestens gleich hohen Vorteil beim Unterhaltspflichtigen aus. Auf diesen Anspruch ist § 1585b Abs. 3 BGB deswegen nicht unmittelbar anwendbar. Mangels einer Regelungslücke lehnt der BGH auch eine analoge Anwendung der Vorschrift ab. 399
Die Verjährung des Anspruchs auf Erstattung der durch das begrenzte Realsplitting entstandenen Nachteile beginnt frühestens mit Zugang des entsprechenden Steuerbescheides. Dies gilt auch dann, wenn der Steuerbescheid zurückliegende Jahre betrifft1.
400
Die Pflicht zur Freistellung von Nachteilen bleibt für den Unterhaltspflichtigen auch dann bestehen, wenn der steuerliche Vorteil des Unterhaltspflichtigen letztlich geringer ist als der dem Unterhaltsberechtigten entstehende Nachteil. Denn der Unterhaltspflichtige hat vor Durchführung des begrenzten Realsplittings die Vor- und Nachteile zu prüfen.
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Der Unterhaltsberechtigte kann nicht verlangen, dass er an der Steuererstattung beteiligt wird, die der Verpflichtete aufgrund des Realsplittings erhält. Die Steuerersparnis des Unterhaltspflichtigen ist vielmehr Bestandteil des unterhaltspflichtigen Einkommens. Wird das Realsplitting für zurückliegende Zeiträume durchgeführt, ist ein erhöhter Unterhalt für die Vergangenheit nicht durchsetzbar.
402
Hat der unterhaltsberechtigte frühere Ehegatte dem Antrag des Unterhaltspflichtigen auf Durchführung des steuerlichen Realsplittings zugestimmt und hat er für denselben Veranlagungszeitraum mit einem neuen Ehegatten gem. §§ 26, 27b EStG die Zusammenveranlagung gewählt, so kann er von dem Unterhaltspflichtigen höchstens den Ausgleich des steuerlichen Nachteils verlangen, der ihm bei getrennter Veranlagung gem. § 26a EStG durch die Besteuerung der Unterhaltsbezüge (§ 22 Nr. 1 EStG) entstanden wäre. Dies gilt auch dann, wenn die Unterhaltszahlungen nicht zeitgerecht, sondern verspätet in dem auf die Wiederheirat folgenden Jahr geleistet worden sind2.
403
Der Unterhaltsberechtigte kann im Regelfall keine Sicherheitsleistung für die Erfüllung der Freistellungsverpflichtung vom Unterhaltspflichtigen verlangen. Ein Erfahrungssatz, dass der Unterhaltspflichtige der Freistellungsverpflichtung nicht nachkommen wird, besteht nicht. Die Freistellung umfasst häufig keine besonders hohen Beträge. Darüber hinaus hat der Unterhaltspflichtige selbst ein Interesse, seiner Freistellungsverpflichtung nachzukommen, um für weitere Veranlagungszeiträume
1 OLG Saarbrücken v. 11.3.2009 – 6 WF 19/09, FamRZ 2009, 1905. 2 BGH v. 17.2.2010 – XII ZR 104/07, FamRZ 2010, 717 m. Anm. Schlünder/Geißler, FamRZ 2010, 801 = FamRB 2010, 144.
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Rn. 405
Kap. 6 A
die Zustimmung zum Realsplitting zu erhalten1. Die Ungewissheit, ob der Unterhaltspflichtige auch künftig den Unterhaltsberechtigten von Nachteilen aus dem Realsplitting freistellt, ist noch kein Nachteil, der die Zustimmung ohne Sicherheitsleistung unzumutbar machen würde. Selbst allein der Umstand, dass der Unterhaltsschuldner seine Pflicht zum Ausgleich der Nachteile aus der Inanspruchnahme des begrenzten Realsplittings immer erst nach der Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe durch den Unterhaltsberechtigten erfüllt hat, rechtfertigt es nicht, dass der Unterhaltsberechtigte seine Zustimmung zur Inanspruchnahme des begrenzten Realsplittings für die Zukunft von der Leistung einer Sicherheit abhängig macht2. Etwas anderes gilt jedoch, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Freistellungsverpflichtung bestehen. In einem solchen Fall muss die Verpflichtung zur Zustimmung zum begrenzten Realsplitting Zug-um-Zug gegen Sicherheitsleistung in Höhe eines Betrags erfolgen, der als Realsplittingnachteil zu erwarten ist. Wird der unterhaltspflichtige Ehegatte auf Freistellung oder Erstattung 404 der durch das begrenzte Realsplitting dem Unterhaltsberechtigten entstandenen Nachteile in Anspruch genommen, darf der Ausgleichspflichtige die geltend gemachte Ausgleichsforderung anhand des Einkommensteuerbescheides des Ausgleichsberechtigten überprüfen, insbesondere wenn der Berechtigte Belastungen nach § 33 EStG geltend macht, die prozentual vom zu versteuernden Einkommen abhängen. In diesem Fall hat der Ausgleichsberechtigte dem Ausgleichspflichtigen den Steuerbescheid vorzulegen3. Da der Unterhaltspflichtige sein gesamtes Einkommen zu Unterhalts- 405 zwecken einzusetzen hat, obliegt es ihm, grundsätzlich auch Steuervorteile zumutbar einzusetzen. Hieraus ergibt sich jedenfalls im Mangelfall auch die Obliegenheit, vom begrenzten Realsplitting sofort durch Eintragung eines Freibetrags Gebrauch zu machen und nicht erst mit der Veranlagung zur Einkommensteuer. Sie ist jedenfalls dann gegeben, wenn nach einer erstinstanzlichen Unterhaltsentscheidung lediglich ein Teil des zugesprochenen Unterhalts vom Unterhaltspflichtigen mit der Beschwerde (früher Berufung) angegriffen wird; in diesem Fall ist der rechtskräftig gewordene Teil des Unterhaltsanspruchs sofort als Freibetrag eintragen zu lassen. Ist der Unterhalt unstreitig oder rechtskräftig zugesprochen worden, besteht insoweit die Obliegenheit zur sofortigen Eintragung eines entsprechenden Freibetrags4.
1 BGH v. 23.3.1983 – IVb ZR 369/81, FamRZ 1983, 576 (578). 2 OLG Zweibrücken v. 14.10.2005 – 2 UF 57/05, FamRZ 2006, 791 = FamRB 2006, 170 und FamRB 2006, 177. 3 OLG Karlsruhe v. 18.11.1999 – 2 WF 106/99, FamRZ 2001, 99. 4 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197; BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 33/97, FamRZ 1999, 372; OLG Brandenburg v. 10.2.2009 – 10 UF 65/08, FamRZ 2009, 1837; aA OLG Naumburg v. 11.12.2001 – 14 UF 71/01, FamRZ 2002, 959.
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Kap. 6 A Rn. 406 406
Steuern
Der Antrag auf Zustimmung zum begrenzten Realsplitting betrifft eine unterhaltsrechtliche Nebenpflicht und ist deshalb eine Familiensache1, ebenso die Freistellungsverpflichtung des Unterhaltspflichtigen und der Antrag auf Schadensersatz wegen Verweigerung der Zustimmung zum begrenzten Realsplitting. Soweit sich die Mitwirkungspflicht eines Ehegatten aus dem Unterhaltsverhältnis nach § 242 BGB ableitet, bestand schon nach der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage die Zuständigkeit des Familiengerichts. Diese besteht auch weiterhin. bb) Mitwirkung bei Zusammenveranlagung und sonstigen Steuervorteilen
407
Aus § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB wird die Verpflichtung zur Mitwirkung an der gemeinsamen steuerlichen Veranlagung entnommen2. Voraussetzung ist, dass die Zusammenveranlagung bei einer Gesamtbetrachtung günstiger ist und der die Zustimmung verlangende Ehegatte sich verpflichtet, den anderen von eventuellen Nachteilen freizustellen. Die Zusammenveranlagung muss dem die Zustimmung begehrenden Ehegatten steuerliche Vorteile bringen, sie darf den zur Zustimmung verpflichteten Ehegatten keiner zusätzlichen Belastung aussetzen3. Letzteres ist dann der Fall, wenn der die Zusammenveranlagung begehrende Ehegatte sich verpflichtet, den anderen von ihm hierdurch etwa entstehenden Nachteilen freizustellen. Ein Ehegatte ist auch dann verpflichtet, einer von dem anderen Ehegatten gewünschten Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer zuzustimmen, wenn es zweifelhaft erscheint, ob die Wahlmöglichkeit nach § 26 Abs. 1 EStG besteht. Insofern ist die Rechtslage nicht anders zu beurteilen als bei der Verpflichtung eines Ehegatten, dem begrenzten Realsplitting nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG zuzustimmen. Ausgeschlossen ist ein Anspruch auf Zustimmung nur dann, wenn eine gemeinsame Veranlagung zweifelsfrei nicht in Betracht kommt4.
408
Gleiches gilt für den Anspruch auf Zustimmung zur gemeinsamen Veranlagung zur Einkommensteuer nach der Scheidung der Ehe im Rahmen des steuerrechtlich zulässigen zeitlichen Bereichs5.
1 BGH v. 17.10.2007 – XII ZR 146/05, FamRZ 2008, 40 = FamRBint 2008, 35. 2 BGH v. 13.10.1976 – IV ZR 104/74, FamRZ 1977, 38 (40); BGH v. 3.11.2004 – XII ZR 128/02, FamRZ 2005, 182 (183) = FamRB 2005, 138; BGH v. 23.5.2007 – XII ZR 250/04, FamRZ 2007, 1229 m. Anm. Engels S. 1231 sowie Anm. Peetz S. 1799 = FamRB 2007, 302; BGH v. 18.11.2009 – XII ZR 173/06, FamRZ 2010, 269 m. Anm. Schlünder/Geißler = FamRB 2010, 82; BGH v. 18.11.2010 – IX ZR 240/07, FamRZ 2010, 210. 3 OLG Köln v. 30.5.1989 – XII ZR 250/04, OLG Köln v. 30.5.1989 – 3 U 36/89, FamRZ 1989, 1174; OLG Karlsruhe v. 27.5.1993 – 2 U 17/92, FamRZ 1994, 894. 4 BGH v. 3.11.2004 – XII ZR 128/02, FamRZ 2005, 182 (183) = FamRB 2005, 138. 5 OLG Frankfurt v. 17.3.2004 – 19 U 212/00, FamRZ 2004, 877.
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Steuern
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Rn. 412
Kap. 6 A
Wichtig: Wählt ein Ehegatte gegen den Willen des anderen die getrennte Veranlagung, ist diese Wahl nach der Rechtsprechung des BFH unwirksam und für die steuerliche Veranlagung nicht zu beachten, wenn der die getrennte Veranlagung beantragende Ehegatte über keine eigenen Einnahmen verfügt oder nur Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit hat, die wegen der zu geringen Höhe nicht dem Lohnsteuerabzug unterliegen1. Der von einem Ehegatten ohne Einkünfte oder mit nur ganz geringen Einkünften gestellte Antrag auf getrennte Veranlagung ist deshalb willkürlich und unbeachtlich, wenn der andere Ehegatte wegen seiner Einkünfte die Zusammenveranlagung verlangt.
Wie beim begrenzten Realsplitting darf die Zustimmung zur gemeinsamen Veranlagung nicht von der Beteiligung an der Steuerersparnis, die sich aus der Zusammenveranlagung ergibt, abhängig gemacht werden.
409
Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des ande- 410 ren Ehegatten richtet sich der Anspruch auf Zustimmung zur Zusammenveranlagung gegen den Insolvenzverwalter. In der Insolvenz eines Ehegatten wird das Wahlrecht für eine Getrennt- oder Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer durch den Insolvenzverwalter ausgeübt2. Der Anspruch des die Zustimmung zur Zusammenveranlagung verlangenden Ehegatten stellt keine Insolvenzforderung dar, die zur Tabelle angemeldet und festgestellt werden müsste. Es handelt sich nicht um einen Vermögensanspruch i.S.v. § 38 InsO. Dass der auf Zustimmung zur Zusammenveranlagung in Anspruch ge- 411 nommene Ehegatte Verlustvorträge, die der die Zusammenveranlagung fordernde Ehegatte jetzt nutzbar machen möchte, in Zukunft nicht mehr gem. § 10d Abs. 2 EStG steuermindernd einsetzen kann, ändert an der Verpflichtung, der Zusammenveranlagung zuzustimmen, nichts. Verpflichtet sich der die Zusammenveranlagung begehrende Ehegatte, den anderen von etwaigen Nachteilen hieraus freizustellen, wird dieser so behandelt, als träfen ihn keine Nachteile3. Derjenige Ehegatte, der die Zusammenveranlagung verlangt, hat den an- 412 deren Ehegatten von Nachteilen, die sich aus der Zusammenveranlagung ergeben können, im Innenverhältnis freizustellen. Der die Zustimmung verlangende Ehegatte ist regelmäßig zum internen Ausgleich verpflichtet, wenn sich bei dem anderen Ehegatten die Steuerschuld infolge der Zusammenveranlagung im Vergleich zur getrennten Veranlagung erhöht4. 1 BFH v. 10.1.1992 – III R 103/87, BStBl. II 1992, 297 = FamRZ 1992, 547. 2 BGH v. 18.11.2010 – IX ZR 240/07, FamRZ 2010, 210 m. Anm. Schlünder/Geißler; BGH v. 24.5.2007 – IX ZR 8/06, FamRZ 2007, 1320 = FamRB 2007, 334. 3 BGH v. 18.11.2010 – IX ZR 240/07, FamRZ 2010, 210; BGH v. 3.11.2004 – XII ZR 128/02, FamRZ 2005, 182 m. Anm. Meyer = FamRB 2005, 138. 4 BGH v. 12.6.2002 – XII ZR 288/00, FamRZ 2002, 1024 (1025) = FamRB 2002, 332.
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Kap. 6 A Rn. 413
Steuern
Dies gilt jedoch dann nicht, wenn die Ehegatten eine andere Aufteilung ihrer Steuerschuld konkludent vereinbart haben. Das Innenverhältnis der Ehegatten richtet sich nach § 426 Abs. 1 S. 1 BGB. Denn die gemeinsam veranlagten Ehegatten haften gem. § 44 AO als Gesamtschuldner für die Steuerschuld. 413
Haben die Ehegatten während des Zusammenlebens bewusst die Steuerklassen III/V gewählt, um damit monatlich mehr bare Geldmittel zur Verfügung zu haben als dies bei einer Wahl der Steuerklassen IV/IV der Fall gewesen wäre, ist anzunehmen, dass die Parteien in Kauf nahmen, dass das wesentlich höhere Einkommen des einen Ehegatten relativ niedrig und das niedrige Einkommen des anderen Ehegatten vergleichsweise hoch besteuert wurde. Der BGH sieht deshalb in der Wahl der Steuerklassen III/V eine konkludente Vereinbarung der Ehegatten des Inhalts, dass der eine Ehegatte seine Einkünfte nach der Lohnsteuerklasse V versteuert, ohne dass er vom anderen Ehegatten, dessen Lohn dem Abzug nach der Steuerklasse III unterliegt, einen Ausgleich erhält1. Auch nach Scheitern der Ehe kann der Ehegatte, der Lohnsteuer nach Steuerklasse V bezahlt hat, vom anderen Ehegatten keinen Ausgleich verlangen. Der ehelichen Lebensgemeinschaft liegt die Anschauung zugrunde, mit den Einkommen der Ehegatten gemeinsam zu wirtschaften und finanzielle Mehrleistungen nicht auszugleichen. Es bedarf nach Ansicht des BGH einer besonderen Vereinbarung, wenn sich der Ehegatte, der sein Einkommen nach Steuerklasse V versteuert, die Rückforderung dieser Mehrleistung für den Fall der Trennung vorbehalten will.
414
Auch die obergerichtliche Rechtsprechung ist teilweise vor der Entscheidung des BGH davon ausgegangen, dass die Ehegatten mit der Wahl der Steuerklassen eine vertragliche Vereinbarung getroffen haben, die im Nachhinein nicht über die eingeschränkte Erklärung, der Zusammenveranlagung nur bei Erstattung von steuerlichen Nachteilen zuzustimmen, rückgängig gemacht werden kann2. Sind die Ehegatten in die Steuerklassen III/V eingereiht und wird Trennungsunterhalt bezahlt, ist der unterhaltsberechtigte Ehegatte am Gesamteinkommen beteiligt und kann über die Zusage des unterhaltspflichtigen Ehegatten hinaus, ihn von einer Steuernachzahlung aufgrund der Zusammenveranlagung freizustellen, keinen weiteren Nachteilsausgleich verlangen. Wird dagegen kein Trennungsunterhalt gezahlt, kann der Ehegatte, der in Steuerklasse V eingereiht wurde, seine Zustimmung zur Zusammenveranlagung davon abhängig machen, so gestellt zu werden, als wäre für die Zeit nach der Trennung eine getrennte steuerliche Veranlagung durchgeführt worden3.
1 BGH v. 12.6.2002 – XII ZR 288/00, FamRZ 2002, 1024 (1025) = FamRB 2002, 332; BGH v. 23.5.2007 – XII ZR 250/04, FamRZ 2007, 1229 = FamRB 2007, 302. 2 OLG Köln v. 21.10.1992 – 11 U 145/92, FamRZ 1993, 806 (808). 3 BGH v. 23.5.2007 – XII ZR 250/04, FamRZ 2007, 1229 = FamRB 2007, 302; BGH v. 31.5.2006 – XII ZR 111/03, FamRZ 2006, 1178 (1180) = FamRB 2006, 302.
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Steuern
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Rn. 416
Kap. 6 A
Wichtig: Vor dem Hintergrund der Rechtsauffassung des BGH kann die Zustimmung zur Zusammenveranlagung nicht davon abhängig gemacht werden, dass der zustimmende Ehegatte so gestellt wird, wie er bei fiktiver getrennter Veranlagung stünde. Der Ehegatte, der Steuerklasse V gewählt hat, kann den Mehrbetrag wegen der Besteuerung des Einkommens nach Steuerklasse V im Vergleich zur Besteuerung bei getrennter Veranlagung nicht erstattet verlangen.
Wie der BGH für einen Fall des begrenzten Realsplittings entschieden 415 hat1, kann der der gemeinsamen Veranlagung zustimmende Ehegatte den Ersatz von Steuerberaterkosten nur verlangen, wenn ihm die Zustimmung ohne die Aufwendung dieser Kosten nicht zugemutet werden kann2. Die Kosten für eine eigene Steuererklärung können grundsätzlich nicht verlangt werden. Vielmehr kommen lediglich Steuerberaterkosten für die Stellung eines etwaigen Antrags auf Aufteilung der Steuerschuld nach §§ 268, 269 AO in Betracht. Diesen Antrag kann der Betreffende im Regelfall aber unmittelbar nach Erhalt des Steuerbescheids über die Zusammenveranlagung selbst stellen; für ihn wird im Regelfall kein Steuerberater benötigt. Eine Sicherheitsleistung kann der zustimmende Ehegatte nicht verlan- 416 gen. Zwar hat der BGH im Rahmen des begrenzten Realsplittings nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG entschieden, dass der Unterhaltsberechtigte seine Zustimmung von einer Sicherheitsleistung abhängig machen kann, wenn zu besorgen ist, dass der Unterhaltspflichtige seine Verpflichtung zum Ausgleich der finanziellen Nachteile nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt3. Diese Rechtsprechung lässt sich auf den Fall der Zustimmung zur Zusammenveranlagung jedoch nicht übertragen. Denn beim Realsplitting haftet der Unterhaltsberechtigte gegenüber dem Finanzamt voll und ohne Beschränkungsmöglichkeit auf den Mehrbetrag, der sich aus der Versteuerung der erhaltenen Unterhaltsleistungen ergibt. Entsprechendes gilt bei der gemeinsamen Veranlagung zur Einkommensteuer nicht. Zwar haften die Ehegatten in diesem Fall gem. § 44 AO als Gesamtschuldner auf die gesamte Steuerschuld. Doch kann jeder von ihnen unmittelbar nach Zustellung des Steuerbescheides, der regelmäßig das in § 269 Abs. 2 AO vorausgesetzte Leistungsgebot enthält, nach §§ 268, 269 AO einen Antrag auf Aufteilung der Gesamtschuld (Aufteilungsbescheid) des Inhalts stellen, dass die rückständige Steuer gem. § 270 AO im Verhältnis der Beträge aufzuteilen ist, die sich bei getrennter Veranlagung ergeben würden4.
1 BGH v. 13.4.1988 – IVb ZR 46/87, FamRZ 1988, 820 (821). 2 BGH v. 12.6.2002 – XII ZR 288/00, FamRZ 2002, 1024 (1027) = FamRB 2002, 332. 3 BGH v. 23.3.1983 – IVb ZR 369/81, FamRZ 1983, 576 (578). 4 BGH v. 12.6.2002 – XII ZR 288/00, FamRZ 2002, 1024 (1027) = FamRB 2002, 332.
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Kap. 6 A Rn. 417
Steuern
417
Verweigert ein Ehegatte die Zustimmung zur Zusammenveranlagung, ist er auf Mitwirkung an der Zusammenveranlagung zu verpflichten. Es handelt sich um einen Antrag auf Abgabe einer Willenserklärung. Nach der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage wurde davon ausgegangen, dass die Verpflichtung zur Zustimmung zur Zusammenveranlagung nicht vor dem Familiengericht geltend gemacht werden könne, da es sich nicht um eine Familiensache handeln würde. Vielmehr wurde die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit, also der Prozessabteilung des Amtsgerichts oder des Landgerichts1, angenommen. Nach der seit dem 1.9.2009 geltenden Rechtslage gehört auch der Antrag auf Verpflichtung zur Zustimmung zur Zusammenveranlagung vor das Familiengericht, § 266 Abs. 1 Nr. 2 FamFG.
418
Kann die Zusammenveranlagung aufgrund der Verweigerungshaltung eines Ehegatten nicht durchgeführt werden, kann dies zu einer Schadensersatzpflicht führen2. Dies ist insbesondere der Fall, wenn eine Zusammenveranlagung aufgrund einer bereits eingetretenen Bestandskraft der Steuerbescheide beider Ehegatten nicht mehr möglich ist. Der Schaden liegt in der Steuermehrbelastung aus der getrennten Veranlagung im Vergleich zur gemeinsamen Veranlagung3. cc) Aufteilung einer Steuererstattung zwischen den Ehegatten
419
Im sachlichen Zusammenhang mit den dargestellten steuerlichen Auswirkungen bei Trennung bzw. Scheidung von Ehegatten steht auch der Streit über die Aufteilung einer Steuererstattung. Dieser Streit kann entstehen, wenn eine Steuererstattung auf einer gemeinsamen Veranlagung der geschiedenen Ehegatten beruht und im Unterhaltsverfahren eine Zuordnung der Einkünfte, die im Jahr des Zuflusses regelmäßig auf einen Jahreszeitraum verteilt werden, nötig ist, aber auch wenn der Unterhaltsverpflichtete wieder verheiratet ist und mit dem neuen Ehegatten die gemeinsame Veranlagung wählt. Eine Auszahlung nur an den Unterhaltsschuldner beruht lediglich auf § 36 Abs. 4 S. 3 EStG und besagt nichts zur Zuordnung zwischen den Ehegatten.
420
Die Ehegatten sind Gesamtschuldner bezüglich der Steuerschuld, § 44 Abs. 1 AO. Bezüglich der Steuerrückerstattung sind die Ehegatten nicht Gesamtgläubiger. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH steht bei zusammen veranlagten Ehegatten der Erstattungsanspruch aus zuviel gezahlten Lohn- oder Einkommenssteuern demjenigen Ehegatten zu, der die zu erstattenden Steuerbeträge bezahlt hat bzw. auf dessen Rechnung die Beträge bewirkt wurden, § 37 Abs. 2 AO. Die Ehegatten sind Teilgläu1 OLG Hamm v. 10.5.1983 – 3 UF 9/83, FamRZ 1983, 937; OLG Naumburg v. 15.4.1999 – 3 AR 3/99, FamRZ 2000, 165. 2 BGH v. 13.10.1976 – IV ZR 104/74, FamRZ 1977, 38; LG Frankfurt a.M. v. 22.5.2001 – 2/18 O 206/00, FamRZ 2002, 669 (670). 3 LG Köln v. 2.10.1989 – 34 T 31/89, NJW-RR 1990, 140.
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Steuern
Rn. 424
Kap. 6 A
biger nach dem Verhältnis der jeweiligen Steuerzahlungen1. Bei der Steuererstattung prüft das Finanzamt nicht, ob zwischen den Ehegatten eine andere, zivilrechtlich begründete Aufteilung vorzunehmen ist. Das Finanzamt hat auch keine aus § 426 BGB abgeleiteten Ausgleichsansprüche zu berücksichtigen. Vielmehr kann das Finanzamt den gesamten Erstattungsbetrag nach seiner Wahl an einen Ehegatten ausbezahlen, § 36 Abs. 4 AO. Soweit das Finanzamt mit schuldbefreiender Wirkung an einen Ehegatten Steuererstattungen ausbezahlt hat, kann dem anderen Ehegatten ein Bereicherungsanspruch nach § 816 Abs. 2 BGB unabhängig vom ehelichen Güterstand zustehen. Erzielen beide Ehegatten positive Einkünfte, kann die Aufteilung der 421 Steuererstattung nicht im Verhältnis der jeweiligen Bruttoeinkünfte2 und auch nicht nach dem tatsächlichen Umfang der abgeführten Steuern3 erfolgen. Denn bei der Bemessung würden die ungleichen Besteuerungsgrundlagen, wie sie sich aus den Lohnsteuerklassen III bis V ergeben, zum Nachteil des weniger verdienenden Ehegatten mit Steuerklasse V vernachlässigt werden. Grundfreibetrag, Vorsorgepauschale und Sonderausgabenpauschbetrag sind dem anderen Ehegatten steuerlich zugeordnet und bewirken deshalb eine höhere Lohnsteuer. Es ist deshalb für jeden Ehegatten die sich bei getrennter Veranlagung er- 422 gebende Steuerlast zu ermitteln und die Steuererstattung nach dem daraus sich ergebenden Verhältniswert aufzuteilen4. Die Steuerschuld und die sich hieraus ergebenden Erstattungs- bzw. Nachzahlungsansprüche sind daher unter entsprechender Heranziehung des § 270 AO auf der Grundlage fiktiver getrennter Veranlagung der Ehegatten zu ermitteln. Diese Vorgehensweise kann für sich beanspruchen, zu einem einkommensteuerkonformen Ergebnis zu führen, weil sie die konkrete steuerliche Situation der Ehegatten berücksichtigt. Hat die Steuererstattung ihren Grund in einem Verlustrücktrag, soll die Erstattung nur dem Ehegatten zustehen, in dessen Unternehmen der Verlust entstanden ist, auch wenn dieser keine positiven Einkünfte hatte5.
423
War nur ein Ehegatte erwerbstätig, steht ihm die Steuererstattung im Innenverhältnis allein zu6. Denn Steuern kann nur derjenige zurückerhal-
424
1 BFH v. 18.9.1990 – VII R 99/89, FamRZ 1991, 432; LG Stuttgart v. 6.12.1991 – 8 O 420/91, FamRZ 1992, 680. 2 AA OLG Düsseldorf v. 3.12.1987 – 10 U 85/87, FamRZ 1988, 951. 3 OLG Düsseldorf v. 25.6.1992 – 10 U 6/92, FamRZ 1993, 70; OLG Hamm v. 3.5.2000 – 33 U 23/99, FamRZ 2001, 98. 4 BGH v. 31.5.2006 – XII ZR 111/03, FamRZ 2006, 1178 (1180) = FamRB 2006, 302; OLG Düsseldorf v. 15.4.1991 – 3 UF 252/90, FamRZ 1991, 1315; OLG Karlsruhe v. 31.1.1991 – 2 UF 100/89, FamRZ 1991, 832 (834); OLG Köln v. 27.4.1994 – 26 UF 183/93, FamRZ 1995, 55 (56). 5 OLG Köln v. 2.5.1994 – 27 U 23/94, FamRZ 1995, 92 (93). 6 LG Mönchengladbach v. 8.10.1993 – 2 S 112/93, FamRZ 1994, 962.
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Kap. 6 B
Kindesunterhalt
ten, der auch Steuer bezahlt hat1. Dies gilt uU auch dann, wenn eine Steuerrückerstattung nur deshalb erfolgte, weil der andere Ehegatte Verluste aus selbständiger Tätigkeit einbrachte2. 425
Eine Unterhaltsabfindung stellt keine außergewöhnliche Belastung i.S.v. §§ 33, 33a EStG dar3.
B. Kindesunterhalt Literaturverzeichnis: ADVOexpert Familienrecht, familienrechtliche Berechnungen auf CD-ROM von Rechtsanwalt Jörn Hauß, Edition 26/2011; Ehinger/Griesche/Rasch, Handbuch Unterhaltsrecht, 6. Aufl. 2010; Eschenbruch/Klinkhammer, Der Unterhaltsprozess, 5. Aufl. 2008; Heiß/Born, Unterhaltsrecht, Loseblatt, Stand 2010; Büttner/Niepmann/Schwamb, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 11. Aufl. 2010; Koch, Handbuch des Unterhaltsrechts, 12. Aufl. 2011; Rahm/Künkel, Handbuch des Familiengerichtsverfahrens, Loseblatt, Stand 2012; Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 8. Aufl. 2011.
I. Arbeitshinweise 1. Arbeitstechnik 1. Zahl und Alter der Kinder erfragen 2. Ständigen Aufenthalt für jedes Kind klären 3. Finanzellen Status für jedes Kind klären (Schüler, Auszubildender, Studierender, eigene Einkünfte, Vermögen) 4. Kindergeldbezug klären 5. Maßgebliches Einkommen der Eltern ermitteln (s. dazu Kap. 6, A, II – Einkommensermittlung) 6. Unterhaltsbeträge für jedes Kind bestimmen und Vereinbarung/vollstreckbaren Titel hierüber anstreben 2. Typische Problemfelder 1. Einstufung in die „richtige“ Einkommensgruppe von Unterhaltstabellen bei notwendigen Zu- oder Abschlägen wegen geringerer oder erhöhter Zahl von Unterhaltsberechtigten (Rn. 483 ff.)
1 LG Göttingen v. 18.4.2008 – 6 S 64/07, NJW-RR 2009, 73. 2 OLG Karlsruhe v. 8.6.1990 – 10 U 281/90, FamRZ 1991, 191. 3 BFH v. 19.6.2008 – III R 57/05, FamRZ 2008, 2024.
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Nann/Krenzler
Kap. 6 B
Kindesunterhalt
ten, der auch Steuer bezahlt hat1. Dies gilt uU auch dann, wenn eine Steuerrückerstattung nur deshalb erfolgte, weil der andere Ehegatte Verluste aus selbständiger Tätigkeit einbrachte2. 425
Eine Unterhaltsabfindung stellt keine außergewöhnliche Belastung i.S.v. §§ 33, 33a EStG dar3.
B. Kindesunterhalt Literaturverzeichnis: ADVOexpert Familienrecht, familienrechtliche Berechnungen auf CD-ROM von Rechtsanwalt Jörn Hauß, Edition 26/2011; Ehinger/Griesche/Rasch, Handbuch Unterhaltsrecht, 6. Aufl. 2010; Eschenbruch/Klinkhammer, Der Unterhaltsprozess, 5. Aufl. 2008; Heiß/Born, Unterhaltsrecht, Loseblatt, Stand 2010; Büttner/Niepmann/Schwamb, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 11. Aufl. 2010; Koch, Handbuch des Unterhaltsrechts, 12. Aufl. 2011; Rahm/Künkel, Handbuch des Familiengerichtsverfahrens, Loseblatt, Stand 2012; Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 8. Aufl. 2011.
I. Arbeitshinweise 1. Arbeitstechnik 1. Zahl und Alter der Kinder erfragen 2. Ständigen Aufenthalt für jedes Kind klären 3. Finanzellen Status für jedes Kind klären (Schüler, Auszubildender, Studierender, eigene Einkünfte, Vermögen) 4. Kindergeldbezug klären 5. Maßgebliches Einkommen der Eltern ermitteln (s. dazu Kap. 6, A, II – Einkommensermittlung) 6. Unterhaltsbeträge für jedes Kind bestimmen und Vereinbarung/vollstreckbaren Titel hierüber anstreben 2. Typische Problemfelder 1. Einstufung in die „richtige“ Einkommensgruppe von Unterhaltstabellen bei notwendigen Zu- oder Abschlägen wegen geringerer oder erhöhter Zahl von Unterhaltsberechtigten (Rn. 483 ff.)
1 LG Göttingen v. 18.4.2008 – 6 S 64/07, NJW-RR 2009, 73. 2 OLG Karlsruhe v. 8.6.1990 – 10 U 281/90, FamRZ 1991, 191. 3 BFH v. 19.6.2008 – III R 57/05, FamRZ 2008, 2024.
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Nann/Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 427
Kap. 6 B
2. „Mehrbedarf“ eines Kindes in Abgrenzung zum „Sonderbedarf“ i.S.d. § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB (Rn. 451, 453) 3. Einkommensrelevante Zuordnung von Kindern zu den beiden Elternteilen (Steuerfreibeträge, Zuschläge im öffentlichen Dienst, Kindergeld, s. dazu Kap. 6 A II und IV) 4. Anrechnung von Einkünften der Kinder – Entlastung beider Elternteile (Rn. 528 ff.) 5. Ausbildungswechsel – Weiterbildung (Rn. 508 ff.) 6. Veränderungen des Bedarfs oder in den Einkommensverhältnissen des Unterhaltsberechtigten/-verpflichteten (Rn. 622 ff.) 7. Informationspflicht (Rn. 500) 8. Überzahlungen und deren Rückforderung (Rn. 664 f.) 9. Nachzahlungspflichten (Rn. 659 ff.)
II. Grund und Umfang des Unterhaltsanspruchs 1. Grundlagen a) Prüfungsschema Unterhaltsansprüche setzen stets
426
– die Unterhaltsbedürftigkeit des Anspruchstellers und – die Leistungsfähigkeit des Anspruchsgegners voraus. Dabei impliziert der Begriff der Unterhaltsbedürftigkeit die vorherige Feststellung des Unterhaltsbedarfs. b) Kindesunterhalt ist Verwandtenunterhalt Die Unterhaltsansprüche von Kindern richten sich nach den allgemeinen 427 Bestimmungen für den Verwandtenunterhalt in den §§ 1601 ff. BGB, also in erster Linie gegen ihre Eltern, und zwar unabhängig davon, ob diese miteinander verheiratet sind oder nicht. Lebt ein Kind mit seinen Eltern in einer intakten Lebensgemeinschaft zusammen, wird sein Unterhaltsanspruch kein Thema sein. Sind die Eltern miteinander verheiratet, wird der Unterhaltsanspruch eines Kindes von den Eltern idR im Rahmen ihrer sich aus §§ 1360, 1360a Abs. 1 BGB ergebenden Verpflichtung, zum Familienunterhalt beizutragen, erfüllt. Sollte ein Elternteil seiner Verpflichtung auf Leistung von Familienunterhalt jedoch nicht nachkommen, so steht dem Kind zwar kein eigener einklagbarer Anspruch aus § 1360 BGB, wohl aber ein eigener Unterhaltsanspruch gegen den betreffenden Elternteil gem. den §§ 1601 ff. BGB zu1. Allerdings hat dieser Anspruch keine praktische Bedeutung, weil der nicht erfüllte Anspruch des Kindes idR von dem anderen Elternteil erfüllt wird und dieser den Unter1 BGH v. 20.11.1996 – XII ZR 70/95, FamRZ 1997, 281.
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Kap. 6 B Rn. 428
Kindesunterhalt
haltsbedarf des Kindes dann als Teil des geschuldeten Familienunterhalts oder als familienrechtlichen Ausgleichsanspruch (s. Rn. 613) geltend machen kann. 428
Leben die verheirateten Eltern eines Kindes getrennt, endet ihr wechselseitiger Anspruch auf Familienunterhalt, und es kommt allein der Unterhaltsanspruch des Kindes gem. den §§ 1601 ff. BGB zum Tragen. Der Anspruch ist dann jedoch nicht etwa von dem Kind im eigenen Namen, vertreten durch seinen sorgeberechtigten Elternteil, sondern gem. § 1629 Abs. 3 BGB nur von einem Elternteil im Wege der Verfahrensstandschaft in eigenem Namen geltend zu machen (zu Einzelheiten s. Kap. 5, Rn. 185 ff.).
429
Leben die Eltern des Kindes in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, gelten die Vorschriften zum Familienunterhalt und zur Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen des Kindes im Wege der Verfahrensstandschaft nicht. c) Kreis der Berechtigten aa) Kinder
430
Unterhaltsberechtigte Kinder sind alle leiblichen Kinder, aber selbstverständlich auch wirksam adoptierte Kinder. Haben Eltern ein Kind als eigenes erzogen und unterhalten, ohne es förmlich zu adoptieren, kommt eine vertragliche Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind in Betracht1. Gleiches gilt bei einer heterologen Insemination für das Verhältnis zwischen dem Kind und dem Ehemann der Mutter. Denn das Einverständnis der Eheleute hierüber enthält zugleich einen von familienrechtlichen Besonderheiten geprägten berechtigenden Vertrag zugunsten des aus der heterologen Insemination hervorgehenden Kindes, aus dem sich für den Ehemann dem Kind gegenüber die Pflicht ergibt, für dessen Unterhalt wie ein ehelicher Vater zu sorgen2. Bei verheirateten Eltern gilt das Kind gem. den §§ 1592 Nr. 1, 1599 Abs. 1 BGB bis zur rechtskräftigen Feststellung, dass der Ehemann der Mutter nicht sein Vater ist, ohnehin als ehelich mit der Folge, dass ihm gegen den Ehemann der Mutter bis dahin auch ein gesetzlicher Unterhaltsanspruch zusteht. Nach rechtskräftiger Feststellung, dass der Ehemann der Mutter nicht der Vater des von ihr geborenen Kindes ist, endet die vertraglich übernommene Unterhaltspflicht des Ehemannes – anders als die gesetzliche Unterhaltspflicht – nicht ohne weiteres, sondern ist nach den Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage an die veränderten Verhältnisse anzupassen3.
1 BGH v. 10.5.1995 – XII ZA 2/95, FamRZ 1995, 995. 2 BGH v. 3.5.1995 – XII ZR 29/94, FamRZ 1995, 861. 3 BGH v. 3.5.1995 – XII ZR 29/94, FamRZ 1995, 861.
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Kindesunterhalt
Rn. 435
Kap. 6 B
bb) Kindeskinder und andere Verwandte Die in § 1601 BGB normierte Unterhaltsverpflichtung von Verwandten in 431 gerader Linie ist keine „Einbahnstraße“ von oben nach unten und enthält auch keine Begrenzung auf das Eltern-Kind-Verhältnis. Dies ist in der jüngsten Vergangenheit vor allem durch die verstärkte Inanspruchnahme von Kindern auf Zahlung von Unterhalt für ihre bedürftigen Eltern (Elternunterhalt – s. Kap. 6 E) wieder in das allgemeine Bewusstsein gelangt; aber auch Großeltern und ihre Enkel gehören zu dem gesetzlichen Unterhaltsverband. Sind also die Eltern eines Kindes trotz der von ihnen gesetzlich geforderten Anstrengungen nicht oder nur teilweise in der Lage, den Unterhaltsanspruch ihres Kindes zu erfüllen (wie zB Eltern, deren Ehe gescheitert ist, und die ohnehin schon in beengten wirtschaftlichen Verhältnissen gelebt haben, oder Eltern eines behinderten Kindes), dann kommt in erster Linie eine Unterhaltsverpflichtung der Großeltern in Betracht. Auf die Sozialhilfe kann das Kind nicht verwiesen werden, weil sie, wie dies in § 2 SGB XII ausdrücklich niedergelegt ist, gegenüber Verpflichtungen anderer, insbesondere unterhaltspflichtigen Angehörigen, nachrangig ist. Zwischen Geschwistern und Verschwägerten besteht dagegen keine Unterhaltsverpflichtung, weil sie nicht in gerader Linie miteinander verwandt sind.
432
d) Minderjährigkeit und Volljährigkeit Die Unterhaltsansprüche eines Kindes bestehen unabhängig davon, ob es 433 minderjährig oder volljährig ist. Maßgebend ist vielmehr allein seine Unterhaltsbedürftigkeit. Insoweit ist allerdings zu differenzieren zwischen – minderjährigen unverheirateten Kindern und den ihnen in § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB gleichgestellten Kindern bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres (privilegiert volljährige Kinder) – Kindern in der Ausbildung und – volljährigen Kindern mit oder ohne Ausbildung. aa) Minderjährige unverheiratete Kinder Die minderjährigen unverheirateten Kinder bedürfen der Pflege und Er- 434 ziehung (Betreuungsunterhalt), und auch in materieller Hinsicht (Barunterhalt) genießen sie gem. den §§ 1602 Abs. 2 und 1603 Abs. 2 S. 2 BGB einen besonderen Schutz. bb) Privilegiert volljährige Kinder (1) Umfang der Privilegierung Mit Eintritt der Volljährigkeit entfällt dann zwar der Betreuungsunterhalt, doch bleibt die finanzielle Unterhaltsbedürftigkeit der Kinder insKrenzler
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435
Kap. 6 B Rn. 436
Kindesunterhalt
besondere dann, wenn sie sich noch in der Schul- oder Berufsausbildung befinden, unverändert bestehen. Aus diesem Grunde hat der Gesetzgeber in § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB volljährige unverheiratete Kinder bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres den minderjährigen unverheirateten Kindern in den Fällen gleichgestellt, in denen sie im Haushalt der Eltern oder eines Elternteils leben und sich noch in der allgemeinen Schulausbildung befinden (sog. privilegiert volljährige Kinder). Die Gleichstellung erstreckt sich jedoch, wie sich aus der Bezugnahme dieser Vorschrift auf § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB und § 1609 Nr. 1 BGB ergibt, ausschließlich auf die gesteigerte Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber diesen Kindern (s. dazu Rn. 569 ff.) und ihren Rang im Verhältnis zu anderen Unterhaltsbedürftigen. Von einer Gleichstellung der von einem Elternteil auch für diese Kinder noch erbrachten Betreuungsleistungen mit dem Barunterhalt in § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB hat der Gesetzgeber dagegen bewusst abgesehen1. (2) Voraussetzung der Privilegierung 436
Voraussetzung der Gleichstellung ist neben dem Leben im Haushalt zumindest eines Elternteils eine allgemeine Schulausbildung des Kindes. Dieser Begriff ist unter Heranziehung der zu § 2 Abs. 1 Nr. 1 BAföG entwickelten Grundsätze in drei Richtungen einzugrenzen: nach dem Ausbildungsziel, der zeitlichen Beanspruchung des Schülers und nach der Organisationsstruktur der Schule. Ziel des Schulbesuchs muss der Erwerb eines allgemeinen Schulabschlusses als Zugangsvoraussetzung für die Aufnahme einer Berufsausbildung oder den Besuch einer Hochschule oder Fachhochschule sein, also jedenfalls der Hauptschulabschluss, der Realschulabschluss, die fachgebundene oder die allgemeine Hochschulreife. Hinsichtlich der zeitlichen Voraussetzungen des Unterrichts ist zu fordern, dass die Schulausbildung die Zeit und die Arbeitskraft des Kindes voll oder zumindest überwiegend in Anspruch nimmt, so dass eine Erwerbstätigkeit, durch die der Schüler seinen Lebensunterhalt verdienen könnte, neben der Schulausbildung nicht möglich ist. Schließlich setzt die Annahme einer Schulausbildung die Teilnahme an einem kontrollierten Unterricht voraus. Diese Bedingung ist grundsätzlich erfüllt, wenn die Schule in einer Weise organisiert ist, dass eine Stetigkeit und Regelmäßigkeit der Ausbildung gewährleistet ist, wie sie dem herkömmlichen Schulbesuch entspricht, die Teilnahme also nicht etwa der Entscheidung des Schülers überlassen ist. Beim Besuch der Hauptschule, der Gesamtschule, des Gymnasiums und der Fachoberschule sind diese Voraussetzungen immer erfüllt, aber auch bei einer zweijährigen höheren Berufsfachschule. Anders ist dagegen der Besuch einer Schule zu beurteilen, die neben allgemeinen Ausbildungsinhalten bereits eine auf ein konkretes Berufsbild bezogene Ausbildung vermittelt2.
1 BT-Drucks. 13/7338, 22; zu den unterhaltsrechtlichen Folgen s. Rn. 465 und 602. 2 BGH v. 9.1.2002 – XII ZR 34/00, FamRZ 2002, 815 (816) = FamRB 2002, 195.
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Kindesunterhalt
Rn. 440
Kap. 6 B
cc) Nicht privilegiert volljährige Kinder in der Ausbildung Für alle nicht im vorstehenden Sinne privilegiert volljährigen Kinder, also 437 alle diejenigen, die sich in einer anderen als einer allgemeinen Schulausbildung befinden, gilt die Gleichstellung mit den minderjährigen unverheirateten Kindern nicht, und zwar unabhängig davon, ob sie noch im Haushalt der Eltern bzw. eines Elternteils leben oder nicht; dessen ungeachtet bestehen aber auch ihnen gegenüber besondere, im Einzelnen noch zu erörternde Unterhaltspflichten (s. Rn. 495 ff.). dd) Volljährige nach abgeschlossener Ausbildung Was schließlich die volljährigen Kinder mit abgeschlossener Ausbildung 438 oder auch ohne eine solche betrifft, so ergibt sich für sie aus § 1602 Abs. 1 BGB ein Vorrang der wirtschaftlichen Eigenverantwortung. Dh., dass ein solches volljähriges Kind zunächst ausschließlich für sich selbst verantwortlich ist und sich ohne eine örtliche Bindung um eine Erwerbstätigkeit bemühen muss1. Dabei sind ihm auch Arbeiten unterhalb seiner gewohnten Lebensstellung zuzumuten. Erst wenn es einem Kind trotz aller diesbezüglichen Bemühungen nicht gelingt, seinen Unterhalt selbst zu verdienen, kommt eine Inanspruchnahme der Eltern in Betracht2. ee) Identität des Unterhaltsanspruchs minderjähriger und volljähriger Kinder Zwischen den Unterhaltsansprüchen minderjähriger und volljähriger 439 Kinder besteht Identität, weshalb ein zugunsten des minderjährigen Kindes erwirkter Vollstreckungstitel auch nach Eintritt der Volljährigkeit fortwirkt (s. auch § 244 FamFG). Das gilt auch für Titel mit einem gem. § 1612a Abs. 1 BGB dynamisierten Unterhalt, wobei allerdings zu beachten ist, dass diese Vorschrift nur drei Altersstufen kennt. Infolgedessen gibt es bei einem solchen Titel mit Erreichen des 18. Lebensjahres keine weitere Dynamisierungsmöglichkeit gem. der 4. Altersstufe der Düsseldorfer Tabelle. Vielmehr behält das Kind den Unterhalt der 3. Altersstufe bei, hat jedoch, ebenso wie der barunterhaltspflichtige Elternteil, die Möglichkeit, bei Vorliegen der Voraussetzungen im Übrigen gem. § 238 FamFG eine Abänderung des Titels zu beantragen3. e) Verheiratete und nicht verheiratete Kinder aa) Nachrangige Elternhaftung bei verheirateten Kindern Der Anspruch auf Kindesunterhalt ist auch unabhängig davon, ob ein 440 Kind verheiratet ist oder nicht. Zwar haftet gem. § 1608 S. 1 BGB der Ehe1 OLG Köln v. 14.7.1983 – 4 WF 152/83, FamRZ 1983, 942. 2 BGH v. 6.12.1984 – IVb ZR 53/83, FamRZ 1985, 273; BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 14/84, FamRZ 1985, 1245. 3 BGH v. 21.3.1984 – IVb ZR 72/82, FamRZ 1984, 682; s. dazu auch Rn. 622 ff.
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Kap. 6 B Rn. 441
Kindesunterhalt
gatte des Kindes vor dessen Verwandten, vor allem also vor dessen Eltern, für die Deckung seines Unterhaltsbedarfs, zu dem dann auch die Kosten einer Ausbildung gehören können1. Doch kehrt sich dieses Rangverhältnis gem. § 1608 S. 2 BGB in sein Gegenteil um, soweit der Ehegatte des Kindes bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außer Stande ist, ihm ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts Unterhalt zu gewähren. Das bedeutet, dass die Eltern eines Kindes in einem solchen Fall trotz seiner Verheiratung doch weiterhin zur Unterhaltsleistung für ihr Kind nach den Bestimmungen für den Verwandtenunterhalt verpflichtet bleiben. Typischerweise tritt dieser Fall bei Studentenehen oder auch bei Ehepaaren in beengten wirtschaftlichen Verhältnissen auf, die durch die Geburt eines Kindes oder den Verlust eines Arbeitsplatzes in Bedrängnis geraten. In diesen Fällen kommt dann nicht nur eine Unterhaltsverpflichtung der Eltern für ihr Kind, sondern – wegen der Verwandtschaft in gerader Linie – zusätzlich auch für ihr Enkelkind in Betracht. bb) Elternhaftung bei nicht verheirateten Kindern mit Kind 441
Bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften, aus denen ein Kind hervorgeht, müssen die Eltern bei mangelnder Leistungsfähigkeit des Partners ihres Kindes ebenfalls mit ihrer Unterhaltspflicht rechnen, und zwar wiederum nicht nur gegenüber ihrem Kind, sondern auch gegenüber ihrem Enkelkind. Denn die durch die Geburt eines Kindes entstandene Unterhaltsbedürftigkeit des erwachsenen Kindes kann nicht etwa als von diesem mutwillig herbeigeführt oder als ein sittliches Verschulden i.S.d. § 1611 BGB mit der Folge des Wegfalls eines Unterhaltsanspruchs gewertet werden2. An die Erwerbsobliegenheit des erwachsenen Kindes sind dann allerdings strenge Anforderungen zu stellen, wobei alle Möglichkeiten einer Fremdbetreuung des Kleinkindes (Tagesheimstätte, Verwandte, nichtehelicher Vater) auszuschöpfen sind3. f) Zeitliche Begrenzung aa) Gegenseitigkeitsverhältnis von Eltern und Kindern
442
Die Unterhaltspflicht ist beim Verwandtenunterhalt zeitlich nicht begrenzt, so dass sie entgegen einer von Mandanten immer wieder geäußerten Ansicht weder mit dem Schulabschluss noch mit Eintritt der Volljährigkeit eines Kindes endet. Vielmehr dauert sie, wie oben unter d) schon dargelegt wurde, so lange fort, wie die Unterhaltsbedürftigkeit eines Kindes einerseits und die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners an-
1 BGH v. 19.12.1984 – IVb ZR 57/83, FamRZ 1985, 353. 2 BGH v. 6.12.1984 – IVb ZR 53/83, FamRZ 1985, 273. 3 BGH v. 6.12.1984 – IVb ZR 53/83, FamRZ 1985, 273.
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Kindesunterhalt
Rn. 444
Kap. 6 B
dererseits gegeben sind. Bei volljährigen Kindern beschränkt sich der Unterhaltsanspruch dann zwar idR auf die Kosten einer Ausbildung und erlischt erst mit deren Abschluss, doch muss die jeweilige Ausbildung der Begabung und den Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtenswerten Neigungen des Kindes entsprochen und diese ausgeschöpft haben. Angesichts des veränderten Ausbildungsverhaltens der jungen Menschen und der Vielgestaltigkeit der Bildungssysteme kann es deshalb zu sehr langen und von den Eltern nicht erwarteten Belastungen kommen (s. dazu Rn. 510 ff.). Das dem § 1610 Abs. 2 BGB innewohnende und in § 1618a BGB normierte Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen Eltern und Kindern bringt es als Gegenstück zu dieser weitreichenden Unterhaltspflicht der Eltern mit sich, dass Kinder ihre Ausbildung zielstrebig und pflichtbewusst vorantreiben müssen. Dementsprechend hat sich der Auszubildende nach Abgang von der Schule binnen einer angemessenen Orientierungsphase um die Aufnahme einer seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechenden Berufsausbildung zu bemühen und ein eventuelles Studium zügig zum Abschluss zu bringen. Ein „Bummelstudium“ braucht also nicht finanziert zu werden1. Kommt ein Kind diesen Obliegenheiten nicht nach, kann sein Ausbildungsanspruch selbst dann gänzlich entfallen, wenn es noch keine Berufsausbildung erfahren hat2. bb) Erkrankungen und Behinderungen Chronische Erkrankungen oder Behinderungen eines Kindes können 443 ebenfalls zu einer zeitlich unbegrenzten Unterhaltsverpflichtung seiner Eltern führen3. cc) Wiederaufleben der Unterhaltspflicht Aus der zeitlich unbegrenzten Unterhaltspflicht im Verwandtenunterhalt folgt auch die prinzipielle Möglichkeit eines Wiederauflebens der Unterhaltspflicht, wenn und solange ein Kind, das seinen Unterhalt schon längere Zeit selbst bestritten hat, erneut unterhaltsbedürftig wird. An die Bedürftigkeit eines gesunden volljährigen Kindes bzw. an seine Erwerbsobliegenheit sind dann allerdings ähnlich strenge Maßstäbe wie für einen barunterhaltspflichtigen Elternteil im Verhältnis zu einem minderjährigen Kind anzulegen4.
1 2 3 4
OLG Zweibrücken v. 27.12.1994 – 5 UF 69/94, FamRZ 1995, 1006. BGH v. 4.3.1998 – XII ZR 173/96, FamRZ 1998, 671; zu Einzelheiten s. Rn. 499. BGH v. 20.11.1996 – XII ZR 70/95, FamRZ 1997, 281 (282/283). BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 14/84, FamRZ 1985, 1245.
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444
Kap. 6 B Rn. 445
Kindesunterhalt
2. Der Unterhaltsbedarf a) Regelbedarf, Mindestbedarf, Mehrbedarf, Sonderbedarf und Gerichtskostenvorschuss aa) Regelbedarf (1) Allgemeiner Bedarf 445
Der Unterhalt eines Kindes umfasst gem. § 1610 Abs. 2 BGB den gesamten Lebensbedarf einschließlich der Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf, bei einer der Erziehung bedürftigen Person auch die Kosten der Erziehung. Unter Lebensbedarf sind dabei alle Bedürfnisse zu verstehen, die sich aus der Lebensstellung des Bedürftigen ergeben (§ 1610 Abs. 1 BGB). Das sind zunächst einmal die Grundbedürfnisse wie Ernährung, Kleidung und Wohnen einschließlich der Teilnahme am sozialen Leben, also Freizeitgestaltung, kulturelle Bedürfnisse und Erholung (Barunterhalt), bei minderjährigen unverheirateten Kindern aber auch in gleichem Maße (§ 1606 Abs. 3 S. 2 BGB) ihre Pflege und Erziehung (Betreuungsunterhalt). (2) Kranken- und Pflegeversicherung
446
Selbstverständlich gehören auch die Kosten einer Krankenversicherung zum Lebensbedarf eines Kindes, soweit sie nicht schon, wie im Regelfall, durch den Anspruch des Unterhaltspflichtigen auf Familienhilfe gem. § 10 SGB V gedeckt sind. In der Pflegeversicherung sind minderjährige Kinder im Regelfall über ihre Eltern beitragsfrei mitversichert, und zwar unabhängig davon, ob eine gesetzliche oder private Versicherung vorliegt, so dass dieser Bedarf des Kindes ebenfalls idR schon gedeckt ist. Bei volljährigen Kindern kommt gem. § 10 Abs. 2 Nr. 3 SGB V, § 25 Abs. 2 Nr. 3 SGB XI eine Mitversicherung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung bis zum vollendeten 25. Lebensjahr in Betracht, sofern sich das Kind noch in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet oder wenn die Ausbildung durch Erfüllung einer gesetzlichen Dienstpflicht, zB Wehrund Ersatzdienst, unterbrochen oder verzögert worden ist. (3) Taschengeld
447
Bei Kindern ab etwa dem 7. Lebensjahr gehört schließlich auch ein angemessenes Taschengeld zu ihrem allgemeinen Lebensbedarf, ohne dass darauf ein Rechtsanspruch bestünde. Denn für seine Bemessung spielen vor allem erzieherische Gesichtspunkte eine Rolle, über die allein die sorgeberechtigten Eltern zu entscheiden haben. Soll das Taschengeld im Sinne einer Erziehung der Kinder zu Selbständigkeit auch in wirtschaftlichen Angelegenheiten, zB in Gestalt der Anschaffung von Schulmaterialien oder dem Besuch kultureller Veranstaltungen (Theater, Kino, Sport) dienen, wird es höher bemessen sein müssen, als wenn es nur zur Deckung spontaner persönlicher Bedürfnisse (Kauf von Getränken, Süßig492
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Kindesunterhalt
Rn. 449
Kap. 6 B
keiten, Eis) bestimmt ist1. Die Gewährung von mit dem Heranwachsen eines Kindes zunehmend größeren Geldbeträgen führt infolgedessen nicht etwa dazu, dass sich der Unterhaltsanspruch des Kindes dadurch zunehmend in einen Anspruch auf Zahlung einer Geldrente verwandelte. Vielmehr bleibt die Überlassung von Geldbeträgen zur eigenverantwortlichen Verfügung ein Teil des in der Form von Naturalleistungen gewährten Unterhalts und erfüllt nur zusammen mit diesem den ihr zugedachten Sinn2. (4) Regelbedarf und Unterhaltstabellen Alle diese Kosten des Regelbedarfs sollen durch die in den Unterhaltstabel- 448 len der Oberlandesgerichte (s. dazu nachstehend Rn. 479 ff.) festgelegten Unterhaltsbeträge abgedeckt werden. Die Kosten der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung sind in diesen Beträgen allerdings nicht enthalten3, weil der Krankenversicherungsschutz im Regelfall durch den Anspruch des Unterhaltspflichtigen auf Familienhilfe gem. § 10 SGB V gedeckt ist. Bei fehlender Mitversicherung des Kindes mit dem Unterhaltspflichtigen wie zB bei Selbständigen und Beamten hat das Kind infolgedessen zusätzlich zum Tabellenunterhalt Anspruch auf Bezahlung des Krankenversicherungsbeitrages. Bei Ermittlung des unterhaltsrechtlich relevanten Nettoeinkommens des Unterhaltspflichtigen sind die Kosten der Krankenversicherung für das Kind infolgedessen vor Ermittlung der Tabellenbeträge in Abzug zu bringen4. In den Unterhaltstabellen nicht berücksichtigt sind auch Kindergartenbeiträge, die deshalb als Mehrbedarf des Kindes zusätzlich geltend gemacht werden müssen (dazu Rn. 451). bb) Mindestbedarf Einen Mindestbedarf für das eheliche minderjährige Kind, wie er bis zum 449 30.6.1998 in § 1610 Abs. 3 S. 1 BGB durch Bezugnahme auf den Regelbedarf eines nichtehelichen Kindes festgelegt worden war, kannte das Gesetz seit dem 1.7.1998 nicht mehr. Einer Forderung des BVerfG folgend5 hat der Gesetzgeber in dem am 1.1.2008 in Kraft getretenen Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts allerdings in § 1612a Abs. 1 BGB wieder eine klare Entscheidung zugunsten eines Mindestbedarfs für minderjäh1 Aus diesem Grund hat sich der Vorschlag von Kunz, DAVorm 1998, 813, das Taschengeld nach den Altersstufen der Düsseldorfer Tabelle mit 1 %, 1–5 % und 5–10 % der Bedarfsätze zu bemessen, nicht durchgesetzt. 2 BGH v. 3.12.1980 – IVb ZR 537/80, FamRZ 1981, 250 (252). 3 S. etwa A 9 der Düsseldorfer Tabelle und Nr. 11.1 der unterhaltsrechtlichen Leitlinien der Familiensenate in Süddeutschland. 4 OLG Koblenz v. 19.1.2010 – 11 UF 620/09, FamRZ 2010, 1457 = FamRB 2010, 135. Ebenso zB ausdrücklich Nr. 11.1 der Süddeutschen Unterhaltsleitlinien, www.famrb.de. 5 BVerfG v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/03, 1 BvR 1749/01, FamRZ 2003, 1370.
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Kap. 6 B Rn. 450
Kindesunterhalt
rige Kinder getroffen, wobei dieser sich nach dem doppelten Freibetrag für das sächliche Existenzminimum eines Kindes (Kinderfreibetrag) nach § 32 Abs. 6 S. 1 EStG richten und in drei Altersstufen gestaffelt einen bestimmten Anteil des doppelten Kinderfreibetrags ausmachen soll. Die ab 1.1.2011 in ganz Deutschland geltenden Mindestbedarfssätze sind folgende: – für die 1. Altersstufe 317 Euro – für die 2. Altersstufe 364 Euro – für die 3. Altersstufe 426 Euro
Û
Praxistipp: Da die Bedarfsbeträge in Ostdeutschland in der Vergangenheit deutlich niedriger festgelegt wurden als diejenigen für Westdeutschland, wird in Ostdeutschland in vielen Fällen ein deutlich höherer Unterhalt als bisher verlangt werden können.
450
Durch die Anknüpfung an die steuerliche Bezugsgröße bedarf es der in § 1612a Abs. 1 aF BGB in Bezug genommenen Regelbetrag-Verordnung und der Vorschriften hierzu in den Abs. 4 und 5 des § 1612a aF BGB nicht mehr. Auch der frühere Abs. 3 konnte entfallen, nachdem das dort vorgesehene Altersstufenmodell in den neuen Abs. 1 integriert worden ist. Im Verhältnis zu dem in § 1610 Abs. 1 BGB definierten Regelbedarf eines Kindes legt § 1612a Abs. 1 BGB also unabhängig von der konkreten Lebensstellung des Kindes einen Mindestbedarf fest, den der barunterhaltspflichtige Elternteil – natürlich immer nur bis zur Grenze seiner Leistungsfähigkeit – zu erbringen hat und der die Dynamisierung des Unterhaltsanspruchs ermöglicht. Auch kann der gesetzlichen Festlegung des Mindestunterhalts die Funktion einer allgemeinen Beweislastregel beigemessen werden, wonach ein minderjähriges Kind seinen Bedarf bis zur Höhe des Mindestunterhalts nicht darzulegen und zu beweisen braucht1. Für volljährige Kinder legt § 1612a BGB keinen Mindestunterhalt fest, und zwar auch nicht für privilegiert Volljährige, wie sich aus der Begrenzung der Norm auf minderjährige Kinder ergibt. cc) Mehrbedarf
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Ein Bedarf, der vorhersehbarerweise über einen längeren Zeitraum hinweg anfällt und das Übliche derart übersteigt, dass er mit den Regelbeträgen nicht mehr abgedeckt werden kann, gehört als Mehrbedarf ebenfalls zum Lebensbedarf eines Kindes, kann aber oft nur von Eltern in gehobenen wirtschaftlichen Verhältnissen befriedigt werden. Typische Fälle sind Kosten von Privatschulen oder Internaten2 oder Kosten für die Förderung hoch begabter sowie besonders sportlicher Kinder3, aber auch krankheits1 Vgl. Borth, FamRZ 2006, 813 (819). 2 BGH v. 3.11.1982 – IVb ZR 324/81, FamRZ 1983, 48. 3 BGH v. 11.4.2001 – XII ZR 152/99, FamRZ 2001, 1603.
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Kindesunterhalt
Rn. 452
Kap. 6 B
bedingte Mehrkosten eines behinderten und dauernd pflegebedürftigen Kindes1. Auch Kindergartenbeiträge bzw. vergleichbare Aufwendungen für die Betreuung eines Kindes in einer kindgerechten Einrichtung gehören jedoch nach der neuesten Rechtsprechung des BGH2 zum Mehrbedarf eines Kindes, sind also in den Unterhaltsbeträgen der Unterhaltstabellen nicht enthalten, und zwar unabhängig von der sich im Einzelfall ergebenden Höhe des Unterhalts. Die in einer Kindereinrichtung anfallenden Verpflegungskosten sind dagegen mit dem Tabellenunterhalt abgegolten. Da dies nach der zit. Rechtsprechung des BGH sowohl für die Zeit vor dem 31.12.2007 als auch für die Zeit nach dem Inkrafttreten des Unterhaltsänderungsgesetzes 2007 am 1.1.2008 gilt, kommt für alle bestehenden Unterhaltstitel oder -vereinbarungen eine Erhöhung um die Kindergartenbeiträge in Betracht.
Û
Wichtig: Der Mehrbedarf zB für den ganztägigen Besuch eines Kindergartens ist nur dann allein von dem barunterhaltspflichtigen Elternteil zu tragen, wenn der betreuende Elternteil über kein eigenes Einkommen verfügt und trotz der Entlastung durch den ganztägigen Kindergartenbesuch auch kein eigenes Einkommen erzielen kann. Andernfalls muss er sich am Mehrbedarf des Kindes im Verhältnis der beiderseitigen Einkünfte beteiligen3.
Wird ein solcher Mehrbedarf geltend gemacht, so ist der Darlegungs- 452 pflicht des Unterhaltsberechtigten durch Vorlage einer detaillierten und nachprüfbaren Aufschlüsselung zumindest für einen repräsentativen Zeitraum nachzukommen, ohne dass es hierzu einer besonderen gerichtlichen Aufforderung bedarf4. Werden Kosten für den Besuch einer Privatschule oder eines Internats geltend gemacht, müssen Gründe von erheblichem Gewicht für den Besuch dargelegt werden, die es als gerechtfertigt erscheinen lassen, die Mehrkosten als angemessene Bildungskosten zulasten des Unterhaltspflichtigen anzuerkennen. Allgemein bessere Fördermöglichkeiten stellen keinen derartigen Grund dar5. Verfügt auch der betreuende Elternteil über Einkünfte, müssen beide Eltern anteilig nach ihren Einkommensverhältnissen für den Mehrbedarf aufkommen, wobei
1 BGH v. 27.4.1983 – IVb ZR 378/81, FamRZ 1983, 689. 2 BGH v. 26.11.2008 – XII ZR 65/07, FamRZ 2009, 962 m. Anm. Born = FamRB 2009, 203, FamRZ 2009, 965 f. unter Aufgabe der Urt. BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 882 = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231 sowie BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 150/05, FamRZ 2008, 1152 = FamRB 2008, 198. 3 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 150/05, FamRZ 2008, 1152 (1154) = FamRB 2008, 198. 4 BGH v. 11.4.2001 – XII ZR 152/99, FamRZ 2001, 1603. 5 BGH v. 3.11.1982 – IVb ZR 324/81, FamRZ 1983, 48; OLG Naumburg v. 9.9.2008 – 3 UF 31/08, FamRZ 2009, 1074.
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Kap. 6 B Rn. 453
Kindesunterhalt
zur Ermittlung der maßgeblichen Einkünfte der angemessene Selbstbehalt vorweg von dem jeweiligen Einkommen abzuziehen ist1. dd) Sonderbedarf 453
(1) Der in § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB ausdrücklich angesprochene Sonderbedarf unterscheidet sich von dem regelmäßig auftretenden und vorhersehbaren Mehrbedarf dadurch, dass er unregelmäßig, also überraschend auftritt und außerdem außergewöhnlich hoch ist. Die beiden Kriterien müssen kumulativ gegeben sein, um einen Sonderbedarf annehmen zu können. Selbst eine im Verhältnis zum laufenden Unterhalt außergewöhnlich hohe Einzelausgabe stellt infolgedessen keinen Sonderbedarf i.S.d. Gesetzes dar, wenn sie nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge voraussehbar war. Derartige Aufwendungen gehören deshalb als Mehrbedarf grundsätzlich zum laufenden Unterhalt, der so zu bemessen ist, dass sämtliche voraussehbaren Ausgaben abgedeckt werden und bei größeren voraussehbaren Ausgaben genügend Spielraum für eine vernünftige Planung verbleibt2.
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(2) Wann ein Bedarf außergewöhnlich hoch ist, also nicht mehr aus dem laufenden Unterhalt gedeckt werden kann, lässt sich nicht allgemeingültig beantworten, sondern ist nach den Umständen des Einzelfalles zu entscheiden, wobei insbesondere auf die Höhe der laufenden Unterhaltsrente und der sonstigen Einkünfte des Berechtigten, auf den Lebenszuschnitt der Beteiligten und auf Anlass und Umfang der besonderen Aufwendung abzustellen ist. Dabei ist dem Unterhaltsberechtigten grundsätzlich der Einsatz eines verhältnismäßig großen Anteils seiner laufenden Unterhaltsmittel abzuverlangen. Denn in der Wortwahl des Gesetzes, das nur einen „außergewöhnlich“ hohen Bedarf als Sonderbedarf gelten lässt, kommt zum Ausdruck, dass es im Zweifel bei der laufenden Unterhaltsrente sein Bewenden haben und nur in Ausnahmefällen die gesonderte Ausgleichung zusätzlicher unvorhergesehener Ausgaben erfolgen soll3.
455
Infolgedessen werden die Kosten eines Kinderhorts oder eines Kindergartens4, der Kommunion oder Konfirmation5, eines Nachhilfeunter1 BGH v. 26.11.2008 – XII ZR 65/07, FamRZ 2009, 962 Rn. 32 = FamRB 2009, 203; s. dazu auch Rn. 611 ff. 2 BGH v. 15.2.2006 – XII ZR 4/04, FamRZ 2006, 612. 3 BGH v. 11.11.1981 – IVb ZR 608/80, FamRZ 1982, 25, FamRZ 1982, 145. 4 OLG Karlsruhe v. 28.4.1998 – 2 WF 41/98, FamRZ 1999, 859; OLG Stuttgart v. 16.6.1998 – 15 WF 264/98, FamRZ 1999, 884. Der BGH sieht in seinem Urt. v. 26.11.2008 – XII ZR 65/07, FamRZ 2009, 962 = FamRB 2009, 203 unter Aufgabe der Urt. v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 882 = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231 sowie BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 150/05, FamRZ 2008, 1152 = FamRB 2008, 198 Kindergartenbeiträge generell als Mehrbedarf. 5 OLG Hamm v. 12.1.1993 – 2 WF 381/92, FamRZ 1993, 995; OLG Karlsruhe v. 8.2.1995 – 5 WF 35/94, FamRZ 1995, 1009; neuerdings auch BGH v. 15.2.2006 –
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Rn. 456
Kap. 6 B
richts1, von Klassenfahrten2, eines Führerscheins3 und eines hochwertigen Musikinstrumentes für eine geplante musikalische Berufsausbildung4 vor allem wegen ihrer Vorhersehbarkeit und Planbarkeit überwiegend nicht als Sonderbedarf, sondern allenfalls als Mehrbedarf gegenüber den Regelbeträgen angesehen5. Die Kosten eines Kindergartens hat der BGH6 neuerdings als Mehrbedarf eines Kindes zusätzlich zum Tabellenunterhalt anerkannt. Die Unterscheidung ist deshalb von erheblicher Bedeutung, weil Sonderbedarf ausweislich § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB innerhalb eines Jahres ohne weiteres auch im Nachhinein geltend gemacht werden kann, während der Unterhaltspflichtige wegen eines Mehrbedarfs jedenfalls rechtzeitig in Verzug gesetzt worden sein muss, wenn er auch noch nach dessen Entstehung zur Bezahlung dieses Mehrbedarfs herangezogen werden können soll.
Û
Praxistipp: Der Unterhaltspflichtige sollte deshalb nach dem Prinzip des sichersten Weges bei allen voraussehbaren höheren Ausgaben, die man aus dem Regelunterhalt nicht decken zu können glaubt, frühzeitig zur Unterhaltsleistung, ggf. in Raten, aufgefordert und auf diese Weise wegen jeder Rate in Verzug gesetzt werden. Darauf, selbst eine außergewöhnlich hohe Einzelausgabe nachträglich als Sonderbedarf geltend machen zu können, sollte man sich nicht verlassen.
ee) Gerichtskostenvorschuss (1) Eine Sonderstellung unter den verschiedenen Bedarfspositionen nimmt 456 in Literatur und Rechtsprechung die Gerichtskostenvorschusspflicht gegenüber Kindern ein, und zwar deshalb, weil es im Verwandtenunterhalt an einer dem § 1360a Abs. 4 BGB entsprechenden Regelung fehlt und gegen eine schlichte Ableitung aus § 1610 Abs. 2 BGB als Teil des allgemeinen Lebensbedarfs dogmatische Bedenken bestehen. Im Ergebnis besteht jedoch Einigkeit darüber, dass die in § 1360a Abs. 4 BGB geregelte Ge-
1
2
3 4 5 6
XII ZR 4/04, FamRZ 2006, 612 = FamRB 2006, 168; aA OLG Dresden FuR 2000, 122. OLG Frankfurt v. 16.3.1983 – 1 UF 230/82, FamRZ 1983, 941; OLG Hamm v. 4.12.1990 – 3 WF 342/90, FamRZ 1991, 857; OLG Zweibrücken v. 6.5.1993 – 5 UF 124/91, FamRZ 1994, 770; OLG Braunschweig v. 1.3.1995 – 1 WF 76/94, FamRZ 1995, 1010. OLG Braunschweig v. 1.3.1995 – 1 WF 76/94, FamRZ 1995, 1010; OLG Jena v. 12.6.1996 – WF 77/96, FamRZ 1997, 448, differenzierend nach der Höhe des gezahlten Unterhalts und der Leistungsfähigkeit des Pflichtigen; OLG Hamm v. 21.12.2010 – II-2 WF 285/10, NJW 2011, 1087 – Englandaustausch. AG Arnstadt v. 4.7.1997 – 5 F 65/97, NJWE-FER 1998, 248. OLG Frankfurt v. 3.8.1994 – 4 WF 80/94, FamRZ 1995, 631. Eine Übersicht zur Kasuistik bieten Büttner/Niepmann/Schwamb, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, Rn. 287. BGH v. 26.11.2008 – XII ZR 65/07, FamRZ 2009, 962 = FamRB 2009, 203; s. auch Rn. 451.
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Kap. 6 B Rn. 457
Kindesunterhalt
richtskostenvorschusspflicht auch gegenüber ehelichen und nichtehelichen minderjährigen Kindern besteht, und zwar auch dann, wenn der Vorschuss nicht in einer Summe, sondern entsprechend § 115 Abs. 1 und 2 ZPO nur in Raten gezahlt werden kann1. Von den volljährigen Kindern werden die privilegiert volljährigen des § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB den minderjährigen Kindern gleichgestellt2 und den Übrigen ein Anspruch auf Gerichtskostenvorschuss jedenfalls dann zugestanden, wenn sie sich noch in einer von ihren Eltern abhängigen Lebensstellung befinden3. 457
(2) Der Gerichtskostenvorschuss kann ebenso wie jeder andere Unterhaltsanspruch eines minderjährigen Kindes auch von einem Elternteil im Wege der gesetzlichen Verfahrensstandschaft des § 1629 Abs. 3 S. 1 BGB geltend gemacht werden. Die Voraussetzungen des Anspruchs sind dieselben wie die des § 1360a Abs. 4 S. 1 BGB, also die Bedürftigkeit des Anspruchstellers, eine „persönliche Angelegenheit“ als Gegenstand des zu führenden Rechtsstreits und die Billigkeit der Vorschussleistung.
Û
Wichtig: Die Prozess/Verfahrenskostenhilfe ist gegenüber dem Gerichtskostenvorschussanspruch subsidiär. Vor einem Antrag auf Gewährung von Prozess/Verfahrenskostenhilfe ist also immer erst ein Anspruch auf Zahlung eines Gerichtskostenvorschusses zu prüfen.
b) Die Lebensstellung des Bedürftigen als Maßstab aa) Abgeleitete oder selbständige Lebensstellung bei Kindern 458
(1) Das Maß des zu gewährenden Unterhalts bestimmt sich gem. § 1610 Abs. 1 BGB nach der Lebensstellung des Bedürftigen (angemessener Unterhalt). Minderjährige und unverheiratete volljährige Kinder haben jedoch regelmäßig keine eigene Lebensstellung, solange sie nicht über ein zur wirtschaftlichen Selbständigkeit erforderliches eigenes Einkommen oder Vermögen verfügen. Sie nehmen deshalb an der Lebensstellung ihrer Eltern teil, und dementsprechend wird ihr Bedarf von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern abgeleitet (abgeleitete Lebensstellung)4. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn ein Schüler zB durch Dienstleistungen sein Taschengeld oder ein Student durch einen Ferienjob seinen monatlichen Wechsel aufbessert oder auch ein Lehrling eine Ausbildungsvergütung erhält. Denn die auf diese Weise erzielten Einkünfte
1 BGH v. 4.8.2004 – XII ZA 6/04, FamRZ 2004, 1633 = FamRB 2004, 393; die nichtehelichen Kinder sind den ehelichen durch die Verweisungsvorschrift des § 1615a BGB gleichgestellt. 2 OLG Hamm v. 9.11.1998 – 13 WF 437/98, NJW 1999, 798. 3 BGH v. 23.3.2005 – XII ZB 13/05, FamRZ 2005, 883 = FamRB 2005, 200 hat den langen Streit um diese Frage in dem dargelegten Sinn entschieden. 4 Grundlegend BGH v. 23.4.1980 – IVb ZR 527/80, FamRZ 1980, 665; BGH v. 4.6.1986 – IVb ZR 51/85, FamRZ 1987, 58 (60) – Studentin.
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Rn. 461
Kap. 6 B
reichen in aller Regel nicht aus, um eine wirtschaftlich selbständige Lebensstellung des Kindes zu begründen1. (2) Gleiches dürfte für Studentenehen gelten. Denn obwohl die von den 459 Eltern abgeleitete Lebensstellung mit der Verheiratung eines Kindes regelmäßig endet, ändert sich an der wirtschaftlichen Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern durch die bloße Verheiratung meistens nichts. Und auch bei Wehr- oder Zivildienstleistenden war jedenfalls dann, wenn sie vor der Dienstzeit noch an der Lebensstellung der Eltern teilgenommen haben, von einer abgeleiteten Lebensstellung auszugehen2. Für Angehörige des neuen Bundesfreiwilligendienstes gilt nichts anderes. Allerdings werden die von ihnen bezogenen Geld- und Sachleistungen in den meisten Fällen ihren Unterhaltsbedarf decken und es deshalb an einer Unterhaltsbedürftigkeit fehlen3. (3) Kranke oder behinderte Kinder können auch dann, wenn sie noch bei einem Elternteil leben, eine selbständige Lebensstellung erlangen. Ihr Unterhaltsbedarf kann dann nicht mehr von der Lebensstellung der Eltern abgeleitet werden, sondern ist nach den Umständen des Einzelfalles zu bemessen4.
460
(4) Befindet sich ein Kind dagegen nicht in einer Schul- oder Berufsausbil- 461 dung5 oder hat es seine Berufsausbildung abgeschlossen, tritt nach einer Übergangszeit von zwei bis drei Monaten6, wie unter Rn. 438 schon dargelegt wurde, seine wirtschaftliche Eigenverantwortung und damit seine selbständige Lebensstellung in den Vordergrund. Sein Unterhaltsbedarf richtet sich deshalb dann nicht mehr nach der Lebensstellung seiner Eltern, sondern nach seinen eigenen, bei Eintritt der Unterhaltsbedürftigkeit vorhandenen Einkünften. Hat das Kind noch keine eigenen Einkünfte erzielt und gelingt es ihm trotz aller gebotenen Bemühungen nicht, seinen Unterhalt durch eine eigene Erwerbstätigkeit zu decken (s. dazu
1 BGH v. 6.11.1985 – IVb ZR 45/84, FamRZ 1986, 151 – Lehrling; zur Anrechenbarkeit derartiger Einkünfte bei der Prüfung der Unterhaltsbedürftigkeit s. Rn. 528. 2 BGH v. 29.11.1989 – IVb ZR 16/89, FamRZ 1990, 394 (395) – Wehrdienstleistender; BGH v. 1.12.1993 – XII ZR 150/92, FamRZ 1994, 303 – Zivildienstleistender. 3 BGH v. 29.11.1989 – IVb ZR 16/89, FamRZ 1190, 394 (395) – Wehrdienstleistender; BGH v. 1.12.1993 – XII ZR 150/92, FamRZ 1994, 303 – Zivildienstleistender. 4 S. BGH v. 20.11.1996 – XII ZR 70/95, FamRZ 1997, 281 (283/284) einerseits und OLG Karlsruhe v. 19.12.1985 – 2 UF 209/85, FamRZ 1986, 496 (497) sowie OLG Bamberg v. 20.1.1993 – 2 WF 132/92, FamRZ 1994, 255 (256) andererseits, die bei selbständiger Lebensstellung auf den notwendigen Selbstbehalt eines erwerbstätigen Unterhaltsschuldners abgestellt haben. 5 Zur notwendigen Differenzierung bei der Prüfung des Unterhaltsbedarfs während der Ausbildung eines Kindes s. Rn. 495 ff. 6 OLG Hamm v. 19.1.1987 – 10 WF 340/86, FamRZ 1987, 411 (412); OLG Frankfurt v. 30.8.1988 – 3 UF 364/87, FamRZ 1989, 83 (84).
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Kap. 6 B Rn. 462
Kindesunterhalt
Rn. 526 ff.), wird es sich mit dem „Existenzminimum“ begnügen müssen1. bb) Das Maß des Unterhalts bei abgeleiteter Lebensstellung des Kindes 462
(1) Die von den Eltern abgeleitete Lebensstellung des Kindes bemisst sich allein nach deren Einkommens- und Vermögensverhältnissen2. Leben die Eltern voneinander getrennt oder sind sie geschieden, sind für den Barunterhaltsbedarf eines minderjährigen Kindes allerdings allein die Einkommensverhältnisse des Barunterhaltspflichtigen maßgeblich. Das gilt unabhängig davon, ob nur der das Kind nicht betreuende und deshalb barunterhaltspflichtige Elternteil oder auch derjenige Elternteil, bei dem das Kind lebt, über Einkünfte verfügt. Würde man in letzterem Fall nämlich den Kindesunterhalt nach den zusammengerechneten Einkünften beider Eltern bemessen, dann würde der das Kind nicht betreuende Elternteil, der den Barunterhalt allein aufzubringen hat, durch eine solche Bemessung des Unterhaltsbedarfs übermäßig belastet. Dies gilt jedenfalls in allen denjenigen Fällen, in denen sich die Einkünfte beider Eltern im mittleren Bereich halten und das Einkommen des Barunterhalt gewährenden Elternteils nicht höher ist als das des anderen3.
463
(2) Ist die wirtschaftliche Lage des das Kind betreuenden Elternteils dagegen wesentlich günstiger als diejenige des barunterhaltspflichtigen Elternteils, kann dieser Umstand ausnahmsweise auch zu einem erhöhten Bedarf des Kindes führen. Allerdings muss dann trotz der Gleichwertigkeit von Bar- und Naturalunterhalt und der Erfüllung der anteiligen Unterhaltspflicht durch den betreuenden Elternteil (§ 1606 Abs. 3 S. 2 BGB) eine Beteiligung auch des betreuenden Elternteils an dem – dann erhöhten – Barunterhaltsbedarf des Kindes in Betracht gezogen werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Beteiligung des das Kind betreuenden Elternteils ohne weiteres zu einer entsprechenden Herabsetzung des von dem Barunterhaltspflichtigen nach seinem Einkommen geschuldeten Unterhalts führten müsste. Vielmehr ist in solchen Fällen zunächst einmal der um die Beteiligung des betreuenden Elternteils erhöhte Gesamtbedarf des Kindes zu ermitteln, und es wird dann in erster Linie der betreuende Elternteil sein, der diesen erhöhten Bedarf durch seine Beteiligung deckt. Letztlich muss allerdings eine Orientierung an dem Verteilungsmaßstab des § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB ergeben, ob der tabellenmäßig errechnete Anteil des Bartunterhaltspflichtigen an dem Gesamtbedarf des Kindes im
1 Doppelter Sozialhilfesatz oder „notwendiger Selbstbehalt“ eines erwerbstätigen Unterhaltsschuldners nach Düsseldorfer Tabelle – OLG Bamberg v. 20.1.1993 – 2 WF 132/92, FamRZ 1994, 255 (256). 2 BGH v. 23.2.1983 – IVb ZR 362/81, FamRZ 1983, 473 und BGH v. 26.10.1983 – IVb ZR 13/82, FamRZ 1984, 39 (40). 3 BGH v. 23.2.1983 – IVb ZR 362/81, FamRZ 1983, 473.
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Kindesunterhalt
Rn. 465
Kap. 6 B
richtigen Verhältnis zu demjenigen Anteil steht, der auf den betreuenden Elternteil fällt1. Verfügt umgekehrt der Barunterhaltspflichtige über sehr hohe Einkünfte 464 und lebt der betreuende Elternteil in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen, ist auch an eine Absenkung des rechnerisch geschuldeten Barunterhalts zu denken. Denn die Bemessung des Unterhalts für das Kind darf weder einem gedeihlichen Betreuungsverhältnis zwischen dem betreuenden Elternteil und dem Kind entgegenwirken noch dazu führen, die Lebensstellung des sorgeberechtigten Elternteils anzuheben2. (3) Bei unverheirateten volljährigen Kindern sind die zusammenge- 465 rechneten Netto-Einkünfte beider Eltern für die Bemessung des Bedarfs maßgeblich, weil die Lebensstellung des Kindes von beiden Einkünften beeinflusst wird und nun auch beide Elternteile zur Deckung des Barunterhaltsbedarfs herangezogen werden können3. Denn gesunden volljährigen Kindern ist, anders als minderjährigen Kindern, eine Betreuung nicht mehr geschuldet, so dass sich auch keiner der Elternteile mehr darauf berufen kann, er erfülle seine Unterhaltspflichten gem. § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB schon durch die Pflege und Erziehung des Kindes. Das gilt auch im Verhältnis zu den privilegiert volljährigen Kindern des § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB, weil sich deren Privilegierung nur auf die verschärfte Unterhaltspflicht gem. § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB und die Rangfolge bei mehreren Unterhaltsbedürftigen bezieht (§ 1609 Nr. 1 BGB)4. Dementsprechend kann sich der Elternteil, bei dem ein volljähriges Kind noch wohnt, auch nicht darauf berufen, er erbringe jedenfalls tatsächlich noch Betreuungsleistungen5. Seine Auffassung, dass im Einzelfall auch in den ersten Jahren nach Eintritt der Volljährigkeit eines Kindes weiterhin von der Gleichwertigkeit des Barunterhalts und der – jedenfalls tatsächlich erbrachten – Betreuungsleistungen ausgegangen werden könne6, hat der BGH in späteren Entscheidungen nicht mehr bestätigt. Nicht einmal die gleichzeitige Betreuung eines noch minderjährigen Kindes der beiden Eltern vermag eine Kürzung der Einkünfte des betreffenden Elternteils und damit eine Herabsetzung des Unterhaltsbedarfs des volljährigen Kindes sowie der Haf-
1 BGH v. 26.10.1983 – IVb ZR 13/82, FamRZ 1984, 39 (40) in einem Fall drei- bis vierfach höherer Einkünfte und wesentlich größeren Vermögens. 2 BGH v. 23.2.1983 – IVb ZR 362/81, FamRZ 1983, 473 (474) in einem Fall, in dem der barunterhaltspflichtige Vater nach der Ehescheidung zu unbekannt hohen Einkünften kam, während die die Kinder betreuende Mutter Einkünfte von 970 DM monatlich erzielte. 3 BGH v. 6.11.1985 – IVb ZR 45/84, FamRZ 1985, 151; BGH v. 2.3.1994 – XII ZR 215/92, FamRZ 1994, 696 (698). 4 Von einer Gleichstellung der für die privilegiert volljährigen Kinder ggf. noch erbrachten Betreuungsleistungen mit dem Barunterhalt hat der Gesetzgeber des KindUG bewusst abgesehen – BT-Drucks. 13/7338, 22; BGH v. 9.1.2002 – XII ZR 34/00, FamRZ 2002, 815 (817) = FamRB 2002, 195. 5 BGH v. 2.3.1994 – XII ZR 215/92, FamRZ 1994, 696 (698). 6 BGH v. 8.4.1981 – IVb ZR 559/80, FamRZ 1981, 541 (543).
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Kap. 6 B Rn. 466
Kindesunterhalt
tungsquote dieses Elternteils für den Unterhalt des volljährigen Kindes zu rechtfertigen1. 466
Vom Wegfall der Betreuungsleistungen streng zu unterscheiden ist aber die Erbringung von Unterhaltsleistungen des bisher betreuenden Elternteils für das volljährige Kind, insbesondere durch die regelmäßig weiterhin unentgeltliche Wohnungsgewährung und die Versorgung mit Lebensmitteln. Der barunterhaltspflichtig gewordene Elternteil wird gem. § 1612 Abs. 1 S. 2 BGB verlangen können, dass ihm die von ihm geschuldete Unterhaltsleistung in dieser Form gestattet wird mit der Folge, dass der Unterhaltsbedarf des Kindes insoweit gedeckt und sein Unterhaltsanspruch gegen diesen Elternteil deshalb durch Erfüllung erloschen ist2. Oft werden diese Unterhaltsleistungen sogar den Haftungsanteil dieses Elternteils am Gesamtunterhalt des Kindes übersteigen. Bei diesen Mehrleistungen handelt es sich dann aber um freiwillige Leistungen die im Verhältnis der barunterhaltspflichtigen Eltern untereinander nicht berücksichtigungsfähig sind.
467
Durch die Addition beider Elterneinkünfte bei der Ermittlung des Unterhaltsbedarfs kann es allerdings für den Elternteil mit den deutlich geringeren Einkünften zu unverhältnismäßig hohen Belastungen kommen. Aus diesem Grunde sind die Quoten, mit denen die Eltern den Unterhaltsbedarf eines volljährigen Kindes zu decken haben, erst nach dem Abzug der für den eigenen Unterhalt erforderlichen Beträge nach dem Verhältnis der danach verbleibenden Mittel zu bestimmen3. Beispiel: Die Eltern eines nicht mehr in der allgemeinen Schulausbildung befindlichen, 19-jährigen und noch bei der Mutter lebenden Kindes verfügen über Einkommen von 2200 Euro netto (Vater) und 1200 Euro netto (Mutter). Bei der Mutter lebt noch ein 16-jähriges und deshalb vorrangiges Kind, dem der Vater nach der Düsseldorfer Tabelle (Stand 1.1.2011) wegen einer Herabstufung in die 2. Einkommensgruppe (s. dazu Rn. 483) einen monatlichen Unterhalt von 448 Euro abzgl. des hälftigen Kindergeldes von 92 Euro, also 356 Euro, schuldet. Die Berechnung der elterlichen Haftungsanteile sieht dann wie folgt aus: Einkommen des Vaters ./. vorrangiger Kindesunterhalt ./. angemessener Selbstbehalt gegenüber einem volljährigen Kind für die Haftungsquote maßgebliches Einkommen Einkommen der Mutter ./. angemessener Selbstbehalt für die Haftungsquote maßgebliches Einkommen
2200 Euro 356 Euro 1150 Euro 694 Euro 1200 Euro 1150 Euro 50 Euro
Der Unterhaltsbedarf des volljährigen Kindes bemisst sich nach den addierten Einkünften der Eltern, wobei von dem Einkommen des Vaters vorab noch der Unter1 BGH v. 13.4.1988 – IVb ZR 49/87, FamRZ 1988, 1039 (1041). 2 So zutreffend Borth in Anm. zu OLG Koblenz v. 30.6.2008 – 13 UF 98/08, FamRZ 2009, 891 (892). 3 BGH v. 6.11.1985 – IVb ZR 69/84, FamRZ 1986, 153 (154); wegen weiterer Einzelheiten zur unterschiedlichen Haftung von Eltern für den Unterhalt ihrer volljährigen Kinder s. Rn. 601 ff.
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Kindesunterhalt
Rn. 468
Kap. 6 B
halt für das minderjährige Kind in Abzug zu bringen ist, also aus 1844 Euro + 1200 Euro = 3044 Euro. Der sich danach aus der Einkommensgruppe 5 der Düsseldorfer Tabelle in ihrer seit dem 1.1.2011 gültigen Fassung ergebende Bedarf von 586 Euro ist gem. § 1612b Abs. 1 Nr. 2 BGB um das volle staatliche Kindergeld von 184 Euro, das dem Kind zusteht, zu kürzen1 und der verbleibende Betrag von 402 Euro von den Eltern im Verhältnis 694 zu 50 also im Verhältnis 93,28 % zu 6,72 %, zu decken. Infolgedessen hat der Vater 377,99 Euro und die Mutter 27,01 Euro zu tragen. Bedenkt man, dass in dem Unterhaltsbedarf des volljährigen Kindes ein Wohnkostenanteil von mindesten 25 %, also von 122,50 Euro, enthalten ist, dann trägt die Mutter durch die Wohnungsgewährung schon weit mehr als den auf sie entfallenden Anteil und braucht dem volljährigen Kind deshalb keinen Barunterhalt mehr zu leisten.
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Praxistipp: Im Gegenteil stellt sich für die Mutter die Frage, ob sie nicht von dem volljährigen Kind eine Beteiligung an den Kosten des gemeinsamen Haushalts aus den dem Kind zufließenden Barmitteln (Kindergeld und Unterhalt) verlangen will. IdR wird dies durchaus angemessen sein, aber dennoch nur selten praktiziert2.
Verfügt nur ein Elternteil über die zur Erfüllung der (Bar)Unterhalts- 468 pflicht gegenüber dem volljährigen Kind notwendigen Mittel, während die Einkünfte des anderen Elternteils seinen angemessenen Selbstbehalt nicht übersteigen, so hat es bei der Bemessung des Unterhaltsbedarfs nach den Einkünften des allein Barunterhaltspflichtigen sein Bewenden3. Auch sonst hat ein Elternteil in diesen Fällen höchstens den Unterhalt zu leisten, der sich allein nach seinem Einkommen aus der Düsseldorfer Tabelle ergibt4. Beispiel: Die Mutter verdient anders als im vorigen Beispiel nur 850 Euro. Dann sieht die Berechnung der Haftungsanteile wie folgt aus: Einkommen des Vaters ./. vorrangiger Kindesunterhalt ./. angemessener Selbstbehalt gegenüber einem volljährigen Kind für die Haftungsquote maßgebliches Einkommen Einkommen der Mutter ./. angemessener Selbstbehalt für die Haftungsquote maßgebliches Einkommen
2200 Euro 356 Euro 1150 Euro 674 Euro 850 Euro 1150 Euro 00 Euro
Der Unterhaltsbedarf des volljährigen Kindes bemisst sich wegen der nicht zu berücksichtigenden Einkünfte der Mutter nur nach dem Einkommen des Vaters, von dem vorab auch noch der Unterhalt für das minderjährige und deshalb gegenüber 1 Der Gesetzgeber hat in dieser Vorschrift die Rspr. des BGH v. 26.10.2005 – XII ZR 34/03, FamRZ 2006, 99 = FamRB 2006, 3 übernommen. 2 Zur Problematik s. auch Rn. 489. 3 BGH v. 20.11.1996 – XII ZR 70/95, FamRZ 1997, 281 (283) und BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 (Tz. 35 ff.) = FamRB 2011, 101 und FamRB 2011, 102 für den Fall eines privilegiert Volljährigen. 4 Ständige Rspr. des BGH, zB BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 126/06, FamRZ 2008, 2104 (Tz. 31) = FamRB 2008, 361 und FamRB 2008, 362; s. auch Nr. 13.1 der Leitlinien des OLG Düsseldorf, Nr. 13.1.1 Abs. 2 der SüdL ua.
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Kap. 6 B Rn. 469
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dem volljährigen vorrangige Kind in Abzug zu bringen ist. Dementsprechend ist der Bedarf des volljährigen Kindes aus 1844 Euro und damit aus der Einkommensgruppe 2 der Düsseldorfer Tabelle zu ermitteln, was dann nur noch zu einem Unterhalt von 513 Euro abzgl. dem staatlichen Kindergeld von 184 Euro = 329 Euro führt.
469
(4) Eine Einschränkung erfahren diese Grundsätze bei volljährigen Kindern mit eigenem Haushalt wie zB auswärts lebenden Studenten oder auch volljährigen Schülern und Auszubildenden. Bei ihnen werden nämlich von allen Oberlandesgerichten nur feste Bedarfssätze zugrunde gelegt1, was mit der weitgehend selbständigen Lebensstellung dieser Kinder gerechtfertigt werden kann. Allerdings wird in diesen Fällen darauf zu achten sein, dass sich für das auswärts lebende Kind keine Schlechterstellung gegenüber einem noch im Hause eines Elternteils wohnenden Kind ergibt2. Auch ist bei verheirateten Kindern, die mit ihrem ebenfalls in Ausbildung befindlichen Partner in einem eigenen Haushalt leben (Studentenehen) wegen des kostengünstigeren Zusammenlebens an eine Verminderung des jeweiligen Bedarfssatzes zu denken. Andererseits kommt bei sehr guten Einkommensverhältnissen der Eltern aber auch ein höherer, dann konkret vorzutragender und individuell zu bemessender Bedarfsbetrag in Betracht3.
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(5) Die Bemessung des Unterhaltsbedarfs von Kindern nach den Einkommens- und Vermögensverhältnissen ihrer Eltern bedeutet nicht, dass dabei auch fiktive Einkünfte4 zu berücksichtigen wären. Denn lediglich gedachte wirtschaftliche Verhältnisse, die keine Grundlage in der tatsächlichen Einkommenssituation des Unterhaltspflichtigen haben, können dessen Lebensstellung nicht prägen. Daher kann ein Unterhaltsbedarf nicht aus fiktiven Mitteln hergeleitet werden, die dem Unterhaltspflichtigen nie zur Verfügung gestanden haben5.
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Von diesem Sachverhalt streng zu unterscheiden sind diejenigen Fälle, in denen der oder die Unterhaltspflichtigen unter Verletzung ihrer Erwerbsobliegenheit versuchen, ihre einmal vorhanden und für die Bemessung des Unterhaltsbedarfs maßgeblich gewesenen Einkommens- und Vermögensverhältnisse durch berufliche und wirtschaftliche Dispositionen zum Nachteil des Unterhaltsberechtigten zu verändern. Denn es obliegt 1 S. zB Anm. A 7 Abs. 2 zur Düsseldorfer Tabelle und Nr. 13.1.2 der SüdL – zu Einzelheiten Rn. 494. 2 Dies kann vor allem dann geschehen, wenn der – bereits gedeckte – Wohnbedarf bei der Bemessung des Barunterhalts nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt wird – Näheres dazu Rn. 494. 3 OLG Düsseldorf v. 10.1.1992 – 6 UF 90/91, FamRZ 1992, 981–1400 DM monatlich für ein studierendes Kind von Eltern, die je 12 000 DM netto monatlich verdienen; AG Köln v. 16.8.2000 – 302 F 273/98, FamRZ 2002, 482 – Ausbildungsmehrbedarf von 7866 DM monatlich bei Studium in den USA, s. auch Nr. 13.1.2 SüdL.; Nr. 8 Abs. 2 Kölner Leitlinien ua. 4 Zu diesem Begriff s. Rn. 936. 5 BGH v. 20.11.1996 – XII ZR 70/95, FamRZ 1997, 281 (283).
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Rn. 473
Kap. 6 B
jedem Unterhaltspflichtigen, seine Arbeitskraft und seine sonstigen ihm zu Gebote stehenden Einkommensquellen so gut wie möglich auszuschöpfen, um die einmal erreichte Lebensstellung zu erhalten. Infolgedessen verbleibt es in diesen Fällen bei der Bemessung des Unterhaltsbedarfs nach den früher erzielten und immer noch erzielbaren, wenn auch nunmehr teilweise nur noch fiktiven Einkünften1. Denn eine Verletzung der Erwerbsobliegenheit kann selbstverständlich nicht zu einer Verminderung der Unterhaltspflicht führen. Liegt eine solche Verletzung der Erwerbsobliegenheit dagegen nicht vor, sondern ist die Verminderung der Einkünfte eines Unterhaltspflichtigen auf externe Einflüsse zurückzuführen, so verbleibt es bei der dargestellten Abhängigkeit der Kinder vom jeweiligen Lebensstandard ihrer Eltern. (6) Die Bemessung des Kindesunterhalts nach den Einkommens- und Ver- 472 mögensverhältnissen der Eltern hat zur Folge, dass ein minderjähriges Kind ebenso wie ein volljähriges Kind, das noch bei einem Elternteil wohnt, am jeweiligen Lebensstandard seiner Eltern, also an einem steigenden Lebensstandard ebenso wie an einem sinkenden, teilnimmt. Einkommensverbesserungen aufgrund einer Wiederverheiratung und der damit verbundenen steuerlichen Entlastung kommen einem Kind also ebenso wie einem unterhaltsberechtigten Ehegatten zugute2, anders als beim Ehegattenunterhalt aber auch Einkommensverbesserungen aufgrund eines sog. Karrieresprungs3. Andererseits sind auch Schulden schon bei der Bedarfsermittlung und 473 nicht etwa erst bei der Frage nach der Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners in Ansatz zu bringen. Denn sie beeinflussen selbstverständlich ebenfalls die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern des Kindes, von denen seine Lebensstellung abgeleitet wird. Abzugsfähig sind allerdings nicht einfach alle vorhandenen Verbindlichkeiten, sondern nur diejenigen, die unterhaltsrechtlich als berücksichtigungsfähig anerkannt werden können. Ob und inwieweit dies der Fall ist, ist unter umfassender Interessenabwägung zu beurteilen, wobei es insbesondere auf den Zweck der Verbindlichkeiten, den Zeitpunkt und die Art ihrer Entstehung, die Kenntnis des Unterhaltsverpflichteten von Grund und Höhe der Unterhaltsschuld und auf andere Umstände ankommt. In die Abwägung mit einzubeziehen sind deshalb auch die Möglichkeiten des Unterhaltschuldners, seine Leistungsfähigkeit in zumutbarer Weise ganz oder teilweise wieder herzustellen, sowie ggf. schutzwürdige Belange des Drittgläubigers. Soweit es um den Unterhalt minderjähriger unverheirateter Kinder geht, denen der unterhaltspflichtige Elternteil nach § 1603 1 BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 23/91, FamRZ 1992, 1045 (1047) – zum nachehelichen Unterhalt; BGH v. 16.6.1993 – XII ZR 49/92, FamRZ 1993, 1304 (1306) und BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 126/06, FamRZ 2008, 2104 Tz. 32 – zum Kindesunterhalt. 2 BGH v. 25.6.1980 – IVb ZR 530/80, FamRZ 1980, 984 (985); BGH v. 23.4.1986 – IVb ZR 33/85, FamRZ 1986, 798. 3 BGH v. 23.2.1983 – IVb ZR 362/81, FamRZ 1983, 473.
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505
Kap. 6 B Rn. 474
Kindesunterhalt
Abs. 2 S. 1 BGB verschärft unterhaltspflichtig ist, ist zusätzlich zu beachten, dass diesen Kindern jede Möglichkeit fehlt, durch eigene Anstrengungen zur Deckung ihres notwendigen Unterhaltsbedarfs beizutragen1. 474
Altschulden, die schon die ehelichen Lebensverhältnisse der Eltern geprägt haben, werden dementsprechend idR zu berücksichtigen sein. Das gilt auch für vermögensbildende Schulden im Zusammenhang mit einem Hausbau, sofern die Abzahlung im angemessenen Rahmen liegt. Soweit die Schulden der Vermögensbildung dienen und keine Vermögensumschichtung in Betracht kommt, wird allerdings die Tilgungsrate möglicherweise nicht zu berücksichtigen sein2. Bei neuen Verbindlichkeiten in Kenntnis der Barunterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind kommt ein Abzug dagegen idR nicht in Betracht, es sei denn, die Aufnahme des Kredits wäre notwendig und unausweichlich gewesen3. Auf Schulden, die leichtfertig, für luxuriöse Zwecke oder ohne verständigen Grund eingegangen worden sind, kann sich der Unterhaltsverpflichtete generell nicht berufen4.
475
(7) Die Ableitung des Kindesunterhalts von dem jeweiligen Lebensstandard der Eltern wurde auch daran sichtbar, dass bis zum Inkrafttreten der Unterhaltsrechtsreform am 1.1.2008 wegen der unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den alten und den neuen Bundesländern (sog. Ost/WestFälle) noch auf die jeweiligen Verhältnisse des Unterhaltspflichtigen abzustellen war. Lebte also der barunterhaltspflichtige Elternteil in einem alten und das unterhaltsberechtigte Kind in einem neuen Bundesland, so konnte der Unterhaltspflichtige dem Kind nicht die geringeren Lebenshaltungskosten in den neuen Bundesländern entgegenhalten. Lebte umgekehrt das Kind im Westen und der Unterhaltsschuldner im Osten, musste sich das Kind ggf. mit den niedrigeren Bedarfsbeträgen der neuen Bundesländer zufrieden geben. Bei der Festlegung des Mindestunterhalts für ein Kind in dem seit dem 1.1.2008 geltenden § 1612a Abs. 1 BGB. bzw. § 35 Nr. 4 EGZPO ist auf diese Differenzierung allerdings bewusst verzichtet worden5, so dass nunmehr für den Unterhaltsbedarf von Kindern in der gesamten Bundesrepublik auf dem einheitlichen Mindestbetrag aufgebaut werden kann.
476
(8) Die für die Ost/West-Fälle entwickelten Grundsätze gelten auch für die Fälle mit Auslandsberührung, wenn in ihnen für die Bemessung des Unterhaltsbedarfs auf das deutsche materielle Recht abzustellen ist. Lebt also der Unterhaltspflichtige in Deutschland und der Unterhaltsberechtigte im Ausland, so sind für die Höhe seines Unterhaltsanspruchs diejenigen Geldbeträge maßgebend, die er an seinem Aufenthaltsort aufwenden muss, um dort den ihm nach den hiesigen Lebensverhältnissen 1 2 3 4 5
BGH v. 25.10.1995 – XII ZR 247/94, FamRZ 1996, 160 (161). BGH v. 21.9.1994 – XII ZR 161/93, NJW-RR 1995, 129 (130). BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 1/91, FamRZ 1992, 797 (798). BGH v. 25.10.1995 – XII ZR 247/94, FamRZ 1996, 160 (161). Vgl. Reg.-E S. 50; BT-Drucks. 16/1830, 14.
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Kindesunterhalt
Rn. 478
Kap. 6 B
gebührenden Lebensstandard aufrechtzuerhalten1; und wenn der Unterhaltspflichtige im Ausland, der Unterhaltsberechtigte aber in Deutschland lebt, so kommt es für die Ermittlung seines Unterhaltsbedarfs und für die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen auf dessen Lebensverhältnisse im Ausland an2. (9) Auf den Lebensstandard der Eltern als Maßstab für die Bemessung des 477 Kindesunterhalts kommt es schließlich auch in den Fällen an, in denen die Eltern trotz der gesetzlich gebotenen Anstrengungen gar nicht in der Lage sind, den Unterhalt ihrer Kinder sicherzustellen, so dass die Ersatzhaftung anderer Verwandter gem. § 1607 Abs. 1 BGB eingreift. Denn die Ersatzhaftung tritt lediglich in dem Umfang an die Stelle der erstrangig haftenden Eltern, in dem diese zur Unterhaltsleistung verpflichtet wären3. Da diese aber aufgrund ihrer eingeschränkten Mittel zur Unterhaltsleistung nicht in der Lage sind, ist auch der Bedarf ihres Kindes nach der untersten Einkommensgrenze zu bemessen und nicht etwa nach den Einkommensverhältnissen des ersatzweise haftenden Verwandten, also zB der Großeltern. (10) Die Abhängigkeit des Kindesunterhalts vom jeweiligen Lebensstan- 478 dard der Eltern führt nach Auffassung des BGH dazu, dass es keine allgemeingültige, feste Obergrenze für den Barunterhalt minderjähriger oder auch volljähriger Kinder, wohl aber eine durch das „Kindsein“ gerechtfertigte individuelle Begrenzung des Bedarfs gibt. Denn die Unterhaltsgewährung für Kinder bedeutet immer nur Befriedigung ihres gesamten – auch eines gehobenen – Lebensbedarfs, nicht aber Teilhabe am Luxus. Auch in besten Verhältnissen lebend schuldet der Unterhaltspflichtige deshalb nicht das, was das Kind wünscht, sondern nur das, was es braucht4. Auf der anderen Seite gab es aber mit dem Wegfall des § 1610 Abs. 3 S. 1 BGB seit dem 1.7.1998, wie unter Rn. 449 schon dargelegt wurde, auch keinen Mindestbedarf mehr. Das bedeutete, dass der Unterhaltsbedarf eines Kindes nicht unabhängig vom Einkommen des Unterhaltspflichtigen 1 BGH v. 1.4.1987 – IVb ZR 41/86, FamRZ 1987, 682 (683) für einen in Polen lebenden Ehegatten; OLG Düsseldorf v. 10.11.1986 – 8 WF 233/86, FamRZ 1987, 195 für ein in Polen lebendes Kind; OLG Düsseldorf v. 12.4.1994 – 1 UF 188/93, FamRZ 1995, 37 (38) für einen in der Türkei lebenden Ehegatten. 2 BGH v. 13.4.1988 – IVb ZR 34/87, FamRZ 1988, 705 (706) für einen in Südafrika lebenden Unterhaltspflichtigen und in Deutschland lebende Unterhaltsberechtigte; OLG Hamm v. 2.4.1990 – 3 WF 475/89, FamRZ 1990, 1137; wg. weiterer Einzelheiten s. Rn. 681 ff. 3 BGH v. 13.7.1971 – VI ZR 260/69, NJW 1971, 2069 (2070) für den Fall einer Ersatzhaftung eines Elternteils für den anderen. 4 BGH v. 23.2.1983 – IVb ZR 362/81, FamRZ 1983, 473 (474); BGH v. 4.6.1986 – IVb ZR 51/85, FamRZ 1987, 58 (60) im Fall eines auswärts studierenden Kindes von Eltern mit steuerpflichtigen Jahreseinkünften von rund 670 000 DM und einem Vermögen von rund 40 Millionen DM. Zugesprochen wurden statt der begehrten 2300 DM monatlich nur konkret ermittelte 1700 DM; s. aber auch AG Köln v. 16.8.2000 – 302 F 273/98, FamRZ 2002, 482 – Ausbildungsmehrbedarf von 7866 DM monatlich bei Studium in den USA.
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Kap. 6 B Rn. 479
Kindesunterhalt
und dessen Verbindlichkeiten mit einem Mindestbetrag in Ansatz gebracht werden konnte, sondern auch bei Unterschreiten seines Existenzminimums nach dem unterhaltsrelevanten Einkommen des Unterhaltspflichtigen zu ermitteln war1. Dies gilt, wie unter Rn. 449 dargelegt wurde, nach dem am 1.1.2008 in Kraft getretenen Unterhaltsrechtsänderungsgesetz nicht mehr, weshalb bestehende Unterhaltstitel mit niedrigeren Unterhaltsbeträgen als dem geltenden Mindestunterhalt entsprechend abgeändert werden können. c) Individueller Unterhalt und Pauschalierungen in Unterhaltstabellen 479
Die Bemessung des Kindesunterhalts nach den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Eltern findet ihren Niederschlag auch darin, dass der Unterhaltsbedarf minderjähriger und unverheirateter volljähriger Kinder, die noch bei ihren Eltern wohnen, idR nicht individuell, sondern, von dem jeweiligen bereinigten Nettoeinkommen des barunterhaltspflichtigen Elternteils oder auch beider Eltern ausgehend, pauschal unter Heranziehung von Unterhaltstabellen2 ermittelt wird. Diesen Tabellen kommt zwar keine einer Gesetzesnorm vergleichbare Verbindlichkeit zu, doch bieten sie für die meisten Fälle eine ausgewogene Verteilung der zur Befriedigung der Unterhaltsbedürfnisse verfügbaren Mittel an und stoßen dementsprechend auf eine hohe Akzeptanz. Denn sie stellen zusammen mit den ihnen beigegebenen Anmerkungen und Leitlinien für ihre Anwendung auf die gegebenen Lebensverhältnisse ab und entsprechen den Lebenserfahrungen. Gegen ihre Anwendung bestehen deshalb auch aus höchstrichterlicher Sicht keine Bedenken, soweit nicht im Einzelfall besondere Umstände eine Abweichung bedingen3.
Û
Wichtig: Diese besonderen Umstände wie zB ein über die Tabellenbeträge hinausgehender Bedarf müssen deshalb im Einzelnen dargelegt und ggf. bewiesen werden, wenn man eine Abweichung von den Tabellenbeträgen erreichen will4.
480
In ganz Deutschland werden inzwischen die Tabellensätze der Düsseldorfer Tabelle5 in Ansatz gebracht. Bei der Anwendung dieser Tabelle ist Folgendes zu beachten:
481
aa) Die Tabelle gibt denjenigen Geldbetrag an, den der barunterhaltspflichtige Elternteil als Teil des Gesamtunterhaltsbedarfs eines Kindes in 1 BGH v. 6.2.2002 – XII ZR 20/00, FamRZ 2002, 536 (541) = FamRB 2002, 132. 2 S. unter www.famrb.de. 3 BGH v. 20.1.1982 – IVb ZR 651/80, FamRZ 1982, 365 (366); BGH v. 13.10.1999 – XII ZR 16/98, FamRZ 2000, 358. 4 BGH v. 13.10.1999 – XII ZR 16/98, FamRZ 2000, 358 (359); OLG Frankfurt v. 2.6.1992 – 3 UF 23/92, FamRZ 1993, 98 (99). 5 Jew. aktuell unter www.famrb.de; die Anm. und Richtlinien zu der Tabelle werden von den anderen OLG dagegen in weiten Teilen nicht übernommen.
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Kindesunterhalt
Rn. 484
Kap. 6 B
dessen verschiedenen Altersstufen zu zahlen hat. Dabei wird vorausgesetzt, dass der andere Elternteil seinen Beitrag zum Unterhalt des Kindes durch die gem. § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB dem Barunterhalt grundsätzlich gleichwertige Pflege und Erziehung des Kindes erbringt. Auszugehen ist jeweils von dem bereinigten Nettoeinkommen des Bar- 482 unterhaltspflichtigen, sodann ist nach dem Alter der Kinder der ihnen zustehende Bedarfsbetrag abzulesen. Für die Einstufung eines Kindes in die jeweilige Altersgruppe kommt es bei minderjährigen Kindern gem. § 1612a Abs. 3 BGB auf den Beginn des Monats an, in dem das Kind das betreffende Lebensjahr vollendet hat, bei volljährigen Kindern mangels einer entsprechenden gesetzlichen Regelung auf den Tag des Eintritts der Volljährigkeit1. bb) Zugeschnitten ist die Tabelle auf eine getrenntlebende, dreiköpfige 483 Familie, in der der Unterhaltspflichtige den Barunterhalt für die gesamte Familie allein aufzubringen hat. Ein durch die Trennung der Familie bedingter Mehrbedarf ist also bei der Ermittlung des maßgeblichen Einkommens des Barunterhaltspflichtigen nicht in Abzug zu bringen. Einer größeren oder einer geringeren Anzahl Unterhaltsberechtigter wird durch die Einstufung in eine niedrigere oder höhere Einkommensgruppe oder auch den – allerdings wenig gebräuchlichen – Ansatz eines Zwischenbetrags Rechnung getragen2. Ist also nur einem Kind und nicht auch dem Ehegatten Unterhalt zu leisten, so ist eine Höherstufung um mindestens eine, eventuell auch zwei Einkommensgruppen vorzunehmen3. Umgekehrt ist bei einer Unterhaltspflicht gegenüber drei oder mehr Unterhaltsberechtigten eine Herabstufung um eine oder mehrere Einkommensgruppen vorzunehmen. Für die Praxis von erheblicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang 484 der in der Düsseldorfer Tabelle für die jeweilige Einkommensgruppe angegebene Bedarfskontrollbetrag. Er soll nämlich eine ausgewogene Verteilung des verfügbaren Einkommens zwischen dem Unterhaltspflichtigen und der unterhaltsberechtigten Restfamilie gewährleisten. Verbleibt dem Unterhaltspflichtigen rechnerisch nach Abzug des von ihm unter Berücksichtigung seiner Entlastung durch das hälftige Kindergeld tatsächlich zu zahlenden Kindesunterhalts und unter Einbeziehung auch des Ehegattenunterhalts weniger als dieser Bedarfskontrollbetrag, so ist der Unterhalt für die Kinder der nächstniedrigeren Gruppe, deren Bedarfskontrollbetrag nicht unterschritten wird, zu entnehmen. Das gilt auch in den Fällen ei1 BGH v. 24.2.1988 – IVb ZR 3/87, FamRZ 1988, 604 (605). 2 S. Anm. 1 zur Düsseldorfer Tabelle. 3 BGH v. 2.3.1994 – XII ZR 215/92, FamRZ 1994, 696; OLG Düsseldorf v. 16.9.1999 – 6 WF 135/99, FamRZ 2000, 1176. Die Höhergruppierung um bis zu drei Einkommensgruppen dürfte allerdings angesichts der seit dem 1.1.2009 vorgenommenen sehr viel größeren Einkommensspannweite in den einzelnen Gruppen ausscheiden – s. BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 (973) Nr. 51 = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173.
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Kap. 6 B Rn. 485
Kindesunterhalt
ner prinzipiellen Höhergruppierung, in denen dann der Bedarfskontrollbetrag derjenigen Einkommensgruppe gewahrt werden muss, der der Unterhalt letzten Endes entnommen werden soll. 485
Der Bedarfskontrollbetrag ist von dem BGH1 als ein denkbares Instrument der dem tatrichterlichen Ermessen überlassenen Angemessenheitskontrolle anerkannt worden, wird aber nicht von allen Oberlandesgerichten übernommen2. Die Rechtslage in dem jeweiligen OLG-Bezirk, in dem die Beteiligten leben, muss deshalb stets überprüft werden. Allerdings behalten sich auch diese Oberlandesgerichte durchweg eine Angemessenheitsprüfung in jedem Einzelfall vor. Diese wird dann entsprechend der Funktion des Bedarfskontrollbetrags insbesondere darauf ausgerichtet sein müssen, ob die Aufteilung der verfügbaren Mittel auf die minderjährigen Kinder einerseits und den getrenntlebenden oder geschiedenen Ehegatten andererseits insgesamt angemessen und billig ist3. Im Ergebnis wird auf diese Weise allerdings die strenge Rangfolgeregelung des § 1609 BGB mit dem Vorrang minderjähriger unverheirateter Kinder und der gem. § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB privilegiert Volljährigen wieder aufgeweicht4, doch müssten die vorrangigen Kinder ja auch bei einem Zusammenleben mit ihren Eltern die vorhandenen Mittel mit ihnen teilen5. Andererseits führt an der Festlegung des Mindestunterhalts in § 1612a Abs. 1 BGB kein Weg vorbei, so dass den vorrangigen Kindern jedenfalls dieser Betrag vorab zugestanden werden muss und erst das danach noch verbleibende verfügbare Einkommen auf die Eltern unter Berücksichtigung des angemessenen Selbstbehalts des Unterhaltspflichtigen verteilt werden kann6.
486
cc) Das staatliche Kindergeld ist in den Tabellenbeträgen nicht enthalten, wird aber zur gleichmäßigen Entlastung beider Elternteile im Falle der Kindesbetreuung durch einen Elternteil gem. § 1612b Abs. 1 Nr. 1 BGB grundsätzlich zur Hälfte auf den Tabellenunterhalt angerechnet7. Bei volljährigen Kindern ist das Kindergeld dagegen gem. § 1612b Abs. 1 Nr. 2 BGB in voller Höhe vorrangig zur Bedarfsdeckung heranzuziehen und
1 BGH v. 19.7.2000 – XII ZR 161/98, FamRZ 2000, 1492 (1493), bestätigt durch BGH v. 17.9.2008 – XII ZR 72/06, FamRZ 2008, 2189 (2190) = FamRB 2008, 360. 2 Ausdrücklich verneinend zB OLG Frankfurt Nr. 11 seiner Unterhaltsleitlinien und OLG Naumburg in der Vorbem. zu seinen Leitlinien. 3 BGH v. 29.1.1992 – XII ZR 239/90, FamRZ 1992, 539 (541); BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 98/97, FamRZ 1999, 367 (370) für das Verhältnis Elementar- zu Altersvorsorgeunterhalt. 4 So schon Schwab, FamRZ 2005, 1417 (1423) und Borth, FamRZ 2006, 813 (817). 5 So mit Recht Gerhardt, FamRZ 2007, 778 (779) und Scholz, FamRZ 2007, 2021 (2028). 6 So wohl auch Scholz, FamRZ 2007, 2021 (2029) und auch BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 (973) = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173 sowie BGH v. 17.9.2008 – XII ZR 72/06, FamRZ 2008, 2189 (2191) = FamRB 2008, 360. 7 Ebenso schon § 1612b Abs. 1 aF BGB. Zu Einzelheiten s. Rn. 541 ff.
510
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 487
Kap. 6 B
dementsprechend an die Kinder auszuzahlen bzw. mit erbrachten Unterhaltsleistungen zu verrechnen1. dd) Die nachfolgenden Beispiele sollen die vorstehend dargelegten Grund- 487 sätze erläutern, wobei für die Unterhaltssätze von der Düsseldorfer Tabelle mit ihrem Stand v. 1.1.2011 und für den Ehegattenunterhalt von der den meisten Unterhaltstabellen zugrunde liegenden 3/7-Quote ausgegangen wird. Der gem. § 1609 Nr. 1 vorrangige Kindesunterhalt wird zur Ermittlung des bereinigten Einkommens des Unterhaltspflichtigen nicht mit dem Tabellenbetrag, sondern nur mit dem Zahlbetrag in Abzug gebracht2. Im Bereich derjenigen Oberlandesgerichte, die den Ehegattenunterhalt anders errechnen3, ist mit dem sich daraus ergebenden abweichenden Ehegattenunterhalt zu rechnen. Beispiele: (1) Der Unterhaltspflichtige verfügt über ein für die Berechnung des Unterhalts maßgebliches (bereinigtes) monatliches Nettoeinkommen von 2250 Euro und hat die getrenntlebende Ehefrau sowie ein Kind im Alter von sieben Jahren zu unterhalten. Der Tabellenbetrag für das Kind ist dementsprechend der Einkommensgruppe 3 der Düsseldorfer Tabelle zu entnehmen. Die Unterhaltsberechnung sieht dann wie folgt aus: Bereinigtes Nettoeinkommen Kind (7) 401 Euro – 92 Euro Rest Unterhalt Ehefrau: 3/7 × 1941 Euro Resteinkommen Bedarfskontrollbetrag (nicht gewahrt)
Mann 2250,00 Euro 309,00 Euro 1941,00 Euro 831,86 Euro 1109,14 Euro 1150,00 Euro
Frau
831,86 Euro
Infolgedessen ist der Kindesunterhalt der nächst niedrigeren Einkommensgruppe 2 zu entnehmen, weil dem Unterhaltspflichtigen deren Bedarfskontrollbetrag von 1050 Euro auch nach Zahlung der errechneten Unterhaltsbeträge verbleibt. Der zu zahlende Kindesunterhalt beläuft sich dann auf 291 Euro monatlich, der Ehegattenunterhalt auf 839,57 Euro. (2) Der Unterhaltspflichtige verfügt über ein für die Berechnung des Unterhalts maßgebliches (bereinigtes) monatliches Nettoeinkommen von 3250 Euro und hat die getrenntlebende Ehefrau sowie zwei Kinder im Alter von fünf und sieben Jahren zu unterhalten. Da nicht nur 2, sondern 3 Unterhaltsberechtigte vorhanden sind, ist der zu zahlende Kindesunterhalt nicht der Einkommensgruppe 6, sondern 1 So schon BGH v. 26.10.2005 – XII ZR 34/03, FamRZ 2006, 99 = FamRB 2006, 3, dessen Rspr. der Gesetzgeber in das UÄndG 2007 übernommen hat. 2 Für Minderjährigenunterhalt noch unklar BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 (973) = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173 einerseits und BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 (967) = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170 andererseits. Mit Urt. v. 27.5.2009 – XII ZR 78/08, FamRZ 2009, 1300 = FamRB 2009, 335, FamRB 2009, 270, FamRB 2009, 271 und FamRB 2009, 272, hat sich der BGH nun für den Abzug des Zahlbetrags entschieden. S. zB auch 15.2 SüdL. 3 Vor allem die OLG der Süddeutschen Leitlinien. Die familienrechtlichen Berechnungsprogramme, die die Unterhaltsberechnungen sehr erleichtern, erlauben die Einstellung der örtlichen Variablen. Vgl. etwa Hauß, ADVOexpert Familienrecht, Edition 26/2011.
Krenzler
511
Kap. 6 B Rn. 488
Kindesunterhalt
nur der Einkommensgruppe 5 der Düsseldorfer Tabelle zu entnehmen. Die Unterhaltsberechnung sieht dann wie folgt aus: Mann Frau Bereinigtes Nettoeinkommen 3250,00 Euro Kind 1 (5) 381 Euro – 92 Euro – 289,00 Euro Kind 2 (7) 437 Euro – 92 Euro – 345,00 Euro Rest 2616,00 Euro Unterhalt Ehefrau: 3/7 × 2616 Euro 1121,14 Euro 1121,14 Euro Resteinkommen 1494,86 Euro Bedarfskontrollbetrag (gewahrt) 1450,00 Euro (3) Der Unterhaltspflichtige verfügt über ein für die Berechnung des Unterhalts maßgebliches (bereinigtes) monatliches Nettoeinkommen von 2350 Euro und hat die getrenntlebende Ehefrau sowie 2 Kinder im Alter von 5 und 7 Jahren zu unterhalten. Wegen der wiederum 3 statt nur 2 Unterhaltsberechtigten ist der geschuldete Kindesunterhalt nicht der Einkommensgruppe 4, sondern der Einkommensgruppe 3 der Düsseldorfer Tabelle zu entnehmen. Die Unterhaltsberechnung stellt sich dann wie folgt dar: Mann Frau Bereinigtes Nettoeinkommen 2350,00 Euro Kind 1 (5) 349 Euro – 92 Euro – 257,00 Euro Kind 2 (7) 401 Euro – 92 Euro – 309,00 Euro Rest 1784,00 Euro 764,57 Euro 764,57 Euro Unterhalt Ehefrau: 3/7 × 1784 Euro Resteinkommen 1019,13 Euro Bedarfskontrollbetrag (nicht gewahrt) 1150,00 Euro Infolgedessen sind die Kindesunterhaltsbeträge nicht der 3., sondern nur noch der 1. Einkommensgruppe zu entnehmen, weil deren Bedarfskontrollbetrag von 950 Euro das dem Unterhaltspflichtigen nach Erfüllung seiner Unterhaltspflichten verbleibende Einkommen von 1019,13 Euro nicht übersteigt. Korrekturberechnung Bereinigtes Nettoeinkommen Kind 1 (5) 317 Euro – 92 Euro Kind 2 (7) 364 Euro – 92 Euro Rest Unterhalt Ehefrau: 3/7 × 1853 Euro Resteinkommen „Billiger Selbstbehalt“ bleibt gewahrt
488
2350,00 Euro – 225,00 Euro – 272,00 Euro 853,00 Euro 794,14 Euro 1058,85 Euro 1050,00 Euro
794,14 Euro
ee) Die Kosten der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung sind in den Tabellensätzen nicht enthalten, weil der Krankenversicherungsschutz im Regelfall durch den Anspruch des Unterhaltspflichtigen auf Familienhilfe gem. § 10 SGB V gedeckt ist. Bei Fehlen der Mitversicherung des Kindes mit dem Unterhaltspflichtigen wie zB bei Selbständigen und Beamten hat das Kind infolgedessen zusätzlich zum Tabellenunterhalt Anspruch auf Bezahlung des (privaten) Krankenversicherungsbeitrages1. Bei Ermittlung des unterhaltsrechtlich relevanten Nettoeinkommens des Unterhaltspflichtigen sind die Kosten der Krankenversicherung für das Kind infolgedessen vor Ermittlung der Tabellenbeträge in Abzug zu brin1 S. etwa Anm. 9 der Düsseldorfer Tabelle und Nr. 11.1 der unterhaltsrechtlichen Leitlinien der Familiensenate in Süddeutschland.
512
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 491
Kap. 6 B
gen1. Für eventuelle Studiengebühren, die in den Tabellensätzen ebenfalls nicht enthalten sind2, gilt das Gleiche. ff) Die Wohnkosten eines Kindes sind dagegen in den Tabellenbeträgen enthalten3, was jedoch nicht eine entsprechende Verminderung seines Tabellenunterhalts rechtfertigt, wenn es, wie idR, mit dem getrenntlebenden Elternteil in dessen Wohnung zusammen wohnt. Denn diese Wohnung wird von dem betreffenden Elternteil mit Rücksicht auf die Wohnbedürfnisse des Kindes größer gewählt worden sein als er sie allein für seine Wohnbedürfnisse ausgesucht hätte, weshalb ein kostenfreies Wohnen des Kindes nicht gegeben ist. Trägt der Unterhaltspflichtige allerdings seinerseits die Miete, was insbesondere dann vorkommen wird, wenn ein Elternteil zusammen mit den Kindern in der bisherigen ehelichen Wohnung verbleibt, dann ist – ebenso wie beim Ehegattenunterhalt – ein Abzug vom Tabellenunterhalt des Kindes gerechtfertigt. Denn in diesem Fall deckt der Unterhaltspflichtige den Wohnbedarf als Teil des gesamten Unterhaltbedarfs bereits durch die Zahlung der Miete4. Gleiches gilt selbstverständlich, wenn zB einem Kind mit eigenem Haushalt die Wohnung kostenfrei zur Verfügung gestellt wird.
489
Lebt ein Elternteil zusammen mit den Kindern in einer Eigentumswohnung oder einem eigenen Haus, so wird diesem Elternteil bei der Bemessung des Ehegattenunterhalts idR deren voller Wohnwert einschließlich des Wohnwertanteils des oder der Kinder zugerechnet werden, so dass sich sein Unterhaltsanspruch auch um den Wohnwertanteil der Kinder vermindert5. Dann kommt aber eine Kürzung auch des Kindesunterhalts um diesen Wohnwertanteil selbstverständlich nicht mehr in Betracht.
490
gg) Aufenthalte beim barunterhaltspflichtigen Elternteil berechtigen die- 491 sen nicht zur Kürzung des Tabellenunterhalts, und zwar auch dann nicht, wenn es sich um längere Ferienaufenthalte handelt6. Denn bei der Festlegung der Tabellensätze wird bereits dem Regelfall Rechnung getragen, dass der Unterhaltspflichtige sein Kind im Rahmen seines Umgangs-
1 So zB ausdrücklich Nr. 11.1 der Süddeutschen Leitlinien. 2 S. etwa Anm. 9 der Düsseldorfer Tabelle und Nr. 13.1.2 SüdL. 3 OLG Düsseldorf v. 5.8.1993 – 6 UF 148/92, FamRZ 1994, 1049 (1053) setzt 15 % an, was angesichts der hohen Wohnraumkosten und der seither deutlich erhöhten Tabellensätze nicht mehr gerechtfertigt ist. Vielmehr dürften 20 % bis zu 1/3 angemessen sein – bei Volljährigen gehen zB Anm. 7 der Düsseldorfer Tabelle und Nr. 13.1.2 der SüdL von einem Anteil von 42 % inkl. Nebenkosten aus. 4 OLG Düsseldorf v. 5.8.1993 – 6 UF 148/92, FamRZ 1994, 1049 (1053); ebenso für den Fall, dass der Unterhaltsbedürftige die Finanzierungslasten für das elterliche Haus, in dem der unterhaltspflichtige Sohn lebt, allein trägt BGH v. 17.12.2008 – XII ZR 63/07, FamRZ 2009, 404 (405) = FamRB 2009, 103 und FamRB 2009, 104. 5 ZT anders OLG München v. 23.10.1997 – 12 UF 1218/97, FamRZ 1998, 824. 6 BGH v. 8.2.1984 – IVb ZR 52/82, FamRZ 1984, 470 und BGH v. 21.12.2005 – XII ZR 126/03, FamRZ 2006, 1015 ff., 1017 = FamRB 2006, 232.
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Kap. 6 B Rn. 492
Kindesunterhalt
rechts zu sich nimmt und in dieser Zeit seinen Unterhalt in natura bestreitet. Dem unterhaltspflichtigen Elternteil ist in diesem Zusammenhang zu bedenken zu geben, dass die fixen Kosten für das Kind wie insbesondere die Wohnkosten, aber auch die Kosten für die Kleidung, Schulbücher und Ähnliches weiterlaufen. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn sich die Eltern in der Betreuung des Kindes abwechseln, so dass jeder von ihnen etwa die Hälfte der Versorgungs- und Erziehungsaufgaben wahrnimmt. In solchen Fällen kommt dann auch eine anteilige Barunterhaltspflicht beider Eltern in Betracht, wobei der Bedarf des Kindes dann allerdings auch aus den zusammengerechneten Einkünften der Eltern zu bestimmen ist1. 492
hh) (1) Die Unterhaltsbeträge der 4. Altersstufe bauen auf denjenigen der vorangehenden Altersstufen auf, obwohl mit Eintritt der Volljährigkeit eines Kindes der dem Barunterhalt gem. § 1606 Ab. 3 S. 2 BGB gleichwertige Betreuungsunterhalt entfällt (s. dazu Rn. 465 und Rn. 602), die Tabellensätze aber auf der Zweiteilung von Betreuungsunterhalt einerseits und Barunterhalt andererseits beruhen. Gerechtfertigt wird dies damit, dass die Unterhaltsbeträge der 4. Altersstufe nur für volljährige Kinder einschließlich der privilegiert volljährigen Kinder gelten, die noch im Haushalt der Eltern oder eines Elternteils leben2. Der Barunterhaltsbedarf dieser Kinder verändert sich aber bei einer Fortsetzung ihres bisherigen Zusammenlebens mit einem Elternteil ab Eintritt der Volljährigkeit gegenüber demjenigen von Kindern im Alter von 12 bis 17 Jahren nicht derart, dass er nunmehr dem Unterhaltsbedarf eines Kindes mit eigenem Haushalt gleichzusetzen wäre. Andererseits ist anzuerkennen, dass volljährige Kinder, auch wenn sie noch bei einem Elternteil wohnen, als nunmehr Erwachsene einen gegenüber der 3. Altersgruppe nochmals – maßvoll – erhöhten finanziellen Bedarf haben, und zwar auch die privilegiert volljährigen Kinder3. Die meisten Oberlandesgerichte wenden deshalb die Tabellensätze der 4. Altersstufe der Düsseldorfer Tabelle an, was vor dem Hintergrund der vorstehend angestellten Erwägungen in allen den Fällen zu überzeugenden Ergebnissen führt, in denen weiterhin nur ein Elternteil barunterhaltspflichtig ist und deshalb bei der Bemessung des Kindesunterhalts auch nur auf sein Einkommen abgestellt wird.
1 BGH v. 21.12.2005 – XII ZR 126/03, FamRZ 2006, 1015 = FamRB 2006, 232; BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 161/04, FamRZ 2007, 707 = FamRB 2007, 163 hat eine Aufteilung der Betreuungsleistungen im Verhältnis 36 % (Vater) zu 64 % noch nicht als Wechselmodell mit im Wesentlichen gleichen Anteilen angesehen. Zum sog. Nest- oder Wechselmodell s. Kap. 5 Rn. 130 ff. 2 S. Anm. Nr. 7 zur Düsseldorfer Tabelle, Ziff. 13.1.1 der Süddeutschen Leitlinien ua. 3 Den Unterhalt für die privilegiert volljährigen Kinder weiterhin der 3. Altersstufe zu entnehmen, wie dies das OLG Oldenburg im Gegensatz zu den nicht privilegiert volljährigen Kindern in Ziff. 13.1.1 seiner Leitlinien für richtig hält, erscheint deshalb nicht als gerechtfertigt.
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Kindesunterhalt
Rn. 495
Kap. 6 B
Generell werden allerdings mit Eintritt der Volljährigkeit eines Kindes 493 beide Eltern bar- unterhaltspflichtig, und für die Bemessung des Kindesunterhalts ist dann auch – mit Modifikationen – auf die zusammengerechneten Nettoeinkünfte beider Eltern abzustellen (s. dazu Rn. 465 sowie zur Berechnung im Einzelnen Rn. 611 ff.). Dies kann zu – systemwidrigen – Sprüngen in den Bedarfssätzen führen, die durch die Begrenzung der Unterhaltspflicht eines jeden Elternteils auf denjenigen Tabellenbetrag, den er nach seinen eigenen Einkünften höchstens zu zahlen hätte (s. dazu Rn. 468), zwar nicht aufgehoben, aber doch wenigsten aufgefangen werden. Auch die Höherstufungen wegen einer geringeren Zahl als zwei Unterhaltsberechtigten (s. dazu Rn. 483) kommen in diesen Fällen regelmäßig nicht in Betracht1. (2) Für volljährige Kinder mit eigenem Haushalt, also vor allem auswärts 494 in Ausbildung befindliche Kinder, sehen die Leitlinien aller Oberlandesgerichte feste, an den BAföG-Sätzen orientierte Bedarfsbeträge vor2. Ob diese angesichts der hohen Wohnkosten in vielen Studienorten als ausreichend angesehen werden können, erscheint zweifelhaft3. Wenn aus diesem Grunde nicht privilegierte volljährige Kinder ihre Ausbildung oft am Wohnort ihrer Eltern oder jedenfalls nicht allzu weit davon entfernt absolvieren und weiterhin zu Hause wohnen, wird man den Tabellenbeträgen eventuell noch besondere Bedarfspositionen wie Fahrten zum Studienort, Ausbildungsliteratur, auswärtiges Essen und Ähnliches hinzuschlagen müssen, weil sie nicht darin enthalten sind.
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Wichtig: Andererseits wird man im Auge behalten müssen, dass in den Tabellenbeträgen bereits ein Wohnkostenanteil von gut 40 % enthalten ist und das volljährige, bei einem Elternteil kostenfrei wohnende Kind deshalb nur die Zahlung eines entsprechend gekürzten Unterhalts verlangen kann.
d) Aus- und Weiterbildung Zum Lebensbedarf eines Kindes gehören gem. § 1610 Abs. 2 BGB auch 495 die „Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf, bei einer der Erziehung bedürftigen Person auch die Kosten der Erziehung“. Das gilt ohne Einschränkung sowohl gegenüber Minderjährigen als auch gegenüber volljährigen Kindern. Kosten i.S.d. Vorschrift sind zB die konkret anfallenden Ausgaben für Nachhilfeunterricht oder den Besuch einer Privatschule, aber auch diejenigen für Lehrmaterial, Ausbildungskurse oder 1 BGH v. 6.11.1985 – IVb ZR 45/84, FamRZ 1986, 151 (152). 2 S. zB Anm. A 7 Abs. 1 zur Düsseldorfer Tabelle und Nr. 13.1.2 der SüdL – 670 Euro. Studiengebühren sind darin nicht enthalten – OLG Zweibrücken v. 23.12.2008 – 11 UF 519/08, FamRZ 2009, 204 = FamRB 2009, 204. 3 Bei einem übereinstimmenden Bedarfssatz von 670 Euro weisen die meisten Oberlandesgerichte 280 Euro für Warmmiete als Wohnkostenanteil aus.
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Kap. 6 B Rn. 496
Kindesunterhalt
eine auswärtige Unterbringung. Vor allem geht es dabei aber natürlich auch um die Kosten für den laufenden Unterhalt eines Kindes, den die Eltern während seiner Ausbildung trotz gelegentlich schon recht hoher Ausbildungsvergütungen nach wie vor zu tragen haben werden1. Im Einzelnen gilt insoweit Folgendes: aa) Ausbildungsanspruch 496
(1) Eine „angemessene“ Vorbildung zu einem Beruf i.S.d. § 1610 Abs. 2 BGB ist eine solche, die der Begabung und den Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtenswerten Neigungen eines Kindes am besten entspricht und sich in den Grenzen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern hält2. In diesem Spannungsfeld zwischen dem Ausbildungsanspruch eines Kindes und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit seiner Eltern kommt der in § 1618a BGB normierten gegenseitigen Pflicht zu Beistand und Rücksichtnahme (Gegenseitigkeitsprinzip) eine erhebliche Bedeutung zu. Bei minderjährigen Kindern schlägt sich dies darin nieder, dass ihre Eltern in Angelegenheiten der Ausbildung und des Berufes gem. § 1631a S. 1 BGB nicht nur auf die Eignung und Neigung des Kindes Rücksicht zu nehmen, sondern Ausbildungs- und Berufswahlfragen gem. § 1626 Abs. 2 BGB entsprechend dem Entwicklungsstand der Kinder mit ihnen zu besprechen haben. Bei der letzten Endes von den Eltern zu treffenden Entscheidung dürfen dann zwar auch andere Gesichtspunkte als die Eignung und Neigung des Kindes, dh. insbesondere auch Kostenüberlegungen, eine Rolle spielen, doch sollten immer erst die Möglichkeiten einer öffentlichen Ausbildungsförderung3 geprüft werden, ehe einem Kind aus Kostengründen ein Ausbildungswunsch versagt wird.
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(2) Volljährige Kinder treffen ihre Ausbildungsentscheidung zwar in eigener Verantwortung4, sind jedoch aufgrund des Gegenseitigkeitsprinzips ebenfalls gehalten, ihren Ausbildungswunsch mit den Eltern zu besprechen und auf deren wirtschaftliche Lage Rücksicht zu nehmen5. Dies schon in eigenem Interesse, sind seine Eltern doch nicht verpflichtet, jede beliebige, von ihm gewählte Ausbildung zu finanzieren.
1 Zur Anrechnung der Ausbildungsvergütung auf den Unterhaltsanspruch eines Kindes s. Rn. 528. 2 BGH v. 17.5.2006 – XII ZR 54/04, FamRZ 2006, 1100. 3 Für Auszubildende im beruflichen Bereich s. §§ 59 ff. SGB III und für den Besuch weiterführender allgemeinbildender Schulen, Fachoberschulen, Abendschulen und Hochschulen das Bundesgesetz über die individuelle Förderung der Ausbildung (BAföG). 4 BGH v. 20.3.1996 – XII ZR 45/95, FamRZ 1996, 798. 5 OLG Hamm v. 30.10.1980 – 7 UF 275/80, FamRZ 1981, 490 scheint aus einer Verletzung dieser Obliegenheit sogar einen Verlust des Unterhaltsanspruchs herleiten zu wollen.
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Kindesunterhalt
Rn. 499
Kap. 6 B
So erwirbt ein Kind mit dem Abitur nicht automatisch einen Anspruch 498 auf Finanzierung eines anschließenden Studiums1, und zwar auch dann nicht, wenn seine Eltern ebenfalls Akademiker sind. Vielmehr kommt es auch dann ausschließlich auf die Begabung und den Leistungswillen des Kindes, nicht dagegen auf die gesellschaftliche oder berufliche Stellung der Eltern an2. Ebenso wenig müssen Eltern eine Ausbildung finanzieren, die nicht auf ein konkretes Berufsziel ausgerichtet ist, also kein sog. Parkstudium3, und auch kein Studium „ins Blaue hinein“4. Auch muss das angestrebte Berufsziel grundsätzlich geeignet sein, dem Kind nach Ausbildungsende das Bestreiten des eigenen Lebensunterhalts zu ermöglichen. Dies kann insbesondere bei der Wahl exotischer Berufsziele zu Problemen führen5, zumal schlechte Berufsaussichten die Versagung von Unterhalt für einen von dem Kind gewählten Ausbildungsgang nicht rechtfertigen. Denn zum einen können heutzutage sichere Prognosen weniger denn je gestellt werden, und zum anderen kann ein erlernter Beruf auch die Grundlage für eine Tätigkeit auf einem anderen Gebiet sein6. Dass andererseits nur die Kosten einer Ausbildung zu einem staatlich anerkannten Beruf zu tragen sein sollen7, erscheint angesichts der schnellen Entstehung und der Vielfalt neuer Berufsbilder nicht haltbar. (3) Aus dem Gegenseitigkeitsprinzip ergibt sich für das Kind die Oblie- 499 genheit, sich schon vor Erreichen eines bevorstehenden Abschlusses wie zB der Schulausbildung um einen zeitnahen Beginn des nächsten Ausbildungsabschnittes, also zB eine Lehrstelle oder einen Studienplatz, zu kümmern. Auch hat das Kind eine einmal begonnene Ausbildung zielstrebig und pflichtbewusst zu betreiben und in angemessener und üblicher Zeit zu beenden. Verletzt ein Kind diese Pflichten nachhaltig, so verliert es seinen Unterhaltsanspruch, ohne dass die Voraussetzungen für eine Verwirkung i.S.d. § 1611 Abs. 1 BGB vorliegen müssten, und zwar selbst dann, wenn es überhaupt noch keine abgeschlossene Ausbildung durchlaufen hat8. Das Kind ist dann gehalten, seinen Unterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sicherzustellen, wobei an seine Bedürftigkeit ähn-
1 2 3 4 5
BGH v. 14.7.1999 – XII ZR 230/97, FamRZ 2000, 420 (422). BGH v. 10.12.1980 – IVb ZR 546/80, FamRZ 1981, 344 (345). OLG Koblenz v. 7.8.1990 – 11 WF 655/90, FamRZ 1991, 108. OLG Stuttgart v. 16.3.1979 – 15 UF 198 u. 245/78, NJW 1979, 1166. OLG Stuttgart v. 1.12.1987 – 17 WF 434/87, FamRZ 1988, 758 – Komponist; zu denken ist aber auch an Kunstmaler, Schriftsteller und Ähnliches. 6 MüKoBGB/Born § 1610 BGB Rn. 219. 7 MüKoBGB/Born § 1610 BGB Rn. 215. 8 BGH v. 4.3.1998 – XII ZR 173/96, FamRZ 1998, 671 im Fall eines Sohnes, der erst mit der Volljährigkeit die Mittlere Reife erworben, nach einem Schulwechsel ohne Abitur vom Gymnasium abgegangen war und auch die folgende Zeit von fast eineinhalb Jahren bis zum Zivildienst ohne klare Planung hatte verstreichen lassen; kein Verlust des Ausbildungsunterhalts jedoch bei verzögerter Ausbildung infolge Schwangerschaft und anschließender dreijähriger Kindesbetreuung, BGH v. 29.6.2011 – XII ZR 127/09 FamRZ 2011, 1560 = FamRB 2011, 300.
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Kap. 6 B Rn. 500
Kindesunterhalt
lich strenge Maßstäbe wie für einen barunterhaltspflichtigen Elternteil im Verhältnis zu einem minderjährigen Kind anzulegen sind1. 500
Zur Überprüfung der Ausbildungsbemühungen ihrer Kinder stehen den Eltern nach Treu und Glauben Auskunftsrechte zu, mit denen Informationspflichten ihrer Kinder korrespondieren. Verweigert also ein Kind seinen Eltern die von ihm erbetene Auskunft über den Stand seiner Ausbildung und deren voraussichtlichen Abschluss und/oder die Vorlage von Belegen hierüber, steht den Eltern jedenfalls ein Zurückbehaltungsrecht am Unterhalt zu, weil es dann an dem geschuldeten Nachweis für das ordnungsgemäße Betreiben der Ausbildung fehlt2.
501
(4) Erfüllt ein Kind seine vorstehend dargelegten Obliegenheiten, sind seine Eltern bis an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zur Unterhaltsleistung verpflichtet. Bei volljährigen, nicht gem. § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB privilegierten Kindern bedeutet das allerdings – insbesondere bei studierenden Kindern – nicht, dass ihr Ausbildungsunterhalt regelmäßig in voller Höhe von den Eltern gedeckt werden könnte. Vielmehr wird sich insbesondere bei Vorhandensein vorrangiger Minderjähriger oder privilegiert volljähriger Geschwister oder auch mehrerer gleichrangiger Geschwister trotz des relativ geringen Selbstbehalts der Eltern3 häufig zumindest eine Finanzierungslücke ergeben, die dann in erster Linie mit Hilfe der öffentlichen Ausbildungsförderung zu schließen versucht werden sollte4. Das unterhaltsberechtigte Kind trifft insoweit sogar eine Obliegenheit, seine Unterhaltsbedürftigkeit mit Hilfe öffentlicher Förderungsmittel zu verringern5. Auch gebietet es das Gegenseitigkeitsprinzip, in solchen Fällen Einsparungsmöglichkeiten zB durch die Wahl des Ausbildungsortes oder auch einer kostengünstigeren Ausbildungsalternative auszuschöpfen. Ebenso kann ein Student, der im Haushalt eines Elternteils lebt, von dem auf Unterhalt in Anspruch genommenen anderen Elternteil darauf verwiesen werden, an den Studienort umzuziehen, wenn hohe Fahrtkosten zum Studienort anfallen und dem Interesse des auf Unterhalt in Anspruch genommenen Elternteils, seine Belastung in Grenzen zu halten, keine gewichtigen, gegen einen Umzug sprechenden Belange des Studenten gegenüberstehen6. 1 BGH v. 11.2.1987 – IVb ZR 23/86, FamRZ 1987, 470 (471) im Fall eines „Bummelstudiums“ und BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 14/84, FamRZ 1985, 1245. 2 BGH v. 11.2.1987 – IVb ZR 23/86, FamRZ 1987, 470 (472); OLG Brandenburg v. 18.1.2011 – 10 UF 161/10, FamRZ 2011, 1067 (1069) = FamRB 2011, 136; eine ungefragte Pflicht zur Information bei drohender Studienzeitverlängerung nimmt OLG Düsseldorf v. 19.5.1999 – 4 UF 278/98, FuR 2000, 38 an. 3 Nach Anm. Nr. 5 der Düsseldorfer Tabelle 1100 Euro. 4 Wegen hoher Freibeträge kommen wenigstens Teilleistungen nach dem BAföG auch noch bei beachtlichen Einkünften der Eltern in Betracht. 5 BGH v. 19.6.1985 – IVb ZR 30/84, FamRZ 1985, 916; wegen Einzelheiten s. Rn. 556 f. 6 BGH v. 21.1.2009 – XII ZR 54/06, FamRZ 2009, 764 = FamRB 2009, 172 und FamRB 2009, 173.
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Kindesunterhalt
Rn. 505
Kap. 6 B
(5) Kommt es zu Abweichungen von dem geplanten Ausbildungsgang, also zu Verzögerungen oder Unterbrechungen, aber auch Ausbildungswechseln, Weiterbildungswünschen oder einer Zweitausbildung, so stellt sich nicht mehr nur die Frage nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern, sondern auch nach der Zumutbarkeit ihrer fortbestehenden Unterhaltspflicht1. Diese ist dann unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Gründe für die Abweichungen von dem geplanten Ausbildungsgang einerseits und der wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern sowie ihrer berechtigten Erwartungen hinsichtlich eines Endes ihrer Unterhaltslast andererseits zu beantworten (zu Einzelheiten s. Rn. 508 ff.).
502
bb) Ausbildungsgang (1) Die Kosten einer weiterführenden Schule im Anschluss an die Grund- 503 und/oder Hauptschule sind zu tragen, wenn das Kind über die erforderliche Begabung und den notwendigen Leistungswillen verfügt. Dabei werden die Zeugnisse im Regelfall als ausreichendes Indiz für das geistige Leistungsvermögen eines Kindes herangezogen werden können. Das gilt auch für den weiteren Ausbildungsgang nach dem Abitur2. Andererseits kann auch nach einem Scheitern des Kindes in der Hauptschule der Wechsel zu einer anderen Schule gerechtfertigt sein. Beruhen die unzureichenden Leistungen des Kindes allerdings auf einer Verweigerungshaltung, muss die Ausbildung abgebrochen und der Unterhalt durch ungelernte Arbeit sichergestellt werden3. Alternativ kommt dann natürlich bei vorhandener Leistungsbereitschaft ein Anspruch auf eine praktische Berufsausbildung in Betracht. Die Kosten von Nachhilfeunterricht können jedenfalls dann als Sonder- 504 bedarf zu qualifizieren und deshalb zusätzlich zum laufenden Unterhalt zu tragen sein, wenn sie zur Behebung einer vorübergehenden Lernschwäche dienen. Ist das Kind dagegen ständig auf Nachhilfe angewiesen, sind die dadurch entstehenden Kosten als Mehrbedarf bereits bei der Bemessung des laufenden Unterhalts zu berücksichtigen und können deshalb nicht gesondert erstattet verlangt werden4. Allerdings stellt sich in einem solchen Fall sicherlich auch die Frage eines Schulwechsels, die dann von dem oder den Sorgeberechtigten zu entscheiden ist. Die Kosten einer Privatschule oder eines Internats können zum Unter- 505 haltsbedarf eines Kindes gehören, wenn der Besuch für die Förderung des Kindes erforderlich ist und die wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern
1 S. etwa BGH v. 23.10.1991 – XII ZR 174/90, FamRZ 1992, 170 für den Ausbildungsgang Abitur – Lehre – Studium. 2 BGH v. 14.7.1999 – XII ZR 230/97, FamRZ 2000, 420 (421). 3 OLG Hamm v. 4.12.1996 – 8 UF 250/96, FamRZ 1997, 695. 4 Zur Abgrenzung von Sonderbedarf und Mehrbedarf s. Rn. 451 f.
Krenzler
519
Kap. 6 B Rn. 506
Kindesunterhalt
die Übernahme der Kosten erlauben1. Haben die Eltern gemeinsam das Sorgerecht für das Kind, gehört die Entscheidung hierüber zweifellos zu den von den Eltern auch gemeinsam zu entscheidenden Fragen. Erzielen die Eltern Einvernehmen, werden sie die dadurch ausgelösten Mehrkosten auch gemeinsam tragen müssen, und zwar trotz des Grundsatzes der Gleichwertigkeit von Betreuungs- und Barunterhalt auch derjenige Elternteil, der das Kind bislang betreut hat und bei Aufenthalten zu Hause auch weiterhin betreut2. Denn auch wenn der betreuende Elternteil mangels eigener Einkünfte keinen unmittelbaren finanziellen Beitrag zu den Kosten leisten kann und deshalb die Mehrkosten allein von dem barunterhaltspflichtigen Elternteil zu tragen sind, wird der betreuende Elternteil durch den Vorwegabzug des Kindesunterhalts bei der Bemessung des Ehegattenunterhalts (s. dazu Rn. 1091 ff.) doch indirekt die Mehrkosten mittragen. Diesen unterhaltsrechtlichen Effekt wird auch ein allein sorgeberechtigter Elternteil zu bedenken haben, wenn er das von ihm betreute Kind eine Privatschule oder ein Internat besuchen lassen will. Denn seine diesbezügliche Entscheidung ist für den nicht sorgeberechtigten barunterhaltspflichtigen Elternteil zwar bindend und im Streit um den Kindesunterhalt auch grundsätzlich nicht überprüfbar, sondern nur gem. § 1666 BGB korrigierbar3, hat aber jedenfalls auf der Elternebene die beschriebene unterhaltsrechtliche Wirkung. Hinzu kommt, dass die Mehrkosten von dem sorgeberechtigten Elternteil allein zu tragen sind, wenn es an der Erforderlichkeit des Kosten auslösenden Schulbesuchs fehlt oder Alternativen mit geringeren Kosten bestehen4. 506
(2) Mit dem Abitur erwirbt das Kind nicht automatisch einen Anspruch auf Finanzierung eines anschließenden Studiums; vielmehr sind auch hier Begabung und Leistungswille des Kindes unter Berücksichtigung von Zeugnis einerseits und Studienfach andererseits maßgeblich, wobei für die Beurteilung regelmäßig auf die Gegebenheiten bei Beginn der Ausbildung abzustellen ist. Ausnahmen können bei sog. Spätentwicklern in Betracht kommen, bei denen auch auf das Ende der Erstausbildung oder den Beginn der Zweitausbildung abgestellt werden kann5. Im Übrigen besteht der Unterhaltsanspruch bei einem Studium auch nur für die Zeit der üblichen Ausbildungsdauer, wobei als Maßstab für die „Üblichkeit“ die Höchstförderungsdauer nach § 15a BAföG dienen kann6. Innerhalb dieses 1 BGH v. 3.11.1982 – IVb ZR 324/81, FamRZ 1983, 48; OLG Hamm v. 25.3.1997 – 12 WF 59/97, FamRZ 1997, 960. 2 OLG Nürnberg v. 21.10.1992 – 10 WF 2533/92, FamRZ 1993, 837 will die Barunterhaltspflicht des betreuenden Elternteils vom Umfang seiner ihm verbleibenden Betreuungsleistungen abhängig machen. 3 BGH v. 3.11.1982 – IVb ZR 324/81, FamRZ 1983, 48. 4 BGH v. 3.11.1982 – IVb ZR 324/81, FamRZ 1983, 48 (49). 5 BGH v. 14.7.1999 – XII ZR 230/97, FamRZ 2000, 420 (422); OLG Koblenz v. 7.8.1990 – 11 WF 655/90, FamRZ 1991, 108 hat die Eignung zum Studium der Wirtschaftswissenschaften bei einem Kind mit durchschnittlichem Abitur und der durchgehenden Note „mangelhaft“ im Fach Mathematik verneint. 6 OLG Hamm v. 18.8.1993 – 5 UF 82/93, FamRZ 1994, 387 (388).
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Kindesunterhalt
Rn. 509
Kap. 6 B
Rahmens müssen Verzögerungen aufgrund eines vorübergehenden leichten Versagens des Kindes ebenso hingenommen werden1 wie die nicht rechtzeitige Absolvierung einer vorgeschriebenen Zwischenprüfung, wenn ein späteres Ablegen der Zwischenprüfung durchaus üblich ist und der ordnungsgemäße Studienabschluss innerhalb angemessener und üblicher Zeit noch möglich bleibt. Auch ist uU ein vorübergehender Wechsel ins Ausland vom Unterhaltspflichtigen hinzunehmen und der daraus resultierende erhöhte Unterhaltsbedarf unter der Voraussetzung einer hinreichenden Leistungsfähigkeit zu tragen, wenn der ordnungsgemäße Abschluss des Studiums innerhalb einer angemessenen Frist durch den Auslandsaufenthalt nicht gefährdet wird2. Nach einer nicht bestandenen Zwischen- oder Abschlussprüfung wird einem Studenten regelmäßig ein Wiederholungsversuch zugestanden werden müssen, bevor eine fehlende Eignung angenommen werden kann. Nach dem Abschluss des Studiums besteht die Unterhaltspflicht der Eltern während der Arbeitsplatzsuche des Kindes noch für die Dauer von ca. drei Monaten fort3. Findet das Kind in dieser Zeit keinen Arbeitsplatz, muss es sich auch auf ausbildungsfremde oder unterqualifizierte Tätigkeiten verweisen lassen, trägt also aufgrund seiner nunmehr eintretenden Eigenverantwortlichkeit das Arbeitsplatzrisiko selbst.
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(3) Einen Ausbildungswechsel, dh. einen Abbruch der zuerst aufgenom- 508 menen Ausbildung und die Aufnahme eines anderen Ausbildungsgangs, muss der Unterhaltspflichtige jedenfalls während einer dem Auszubildenden zuzubilligenden Orientierungsphase hinnehmen. Deren Dauer hängt von den Umständen des Einzelfalles ab, wobei jedoch der gewählte Ausbildungsgang und der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle spielen. So wird man bei einer Lehrzeit von drei Jahren eine Orientierungsphase von höchstens einem Jahr, bei einem Studium von zwei bis drei Semestern, eventuell aber auch bis zu einer ersten Zwischenprüfung akzeptieren müssen4. Unabhängig davon ist ein Ausbildungswechsel auch dann als gerechtfertigt anzusehen, wenn
1 BGH v. 14.7.1999 – XII ZR 230/97 FamRZ 2000, 420. 2 BGH v. 26.2.1992 – XII ZR 97/91, 420 (421), FamRZ 1992, 1064 für den Fall zweier Auslandssemester in Genf bei einer Jurastudentin; AG Köln v. 16.8.2000 – 302 F 273/98, FamRZ 2002, 482 für ein Studium in den USA mit einem Ausbildungsmehrbedarf von 7866 DM monatlich. 3 OLG Hamm v. 9.8.1989 – 10 WF 29/89, FamRZ 1990, 904. 4 In einer schon älteren Entscheidung des BGH v. 10.12.1980 – IVb ZR 546/80, FamRZ 1981, 344 (346) hat der BGH einen Ausbildungswechsel nach einer Zeit von 3/4 Jahr im Vorbereitungsdienst für die gehobene Beamtenlaufbahn, den das Kind aufgrund eines bloßen Sinneswandels ohne triftige Gründe vorgenommen hatte, um ein Hochschulstudium aufzunehmen, nicht als gerechtfertigt angesehen und eine Pflicht der Eltern zur Finanzierung des Hochschulstudiums verneint.
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Kap. 6 B Rn. 510
Kindesunterhalt
– gesundheitliche Gründe vorliegen1, – der zunächst erlernte Beruf keine ausreichende Lebensgrundlage bietet, dies aber bei Aufnahme der Ausbildung nicht vorhersehbar war oder – die Wahl der ersten Ausbildung auf einer deutlichen Fehleinschätzung der Begabung des Kindes beruht oder die Eltern das Kind gegen seinen Willen in einen seiner Begabung nicht entsprechenden Beruf gedrängt haben2; dem steht es gleich, wenn dem Kind die Finanzierung einer angemessenen Ausbildung verweigert worden ist und es sich aus diesem Grunde zunächst für einen Beruf entschieden hat, der seiner Begabung und seinen Neigungen nicht entsprach3. cc) Weiterbildung 510
(1) Eltern schulden ihren Kindern – von noch zu erörternden Ausnahmen abgesehen4 – nur die Finanzierung einer Erstausbildung. Ist diese abgeschlossen, erlischt ihre Unterhaltspflicht nach einer Übergangsphase von zwei bis drei Monaten, die den Kindern noch für die Suche nach einem Arbeitsplatz zugestanden wird. Denn sie haben ihre Unterhaltspflicht dann in ausreichendem Maße erfüllt5.
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Unter einer Erstausbildung ist allerdings nicht diejenige zu verstehen, die als Erste formal abgeschlossen worden ist und zur Ausübung eines Berufs befähigt, sondern nur diejenige, die auch zu einer Ausschöpfung der Begabungen und Fähigkeiten des Kindes geführt hat. Tritt also erst während des ersten Ausbildungsschrittes eine besondere Begabung des Kindes hervor oder ist der erste Ausbildungsschritt sogar nur Teil einer von vornherein angestrebten weiteren Ausbildung, so kann die Pflicht der Eltern zur Finanzierung einer Erstausbildung ihres Kindes noch nicht als erfüllt angesehen werden. Vielmehr bleiben sie dann auch während der weiteren Ausbildungsschritte ihres Kindes zur Unterhaltsleistung verpflichtet, wenn die verschiedenen Ausbildungsabschnitte in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zueinander stehen, also lediglich der Weiterbildung des Kindes dienen, und die Finanzierung des Ausbildungsganges den Eltern wirtschaftlich zumutbar ist6.
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Ein solcher sachlicher Zusammenhang ist dann zu bejahen, wenn die verschiedenen Ausbildungsabschnitte in einem fachlichen Zusammenhang 1 Beispiele für einen Ausbildungswechsel aus gesundheitlichen Gründen sind Allergien bei einer Lehre als Friseuse oder als Bäcker – OLG Karlsruhe v. 17.10.1989 – 18 UF 37/89, FamRZ 1990, 555. 2 BGH v. 17.5.2006 – XII ZR 54/04, FamRZ 2006, 1100 = FamRB 2006, 263. 3 BGH v. 24.10.1990 – XII ZR 124/89, FamRZ 1991, 322 (323). 4 S. dazu Rn. 517 „Zweitausbildung“. 5 BGH v. 7.6.1989 – IVb ZR 51/88, FamRZ 1989, 853. 6 BGH v. 10.10.1990 – XII ZR 111/89, FamRZ 1991, 320 und BGH v. 17.5.2006 – XII ZR 54/04, FamRZ 2006, 1100 = FamRB 2006, 263.
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Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 513
Kap. 6 B
stehen, also derselben Berufssparte angehören oder sich als eine fachliche Vorbereitung, Ergänzung, Weiterführung oder Vertiefung der jeweils anderen Ausbildungsabschnitte darstellen; der enge zeitliche Zusammenhang ist dann gewahrt, wenn die verschiedenen Ausbildungsabschnitte mit der gebotenen Zielstrebigkeit aneinander gereiht werden1. Entwickelt worden sind diese Grundsätze für die Ausbildungsreihenfolge Abitur – Lehre – Studium, wobei ein sachlicher Zusammenhang zB bejaht wurde bei – einem Jurastudium nach Absolvierung einer Banklehre2 – einem agrarwissenschaftlichen Studium nach landwirtschaftlicher Lehre3 – einem Studium der Architektur nach Ausbildung zur Bauzeichnerin4 – einem betriebswirtschaftlichen Studium nach kaufmännischer Lehre5. Ein enger sachlicher Zusammenhang verneint wurde dagegen – bei kaufmännischer Lehre und anschließendem Medizinstudium6 – kaufmännischer Lehre mit anschließendem Maschinenbaustudium7 – Ausbildung zum Speditionskaufmann und anschließendem Jurastudium8. Übt ein Kind im Anschluss an die Lehre den erlernten Beruf aus, obwohl 513 es mit dem Studium beginnen könnte, und wird der Entschluss zum Studium auch sonst nicht erkennbar oder die Aufnahme des Studiums nicht durch zwangsläufige Umstände verhindert, so ist der geforderte zeitliche Zusammenhang zwischen den verschiedenen Ausbildungsabschnitten aufgehoben mit der Folge, dass die Eltern von einer weiteren Unterhaltspflicht für das spätere Studium frei sind9. Dahinter steht der Gedanke, dass die Reichweite der Unterhaltspflicht der Eltern von der Frage mitbestimmt wird, inwieweit sie damit rechnen müssen, dass ihr Kind nach Schulabschluss und nach einer Lehre noch weitere Ausbildungsstufen anstrebt. Da es zu den schützenswerten Belangen des Unterhaltspflichtigen gehört, sich in der eigenen Lebensplanung darauf einstellen zu können, wie lange die Unterhaltslast dauern wird, wird eine Unterhaltspflicht umso weniger in Betracht kommen, je länger die Berufstätigkeit des Kindes nach Abschluss seiner praktischen Berufsausbildung andauert und/oder 1 2 3 4 5 6 7 8 9
BGH v. 17.5.2006 – XII ZR 54/04, FamRZ 2006, 1100 = FamRB 2006, 263. BGH v. 23.10.1991 – XII ZR 174/90, FamRZ 1992, 170. BGH v. 27.9.1989 – IVb ZR 83/88, FamRZ 1990, 149. BGH v. 7.6.1989 – IVb ZR 51/88, FamRZ 1989, 853. BGH v. 12.5.1993 – XII ZR 18/92, FamRZ 1057 (1059). BGH v. 12.6.1991 – XII ZR 163/90, FamRZ 1991, 1044. BGH v. 12.5.1993 – XII ZR 18/92, FamRZ 1993, 1057. BGH v. 20.5.1992 – XII ZR 131/91, FamRZ 1992, 1407. BGH v. 7.6.1989 – IVb ZR 51/88, FamRZ 1989, 853; BGH v. 27.9.1989 – IVb ZR 83/88, FamRZ 1990, 149 (150); OLG Brandenburg v. 27.6.2007 – 9 WF 88/07, FamRZ 2008, 87 bei Aufnahme eines Studiums erst ein Jahr und zwei Monate nach vergeblicher Suche einer Arbeitsstelle.
Krenzler
523
Kap. 6 B Rn. 514
Kindesunterhalt
je älter der Auszubildende bei Abschluss seiner praktischen Berufsausbildung ist. Denn die Eltern müssen dann immer weniger damit rechnen, dass sich an die praktische Berufsausbildung noch der Besuch einer weiterführenden Schule und/oder ein Studium anschließen wird1. 514
Diese Gesichtspunkte sind auch bei der Prüfung der wirtschaftlichen Zumutbarkeit einer Ausbildungsfinanzierung zu berücksichtigen, wobei auch die gerechtfertigte Erwartung eines früheren Ausbildungsabschlusses und darauf aufbauende anderweitige finanzielle Dispositionen oder auch das Alter der Eltern eine Rolle spielen können. Befinden sich die Eltern allerdings in besonders günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen und wird ihr Lebensstandard durch den Ausbildungsunterhalt nicht oder nur unwesentlich berührt, so treten die vorgenannten Gesichtspunkte bei der Zumutbarkeitsprüfung zurück2.
515
(2) Trotz des Gegenseitigkeitsprinzips und der geforderten Vorhersehbarkeit der Ausbildungslasten für die Eltern hält es der BGH bei dem Ausbildungsgang Abitur-Lehre-Studium zur Wahrung der Einheitlichkeit der Erstausbildung und damit des Unterhaltsanspruchs eines Kindes nicht für erforderlich, dass der Studienwunsch von vornherein besteht und den Eltern auch offenbart wird. Vielmehr lässt er es genügen, wenn der Studienentschluss erst nach Beendigung der Lehre gefasst wird3. Bei den ebenfalls häufigen Ausbildungsgängen Lehre – Fachhochschulreife/Abitur – Studium hat der BGH dagegen eine einheitliche (Erst)Ausbildung auch bei Vorliegen eines engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhangs nur dann bejaht, wenn schon bei Beginn der praktischen Ausbildung erkennbar eine Weiterbildung einschließlich eines Studiums angestrebt wurde. Denn insoweit könne, anders als bei dem Ausbildungsgang Abitur – Lehre – Studium, jedenfalls derzeit noch nicht von einem allgemein geänderten Ausbildungsverhalten ausgegangen werden, aufgrund dessen die Eltern auch in diesen Fällen mit weiteren Unterhaltsbelastungen nach der Lehre rechnen müssten4.
516
(3) Die Unterhaltspflicht der Eltern endet mit dem Regelabschluss einer berufsqualifizierenden Erstausbildung. Haben sich bis dahin keine Anhaltspunkte für eine wesentlich höhere Ausbildungsfähigkeit des Kindes ergeben, die einen Anspruch auf die Übernahme der Kosten für eine Weiterbildung in dem vorstehend erörterten Sinne rechtfertigen könnten, hat es mit der bis dahin geleisteten Ausbildungsfinanzierung sein Bewen-
1 BGH v. 4.3.1998 – XII ZR 173/96, FamRZ 1998, 671 (672). 2 BGH v. 7.6.1989 – IVb ZR 51/88, FamRZ 1989, 853. 3 BGH v. 7.6.1989 – IVb ZR 51/88, FamRZ 1989, 853; BGH v. 23.10.1991 – XII ZR 174/90, FamRZ 1992, 170 (171). 4 BGH v. 10.10.1990 – XII ZR 111/89, FamRZ 1991, 320; BGH v. 30.11.1994 – XII ZR 215/93, FamRZ 1995, 416.
524
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 518
Kap. 6 B
den1. Zusatzqualifikationen wie eine Promotion oder eine Ausbildung zum Meister müssen deshalb idR nicht finanziert werden2. dd) Zweitausbildung Haben Eltern die ihnen obliegende Pflicht, ihrem Kind eine angemessene Ausbildung zu gewähren, in rechter Weise erfüllt und hat das Kind einen Abschluss einer Ausbildung erlangt, dann sind die Eltern grundsätzlich nicht verpflichtet, dem Kind noch eine Zweitausbildung zu finanzieren3. Dies gilt auch dann, wenn die Eltern zu den Kosten der Erstausbildung keinen finanziellen Beitrag geleistet haben, etwa weil diese Kosten von dem Kind aus eigenem Arbeitsverdienst oder von dritter – öffentlicher oder privater – Seite getragen worden sind. Denn die Regelung des § 1610 Abs. 2 BGB verfolgt lediglich das Ziel, dem Kind eine angemessene Ausbildung zu verschaffen, verlangt aber nicht unter allen Umständen, dass die Eltern diese Ausbildung bezahlen4.
517
Ausnahmen von diesem Grundsatz müssen allerdings in allen denjenigen 518 Fällen akzeptiert werden, in denen auch ein Ausbildungswechsel als gerechtfertigt angesehen wird (s. dazu Rn. 508 f.). Dabei dürfen die von der bisherigen Rechtsprechung entwickelten Ausnahmen allerdings nicht als abschließender, andere Fälle ausschließender Katalog verstanden werden5. So ist eine Verpflichtung der Eltern zur Finanzierung einer Zweitausbildung zB dann anerkannt worden, wenn die erste Ausbildung auf einer deutlichen Fehleinschätzung der Begabung des Kindes beruht6 oder das Kind gegen seinen Willen in eine unbefriedigende, der damaligen Neigung und Begabung nicht entsprechende Ausbildung gedrängt oder dem Kind aus Kostengründen das Studium verweigert worden ist7. Eine Fehl1 BGH v. 25.2.1981 – IVb ZR 547/80, FamRZ 1981, 437 (438). 2 OLG Hamm v. 9.8.1989 – 10 WF 29/89, FamRZ 1990, 904 sieht die Promotion allerdings bei Vorliegen besonderer Umstände doch noch als angemessene Vorbildung für einen Beruf an; und OLG Stuttgart v. 6.7.1996 – 15 WF 271/96, FamRZ 1996, 143 hat die Pflicht der Eltern, eine Weiterbildung zum Meister zu finanzieren, damit begründet, die ganz überdurchschnittliche Qualifikation des Auszubildenden lasse erkennen, dass seine Begabungen und Fähigkeiten mit der Gesellenprüfung noch nicht ausgeschöpft gewesen seien. 3 BGH in ständiger Rspr., zB BGH v. 14.7.1999 – XII ZR 230/97, FamRZ 2000, 420. 4 BGH v. 25.2.1981 – IVb ZR 547/80, FamRZ 1981, 437 (438). 5 BGH v. 24.10.1990 – XII ZR 124/89, FamRZ 1991, 322 (323). 6 BGH v. 25.2.1981 – IVb ZR 547/80, FamRZ 1981, 437; BGH v. 17.5.2006 – XII ZR 54/04, FamRZ 2006, 1100 = FamRB 2006, 263 bei einem Ausbildungsgang Realschulabschluss – Maurerlehre – Fachoberschule mit Fachhochschulreife – Zivildienst – Ausbildung für den gehobenen Polizeidienst, nach zwei Jahren Abbruch – Architekturstudium mit der Begründung, die Maurerlehre sei keine angemessene Ausbildung gewesen und die irrigen Vorstellungen vom Berufsbild des Polizisten nicht so gravierend, dass die Finanzierung des Studiums unzumutbar sei. Allerdings hatte der barunterhaltspflichtige Vater die Aufnahme des Studiums auch nicht abgelehnt. 7 BGH v. 24.10.1990 – XII ZR 124/89, FamRZ 1991, 322.
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525
Kap. 6 B Rn. 519
Kindesunterhalt
einschätzung allein des Kindes soll eine weitere Finanzierungspflicht der Eltern dagegen nur dann begründen, wenn es um die Finanzierung einer Weiterbildung geht. Strebt das Kind dagegen eine Zweitausbildung an, so entfällt die Finanzierungspflicht der Eltern mangels engen sachlichen und eventuell auch zeitlichen Zusammenhangs der einzelnen Ausbildungsabschnitte selbst dann, wenn das Kind seine Ausbildungsabsichten bereits zu Beginn des ersten Ausbildungsabschnitts klar zu erkennen gegeben hatte1. 519
Die Abgrenzung einer Weiterbildung von anderen Ausbildungen wird nicht selten auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen. Aus diesem Grunde wird die Frage, ob Eltern ihre Unterhaltspflicht gegenüber einem ausbildungswilligen Kind in dem gesetzlich gebotenen Maße bereits erfüllt haben oder nicht, insbesondere in Grenzfällen immer nur aufgrund der Sachlage des Einzelfalls und im Rahmen einer Zumutbarkeitsabwägung beantwortet werden können2.
Û
Praxistipp: Die Ausbildungsabsichten der Kinder sollten frühzeitig mit ihnen besprochen und bei der Regelung der Trennungs- und Scheidungsfolgen berücksichtigt werden.
e) Fremdbetreuung 520
aa) Die Unterhaltstabellen sind auf den typisierten Fall einer getrenntlebenden, vierköpfigen Familie zugeschnitten, in der der Barunterhalt für die gesamte Familie allein von dem einen Elternteil aufgebracht werden muss, während der andere Elternteil die – minderjährigen – Kinder betreut. Ist die Betreuung eines Kindes durch Dritte (Fremdbetreuung) erforderlich, zB bei einem behinderten oder einem schwer erziehbaren Kind, so ist eine Anpassung des Tabellenunterhalts an den mit der Fremdbetreuung verbundenen Mehrbedarf (s. dazu Rn. 451) zu prüfen. Auch der Mehrbedarf durch den Besuch einer Privatschule oder eines Internats kann mit den Tabellenunterhaltsbeträgen selbstverständlich nicht gedeckt werden, weshalb in diesen Fällen vor allem auch an eine Beteiligung des das Kind betreuenden Elternteils an diesen Kosten zu denken ist (s. dazu Rn. 505 und Rn. 605). Denn durch den weitgehenden oder vollständigen Wegfall seiner eigenen Betreuungsleistungen wird auch dieser Elternteil häufig in der Lage sein, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen oder diese auszudehnen und auf diese Weise dann auch zu dem finanziellen Mehraufwand für das Kind beizutragen. 1 BGH v. 20.5.1992 – XII ZR 131/91, FamRZ 1992, 1407 (1408) in einem Fall, in dem eine Ausbildung zum Speditionskaufmann nur als Absicherung für den Fall des Scheiterns des von Anfang an geplanten Jura-Studiums absolviert worden war. 2 So schon der BGH in seiner Grundsatzentscheidung v. 29.6.1977 – IV ZR 48/76, NJW 1977, 1774 (1775).
526
Krenzler
Kindesunterhalt
Û
Rn. 522
Kap. 6 B
Praxistipp: Der Besuch des Kindergartens dient in erster Linie erzieherischen Aufgaben, weshalb sich die Ermöglichung einer Erwerbstätigkeit des betreuenden Elternteils nur als Nebeneffekt darstellt. Eventuelle Kosten des Kindergartens sind deshalb als Mehrbedarf des Kindes schon bei der Bemessung seines Unterhalts zu berücksichtigen1.
bb) Die durch die besonderen persönlichen Verhältnisse eines Kindes 521 begründeten Fremdbetreuungskosten sind streng von den Kosten einer (stundenweise) Betreuung durch eine Kinderfrau oder auch eine Tagesmutter zu unterscheiden, wenn diese dem betreuenden Elternteil lediglich eine eigene Erwerbstätigkeit ermöglichen soll. Denn bei dem damit verbundenen Aufwand handelt es sich dann nicht um einen Bedarf des Kindes, sondern um einen Aufwand des betreuenden Elternteils, der sich auf die Unterhaltsbeziehung des Kindes zu dem barunterhaltspflichtigen Elternteil grundsätzlich nicht auswirkt2. Der betreuende Elternteil kann diesen Aufwand dann aber bei der Ermittlung seiner eigenen, für Unterhaltszwecke einzusetzenden Einkünfte abziehen, wenn ihm an sich keine oder nur eine geringere Erwerbstätigkeit als die tatsächlich ausgeübte obläge3. Auch kann ein Betreuungsbonus in Betracht kommen, wenn sich die Betreuung zwar ohne konkreten Kostenaufwand, jedoch nur unter besonderen Erschwernissen bewerkstelligen lässt4.
Û
Praxistipp: Für den Unterhaltspflichtigen ergibt sich in diesen Fällen trotz des Vorwegabzuges des Betreuungsaufwandes in aller Regel beim Ehegattenunterhalt eine spürbare Entlastung, weshalb er bei der Bemessung dieses Abzuges nicht zu kleinlich sein sollte.
Diese Empfehlung gilt auch für die Fälle, in denen die Betreuung tagsüber 522 von nahen Angehörigen wie zB Großeltern oder auch dem haushaltführenden neuen Ehegatten unentgeltlich übernommen wird, um dem betreuenden Elternteil eine eigene Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Denn zum einen sind diese Betreuungsleistungen im Allgemeinen ebenso wie eine Fremdbetreuung als Erfüllung der Versorgungsbedürfnisse des Kin-
1 BGH v. 26.11.2008 – XII ZR 65/07, FamRZ 2009, 962 = FamRB 2009, 203; zu Einzelheiten s. Rn. 451. 2 BGH v. 27.4.1983 – IVb ZR 378/81, FamRZ 1983, 689 (690); OLG Stuttgart v. 16.6.1998 – 15 WF 264/98, FamRZ 1999, 884. 3 BGH v. 29.11.1978 – IV ZR 8/78, FamRZ 1979, 210 (211); BGH v. 27.4.1983 – IVb ZR 378/81, FamRZ 1983, 689 (691); OLG Karlsruhe v. 28.4.1998 – 2 WF 41/98, FamRZ 1999, 859 für den Fall der Unterbringung eines Kindes in einer Kindertagesstätte. 4 BGH v. 7.11.1990 – XII ZR 123/89, FamRZ 1991, 182 (184); OLG Brandenburg v. 11.1.1996 – 9 UF 76/95, FamRZ 1996, 866 bringt bei der Betreuung eines sieben Jahre alten Kindes bei voller Berufstätigkeit unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles einen Bonus von 400 DM monatlich in Ansatz.
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527
Kap. 6 B Rn. 523
Kindesunterhalt
des durch den pflegepflichtigen Elternteil anzusehen1, und zum anderen befreien sie den Unterhaltspflichtigen auch nur dann und insoweit von seiner eigenen Unterhaltslast, als sie nach dem Willen des Zuwendenden nicht nur dem Beschenkten selbst, sondern auch dem Unterhaltsverpflichteten zugutekommen sollen2. Gerade Letzteres wird idR aber nicht der Fall sein. 3. Unterhaltsbedürftigkeit a) Minderjährige und Volljährige 523
aa) Unterhaltsberechtigt ist nach dem allgemeinen Grundsatz des § 1602 Abs. 1 BGB nur derjenige, der sich nicht selbst unterhalten kann. Dieser Grundsatz gilt auch für Kinder, und zwar unabhängig davon, ob sie minderjährig oder volljährig sind. Das ergibt sich ohne weiteres aus § 1602 Abs. 2 BGB, der auch minderjährige unverheiratete Kinder zur Deckung ihres Unterhaltsbedarfs vorrangig auf die Einkünfte aus ihrem Vermögen und dem Ertrag ihrer Arbeit verweist. Wenn also ein minderjähriges oder volljähriges Kind aus einer beruflichen Tätigkeit oder aus einem ererbten oder ihm von seinen Eltern zu Lebzeiten übertragenen Vermögen oder auch eine Halbwaisenrente über eigene Einkünfte verfügt, so hat es keinen finanziellen Unterhaltsanspruch mehr, soweit diese Einkünfte zur Deckung seines Unterhaltsbedarfs reichen.
524
bb) Eine Unterscheidung zwischen minderjährigen und volljährigen Kindern bringt § 1602 Abs. 2 BGB lediglich insofern mit sich, als er minderjährige unverheiratete Kinder nach seinem Wortlaut nicht verpflichtet, auch den Stamm ihres Vermögens zur Deckung ihres Unterhaltsbedarfs einzusetzen. Nach dem Grundsatz des § 1602 Abs. 1 BGB ist dies nämlich von jedem Unterhaltsberechtigten zu fordern, weil natürlich auch derjenige, der über keinerlei laufende Einkünfte, wohl aber über Vermögen verfügt, i.S.d. Gesetzes durchaus in der Lage ist, sich durch die Verwertung eben dieses Vermögens selbst zu unterhalten. Minderjährige unverheiratete Kinder sollen aber nach der Ausnahme von diesem Grundsatz in Abs. 2 der Vorschrift von ihren Eltern nicht auf ihren Vermögensstamm verwiesen werden können, es sei denn, die Eltern könnten bei Erfüllung ihrer Unterhaltspflichten gegenüber ihren Kindern ihren eigenen angemessenen Unterhalt nicht mehr decken (§ 1603 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 3, 2. Halbs.)3. In einem solchen Fall können die Eltern also auch ihre minderjährigen unverheirateten Kinder zunächst auf den Stamm ihres Vermögens und danach auch noch auf andere Unterhaltspflichtige
1 BGH v. 8.4.1981 – IVb ZR 587/80, FamRZ 1981, 543 (544). 2 BGH v. 22.5.1995 – XII ZR 80/94, FamRZ 1995, 537 (538 f.). 3 Unter dem „angemessenen Unterhalt“ der Eltern ist der „angemessene Selbstbehalt“ im Gegensatz zum „notwenigen Selbstbehalt“ in den unterhaltsrechtlichen Leitlinien der verschiedenen OLG zu verstehen. Zu den Einzelheiten s. Rn. 559 ff.
528
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 526
Kap. 6 B
verweisen, ehe ihre eigene gesteigerte Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB eintritt. Für volljährige Kinder gilt das Privileg des § 1602 Abs. 2 BGB dagegen 525 nicht, und zwar auch nicht für die sog. privilegiert volljährigen Kinder des § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB. Denn deren Gleichstellung mit den minderjährigen unverheirateten Kindern erstreckt sich, wie sich aus dem Bezug des Satzes 2 zu S. 1 des § 1603 Abs. 2 ergibt, ausschließlich auf die gesteigerte Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber diesen Kindern und ihren Rang im Verhältnis zu anderen Unterhaltsbedürftigen, während es im Übrigen bei ihrer Gleichberechtigung mit anderen volljährigen Verwandten bleibt (s. auch Rn. 435 und Rn. 569 ff.). Volljährige Kinder können also entsprechend dem Grundsatz des § 1602 Abs. 1 BGB generell auf die Verwertung ihres Vermögensstammes verwiesen werden, ehe sie ihre Eltern auf Zahlung von Unterhalt in Anspruch nehmen können. Die Frage, wie weit diese Verwertung des Vermögensstammes zu gehen hat, ist im Rahmen einer umfassenden Zumutbarkeitsabwägung zu entscheiden, die alle bedeutsamen Umstände und insbesondere auch die Lage des Unterhaltsverpflichteten berücksichtigt. Ein sog. Notgroschen für Fälle plötzlich auftretenden (Sonder)Bedarfs, dessen Höhe sich an den Vorschriften des Sozialrechts orientiert, ist dem Unterhaltsberechtigten aber in jedem Fall zu belassen1. Selbstverständlich hat das Kind sein Vermögen wirtschaftlich und auch nur zur Deckung seines ihm zuzugestehenden Lebensbedarfs einzusetzen. Ist das Vermögen trotz Beachtung dieser Grundsätze verbraucht, lebt der Unterhaltsanspruch des Kindes bei fortbestehender Unterhaltsbedürftigkeit wieder auf (s. dazu Rn. 444).
Û
Praxistipp: Die Übertragung von Einkommensquellen der Eltern auf die Kinder wie zB die Übertragung von Wertpapieren, Kapitalbeträgen oder Gesellschaftsbeteiligungen führt nicht nur zur Verminderung oder gänzlichen Befreiung von Unterhaltslasten, sondern bringt wegen der Steuerprogression und der mehrfachen Ausschöpfbarkeit von Freibeträgen in aller Regel auch eine spürbare Steuerersparnis für die Eltern mit sich.
b) Einkünfte des Kindes aus Erwerbstätigkeit – Obliegenheit zur Erwerbstätigkeit aa) Kinder sind gem. § 1602 Abs. 2 BGB gehalten, ihren Unterhalt vorran- 526 gig durch den „Ertrag ihrer Arbeit“ zu decken, ohne dass das Gesetz zwischen minderjährigen und volljährigen Kindern unterscheidet. Die sich daraus ergebende Erwerbsobliegenheit von Kindern setzt aber (unabhängig von den Bestimmungen zum Jugendarbeitsschutz) erst mit dem Abschluss ihrer schulischen und/oder beruflichen Ausbildung ein, weil sie 1 BGH v. 5.11.1997 – XII ZR 20/96, FamRZ 1998, 367 (369) unter Verweis auf den damaligen § 88 Abs. 2 Nr. 8 BSHG und die dazu gehörige Durchführungs-VO.
Krenzler
529
Kap. 6 B Rn. 527
Kindesunterhalt
gem. § 1610 Abs. 2 BGB zunächst einen Anspruch auf angemessene Ausbildung haben und neben der Ausbildung idR nicht auch noch erwerbstätig sein können. Eine im Rahmen ihrer Ausbildung bezahlte Ausbildungsvergütung müssen sie sich allerdings auf ihren Unterhaltsbedarf anrechnen lassen (s. dazu Rn. 528). 527
Auch ein volljähriger Oberschüler kann deshalb nicht darauf verwiesen werden, wenigstens einen Teil seines Lebensbedarfs durch Nebentätigkeiten zu decken1. Gleiches gilt für einen Studenten, weil er sich unter Einsatz seiner ganzen Arbeitskraft und mit der gebotenen Zielstrebigkeit dem Studium widmen soll. Dazu gehört dann auch, dass er in den Semesterferien Praktika absolviert, Hausarbeiten anfertigt oder den im Semester erlernten Stoff noch einmal nacharbeitet und vertieft2. Verletzt ein Kind allerdings nachhaltig seine Pflicht, seine Ausbildung zielstrebig und pflichtbewusst zu betreiben und in angemessener und üblicher Zeit zu beenden, so verliert es seinen Unterhaltsanspruch, und zwar selbst dann, wenn es überhaupt noch keine abgeschlossene Ausbildung durchlaufen hat3. Das Kind ist dann gehalten, seinen Unterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sicherzustellen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein minderjähriges oder ein volljähriges Kind handelt4. Das Kind muss sich in solchen Fällen also ohne örtliche Bindung um eine Erwerbstätigkeit bemühen, wobei ihm auch Arbeiten unterhalb seines gewohnten Lebensstandards zuzumuten sind5. Fehlt es an derartigen Bemühungen, muss sich das Kind fiktive Einkünfte aus einer solchen Erwerbstätigkeit auf seinen Unterhaltsbedarf anrechnen lassen mit der Folge, dass sein Unterhaltsanspruch idR entfallen dürfte.
528
bb) Bei tatsächlich erzielten Erwerbseinkünften von Kindern ist zu unterscheiden: (1) Werden die Einkünfte im Rahmen der Ausbildung erzielt (Ausbildungsvergütung), so sind sie nach Abzug berufsbedingter Aufwendungen und sonstigen Mehrbedarfs6 und eines großzügig bemessenen Taschen-
1 KG v. 11.8.1981 – 17 UF 1099/81, FamRZ 1982, 516. 2 BGH v. 25.1.1995 – XII ZR 240/93, FamRZ 1995, 475. 3 BGH v. 4.3.1998 – XII ZR 173/96 FamRZ 1998, 671; zu weiteren Einzelheiten s. oben Rn. 499. 4 Bei minderjährigen Kindern ist dies im Hinblick auf § 1611 Abs. 2 BGB in Literatur und Rspr. umstritten. Wie hier zB OLG Düsseldorf v. 9.8.1989 – 5 UF 4/89, FamRZ 1990, 194; zur Gegenmeinung unter Wiedergabe des Streitstandes vgl. OLG Saarbrücken v. 7.4.1999 – 9 UF 147/98, FamRZ 2000, 40 (41). Sie dürfte allerdings im Hinblick auf das Urt. des BGH v. 4.3.1998 – XII ZR 173/96, FamRZ 1998, 671 überholt sein. Denn nach dieser Entscheidung führt die Verletzung des dem § 1610 Abs. 2 BGB innewohnenden Gegenseitigkeitsverhältnisses „von selbst zum Wegfall des Unterhaltsanspruchs, ohne dass dies an die besonderen Verwirkungsvoraussetzungen des § 1611 Abs. 1 BGB gebunden wäre“ (aaO S. 672). 5 BGH v. 6.12.1984 – IVb ZR 53/83, FamRZ 1985, 273. 6 BGH v. 8.4.1981 – IVb ZR 559/80, FamRZ 1981, 541.
530
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 530
Kap. 6 B
geldes (s. dazu Rn. 447) in voller Höhe auf den Unterhaltsbedarf des Kindes anzurechnen1.
Û
Wichtig: Alle anrechenbaren Einkünfte von minderjährigen Kindern, also nicht nur eine Ausbildungsvergütung, sondern zB auch eine Waisenrente oder Vermögenserträge, werden wegen der Gleichwertigkeit von Bar- und Betreuungsunterhalt immer nur zur Hälfte auf den Barunterhaltsanspruch des Kindes angerechnet, während die andere Hälfte dem betreuenden Elternteil zugutekommen soll2.
Dies soll an folgendem Beispiel verdeutlicht werden:
529
Ein unterhaltspflichtiger Vater von zwei Kindern im Alter von 14 und 16 Jahren, die bei ihrer Mutter leben, hat ein unterhaltsrechtlich relevantes monatliches Nettoeinkommen von 2000 Euro. Das 14-jährige Kind geht noch zur Schule, das 16-jährige Kind befindet sich in einer Lehre und erhält eine Ausbildungsvergütung nach Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen iHv. 400 Euro netto. Davon sind nach Abzug eines dem Kind zu belassenden ausbildungsbedingten Mehrbedarfs von 90 Euro3 und eines Taschengeldes von zB noch einmal 90 Euro die danach verbleibenden 220 Euro zur Hälfte, also iHv. 110 Euro, auf den Unterhaltsanspruch des Kindes gegen seinen Vater anzurechnen. Dieser beläuft sich nach der Einkommensgruppe 3 der Düsseldorfer Tabelle in der dritten Alterstufe auf 415 Euro abzgl. des hälftigen Kindergeldes, also auf 333 Euro, so dass nach Abzug der anzurechnenden Ausbildungsvergütung von 110 Euro ein Unterhaltsanspruch des Kindes von 223 Euro verbleibt.
(2) Werden die Einkünfte neben der Ausbildung erzielt, so sind sie im All- 530 gemeinen nicht auf den Unterhaltsanspruch des Kindes anrechenbar, weil sie, wie vorstehend unter aa) ausgeführt, keiner Erwerbsobliegenheit des Kindes entsprechen, also aus einer überobligationsmäßigen Tätigkeit herrühren. Typisch hierfür sind die Einkünfte von Schülern durch Austragen von Werbematerial oder aus Ferienjobs4, aber auch von Studenten aus zB Unterrichtstätigkeit, Taxifahren, Arbeiten während der Semesterferien und Ähnliches. Übersteigen die überobligationsmäßigen Einkünfte den von dem Unterhaltspflichtigen zu deckenden Unterhaltsbedarf, kommt allerdings nach dem – entsprechend heranzuziehenden – Rechtsgedanken des § 1577 Abs. 2 BGB eine Anrechnung in Betracht5. Bei der danach vorzunehmenden Billigkeitsabwägung werden die Höhe der Nebeneinnahmen und ein etwaiger studienbedingter Mehrbedarf, aber auch eine Verlängerung der Studiendauer durch die Nebentätigkeit 1 BGH v. 8.4.1981 – IVb ZR 559/80, FamRZ 1981, 541; BGH v. 26.10.2005 – XII ZR 34/03, FamRZ 2006, 99 = FamRB 2006, 3. 2 BGH v. 8.4.1981 – IVb ZR 559/80, FamRZ 1981, 541 für die Ausbildungsvergütung; BGH v. 17.9.1980 – IVb ZR 552/80, NJW 1981, 168 (170) und BGH v. 21.1.2009 – XII ZR 54/06, FamRZ 2009, 762 = FamRB 2009, 172 und FamRB 2009, 173 für eine Waisenrente. 3 So zB Anm. 8 zur Düsseldorfer Tabelle und Nr. 10.2.3 der SüdL. 4 OLG Köln v. 25.1.1996 – 14 WF 11/96, FamRZ 1996, 1101. 5 BGH v. 25.1.1995 – XII ZR 240/93, FamRZ 1995, 475.
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Kap. 6 B Rn. 531
Kindesunterhalt
zu berücksichtigen sein. Führt die Nebentätigkeit zu einer verlängerten Unterhaltspflicht der Eltern, spricht das für eine (teilweise) Anrechnung der Einkünfte, wie umgekehrt einem Werkstudenten auch die Überschreitung der üblichen Studienzeit zuzubilligen ist, wenn er durch seine Arbeit die Eltern von ihrer Unterhaltspflicht entlastet hat. 531
cc) Bei Wehr- oder Zivildienstleistenden war der Unterhaltsbedarf idR als durch ihren Sold gedeckt anzusehen und deshalb eine Unterhaltsbedürftigkeit zu verneinen. Nur wenn im Einzelfall ein besonderer Unterhaltsbedarf vorhanden war, der dann konkret vorzutragen und ggf. zu beweisen war, kam ein Anspruch auf ergänzenden Unterhalt in Betracht1. Für Angehörige des neuen Bundesfreiwilligendienstes gilt dies entsprechend. c) Unterhaltsleistungen Dritter
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Erbringt ein anderer als der an sich in erster Linie unterhaltspflichtige Elternteil, also meistens der andere Elternteil, eventuell aber auch die Großeltern, Unterhaltsleistungen für ein Kind, so ist zu unterscheiden:
533
aa) Erfolgt die Unterhaltsleistung aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung im Rahmen der Ersatzhaftung nach § 1607 Abs. 1 i.V.m. § 1606 BGB, so muss sich das Kind diese Unterhaltsleistungen voll auf seinen Unterhaltsanspruch anrechnen lassen und kann den in einem solchen Fall nur nachrangig unterhaltspflichtigen Elternteil allenfalls noch auf einen Restbedarf in Anspruch nehmen.
534
bb) Freiwillige Leistungen eines Dritten, bei dem es sich auch um den jeweils anderen, nicht barunterhaltspflichtigen Elternteil handeln kann, entlasten den an sich unterhaltspflichtigen Elternteil dagegen nicht. Vielmehr geht der Unterhaltsanspruch des Kindes in solchen Fällen unter den Voraussetzungen des § 1607 Abs. 2 und 3 BGB auf den Leistenden über. Dem das Kind betreuenden, an sich nicht barunterhaltspflichtigen Elternteil, der statt des nicht leistungsfähigen oder nicht leistungswilligen Elternteils für die finanziellen Bedürfnisse des Kindes aufkommt, steht ein familienrechtlicher Ausgleichsanspruch, ein Anspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung oder auch ein Anspruch unter dem Gesichtspunkt der Geschäftsführung ohne Auftrag zu2.
Û
Wichtig: Für die Vergangenheit können diese Ansprüche nur unter den Voraussetzungen des § 1613 Abs. 1 BGB geltend gemacht werden3. Der an sich Unterhaltspflichtige muss also zum Zwecke der Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs aufgefordert worden sein, über seine
1 BGH v. 29.11.1989 – IVb ZR 16/89, FamRZ 1990, 394 (395) – Wehrdienstleistender; BGH v. 1.12.1993 – XII ZR 150/92, FamRZ 1994, 303 – Zivildienstleistender. 2 BGH v. 9.5.1984 – IVb ZR 84/82, FamRZ 1984, 775. 3 BGH v. 9.5.1984 – IVb ZR 84/82, FamRZ 1984, 775.
532
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Kindesunterhalt
Rn. 537
Kap. 6 B
Einkünfte und sein Vermögen Auskunft zu erteilen, oder er muss in Verzug gesetzt oder der Unterhaltsanspruch muss rechtshängig gemacht worden sein. Ausnahmsweise können allerdings auch freiwillige Leistungen eines 535 Dritten den Unterhaltsverpflichteten entlasten, und zwar dann, wenn dies dem Willen des Dritten entspricht. Liegt eine solche ausdrückliche Willensbestimmung des Zuwendenden, wie meist, nicht vor, lässt sie sich in aller Regel aus den persönlichen Beziehungen der Beteiligten zueinander erschließen1. Dementsprechend kann bei Unterhaltsleistungen eines Elternteils, die er zusätzlich zu seinen eigenen Unterhaltsleistungen anstelle des anderen Elternteils erbringt, nicht von einem solchen Willen zur Entlastung dieses anderen Elternteils ausgegangen werden. Ebenso wenig wollen Eltern, die ihrem getrenntlebenden oder geschiedenen Kind ein mietfreies Wohnen in ihrem Haus ermöglichen, damit den unterhaltspflichtigen Ehegatten entlasten2. Dagegen ist denkbar, dass Großeltern ihrem Enkel Unterhalt leisten, um ihren Sohn als den eigentlich vorrangigen Schuldner zu entlasten. Zuwendungen, die im Rahmen einer auf Dauer angelegten nichtehelichen 536 Lebensgemeinschaft erbracht werden, dürften wohl ebenfalls kaum eine Entlastung der Eltern von ihren Unterhaltspflichten bezwecken3. Werden die Zuwendungen allerdings als Wohnkostenbeteiligung oder als Entgelt für hauswirtschaftliche Versorgungsleistungen erbracht, so kommt eine zumindest teilweise Anrechnung auf den Unterhaltsanspruch in Betracht. d) Das Kindergeld und seine Zuordnung aa) Grundlagen (1) Das staatliche Kindergeld soll die mit Kindern verbundenen Unter- 537 haltslasten der Eltern vermindern und ist deshalb gem. § 1612b Abs. 1 BGB zur Deckung des Barbedarfs von Kindern zu verwenden. Folgerichtig vermindert es nach S. 2 der Vorschrift den Barbedarf des Kindes. Das Kindergeld wird also nunmehr – anders als vor dem Inkrafttreten des Unterhaltsrechtsänderungsgesetzes – als Einkommen des Kindes behandelt. Minderjährige wie volljährige Kinder haben aufgrund seiner unterhaltsrechtlichen Zweckbindung einen Anspruch auf seine Verwendung zu Unterhaltszwecken und dementsprechend auf Auskehrung des Kindergeldes, wenn und soweit es nicht für den Kindesunterhalt verwendet wird. Für volljährige Kinder hatte der BGH dies schon nach dem bisher geltenden Recht entschieden4. Lebt das volljährige Kind im Haushalt eines El1 BGH v. 26.9.1979 – IV ZR 87/79, FamRZ 1980, 40; BGH v. 22.2.1995 – XII ZR 80/94, FamRZ 1995, 537. 2 BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 23/91, FamRZ 1992, 1045. 3 OLG Hamm v. 21.4.1997 – 4 UF 441/96, FamRZ 1998, 767. 4 BGH v. 26.10.2005 – XII ZR 34/03, FamRZ 2006, 99 = FamRB 2006, 3.
Krenzler
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Kap. 6 B Rn. 538
Kindesunterhalt
ternteils, wird idR allerdings davon ausgegangen werden können, dass das Kindergeld auch für den Unterhalt des Kindes verbraucht wird. Der sog. Zählkindvorteil (s. dazu Rn. 540 f.) kommt gem. § 1612b Abs. 2 BGB nur demjenigen Kind zugute, dessen Berücksichtigung zur Erhöhung des Kindergeldes führt. Die von der Rechtsprechung entwickelte Ausnahme für den Fall, dass der das – erhöhte – Kindergeld beziehende Elternteil wegen mangelnder Leistungsfähigkeit nur den bei ihm lebenden Kindern, nicht aber auch seinem anderweit betreuten sog. Zählkind Unterhalt gewährt, gilt weiterhin. Denn in diesem Fall hat der das Kindergeld beziehende Elternteil in Höhe des Zählkindvorteils einen Vermögensvorteil, der außerhalb der Zweckbestimmung des Kindergeldes liegt, und den er deshalb nicht für sich allein beanspruchen kann, sondern sich als verfügbares Einkommen zurechnen lassen muss1. 538
(2) Das Kindergeld wird gem. § 64 Abs. 1 EStG idR nur an einen Elternteil ausgezahlt, obwohl es wegen der Gleichgewichtigkeit der Unterhaltsleistungen beider Eltern auch beide Eltern gleichmäßig entlasten soll. Der Ausgleich des Kindergeldes unter den Eltern erfolgt dann aufgrund der Anordnung des § 1612b Abs. 1 BGB, wonach das auf das Kind entfallende Kindergeld zur Deckung seines Barbedarfs zu verwenden ist (s. dazu Rn. 541 ff.).
539
Gezahlt wird das Kindergeld gem. § 64 Abs. 2 S. 1 EStG nur an denjenigen Elternteil, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Obhutsprinzip). Haushaltsaufnahme im Sinne dieser Vorschrift bedeutet die Aufnahme in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis. Danach gehört ein Kind dann zum Haushalt eines Elternteils, wenn es dort wohnt, versorgt und betreut wird. Ein Obhutsverhältnis in diesem Sinne besteht infolgedessen dann nicht, wenn sich das Kind nur für einen von vorneherein begrenzten, kurzfristigen Zeitraum, etwa zu Besuchszwecken oder in den Ferien, bei einem Elternteil befindet2. Entscheidend sind also die tatsächlichen Verhältnisse. Formale Gesichtspunkte wie die Sorgerechtsregelung oder die Melderegistereintragung haben allenfalls subsidiäre Bedeutung. Auch eine abweichende vertragliche Vereinbarung unter den Eltern ist für die Verwaltung nicht bindend3. Die Kindergeldberechtigung gilt auch für denjenigen Elternteil, der ein volljähriges Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Da in einem solchen Fall grundsätzlich beide Eltern barunterhaltspflichtig sind (s. Rn. 465 und Rn. 602), steht das Kindergeld dann gem. § 64 Abs. 3 S. 2 EStG demjenigen Elternteil zu, der – unter Be1 BGH v. 16.4.1997 – XII ZR 233/95, FamRZ 1997, 806 (810). 2 BFH v. 20.6.2001 – VI R 224/98, BStBl. II 2001, 713 (714). 3 BFH v. 10.11.1998 – VI B 125/98, BStBl. II 1999, 137 (138); im Gegensatz dazu kann gem. § 32 Abs. 7 S. 1 EStG für die Inanspruchnahme des Haushaltsfreibetrags die Wohnungsanmeldung genügen. Die Zuordnung des Kinderfreibetrags unterliegt auch der Disposition der Eltern. Er kommt allerdings nur dann zum Zuge, wenn er zu einer höheren Entlastung führt als die Entlastung durch das gezahlte Kindergeld.
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Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 541
Kap. 6 B
rücksichtigung der Kosten der Wohnungsgewährung – den höheren Unterhalt zahlt. (3) Das Kindergeld beträgt gem. § 66 Abs. 1 EStG seit dem 1.1.2010 für 540 das erste und das zweite Kind jeweils 184 Euro, für das dritte Kind 190 Euro und für das vierte und jedes weitere Kind jeweils 215 Euro monatlich. Dabei bemisst sich die Höhe des an den jeweils bezugsberechtigten Elternteil zu zahlenden Kindergeldes nach der Ordnungszahl der in seiner Obhut lebenden Kinder. Kinder, die sich nicht in seiner Obhut befinden, werden also immer mitgezählt, was bei dem einen oder anderen Elternteil zu dem sog. Zählkindvorteil führen kann. Beispiele: Ein geschiedenes Ehepaar hat vier Kinder, von denen die beiden älteren bei dem einen Elternteil und die beiden jüngeren bei dem anderen Elternteil leben. Der Elternteil mit den beiden älteren Kindern erhält dann zweimal 184 Euro, der Elternteil mit den beiden jüngeren Kindern einmal 190 Euro und einmal 215 Euro Kindergeld. Oder: Eine Mutter hat aus zwei geschiedenen Ehen jeweils zwei Kinder. Alle vier Kinder leben bei ihr, so dass sie für die beiden älteren Kinder je 184 Euro, für das dritte Kind 190 Euro und für das vierte Kind 215 Euro erhält1.
bb) Verrechnung des Kindergeldes (1) Das Kindergeld soll, wie dargelegt, beide Eltern gleichermaßen entlas- 541 ten, auch wenn es aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung immer nur an einen Elternteil ausgezahlt wird. Aus diesem Grund ordnet § 1612b Abs. 1 BGB an, dass das auf das jeweilige Kind entfallende Kindergeld zur Deckung seines Barbedarfs zu verwenden ist und in dem in Abs. 1 Nr. 1 und 2 festgelegten Umfang den zuvor nach allgemeinen Grundsätzen ermittelten Barbedarf des Kindes mindert. Bezieht in dem Fall der Nr. 1 in der ersten Zeit der Trennung eines Elternpaares noch nicht der ein minderjähriges Kind betreuende, sondern der barunterhaltspflichtige Elternteil das Kindergeld, darf er also die Hälfte hiervon behalten und muss nur die andere Hälfte zusätzlich zum Tabellenunterhalt an den das Kind betreuenden Elternteil auszahlen, so dass auch dieser in Höhe der Hälfte des Kindergeldes entlastet wird. Bezieht der betreuende Elternteil das Kindergeld, kann der barunterhaltspflichtige Elternteil die Hälfte davon von dem von ihm geschuldeten Tabellenunterhalt in Abzug bringen, weil sich der Unterhaltsbedarf des Kindes gem. der gesetzlichen Bestimmung in diesem Umfang mindert. Die andere Hälfte verbleibt wiederum dem betreuenden Elternteil, so dass der in § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB niedergelegte Grundsatz der Gleichwertigkeit der beiderseitigen Unterhaltsleistungen gewahrt bleibt. Eine anteilige Verrechnung nach Kopfteilen des insgesamt für die gemeinschaftlichen Kinder eines Elternpaares gezahlten Kindergeldes findet dagegen nicht statt.
1 Zur Ausgleichung unter den Eltern s. Rn. 541 ff.
Krenzler
535
Kap. 6 B Rn. 542
Kindesunterhalt
Beispiele: Ein geschiedenes Ehepaar hat zwei Kinder im Alter von fünf und acht Jahren, die bei der Mutter leben. Der barunterhaltspflichtige Vater verfügt über ein für die Unterhaltsberechnung maßgebliches Nettoeinkommen von 2200 Euro und die Mutter erhält für jedes der Kinder 184 Euro Kindergeld. Die Unterhaltsberechnung sieht dann wie folgt aus: Bereinigtes Nettoeinkommen Kind 1 (5) lt. Düsseldorfer Tabelle ./. 1/2 Kindergeld Zahlbetrag Kind 2 (7) lt. Düsseldorfer Tabelle ./. 1/2 Kindergeld Zahlbetrag
2200 Euro 349 Euro 92 Euro 257 Euro 401 Euro 92 Euro 309 Euro
Die andere Hälfte des Kindergeldes verbleibt der Mutter. Oder: Ein geschiedenes Ehepaar hat vier Kinder im Alter von zehn, acht, fünf und drei Jahren, die alle bei der – nicht erwerbstätigen – Mutter leben. Der Vater verfügt über ein monatliches Nettoeinkommen von 3800 Euro. Die Mutter erhält für die ersten beiden Kinder je 184 Euro, für das dritte Kind 190 Euro und das vierte Kind 215 Euro. Wegen der erhöhten Zahl von Unterhaltsberechtigten und daraus folgend einer Unterschreitung des Bedarfskontrollbetrags (s. dazu Rn. 484, 485 und 487 Bsp. 1 und 3) ist der Kindesunterhalt der Einkommensgruppe 6 der Düsseldorfer Tabelle zu entnehmen, so dass sich folgende Zahlbeträge ergeben: Bereinigtes Nettoeinkommen Kind 1 (10) lt. Düsseldorfer Tabelle ./. 1/2 Kindergeld Zahlbetrag Kind 2 (8) lt. Düsseldofer Tabelle ./. 1/2 Kindergeld Zahlbetrag Kind 3 (5) lt. Düsseldorfer Tabelle ./. 1/2 Kindergeld Zahlbetrag Kind 4 (3) lt. Düsseldorfer Tabelle ./. 1/2 Kindergeld Zahlbetrag
3800,00 Euro 466,00 Euro 92,00 Euro 374,00 Euro 466,00 Euro 92,00 Euro 374,00 Euro 406,00 Euro 95,00 Euro 311,00 Euro 406,00 Euro 107,50 Euro 298,00 Euro
Variante zu diesem Fall: Die beiden älteren Kinder leben beim Vater, die beiden jüngeren bei der Mutter. Der Vater erhält dann für die beiden bei ihm lebenden Kinder je 184 Euro Kindergeld, die Mutter je einmal 190 Euro und 215 Euro. Der vom Vater für die beiden jüngeren Kinder zu zahlende Unterhalt ändert sich gegenüber dem Ausgangsfall nicht, weil es sich um gemeinschaftliche Kinder handelt und deshalb das erhöhte Kindergeld für das dritte und vierte Kind auch dem unterhaltspflichtigen Vater zugutekommt.
542
Ist die Vorschrift des § 1612b Abs. 1 Nr. 1 BGB nicht anwendbar, weil das minderjährige Kind bei Dritten, etwa den Großeltern, in einer Pflegefamilie, in einem Internat oder in einem Heim lebt oder weil das unterhaltsberechtigte Kind bereits volljährig ist, so sind grundsätzlich beide Eltern barunterhaltspflichtig, und zwar auch dann, wenn es sich um privilegiert volljährige Kinder handelt (zum Begriff s. Rn. 435 f.). Nach Abs. 1 Nr. 2 der Vorschrift ist das Kindergeld in allen diesen Fällen vorab in voller Höhe zur Deckung des Barbedarfs des Kindes zu verwenden und nur der danach noch verbleibende Betrag gem. § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB von beiden 536
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 543
Kap. 6 B
Elternteilen anteilig nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen zu tragen1. Die vorrangige Anrechnung des Kindergeldes auf den Unterhaltsbedarf führt mithin dazu, dass die Kindergeldentlastung nun, anders als nach bisherigem Recht, nicht mehr nach dem strengen Halbteilungsgrundsatz, sondern nach der jeweiligen Leistungsfähigkeit der beiden Elternteile erfolgt2. Die mit der strengen Anwendung des Halbteilungsgrundsatzes insbesondere in Fällen mangelnder Leistungsfähigkeit eines Elternteils verbundenen Probleme3 haben sich damit erledigt. Das gilt auch für die Fälle eines im Ausland lebenden und deshalb nicht kindergeldberechtigten barunterhaltspflichtigen Elternteils, in denen es durch die Vorschrift des § 1612b Abs. 1 BGB ebenfalls durchweg zu einer hälftigen oder vollen Anrechnung des im Inland gezahlten Kindergeldes kommt4. Schließlich führt die Anrechnung des Kindergeldes auf den Bedarf auch 543 in denjenigen Fällen problemlos zu befriedigenden Ergebnissen, in denen der Unterhaltspflichtige nur weniger als den in § 1612a Abs. 1 BGB festgelegten Mindestunterhalt zahlen kann (absoluter Mangelfall). Denn die Differenz zwischen dem tatsächlich zu leistenden Unterhalt und dem Mindestunterhalt wird durch die Anrechnung des Kindergeldes bis zur vollen Höhe des anrechenbaren Betrags ausgeglichen, so dass es der Anrechnungsbestimmung des § 1612b Abs. 5 aF BGB nicht mehr bedarf.
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Praxistipp: Ist ein an sich barunterhaltspflichtiger und kindergeldberechtigter Elternteil nur eingeschränkt oder gar nicht leistungsfähig (absoluter Mangelfall) oder auch nicht leistungswillig, kann das Kindergeld gem. § 74 Abs. 1 EStG statt an den kindergeldberechtigten Elternteil unmittelbar an das volljährige Kind oder – bei minderjährigen Kindern – an den anderen Elternteil ausgezahlt werden, der dem Kind tatsächlich Unterhalt gewährt. Ein ein volljähriges oder ein minderjähriges Kind betreuender Elternteil kann und sollte in derartigen Fällen also bei der Kindergeldstelle einen Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes an ihn nach dieser Vorschrift stellen.
1 BGH v. 17.1.2007 – XII ZR 166/04, FamRZ 2007, 542 = FamRB 2007, 98; zu den Einzelheiten s. Rn. 611 ff. 2 Schon nach dem bis zum 1.7.1998 geltenden Recht wurde das Kindergeld vor Berechnung der Haftungsanteile beider Eltern vom Bedarf des Kindes abgezogen, sofern es, wie regelmäßig, dem Kind vom berechtigten Elternteil zugewendet wurde – vgl. etwa BGH v. 4.11.1987 – IVb ZR 75/86, FamRZ 1988, 159 (161). Ebenso für volljährige Kinder auch BGH v. 26.10.2005 – XII ZR 34/03, FamRZ 2006, 99 = FamRB 2006, 3. 3 Zum Streitstand in Literatur und Rspr. s. BGH v. 26.10.2005 – XII ZR 34/03, FamRZ 2006, 99 = FamRB 2006, 3. 4 Zur früheren Rechtslage ähnlich schon BGH v. 21.7.2004 – XII ZR 203/01, FamRZ 2004, 1639 = FamRB 2005, 4.
Krenzler
537
Kap. 6 B Rn. 544
Kindesunterhalt
544
Lebt das barunterhaltsberechtigte Kind in einem eigenen Haushalt und ist nur ein Elternteil barunterhaltspflichtig, so erhält gem. § 64 Abs. 3 Nr. 1 EStG nur dieser Elternteil das Kindergeld und hat es an das unterhaltsberechtigte Kind auszukehren1.
545
In § 1612b Abs. 2 BGB wird schließlich noch bestimmt, dass der einem Elternteil wegen der Berücksichtigung eines nicht gemeinschaftlichen Kindes zufallende Zählkindvorteil (s. dazu Rn. 537 und 540) nicht auf den von ihm zu leistenden oder zu beanspruchenden Unterhalt anzurechnen ist. Bei der Verrechnung des Kindergeldes ist also immer nur von demjenigen Kindergeld auszugehen, das die Eltern für ihre gemeinsamen Kinder ohne Berücksichtigung ihrer weiteren Kinder (fiktiv) zu beanspruchen hätten, und zwar unabhängig davon, bei welchem der Elternteile welcher Zählkindvorteil anfällt. Damit soll erreicht werden, dass dieser Zählkindvorteil im Innenverhältnis der Elternteile nur demjenigen zugutekommt, der auch die mit dem Zählkind verbundene zusätzliche Unterhaltslast zu tragen hat. Beispiele: Eine Mutter hat aus zwei geschiedenen Ehen jeweils zwei Kinder. Alle vier Kinder leben, wie im zweiten Beispielsfall in Rn. 541, bei ihr, so dass sie für die beiden Kinder aus erster Ehe jeweils 184 Euro, für das dritte Kind 190 Euro und für das jüngste Kind 215 Euro erhält. Der barunterhaltspflichtige Vater der beiden älteren Kinder kann dann nur je 92 Euro als hälftiges Kindergeld von dem von ihm geschuldeten Tabellenunterhalt in Abzug bringen, aber auch für den Vater der beiden jüngeren Kinder gilt nichts anderes. Denn er hat mit der Mutter ebenfalls nur zwei gemeinsame Kinder, für die auch nur je 184 Euro Kindergeld gezahlt würden, wenn die beiden erstehelichen Kinder der Mutter nicht mitgezählt würden. Der der Mutter zufallende Zählkindvorteil entlastet den Vater ihrer beiden jüngeren Kinder also nicht, sondern verbleibt ihr allein. Variante: Ein Vater hat aus einer geschiedenen und einer zweiten Ehe jeweils zwei Kinder, wobei die älteren Kinder bei seiner ersten Ehefrau, die beiden jüngeren bei ihm leben. Seine erste Ehefrau erhält dann für die beiden bei ihr lebenden Kinder je 184 Euro, er selbst für die beiden bei ihm lebenden Kinder 190 Euro und 215 Euro. Von dem ihm auf diese Weise zufallenden Zählkindvorteil kann die erste Ehefrau keinen Anteil verlangen, weil sie mit dem Vater eben nur zwei und nicht vier gemeinschaftliche Kinder hat.
546
Eine Ausnahme hiervon wäre nur dann zu machen, wenn der Vater nur den bei ihm lebenden Kindern, nicht dagegen seinen erstehelichen Kindern Unterhalt gewähren würde wie dies zB in einem absoluten Mangelfall vorkommen kann. Da der Vater in einem solchen Fall eine Entlastung nur hinsichtlich der bei ihm lebenden Kinder beanspruchen kann, ist der ihm zusätzlich zukommende Zählkindvorteil ein Vermögensvorteil, der außerhalb der Zweckbestimmung des Kindergeldes liegt und den er daher
1 S. Rn. 537 und 540 und nach altem Recht schon OLG Düsseldorf v. 30.10.1998 – 3 WF 201/98, FamRZ 1999, 1452 und OLG Brandenburg v. 17.12.2001 – 9 WF 186/01, FamRZ 2002, 1216 (1217).
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Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 548
Kap. 6 B
nicht für sich allein beanspruchen kann, sondern sich gegenüber seinen erstehelichen Kindern als verfügbares Einkommen zurechnen lassen muss1. cc) Kindergeld ersetzende Leistungen Haben Eltern Anspruch auf andere, regelmäßig wiederkehrende kindbe- 547 zogene Leistungen wie zB Kinderzulagen aus der gesetzlichen Unfallversicherung oder im Ausland von zwischen- bzw. überstaatlichen Einrichtungen für Kinder gezahlte Leistungen, so wird für diese Kinder gem. § 65 Abs. 1 Nr. 1 EStG kein Kindergeld gezahlt. Wenn und soweit diese Leistungen kindergeldersetzende Funktion haben, sind sie gem. § 1612c BGB bei der Berechnung des Kindesunterhalts nach den gleichen Regeln zu berücksichtigen wie sie in § 1612b BGB für das Kindergeld aufgestellt worden sind. Keine kindergeldersetzende Funktion haben die kindbezogenen Teile von Familienzuschlägen oder die im öffentlichen Dienst gewährten Ortszuschläge, weil das Kindergeld zusätzlich zu diesen Leistungen gezahlt wird. Gleiches gilt auch für kindbezogene Zulagen nach dem Eigenheimzulagengesetz und Ähnlichem. e) Sonstige sozialstaatliche Leistungen aa) Grundlagen (1) Sozialstaatliche Leistungen sind im privaten Unterhaltsrecht grund- 548 sätzlich wie sonstiges Einkommen zu behandeln, soweit sie geeignet sind, den allgemeinen Lebensunterhalt zu decken, es sei denn, sie sind subsidiär2. Für den Kindesunterhalt sind neben dem bereits erörterten Kindergeld vor allem noch die Unterhaltsleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz und die Ausbildungsförderung nach dem BAföG von besonderer Bedeutung. Während das staatliche Kindergeld die Unterhaltslasten des Unterhaltspflichtigen in der gezahlten Höhe vermindert, kommt den Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz aber generell und den Leistungen nach dem BAföG zumindest teilweise nur eine Sicherstellungsfunktion zu. Das bedeutet, dass diese Leistungen nicht als endgültige Deckung des Unterhaltsbedarfs des jeweiligen Kindes angesehen werden können, sondern dem Grundsatz der Nachrangigkeit (Subsidiarität) unterliegen, den vorrangig Unterhaltspflichtigen also gerade nicht von seiner Unterhaltspflicht befreien. Stattdessen wird der Unterhaltsanspruch des Leistungsempfängers in diesen Fällen gesetzlich auf den jeweiligen
1 BGH v. 26.11.1986 – IVb ZR 64/85, FamRZ 1987, 270 (271); BGH v. 16.4.1997 – XII ZR 233/95, FamRZ 1997, 806 (810). 2 BGH v. 25.11.1992 – XII ZR 164/91, FamRZ 1993, 417 für den Fall der Zahlung von Pflegegeld für Schwerbehinderte – Anrechenbarkeit auf den behinderungsbedingten Mehrbedarf bejaht; zu den Einzelheiten vgl. Kap. 6 A III (Sozialleistungen).
Krenzler
539
Kap. 6 B Rn. 549
Kindesunterhalt
Leistungsträger übergeleitet1, der den Unterhalt dann seinerseits gegen den Unterhaltspflichtigen geltend macht. 549
Die Überleitung umfasst allerdings, wie sich aus dem Wortlaut der einschlägigen Vorschriften ergibt, nur den Unterhaltsanspruch eines Kindes gegen seine Eltern, nicht dagegen auch Unterhaltsansprüche gegen seine Großeltern. Das Fehlen diesbezüglicher Überleitungsvorschriften und Regressmöglichkeiten des Leistungsträgers führt jedoch nicht etwa zum Wegfall des Subsidiaritätsprinzips, hat also keinen Einfluss auf Inhalt und Umfang des Unterhaltsanspruchs eines Kindes2. Dies hat zur Folge, dass dem Unterhaltsberechtigten kein Wahlrecht zwischen der Inanspruchnahme staatlicher Sozialleistungen und einem etwaigen Unterhaltsanspruch zusteht, sondern dass er sich auf die Geltendmachung des – vorrangigen – Unterhaltsanspruchs verweisen lassen muss. Umgekehrt können zB Großeltern ihren Enkel ebenfalls nicht auf die staatlichen Sozialleistungen verweisen.
550
(2) Wird der Unterhaltsanspruch eines Kindes von dem Unterhaltspflichtigen aber nicht erfüllt oder ist der Anspruch nicht ohne weiteres durchsetzbar, müssen die staatlichen Leistungsträger zunächst einmal in Vorlage treten, auch wenn es an Vorschriften zur Überleitung des Unterhaltsanspruchs auf den jeweiligen Leistungsträger fehlt. Das ändert dann jedoch, wie gesagt, nichts am Unterhaltsanspruch des Kindes, so dass es diesen Anspruch nach wie vor gegen den Unterhaltspflichtigen gerichtlich geltend machen kann3. Erhält das Kind für den fraglichen Zeitraum später dann doch noch den von ihm geltend gemachten Unterhalt, hat es diesen, soweit die sozialstaatlichen Leistungen und der Unterhalt dem nämlichen Zweck dienen, dem staatlichen Leistungsträger wieder zurückzugeben. bb) Unterhaltsvorschussgesetz
551
(1) Nach § 1 UVG hat ein Kind bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres Anspruch auf Zahlung von Unterhaltsvorschüssen oder -ausfallleistungen, wenn es
1 Vgl. §§ 7 UVG, 37 Abs. 1 BAföG, aber auch § 94 Abs. 1 SGB XII für den Bereich der Sozialhilfe. 2 BGH v. 1.10.1991 – VI ZR 334/90, NJW 1992, 115 für das Schadensersatzrecht; BGH v. 25.11.1992 – XII ZR 164/91, NJW-RR 1993, 322 und BGH v. 17.3.1999 – XII ZR 139/97, FamRZ 1999, 843 (845/846) für das Unterhaltsrecht bei Leistung von Pflegegeld bzw. Sozialhilfe. 3 Dem Unterhaltsschuldner kommt in diesen Fällen wegen der fehlenden Überleitungsvorschriften auf den staatlichen Leistungsträger der meistens weiter reichende sozialrechtliche Schuldnerschutz nicht zugute vgl. BGH v. 17.3.1999 – XII ZR 139/97 FamRZ 1999, 843 (846) im Fall eines auf der Berücksichtigung fiktiver Einkünfte des Unterhaltsschuldners beruhenden Unterhaltsanspruchs.
540
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 553
Kap. 6 B
– in Deutschland bei einem seiner Elternteile lebt, der ledig, verwitwet oder geschieden ist oder von seinem Ehegatten dauernd getrennt lebt, und – von dem anderen Elternteil nicht oder nicht regelmäßig Unterhalt erhält oder dieser Elternteil oder auch ein Stiefelternteil verstorben ist und das Kind nicht mindestens Waisenbezüge in Höhe der in dem Unterhaltsvorschussgesetz festgelegten Beträge erhält. Ausgeschlossen ist der Anspruch gem. § 2 Abs. 3 UVG, wenn der betreuende Elternteil mit dem anderen Elternteil zusammenlebt oder sich weigert, die Auskünfte, die zur Durchführung des Gesetzes erforderlich sind, zu erteilen oder bei der Feststellung der Vaterschaft oder des Aufenthalts des anderen Elternteils mitzuwirken. (2) Die Höhe des Unterhaltsvorschusses knüpft gem. § 2 Abs. 1 UVG an 552 den Mindestunterhalt des § 1612a Abs. 1 BGB an und gilt ebenfalls für ganz Deutschland. Die frühere Differenzierung bei der Höhe des Unterhaltsvorschusses für Kinder in den alten und den neuen Bundesländern findet nicht mehr statt. Hat der das Kind betreuende Elternteil Anspruch auf Zahlung von Kindergeld, wird dieses gem. § 2 Abs. 2 UVG in der vollen Höhe des für ein erstes Kind zu zahlenden Kindergeldes auf die Leistungen nach dem UVG angerechnet. Der Unterhaltsvorschuss beträgt infolgedessen seit dem 1.1.2011 0–5 Jahre ./. Kindergeld 6–11 Jahre ./. Kindergeld
317 Euro 184 Euro 133 Euro 364 Euro 184 Euro 180 Euro
(3) Der Unterhaltsvorschuss ist grundsätzlich vom Einkommen des al- 553 leinerziehenden Elternteils unabhängig, weil dieser Elternteil von der Erwerbstätigkeit freigestellt sein und sich auch nicht um die Durchsetzung des Kindesunterhaltsanspruchs kümmern müssen soll. Folgerichtig ist der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss gem. § 2 Abs. 1 SGB XII gegenüber dem Anspruch auf Sozialhilfe auch vorrangig, zumal die Sozialhilfe erst eingreift, wenn der alleinstehende Elternteil selber nicht in der Lage ist, anstelle des anderen Elternteils für den Kindesunterhalt aufzukommen. Regelmäßig sind die Leistungen nach dem UVG allerdings geringer als der Anspruch auf die Regelbeträge nach § 28 SGB XII nebst den zusätzlichen Leistungen, und zwar auch dann, wenn man das Kindergeld mitberücksichtigt.
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Praxistipp: Da bei Eintreten der Bedürftigkeit die Sozialhilfe unverzüglich in vollem Umfang geleistet wird, empfiehlt es sich deshalb, einen diesbezüglichen Antrag zu stellen. Es ist dann Sache des Sozialhilfeträgers, sich die von ihm auf den Kindesunterhalt erbrachten Leistungen in Krenzler
541
Kap. 6 B Rn. 554
Kindesunterhalt
Höhe des Unterhaltsvorschusses von dem für dessen Zahlung zuständigen Land erstatten zu lassen. 554
(4) Der Unterhaltsvorschuss wird längstens für die Dauer von insgesamt 72 Monaten gezahlt (§ 3 UVG). Rückwirkend wird der Unterhaltsvorschuss gem. § 4 UVG längstens für die letzten drei Monate vor dem Monat gezahlt, in dem der Antrag hierauf bei der zuständigen Stelle eingeht.
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Kommt ein Unterhaltsvorschuss nicht in Betracht, weil ein Kind das 12. Lebensjahr vollendet hat, ist bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres an Hilfe zum Lebensunterhalt gem. § 27 SGB XII zu denken. Ab Vollendung des 15. Lebensjahres sind die Leistungen für Arbeitsuchende gem. SGB II gem. § 21 SGB XII i.V.m. § 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB II gegenüber der Hilfe zum Lebensunterhalt vorrangig. cc) Ausbildungsförderung
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Die Mittel der staatlichen Ausbildungsförderung nach den §§ 59 ff. SGB III (Förderung der Berufsausbildung) und dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) vermindern die Unterhaltsbedürftigkeit oder lassen sie ganz entfallen, und zwar nicht nur, soweit sie als verlorener Zuschuss gezahlt, sondern auch dann, wenn sie nur darlehensweise gewährt werden1. Denn ebenso wie es dem Unterhaltspflichtigen unter bestimmten Umständen obliegt, seine Leistungsfähigkeit durch die Aufnahme eines Kredits zu gewährleisten2, ist es auch für das Kind im Hinblick auf die außerordentlich günstigen Darlehensbedingungen zumutbar, seine Unterhaltsbedürftigkeit durch die Inanspruchnahme der nur darlehensweise gewährten öffentlichen Fördermittel zu vermindern3.
557
Eltern können ihre Kinder infolgedessen bei Vorliegen der Voraussetzungen auf die Inanspruchnahme öffentlicher Ausbildungsförderung verweisen, ehe sie selbst zu Unterhaltsleistungen herangezogen werden können. Dabei genügt das Kind seiner Obliegenheit, sich um eine öffentliche Ausbildungsförderung zu bemühen, nicht schon dadurch, dass es sich nach den Aussichten für die Gewährung einer Ausbildungsförderung „erkundigt“. Vielmehr ist zumindest zu erwarten, dass das Kind die zuständige Behörde über die besonderen Umstände seines Falles ausreichend unterrichtet und sich daraufhin eine verbindliche Auskunft geben lässt. Macht ein Kind von dieser Möglichkeit nicht den gehörigen, von ihm darzulegenden und zu beweisenden Gebrauch, so muss es sich die an sich zu gewährenden BAföG-Leistungen als fiktives Einkommen anrechnen lassen4. Zur Vermeidung eines späteren Rechtsstreits zwischen den Eltern und dem Kind dürfte es sich allerdings empfehlen, einen ordnungsgemäßen Antrag zu stellen, bei dem die Eltern dann auch mitzuwirken haben. 1 2 3 4
BGH v. 19.6.1985 – IVb ZR 30/84, FamRZ 1985, 916. BGH v. 22.12.1982 – IVb ZR 320/81, FamRZ 1983, 140. BGH v. 19.6.1985 – IVb ZR 30/84, FamRZ 1985, 916 (917). BGH v. 24.10.1979 – IV ZR 171/78, FamRZ 1980, 126 (128).
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Kindesunterhalt
Rn. 559
Kap. 6 B
Macht das Kind Gründe dafür geltend, dass die Inanspruchnahme öffentlicher Ausbildungsförderung in seinem Fall ausnahmsweise doch nicht zumutbar sei, sind diese Gründe als Abweichung vom Regelfall von dem Kind darzulegen und zu beweisen. 4. Leistungsfähigkeit des Verpflichteten a) Selbstbehalte und Mangelfälle Anspruchsvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs ist nicht nur 558 die Unterhaltbedürftigkeit des Anspruchsstellers, sondern auch die Leistungsfähigkeit des Anspruchsgegners. In § 1603 Abs. 1 BGB wird die allgemeine Grenze für die Leistungsfähigkeit eines potentiell Unterhaltspflichtigen dort gezogen, wo er bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen seinen eigenen angemessenen Unterhalt gefährden würde, wenn er zusätzlich noch Unterhalt an den Anspruchsteller zahlen müsste. Eine engere Grenze sieht § 1603 Abs. 2 S. 1 und 2 BGB für Eltern minderjähriger unverheirateter Kinder und der ihnen gleichgestellten sog. privilegiert volljährigen Kinder (zur Definition dieses Begriffs s. Rn. 435 f.) vor. Sie müssen nämlich „alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig verwenden“, haben also eine gesteigerte Unterhaltspflicht, es sei denn, es wäre ein anderer unterhaltspflichtiger Verwandter vorhanden oder das Kind könnte seinen Unterhalt aus dem Stamm seines Vermögens bestreiten (§ 1603 Abs. 2 S. 3 BGB)1. aa) Angemessener und notwendiger Selbstbehalt In den unterhaltsrechtlichen Leitlinien der Oberlandesgerichte wird die 559 unterschiedliche Grenze der Leistungsfähigkeit in den Abs. 1 und 2 des § 1603 BGB als angemessener (großer) bzw. notwendiger (kleiner) Selbstbehalt (Eigenbedarf) bezeichnet und in pauschalen Geldbeträgen ausgedrückt. Dabei wird idR zusätzlich noch danach differenziert, ob die Einkünfte des Unterhaltspflichtigen aus Erwerbstätigkeit oder aus anderen Einkommensquellen resultieren und dem erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen als Anreiz für die Fortsetzung seiner Erwerbstätigkeit durchweg ein höherer Selbstbehalt zugestanden als dem Unterhaltspflichtigen mit anderen Einkünften.
Û
Wichtig: Die Selbstbehaltsbeträge sind von den Oberlandesgerichten nicht einheitlich festgelegt worden, aber inzwischen weitgehend identisch2. Sie müssen deshalb bei der Ermittlung des Kindesunterhalts für den
1 Zu den diesbezüglichen Einzelheiten s. Rn. 580 ff. 2 In Westdeutschland vgl. etwa Anm. 5 der Düsseldorfer Tabelle mit einem notwendigen Selbstbehalt von 950 Euro bzw. 770 Euro. In Ostdeutschland vgl. etwa Ziff. 21.2 der Leitlinien des OLG Brandenburg mit einem notwendigen Selbstbehalt von ebenfalls 950 Euro bzw. 770 Euro sowie OLG Naumburg Ziff. 21.2 mit einem notwendigen Selbstbehalt von 950 Euro bzw. 770 Euro.
Krenzler
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Kap. 6 B Rn. 560
Kindesunterhalt
jeweiligen Oberlandesgericht-Bezirk, in dem der Unterhalt geltend gemacht wird, festgestellt und in die Berechnung eingestellt werden. 560
(1) Das Prüfungsschema für den beim Kindesunterhalt in Ansatz zu bringenden Selbstbehalt sieht deshalb idR wie folgt aus: – Ist der Unterhaltspflichtige erwerbstätig
nicht erwerbstätig
– Geht es um den angemessenen
notwendigen Selbstbehalt
561
Häufig werden in den Leitlinien für die Selbstbehalte auch noch – unterschiedlich hohe (!) – Beträge für die Wohnkosten des Unterhaltspflichtigen (Warmmiete) angegeben, die in die festgelegten Beträge eingerechnet worden sind. Werden diese Wohnkosten im konkreten Fall erheblich überschritten und sind sie auch nicht durch einen Umzug vermeidbar, so kann der jeweilige Selbstbehalt angemessen erhöht werden. Eine Herabsetzung des Selbstbehalts bei niedrigeren Wohnkosten kommt dagegen nicht in Betracht, weil der Selbstbehalt ohnehin schon niedrig bemessen ist und es dem Unterhaltsschuldner überlassen bleiben muss, wie er seine Bedürfnisse gewichtet und welche Beträge er für sie aufwendet1. Möglicherweise anders zu beurteilen ist dies, wenn die niedrigeren Wohnkosten auf dem Zusammenleben mit einem neuen (Ehe)Partner beruhen2.
562
Tabellarisch stellt sich das Prüfungsschema mit den Beträgen der Düsseldorfer Tabelle und der Süddeutschen Leitlinien (Stand 1.1.2011) dann wie folgt dar: Angemessener Notwendiger Selbstbehalt Erwerbstätiger Unterhaltspflichtiger (Enthaltene Warmmiete) Nicht erwerbstätiger Unterhaltspflichtiger (Enthaltene Warmmiete)
Û
1150 Euro (450 Euro)
950 Euro (360 Euro)
Wie Erwerbstätiger
770 Euro (360 Euro)
Wichtig: Die in den Unterhaltstabellen festgelegten Selbstbehalte gelten nur im Verhältnis zu Kindern, nicht dagegen im Verhältnis zum getrenntlebenden oder geschiedenen Ehegatten. Im Verhältnis zu diesem ist dem Unterhaltspflichtigen vielmehr idR ein Betrag zwischen dem not-
1 OLG Düsseldorf v. 18.12.1998 – 6 UF 194/97, FamRZ 1999, 1020; OLG Frankfurt v. 18.1.1999 – 15 W 140/98, FamRZ 1999, 1522; BGH v. 23.8.2006 – XII ZR 26/04, FamRZ 2006, 1664 (1666) = FamRB 2006, 364. 2 So zB Ziff. 21.5 der Unterhaltsleitlinien des OLG Düsseldorf und Ziff. 21.5.2 SüdL.
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Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 564
Kap. 6 B
wendigen (§ 1603 Abs. 2 BGB) und dem angemessenen Selbstbehalt (§ 1603 Abs. 1 BGB), derzeit also ca. 1050 Euro zu belassen („billiger“ oder auch eheangemessener Selbstbehalt i.S.d. § 1581 S. 1 BGB)1. Die Differenz zum notwendigen Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen wurde dann nach dem bis zur Unterhaltsrechtsreform geltenden Recht auf die minderjährigen unverheirateten Kinder im Verhältnis ihrer Bedarfssätze verteilt. Durch die in § 1609 Nr. 1 BGB festgelegte Vorrangigkeit der minderjährigen und privilegiert volljährigen Kinder ist diese zweitstufige Berechnung nicht mehr erforderlich. (2) Die Selbstbehaltsbeträge dürfen nicht mit den in der Düsseldorfer Ta- 563 belle ausgewiesenen Bedarfskontrollbeträgen verwechselt werden. Denn während die Selbstbehaltsbeträge die Grenzen der Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen definieren, sollen die Bedarfskontrollbeträge lediglich der bei pauschalierenden Unterhaltberechnungen stets gebotenen Überprüfung des Ergebnisses auf seine Angemessenheit dienen. Diese Angemessenheitsprüfung hat die ausgewogene Verteilung des verfügbaren Einkommens zwischen dem Unterhaltspflichtigen und der unterhaltsberechtigten Rest-Familie zum Ziel, die aber in denjenigen Fällen häufig nicht mehr gewährleistet ist, in denen der Unterhaltspflichtige auch noch dem getrenntlebenden oder geschiedenen Ehegatten Unterhalt zu gewähren hat. Denn dann kann der Ehegattenunterhalt wegen des Vorwegabzuges des Kindesunterhalts von dem für die Unterhaltsberechnung maßgeblichen Einkommen des Unterhaltspflichtigen im Verhältnis zum Kindesunterhalt zu niedrig ausfallen und auch dem Unterhaltspflichtigen nur noch ein verhältnismäßig zu niedriger Betrag verbleiben. Indikator für das Vorliegen eines solchen unangemessenen Berechnungsergebnisses und die Notwendigkeit seiner Korrektur ist das Unterschreiten des jeweiligen Bedarfskontrollbetrags bei Erfüllung aller rechnerisch ermittelten Unterhaltspflichten einschließlich des Ehegattenunterhalts2. bb) Relativer und absoluter Mangelfall Reicht das verfügbare Einkommen des Unterhaltspflichtigen nach Abzug 564 seines angemessenen Selbstbehalts nicht wenigstens für die Zahlung des Mindestunterhalts gem. § 1612a Abs. 1 BGB aus, spricht man von einem relativen Mangelfall, und bei verfügbaren Einkünften des Unterhaltspflichtigen, die nicht einmal zur Deckung seines notwendigen Selbstbehalts und des an die gleichrangig unterhaltsberechtigten Kinder nach Ab-
1 BGH v. 18.10.1989 – IVb ZR 89/88, FamRZ 1990, 260; BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 = FamRB 2006, 198 und BGH v. 19.11.2008 – XII ZR 129/06, FamRZ 2009, 307 = FamRB 2009, 104 und FamRB 2009, 105 sowie BGH v. 19.11.2008 – XII ZR 51/08, FamRZ 2009, 311. Zu den Einzelheiten vgl. Rn. 1177 ff. 2 Zur Bedeutung und Handhabung der Bedarfskontrollbeträge im Einzelnen s. Rn. 484, 485 und 487.
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Kap. 6 B Rn. 565
Kindesunterhalt
zug des Kindergeldes zu zahlenden Mindestunterhalts reichen, von einem absoluten Mangelfall1. 565
(1) Bei der Prüfung der Frage, ob ein solcher relativer oder absoluter Mangelfall vorliegt, sind nach dem Wortlaut des § 1603 Abs. 1 BGB „sonstige Verpflichtungen“ des Unterhaltsschuldners zu berücksichtigen. Darunter sind nicht seine Aufwendungen für seinen eigenen Lebensbedarf, sondern vor allem seine Verbindlichkeiten aus Darlehen jedweder Art zu verstehen.
Û
Wichtig: Den Unterhaltspflichten kommt im Allgemeinen kein Vorrang gegenüber den sonstigen Verbindlichkeiten zu, im Gegenteil: in der unterhaltsrechtlichen Praxis werden bei Ermittlung des bereinigten Nettoeinkommens die Verbindlichkeiten vorab in Abzug gebracht, beeinflussen also die Einstufung in eine Einkommensgruppe der Unterhaltstabellen und damit schon den Bedarf eines Kindes, nicht erst die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners.
566
Die Kriterien für die unterhaltsrechtliche Berücksichtigung von Verbindlichkeiten sind bei der Prüfung des Bedarfs eines Kindes im Wesentlichen die gleichen wie bei der Prüfung der Leistungsfähigkeit des Schuldners, weshalb insoweit auf die Ausführungen in Rn. 477 verwiesen werden kann. Bei Unterhaltspflichten gegenüber minderjährigen unverheirateten Kindern werden die Verbindlichkeiten allerdings idR dann außer Betracht bleiben müssen, wenn und soweit sie zu einer Unterschreitung des Mindestunterhalts gem. § 1612a Abs. 1 BGB führen. Denn im Verhältnis zu Kindern kann der Umstand, dass Verbindlichkeiten im Zuge der gemeinsamen Lebensführung und im Einverständnis mit dem anderen Elternteil eingegangen worden sind, nicht in gleichem Maße Bedeutung gewinnen wie gegenüber dem – früheren – Ehegatten. Bei minderjährigen Kindern kommt außerdem hinzu, dass sie wegen ihres Alters von vorneherein keine Möglichkeit haben, durch eigene Anstrengungen zur Deckung ihres notwendigen Lebensbedarfs beizutragen. Eine Ausnahme wird deshalb nur dann in Betracht kommen können, wenn die Nichtberücksichtigung der Schulden zu einer durch Zinsen ständig weiter wachsenden Schuldenlast des Unterhaltspflichtigen führen würde2. In derartigen Fällen trifft den Unterhaltsschuldner allerdings grundsätzlich auch eine Obliegenheit zur Einleitung einer Verbraucherinsolvenz mit Restschuldbefreiung gem. den §§ 304 ff. InsO, wenn dieses Verfahren zulässig und geeignet ist, den laufenden Unterhalt seiner minderjährigen Kinder dadurch sicherzustellen, dass ihm Vorrang vor sonstigen Verbindlichkeiten
1 S. Ziff. 24.1 SüdL. 2 BGH v. 11.12.1985 – IVb ZR 80/84, FamRZ 1986, 254 (257); BGH v. 26.4.1989 – IVb ZR 64/88, FamRZ 1990, 266 (267).
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Kindesunterhalt
Rn. 568
Kap. 6 B
eingeräumt wird. Das gilt nur dann nicht, wenn der Unterhaltsschuldner Umstände vorträgt und ggf. beweist, die eine solche Obliegenheit im Einzelfall als unzumutbar darstellen1. (2) Liegt ein absoluter Mangelfall vor, so ist das nach Abzug des notwendigen Selbstbehalts des Unterhaltspflichtigen zur Verfügung stehende Einkommen auf die Unterhaltsberechtigten im Verhältnis ihrer Bedarfsbeträge zu verteilen. Dabei bestand in Literatur und Rechtsprechung allerdings seit jeher Streit darüber, ob für die Ermittlung der zu kürzenden Unterhaltsansprüche von den ohne Beachtung der Selbstbehaltsgrenze für jeden Unterhaltsberechtigten einschließlich eines unterhaltsberechtigen Ehegatten individuell festzustellenden Bedarfsbeträgen2; oder für jeden Unterhaltsberechtigten von einem Mindestbedarfssatz auszugehen und das zu verteilende Einkommen im Verhältnis dieser Bedarfssätze aufzuteilen ist3.
567
Nachdem sich der Gesetzgeber in § 1612a Abs. 1 BGB in der seit dem 1.1.2008 geltenden Fassung für die Festsetzung eines Mindestunterhalts für minderjährige Kinder und in § 1609 Nr. 2 BGB. für die Nachrangigkeit des sie betreuenden Elternteils entschieden hat, ist dieser Streit als erledigt zu betrachten und bei der Mangelverteilung für gleichrangige Kinder von dem jeweiligen Mindestunterhalt abzgl. des hälftigen Kindergeldes auszugehen4. Der unterhaltsberechtigte Ehegatte geht dann wegen seines Nachrangs leer aus.
568
Beispiel: Ein erwerbstätiger Unterhaltspflichtiger hat ein bereinigtes Nettoeinkommen von 1400 Euro monatlich und Unterhalt für eine geschiedene, nicht erwerbstätige Ehefrau sowie zwei Kinder im Alter von vier und sieben Jahren zu zahlen. Ihm steht im Verhältnis zu seinen Kindern ein notwendiger Selbstbehalt von 950 Euro und im Verhältnis zu seiner geschiedenen Ehefrau ein „billiger“ Selbstbehalt von 1050 Euro zu5. Die Unterhaltsberechnung sieht dann wie folgt aus:
1 BGH v. 23.2.2005 – XII ZR 114/03, FamRZ 2005, 608 = FamRB 2005, 127; vgl. dazu auch Melchers/Hauß, Unterhalt und Verbraucherinsolvenz, 2003. 2 So der BGH in seiner Entscheidung v. 16.4.1997 – XII ZR 233/95, FamRZ 1997, 806 (811), die er in der Entscheidung v. 22.1.2003 – XII ZR 2/00, FamRZ 2003, 363 ff. = FamRB 2003, 109 jedoch aufgegeben hat. 3 So auch nach der Entscheidung des BGH v. 22.1.2003 – XII ZR 2/00, FamRZ 2003, 363 ff. = FamRB 2003, 109 die OLG Bremen, Dresden, Düsseldorf, Hamm, Köln, Naumburg, Nürnberg und Oldenburg, die als Bedarfssatz für den Ehegatten allerdings nur noch von dessen Quotenunterhalt ohne Vorwegabzug des Kindesunterhalts ausgingen. 4 BGH v. 2.6.2010 – XII ZR 160/08, FamRZ 2010, 1318 (1320) = FamRB 2010, 336 und FamRB 2010, 261. 5 BGH v. 18.10.1989 – IVb ZR 89/88, FamRZ 1990, 260 und BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 = FamRB 2006, 198. Zwischenzeitliche Anhebung auf 1050 Euro in der seit dem 1.1.2011 geltenden Düsseldorfer Tabelle.
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Kap. 6 B Rn. 569 Bereinigtes Nettoeinkommen Kind 1 (4) 317 Euro – 92 Euro Kind 2 (7) 364 Euro – 92 Euro Rest Notwendiger Selbstbehalt nicht gewahrt Korrektur Verteilungsmasse 1400 Euro – 950 Euro Summe Bedarf 225 Euro + 272 Euro Kind 1 225 Euro × 450 Euro : 497 Euro Kind 2 272 Euro × 450 Euro : 497 Euro Summe der Zahlbeträge
Kindesunterhalt 1400,00 Euro 225,00 Euro 272,00 Euro 903,00 Euro 950,00 Euro 450,00 Euro 497,00 Euro 203,72 Euro 246,28 Euro 450,00 Euro
b) Gesteigerte Unterhaltspflicht und ihre Grenzen 569
Eltern minderjähriger unverheirateter und privilegiert volljähriger Kinder i.S.d. § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB sind gem. § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB verpflichtet, „alle verfügbaren Mitteln gleichmäßig“ zur Deckung des Unterhaltsbedarfs dieser Kinder und ihres eigenen Unterhalts zu verwenden. aa) Die Grenze des notwendigen Selbstbehalts
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Das bedeutet zunächst einmal, dass die Grenze der Leistungsfähigkeit von Eltern dieser Kinder nicht bei ihrem angemessenen (großen), sondern erst bei ihrem notwendigen (kleinen) Selbstbehalt gezogen wird. Dabei ist der Unterhaltsschuldner in besonderem Maße gehalten, die ihm zur Verfügung stehenden Mittel auch voll auszuschöpfen. Kosten für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte können deshalb nur insoweit als abzugsfähig anerkannt werden, als die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht günstiger und zumutbar ist. Längere Fahrzeiten werden bei entsprechenden Kostenvorteilen in Kauf genommen werden müssen, auch wenn der tägliche Zeitaufwand dafür zwischen zwei und drei Stunden liegt1. Ebenso muss ein Umzug näher zur Arbeitsstelle in Betracht gezogen werden. Steuerliche Vorteile einschließlich der Geltendmachung von Freibeträgen sind auszuschöpfen, die Wahl einer ungünstigen Steuerklasse bei Wiederverheiratung mit einem ebenfalls erwerbstätigen Ehegatten braucht nicht hingenommen zu werden, im Gegenteil: der aus einer neuen Ehe herrührende Splittingvorteil ist bei der Bemessung des Kindesunterhalts mit heranzuziehen2. Auch kommt bei einem Zusammenleben des Unterhaltsschuldners mit einem neuen Partner eine Herabsetzung des notwendigen Selbstbehalts um die durch eine gemeinsame Haushaltsführung eintretende Ersparnis in Betracht, allerdings höchstens bis auf sein Existenzminimum nach sozialhilferechtlichen Grundsätzen3. 1 OLG Brandenburg v. 30.6.1998 – 10 WF 58/98, FamRZ 1999, 1010. 2 BGH v. 17.9.2008 – XII ZR 72/06, FamRZ 2008, 2189 = FamRB 2008, 360 und BGH v. 2.6.2010 – XII ZR 160/08, FamRZ 2010, 1318. 3 BGH. v. 9.1.2008 – XII ZR 170/05, FamRZ 2008, 594 = FamRB 2008, 99.
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Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 572
Kap. 6 B
Schließlich muss der Unterhaltspflichtige selbstverständlich auch den 571 Stamm seines Vermögens einsetzen, es sei denn, die Verwertung wäre für ihn mit einem wirtschaftlich nicht mehr vertretbaren Nachteil verbunden oder er benötigte das Vermögen zur Erfüllung weitere Unterhaltsansprüche oder auch für seinen eigenen Unterhalt1. Ebenso muss der Unterhaltspflichtige seine Kreditfähigkeit ausschöpfen und den Unterhalt auf diesem Wege finanzieren, wenn er nicht schon ohnehin so hoch verschuldet ist, dass er nicht einmal mehr die Zinsen des neuen Kredits bezahlen kann und deshalb seine Schulden nur noch weiter anwachsen würden2. In einem solchen Fall dürfte es ihm dann allerdings obliegen, sich gegenüber Drittgläubigern auf die Pfändungsfreigrenzen zu berufen und ggf. ein Verbraucherinsolvenzverfahren einzuleiten (s. Rn. 566). bb) Verstärkte Erwerbsobliegenheit Die gesteigerte Unterhaltspflicht bringt schließlich auch eine verstärkte Erwerbsobliegenheit der Eltern mit sich. (1) Ist ein Unterhaltspflichtiger vollschichtig erwerbstätig, braucht er grundsätzlich nicht noch einer Nebentätigkeit nachzugehen. Dies gilt jedenfalls so lange, wie der Mindestunterhalt der Kinder gedeckt ist. Denn die Eltern schulden ihren Kindern nicht die Aufrechterhaltung eines einmal erreichten Lebensstandards. Vielmehr nehmen die Kinder aufgrund ihrer von den Eltern abgeleiteten Lebensstellung (s. dazu Rn. 462 ff.) sowohl an den Verbesserungen als auch an den Verschlechterungen der wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Eltern teil und müssen deshalb deren Einkommensminderungen hinnehmen soweit ihr Mindestunterhalt gewahrt bleibt3. Hat ein Unterhaltspflichtiger allerdings zusätzlich zu einer vollschichtigen Tätigkeit über Jahre hinweg eine weitere Tätigkeit ausgeübt, so sind die daraus erzielten Einkünfte jedenfalls solange zu berücksichtigen, wie sie auch weiterhin tatsächlich erzielt werden4. Es steht dem Unterhaltspflichtigen in solchen Fällen jedoch frei, seine Zusatztätigkeit aufzugeben, ohne sich die dadurch entfallenden Einkünfte als fiktives Einkommen anrechnen lassen zu müssen5. 1 BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 52/84, FamRZ 1986, 48 bejaht die Obliegenheit zur Veräußerung eines hälftigen Miteigentumsanteils an einem Ferienhaus, verneint aber die Obliegenheit zur Verwertung eines Familieneigenheims, das dem Wohnbedarf des Unterhaltsschuldners dient. 2 BGH v. 11.12.1985 – IVb ZR 80/84, FamRZ 1986, 254 (257); BGH v. 26.4.1989 – IVb ZR 64/88, FamRZ 1990, 266 (267). 3 OLG Zweibrücken v. 30.9.1993 – 5 UF 75/92, FamRZ 1994, 1488. Die zugelassene Revision wurde zurückgenommen, nachdem der BGH den klagenden Kindern die Bewilligung von Prozesskostenhilfe wegen fehlender Erfolgsaussicht versagt hatte. 4 BGH v. 16.6.1982 – IVb ZR 727/80, FamRZ 1983, 152 im Fall eines Hochschullehrers und Komponisten; BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 60/83, FamRZ 1985, 360 im Falle eines Schweißfachmanns mit einer anderen, regelmäßigen Wochenendarbeit. 5 BGH v. 16.6.1982 – IVb ZR 727/80, FamRZ 1983, 152.
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Kap. 6 B Rn. 573
Kindesunterhalt
573
Reichen die Einkünfte aus einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit allerdings nicht aus, um wenigstens den Mindestunterhalt eines minderjährigen unverheirateten Kindes oder eines ihm gleichgestellten volljährigen Kindes zu decken, ist von dem Unterhaltspflichtigen aufgrund seiner gesteigerten Unterhaltspflicht auch die Aufnahme einer zusätzlichen Tätigkeit von zB zwei bis drei Mehrarbeitsstunden pro Woche bzw. die Fortsetzung einer bereits ausgeübten Nebentätigkeit zu verlangen1. Dabei sind im Rahmen der objektiven Zumutbarkeit natürlich die Grenzen des Arbeitszeitgesetzes zu beachten, das die Arbeitszeit regelmäßig auf 48 Wochenstunden begrenzt2. Des Weiteren muss ein Unterhaltspflichtiger bei gesteigerter Unterhaltspflicht Arbeiten unterhalb seines Ausbildungsniveaus sowie Aushilfs- und Gelegenheitsarbeiten übernehmen3. Unmögliches darf jedoch nicht verlangt werden, also zB die Erzielung von zusätzlich nahezu der Hälfte des bisher unter Einsatz einer Vollzeittätigkeit und Inkaufnahme von Schichtdienst erzielten Einkommens4. Auch ist stets zu prüfen, ob der Unterhaltspflichtige aufgrund objektiv feststellbarer Voraussetzungen wie beispielsweise Gesundheit und berufliche Qualifikation überhaupt in der Lage ist, ein Einkommen zu erzielen, das über seinen notwendigen Selbstbehalt hinaus geht und deshalb für den Kindesunterhalt herangezogen werden kann5.
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Darüber hinaus sind die Eltern in solchen Fällen verpflichtet, in zumutbaren Grenzen sowohl einen Orts- als auch einen Berufswechsel vorzunehmen, wenn sie nur auf diese Weise ihre Unterhaltspflicht erfüllen können6. Die persönlichen Bindungen des Unterhaltspflichtigen, insbesondere sein Umgangsrecht mit seinen Kindern und die damit verbundenen Kosten sowie die Umzugskosten sind dabei zu berücksichtigen7. Ein Selbständiger ist zur Aufnahme einer besser bezahlten abhängigen Beschäftigung verpflichtet, wenn die von ihm erzielten Einkünfte in
1 So zB OLG Schleswig v. 12.3.1999 – 10 UF 157/98, FamRZ 1999, 1524 m. Anm. Hauß und weiteren Nachweisen; OLG Hamm v. 1.9.1999 – 11 UF 3/99, FamRZ 2000, 1178 (LS); OLG Hamburg v. 2.11.2007 – 2 UF 67/07, FamRZ 2008, 1274; BGH v. 3.12.2008 – XII ZR 182/06, FamRZ 2009, 314 (Tz. 22) = FamRB 2009, 67. 2 BGH v. 3.12.2008 – XII ZR 182/06, FamRZ 2009, 314 (Tz. 22) = FamRB 2009, 67. 3 BGH v. 15.12.1993 – XII ZR 172/92, FamRZ 1994, 372. 4 BVerfG v. 18.3.2008 – 1 BvR 125/06, FamRZ 2008, 1145 = FamRB 2008, 229 und BVerfG v. 16.4.2008 – 1 BvR 2253/07, FamRZ 2008, 1403 = FamRB 2008, 359. 5 BVerfG v. 29.10.2009 – 1 BvR 443/09, FamRZ 2010, 183 und BVerfG v. 15.2.2010 – 1 BvR 2236/09, FamRZ 2010, 626 im Fall eines Gärtners, der einen Arbeitsunfall erlitten hatte und seither eine Unfallrente von 325 Euro bezog sowie für Hilfstätigkeiten von nur zwei Stunden täglich weitere Einkünfte von 270 Euro monatlich erzielte. 6 BGH v. 9.7.1980 – IVb ZR 529/80, FamRZ 1980, 1113; OLG Dresden v. 23.7.2007 – 20 UF 444/07, FamRZ 2008, 173 – Ortswechsel im gesamten deutschen Sprachraum. 7 BVerfG v. 29.12.2005 – 1 BvR 2076/03, FamRZ 2006, 469.
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Kindesunterhalt
Rn. 576
Kap. 6 B
absehbarer Zeit nicht einmal dazu ausreichen, den angemessenen Kindesunterhalt zu decken1. Will umgekehrt ein abhängig Beschäftigter aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis in eine selbständige Tätigkeit wechseln, muss er zuvor in geeigneter Weise, also insbesondere durch die Bildung von Rücklagen oder die Berücksichtigung seiner Unterhaltspflichten bei der Kreditaufnahme, die Erfüllung seiner Unterhaltspflichten wenigstens in Höhe des Mindestunterhalts sicherstellen2. Die freiwillige, ersatzlose Aufgabe einer Arbeitsstelle und sogar ihr 575 schuldhaft herbeigeführter Verlust sind unterhaltsrechtlich allerdings grundsätzlich zu beachten, es sei denn, es handelt sich bei wertender Betrachtung des Einzelfalles um ein gegen Treu und Glauben verstoßendes, verantwortungsloses oder zumindest leichtfertiges Verhalten des Unterhaltspflichtigen. Dabei kommt einem Bezug dieses Verhaltens zu der Unterhaltspflicht, also dem erkennbaren Willen, die Unterhaltspflicht auf diese Weise zu vermindern oder sich ihr ganz zu entziehen, eine besondere Bedeutung zu3. Von einem Arbeitslosen kann dann aber während seiner unterhaltsrechtlich hinzunehmenden Arbeitslosigkeit verlangt werden, wenigstens einer geringfügigen Beschäftigung nachzugehen, selbst wenn ein Teil des Entgelts auf die Leistungen der Arbeitsverwaltung angerechnet würde, mit dem verbleibenden Lohn aber der Unterhalt wenigstens zum Teil aufgebracht werden kann4. Die beabsichtigte Aufnahme einer Aus- oder Fortbildung befreit grundsätz- 576 lich nicht von der Unterhaltspflicht. Eine schon begonnene (Zweit)Ausbildung muss nötigenfalls sogar abgebrochen werden, wenn sie nicht schon weit fortgeschritten und der Abbruch deshalb dem Unterhaltspflichtigen nicht mehr zuzumuten ist. Die Grundrechte des Unterhaltspflichtigen auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, Freizügigkeit und freie Wahl des Berufs oder der Ausbildungsstelle werden durch diese Verpflichtung nicht berührt5. Anders kann es dagegen sein, wenn der Unter-
1 OLG Düsseldorf v. 2.10.1996 – 8 UF 34/96, FamRZ 1997, 1078 im Fall eines Malermeisters, der sich selbständig gemacht hat; OLG Dresden v. 23.12.1997 – 10 UF 303/97, FamRZ 1999, 396 im Fall eines Dipl. Ing. für Kfz-Technik, der ein Taxiunternehmen betrieb. 2 BGH in ständiger Rspr., zB BGH v. 4.11.1987 – IVb ZR 81/86, FamRZ 1988, 145 (147). 3 BGH v. 26.9.1984 – IVb ZR 17/83, FamRZ 1985, 158. Fehlt es an der Unterhaltsbezogenheit des Verhaltens, soll sich der Unterhaltspflichtige zB auch bei Verlust des Arbeitsplatzes wegen wiederholten Alkoholgenusses auf die eingetretene Leistungsunfähigkeit berufen dürfen – BGH v. 10.11.1993 – XII ZR 113/92, FamRZ 1994, 240. 4 OLG Zweibrücken v. 13.10.1998 – 5 UF 54/98, FamRZ 2000, 308. 5 BGH v. 9.7.1980 – IVb ZR 529/80, FamRZ 1980, 1113. In seinem Urt. v. 22.12.1982 – IVb ZR 320/81, FamRZ 1983, 140 hat der BGH den Abbruch eines fachgebundenen Studiums der Rechts- und Staatswissenschaften rund eineinhalb Jahre vor dem Examen trotz einer schon abgeschlossenen Erstausbildung des Unterhaltspflichtigen als unzumutbar angesehen.
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Kap. 6 B Rn. 577
Kindesunterhalt
haltspflichtige eine erstmalige Berufsausbildung aufnehmen will, selbst wenn er dafür eine Erwerbstätigkeit aufgibt. Denn die Erstausbildung gehört zum eigenen Lebensbedarf des Unterhaltspflichtigen, den dieser grundsätzlich auch bei gesteigerter Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern vorrangig befriedigen darf1. 577
Der Unterhaltspflichtige muss die Erfüllung der vorstehend skizzierten Anforderungen an seine Erwerbsbemühungen darlegen und beweisen, wenn er sich auf seine mangelnde Leistungsfähigkeit berufen will. Auch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit sind an den möglichen Beweis, dass eine reale Beschäftigungschance nicht bestand, bei einem gesunden Arbeitslosen hohe Anforderungen zu stellen, da sich regelmäßig erst nach intensiver Suche sagen lässt, dass eine Arbeitsplatzchance nicht bestand2.
578
(2) An den gesteigerten Unterhaltspflichten von Eltern minderjähriger und ihnen gleichgestellter volljähriger Kinder vermag grundsätzlich nicht einmal die Wiederverheiratung eines geschiedenen Ehegatten und die Übernahme der Haushaltsführung und der Kindesbetreuung in der neuen Ehe etwas zu ändern. Denn auch bei einem solchen Rollentausch zwischen – bisheriger – Erwerbstätigkeit und der Tätigkeit als Hausmann/ Hausfrau bleibt die Unterhaltspflicht des jeweiligen Elternteils gegenüber den minderjährigen unverheirateten Kindern aus der ersten Familie, deren Unterhaltsansprüche mit denjenigen der Kinder aus der zweiten Ehe gleichrangig sind (§ 1609 Nr. 1 BGB), bestehen. Auch wenn der Rollentausch zu einer wesentlichen Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse in der neuen Ehe führt und deshalb – unter Abwägung der beiderseitigen Interessen im Einzelfall – von den Unterhaltsberechtigten aus der geschiedenen Ehe hingenommen werden muss, gebietet es deren unterhaltsrechtlicher Gleichrang, die Beeinträchtigungen ihres Unterhaltsanspruchs jedenfalls so gering wie möglich zu halten. Der unterhaltspflichtige Ehegatte ist deshalb auch in diesen Fällen gehalten, seine häusliche Tätigkeit in der neuen Ehe auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken und wenigstens eine Nebentätigkeit aufzunehmen, um seiner Barunterhaltspflicht teilweise zu genügen, soweit er dadurch nicht im Verhältnis zu anderen, gleichrangig Unterhaltsverpflichteten unverhältnismäßig belastet wird. Ein Selbstbehalt ist ihm idR nicht zuzugestehen, weil dieser im Allgemeinen durch seinen Anspruch auf Familienunterhalt gem. §§ 1360, 1360a BGB gedeckt ist3. Ist der Rollentausch von der früheren Restfamilie dagegen nicht hinzunehmen, weil weder wirtschaftliche Gesichtspunkte noch sonstige Gründe, die einen erkennbaren Vorteil für die neue Familie mit sich bringen, den Rollentausch rechtfer-
1 BGH v. 4.5.2011 – XII ZR 70/09, FamRZ 2011, 1041 = FamRB 2011, 202, FamRB 2011, 203 und FamRB 2011, 205. 2 OLG Köln v. 12.2.1997 – 14 WF 14/97, FamRZ 1997, 1104. 3 BGH v. 18.10.2000 – XII ZR 191/98, FamRZ 2001, 1065 und BGH v. 5.10.2006 – XII ZR 197/02, FamRZ 2006, 1827 = FamRB 2007, 4.
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Rn. 581
Kap. 6 B
tigen könnten1, ist der Unterhaltspflichtige im Umfang der ihm zuzumutenden Erwerbstätigkeit als leistungsfähig anzusehen2. Andererseits können die Unterhaltsberechtigten aus der früheren Ehe 579 auch ihrerseits nur verlangen, so gestellt zu werden, wie sie ohne den Rollentausch des Unterhaltspflichtigen stünden: Müsste also der Unterhaltspflichtige bei der ihm angesonnenen Fortführung seiner Vollerwerbstätigkeit auch den Barunterhalt für seine neue Familie aufbringen, weil sein neuer Ehegatte dann seinerseits nicht mehr oder nur noch eingeschränkt erwerbstätig sein könnte, so wären die minderjährigen Kinder aus der früheren Ehe dagegen nicht geschützt3.
Û
Wichtig: Die Hausmann-Rechtsprechung des BGH gilt nur für die Fälle gesteigerter Unterhaltspflicht, also nicht gegenüber volljährigen, nicht privilegierten Kindern4. Darauf, ob die weiteren unterhaltsbedürftigen Kinder aus einer zweiten Ehe oder einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft hervorgegangen sind, kommt es dagegen wegen der Gleichrangigkeit der Kinder gem. § 1609 Nr. 1 BGB nicht an5.
cc) Andere unterhaltspflichtige Verwandte und Vermögen des Kindes Gem. § 1603 Abs. 2 S. 3 BGB tritt die gesteigerte Unterhaltspflicht nicht 580 ein, wenn ein anderer unterhaltspflichtiger Verwandter vorhanden ist oder der Unterhalt aus dem Stamm des Kindesvermögens bestritten werden kann. Mit anderen Worten: Der Unterhaltspflichtige darf auch ein minderjähriges unverheiratetes Kind vorrangig an einen anderen unterhaltspflichtigen (und leistungsfähigen) Verwandten oder auch auf die Verwertung seines Vermögens verweisen, wenn ihm selbst bei Erfüllung seiner Unterhaltspflichten nicht wenigstens der angemessene Selbstbehalt des Abs. 1 dieser Vorschrift verbleibt. (1) Bei einem volljährigen Kind mit Vermögen fehlt es im Allgemeinen schon am Unterhaltsbedarf, weil es, wie sich aus einem Umkehrschluss aus § 1603 Abs. 2 S. 3, Halbs. 2 i.V.m. § 1602 Abs. 2 BGB ergibt, in erster Linie sein Vermögen zu verwerten hat, ehe es seine Eltern auf Zahlung 1 Sind in der neuen Ehe keine Kinder zu betreuen, muss der Rollentausch generell nicht hingenommen werden, BGH v. 18.10.2000 – XII ZR 191/98, FamRZ 2001, 1065. 2 So die von dem BVerfG v. 14.11.1984 – 1 BvR 14/82, 1 BvR 1642/82, FamRZ 1985, 143 gebilligte sog. Hausmann-Rechtsprechung des BGH v. 7.11.1979 – IV ZR 96/78, BGHZ 75, 272 = FamRZ 1980, 43 und BGH v. 13.3.1996 – XII ZR 2/95, FamRZ 1996, 796. 3 BGH v. 11.2.1987 – IVb ZR 81/85, FamRZ 1987, 472. 4 BGH v. 11.2.1987 – IVb ZR 81/85, FamRZ 1987, 472. 5 So schon nach früherem Recht BGH v. 21.2.2001 – XII ZR 308/98, FamRZ 2001, 614 (616) unter Aufgabe seines entgegengesetzten Beschlusses v. 21.12.1994 – XII ZR 209/94, FamRZ 1995, 598.
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Kap. 6 B Rn. 582
Kindesunterhalt
von Unterhalt in Anspruch nimmt (zu Einzelheiten s. Rn. 524 f.). Das gilt auch für die sog. privilegiert volljährigen Kinder des § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB, wie sich aus der fehlenden Ergänzung des § 1602 Abs. 2 BGB im Gegensatz zu der ausdrücklichen Bestimmung in § 1609 BGB ergibt1. 582
Inwieweit ein volljähriges Kind den Stamm seines Vermögens einzusetzen hat, ist allerdings aufgrund einer umfassenden Zumutbarkeitsabwägung zu entscheiden, die alle bedeutsamen Umstände einschließlich der Lage des Unterhaltspflichtigen berücksichtigt. Die für den Ehegattenunterhalt geltende Vorschrift des § 1577 Abs. 3 BGB ist nicht entsprechend anwendbar. Vielmehr ist die Grenze der Zumutbarkeit für das unterhaltsberechtigte Kind etwas enger zu ziehen als nach der genannten Vorschrift, nämlich bei der „groben Unbilligkeit“2. Auf jeden Fall ist dem Unterhaltsberechtigten ein sog. Notgroschen zu belassen, für dessen Höhe man sich an den diesbezüglichen Vorschriften des Sozialrechts orientieren kann3. Andererseits kann einem Kind mit einem kleineren Sparvermögen im Rahmen der Zumutbarkeitsabwägung dieses Sparvermögen auch zu belassen sein, wenn der unterhaltspflichtige Elternteil in überdurchschnittlich guten Einkommensverhältnissen lebt4.
583
(2) In der Praxis von erheblicher Bedeutung ist der Umstand, dass ein „anderer unterhaltspflichtiger Verwandter“ i.S.d. § 1603 Abs. 2 S. 3, Halbs. 1 BGB nicht nur die Großeltern eines Kindes, sondern vor allem auch der andere, das minderjährige Kind betreuende Elternteil sein kann. Zwar erfüllt dieser Elternteil seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind, wie sich aus § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB ergibt, idR bereits durch die Pflege und Erziehung, doch muss er sich zusätzlich noch am Barunterhalt des Kindes beteiligen, wenn der an sich allein barunterhaltspflichtige Elternteil den Unterhalt nicht ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Selbstbehalts leisten kann, dies dem betreuenden Elternteil aber nach seinen eigenen Einkommens- und Vermögensverhältnissen möglich wäre und die Inanspruchnahme des an sich allein barunterhaltspflichtigen Elternteils zu einem erheblichen finanziellen Ungleichgewicht zwischen den Eltern führen würde5.
1 AA Schwab/Borth V, Rn. 113. 2 BGH v. 5.11.1997 – XII ZR 20/96, FamRZ 1998, 367 (369) und OLG Düsseldorf v. 8.8.1991 – 6 UF 237/90, FamRZ 1992, 92 (94). 3 BGH v. 5.11.1997 – XII ZR 20/96, FamRZ 1998, 367 (369) unter Bezugnahme auf den damaligen § 88 Abs. 2 Nr. 8 BSHG nebst der dazugehörigen DurchführungsVO. 4 OLG Celle v. 2.5.2000 – 17 UF 236/99, FamRZ 2001, 47 für den Fall eines Sparvermögens des Kindes von gut 17 000 DM und einer teilweisen Verwendung dieses Vermögens zum Kauf eines Pkw. 5 BGH v. 7.11.1990 – XII ZR 123/89, FamRZ 1991, 182 (183) und BGH v. 4.5.2011 – XII ZR 70/09, FamRZ 2011, 1041 = FamRB 2011, 202, FamRB 2011, 203 und FamRB 2011, 205.
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Kindesunterhalt
Rn. 585
Kap. 6 B
In derartigen Fällen ist jeweils nach den Grundsätzen von Treu und Glau- 584 ben unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles zu entscheiden, in welchem Umfang das (Mehr-)Einkommen eines Elternteils aus einer Erwerbstätigkeit, die er neben der Betreuung ehelicher Kinder über das ihm obliegende Maß hinaus ausübt, bei der Bemessung der unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit zu berücksichtigten ist. Dabei wird ein finanzielles Ungleichgewicht zwischen den Eltern nicht schon dann angenommen werden können, wenn dem betreuenden Elternteil sein angemessener Selbstbehalt auch dann verbliebe, wenn er neben der Betreuung den gesamten Barunterhalt aufbringen müsste, weil dann die sich aus § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB ergebende grundsätzliche Freistellung des betreuenden Elternteils von einer Barunterhaltspflicht weitgehend unberücksichtigt bliebe. Stattdessen wird man bei der Prüfung des finanziellen Ungleichgewichts dem betreuenden Elternteil das von ihm erzielte Einkommen nur zum Teil zurechnen dürfen, ohne allerdings ein unterhaltserhebliches Einkommen vorab um den Wert der Betreuung vermindern zu können1. Da es sich um einen seltenen Ausnahmefall handelt, muss der an sich barunterhaltspflichtige Elternteil die Voraussetzungen für eine Beteiligung des betreuenden Elternteils am Barunterhalt darlegen und beweisen, wenn er sich darauf berufen will2.
III. Art der Unterhaltsgewährung 1. Bestimmungsrecht der Eltern Haben Eltern einem unverheirateten Kind Unterhalt zu gewähren, so 585 können sie gem. § 1612 Abs. 2 S. 1 BGB bestimmen, in welcher Art und für welche Zeit im Voraus der Unterhalt gewährt werden soll, sofern auf die Belange des Kindes die gebotene Rücksicht genommen wird. Leben die Eltern in einer Gemeinschaft mit ihrem Kind zusammen, wird es bei der Ausübung ihres Bestimmungsrechts idR keine Probleme geben, und sie werden ihrem Kind den Unterhalt größtenteils als Naturalunterhalt gewähren. Trennen sich die Eltern, kommt es dagegen bei minderjährigen Kindern gem. § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB zu einer Aufteilung des zu gewährenden Unterhalts in den Betreuungsunterhalt einerseits und den Barunterhalt andererseits, bei volljährigen Kindern gem. § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB zu einer anteiligen Aufteilung des dann nur noch zu gewährenden Barunterhalts nach den Erwerbs- und Vermögensverhältnissen der Eltern. In Abweichung von der Regel des § 1612 Abs. 1 S. 1 BGB erlaubt § 1612 Abs. 2 S. 1 BGB den Eltern unterhaltsbedürftiger unverheirateter Kinder jedoch, den Unterhalt statt in einer Geldrente in einer anderen Art und Weise zu gewähren, insbesondere also den Barunterhalt durch Naturalunterhalt zu Hause zu ersetzen. Dies gilt uneingeschränkt auch im Verhältnis zu unverheirateten volljährigen Kindern, die ihren Wunsch 1 BGH v. 7.11.1990 – XII ZR 123/89, FamRZ 1991, 182 (183). 2 BGH v. 28.1.1981 – IVb ZR 573/80, FamRZ 1981, 347.
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Kap. 6 B Rn. 586
Kindesunterhalt
nach freier Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse ggf. solange einschränken müssen, bis sie wirtschaftlich selbständig sind1. 586
Mit der Verheiratung eines minderjährigen oder volljährigen Kindes entfällt dann allerdings das Bestimmungsrecht der Eltern. Ist das verheiratete Kind trotz der vorrangigen Haftung seines Ehegatten gem. § 1608 S. 1 BGB noch unterhaltsbedürftig, ist ihm also nach der Grundregel des § 1612 Abs. 1 S. 1 BGB der Unterhalt in Form einer Geldrente zu gewähren. Wird das Kind geschieden und ist es trotz der gem. § 1584 S. 1 BGB vorrangigen Unterhaltsverpflichtung auch seines geschiedenen Ehegatten noch unterhaltsbedürftig, lebt das Bestimmungsrecht der Eltern nicht wieder auf, sondern es verbleibt bei der Verpflichtung zur Zahlung einer Geldrente gem. § 1612 Abs. 1 S. 1 BGB2. a) Bestimmungsrecht bei minderjährigen Kindern
587
Das Bestimmungsrecht steht bei minderjährigen Kindern den sorgeberechtigten Eltern als Teil ihres Sorgerechts zu. Sind beide Eltern sorgeberechtigt, was heute auch bei Trennung und Scheidung die Regel ist, so müssen sie gem. § 1627 S. 2 BGB versuchen, sich zu einigen. Misslingt dies, können sie das Familiengericht anrufen, das dann gem. § 1628 BGB entscheidet. Ist das Aufenthaltbestimmungsrecht bereits einem Elternteil, und sei es auch nur durch einstweilige Anordnung, übertragen, dann ist die Unterhaltsbestimmung des anderen Elternteils, die in das Aufenthaltsbestimmungsrecht eingreifen würde, also zB das Angebot des Vaters, den Unterhalt in seinem Haushalt in Natur zu gewähren, obwohl sich das Kind berechtigterweise bei der Mutter aufhält, mangels Realisierbarkeit unwirksam3. Ist nur ein Elternteil sorgeberechtigt, kann der andere Elternteil schon nach der ausdrücklichen Vorschrift des § 1612 Abs. 2 S. 3 BGB eine Unterhaltsbestimmung nur für die Zeit treffen, in der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen ist. b) Bestimmungsrecht bei volljährigen Kindern
588
Bei volljährigen Kindern fehlt es an jeglicher gesetzlichen Regelung der Frage, ob die Eltern auch nach dem Wegfall ihres Sorgerechts ihr Bestimmungsrecht nach § 1612 Abs. 2 S. 1 BGB nur gemeinsam oder jeder selbständig ausüben können. Der Zweck der Vorschrift, den Eltern aufgrund ihres Bestimmungsrechts eine günstigere Erfüllung ihrer Unterhaltspflichten insbesondere durch Gewährung von Naturalunterhalt zu ermöglichen, legt es für den Regelfall allerdings nahe, das Bestimmungsrecht demjenigen Elternteil zuzubilligen, der von dem volljährigen Kind auf Unterhalt in Anspruch genommen wird4. 1 2 3 4
BGH v. 3.12.1980 – IVb ZR 537/80, FamRZ 1981, 250. OLG Köln v. 2.11.1982 – 21 UF 104/82, FamRZ 1983, 643. OLG Köln v. 23.9.1997 – 14 UF 105/97, FamRZ 1998, 1194. BGH v. 26.10.1983 – IVb ZR 14/82, FamRZ 1984, 37 (39).
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Kindesunterhalt
Rn. 590
Kap. 6 B
Wird nur ein Elternteil von einem volljährigen Kind auf Unterhaltsleis- 589 tungen in Anspruch genommen, ist diese Lösung unproblematisch. Werden dagegen beide Eltern von ihrem volljährigen Kind auf Unterhalt in Anspruch genommen und treffen sie gegenläufige Unterhaltsbestimmungen dahingehend, dass das Kind den Unterhalt jeweils in ihrem Haushalt entgegenzunehmen habe, dann muss dieser Konflikt inzident in demjenigen Zivilrechtstreit entschieden werden, in dem es auf die (Wirksamkeit) der Unterhaltsbestimmung ankommt1. Dabei sind die gegenläufigen Interessen der Eltern gegeneinander abzuwägen, wobei auf der Seite desjenigen Elternteils, der eine andere Art der Unterhaltsgewährung als die Zahlung einer Geldrente anstrebt, vor allem seine wirtschaftlichen Gründe beachtet werden müssen. Würde er also durch die Entrichtung einer Geldrente besonders beschwert, während er aufgrund seiner häuslichen oder sonstigen Lebensverhältnisse zu Verpflegungsleistungen und Gewährung von Wohnraum unschwer in der Lage wäre, so fällt die Entlastung, die für ihn mit der Gewährung von Naturalunterhalt verbunden ist, auch im Verhältnis zum anderen Elternteil erheblich ins Gewicht. Behält sich der unterhaltsbestimmende Elternteil einen Rückgriff gegen den anderen Elternteil im Wege eines familienrechtlichen Ausgleichsanspruchs vor (vgl. dazu Rn. 613 ff.), so werden dessen Belange nicht schon allein dadurch unzumutbar beeinträchtigt. Vielmehr ist zu prüfen, ob der Ausgleichsanspruch nicht sogar hinter den Baraufwendungen zurückbliebe, die der andere Elternteil ansonsten im Rahmen seiner Haftungsquote nach § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB zu erbringen hätte2.
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Wichtig: Eine unwirksame Unterhaltsbestimmung würde dazu führen, dass es bei der Grundregel des § 1612 Abs. 1 S. 1 BGB, also der Pflicht zur Zahlung einer Geldrente bliebe, was aber am wenigsten im Interesse der Eltern liegen dürfte.
c) Bestimmungsrecht als Gestaltungsrecht Bei dem Unterhaltsbestimmungsrecht handelt es sich um ein einseitiges 590 Gestaltungsrecht der Eltern, das durch empfangsbedürftige Willenserklärung auszuüben ist, die aber nicht ausdrücklich abgegeben werden muss, sondern auch durch schlüssiges Verhalten erfolgen kann3. Die bloße Tatsache der Unterhaltsgewährung in Natur reicht allerdings für eine Unterhaltsbestimmung durch schlüssiges Verhalten noch nicht aus. Vielmehr ist in einem solchen Fall, wie auch sonst bei sog. stillschweigenden Willenserklärungen, zunächst zu ermitteln, ob das Verhalten des Unterhaltspflichtigen überhaupt als eine auf eine Rechtsfolge gerichtete Willenserklärung zu werten ist. Der Erklärende muss also wenigstens in dem Bewusstsein handeln, dass eine Willenserklärung von ihm möglicher1 BGH v. 27.4.1988 – IVb ZR 56/87, FamRZ 1988, 831 (833). 2 BGH v. 27.4.1988 – IVb ZR 56/87, FamRZ 1988, 831 (833). 3 BGH v. 9.2.1983 – IVb ZR 354/81, FamRZ 1983, 369.
Krenzler
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Kap. 6 B Rn. 591
Kindesunterhalt
weise erforderlich ist. Demgemäß setzt auch eine Unterhaltsbestimmung durch konkludentes Verhalten voraus, dass der Unterhaltspflichtige wusste oder wenigstens mit der Möglichkeit rechnete, einer in diesem Zusammenhang von ihm abzugebenden Willenserklärung könne rechtliche Bedeutung zukommen1.
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Praxistipp: Es empfiehlt sich deshalb, eine von der bloßen Zahlung einer Geldrente abweichende Unterhaltsgewährung mit dem Kind zu besprechen und dabei oder besser noch zB in Form eines Briefes den Willen zum Ausdruck zu bringen, von dem Unterhaltsbestimmungsrecht Gebrauch machen zu wollen.
d) Wirksame Ausübung des Bestimmungsrechts 591
Die Unterhaltsbestimmung ist nur dann wirksam, wenn sie den gesamten Lebensbedarf des Kindes umfasst, dem Kind also Klarheit darüber verschafft, wie es in Zukunft insgesamt versorgt sein wird. Dabei kann die Unterhaltsbestimmung durchaus in unterschiedlichen Teilleistungen wie zB Kost und Logis im Elternhaus, Taschengeld und zusätzlichen Barleistungen für zweckgebundene Ausgaben bestehen. Nicht ausreichend ist dagegen das Angebot einzelner Leistungen wie Kost und Logis und die Verweisung des Kindes wegen des übrigen Unterhalts an den anderen, nicht oder nicht mehr leistungswilligen Elternteil2 oder auch nur das Offenlassen der restlichen Unterhaltsleistungen3.
592
Unwirksam ist eine Unterhaltsbestimmung auch dann, wenn sie nicht realisierbar ist, also zB der Studienort des Kindes zu weit vom Elternhaus entfernt liegt, um die regelmäßigen Fahrten zwischen einem von der ZVS zugewiesenen Studienort und dem Elternhaus als noch zumutbar erscheinen zu lassen4; oder wenn die Unterhaltsbestimmung die gebotene Rücksicht auf die Belange des Kindes vermissen lässt, also zB einer erwachsenen Tochter Unterhalt im eigenen Haus angeboten, zugleich aber ihrem Freund ohne besonderen Anlass Hausverbot erteilt wird5; und schließlich auch dann, wenn sie missbräuchlich ist, also zB das Kind mit Einverständnis der Eltern eine eigene Wohnung bezogen hat und nach längerer Zeit ohne Veränderung der Verhältnisse im Übrigen auf Naturalunterhalt im Haus der Eltern verwiesen werden soll6.
1 2 3 4
BGH v. 9.2.1983 – IVb ZR 354/81, FamRZ 1983, 369. BGH v. 6.3.1985 – IVb ZR 74/83, FamRZ 1985, 584. BGH v. 25.11.1992 – XII ZR 164/91, FamRZ 1993, 417 (420). BGH v. 20.3.1996 – XII ZR 45/95, FamRZ 1996, 798; OLG Celle v. 25.7.2000 – 12 UF 124/2000 bejaht die Unwirksamkeit bei einer täglichen Reisezeit von mindestens drei Stunden. 5 LG Kiel v. 27.6.1983 – 3 T 183/83, FamRZ 1984, 193; OLG Hamburg v. 21.7.1988 – 2 W 36/88, FamRZ 1989, 309. 6 OLG Köln v. 1.3.1985 – 4 UF 298/84, FamRZ 1985, 829 (830).
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Kindesunterhalt
Û
Rn. 596
Kap. 6 B
Wichtig: Das Bestimmungsrecht der Eltern umfasst, wie sich aus dem Wortlaut des § 1612 Abs. 2 S. 1 BGB ergibt, nur die Art und den Zeitraum der Unterhaltsgewährung, nicht das Maß des zu gewährenden Unterhalts, also zB die Höhe des Taschengeldes oder anderer Barleistungen. Hierüber müssen sich die Eltern deshalb mit ihrem volljährigen Kind in jedem Fall noch verständigen, und zwar auch dann, wenn sie bereits in der Zeit der Minderjährigkeit ihres Kindes eine einvernehmliche Regelung gefunden hatten. Denn das volljährig gewordene Kind ist an diese Vereinbarung seiner Eltern, bei der es sich möglicherweise um einen Vertrag zulasten Dritter handelt, nicht gebunden.
e) Rechtsfolgen des ausgeübten Bestimmungsrechts Folge einer wirksamen Unterhaltsbestimmung ist ihre Bindungswirkung 593 für das Kind, den anderen Elternteil und auch für Dritte, insbesondere die staatlichen Stellen wie zB der BAföG-Ämter bei übergeleiteten Unterhaltsansprüchen oder der Familiengerichte. Der Familienrichter kann also dem Kind bzw. einem BAföG-Amt nicht etwa eine Geldrente zusprechen, wenn die Eltern eine wirksame anderweitige Unterhaltsbestimmung getroffen haben. Im Übrigen erstreckt sich die Bindungswirkung auf die Unterhaltsbe- 594 stimmung als Ganzes, so dass sich das Kind nicht etwa die ihm genehmen Teile heraussuchen, also zB die Auszahlung des ihm angebotenen Geldes für Sachaufwendungen und das Taschengeld verlangen, die Entgegennahme des Naturalunterhalts in Gestalt von Kost und Logis aber ablehnen könnte1. Denn das Unterhaltsbestimmungsrecht der Eltern hat auch den Zweck, ihnen einen weitergehenden Einfluss auf die Lebensführung des Kindes zu verschaffen als dies bei einer Unterhaltsgewährung bloß in Geld möglich ist. Mit diesem Zweck des elterlichen Bestimmungsrechts wäre aber die Gewährung einer Teilrente oder auch nur die Zahlung des von den Eltern ersparten Unterhalts nicht vereinbar. Nimmt also ein Kind den ihm angebotenen Unterhalt nicht gem. der wirksamen Unterhaltsbestimmung seiner Eltern entgegen, so verliert es seinen Unterhaltsanspruch ganz2. Folge einer unwirksamen Unterhaltsbestimmung ist dagegen, dass dem volljährigen Kind gem. der Grundregel des § 1612 Abs. 1 S. 1 BGB ein Unterhaltsanspruch in Gestalt einer Geldrente zusteht.
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f) Gerichtliche Überprüfung der Unterhaltsbestimmung Ist ein Kind mit der Unterhaltsbestimmung seiner Eltern nicht einverstanden, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine Eltern vor dem zustän1 BGH v. 3.12.1980 – IVb ZR 537/80, FamRZ 1981, 250. 2 BGH v. 3.12.1980 – IVb ZR 537/80, FamRZ 1981, 250.
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Kap. 6 B Rn. 597
Kindesunterhalt
digen Familiengericht auf Zahlung einer Geldrente nach § 1612 Abs. 1 S. 1 BGB in Anspruch zu nehmen. Das vor der Unterhaltsrechtsreform in § 1612 Abs. 2 S. 2 aF BGB vorgesehene besondere Verfahren zur Abänderung der Unterhaltsbestimmung der Eltern ist durch die Unterhaltsrechtsreform abgeschafft worden. Stattdessen ist die Wirksamkeit der elterlichen Unterhaltsbestimmung nunmehr von dem Familienrichter im Rahmen des Unterhaltsrechtsstreits zu prüfen. Ausschließlicher Gerichtsstand für einen Antrag minderjähriger Kinder ist gem. § 232 Abs. 1 Nr. 2 FamFG deren Wohnsitz bzw. der Wohnsitz des Elternteils, der sie vertritt, während volljährige Kinder ihren Antrag bei dem für den gewöhnlichen Aufenthalt des in Anspruch genommenen Elternteils zuständigen Gericht stellen müssen (§ 232 Abs. 3 FamFG). Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Unterhaltsbestimmung der Eltern oder eines Elternteils auf die Belange des Kindes nicht die gebotene Rücksicht nimmt, liegt bei dem Unterhalt begehrenden Kind1. Wie schon nach früherem Recht, ist darüber dann im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Interessen des Kindes und seiner Eltern zu entscheiden2, wobei im Einzelnen vieles streitig ist. Einigkeit besteht jedoch darüber, dass das Erreichen der Volljährigkeit und der Wunsch des Kindes nach einer selbständigeren Lebensstellung und die dementsprechend einseitig getroffene Entscheidung, aus dem Elternhaus auszuziehen, nicht ausreichen3. Vielmehr muss die Entgegennahme von Naturalunterhalt im elterlichen Haushalt für das Kind unzumutbar sein. 597
Das ist nicht schon dann der Fall, wenn es zu den zwischen den Generationen üblichen Spannungen oder gelegentlichen Wortentgleisungen kommt4 oder einem Vater ein dominierendes, aber nicht durch Tatsachen belegtes Verhalten vorgeworfen wird5. Auch tiefgreifende Entfremdungen führen für sich allein genommen noch nicht zur Unwirksamkeit der elterlichen Unterhaltsbestimmung, ohne dass es darauf ankäme, wer die Entfremdung verschuldet hat. Wird die Entfremdung allerdings von einem rücksichtslosen oder provozierenden Verhalten des Kindes oder umgekehrt von kleinlichen Erziehungs- und Überwachungsmaßnahmen gegenüber dem Kind begleitet, so ist dies bei der Prüfung der Wirksamkeit der Unterhaltsbestimmung zu berücksichtigen6. Gleiches gilt für den Fall, dass es zwischen dem Kind und der neuen Lebensgefährtin des Vaters, die er in seine Wohnung aufgenommen hat, ständig zu Auseinandersetzungen kommt7. Ist ein Kind nach der Trennung und Scheidung der 1 Einhellige Meinung schon nach früherem Recht, vgl. etwa BayObLG v. 14.4.1992 – 1Z BR 27/92, FamRZ 1992. 2 BayObLG v. 19.5.1999 – 1Z BR 188/98, FamRZ 2000, 976 (977). 3 Vgl. etwa KG v. 9.1.1990 – 1 W 6225/89, FamRZ 1990, 791 (792). 4 OLG Frankfurt v. 2.6.1982 – 20 W 300/82, FamRZ 1982, 1231. 5 BayObLG v. 14.4.1992 – 1Z BR 27/92, FamRZ 1992, 1219. 6 BayObLG v. 14.4.1992 – 1Z BR 27/92, FamRZ 1992, 1219; KG v. 9.1.1990 – 1 W 6225/89, FamRZ 1990, 791; OLG Celle v. 23.7.1996 – 18 W 19/96, FamRZ 1997, 966. 7 OLG Koblenz v. 11.3.1999 – 13 UF 40/99, NJWE-FER 2000, 81.
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Kindesunterhalt
Rn. 601
Kap. 6 B
Eltern bei einem Elternteil groß geworden und hat es seine Beziehungen zu dem anderen Elternteil nicht aufrechterhalten und weiterentwickeln können, so kann dieser Elternteil von dem Kind nach einer zehn Jahre zurückliegenden Scheidung der Ehe nicht mehr den Umzug in seinen Haushalt und die Entgegennehme des Unterhalts in Natur verlangen1. 2. Geldrente a) Eine Geldrente ist nach der Bestimmung des § 1612 Abs. 3 S. 1 BGB 598 monatlich im Voraus, also jeweils zu Beginn eines Kalendermonats, zu zahlen. Die Verpflichtung ist erfüllt, wenn am Ersten des jeweiligen Monats die Zahlung vorgenommen wird, auch wenn der Berechtigte dann nicht schon am Ersten eines Monats über das Geld verfügen kann2. Eltern können kraft des ihnen in § 1612 Abs. 2 S. 1 BGB eingeräumten Bestimmungsrechts zwar auch einen anderen Fälligkeitstermin und andere Vorauszahlungsabschnitte festlegen, doch ist diese Möglichkeit nur von geringer praktischer Bedeutung. Tritt die Unterhaltsbedürftigkeit im Laufe eines Monats auf oder entfällt 599 der Unterhaltsanspruch im Laufe eines Monats, ist er für diesen Monat auch nur zeitanteilig zu erfüllen3. Für Teilleistungen auf Unterhaltsansprüche gelten im Übrigen die §§ 366, 367 BGB, was insbesondere bei Unterhaltsrückständen von Bedeutung ist, wenn der Unterhaltsschuldner bei Zahlung keine Tilgungsbestimmung trifft. b) Eine Aufrechnung gegen Unterhaltsforderungen ist gem. § 394 BGB 600 i.V.m. § 850b Abs. 1 Nr. 2 ZPO ausgeschlossen, und zwar auch hinsichtlich rückständiger Unterhaltsbeträge4. Ebenso ist die Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts unzulässig, weil auch dies dem Zweck des § 850b Abs. 1 Nr. 2 ZPO zuwiderliefe, dem Unterhaltsberechtigten die zu seinem Lebensunterhalt bestimmten Mittel unverkürzt und rechtzeitig zukommen zu lassen5.
IV. Unterschiedliche Haftung der Eltern – Rangverhältnisse 1. Gleichrang von Betreuungs- und Barunterhalt a) Grundlagen Eltern schulden ihren Kindern gem. § 1610 Abs. 2 BGB die Deckung ihres 601 gesamten Lebensbedarfs, der sich bei minderjährigen Kindern nicht nur aus den Kosten zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse einschließlich der 1 BayObLG v. 20.7.1989 – BReg.1a Z 3/89, FamRZ 1989, 1222; BayObLG v. 19.5.1999 – 1Z BR 188/98, FamRZ 2000, 976 (978). 2 OLG Köln v. 26.3.1990 – 2 W 40/90, FamRZ 1990, 1243. 3 BGH v. 24.2.1988 – IVb ZR 3/87, FamRZ 1988, 604 (605). 4 BGH v. 11.11.1959 – IV ZR 88/59, FamRZ 1960, 110 (113). 5 BGH v. 9.11.1979 – V ZR 226/77, NJW 1980, 450. Zu Ausnahmen s. oben Rn. 500.
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Kap. 6 B Rn. 602
Kindesunterhalt
Teilnahme am sozialen Leben (Barunterhalt), sondern auch aus ihrer Pflege und Erziehung (Betreuungsunterhalt) zusammensetzt. Die Eltern haften jedoch für die Erfüllung dieser Unterhaltspflichten nicht, wie man gefühlsmäßig erwarten dürfte, als Gesamtschuldner, sondern gem. § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB nur anteilig nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen. Für die Pflege und Erziehung eines minderjährigen unverheirateten Kindes legt § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB zugleich fest, dass der das Kind betreuende Elternteil seine Verpflichtung, zum Unterhalt dieses Kindes beizutragen, idR bereits durch dessen Pflege und Erziehung erfüllt. Das bedeutet, dass die Betreuung eines Kindes gleichrangig neben dem Barunterhalt steht, der ein Kind betreuende Elternteil also grundsätzlich keinen weiteren Unterhalt zu leisten hat, und zwar auch dann nicht, wenn er zusätzlich ganztägig erwerbstätig ist1. Denn für die Erfüllung der Betreuungspflichten und deren Gleichwertigkeit mit dem Barunterhalt kommt es nicht darauf an, in welcher Weise und zu welchen Zeiten sich ein Elternteil der Pflege und Erziehung des Kindes widmet2. Dies gilt trotz des mit zunehmendem Alter eines Kindes abnehmenden Betreuungsbedarfs für die gesamte Dauer der Minderjährigkeit unter Einschluss auch der letzten Jahre vor Vollendung des 18. Lebensjahres3. 602
Mit Eintritt der Volljährigkeit eines Kindes entfällt dagegen sein Betreuungsbedarf und damit die gesetzliche Rechtfertigung, den bisher allein barunterhaltspflichtig gewesenen Elternteil auch weiterhin allein mit dem nunmehr insgesamt in Form einer Geldrente zu entrichtenden Unterhalt des Kindes zu belasten. Vielmehr ist dann auch derjenige Elternteil, der bisher die Betreuung des Kindes übernommen hatte, zur Beteiligung an dem Barunterhalt des Kindes heranzuziehen, und zwar unabhängig davon, ob dieser Elternteil tatsächlich weiterhin Betreuungsleistungen für das Kind erbringt oder es sich um ein privilegiert volljähriges Kind i.S.d. § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB handelt (s. dazu Rn. 465). Voraussetzung ist natürlich, dass der barunterhaltspflichtig gewordene Elternteil seinerseits über Einkünfte verfügt, die seinen notwendigen, bei privilegiert volljährigen Kindern seinen angemessenen Selbstbehalt (s. dazu Rn. 559 ff.) übersteigen4. b) Ausnahmen
603
Wenn § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB ausdrücklich vom Regelfall spricht, so ergibt sich daraus ohne weiteres die Möglichkeit von Ausnahmen. Diese können sich sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus anderen Gründen wie zB der Fremdbetreuung (s. dazu Rn. 520 ff.) oder auch einem eigenen Hausstand eines minderjährigen Kindes ergeben. 1 2 3 4
BGH v. 28.1.1981 – IVb ZR 573/80, FamRZ 1981, 347 (348). BGH v. 2.7.1980 – IVb ZR 519/80, FamRZ 1980, 994. BGH in st. Rspr. wie zB v. 2.3.1994 – XII ZR 215/92, FamRZ 1994, 696. BGH in st. Rspr., zB BGH v. 19.11.1997 – XII ZR 1/96, FamRZ 1998, 286 (288), und für privilegiert volljährige Kinder BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 (Tz. 36) = FamRB 2011, 101 und FamRB 2011, 102.
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Kindesunterhalt
Rn. 605
Kap. 6 B
aa) Wirtschaftliche Gründe für eine Abweichung von der Regel des § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB liegen vor, wenn der barunterhaltspflichtige Elternteil
604
– nicht einmal über den eigenen notwendigen Selbstbehalt verfügt (absoluter Mangelfall, s. dazu Rn. 564) oder – den Unterhalt für das Kind jedenfalls nicht ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Selbstbehalts aufbringen könnte, der betreuende Elternteil aber den Kindesunterhalt in vollem Umfang ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts gewähren kann. Denn die gesteigerte Unterhaltspflicht des barunterhaltspflichtigen Elternteils gem. § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB tritt gem. S. 3 dieser Vorschrift auch in einem solchen Fall nicht ein, weil der andere unterhaltspflichtige Verwandte im Sinne dieser Vorschrift auch der andere Elternteil sein kann1; – den Unterhalt für das Kind zwar ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Selbstbehalts aufbringen könnte, der betreuende Elternteil aber über sehr viel günstigere Erwerbs- und Vermögensverhältnisse verfügt und die Anwendung des § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB deshalb zu einem erheblichen wirtschaftlichen Ungleichgewicht zwischen den Eltern führen würde2. Allerdings ist in solchen Fällen dann auch ein höherer Barbedarf des Kindes in Betracht zu ziehen und dieser Bedarf unter Berücksichtigung der Betreuungsleistungen des einen Elternteils auf beide Eltern in einem angemessenen Verhältnis aufzuteilen3. bb) Lebt das minderjährige Kind schon in einem eigenen Haushalt, fehlt 605 es an der Pflege und Erziehung des Kindes durch einen Elternteil und damit an der Anwendbarkeit des § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB. Stattdessen bleibt es bei der Grundregel des Abs. 3 S. 1 der Vorschrift, also der anteiligen Haftung der Eltern für den Barbedarf des Kindes. Gleiches gilt, wenn das Kind – vollständig – von Dritten, also zB den Großeltern oder Pflegeeltern, betreut wird4. Bedient sich der an sich für die Erziehung und Pflege des Kindes zuständige Elternteil lediglich zeitweise der Hilfe Dritter, bleibt es dagegen bei der Anwendung des § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB5. Bei der Unterbringung eines Kindes in einem Internat wird sich der betreuende Elternteil allerdings zumindest im Umfang der damit verbundenen Einsparungen, die unter Heranziehung der Sachbezugsverordnung ermittelt bzw. geschätzt werden können, an den mit der Internatsunterbringung verbundenen Mehrkosten beteiligen müssen6.
1 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 (Tz. 36) = FamRB 2011, 101 und FamRB 2011, 102. 2 BGH v. 26.10.1983 – IVb ZR 13/82, FamRZ 1984, 39 (40) in einem Fall drei- bis vierfach höherer Einkünfte und wesentlich größeren Vermögens. 3 BGH v. 26.10.1983 – IVb ZR 13/82, FamRZ 1984, 39 (40). 4 KG v. 8.5.1984 – 17 UF 5983/83, FamRZ 1984, 1131 (1132). 5 S. dazu Rn. 520 ff. „Fremdbetreuung“. 6 OLG Nürnberg v. 21.10.1992 – 10 WF 2533/92, FamRZ 1993, 837; OLG Karlsruhe v. 21.9.2007 – 5 UF 3/07, FamRZ 2008, 1209.
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Kap. 6 B Rn. 606 606
Kindesunterhalt
cc) Die Betreuung eines minderjährigen behinderten Kindes ist idR sowohl mit einem erhöhten Betreuungs- als auch mit einem erhöhten Barbedarf verbunden. Bei dessen Aufteilung auf die Eltern verbietet sich deshalb eine schematische Verteilung nach der Grundregel des § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB. Vielmehr sind bei der Bemessung der Verteilungsquote die erhöhten Betreuungsleistungen des betreuenden Elternteils nach den Umständen des Einzelfalles zu berücksichtigen1. c) Gleichrangige Entlastung der Eltern bei eigenen Einkünften des Kindes
607
Die Gleichrangigkeit von Bar- und Betreuungsunterhalt zeigt sich schließlich daran, dass eigene anrechenbare Einkünfte eines minderjährigen unterhaltsberechtigten Kindes nicht etwa nur dem barunterhaltspflichtigen Elternteil zugutekommen. Vielmehr müssen sie beide Eltern zu gleichen Teilen entlasten und dürfen deshalb, was oft übersehen wird, nur zur Hälfte auf den Barunterhaltsanspruch angerechnet werden2. Ob der den Betreuungsunterhalt leistende Elternteil von dem Kind dann die andere Hälfte seiner anrechenbaren Einkünfte als Beitrag zu dessen Lebenshaltungskosten einfordert („Kostgeld“), bleibt ihm überlassen. Beispiel: Die Eltern sind beide erwerbstätig, und der Vater verfügt über bereinigte monatliche Einkünfte von 2200 Euro, die Mutter von 840 Euro. Der 16-jährige Sohn und die 14-jährige Tochter leben bei der Mutter, der Sohn erhält eine Ausbildungsvergütung von 330 Euro monatlich netto. Nach Abzug der Pauschale von 90 Euro für ausbildungsbedingten Mehrbedarf verbleiben anrechnungsfähige 240 Euro. Der vom Vater für die beiden Kinder zu zahlende Unterhalt berechnet sich dann wie folgt: Bereinigtes Nettoeinkommen Kind 1 (16) 469 – 92 ./. 1/2 anrechenbares Einkommen zu zahlender Unterhalt Kind 2 (14) 469 – 92
608
Vater 2200 Euro 377 Euro 120 Euro 257 Euro 377 Euro
Mutter 840 Euro
Bei einem volljährigen Kind ist die Ausbildungsvergütung dagegen in volle Höhe als bedarfsdeckend von seinem Unterhalt in Abzug zu bringen, und zwar auch dann, wenn es noch bei einem Elternteil wohnt. Denn das Kind muss seinen gesamten Bedarf einschließlich des Wohnbedarfs aus seinem eigenen Einkommen, dem Kindergeld und seinem Barunterhalt decken, wobei die Wohnungsgewährung als Naturalleistung auf den ihm von dem betreffenden Elternteil geschuldeten Unterhalt anzusehen ist. Ist dieser Elternteil mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig, 1 BGH v. 27.4.1983 – IVb ZR 378/81, FamRZ 1983, 689 (690). 2 BGH v. 8.4.1981 – IVb ZR 559/80, FamRZ 1981, 541 (543) und BGH v. 4.11.1987 – IVb ZR 75/86, FamRZ 1988, 159 (162), jeweils für Ausbildungsvergütung BGH v. 21.1.2009 – XII ZR 54/06, FamRZ 2009, 762 = FamRB 2009, 172 und FamRB 2009, 173 für Halbwaisenrente.
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Kindesunterhalt
Rn. 611
Kap. 6 B
handelt es sich bei der Wohnungsgewährung um eine freiwillige Leistung, mit der der barunterhaltspflichtige Elternteil allerdings regelmäßig nicht entlastet werden soll, weshalb er sich darauf auch nicht berufen kann1. d) Wechsel in der Betreuungsperson Kommt es zu einem Wechsel der Betreuungsperson, was bei Kindern in 609 der Pubertät nicht selten der Fall ist, wechseln auch die Unterhaltspflichten der Eltern: der bisher betreuende Elternteil wird barunterhaltspflichtig und die Barunterhaltspflicht des anderen Elternteils entfällt. Der nunmehr betreuende Elternteil muss den barunterhaltspflichtig gewordenen Elternteil deshalb möglichst schnell auf Unterhaltszahlung in Anspruch nehmen und ihn in Verzug setzen. Besteht gegen den nunmehr betreuenden Elternteil ein Titel auf Zahlung von Unterhalt für das Kind, muss er außerdem unverzüglich einen Antrag auf Abänderung dieses Titels stellen, wenn er sich die Möglichkeit eines familienrechtlichen Ausgleichsanspruchs gegen den anderen Elternteil eröffnen will2. Teilen sich die Eltern die Betreuungsleistung auf (sog. Wechselmodell), 610 verbleibt es bei der Barunterhaltspflicht desjenigen Elternteils, der sich in geringerem Maße an der Betreuung beteiligt als der andere. Der zeitlichen Komponente kommt dabei eine indizielle Bedeutung zu3. 2. Die Haftungsquoten der Eltern beim Barunterhalt a) Sind beide Eltern einem Kind barunterhaltspflichtig, so haften sie für 611 diesen Unterhalt nach der Grundregel des § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB als gleichnahe Verwandte anteilig nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen. In der Praxis kommt es allerdings vor allem auf die Erwerbseinkünfte der Eltern an, wobei diese nach den für ihre Leistungsfähigkeit maßgeblichen Grundsätzen zu ermitteln sind (s. dazu Rn. 559 ff.). Das bedeutet, dass jedenfalls bei kleinen und mittleren Einkommensverhältnissen bei der Ermittlung der jeweiligen Haftungsquote von den Einkünften der Eltern neben den als abzugsfähig anzuerkennenden Positionen immer erst noch der notwendige oder der angemessene Selbstbehalt in Abzug zu bringen ist, weil andernfalls der weniger verdienende Elternteil stärker als der andere mit Unterhaltsleistungen belastet werden würde4. 1 BGH v. 26.10.2005 – XII ZR 34/03, FamRZ 2006, 99 = FamRB 2006, 3. 2 BGH v. 25.5.1994 – XII ZR 78/93, FamRZ 1994, 1102. Sinnvollerweise wird der Abänderungsantrag eventuell mit einem Leistungsantrag auf Zahlung von Unterhalt und Rückzahlung von überzahltem Unterhalt verbunden werden. Zu Letzterem vgl. Rn. 664. 3 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 161/04, FamRZ 2007, 707 = FamRB 2007, 163 hat eine Aufteilung im Verhältnis 36 (Vater) zu 64 % noch nicht als Wechselmodell mit im Wesentlichen gleichen Anteilen angesehen und es bei der vollen Barunterhaltspflicht des Vaters belassen. 4 BGH v. 6.11.1985 – IVb ZR 45/84 und IVb 69/84, FamRZ 1986, 151 (152) und 153 (154).
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Kap. 6 B Rn. 612
Kindesunterhalt
Beispiel: Der Vater verfügt über ein bereinigtes Nettoeinkommen von 2100 Euro monatlich, die Mutter über ein solches von 1200 Euro monatlich. Bei der Mutter lebt ein 16-jähriges und deshalb vorrangiges Kind, dem der Vater nach Einkommensgruppe 3 der Düsseldorfer Tabelle nach Abzug des hälftigen Kindergeldes einen monatlichen Unterhalt von 377 Euro schuldet. Das außer Haus lebende volljährige Kind hat einen Unterhaltsbedarf von 670 Euro und erhält eine Ausbildungsvergütung von 480 Euro. Nach Abzug des berufsbedingten Mehrbedarfs von 90 Euro verbleibt ein ungedeckter Bedarf von 390 Euro und nach Abzug des vollen Kindergeldes von 184 Euro noch ein Bedarf von 206 Euro. Die Berechnung der elterlichen Haftungsanteile sieht dann wie folgt aus: Einkommen des Vaters ./. vorrangiger Kindesunterhalt ./. angemessener Selbstbehalt gegenüber einem volljährigen Kind für die Haftungsquote maßgebliches Einkommen Einkommen der Mutter ./. angemessener Selbstbehalt für die Haftungsquote maßgebliches Einkommen
2100 Euro 377 Euro 1150 Euro 573 Euro 1200 Euro 1150 Euro 50 Euro
Zur Deckung des Unterhaltsbedarfs des volljährigen Kindes von 206 Euro stehen also insgesamt 623 Euro zur Verfügung, von denen 91,97 % auf den Vater und 8,03 % auf die Mutter entfallen. Infolgedessen haben der Vater 189,46 Euro und die Mutter 16,54 Euro des ungedeckten Unterhaltsbedarfs des volljährigen Kindes zu tragen.
612
b) Kompliziert wird die Ermittlung der Haftungsquoten, wenn sowohl ein volljähriges als auch ein minderjähriges Kind noch im Haushalt eines Elternteils leben. Denn zum einen ist dann für die Bemessung des Unterhaltsbedarfs des volljährigen Kindes von den zusammengerechneten Einkünften beider Eltern auszugehen, wobei jedoch jeder Elternteil nie mehr als denjenigen Unterhalt zu leisten hat, der sich allein nach seinem Einkommen aus der Düsseldorfer Tabelle ergäbe (zu den Einzelheiten s. Rn. 465 ff., 468); und zum anderen sind im Verhältnis zu den beiden Kindern unterschiedliche Selbstbehaltsbeträge, nämlich der notwendige Selbstbehalt gegenüber dem minderjährigen Kind und der angemessene Selbstbehalt gegenüber dem volljährigen Kind (s. dazu Rn. 602) in Ansatz zu bringen sein. Die Folgen für die Haftungsquoten sollen an nachstehenden Beispielen, bei denen von denselben Einkommensverhältnissen der Eltern ausgegangen wird wie in dem vorstehenden Beispiel Rn. 611, verdeutlicht werden: Das volljährige Kind besucht eine allgemeinbildende Schule, ist also ein privilegiert volljähriges Kind i.S.d. § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB. Dann sind die beiden Kinder gem. § 1609 Nr. 1 BGB gleichrangig, so dass ein Vorwegabzug des für das minderjährige Kind aufzubringenden Barunterhalts beim Vater nicht in Betracht kommt. Außerdem besteht gegenüber beiden Kindern eine gesteigerte Unterhaltspflicht der Eltern, so dass ihnen nur der notwendige Selbstbehalt zu belassen ist. Der Unterhaltsbedarf des volljährigen Kindes errechnet sich nun aber aus den zusammengerechneten Einkünften beider Eltern, also einem Einkommen von 3300 Euro und damit unter Berücksichtigung eines Zuschlags wegen nur zweier Unterhaltsberechtigter aus der Einkommensgruppe 7 der Düsseldorfer Tabelle. Zur Deckung des sich daraus ergebenden Unterhaltsbedarfs des volljährigen Kindes von 664 Euro
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Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 612
Kap. 6 B
./. 184 Euro Kindergeld = 480 Euro sind die Eltern dann mit folgenden Haftungsquoten heranzuziehen: Einkommen des Vaters 2100 Euro ./. angemessener Selbstbehalt 1150 Euro für die Haftungsquote maßgebliches Einkommen 950 Euro Einkommen der Mutter 1200 Euro ./. angemessener Selbstbehalt 1150 Euro für die Haftungsquote maßgebliches Einkommen 50 Euro Die Summe beider maßgeblichen Einkünfte beläuft sich dann auf 1000 Euro, von denen 95 % auf den Vater und 5 % auf die Mutter entfallen. Von dem Unterhaltsbedarf des volljährigen Kindes von 480 Euro hätten mithin der Vater 456 Euro und die Mutter 85,24 Euro zu tragen. Da der Vater jedoch nicht mehr an Unterhalt für das volljährige Kind zu leisten hat, als sich allein nach seinem Einkommen aus der Düsseldorfer Tabelle ergibt, ist der von ihm zu tragende Unterhaltsanteil unter Berücksichtigung des Zuschlags höchstens auf den sich aus der Einkommensgruppe 4 der Düsseldorfer Tabelle ergebenden Betrag von 562 Euro ./. 164 Euro Kindergeld = 378 Euro zu begrenzen. Zusammen mit dem von ihm für das minderjährige Kind zu zahlenden Unterhalt von 398 Euro kommt der Vater dann auf Unterhaltsleistungen von 776 Euro. Der durch die Unterhaltsleistung des Vaters für das volljährige Kind nicht gedeckte Bedarf von 16,78 Euro ist dagegen bis zur Höhe ihres angemessenen Selbstbehalts, also iHv. 26 Euro, noch zusätzlich von der Mutter zu übernehmen. Das volljährige Kind erhält also vom Vater 378 Euro und von der Mutter 50 Euro und geht hinsichtlich seines danach noch verbleibenden Restbedarfs von 52 Euro leer aus. Variante: Das volljährige, bei der Mutter lebende Kind besucht eine Schule für Wirtschaft und Touristik mit dem Ausbildungsziel „Touristikassistent“, ist also nicht gem. § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB privilegiert. Sein Bedarf beläuft sich aber unverändert auf 480 Euro. Das minderjährige Kind geht dem volljährigen Kind nun im Rang vor und den Eltern stehen im Verhältnis zum volljährigen Kind auch wieder die angemessenen Selbstbehalte zu. Die Haftungsquoten sehen deshalb dann wie folgt aus: Einkommen des Vaters ./. minderjähriges Kind ./. angemessener Selbstbehalt für die Haftungsquote maßgebliches Einkommen Einkommen der Mutter ./. angemessener Selbstbehalt für die Haftungsquote maßgebliches Einkommen
2100 Euro 398 Euro 1150 Euro 552 Euro 1200 Euro 1150 Euro 50 Euro
Das für die Deckung des Unterhaltsbedarfs des volljährigen Kindes von 480 Euro maßgebliche Einkommen beider Eltern beläuft sich mithin auf 602 Euro, von denen 91,70 % auf den Vater und 8,30 % auf die Mutter entfallen. Der Vater hätte mithin 440,16 Euro und die Mutter 39,84 Euro für das volljährige Kind aufzubringen. Da die Unterhaltspflicht des Vaters jedoch wieder auf den Betrag, der sich nach seinen eigenen Einkünften ergibt, also 562 Euro ./. 184 Euro = 378 Euro begrenzt ist, verbleibt unter Berücksichtigung des Unterhaltsbeitrages der Mutter von 39,84 Euro ein ungedeckter Rest von 62,16 Euro. Die Mutter braucht davon zusätzlich zu dem auf sie entfallenden quotalen Unterhalt von 39,84 Euro nur noch 10,16 Euro zu tragen, weil sie dann bereits insgesamt 50 Euro aufbringt und ihr danach nur noch ihr angemessener Selbstbehalt von 1150 Euro verbleibt. In Höhe eines Betrags von 62,16 Euro ./. 10,16 Euro = 52 Euro geht das volljährige Kind wiederum leer aus.
Krenzler
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Kap. 6 B Rn. 613
Kindesunterhalt
3. Familienrechtlicher Ausgleichsanspruch 613
Trägt ein Elternteil die Unterhaltslast des anderen für ein Kind mit, weil dieser zB leistungsunwillig oder nicht erreichbar ist, so steht ihm gegen diesen Elternteil ein familienrechtlicher Ausgleichsanspruch zu1. Dieser Ausgleichsanspruch setzt voraus, dass der den Unterhalt leistende Elternteil mit seiner Leistung eine im Innenverhältnis der Eheleute zueinander an sich dem anderen Elternteil obliegende Verpflichtung gegenüber dem Kind erfüllt hat. Insoweit ist der Anspruch vergleichbar mit einem Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag, aus dem ebenfalls eine Erstattungspflicht des anderen Elternteils hergeleitet werden kann2. Des Weiteren kann derjenige Ehegatte, der den Unterhalt eines gemeinschaftlichen Kindes allein bestritten hat, von dem anderen Ehegatten auch nur dann einen Ausgleich verlangen, wenn feststeht, dass der den Unterhalt leistende Ehegatte zur Zeit der Leistung die Absicht hatte, einen solchen Ersatz zu beanspruchen. Andernfalls liegt in der Zahlung des Barunterhalts durch einen Elternteil allein eine stillschweigende Freistellungserklärung3.
Û
Wichtig: Die rückwirkende Geltendmachung des familienrechtlichen Ausgleichsanspruchs unterliegt ebenso wie ein entsprechender Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag oder ungerechtfertigter Bereicherung den Schranken des § 1613 Abs. 1 BGB4. Dem Ausgleichsberechtigten ist deshalb dringend zu empfehlen, den an sich Unterhaltspflichtigen sogleich bei Übernahme von dessen Unterhaltspflichten zum Zwecke der Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs zur Auskunftserteilung über seine Einkünfte und sein Vermögen aufzufordern oder ihn ordnungsgemäß in Verzug zu setzen oder den Unterhaltsanspruch des Kindes rechtshängig zu machen. Auf diese Weise wird dann auch seine Absicht, von dem Unterhaltspflichtigen Ersatz zu beanspruchen, offensichtlich.
4. Rangverhältnisse a) Grundlagen der Rangfolge 614
Für die Rangverhältnisse unterhaltsberechtigter Kinder ergibt sich aus § 1609 Nr. 1, 4 und 5 BGB folgende Rangfolge: 1. Rang: Minderjährige unverheiratete eheliche und nichteheliche Kinder sowie privilegiert volljährige Kinder i.S.d. § 1603 Abs. 2 BGB; 4. Rang: volljährige nicht privilegierte Kinder sowie verheiratete Kinder; 5. Rang: Enkelkinder. 1 2 3 4
St. Rspr. des BGH seit BGH v. 9.12.1959 – IV ZR 178/59, FamRZ 1960, 194. BGH v. 9.5.1984 – IVb ZR 84/82, FamRZ 1984, 775 (776). BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 126/06, FamRZ 2008, 2104. BGH v. 9.5.1984 – IVb ZR 84/82, FamRZ 1984, 775.
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Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 616
Kap. 6 B
aa) Minderjährige und Volljährige Die von dem Gesetz festgelegte Rangfolge bedeutet, dass die Unterhalts- 615 berechtigten einer höheren Rangstufe die Unterhaltsberechtigten der nachfolgenden Rangstufe ausschließen, solange nicht der Unterhaltsanspruch der vorrangig Berechtigten in voller Höhe befriedigt ist. Da die volljährigen nicht privilegierten Kinder sowie verheiratete Kinder gem. § 1609 Nr. 4 BGB erst im 4. Rang stehen, hat dies zur Folge, dass sie wegen der vorrangig Unterhaltsberechtigten und des ihnen gegenüber geltenden höheren Selbstbehalts der Eltern häufig ganz oder teilweise leer ausgehen. Dies soll an folgendem Beispiel aufgezeigt werden: Beispiel: Ein geschiedener Vater mit einem maßgeblichen monatlichen Nettoeinkommen von 2100 Euro hat seiner nach § 1609 Nr. 2 im 2. Rang stehenden geschiedenen Frau gem. § 1573 Abs. 2 BGB einen Aufstockungsunterhalt von 481 Euro und für das bei ihr lebende minderjährige Kind der dritten Altersstufe gem. der Düsseldorfer Tabelle nach Abzug des hälftigen Kindergeldes einen monatlichen Unterhalt von 377 Euro zu zahlen. Die Mutter verfügt über ein monatliches Erwerbseinkommen von 600 Euro, so dass der Unterhaltsbedarf für ein weiteres aus der Ehe hervorgegangenes volljähriges, aber nicht privilegiertes Kind aufgrund der zusammenzurechnenden Einkünfte beider Eltern gem. Einkommensgruppe 4 der Düsseldorfer Tabelle nach Abzug des vollen Kindergeldes 378 Euro beträgt. Für die Ermittlung der Unterhaltspflichten von Vater und Mutter für dieses Kind ergibt sich dann folgende Berechnung: Einkommen des Vaters ./. Unterhalt minderjähriges Kind (§ 1609 Nr. 1) ./. Aufstockungsunterhalt geschiedene Ehefrau (§ 1609 Nr. 2)
2100 Euro 377 Euro 481 Euro 1242 Euro ./. angemessener Selbstbehalt 1150 Euro verbleiben für das volljährige Kind 92 Euro Einkommen der Mutter 600 Euro Aufstockungsunterhalt 481 Euro 1081 Euro ./.angemessener Selbstbehalt 1150 Euro verbleiben für den Unterhalt des volljährigen Kindes 00 Euro Im Ergebnis hat das volljährige Kind mithin in dem vorstehenden Beispielsfall nur noch gegen seinen Vater einen Unterhaltsanspruch, aber auch nur iHv. 92 Euro, so dass ihm, wenn es keine Ausbildungsförderung erhält, nichts anderes als die Inanspruchnahme von Sozialhilfe übrig bleibt.
bb) Kinder und Ehegatten des Unterhaltspflichtigen Verschärft wird dieses Problem heutzutage noch durch die ständig stei- 616 gende Zahl von Ehescheidungen und die sich daran anschließenden Wiederverheiratungen mit ebenfalls unterhaltsbedürftigen Kindern und Partnern. In diesen Fällen können dann gem. § 1609 Nr. 2 und Nr. 3 BGB außer den Ehegatten aus der ersten auch die Ehegatten aus der zweiten Ehe den nicht privilegierten volljährigen Kindern vorgehen. Waren allerdings schon die ehelichen Lebensverhältnisse von Unterhaltszahlungen an volljährige Kinder geprägt, ist es bei der UnterhaltbemesKrenzler
569
Kap. 6 B Rn. 617
Kindesunterhalt
sung für den geschiedenen Ehegatten grundsätzlich geboten, das unterhaltserhebliche Einkommen des Verpflichteten vorab auch um den an die volljährigen Kinder gezahlten Unterhalt zu vermindern. Denn der geschiedene Ehegatte hat nach § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB eben nur Anspruch auf einen den ehelichen Lebensverhältnissen entsprechenden Unterhalt. Sein Vorrang gegenüber volljährigen Kindern gem. § 1609 Nr. 2 oder Nr. 3 BGB wirkt sich deshalb erst dann aus, wenn die Einkünfte des Verpflichteten nicht ausreichen, um den angemessenen Unterhalt aller Berechtigten zu gewährleisten. Dann – und erst dann – hat der Vorwegabzug des Kindesunterhalts für die volljährigen Kinder zu unterbleiben1. b) Gleichrangige 617
aa) Bei Gleichrang der Unterhaltsberechtigten erfolgt die Verteilung der verfügbaren Mittel nicht nach Kopfteilen, sondern nach dem für jeden Unterhaltsberechtigten individuell zu bestimmenden Bedarf. Reicht die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen nicht aus, um den Unterhaltsbedarf aller gleichrangig Berechtigten in voller Höhe zu decken (relativer Mangelfall), dann erfolgt die Verteilung der verfügbaren Mittel im Verhältnis der für jeden Unterhaltsberechtigten zu ermittelnden Mindestbedarfsbeträge (zu den Einzelheiten s. Rn. 564).
618
bb) Ist der Unterhaltsanspruch eines gleichrangig Berechtigten bereits tituliert, so führt dies nicht etwa dazu, dass der Unterhaltsanspruch dieses Unterhalsberechtigten in die Berechnung der Unterhaltsansprüche der übrigen gleichrangig Berechtigten mit dem titulierten Betrag einzustellen wäre. Vielmehr ist stets so zu rechnen wie bei einer gleichzeitigen Entscheidung über die Ansprüche aller gleichrangig Berechtigten. Stellt sich dabei heraus, dass der titulierte Anspruch überhöht ist, kann der Unterhaltspflichtige im Wege eines Abänderungsverfahrens nach § 238 FamFG Abhilfe schaffen2. Gleiches, also die Unbeachtlichkeit der Titulierung, gilt auch dann, wenn der Unterhaltsanspruch eines nachrangig Berechtigten bereits tituliert ist und der Unterhaltspflichtige danach von einem vorrangig Berechtigten auf Unterhaltsleistung in Anspruch genommen wird3. Die Rangfolge der Unterhaltsberechtigten wird also durch die Titulierung von Ansprüchen einzelner nicht „ausgehebelt“. 5. Beweislast
619
a) Macht ein minderjähriges unverheiratetes Kind, das bei einem Elternteil lebt, gegen den anderen Elternteil seinen Barunterhalt geltend. ist es nach der Grundregel, dass ein Anspruchsteller die Voraussetzungen für 1 BGH v. 19.6.1985 – IVb ZR 38/84, FamRZ 1985, 912 (916); BGH v. 21.1.2009 – XII ZR 54/06, FamRZ 2009, 762 (766) (Tz 45) = FamRB 2009, 172 und FamRB 2009, 173. 2 BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 1/91, FamRZ 1992, 797 (799). 3 BGH v. 23.1.1980 – IV ZR 2/78, FamRZ 1980, 555 (557).
570
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 621
Kap. 6 B
seinen Anspruch darzulegen und zu beweisen hat, sowohl für seinen Bedarf als auch für seine Bedürftigkeit beweispflichtig. Verlangt ein Kind allerdings nur seinen Mindestunterhalt nach § 1612a Abs. 1 BGB, so erübrigen sich Ausführungen zur Höhe des Bedarfs1. Bei darüber hinausgehenden Unterhaltsforderungen, die den Bedarfsätzen der Düsseldorfer Tabelle entsprechen, ist das Kind zwar nicht vollständig von der Darlegungs- und Beweislast für seinen Unterhaltsbedarf befreit, doch sind an seine diesbezüglichen Darlegungen keine besonderen Anforderungen zu stellen2. Dies muss umso mehr gelten, als die Anforderungen an die Darlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse eines Kindes im vereinfachten Unterhaltsverfahren gem. den §§ 249 ff. FamFG jedenfalls bis zur Festsetzung eines Unterhaltsbetrags iHd. 1,2-fachen des Mindestunterhalts nach § 1612a Abs. 1 BGB ebenfalls äußerst gering sind. Bei Unterhaltsforderungen, die die Tabellenwerte der Düsseldorfer Tabelle übersteigen, muss das Kind dagegen im Einzelnen darlegen, worin sein Bedarf besteht und welche Mittel zu seiner Deckung im Einzelnen erforderlich sind3. b) Macht ein volljähriges Kind seinen Barunterhaltsanspruch, wie meist, 620 nur gegen einen der beiden Elternteile geltend, so muss es wegen deren bloß anteiliger Haftung die wirtschaftlichen Verhältnisse beider Eltern darlegen und beweisen4. Zu diesem Zweck muss das Kind nötigenfalls seinen Auskunftsanspruch gem. § 1605 Abs. 1 BGB zumindest gegen einen Elternteil geltend machen, kann diesen dann allerdings auch im Wege eines Stufenantrags sogleich auf den geschuldeten Unterhalt in Anspruch nehmen. Ist der in Anspruch genommene Elternteil außergerichtlich vergeblich zur Auskunftserteilung aufgefordert worden, hat das Gericht ihn gem. § 235 Abs. 1 und 2 FamFG auf Antrag zur Auskunftserteilung und zur Vorlage von Belegen zu verpflichten. Es bleibt dann diesem Elternteil überlassen, von dem anderen Elternteil Auskunft über dessen Einkünfte zu verlangen, wenn er eine Beschränkung seiner Inanspruchnahme auf seinen Haftungsanteil erreichen will5. c) Für seine eingeschränkte oder mangelnde Leistungsfähigkeit trägt der 621 Unterhaltspflichtige die Darlegungs- und Beweislast. Sie umfasst nicht nur die Offenlegung aller für die Unterhaltsbemessung maßgeblichen Einkommens- und Vermögensverhältnisse, sondern auch Darlegungen zur unterhaltsrechtlichen Erheblichkeit von als abzugsfähig geltend gemachten Verbindlichkeiten6. Bei einem Arbeitsplatzverlust hat der Unterhaltspflichtige dementsprechend auch darzulegen und zu beweisen, 1 KG v. 27.9.1999 – 3 WF 7892/99, FamRZ 2000, 1174 und BGH v. 6.2.2002 – XII ZR 20/00, FamRZ 2002, 536 (540) = FamRB 2002, 132 sowie Borth, FamRZ 2006, 813 (819). 2 BGH v. 23.2.1983 – IVb ZR 362/81, FamRZ 1983, 473 (474). 3 BGH v. 23.2.1983 – IVb ZR 362/81, FamRZ 1983, 473 (474) und BGH v. 13.10.1999 – XII ZR 16/98, FamRZ 2000, 358 (359). 4 OLG Frankfurt v. 31.3.1987 – 4 UF 256/86, FamRZ 1987, 839 (840). 5 BGH v. 25.11.1987 – IVb ZR 96/86, FamRZ 1988, 268 (270). 6 BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 1/91, FamRZ 1992, 797 (798).
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Kap. 6 B Rn. 622
Kindesunterhalt
dass der Verlust nicht auf einem leichtfertigen, unterhaltsbezogenen Verhalten beruht1. Schließlich trifft den Unterhaltspflichtigen die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass sich auch der ein Kind betreuende Elternteil in Abweichung von der Regel des § 1606 Abs. 2 S. 2 BGB ausnahmsweise am Barunterhalt für das Kind beteiligen müsse2.
V. Änderungen 1. Lebenshaltungskosten und zunehmendes Alter a) Unterhalt als Prozentsatz des Mindestunterhalts 622
Unterhaltsansprüche sind vor allem von den jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnissen der Beteiligten, aber auch von der jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Lage abhängig. Sie bedürfen deshalb bei einer Änderung dieser Verhältnisse immer wieder der Anpassung hieran. Für die beiden häufigsten Fälle, nämlich die Entwicklung der Lebenshaltungskosten und den mit dem Alter wachsenden Bedarf eines minderjährigen Kindes hält § 1612a Abs. 1 BGB die materiell-rechtliche Grundlage bereit. Danach kann ein minderjähriges Kind von einem Elternteil, mit dem es nicht in einem Haushalt lebt, den Unterhalt als Prozentsatz des jeweiligen Mindestunterhalts verlangen, wobei sich dieser gem. S. 3 der Vorschrift nach dem doppelten Freibetrag für das sächliche Existenzminimum eines Kindes (Kinderfreibetrag) nach § 32 Abs. 6 S. 1 des Einkommensteuergesetzes richtet. Das bedeutet zunächst einmal, dass der Unterhalt für das betreffende Kind individuell mit Hilfe der Unterhaltstabellen zu bestimmen und sodann in ein prozentuales Verhältnis zu dem im Zeitpunkt der Unterhaltsfestsetzung geltenden Mindestunterhalt zu setzen ist. Die Düsseldorfer Tabelle weist diese Prozentsätze für die einzelnen Unterhaltsbeträge bereits aus, so dass es ein Leichtes und im Interesse aller Beteiligten auch zu empfehlen ist, den Unterhalt für ein Kind nicht in bezifferter Form, sondern eben als Prozentsatz des jeweiligen Mindestunterhalts zu verlangen.
623
Die diesbezügliche Formulierung in einer Unterhaltsvereinbarung oder der Antrag in einem gerichtlichen Verfahren könnte etwa wie folgt lauten: Der Antragsgegner wird verpflichtet, monatlich im Voraus, beginnend mit dem 1. …, Kindesunterhalt zu zahlen, und zwar 1. für die Tochter …, geb. …, 120 % des jeweiligen Mindestunterhalts der dritten Altersstufe nach § 1612a Abs. 1 BGB abzgl. hälftiges Kindergeld für ein erstes Kind von zurzeit 92 Euro, also derzeit monatlich … Euro,
1 OLG Hamm v. 14.1.1998 – 12 UF 479/96, FamRZ 1998, 1252. 2 BGH v. 28.1.1981 – IVb ZR 573/80, FamRZ 1981, 347.
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Kindesunterhalt
Rn. 626
Kap. 6 B
2. für den Sohn …, geb. …, bis zum Ende des Monats … 2012 120 % des jeweiligen Mindestunterhalts der 2. Altersstufe nach § 1612a Abs. 1 BGB sowie vom Beginn des Monats … 2012 an 120 % des jeweiligen Mindestunterhalts der 3. Altersstufe nach § 1612a Abs. 1 BGB abzgl. hälftiges Kindergeld für ein zweites Kind von zurzeit 92 Euro, also monatlich … Euro1.
b) Automatische Anpassung Ist der Kindesunterhalt gem. dem vorstehenden Formulierungsvorschlag festgelegt, wird damit auch eine automatische Anpassung des Individualunterhalts an die wirtschaftliche Entwicklung der Lebenshaltungskosten in der Bundesrepublik erreicht, ohne dass es dazu noch einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder eines Abänderungsverfahrens bedürfte. Denn die für den Mindestunterhalt maßgeblichen Kinderfreibeträge werden auf der Grundlage des von der Bundesregierung alle zwei Jahre vorzulegenden Existenzminimumberichts regelmäßig den Kosten des Existenzminimums für Kinder und Erwachsene angepasst.
624
2. Andere Änderungsgründe Allen anderen Abweichungen oder Änderungen in den persönlichen Ver- 625 hältnissen der an dem jeweiligen Unterhaltsverhältnis Beteiligten wie zB einer Verringerung oder dem Wegfall der Unterhaltsbedürftigkeit des Kindes oder Einkommensverbesserungen und Entlastungen auf der Seite des Unterhaltsschuldners kann nur im Wege des Abänderungsverfahrens gem. den §§ 238 und 239 oder § 240 FamFG (bei einer vorgängigen rechtskräftigen Unterhaltsfestsetzung im vereinfachten Verfahren) Rechnung getragen werden. Da diese Vorschriften in ihrer Grundstruktur dem früheren § 323 ZPO entsprechen, kann bei den nachfolgenden Erläuterungen auf die dazu ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Danach rechtfertigt nicht jede Veränderung der bei der erstmaligen Festsetzung eines Unterhaltsbetrags maßgeblich gewesenen Umstände auch ein Abänderungsbegehren. Vielmehr kommt eine Abänderung immer nur nach den Grundsätzen zum Wegfall der Geschäftsgrundlage (clausula rebus sic stantibus), als deren Ausprägung sich auch die Vorschriften der §§ 238 und 239 FamFG darstellen, in Betracht. Allerdings sind folgende Besonderheiten zu berücksichtigen: a) Nicht vorhergesehene und nicht vorhersehbare Änderungen Als Abänderungsgründe kommen wegen der Zeitschranke des § 238 626 Abs. 2 FamFG nur bei der Erstfestsetzung des Unterhalts nicht vorhergesehene und auch nicht vorhersehbare Veränderungen der für die Unterhaltsbemessung maßgeblich gewesenen tatsächlichen Verhältnisse, nicht 1 Antrag nach Kramer M 133.14 in Vorwerk, Das Prozessformularbuch.
Krenzler
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Kap. 6 B Rn. 627
Kindesunterhalt
dagegen eine andere rechtliche Beurteilung der unverändert gebliebenen tatsächlichen Verhältnisse in Betracht1. Auch muss die Änderung bereits eingetreten sein, während eine bloße Prognose nicht ausreicht2. 627
aa) Typische Änderungen tatsächlicher Art sind – die Veränderung der Einkommensverhältnisse, – die Entstehung neuer Unterhaltspflichten, zB durch die Geburt eines weiteren Kindes, – der Wegfall von Belastungen durch Kindesunterhalt3, – der Wegfall von Verbindlichkeiten4, – der Arbeitsplatzverlust, – die Aufnahme oder Ausweitung einer Erwerbstätigkeit des Unterhaltsberechtigten, – die Verfestigung einer Beziehung zu einem neuen Lebenspartner, – die Wiederverheiratung.
628
Unterhaltsrichtlinien, Tabellen oder Verteilungsschlüssel und sonstige Berechnungsmethoden stellen dagegen lediglich Hilfsmittel des Richters zur Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffes „angemessener Unterhalt“ dar, weshalb ihre Änderung auch keine Abänderung eines Unterhaltsrechtsverhältnisses rechtfertigt5.
629
Für Änderungen der Tabellenbeträge in der Düsseldorfer Tabelle kann zwar etwas anderes gelten, weil sie auf einer Veränderung der allgemeinen Lebensverhältnisse, insbesondere der Lebenshaltungskosten, beruhen und diese eine Änderung tatsächlicher Art darstellen, der in einem Abänderungsverfahren des § 238 FamFG Rechnung getragen werden kann. Dennoch führen Änderungen der Tabellenwerte nicht in jedem Fall zu einer Abänderung des jeweiligen Unterhaltsrechtsverhältnisses. Vielmehr ist die Veränderung der Verhältnisse gem. § 238 Abs. 4 FamFG in jedem Einzelfall auf ihre Wesentlichkeit hin zu prüfen6. Änderungen der allgemeinwirtschaftlichen Verhältnisse, die schon vor der letzten mündlichen Verhandlung im Ausgangsverfahren eingetreten waren, dort aber wegen der Anwendung der Richtsätze einer früheren Düsseldorfer Tabelle noch keine Berücksichtigung gefunden haben, sind durch die Zeitschranke des § 238 Abs. 2 FamFG nicht präkludiert7. Auch das Hineinwachsen in eine höhere Altersgruppe der Unterhaltstabellen stellt in jedem Fall einen Abänderungsgrund i.S.d. § 238 Abs. 4 FamFG dar8. 1 2 3 4 5 6 7 8
BGH v. 15.1.1986 – IVb ZR 3/85, NJW-RR 1986, 938. BGH v. 27.5.1981 – IVb ZR 589/80, FamRZ 1981, 862. BGH v. 20.7.1990 – XII ZR 73/89, FamRZ 1990, 1085. BGH v. 29.3.1995 – XII ZR 45/94, FamRZ 1995, 869 (871). BGH v. 11.1.1984 – IVb ZR 10/82, FamRZ 1984, 374 (375). OLG Karlsruhe v. 13.2.1986 – 16 UF 282/85, FamRZ 1986, 582. BGH v. 23.11.1994 – XII ZR 168/93, FamRZ 1995, 221. OLG Hamm v. 9.8.1988 – 2 WF 49/88, FamRZ 1989, 201.
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Kindesunterhalt
Rn. 633
Kap. 6 B
bb) Als Abänderungsgründe anderer Art kommen Prognosefehler hinsichtlich der zukünftig erwarteten tatsächlichen Verhältnisse in Betracht, also zB eine erhöhte Betreuungsbedürftigkeit eines Kindes wegen einer langdauernden Krankheit oder auch die Fortdauer der Arbeitslosigkeit des Unterhaltspflichtigen trotz seiner zwischenzeitlichen Erwerbsbemühungen, wegen deren Unterlassen ihm zunächst ein fiktives Einkommen zugerechnet worden war1.
630
cc) Schließlich kann gem. § 238 Abs. 1 S. 2 FamFG auch eine wesentliche 631 Veränderung der rechtlichen Verhältnisse wie zB Gesetzesänderungen2 oder die Rechtsprechung des BVerfG3 wegen ihres Gesetzescharakters einen Abänderungsantrag rechtfertigen. Die am 1.1.2008 in Kraft getretene Unterhaltsrechtsreform trägt dem in § 36 EGZPO unter Berücksichtigung des Vertrauensschutzes des Unterhaltsberechtigten in der Weise Rechnung, dass sie in Nr. 1 bestimmt: Ist über den Unterhaltsanspruch vor dem 1.1.2008 entschieden, ein vollstreckbarer Titel errichtet oder eine Unterhaltsvereinbarung getroffen worden, sind Umstände, die vor diesem Tag entstanden und durch das Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts erheblich geworden sind, nur zu berücksichtigen, soweit eine wesentliche Änderung der Unterhaltsverpflichtung eintritt und die Änderung dem anderen Teil unter Berücksichtigung seines Vertrauens in die getroffene Regelung zumutbar ist.
Nach Nr. 2 der Vorschrift kann bei der erstmaligen Änderung eines voll- 632 streckbaren Unterhaltstitels nach dem Inkrafttreten des Gesetzes auch die Zeitschranke des § 323 Abs. 2 ZPO (jetzt § 238 Abs. 2 FamFG) und des § 767 Abs. 2 ZPO nicht geltend gemacht werden. Die Änderung einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung muss in ihren Auswirkungen einer Gesetzesänderung oder einer Änderung der Rechtslage durch die Rechtsprechung des BVerfG gleichkommen, während Änderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht ausreichen4. b) Bindung an die unverändert gebliebenen Verhältnisse aa) Bei jeder Abänderung von rechtskräftigen Unterhaltstiteln ist schließlich zu beachten, dass Abänderungsverfahren keine freie Neufestsetzung des Unterhalts ermöglichen, sondern nur eine den zwischenzeitlich eingetretenen Veränderungen entsprechende Anpassung des Unterhaltstitels. Das über eine Abänderung entscheidende Gericht ist also an die unverändert gebliebenen Verhältnisse, die der Richter des ersten Verfahrens festgestellt und denen er Bedeutung für die Unterhaltsbemessung beigelegt hat, gebunden. Das betrifft beispielsweise die Ermittlung der Einkommensverhältnisse und die Bestimmung der dabei zu berücksichtigenden Abzüge oder Zuschläge, die Einbeziehung fiktiver Einkünfte oder besonderer Belastungen, ferner Feststellungen zur Arbeitsfähigkeit, zur 1 2 3 4
OLG Karlsruhe v. 9.12.1982 – 16 UF 120/82, FamRZ 1983, 931. BGH v. 28.11.1990 – XII ZR 26/90, FamRZ 1991, 542. BGH v. 12.7.1990 – XII ZR 85/89, FamRZ 1990, 1091. BGH v. 5.9.2001 – XII ZR 108/00, FamRZ 2001, 1687 (1690) = FamRB 2002, 12.
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633
Kap. 6 B Rn. 634
Kindesunterhalt
Bedürftigkeit oder zur Berücksichtigung weiterer Unterhaltspflichtiger oder -berechtigter. Den Unterhaltsrichtlinien, die bei der früheren Beurteilung angewendet worden sind, ist dagegen keine ähnliche Bindungswirkung beizumessen, weil es sich bei ihnen nur um Hilfsmittel zur Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffes „angemessener Unterhalt“ handelt1. Dementsprechend ist das abändernde Gericht auch nicht an die Berechnungsweise des Ausgangsgerichts bei der Berücksichtigung des mietfreien Wohnens gebunden. Vielmehr kommt dessen Entscheidung eine Bindungswirkung nur insoweit zu, als dieser Umstand überhaupt in die Berechnung des Unterhalts mit eingeflossen und nicht etwa als Gegenstand einer gesonderten Geltendmachung eines Nutzungsentgelts im Rahmen der Miteigentumsgemeinschaft bei der Unterhaltsberechnung ausgeschieden worden ist2. 634
Hat der Unterhaltsberechtigte im Erstverfahren mit seinem Antrag – ohne einen Teilantrag gestellt zu haben – weniger Unterhalt geltend gemacht, als ihm nach den festgestellten Verhältnissen an sich zustand, dann kann er zwar nicht allein mit dieser Begründung erfolgreich eine Abänderung des Ersturteils erreichen, ist aber andererseits bei einer die Abänderung des Ersturteils rechtfertigenden Änderung der diesem zugrunde gelegten tatsächlichen Verhältnisse nicht auf einen dem Ersturteil entsprechenden Minderbetrag seines Unterhalts beschränkt, sondern kann für die Zukunft den vollen Unterhalt beanspruchen3.
Û
Praxistipp: Bei Unterhaltsvereinbarungen und gerichtlichen Vergleichen sollten die ihnen zugrunde gelegten tatsächlichen Verhältnisse im Einzelnen festgehalten werden, um in einem späteren Abänderungsverfahren die behauptete Abänderung und ihre Wesentlichkeit überprüfen zu können. Soll die Unterhaltsvereinbarung oder der gerichtliche Vergleich dagegen später ohne Bindung an die ihnen zugrunde gelegten tatsächlichen Verhältnisse frei abänderbar sein, so sollte auch dies ausdrücklich in die Vereinbarung oder den Vergleich aufgenommen werden.
3. Präklusion – die Zeitschranke des § 238 Abs. 2 FamFG 635
Als Gründe für einen Abänderungsantrag kommen gem. § 238 Abs. 2 FamFG nur solche in Betracht, die bei der erstmaligen Festsetzung des Unterhalts nicht berücksichtigt werden konnten, also erst nach dem Schluss der letzten mündlichen Verhandlung, in der eine Erweiterung des Antrags oder die Geltendmachung von Einwendungen spätestens hätte erfolgen können, entstanden sind. Da sich Unterhaltsstreitigkeiten oft sehr lange hinziehen, muss also unterhaltsrechtlich relevanten Änderun1 BGH v. 11.1.1984 – IVb ZR 10/82, FamRZ 1984, 374 (375). 2 BGH v. 29.6.1994 – XII ZR 79/93, FamRZ 1994, 1100 (1102). 3 BGH v. 7.6.1989 – IVb ZR 63/88, FamRZ 1990, 258 (259).
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Kindesunterhalt
Rn. 638
Kap. 6 B
gen wie zB einer Verminderung des Einkommens oder dem Wegfall von Belastungen von beiden Seiten noch im laufenden Verfahren durch Anpassung der Anträge bzw. Erhebung entsprechender Einwendungen Rechnung getragen werden. Das gilt auch für einen bereits im Beschwerderechtszug anhängigen Rechtsstreit, so dass die Leistungsanträge nötigenfalls nach Zeitabschnitten differenziert werden müssen und der Beschwerdegegner von der Möglichkeit der Anschlussbeschwerde Gebrauch machen muss, um nicht der Berücksichtigung bereits bestehender und für die Bemessung des Unterhalts erheblicher Umstände verlustig zu gehen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf Kap. 12 Rn. 494 ff. verwiesen. Für den Gegner eines Abänderungsantrags gilt die Präklusionswirkung des § 238 Abs. 2 FamFG schon nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht. Anders als der Antragsteller ist er also nicht daran gehindert, sich zur Verteidigung des bestehenden Titels auch auf Tatsachen oder Umstände zu berufen, die im Vorverfahren keine Rolle gespielt haben (sog. unbekannt gebliebene Alttatsachen)1.
636
4. Die Abänderung der verschiedenen Unterhaltstitel und der Abänderungszeitpunkt a) Privatschriftliche Vereinbarungen Privatschriftliche Unterhaltsvereinbarungen unterliegen nicht den Vor- 637 schriften der §§ 238, 239 FamFG, sondern ausschließlich den Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage, weil sie keinen Schuldtitel im Sinne dieser Vorschriften darstellen2. Ein Wegfall der Geschäftsgrundlage liegt idR aber erst dann vor, wenn das Festhalten am bisherigen Vertrag einen Verstoß gegen Treu und Glauben darstellen würde und deshalb der Betroffenen nicht mehr zugemutet werden kann. Es kommt daher darauf an, ob die Umstände, die nach dem Willen der Beteiligten Grundlage der Unterhaltsbemessung waren, sich derart geändert haben, dass nach Treu und Glauben eine Anpassung der Unterhaltshöhe verlangt werden kann. Vor allem bei beengten wirtschaftlichen Verhältnissen kann dies bereits 638 deutlich unterhalb einer Schwelle von 10 % der Fall sein, wie sie als Anhaltspunkt für eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse i.S.v. § 238 Abs. 4 FamFG befürwortet wird. Die nach § 242 BGB maßgebliche Frage, ob bei einem Festhalten an einem gerichtlichen Unterhaltsvergleich die Opfergrenze überschritten würde, entzieht sich nämlich einer schematischen Beurteilung und kann von dem Tatrichter nur aufgrund einer an den Verhältnissen des Falles ausgerichteten umfassenden Würdigung aller Umstände sachgerecht beantwortet werden3. 1 BGH v. 15.10.1986 – IVb ZR 78/85, FamRZ 1987, 259; BGH v. 1.10.1997 – XII ZR 49/96, FamRZ 1998, 99. 2 OLG Zweibrücken v. 24.9.1981 – 6 UF 7/81, FamRZ 1982, 302 (303). 3 BGH v. 29.1.1992 – XII ZR 239/90, FamRZ 1992, 539 hat eine Abweichung um 4 % in einem solchen Fall für ausreichend erachtet.
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Kap. 6 B Rn. 639
Kindesunterhalt
b) Gerichtliche Vergleiche und sonstige Vollstreckungstitel gem. § 239 Abs. 1 FamFG 639
Für gerichtliche Vergleiche und sonstige Vollstreckungstitel gem. § 239 Abs. 1 FamFG gilt nichts anderes als für die privatschriftlichen Vereinbarungen, wie sich aus Abs. 2 der Vorschrift ohne weiteres ergibt. Die Bedeutung der Vorschrift erschöpft sich mithin in der Klarstellung, dass die dort genannten Titel einer Abänderbarkeit nach den aufgezeigten materiell-rechtlichen Grundsätzen unterliegen1. Auch bei ihnen ist deshalb im Wege der Auslegung zu ermitteln, welche Verhältnisse die Beteiligten zur Grundlage ihrer Einigung gemacht und wie sie diese Verhältnisse bewertet haben. Erst auf der Grundlage dieses Ergebnisses der Auslegung kann dann beurteilt werden, ob eine Störung der Geschäftsgrundlage eingetreten ist oder nicht2. So ist eine einmal vereinbarte Quote3 für die Bemessung des Ehegattenunterhalts für die Zukunft ebenso bindend wie die Anwendung einer bestimmten Berechnungsmethode4. c) Endentscheidungen (Beschlüsse)
640
Für die Abänderung von Unterhaltsbeschlüssen kommt es darauf an, ob die Änderung der für den abzuändernden Beschluss maßgeblich gewesenen Umstände zu einer nicht unerheblichen anderen Beurteilung des Bestehens, der Höhe oder Dauer des betreffenden Unterhaltsanspruchs führt5, wobei eine „wesentliche Änderung“ i.S.d. § 238 Abs. 4 FamFG in der Praxis idR bei einer Abweichung von dem insgesamt zugesprochenen Unterhalt um etwa 10 % angenommen wird. In besonderen Fällen kann diese „Opfergrenze“ aber auch deutlich unter dieser Schwelle liegen, insbesondere bei beengten wirtschaftlichen Verhältnissen6.
641
Für die Überschreitung dieser „Opfergrenze“ für einen der an dem Unterhaltsrechtsverhältnis Beteiligten kommt es nicht auf das Ausmaß der Änderung eines einzelnen Umstandes, sondern nur darauf an, ob die für die Bemessung der Unterhaltsleistung maßgebenden Verhältnisse insgesamt eine wesentliche Änderung erfahren haben (saldierende Betrachtungsweise)7. Mehrere unwesentliche Veränderungen können sich deshalb 1 BGH v. 23.4.1986 – IVb ZR 30/85, FamRZ 1986, 790 (791) und BGH v. 29.1.1992 – XII ZR 238/90, FamRZ 1992, 539 haben § 323 Abs. 1 ZPO bei Prozessvergleichen für „bedeutungslos“erklärt. 2 BGH v. 15.3.1995 – XII ZR 257/93, FamRZ 1995, 665 (666) und BGH v. 26.5.2010 – XII ZR 143/08, FamRZ 2010, 1238. 3 BGH v. 28.11.1990 – XII ZR 26/90, FamRZ 1991, 542 (544); BGH v. 5.9.2001 – XII ZR 108/00, FamRZ 2001, 1687 (1689) = FamRB 2002, 12 verweist auf die ausschließliche Maßgeblichkeit des Partnerwillens und die daraus resultierende Anwendung der Grundsätze zur Störung der Geschäftsgrundlage. 4 BGH v. 5.9.2001 – XII ZR 108/00, FamRZ 2001, 1687 (1689) = FamRB 2002, 12. 5 BGH v. 26.1.1983 – IVb ZR 347/81, FamRZ 1984, 353 (355). 6 OLG Düsseldorf v. 8.3.1993 – 3 WF 210/92, FamRZ 1993, 1103 (1104) hat in dem konkreten Fall eine Abweichung von 7,35 % als ausreichend angesehen. 7 BGH v. 10.10.1984 – IVb ZR 12/83, FamRZ 1985, 53 (56).
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Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 644
Kap. 6 B
zu einer wesentlichen Veränderung summieren, mehrere wesentliche Veränderungen auf beiden Seiten des Unterhaltsrechtsverhältnisses aber auch neutralisieren. So kann zB einer wesentlichen Erhöhung des unterhaltsrechtlich relevanten Einkommens des Unterhaltspflichtigen, die normalerweise zu einer Erhöhung des geschuldeten Kindesunterhalts führen würde, eine zwischenzeitlich eingetretene Verminderung der Unterhaltsbedürftigkeit des Kindes durch den Bezug einer Ausbildungsvergütung gegenüberstehen. Maßgeblich für die Wesentlichkeit von Veränderungen ist also immer nur das Ergebnis der Abwägung aller im Zeitpunkt der Neufestsetzung des Unterhalts zu berücksichtigenden Umstände. d) Abänderungszeitpunkt – die Schranke des § 238 Abs. 3 FamFG aa) Endentscheidungen in Unterhaltssachen dürfen gem. § 238 Abs. 3 S. 1 642 FamFG nur für die Zeit nach Antragstellung, also nur für die Zukunft, abgeändert werden. Wird eine Erhöhung des Unterhalts verlangt, ist dies allerdings nach S. 2 der Vorschrift auch für die Zeit zulässig, für die nach den Vorschriften des Bürgerlichen Rechts, also insbesondere § 1613 BGB, Unterhalt für die Vergangenheit verlangt werden kann. Auch das Stellen eines Stufenantrags mit zunächst unbeziffertem Abänderungsantrag ist ausreichend, nicht dagegen der Zugang eines bloßen Verfahrenskostenhilfegesuchs1.
Û
Praxistipp: Es empfiehlt sich deshalb stets, den Anspruchsgegner nach Erteilung eines Mandats umgehend dazu aufzufordern, zum Zwecke der Abänderung des Unterhaltsverhältnisses Auskunft über seine Einkünfte und sein Vermögen zu erteilen. Bei der Vertretung eines verfahrenskostenhilfebedürftigen Beteiligten ist gem. § 15 Nr. 3b FamGKG eine Antragzustellung vor Zahlung eines Verfahrenskostenvorschusses mit der anwaltlichen Erklärung zu bewirken, dass die Verzögerung der Antragzustellung dem Antragsteller einen nicht oder nur schwer zu ersetzenden Schaden bringen würde.
Ist ein Antrag auf Herabsetzung des Unterhalts gerichtet, kann diese nach 643 S. 3 der Vorschrift ebenfalls rückwirkend für die Zeit ab dem Ersten desjenigen Monats verlangt werden, in dem der Unterhaltsschuldner den Unterhaltsgläubiger zur Auskunftserteilung oder zu einem (teilweisen) Verzicht auf seinen Unterhalt aufgefordert hat. Für eine mehr als ein Jahr vor Rechtshängigkeit liegende Zeit kann eine Herabsetzung nach S. 4 der Vorschrift jedoch nicht verlangt werden. bb) Die Abänderung von Unterhaltsverträgen, Verfahrensvergleichen und 644 den sonstigen in § 239 Abs. 1 FamFG aufgeführten Titeln kann demgegenüber nach Auffassung des BGH auch rückwirkend von dem Zeitpunkt an verlangt werden, in dem sich die für den Vertrag bzw. den Ver1 BGH v. 20.1.1982 – IVb ZR 651/80, FamRZ 1982, 365.
Krenzler
579
Kap. 6 B Rn. 645
Kindesunterhalt
gleich maßgeblich gewesenen Verhältnisse wesentlich geändert haben1. Die Zeitschranken des § 238 Abs. 3 FamFG gelten also für Unterhaltsverträge und Verfahrensvergleiche nicht. Dies kann für einen Unterhaltsschuldner zu ganz erheblichen Nachzahlungs- und für einen Unterhaltsgläubiger zu ebenso belastenden Rückzahlungsverpflichtungen wegen überzahlten Unterhalts führen. Allerdings kann in einem solchen Fall bis zu einem gewissen Grade der Verwirkungseinwand helfen (dazu näher Rn. 1404 ff.).
Û
Praxistipp: Will man die für die Anwendung des § 238 FamFG maßgeblichen Regeln auf Unterhaltsverträge oder Verfahrensvergleiche angewendet wissen, was für den Regelfall zu empfehlen ist, so muss deshalb in die Vereinbarung unbedingt eine Klausel aufgenommen werden, wonach der Vertrag nur unter den gleichen Voraussetzungen abänderbar sein soll, unter denen gem. § 238 FamFG auch eine Endentscheidung abänderbar wäre.
e) Darlegungs- und Beweislast 645
Im Abänderungsverfahren muss der Antragsteller die wesentliche Änderung der Umstände, die für die Festsetzung des früheren Unterhalts maßgebend waren, darlegen und beweisen2. Beruft er sich darauf, dass ein einem abzuändernden Titel zugrunde gelegter Unterhaltstatbestand, also zB die einen Unterhaltsanspruch begründende Krankheit, entfallen ist, dann ist es allerdings ggf. Sache des Unterhaltsgläubigers, darzulegen und zu beweisen, dass ihm der titulierte Unterhalt nunmehr aufgrund eines anderen Unterhaltstatbestandes, also zB als Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit gem. § 1573 Abs. 1 BGB zusteht3. Ebenso hat ein volljähriges Kind den Fortbestand seines Unterhaltsanspruchs in der titulierten Höhe darzulegen und zu beweisen, wenn der Unterhaltsschuldner die Abänderung eines während der Minderjährigkeit des Kindes oder seiner privilegierten Volljährigkeit errichteten Unterhaltstitels begehrt4.
VI. Beschränkung und Wegfall des Unterhalts, Verzicht 1. Minderjährige Kinder 646
Eine Beschränkung oder ein Wegfall der Unterhaltsverpflichtungen gegenüber minderjährigen unverheirateten Kindern ist, wie sich aus § 1611 Abs. 2 BGB ergibt, generell ausgeschlossen.
1 2 3 4
BGH GS v. 4.10.1982 – GSZ 1/82, FamRZ 1983, 22. BGH v. 15.10.1986 – IVb ZR 78/85, FamRZ 1987, 259. BGH v. 31.1.1990 – XII ZR 36/89, FamRZ 1990, 496. OLG Hamm v. 19.7.2002 – 11 UF 432/01, FamRZ 2003, 1025.
580
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 650
Kap. 6 B
2. Volljährige Kinder Aber auch gegenüber volljährigen Kindern einschließlich der privilegiert 647 volljährigen Kinder des § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB kommt eine Berufung auf § 1611 Abs. 1 BGB von vorneherein dann nicht in Betracht, wenn dessen Tatbestandsvoraussetzungen noch in der Zeit der Minderjährigkeit des Kindes erfüllt worden sind1. Maßgeblich ist vielmehr allein, ob die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift von einem volljährigen, also eigenverantwortlich handelnden Kind erfüllt worden sind. Allerdings wird die bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen gem. Abs. 1 S. 1 der Vorschrift immer noch vorzunehmende Billigkeitsabwägung häufig ergeben, dass das Fehlverhalten des volljährigen Kindes noch auf einer fortwirkenden Beziehungsstörung aus der Zeit der Minderjährigkeit beruht und eine Beschränkung des Unterhaltsanspruchs deshalb unbillig wäre. Im Einzelnen kommt eine Beschränkung oder sogar ein vollständiger Wegfall des Unterhaltsanspruchs nur in folgenden Fällen in Betracht: a) Selbstverschuldete Bedürftigkeit Sie liegt nicht schon dann vor, wenn das volljährige Kind seinen Arbeits- 648 platz aus Leichtsinnigkeit verloren hat. Denn die Unterhaltsbedürftigkeit muss nach dem Wortlaut der Vorschrift auf einem sittlichen Verschulden des Kindes beruhen, was aber nur dann bejaht werden kann, wenn das Kind in vorwerfbarer Weise anerkannte Gebote der Sittlichkeit außer Acht gelassen hat, es sich also um eine Vorwerfbarkeit von erheblichem Gewicht handelt2. Der Arbeitsplatzverlust muss also schon wiederholt und mutwillig zB durch Arbeitsverweigerung, Beleidigungen oder Tätlichkeiten gegenüber Kollegen oder dem Arbeitgeber herbeigeführt worden sein, um die nötige Schwere des Verschuldens annehmen zu können. Aus diesem Grunde kann einer volljährigen Tochter auch nicht die Ge- 649 burt eines nichtehelichen Kindes und ihre daraus resultierende Unterhaltsbedürftigkeit als ein sittliches, die Beschränkung ihres Unterhaltsanspruchs rechtfertigendes Verschulden angelastet werden3. Die häufigsten, diesem Tatbestand zugeordneten Fälle sind deshalb die der Alkohol- und Drogensucht, bei denen die sich anschließende Billigkeitsabwägung dann aber regelmäßig auch nur zu einer Beschränkung, nicht jedoch zu einem vollständigen Wegfall der Unterhaltsverpflichtung führt4. Ist die Sucht, wie häufig, als Krankheit zu qualifizieren und das Kind bereit, sich einer Therapie zu unterziehen, kommt eine Beschränkung des Unterhalts mangels eines sittlichen Verschuldens des Kindes überhaupt nicht in Betracht. Wird ein volljähriger Drogenabhängiger trotz 1 2 3 4
BGH v. 4.11.1987 – IVb ZR 75/86, FamRZ 1988, 159. BGH v. 6.12.1984 – IVb ZR 53/83, FamRZ 1985, 273 (275). BGH v. 6.12.1984 – IVb ZR 53/83, FamRZ 1985, 273 (275). OLG Celle v. 13.9.1990 – 17 UF 107/88, FamRZ 1990, 1142 (1144) und KG v. 18.12.2001 – 18 UF 35/01, FamRZ 2002, 1357 (1358).
Krenzler
581
650
Kap. 6 B Rn. 651
Kindesunterhalt
von seinen Eltern finanzierter Ausbildung und Therapiemaßnahmen dagegen immer wieder rückfällig, wäre die weitere Inanspruchnahme der Eltern sogar als „grob unbillig“ i.S.d. § 1611 Abs. 1 S. 2 BGB zu qualifizieren1. b) Verletzung der eigenen Unterhaltspflicht 651
Dieser Tatbestand kommt beim Kindesunterhalt nicht zum Tragen, weil es bei der Verletzung von Unterhaltspflichten nur um Barunterhaltspflichten geht und die Dienstleistungspflicht von Kindern gem. § 1619 BGB auch keine Unterhaltspflicht gegenüber den Eltern darstellt. c) Vorsätzliche schwere Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen oder einen seiner nahen Angehörigen
652
aa) In der Praxis wird diese Tatbestandsalternative am häufigsten zur Rechtfertigung einer Beschränkung oder des Wegfalls einer Unterhaltsverpflichtung herangezogen, und zwar vor allem in den Fällen der Kontaktverweigerung. Die Ablehnung jeder persönlichen Kontaktaufnahme zu dem unterhaltsverpflichteten Elternteil allein oder auch in Verbindung mit unhöflichen und unangemessenen Äußerungen diesem gegenüber können jedoch ebenso wenig als eine schwere Verfehlung im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden wie das bloße Einschlafenlassen der persönlichen Beziehungen2. Auch die Anrede des unterhaltspflichtigen Elternteils mit „Sie“ oder ein Nichtgrüßen reichen nicht aus3. Vielmehr muss ein besonders beleidigendes oder verletzendes Verhalten des Kindes wie zB ein brüskes Zurückweisen von Kontaktversuchen ohne jeden billigenswerten Grund hinzutreten, um eine schwere Verfehlung i.S.d. § 1611 Abs. 1 BGB annehmen zu können. Dabei kommt der Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit von Kontaktversuchen des unterhaltspflichtigen Elternteils eine erhebliche Bedeutung zu4.
653
bb) Die Annahme einer vorsätzlichen schweren Verfehlung des Unterhalt begehrenden Kindes setzt im Übrigen nicht nur in den Fällen der Kontaktverweigerung, sondern ganz allgemein eine umfassende Abwägung aller maßgeblichen Umstände voraus, die auch das eigene Verhalten des unterhaltsverpflichteten Elternteils – und zwar sowohl gegenüber dem Kind als auch ggf. gegenüber dem geschiedenen Elternteil, der das Kind jahrelang versorgt und betreut und bei dem dieses seit seiner Minderjährigkeit gelebt hat – angemessen zu berücksichtigten hat5. 1 AG Neuwied v. 3.4.1998 – 16 F 523/97, FamRZ 1999, 403 (404). 2 BGH v. 25.1.1995 – XII ZR 240/93, FamRZ 1995, 475 (476) mit umfangreichen weiteren Nachweisen zur Problematik. 3 OLG Hamm v. 9.5.1995 – 13 UF 534/94, FamRZ 1995, 1439 und OLG Köln v. 25.1.1996 – 14 WF 11/96, FamRZ 1996, 1101. 4 OLG Bamberg v. 17.12.1991 – 7 UF 81/91, FamRZ 1992, 717 (719) mit krit Anm. Ewers. 5 BGH v. 25.1.1995 – XII ZR 240/93, FamRZ 1995, 475 (476).
582
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 657
Kap. 6 B
Aus diesem Grunde ist auch bei tätlichen Auseinandersetzungen, ständi- 654 gen groben Beleidigungen und Bedrohungen, falschen Anschuldigungen und Schädigungen des Verpflichteten in seiner beruflichen und wirtschaftlichen Stellung1 stets unter Abwägung aller Umstände zu prüfen, ob diese Verhaltensweisen letzten Endes eine Beschränkung oder gar einen Wegfall der Unterhaltsverpflichtung rechtfertigen. Die Reduzierung der familiären Beziehung zwischen Eltern und volljährigen Kindern auf ihre bloße Monetarisierung wird in den meisten Fällen das bedauerliche, aber unvermeidliche Ergebnis sein, dem nur mit Hilfe der strengen Anforderungen an die Ausbildungs- und Erwerbsobliegenheiten von Kindern begegnet werden kann (s. dazu Rn. 499). d) Billigkeitsprüfung Ist einer der Tatbestände des § 1611 Abs. 1 S. 1 BGB erfüllt, ist im Rah- 655 men einer umfassenden Billigkeitsprüfung zu entscheiden, ob eine Herabsetzung oder gar ein vollständiger Wegfall der Unterhaltsverpflichtung die adäquate Reaktion auf das jeweilige Verhalten des Kindes ist. Dabei spielen, wie dargelegt, nicht nur die Verantwortlichkeit des Kindes und der unterhaltspflichtigen Eltern für den entstandenen Konflikt, sondern auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten und die schon erbrachten Unterhaltsleistungen sowie die zukünftigen Belastungen mit einer andauernden Unterhaltspflicht eine Rolle. Eine grobe Unbilligkeit i.S.d. § 1611 Abs. 1 S. 2 BGB wird nur dann anzunehmen sein, wenn selbst die Zubilligung eines der Höhe nach beschränkten Unterhalts dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise widersprechen würde2. 3. Verfahrensfragen a) Die Berufung auf § 1611 Abs. 1 BGB stellt keine Einrede, sondern eine von Amts wegen zu beachtende Einwendung dar, die schon bei der Bemessung des Unterhaltsanspruchs des Kindes berücksichtigt werden muss3. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen trifft die auf Unterhalt in Anspruch genommenen Eltern, die Beweislast für die im Rahmen der Billigkeitsprüfung zu berücksichtigenden Umstände jeweils den Beteiligten, der sie für sich geltend macht.
656
b) Liegt bereits ein Unterhaltstitel vor und tritt einer der Tatbestände des § 1611 Abs. 1 BGB ein, so ist dies bei im Übrigen unveränderten wirtschaftlichen Verhältnissen im Vollstreckungsabwehrverfahren gem. § 767
657
1 OLG München v. 11.12.1991 – 12 UF 949/91, FamRZ 1992, 595 (597). 2 OLG Hamburg v. 27.3.1984 – 12 UF 19/84, FamRZ 1984, 610 hat deshalb die Zahlung eines Unterhalts von 180 DM monatlich aus einer Witwenrente von über 2000 DM monatlich an einen 44-jährigen Alkoholiker, der inzwischen abstinent geworden war und eine Schulausbildung in der 12. Klasse einer Gewerbeund Handelsschule aufgenommen hatte, nicht als „grob unbillig“ angesehen. 3 KG v. 18.12.2001 – 18 UF 35/01, FamRZ 2002, 1357.
Krenzler
583
Kap. 6 B Rn. 658
Kindesunterhalt
ZPO geltend zu machen1. Daneben kommt bei einer gleichzeitig vorliegenden Veränderung der für die Unterhaltsbemessung maßgeblich gewesenen Umstände auch ein Abänderungsverfahren gem. § 238 FamFG in Betracht, wegen der Zeitschranke des § 238 Abs. 2 FamFG jedoch nur für Unterhaltszeiträume ab ihrer Rechtshängigkeit2. 4. Verzicht 658
Ein Verzicht auf zukünftige Unterhaltsansprüche ist gem. § 1614 Abs. 1 BGB generell ausgeschlossen, wobei die Vorschrift nicht nur den vollständigen, sondern auch den teilweisen Verzicht umfasst. Dies ist für Vereinbarungen über die Höhe des gesetzlichen Unterhalts von erheblicher Bedeutung, weil in der Vereinbarung eines zu niedrigen Unterhalts ein solcher Teilverzicht liegen kann, der dann die Unwirksamkeit der Vereinbarung nach sich zieht. Allerdings lässt die Rechtsprechung einen Bemessungsspielraum von mindestens 20 % zu3.
VII. Unterhalt für die Vergangenheit und Rückforderung überzahlten Unterhalts 659
1. Unterhalt ist grundsätzlich zur Deckung des laufenden Lebensbedarfs bestimmt, weshalb § 1613 Abs. 1 BGB die Geltendmachung von Unterhalt für die Vergangenheit auch aus Gründen des Schuldnerschutzes alternativ an drei Voraussetzungen knüpft: – Der Unterhaltsverpflichtete wird zum Zwecke der Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs aufgefordert, über seine Einkünfte und sein Vermögen Auskunft zu erteilen, – der Unterhaltsverpflichtete wird in Verzug gesetzt oder – der Unterhaltsanspruch wird rechtshängig gemacht.
660
Geschuldet wird der Unterhalt dann gem. § 1613 Abs. 1 S. 2 BGB vom Ersten des Monats ab, in den die bezeichneten Ereignisse fallen. Dies gilt jedoch nur, wenn der Unterhalt an sich auch für den ganzen Monat geschuldet wurde. Wird dagegen zB ein Kind Mitte des Monats geboren oder wechselt es im Laufe eines Monats in eine andere Altersguppe, ist der Unterhalt für diesen Monat anteilig taggenau zu berechnen (s. Rn. 599).
1 BGH v. 29.5.1991 – XII ZR 157/90, FamRZ 1991, 1175. In Unterhaltssachen sind gem. § 120 Abs. 1 FamFG für die Vollstreckung die Vorschriften der ZPO anzuwenden. 2 BGH v. 19.10.1988 – IVb ZR 97/87, FamRZ 1989, 159 (160). 3 OLG Köln v. 30.11.1982 – 4 UF 214/82, FamRZ 1983, 750 hält bei einer Abweichung von 20 % eine Überprüfung für geboten und will bei einer Abweichung um 1/3 für den Regelfall einen Verstoß gegen § 1614 BGB bejahen; BGH v. 27.6.1984 – IVb ZR 21/83, FamRZ 1984, 997 (999) sieht die Toleranzgrenze bei einer Abweichung um 36,5 % als eindeutig überschritten an.
584
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 664
Kap. 6 B
Für die unter Rn. 613 erörterten familienrechtlichen Ausgleichsansprü- 661 che gelten diese Grundsätze entsprechend1, für in der Vergangenheit entstandenen Sonderbedarf (s. dazu Rn. 453) dagegen gem. § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB erst nach Ablauf eines Jahres seit seiner Entstehung. a) Die Aufforderung zur Auskunftserteilung sollte per Einschreiben mit 662 Rückschein an den Verpflichteten gerichtet werden, um nötigenfalls den Zeitpunkt, von dem an Unterhalt auch für die Vergangenheit verlangt werden kann, nachweisen zu können. Gleiches gilt, wenn der Unterhaltspflichtige in Verzug gesetzt werden soll, wobei die Anmahnung die geschuldete Leistung der Höhe nach genau bezeichnen muss. Es sollten also das Kind, für das Unterhalt verlangt wird, ein bezifferter Betrag und auch das Datum, von dem an der Unterhalt gefordert wird, möglichst genau bezeichnet werden. Die bloße Aufforderung, den „angemessenen“ Unterhalt oder auch den „nach der Düsseldorfer Tabelle geschuldeten“ Unterhalt zu zahlen, reicht also keinesfalls aus2. Die Forderung eines überhöhten Unterhaltsbetrags setzt den Unterhaltsschuldner dagegen wegen des tatsächlich geschuldeten Unterhalts in Verzug, während die Forderung einer geringeren Summe keinen Verzug für einen höheren als den begehrten Betrag begründet3. Im Übrigen gelten für den Verzug die allgemeinen Grundsätze. Insbesondere können also für die Unterhaltsrückstände, bezogen auf den jeweiligen Fälligkeitszeitpunkt, Verzugszinsen verlangt werden. b) Rechtshängig ist ein Unterhaltsanspruch schon mit der Zustellung ei- 663 nes Stufenantrags auf Auskunft und Zahlung, auch wenn der Zahlungsanspruch noch nicht beziffert wird4. Der Zugang eines Verfahrenskostenhilfegesuchs begründet dagegen noch keine Rechtshängigkeit, kann aber eine verzugsbegründende Mahnung darstellen, wenn ihm ein Stufenantrag beigefügt ist5. 2. Überzahlungen von Unterhalt kommen vor allem dann vor, wenn auf- 664 grund einstweiliger Anordnungen zunächst überhöhte Unterhaltsleistungen erbracht werden, im Hauptsacheverfahren dann aber nur ein niedrigerer Unterhalt zugesprochen wird, oder wenn ein Abänderungsverfahren zu einer niedrigeren Unterhaltsverpflichtung führt, bis zur Rechtskraft des Abänderungsbeschlusses aber aufgrund des angegriffenen Titels ein höherer Unterhalt gezahlt worden ist. In allen diesen Fällen kommen Rückforderungsansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung oder Schadensersatzansprüche wegen einer unerlaubten Handlung oder auch aus Vollstreckungsrecht in Betracht.
1 BGH v. 26.4.1989 – IVb ZR 42/88, FamRZ 1989, 850. 2 BGH v. 30.11.1983 – IVb ZR 81/82, BGH v. 30.11.1983 – IVb ZR 31/82, FamRZ 1984, 163. 3 BGH v. 26.5.1982 – IVb ZR 715/80, FamRZ 1982, 887 (890). 4 BGH v. 15.11.1989 – IVb ZR 3/89, FamRZ 1990, 283 (285). 5 BGH v. 15.11.1989 – IVb ZR 3/89, FamRZ 1990, 283 (285).
Krenzler
585
Kap. 6 B Rn. 665 665
Kindesunterhalt
Im Erstverfahren läuft der Unterhaltsschuldner jedoch Gefahr, dass sich der Unterhaltsgläubiger mit der Begründung auf den Wegfall der Bereicherung gem. § 818 Abs. 3 BGB beruft, er habe die Unterhaltszahlungen für seinen Lebensbedarf verbraucht. Dem kann der Unterhaltsschuldner nur dadurch begegnen, dass er bereits im Rahmen des Erstverfahrens Rückzahlung des überzahlten Unterhalts beantragt, um die verschärfte Haftung des Unterhaltsempfängers gem. § 818 Abs. 4 BGB herbeizuführen. Die Erhebung eines negativen Feststellungsantrags reicht hierfür nicht aus, sondern es muss ein bezifferter Antrag auf Rückzahlung gestellt werden1.
Û
Praxistipp: Es sollte dem Unterhaltsgläubiger zur Vermeidung eines solchen Antrags und des damit verbundenen Kostenrisikos angeboten werden, den streitigen Betrag als zins- und tilgungsfreies Darlehen zu zahlen und auf die Rückzahlung insoweit zu verzichten als dem Unterhaltsgläubiger rechtskräftig Unterhalt zugesprochen wird.
666
Im Abänderungsverfahren ist dies im Hinblick auf § 241 FamFG nicht mehr erforderlich (dazu Rn. 680).
VIII. Fristen und Verjährung 667
Die Geltendmachung von Kindesunterhalt ist an keine besonderen Fristen gebunden; es gelten die allgemeinen Verjährungsvorschriften der §§ 194 ff. BGB. Für Ansprüche auf Ersatz von Unterhaltsleistungen, die anstelle eines unterhaltspflichtigen Dritten erbracht worden sind, also familienrechtliche Ausgleichsansprüche (s. dazu Rn. 613) oder Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung oder Geschäftsführung ohne Auftrag gelten die allgemeinen Verjährungsvorschriften entsprechend2. Oft scheitert die rückwirkende Geltendmachung von Unterhalts- und Unterhaltsersatzansprüchen allerdings an den zusätzlich geltenden Zeitschranken des § 1613 Abs. 1 BGB (s. dazu Rn. 613).
IX. Verfahrensfragen 1. Die Titulierung von Kindesunterhaltsansprüchen 668
Verfahrensrechtlich gibt es verschiedene Wege, Kindesunterhaltsansprüche zu titulieren: Die §§ 249 ff. FamFG sollen in einem vereinfachten (Rechtspfleger-)Verfahren die Erstellung von vorneherein dynamischer Unterhaltstitel er1 BGH v. 19.12.1984 – IVb ZR 51/83, FamRZ 1985, 368 bei einstweiligen Anordnungen und BGH v. 22.4.1998 – XII ZR 221/96, FamRZ 1998, 951 für die Abänderung eines Unterhaltsvergleichs. 2 BGH v. 9.12.1959 – IV ZR 178/59, FamRZ 1960, 194.
586
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 670
Kap. 6 B
möglichen. Daneben kann der Unterhalt eines minderjährigen Kindes aber auch nach wie vor in einem „normalen“ Erkenntnisverfahren) geltend gemacht werden, und zwar ebenfalls mit der in § 1612a Abs. 1 BGB vorgesehenen Dynamisierung. Das minderjährige Kind hat also die freie Wahl zwischen den beiden Verfahrensarten, es sei denn, es benötigt für die Durchsetzung seines Anspruchs Verfahrenskostenhilfe. Denn dann muss es das kostengünstigere vereinfachte Verfahren wählen, wenn nicht aufgrund vorgerichtlicher Einwendungen des Unterhaltsschuldners mit einem Übergang in das streitige Verfahren gerechnet werden muss. Das dürfte allerdings insbesondere bei der erstmaligen Beschaffung eines 669 Unterhaltstitels meist der Fall sein, weil dabei alle für die Unterhaltsbemessung relevanten Umstände wie die Einstufung des Unterhaltsschuldners in eine bestimmte Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle, der Umfang seiner Unterhaltspflichten gegenüber der Mutter des minderjährigen Kindes und vieles mehr zur Diskussion stehen. Ist aber erst einmal auf anderem Wege ein Unterhaltstitel geschaffen worden (Beschluss oder Vergleich im Ehescheidungsverfahren, notarielle Urkunde, Jugendamtsurkunde) oder auch nur ein anderes gerichtliches Verfahren über den Unterhaltsanspruch anhängig, ist die Durchführung des vereinfachten Verfahrens gem. § 249 Abs. 2 FamFG unzulässig. Dies dürfte – neben seiner Kompliziertheit – der maßgebliche Grund dafür sein, dass dem vereinfachten Verfahren entgegen der Intention des Gesetzgebers in der Praxis keine besondere Bedeutung zukommt.
Û
Wichtig: Ist die Höhe des zu leistenden Kindesunterhalts unstreitig, kann ein vollstreckbarer Titel hierüber am einfachsten und kostengünstigsten durch eine diesbezügliche Verpflichtungserklärung des Unterhaltsschuldners bei dem zuständigen Jugendamt errichtet werden, sofern das unterhaltsberechtigte Kind im Zeitpunkt der Beurkundung noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet hat (§§ 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 und 4, 60 S. 1 SGB VIII). Die Jugendämter halten hierfür Formulare bereit, in denen sich der Unterhaltsschuldner auch zur Zahlung eines gem. § 1612a Abs. 1 BGB dynamisierten Unterhalts verpflichten kann.
2. Vereinfachtes Verfahren Das vereinfachte Verfahren gem. den §§ 249 ff. FamFG dient ausschließ- 670 lich der Titulierung des Unterhalts von minderjährigen Kindern, also nicht einmal des Unterhalts privilegiert volljähriger Kinder1. Allerdings kann gegen den für ein minderjähriges Kind erlangten Unterhaltstitel gem. § 244 FamFG nicht der Einwand der zwischenzeitlichen Volljährigkeit des Kindes erhoben werden, so dass das Kind jedenfalls den im vereinfachten Verfahren festgesetzten Unterhalt der dritten Altersstufe behält. 1 OLG Naumburg v. 15.4.1999 – 3 AR 9/99, FamRZ 2000, 380.
Krenzler
587
Kap. 6 B Rn. 671
Kindesunterhalt
671
a) Die Festsetzung des Unterhalts im vereinfachten Verfahren erfolgt auf Antrag, für den die Gerichte – leider sehr komplizierte – Formulare bereithalten1. Der Höhe nach ist die Festsetzung gem. § 249 Abs. 1 FamFG auf das 1,2-fache des Mindestunterhalts nach § 1612a Abs. 1 BGB begrenzt. Außerdem findet das vereinfachte Verfahren gem. § 249 Abs. 2 FamFG nicht statt, wenn zum Zeitpunkt der Zustellung des Antrags oder einer Mitteilung über seinen Inhalt an den Antragsgegner ein Gericht bereits über den Unterhaltsanspruch des Kindes entschieden hat, ein gerichtliches Verfahren anhängig ist oder ein zur Zwangsvollstreckung geeigneter Schuldtitel (zB eine Jugendamtsurkunde oder eine notarielle Urkunde) bereits errichtet worden ist. Das vereinfachte Verfahren ist also nur für die Erstfestsetzung von Kindesunterhalt zulässig2.
672
b) Die Einwendungsmöglichkeiten des Antragsgegners sind in § 252 Abs. 1 und 2 FamFG abschließend geregelt und beschränken sich auf Einwendungen formeller Art wie zB Berechnungsfehler oder die Zulässigkeit des vereinfachten Verfahrens, während alle anderen Einwendungen, insbesondere also solche zu Grund und Höhe des Anspruchs, gem. § 252 Abs. 2 FamFG nur erhoben werden können, wenn der Antragsgegner zugleich erklärt, inwieweit er zur Unterhaltsleistung bereit ist und sich insoweit zur Erfüllung des Unterhaltsanspruchs verpflichtet.
673
Den Einwand eingeschränkter oder fehlender Leistungsfähigkeit kann der Antragsgegner nach dieser Vorschrift nur erheben, wenn er zugleich unter Verwendung des eingeführten Vordrucks Auskunft über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Übrigen erteilt und über seine Einkünfte Belege vorlegt. Obwohl dem Antragsgegner nach § 251 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 FamFG eine Frist von einem Monat zur Erhebung von Einwendungen gewährt wird, sind gem. § 252 Abs. 3 FamFG auch noch nach Fristablauf vorgebrachte Einwendungen zu berücksichtigen, solange der Festsetzungsbeschluss noch nicht verfügt ist3. Hat der Antragsgegner beachtenswerte Einwendungen erhoben, teilt das Gericht dies gem. § 254 FamFG dem Antragsteller mit und setzt auf dessen Antrag den Unterhalt insoweit durch Beschluss fest, als sich der Antragsgegner zur Zahlung von Unterhalt verpflichtet hat. Im Übrigen wird in einem solchen Fall auf Antrag eines Beteiligten das streitige Verfahren durchgeführt (§ 255 Abs. 1 FamFG).
674
c) Gegen den im vereinfachten Verfahren ergangenen Festsetzungsbeschluss findet gem. § 256 i.V.m. § 253 Abs. 2 FamFG die sofortige Beschwerde statt, mit der jedoch nur die in § 256 FamFG festgelegten Einwendungen erhoben werden können. Ist die Unterhaltsfestsetzung 1 Die Formulare stehen auch auf der Website des BMJ (www.bmj.de) zum Download zur Verfügung. 2 Zur Abänderung eines im vereinfachten Verfahren geschaffenen ersten Titels s. Rn. 675. 3 OLG Köln v. 6.9.1999 – 14 UF 173/99, FamRZ 2000, 680.
588
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 675
Kap. 6 B
rechtskräftig geworden, können die Beteiligten dagegen gem. § 240 Abs. 1 FamFG einen Abänderungsantrag stellen, der jedoch nicht mit dem Abänderungsantrag gem. § 238 FamFG verwechselt werden darf und der besser als Korrekturantrag bezeichnet wird. Denn er ist ausschließlich darauf gerichtet, den in einem vereinfachten Verfahren nur pauschal festgesetzten Unterhalt in einem Nachverfahren den konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls anzupassen. Anders als bei einem Abänderungsverfahren nach § 238 FamFG kommt es deshalb auch nicht darauf an, ob sich die Verhältnisse seit dem Unterhaltsfestsetzungsbeschluss wesentlich geändert haben, und § 240 FamFG enthält auch keine dem § 238 Abs. 2 FamFG entsprechende Präklusionsregelung. Der Korrekturantrag des § 240 FamFG führt mit anderen Worten zu einem ganz normalen Erkenntnisverfahren, in dem der im vereinfachten Verfahren ergangene Unterhaltsfestsetzungsbeschluss einer uneingeschränkten Prüfung auf seine Richtigkeit unterzogen wird. Stellt der Unterhaltsschuldner allerdings den Korrekturantrag auf Herabsetzung des Unterhalts nicht innerhalb eines Monats nach Rechtskraft der Unterhaltsfestsetzung, so darf die Abänderung gem. § 240 Abs. 2 S. 1 FamFG nur noch für die Zeit nach Einreichung des Antrags erfolgen. Für einen später gestellten Antrag gelten die Regelungen des § 238 Abs. 3 FamFG entsprechend (§ 240 Abs. 2 S. 3 und 4 FamFG).
Û
Wichtig: Hat der Unterhaltsberechtigte seinen Unterhalt im vereinfachten Verfahren titulieren lassen und verlangt er unter Berufung auf geänderte Verhältnisse einen höheren Unterhalt, so muss er ein Korrekturverfahren nach § 240 FamFG und nicht etwa ein Abänderungsverfahren nach § 238 FamFG durchführen1. Für den Unterhaltsberechtigten ist dies von erheblicher Bedeutung, weil er nicht an die Beschränkungen des § 238 Abs. 2 FamFG gebunden ist, sondern sich die Begründetheit seines Antrags allein danach richtet, ob und ab wann materiell-rechtlich ein höherer Unterhaltsanspruch besteht.
3. Die Abänderung von Unterhaltstiteln a) Die vereinfachte Abänderung gem. § 655 aF ZPO ist vom Gesetzgeber mit Recht nicht in das neue FamFG übernommen 675 worden. Denn sie beschränkte sich auf solche Unterhaltstitel, in denen das Kindergeld oder andere, das Kindergeld ausschließende kindbezogene Leistungen i.S.d. § 1612c BGB mit dem jeweiligen Unterhaltsanspruch verrechnet worden waren und sich ein für diese Verrechnung maßgebender Umstand, also die Höhe des Kindergeldes oder die Höhe seiner Verrechnung, änderte. Das Bedürfnis für eine solche Abänderungsmöglichkeit war aber im Hinblick darauf, dass die Unterhaltstitel auch bezüglich des Kindergeldes regelmäßig durch Formulierungen wie „jeweils abzgl. des halben Kindergeldes“ schon dynamisiert sind, nur noch als sehr ge1 Gerhardt, FuR 1998, 145 (147).
Krenzler
589
Kap. 6 B Rn. 676
Kindesunterhalt
ring einzustufen. Die allgemeine, nachstehend unter Rn. 676 ff. dargestellte Abänderungsmöglichkeit von Unterhaltstiteln gem. § 238 FamFG konnte deshalb als ausreichend angesehen werden, setzt allerdings das Überschreiten der sog. Wesentlichkeitsschwelle voraus (s. dazu Rn. 640 f.). Auf die in § 656 aF ZPO speziell für die Fälle des § 655 aF ZPO geregelte Abänderungsklage bei sonstigen wesentlichen Veränderungen der maßgeblichen Verhältnisse konnte folgerichtig ebenfalls verzichtet werden, wodurch sich auch die Probleme der Abgrenzung zu den Vorschriften des § 323 aF ZPO (jetzt: §§ 238, 239 FamFG) erledigt haben. b) Abänderungsverfahren gem. § 238 FamFG
Û
Wichtig: Vor Einleitung eines Abänderungsverfahrens sollte stets sorgfältig geprüft werden, ob das jeweilige Antragsziel mit ihm auch tatsächlich erreicht werden kann. Denn die Fülle der Fallgestaltungen, bei denen in einem allgemeinen Sinne eine Änderung von Unterhaltspflichten im Raum steht, lässt sich wegen der Besonderheiten des Abänderungsverfahrens nicht generell mit seiner Hilfe bewältigen. Vielmehr ist eine differenzierte Einordnung des jeweiligen Sachverhalts erforderlich.
676
aa) Die häufigsten Schwierigkeiten treten bei der Abgrenzung zur Vollstreckungsabwehrklage gem. § 767 ZPO auf. Diese Abgrenzung ist schon deshalb von besonderer Bedeutung, weil sich die beiden Verfahrensarten grundsätzlich ausschließen, zwischen ihnen also keine Wahlmöglichkeit besteht, und sich zB die örtliche Zuständigkeit des Gerichts bei einem Abänderungsantrag nach den Regeln des § 232 FamFG richtet, während die Vollstreckungsabwehrklage gem. den §§ 767 Abs. 1, 802 ZPO ausschließlich beim Prozessgericht erster Instanz zu erheben ist. Wegen der Einzelheiten der Abgrenzung wird auf das Kap. 12 Rn. 460 ff. verwiesen.
677
bb) Leistungsanträge sind grundsätzlich unzulässig, können allerdings in einen Abänderungsantrag umgedeutet werden und umgekehrt. Voraussetzung für die Umdeutung ist allerdings, dass – der gestellte Antrag wegen seiner Eindeutigkeit und Klarheit keiner berichtigenden Auslegung mehr zugänglich ist, – den Voraussetzungen eines anderen zulässigen Verfahrens entspricht, das den gleichen Zwecken dient, – ein entsprechender Wille des Antragstellers genügend deutlich erkennbar ist und – kein schutzwürdiges Interesse des anderen Beteiligten der Umdeutung entgegensteht1.
1 BGH v. 6.11.1991 – XII ZR 240/90, FamRZ 1992, 298 (299).
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Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 679
Kap. 6 B
Der Abänderungsantrag sollte deshalb eindeutig als solcher formuliert werden, also etwa wie folgt: „Der Beschluss des AG … vom …, Az. … wird abgeändert, und der Antragsgegner wird verpflichtet, an den Antragsteller ab dem … einen monatlich im Voraus zahlbaren Unterhalt von weiteren … Euro (oder: von insgesamt … Euro jeweils abzgl. des hälftigen Kindergeldes, derzeit also … Euro) zu zahlen“.
Hat der Unterhaltsgläubiger im Vorverfahren allerdings ausdrücklich nur 678 einen Teilantrag gestellt, sich also zB die Geltendmachung des Altersvorsorgeunterhalts vorbehalten, ist sein späterer, auf die Zahlung des Altersvorsorgeunterhalts gerichteter Antrag kein Abänderungsantrag, sondern ein – zulässiger – Leistungs(zusatz)antrag. Nimmt der Unterhaltsgläubiger dagegen im Erstverfahren keine diesbezüglichen Differenzierungen vor, gilt die Vermutung, dass er den vollen Unterhalt geltend machen wollte1. Ein dabei nicht geltend gemachter Vorsorgeunterhalt kann infolgedessen nicht mehr im Wege eines Leistungsantrags, sondern nur noch in einem Abänderungsverfahren durchgesetzt werden, das aber erst dann zulässig ist, wenn sich die im Vorverfahren maßgebenden Verhältnisse wesentlich geändert haben2.
Û
Wichtig: Beantragt der Unterhaltsgläubiger, wie oft, nur die Zahlung eines über den freiwillig gezahlten Unterhalt hinausgehenden Betrags, handelt es sich um einen Teilantrag, so dass der bisher freiwillig gezahlte Betrag auch noch nachträglich mit einem Leistungsantrag eingefordert werden kann, wenn der Unterhaltsschuldner seine freiwilligen Zahlungen nachträglich einstellen sollte.
Û
Praxistipp: Der Unterhaltsschuldner sollte bei freiwilligen Zahlungen vor Einreichung des darüber hinausgehenden Leistungsantrags dazu aufgefordert werden, seine Unterhaltsverpflichtung in Höhe seiner freiwilligen Leistung in notarieller vollstreckbarer Form anzuerkennen. Lehnt er dies ab, kann ein auf die gesamte Unterhaltsschuld gerichteter Leistungsantrag gestellt werden, ohne dass sich der Unterhaltsschuldner mit Aussicht auf Erfolg darauf berufen könnte, für einen Leistungsantrag wegen des von ihm freiwillig gezahlten Betrags keine Veranlassung gegeben zu haben.
cc) Unterhaltstitel des einstweiligen Rechtsschutzes können nicht im 679 Wege eines Abänderungsverfahrens angegriffen werden, weil ihre nur vorläufige Regelung keine geeignete Grundlage für ein solches Verfahren bil1 BGH v. 13.12.1983 – IVb ZR 22/89, FamRZ 1990, 863. 2 BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 19/84, FamRZ 1985, 690.
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Kap. 6 B Rn. 680
Kindesunterhalt
det. Das gilt auch für einen in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren abgeschlossenen Verfahrensvergleich, weil durch ihn nichts anderes erreicht werden soll als eine der beantragten einstweiligen Anordnung entsprechende Regelung1. Stattdessen muss eine Ersetzung dieser nur vorläufigen Regelung im ordentlichen Rechtsstreit angestrebt werden, womit dann die einstweilige Anordnung gem. § 56 Abs. 1 FamFG außer Kraft tritt. Ist ein Hauptsacheverfahren noch nicht anhängig, kann der Schuldner den Titel des einstweiligen Rechtsschutzes nur mit einem negativen Feststellungsantrag, der zu einer Entscheidung in der Hauptsache führen wird, bekämpfen. 680
Im Falle einer erfolgreichen Herabsetzung eines Unterhaltstitels sind die darauf bis dahin geleisteten Unterhaltszahlungen materiell-rechtlich ohne Rechtsgrund erfolgt, so dass Rückforderungsansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung oder Schadensersatzansprüche wegen einer unerlaubten Handlung oder auch aus Vollstreckungsrecht in Betracht kommen (s. dazu Rn. 664). Dem möglichen Entreicherungseinwand des Unterhaltsgläubigers braucht der Unterhaltsschuldner seit Inkrafttreten des FamFG nicht mehr mit einem gleichzeitig mit dem Abänderungsantrag zu stellenden Rückzahlungsantrag zu begegnen, wie dies der BGH für das bis dahin geltende Recht für eine verschärfte Haftung des Unterhaltsgläubigers gem. § 818 Abs. 4 BGB gefordert hatte2. Denn nach § 241 FamFG steht die Rechtshängigkeit eines auf Herabsetzung gerichteten Abänderungsantrags bei der Anwendung des § 818 Abs. 4 BGB der Rechtshängigkeit eines Antrags auf Rückzahlung der geleisteten Beträge gleich.
X. Fälle mit Auslandsbezug 1. Anzuwendendes materielles Recht 681
In Fällen mit Auslandsberührung, in denen also das unterhaltsberechtigte Kind und der barunterhaltspflichtige Elternteil in verschiedenen Ländern leben, richtet sich das auf Unterhaltspflichten gegenüber Kindern anwendbare Recht, soweit nicht vorrangige bilaterale Abkommen bestehen, vor allem nach der am 18.6.2011 in Kraft getretenen EuUntVO3 und dem im gleichen Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetz zur Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen im Verkehr mit ausländischen Staaten (Auslandsunterhaltsgesetz – AUG)4, das das frühere AUG ersetzt. Art. 15 EuUntVO verweist hinsichtlich des materiell anwendbaren Rechts auf das Haager Protokoll vom 23.11.2007 über das auf Unterhaltspflichten anzu-
1 2 3 4
BGH v. 29.5.1991 – XII ZR 157/90, FamRZ 1991, 1175 (1176). BGH v. 22.4.1998 – XII ZR 221/96, FamRZ 1998, 951. Verordnung Nr. 4/2009 v. 18.12.2008 ABl. 7 v. 10.1.2009 S. 1. Gesetz v. 23.5.2011, BGBl. I 2011, 898. Abgedruckt und kommentiert bei Prütting/Helms/Hau, Anh. 2 zu § 110 FamFG.
592
Krenzler
Kindesunterhalt
Rn. 683
Kap. 6 B
rechnende (HUntProt)1, das an die Stelle der Haager Übereinkommen von 1956 und 1973 sowie des Art. 18 EGBGB getreten ist. Nach Art. 3 Abs. 1 dieses Protokolls ist der gewöhnliche Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten Anknüpfungspunkt für das anzuwendende materielle Recht. Wechselt also ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt, so ist vom Zeitpunkt des Aufenthaltswechsels an das innerstaatliche Recht am neuen gewöhnlichen Aufenthalt anzuwenden. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass die Unterhaltsbedürfnisse an dem gewöhnlichen Aufenthaltsort des Unterhaltsberechtigten entstehen und von den dort gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen bestimmt werden. Bei der Bemessung des Unterhaltsbetrags sind dann gem. Art. 14 HUntProt ganz allgemein die Bedürfnisse des Berechtigten und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Unterhaltsverpflichteten zu berücksichtigen, und zwar selbst dann, wenn das nach dieser Vorschrift an sich maßgebliche Sachrecht des gewöhnlichen Aufenthalts des Unterhaltsberechtigten etwas anderes bestimmt. Eine bloß monetäre Betrachtung wird in diesen Fällen allerdings regelmäßig den unterschiedlichen Lebensverhältnissen, einer unterschiedlichen Kaufkraft und Abweichungen bei den Devisenkursen nicht gerecht, weshalb im Einzelnen wie folgt vorzugehen ist: a) Lebt das unterhaltsberechtigte Kind im Ausland und der Unterhalts- 682 pflichtige im Inland, so ist wegen der Bemessung des Kindesunterhalts nach den Einkommensverhältnissen des Unterhaltspflichtigen (zu den Einzelheiten s. Rn. 462 ff.) zunächst unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kaufkraft zu ermitteln, welcher Betrag erforderlich ist, um den nach den inländischen Unterhaltstabellen bestehenden Bedarf im Ausland zu befriedigen. Dazu empfiehlt sich das Umrechnen nach Verbrauchergeldparitäten2. Es handelt sich dabei um das Verhältnis derjenigen Beträge, die man in der Bundesrepublik einerseits und im Heimatland des Kindes andererseits braucht, um die gleiche Gütermenge zu erwerben3. Für die Ermittlung des an das im Ausland lebende Kind konkret zu zahlenden Geldbetrags ist dann in einem ersten Schritt auf der Grundlage des Einkommens des Unterhaltspflichtigen ein Bedarfssatz nach der Düsseldorfer Tabelle zu ermitteln und dieser nach folgender Formel in die ausländische Währung umzurechnen: Betrag in inlandischer ¨ Wahrung ¨ auslandische ¨ Geldeinheit ¨ ðgem: VerbrauchergeldparitattabelleÞ Verbrauchergeldparitat ¨ des auslandischen ¨ Staates 1 ABL. EU 2009 Nr. L 331, S. 19; nicht zu verwechseln mit dem Haager Unterhaltsübereinkommen (HUntVÜ); vgl. dazu ausf. Erman/Hohloch, Art. 18 aF EGBGB/UnthProt. 2 Sie werden vom Statistischen Bundesamt in regelmäßigen Abständen bekannt gegeben, im Internet unter www.statistik-bund.de. Vgl. auch Motzer, FamRBint 2010, 93 und die Ländergruppeneinteilung ab 2012 in FamRBint 2012, 49. 3 Vgl. etwa OLG Brandenburg v. 11.10.2007 – 10 UF 47/07, FamRZ 2008, 1279.
Krenzler
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683
Kap. 6 B Rn. 684
Kindesunterhalt
Nimmt man lediglich einen tabellarischen Ländervergleich vor, so kommt es zu Abschlägen auf den Bedarfssatz nach der Düsseldorfer Tabelle von 1/3 bis 2/3. 684
Der so ermittelte Bedarf in Auslandswährung ist von dem Unterhaltspflichtigen bei Währungsverschiedenheit in inländischer Währung aufzubringen, wobei die Höhe des erforderlichen Betrags vom Devisenkurs bestimmt wird. Weicht dieser von dem Kaufkraftwert nach den Verbrauchergeldparitäten bzw. dem Wert des tabellarischen Ländervergleichs ab, so ergeben sich Gewinne oder Verluste. Liegt der Devisenkurs unter dem Wert der Verbrauchergeldparität oder desjenigen des tabellarischen Ländervergleichs, so erhielte das unterhaltsberechtigte Kind mehr als es zur Deckung seines Bedarfs im Ausland bedarf; liegt der Devisenkurs über den genannten Werten, so ist für ein dem inländischen gleichwertiges Leben im Ausland mehr Geld als bei einem Inlandsaufenthalt erforderlich. Die schlichte Umrechnung des Bedarfsbetrags in die ausländische Währung nach dem offiziellen Wechselkurs kann deshalb in manchen Fällen zu erheblichen Gewinnen oder Verlusten führen und sollte unter Anwendung der Möglichkeiten des § 287 Abs. 2 ZPO korrigiert werden1.
685
b) Lebt der Unterhaltspflichtige im Ausland, das unterhaltsberechtigte Kind aber in der Bundesrepublik, so ist zunächst das Einkommen des Unterhaltspflichtigen wiederum durch Umrechnung nach dem tabellarischen Ländervergleich oder mit Hilfe der Verbrauchergeldparitäten einem inländischen Einkommen vergleichbar zu machen. Aus dem so errechneten Einkommen ist sodann der Unterhaltsbedarf des Kindes nach den pauschalierten Unterhaltstabellen zu ermitteln. Beim Transfer des so ermittelten Unterhalts ins Inland ist nötigenfalls Abweichungen beim Devisenkurs wiederum Rechnung zu tragen. 2. Geltendmachung und Vollstreckung
686
Für die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen gelten die allgemeinen Regeln des Internationalen Zivilverfahrensrechts, wonach völkervertragliche Sonderbestimmungen den nationalen Regeln vorgehen. Hier kommen wiederum die EuUntVO und das AUG zum Tragen. Danach kann eine Person, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als der Unterhaltsberechtigte hat, in Unterhaltssachen auch in demjenigen Mitgliedstaat und vor dem Gericht desjenigen Ortes verklagt werden, an dem der Unterhaltsberechtigte seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Diese Zuständigkeitsregel, der auch § 23a ZPO entspricht, korrespondiert also mit der in Art. 14 HUntProt niedergelegten Regel zum anzuwendenden materiellen Recht, so dass das zur Entscheidung berufene Gericht das ihm bekannte Heimatrecht anwenden kann. Das gilt auch für Abänderungsverfahren i.S.d. § 238 FamFG, wobei für die Abänderung eines ausländischen Titels durch ein deutsches Gericht dann 1 Näheres s. Motzer, FamRBint 2010, 93.
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Krenzler
Ehegattenunterhalt
Rn. 689
Kap. 6 C
allerdings das von dem ausländischen Gericht zugrunde gelegte Sachrecht maßgeblich bleibt1. Das AUG hilft auch bei der Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen 687 in denjenigen Staaten weiter, in denen die EuUntVO nicht anwendbar ist, also insbesondere in den zahlreichen Gesamt- und Gliedstaaten des anglo-amerikanischen Rechtskreises. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das Kap. 16 Rn. 101 ff. verwiesen.
C. Ehegattenunterhalt I. Grundlagen und Voraussetzungen Literaturverzeichnis: Aps, Zur Frage der sekundären Darlegungslast des Unterhaltsberechtigten für ehebedingte Nachteile im Rahmen der Unterhaltsherabsetzung – Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 26.10.2011 – XII ZR 162/09, FF 2012, 36; Götz/Brudermüller, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung im nachehelichen Unterhaltsrecht, NJW 2011, 801; Kalthoener/Büttner/Niepmann, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 10. Aufl., 2008; Niepmann/Schwamb, Die Entwicklung des Unterhaltsrechts seit Mitte 2010, NJW 2011, 2404.
Dass die Ehegatten einander zum Unterhalt verpflichtet sind, stellt einen 688 der Kernbereiche des ehelichen Solidaritätsgedankens dar. Vielleicht deshalb ist kaum eine Scheidungsfolge emotional so besetzt wie der nacheheliche Unterhalt und auch in der öffentlichen Wahrnehmung so stark mit der allgemeinen Vorstellung verknüpft, dass eine Scheidung vor allem „teuer“ ist. Zudem birgt das Unterhaltsrecht nahezu unerschöpfliches Streitpotenzial: Hier kann von der Ermittlung des einzusetzenden Einkommens über die Frage von Erwerbsobliegenheiten bis zur Verwirkung wegen grober Unbilligkeit über alles gestritten werden. Das lässt gerade auch die anwaltliche Beratung auf diesem Feld zu einer besonderen Herausforderung werden. Durch die Änderung des Unterhaltsrechts zum 1. Januar 2008 ist dessen Brisanz nicht gemindert worden. Vielmehr ist die Unsicherheit eher noch größer geworden, da bekannte Orientierungsgrößen wie beispielsweise das Altersphasenmodell weggefallen sind und auch die Rechtsprechung derzeit noch einen Weg sucht, trotz geforderter Einzelfallbetrachtung wieder zu einer einheitlichen und für die Bevölkerung und die Anwaltschaft erkennbaren Linie zu kommen. 1. Überblick über die Unterhaltsarten Beim Ehegattenunterhalt sind drei Unterhaltstatbestände voneinander zu unterscheiden: 1 BGH v. 1.6.1983 – IVb ZR 386/81, FamRZ 1983, 806.
Krenzler/Niederl
595
689
Ehegattenunterhalt
Rn. 689
Kap. 6 C
allerdings das von dem ausländischen Gericht zugrunde gelegte Sachrecht maßgeblich bleibt1. Das AUG hilft auch bei der Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen 687 in denjenigen Staaten weiter, in denen die EuUntVO nicht anwendbar ist, also insbesondere in den zahlreichen Gesamt- und Gliedstaaten des anglo-amerikanischen Rechtskreises. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das Kap. 16 Rn. 101 ff. verwiesen.
C. Ehegattenunterhalt I. Grundlagen und Voraussetzungen Literaturverzeichnis: Aps, Zur Frage der sekundären Darlegungslast des Unterhaltsberechtigten für ehebedingte Nachteile im Rahmen der Unterhaltsherabsetzung – Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 26.10.2011 – XII ZR 162/09, FF 2012, 36; Götz/Brudermüller, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung im nachehelichen Unterhaltsrecht, NJW 2011, 801; Kalthoener/Büttner/Niepmann, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 10. Aufl., 2008; Niepmann/Schwamb, Die Entwicklung des Unterhaltsrechts seit Mitte 2010, NJW 2011, 2404.
Dass die Ehegatten einander zum Unterhalt verpflichtet sind, stellt einen 688 der Kernbereiche des ehelichen Solidaritätsgedankens dar. Vielleicht deshalb ist kaum eine Scheidungsfolge emotional so besetzt wie der nacheheliche Unterhalt und auch in der öffentlichen Wahrnehmung so stark mit der allgemeinen Vorstellung verknüpft, dass eine Scheidung vor allem „teuer“ ist. Zudem birgt das Unterhaltsrecht nahezu unerschöpfliches Streitpotenzial: Hier kann von der Ermittlung des einzusetzenden Einkommens über die Frage von Erwerbsobliegenheiten bis zur Verwirkung wegen grober Unbilligkeit über alles gestritten werden. Das lässt gerade auch die anwaltliche Beratung auf diesem Feld zu einer besonderen Herausforderung werden. Durch die Änderung des Unterhaltsrechts zum 1. Januar 2008 ist dessen Brisanz nicht gemindert worden. Vielmehr ist die Unsicherheit eher noch größer geworden, da bekannte Orientierungsgrößen wie beispielsweise das Altersphasenmodell weggefallen sind und auch die Rechtsprechung derzeit noch einen Weg sucht, trotz geforderter Einzelfallbetrachtung wieder zu einer einheitlichen und für die Bevölkerung und die Anwaltschaft erkennbaren Linie zu kommen. 1. Überblick über die Unterhaltsarten Beim Ehegattenunterhalt sind drei Unterhaltstatbestände voneinander zu unterscheiden: 1 BGH v. 1.6.1983 – IVb ZR 386/81, FamRZ 1983, 806.
Krenzler/Niederl
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689
Kap. 6 C Rn. 690
Ehegattenunterhalt
– der Familienunterhalt, §§ 1360, 1360a BGB – der Trennungsunterhalt, § 1361 BGB – der nacheheliche Unterhalt, §§ 1569 ff. BGB. 690
Der Anspruch auf Familienunterhalt dient zur Sicherung der Lebensgrundlage während des Zusammenlebens der Eheleute. Der Anspruch besteht wechselseitig, dh. jeder Ehegatte ist zugleich berechtigt und verpflichtet. Der Familienunterhalt ist mit Ausnahme von Wirtschaftsgeld oder Taschengeld grundsätzlich nicht durch Zahlung einer Unterhaltsrente zu leisten, sondern durch Übernahme der tatsächlichen Geld- und Arbeitsleistungen, die erforderlich sind, um die Bedürfnisse der Familie abzudecken.
691
Die Ansprüche auf Trennungsunterhalt und nachehelichen Unterhalt dienen dazu, dem bedürftigen Ehegatten nach der Trennung ein vom anderen unabhängiges Wirtschaften zu ermöglichen. Der Anspruch ist auf Zahlung einer Geldrente gerichtet und besteht ausschließlich zugunsten des Bedürftigen gegen den wirtschaftlich stärkeren Ehepartner. 2. Unterschiedliche Streitgegenstände
692
Die Unterhaltsansprüche können zeitlich nicht zusammenfallen und sind strikt voneinander zu trennen. Der Anspruch auf Familienunterhalt endet mit der Trennung der Ehegatten. Der daran anschließende Anspruch auf Trennungsunterhalt erlischt mit rechtskräftiger Scheidung der Ehe. Ab Rechtskraft der Scheidung entsteht der Anspruch auf nachehelichen Unterhalt. Die verschiedenen Unterhaltsarten stellen stets unterschiedliche Streitgegenstände dar1.
693
Prozessual ist daher Folgendes zu beachten: Der Trennungsunterhalt kann niemals im Scheidungsverbund geltend gemacht werden, da der Anspruch nur bis zur Rechtskraft der Scheidung besteht. Mit den Folgesachen werden dagegen Entscheidungen für den Fall der rechtskräftigen Scheidung, also Regelungen für die Zeit nach der Scheidung, getroffen. Trennungsunterhalt ist daher immer separat einzuklagen.
694
Ein Titel über Trennungsunterhalt gilt daher auch immer nur bis zur Rechtskraft der Scheidung. Wird für anschließende Zeiträume dennoch weiter daraus vollstreckt, ist Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO zu erheben.
695
Der Grundsatz der Nichtidentität von Trennungs- und nachehelichem Unterhalt wird allerdings durchbrochen bei der einstweiligen Anordnung zum Ehegattenunterhalt, § 246 FamFG. Da die einstweilige Anordnung erst mit Wirksamwerden einer anderweitigen Regelung des Streitgegenstandes außer Kraft tritt (§ 56 FamFG), kann sie über die Rechtskraft der 1 BGH v. 14.1.1980 – IVb ZR 575/80, FamRZ 1981, 242.
596
Niederl
Ehegattenunterhalt
Rn. 697
Kap. 6 C
Scheidung hinaus wirksam und vollstreckbar bleiben. Es obliegt ggf. dem Unterhaltsschuldner, einen Feststellungsantrag zu erheben, dass der Unterhalt nach der Scheidung nicht mehr (oder nicht mehr in voller Höhe) geschuldet ist. 3. Prüfungsschema Bei der Prüfung von Unterhaltsansprüchen ist stets von folgender Prüfungsreihenfolge auszugehen:
696
– Feststellung des Unterhaltstatbestandes Bevor der Unterhalt berechnet wird, ist zwingend festzustellen, dass überhaupt eine Anspruchsgrundlage für die Zahlung von Unterhalt gegeben ist. – Ermittlung des Bedarfs des Unterhaltsberechtigten Der Bedarf ist die Höhe der Mittel, die dem Unterhaltsberechtigten einschließlich seiner eventuellen eigenen Einkünfte als notwendiger oder angemessener Unterhalt zur Verfügung stehen muss. Er ermittelt sich beim Ehegattenunterhalt gem. §§ 1361 Abs. 1 BGB bzw. 1578 BGB aus den ehelichen Lebensverhältnissen und umfasst den gesamten Lebensbedarf einschließlich angemessener Vorsorgekosten. – Ermittlung der Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten Unterhaltsbedürftig ist der Berechtigte nur insoweit, wie er seinen nach den ehelichen Lebensverhältnissen ermittelten Bedarf nicht durch eigene Einkünfte und sein Vermögen abdecken kann, § 1577 Abs. 1 BGB. – Prüfung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten Nach Feststellung der Höhe des Unterhaltsanspruchs des Berechtigten ist zu überprüfen, ob der Verpflichtete den Unterhalt in der errechneten Höhe bezahlen kann, ohne seinen eigenen notwendigen oder angemessenen Lebensbedarf (Selbstbehalt) dadurch zu gefährden, § 1581 BGB. – Prüfung von Ausschlussgründen, die zum Erlöschen oder der Herabsetzung führen können (Verwirkung, Befristung, Verjährung) Zuletzt ist zu überprüfen, ob der Unterhaltsanspruch durch Ausschlussgründe erloschen ist oder gekürzt werden muss. 4. Die Unterhaltsarten im Einzelnen a) Familienunterhalt nach § 1360 BGB Der Anspruch auf Familienunterhalt nach § 1360 BGB besteht während 697 des Zusammenlebens der Ehegatten. Er wird daher idR nicht Gegenstand anwaltlicher Tätigkeit sein und soll nur kurz beleuchtet werden.
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Kap. 6 C Rn. 698
Ehegattenunterhalt
aa) Naturalunterhalt 698
Während des Zusammenlebens sind die Ehegatten verpflichtet, durch ihre Arbeit und mit ihrem Vermögen die Familie zu unterhalten. Dabei erfüllt ein Ehegatte, dem die Haushaltsführung überlassen ist, seine Verpflichtung, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen, idR durch die Führung des Haushalts. Das gilt auch, wenn er vermögend sein sollte1. Sind beide Ehegatten erwerbstätig, haben sie anteilig zu den Kosten der Familie, aber auch zur Hausarbeit und der Kinderbetreuung beizutragen.
699
Der Anspruch auf Familienunterhalt ist nicht primär ein Barunterhaltsanspruch, sondern auf Naturalunterhalt gerichtet. Aufgrund dessen wird es idR schwierig sein, diesen Anspruch prozessual durchzusetzen. Dennoch hat er auch Bestandteile, die auf Zahlung einer Unterhaltsrente gerichtet sind, beispielsweise den Anspruch auf angemessenes Haushaltsgeld oder Taschengeld.
Û
Praxistipp: In der Praxis kann es immer wieder vorkommen, dass ein Taschengeldanspruch zu ermitteln ist, etwa im Rahmen der Pfändung dieses Anspruchs, zB wegen Kindesunterhaltsansprüchen.
bb) Taschengeldanspruch 700
Der Taschengeldanspruch besteht zur Deckung persönlicher Bedürfnisse jedes Ehegatten. Er bemisst sich nach dem Familieneinkommen und dem Lebensstil der Familie. IdR beträgt er 5–7 % des zur Verfügung stehenden Nettoeinkommens der Eheleute2. Allerdings besteht ein Taschengeldanspruch nicht, wenn das Einkommen zur Deckung des notwendigen Familienunterhalts nicht ausreicht. Zudem ist bei der Pfändung zu beachten, dass diese grundsätzlich nur dann möglich ist, wenn eine Aufteilung des Einkommens der Ehegatten nach Quoten entsprechend der Berechnung beim Trennungsunterhalt ergibt, dass der Bedarf des Taschengeldberechtigten einschließlich seines Taschengeldanspruchs oberhalb der Pfändungsfreigrenzen nach § 850c ZPO liegt3. cc) Verfahrens- bzw. Prozesskostenvorschuss
701
Zum Anspruch auf Familienunterhalt gehört auch der Anspruch auf Zahlung eines Verfahrens- bzw. Prozesskostenvorschusses, § 1360a Abs. 4 BGB. Der Kostenvorschuss ist grundsätzlich vorrangig vor der Beantragung von Verfahrenskostenhilfe. Der Anspruch besteht für die Kosten ei1 BGH v. 18.5.1965 – VI ZR 1/64, FamRZ 1965, 437. 2 BGH v. 21.2.1998 – XII ZR 140/96, FamRZ 1998, 608 (609). 3 OLG Celle v. 4.10.1990 – 4 W 193/90, FamRZ 1991, 726; OLG Stuttgart v. 4.3.1997 – 8 W 458/96, FamRZ 1997, 1494.
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Niederl
Ehegattenunterhalt
Rn. 705
Kap. 6 C
nes Rechtsstreits in einer persönlichen Angelegenheit ebenso wie für die Verteidigung in einem Strafverfahren. Dabei ist Voraussetzung die hinreichende Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung1. Bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten sind die gleichen Maßstäbe anzusetzen wie bei der Prozesskostenhilfe2. In wirtschaftlicher Hinsicht setzt der Anspruch voraus, dass der Berechtigte nicht über die notwendigen Eigenmittel verfügt, um die Kosten selbst zu tragen, und dies dem Verpflichteten nach Billigkeit zugemutet werden kann. Hierfür muss er mindestens über ein Einkommen verfügen, wonach er nicht selbst Prozesskostenhilfe ohne Raten beantragen könnte und ihm der Selbstbehalt verbleibt3. b) Trennungsunterhalt nach § 1361 BGB In der anwaltlichen Tätigkeit wesentlich relevanter ist der Anspruch auf 702 Unterhalt nach Trennung der Ehegatten. Mit dem Getrenntleben der Ehegatten endet der Anspruch auf Familienunterhalt nach § 1360 BGB. An dessen Stelle tritt der individuelle Unterhaltsanspruch des bedürftigen Ehegatten gegen den anderen. Der Anspruch richtet sich auf Zahlung einer Geldrente, § 1361 Abs. 4 BGB, die monatlich im Voraus zu leisten ist, § 1361 Abs. 4 S. 2 BGB. Der Anspruch auf Trennungsunterhalt setzt voraus:
703
– ein völliges und dauerhaftes Getrenntleben der Ehegatten – Bedürftigkeit des unterhaltbegehrenden Ehegatten – Leistungsfähigkeit der unterhaltsverpflichteten Ehegatten – Fehlen von Härtegründen gem. §§ 1361 Abs. 3 i.V.m. 1579 Nr. 2 bis 8 BGB. aa) Getrenntleben der Ehegatten Der Trennungsunterhalt setzt eine noch bestehende Ehe und ein Getrenntleben i.S.v. § 1567 BGB voraus. Erforderlich ist, dass zwischen den Ehegatten keine häusliche Gemeinschaft mehr besteht und mindestens einer von ihnen diese auch erkennbar nicht wieder herstellen will, weil er die Fortsetzung der Ehe ablehnt.
704
Eine häusliche Gemeinschaft besteht nicht mehr, wenn die Ehegatten ent- 705 weder in getrennten Wohnungen leben oder innerhalb der Ehewohnung jedenfalls keinen gemeinsamen Haushalt mehr führen. Voraussetzung ist eine möglichst vollständige Trennung der Wirtschaftsführung. Insbesondere dürfen die Ehegatten keine gegenseitigen Dienstleistungen i.S. einer Aufgabenteilung mehr füreinander erbringen. Der in der Praxis häufig gegebe1 BGH v. 7.2.2001 – XII ZB 2/01, FamRZ 2001, 1363 = FamRB 2002, 13. 2 Palandt/Brudermüller, § 1360a BGB Rn. 15. 3 BGH v. 4.8.2004 – XII ZA 6/04, FamRZ 2004, 1633 = FamRB 2004, 393 zum Vorschussanspruch eines minderjährigen Kindes.
Niederl
599
Kap. 6 C Rn. 706
Ehegattenunterhalt
ne Fall beim Getrenntleben innerhalb des gemeinsamen Hauses, dass der allein- oder besserverdienende Ehegatte noch die Kreditlasten und die für das Haus anfallenden Unterhaltskosten allein trägt, steht der Annahme eines Getrenntlebens nicht entgegen1. Auch gemeinsame Aktivitäten im Interesse von Kindern sollen einem Getrenntleben nicht entgegenstehen, solange sie jedenfalls einen gewissen Rahmen nicht überschreiten2. 706
Nicht erforderlich ist dagegen, dass die Ehegatten vor der Trennung überhaupt in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben3. Auch eine gemeinsame Wirtschaftsführung muss nicht vorgelegen haben. Auch wenn daher beide Eheleute schon während des Zusammenlebens eigene Einkünfte erzielt und getrennte Konten geführt haben, ist ein Anspruch auf Trennungsunterhalt gegeben4. Eine lange Trennungsdauer, in der der wirtschaftlich schwächere Ehegatte bislang keinen Unterhalt für sich geltend gemacht hat, kann jedoch einem Unterhaltsanspruch entgegenstehen, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse der Ehegatten inzwischen durch die Trennung vollständig entflochten sind5. Im Übrigen kann in den vorgenannten Fällen allerdings zu prüfen sein, ob uU eine Korrektur des Unterhaltsanspruchs aus Billigkeitsgesichtspunkten nach §§ 1361 Abs. 3, 1579 Nr. 8 BGB geboten ist6.
707
Das Getrenntleben wird durch kurze Versöhnungsversuche nicht unterbrochen. Ein bestehender Unterhaltstitel bleibt während dieser Zeit wirksam. Seiner Vollstreckung für die Zeit des Versöhnungsversuchs dürfte jedoch der Arglisteinwand entgegenstehen.
708
Bei einer Dauer von mehr als drei Monaten wird davon auszugehen sein, dass durch die Versöhnung die Trennung zwischen den Beteiligten aufgehoben wurde7. In diesem Fall kann auch bei einer späteren erneuten Trennung Unterhalt nicht aus einem früher erwirkten Trennungsunterhaltstitel vollstreckt werden. Vielmehr ist ein neuer Titel über den Trennungsunterhalt zu erwirken8.
1 Ehinger in Ehinger/Griesche/Rasch, Rn. 343. 2 OLG Köln v. 19.10.2001 – 25 WF 185/01, FamRZ 2002, 1341. 3 BGH v. 17.3.1982 – IVb ZR 664/80, FamRZ 1982, 573; BGH v. 9.2.1994 – XII ZR 220/94, FamRZ 1994, 558. 4 BGH v. 24.6.1987 – IVb ZR 73/86, FamRZ 1989, 838. 5 OLG Frankfurt v. 12.9.2003 – 2 WF 283/03, FamRZ 2004, 1574 = FamRB 2004, 351 für eine mehr als zehnjährige Trennungszeit. 6 OLG Frankfurt v. 12.9.2003 – 2 WF 283/03, FamRZ 2004, 1574 = FamRB 2004, 351. 7 Palandt/Brudermüller, § 1361 BGB Rn. 5, 9. 8 OLG Hamm v. 24.1.2011 – 2 WF 277/10, FamRZ 2011, 1234 = NJW-RR 2011, 1015; OLG Düsseldorf v. 24.1.1992 – 6 UF 140/91, FamRZ 1992, 943; OLG Hamm v. 10.3.1998 – 10 WF 280/97, FamRZ 1999, 30 für eine ca. zweijährige Versöhnung.
600
Niederl
Ehegattenunterhalt
Rn. 713
Kap. 6 C
bb) Bedürftigkeit und Erwerbsobliegenheit Die Bedürftigkeit des Ehegatten richtet sich nach den Einkommens- und 709 Vermögensverhältnissen der Eheleute. Feste Bedarfssätze wie beim Kindesunterhalt gibt es beim Ehegattenunterhalt nicht. Der bedürftige Ehegatte hat einen Anspruch auf seinen vollen eheangemessenen Bedarf. Dieser umfasst die Kosten des gesamten Lebensbedarfs (Elementarunterhalt). Daneben kann auch Kranken- und ab Rechtshängigkeit der Scheidung Altervorsorgeunterhalt geschuldet sein (s. auch Rn. 996 ff.). Zum Anspruch auf Verfahrenskostenvorschuss gelten die gleichen Ausführungen wie beim Familienunterhalt (s. Rn. 701, 980). Bedürftig ist der unterhaltsbegehrende Ehegatte dann, wenn ihm keine ei- 710 gene Erwerbstätigkeit möglich oder zumutbar ist oder sein eigenes Einkommen zum Erhalt des bisherigen Lebensstandards nicht ausreicht. Streitig ist insoweit in vielen Fällen die Frage, ob und wann der unterhaltsberechtigte Ehegatte eine eigene Erwerbstätigkeit aufnehmen oder ausweiten muss, wenn er während des Zusammenlebens zuletzt nicht oder nur gering beschäftigt war. Hierzu ist in § 1361 Abs. 2 BGB festgelegt, dass der nicht erwerbstätige Ehegatte nur dann darauf verwiesen werden kann, seinen Unterhalt durch eine Erwerbstätigkeit selbst zu verdienen, wenn dies von ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen, insbesondere wegen einer früheren Erwerbstätigkeit unter Berücksichtigung der Dauer der Ehe, und nach den wirtschaftlichen Verhältnissen beider Ehegatten erwartet werden kann.
711
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH darf jedenfalls im ersten Jahr 712 nach der Trennung der bisherige Status quo beibehalten werden, es muss also eine Tätigkeit nicht aufgenommen bzw. ausgeweitet werden1. Dies ist auch in den Unterhaltsleitlinien der meisten Oberlandesgerichte so festgehalten. Damit soll sichergestellt werden, dass im ersten Zeitraum nach der Trennung eine Aussöhnung der Eheleute nicht durch eine grundlegende Änderung der bisherigen Verhältnisse erschwert wird. Allerdings ist die Jahresfrist kein Dogma. Für eine kurze kinderlose Ehe, bei der beide Ehegatten zum Zeitpunkt der Trennung noch jung und die wirtschaftlichen Verhältnisse beengt waren, wurde auch schon eine Erwerbsobliegenheit vor Ablauf des Trennungsjahres bejaht2. Nach dem ersten Trennungsjahr muss der Ehegatte sich jedoch grund- 713 sätzlich auch schon um eigene Einkünfte bemühen, soweit ihm dies möglich und zumutbar ist. Dabei ist von dem Grundsatz auszugehen, dass die eheliche Solidarität während der Trennungszeit aufgrund der im1 BGH v. 15.11.1989 – IVb ZR 3/89, FamRZ 1990, 283 (286); BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170. 2 BGH v. 29.11.2000 – XII ZR 212/98, FamRZ 2001, 350 für den Beginn der Erwerbsobliegenheit bereits nach achtmonatiger Trennungszeit, wobei das Scheidungsverfahren zu diesem Zeitpunkt schon von beiden Ehegatten anhängig gemacht war.
Niederl
601
Kap. 6 C Rn. 714
Ehegattenunterhalt
mer noch bestehenden Ehe stärker ausgeprägt ist als beim nachehelichen Unterhalt. Daher sind beim Trennungsunterhalt weniger strenge Anforderungen an die Erwerbsobliegenheit des bedürftigen Ehegatten zu stellen1. Dennoch kann auch schon im Trennungsjahr die Ausweitung einer Teilzeitbeschäftigung auf eine Ganztagstätigkeit verlangt werden, selbst dann, wenn dies mit einem Jobwechsel verbunden wäre2. 714
Die Erwerbsobliegenheit kann im Einzelnen durch folgende Kriterien eingeschränkt sein: (1) Anzahl und Alter von zu betreuenden Kindern
715
Wie beim nachehelichen Betreuungsunterhalt nach § 1570 BGB kann der Ehegatte durch die Kinderbetreuung an der Ausübung einer (vollen oder teilweisen) Erwerbstätigkeit gehindert sein. Dabei kommt es, anders als beim nachehelichen Unterhalt, nicht darauf an, dass es sich um gemeinsame Kinder der Ehegatten handelt. Auch die Betreuung von Pflegekindern, Kindern aus einer vorangegangenen Beziehung oder sogar von Kindern, die aus einer nach der Trennung neu eingegangenen Partnerschaft hervorgegangen sind, rechtfertigt einen Unterhaltsanspruch3. Im letztgenannten Fall ist freilich auch eine (Mit-)Haftung des anderen Elternteils nach § 1615l BGB mit zu berücksichtigen4.
716
Wurde bereits vor der Trennung trotz der Kinderbetreuung eine Erwerbstätigkeit ausgeübt und wird sie nach der Trennung zunächst fortgesetzt, so spricht eine Vermutung dafür, dass die Tätigkeit auch zumutbar ist5. Allerdings kann es auch zulässig sein, eine bis zur Trennung ausgeübte Erwerbstätigkeit nach der Trennung einzuschränken, weil die bisherige Mithilfe des anderen Elternteils bei der Kinderbetreuung und der Haushaltsführung entfällt6.
717
Generell sind für die Beurteilung der Erwerbsobliegenheit auch die Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Fremdbetreuungsoptionen zu berücksichtigen, wobei allerdings im Lichte des § 1361 Abs. 2 BGB nicht so strenge Maßstäbe anzulegen sind wie beim nachehelichen Unterhalt7. Im Einzelnen wird hierzu auf die Ausführungen zu § 1570 BGB verwiesen, Rn. 755 ff., 1234.
1 2 3 4 5 6 7
BGH v. 29.11.2000 – XII ZR 212/98, FamRZ 2001, 350. Palandt/Brudermüller, § 1361 BGB Rn. 13. BGH v. 3.2.1982 – IVb ZR 654/80, FamRZ 1982, 463. BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541. OLG München v. 15.3.2000 – 12 UF 1742/99, FamRZ 2000, 1286 (LS). Wendl/Dose/Bömelburg, § 4 Rn. 52. OLG Düsseldorf v. 29.10.2009 – II-7 UF 88/09, FamRZ 2010, 646 = FamRB 2010, 35.
602
Niederl
Ehegattenunterhalt
Rn. 723
Kap. 6 C
(2) Dauer der Ehe und der Trennung Für die Frage der Erwerbsobliegenheit während der Trennungszeit spielt 718 auch die Dauer der Ehe eine erhebliche Rolle. Haben die Eheleute über einen langen Zeitraum ihre Ehe so ausgestaltet, dass lediglich ein Ehepartner Einkommen erzielt und der andere Ehegatte den Haushalt geführt hat, so ist ein Wiedereinstieg in das Berufsleben erfahrungsgemäß für den haushaltführenden Ehegatten wesentlich schwieriger zu erreichen als nach einer kurzen Berufspause. Bereits oben (Rn. 712 f.) wurde ausgeführt, dass regelmäßig eine Auswei- 719 tung der Berufstätigkeit erst nach Ablauf des ersten Trennungsjahres verlangt werden kann. Bei langer Ehe kann dieser Zeitraum auch zwei Jahre betragen1. Grundsätzlich steigen die Anforderungen an den bedürftigen Ehegatten mit fortschreitender Trennungszeit jedoch idR an, weil davon auszugehen ist, dass mit längerer Trennungszeit und erst recht, sobald das Scheidungsverfahren zwischen den Parteien anhängig ist, immer weniger mit der Möglichkeit einer Aussöhnung der Ehegatten zu rechnen ist. Leben die Ehegatten jedoch schon mehrere Jahre getrennt, ohne dass ein 720 Scheidungsverfahren anhängig gemacht wurde, und wurde in dieser Zeit durchgehend Unterhalt bezahlt, wird dem Unterhaltsberechtigten, der sich auf die Zahlungen eingerichtet und auf den Fortbestand der Zahlungen vertraut hat, ebenfalls noch eine weitere Übergangsfrist einzuräumen sein2. (3) Alter und Gesundheit des bedürftigen Ehegatten Hier gelten die gleichen Kriterien wie beim nachehelichen Unterhalt, so dass auf die dortigen Ausführungen unter Rn. 785 ff. zum Altersunterhalt und 798 ff. zum Krankenunterhalt verwiesen wird.
721
(4) Berufliche Vorbildung des Ehegatten und früher ausgeübte Tätigkeit Der bedürftige Ehegatte muss auch während der Trennungszeit nur eine Tätigkeit aufnehmen, die seinen persönlichen, aber auch den ehelichen Lebensverhältnissen entspricht. Maßgeblich sind seine persönlichen Fähigkeiten und seine berufliche Vorbildung, aber auch ein früher ausgeübter Beruf. Es gelten insoweit vergleichbare Maßstäbe wie beim nachehelichen Unterhalt (Rn. 744 ff.).
722
(5) Wirtschaftliche Verhältnisse der Ehegatten Bei beengten wirtschaftlichen Verhältnissen, insbesondere bei hoher Verschuldung des Unterhaltsschuldners oder beider Ehegatten, erhält die Er1 KG v. 7.3.1991 – 16 UF 6786/90, FamRZ 1991, 1188. 2 OLG Köln v. 10.12.1998 – 14 WF 191/98, FamRZ 1999, 853.
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603
723
Kap. 6 C Rn. 724
Ehegattenunterhalt
werbsobliegenheit des bedürftigen Ehegatten eine größere Bedeutung1. Es kann ihm dann auch schon vor Ablauf des Trennungsjahres und ggf. auch bei Betreuung kleiner Kinder eher wieder eine Aufnahme oder Ausweitung seiner Erwerbstätigkeit zuzumuten sein. (6) Vermögensverwertung 724
Da beim Trennungsunterhalt eine den §§ 1577 Abs. 3, 1581 S. 2 BGB entsprechende Bestimmung fehlt, besteht für den getrenntlebenden Ehegatten grundsätzlich keine Obliegenheit, seinen Vermögensstamm zur Deckung seines Unterhaltsbedarfs einzusetzen2. Nur ausnahmsweise kann er auf die Verwertung seines Vermögensstamms verwiesen werden. Die Obliegenheit zur Verwertung ist daher besonders streng zu prüfen; sie ist idR enger als nach der Scheidung3. Dies gilt sowohl für den Bedürftigen als auch für den Pflichtigen. Allerdings kann bereits in der Trennungszeit eine Verpflichtung des Unterhaltsberechtigten bestehen, sein Vermögen umzuschichten und ertragreicher anzulegen, sofern das Interesse an der Eheerhaltung dem nicht entgegensteht4. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn nach den bestehenden Vermögensdispositionen überhaupt keine Erträge erzielt werden, zB bei Investitionen in eine selten genutzte Ferienwohnung. Es besteht aber keine Verpflichtung zu einer mit hohen Risiken verbundenen Anlage5.
725
Vermögen, das der bedürftige Ehegatte erst zB durch die Auseinandersetzung der Ehegatten erhält, hat er ebenfalls möglichst ertragreich einzusetzen. Dies gilt auch für die Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen, solange dies nicht zu einem endgültigen vermögensrechtlichen Nachteil führt6. Verliert der Ehegatte allerdings durch die Geltendmachung des Pflichtteils die testamentarisch angeordnete Einsetzung zum Schlusserben, dürfte die Verpflichtung zur Vermögensverwertung zu verneinen sein. (7) Haushaltsführung für einen neuen Lebenspartner
726
Führt der bedürftige Ehegatte einem neuen Partner den Haushalt, mindert dies seine Bedürftigkeit, da er teilweise Kosten der Lebenshaltung wie Miete, Verpflegung etc. erspart und sich zudem eine Vergütung für seine Versorgungsleistungen anrechnen lassen muss. Maßgeblich ist, ob eine Wirtschaftsgemeinschaft oder eine reine Wohngemeinschaft vorliegt. Voraussetzung für eine Anrechenbarkeit ist aber die Leistungsfähig1 OLG Hamm v. 23.10.1996 – 12 UF 87/96, OLGReport 1997, 95. 2 BGH v. 18.1.2012 – XII ZR 177/09, FamRZ 2012, 514. 3 OLG Hamm v. 20.12.1996 – 10 UF 109/96, FamRZ 1997, 1537; BGH v. 18.1.2012 – XII ZR 177/09, FamRZ 2012, 514. 4 BGH v. 22.10.1997 – XII ZR 12/96, FamRZ 1998, 87. 5 BGH v. 22.10.1997 – XII ZR 12/96, FamRZ 1998, 87. 6 BGH v. 21.4.1993 – XII ZR 248/91 FamRZ 1993, 1065.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 729
Kap. 6 C
keit des neuen Partners1. Zudem soll die Zurechnung ausscheiden, wenn der Bedürftige neben der Haushaltsführung einer eigenen Erwerbstätigkeit nachgeht2. (8) Wohnvorteil Verbleibt der bedürftige Ehegatte in der gemeinsamen Wohnung, so kann 727 ihm ein Wohnvorteil anzurechnen sein. Dies kommt insbesondere bei mietfreiem Wohnen im Eigenheim in Betracht. Aber auch in Fällen, in denen der bedürftige Ehegatte in der vormals gemeinsamen Mietwohnung verbleibt, für deren Kosten der besser- oder alleinverdienende Ehepartner weiter aufkommt, ist dieser Nutzungsvorteil bei der Bemessung des Unterhalts zu berücksichtigen3. Zu beachten ist, dass für eine Übergangszeit nicht der volle, sondern 728 lediglich der angemessene Wohnwert angesetzt werden kann, da die Wohnung für den Ehegatten meist zu groß ist. Es ist dann lediglich auf den Mietzins abzustellen, den er auf dem örtlichen Wohnungsmarkt für eine dem ehelichen Lebensstandard entsprechende kleinere Wohnung zahlen müsste4. Diese Übergangszeit entspricht idR dem Trennungsjahr. Sie kann aber auch kürzer sein, wenn die Eheleute schon vor Ablauf des Trennungsjahrs die Scheidung einreichen oder durch eine endgültige Regelung der Scheidungsfolgen und der Vermögensauseinandersetzung ihren endgültigen Scheidungswillen bekunden5. Auch wenn ein neuer Partner in die Ehewohnung mit aufgenommen wird, kommt eine Kürzung des vollen Wohnwerts nicht mehr in Betracht. Regelmäßig gezahlte Raten auf einen Kredit für die Ehewohnung sind 729 während der Trennung zunächst in voller Höhe (Zins und Tilgung) und auch nicht nur beschränkt auf die Höhe des angemessenen Wohnvorteils als eheprägend zu berücksichtigen. Ist der bedürftige Ehegatte Eigentümer und Kreditschuldner, gilt dies allerdings beschränkt auf die Summe aus seinen eigenen Einkünften und Gebrauchsvorteilen6. Mit Zustellung des Scheidungsantrags oder vertraglicher Aufhebung des gesetzlichen Güterstandes entfällt jedoch die Abzugsfähigkeit von Tilgungsanteilen, da ab diesem Zeitpunkt der andere Ehegatte nicht mehr über den Zugewinnausgleich von der einseitigen Vermögensbildung mit profitiert7.
1 2 3 4 5
BGH v. 21.12.1988 – IVb ZR 18/88, FamRZ 1989, 487. OLG München v. 23.11.2005 – 16 UF 1484/05, FamRZ 2006, 1535. OLG Hamm v. 11.8.2005 – 4 WF 165/05, ZFE 2006, 156. BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 21/05, FamRZ 2007, 879 = FamRB 2007, 228. BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170. 6 BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 21/05, FamRZ 2007, 879 = FamRB 2007, 228. 7 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170.
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Kap. 6 C Rn. 730
Ehegattenunterhalt
cc) Inverzugsetzung 730
Trennungsunterhalt ist für die Vergangenheit nur geschuldet, soweit der Unterhaltspflichtige zuvor mit der Zahlung in Verzug gesetzt wurde. Dabei genügt, wie beim Verwandtenunterhalt, die Aufforderung an ihn, Auskunft über sein Einkommen zu erteilen, damit die Höhe des Unterhaltsanspruchs ermittelt werden kann. Insoweit verweist § 1361 Abs. 4 S. 4 auf § 1360a Abs. 3 BGB und dieser auf § 1613 Abs. 1 BGB. Daher ist es in der Praxis unumgänglich, möglichst unverzüglich die Ansprüche auf Ehegattenunterhalt geltend zu machen, soweit solche in Frage kommen. Dafür empfiehlt es sich, wenigstens Auskunft über das Einkommen zu verlangen, so dass die Bezifferung von Unterhaltsansprüchen jedenfalls nachträglich möglich ist.
Û
Praxistipp: Gelegentlich kommt es vor, dass der Mandant zwar eventuell einen Unterhaltsanspruch hat, diesen jedoch nicht geltend machen möchte. Hier empfiehlt es sich, den Mandanten unbedingt schriftlich darüber zu belehren, dass damit eine spätere Nachforderung von Unterhalt für zurückliegende Zeiträume ausgeschlossen ist. Andernfalls drohen Haftungsansprüche, wenn der Mandant es sich später anders überlegt und behauptet, der Anwalt habe entgegen seinem Interesse die Ansprüche nicht rechtzeitig geltend gemacht.
731
Für den Monat, in dem die Mahnung und die Inverzugsetzung erfolgt, ist Unterhalt für den gesamten Monat geschuldet, es muss keine Anteilsberechnung vorgenommen werden, § 1613 Abs. 1 S. 2 BGB.
732
Zur Auskunft und zum Beleganspruch s. näher unter Rn. 15 ff., 27 ff. dd) Mehrbedarf
733
Der trennungsbedingte Mehrbedarf hat seit der Änderung der BGH-Rechtsprechung von der Anrechnungs- zur Differenz-/Additionsmethode in der Praxis seine Bedeutung weitestgehend verloren. Er kann neben dem nach der Differenzmethode ermittelten Quotenunterhalt regelmäßig nicht gesondert berücksichtigt werden. Dies würde dem Halbteilungsgrundsatz widersprechen1. Nur bei Vorhandensein von Einkommensbestandteilen, die nicht in die Unterhaltsberechnung einbezogen wurden (Karrieresprung, eheprägende Vermögensbildung) kann noch Raum für die Geltendmachung von trennungsbedingtem Mehrbedarf gegeben sein. Dieser kann etwa entstehen für die durch die Trennung erhöhten Wohnkosten, eine Kreditaufnahme für die Neuanschaffung von Hausrat etc. Er muss vom Anspruchsteller detailliert und unter Beweisantritt dargelegt werden. Ei-
1 BGH v. 9.6.2004 – XII ZR 308/01, FamRZ 2004, 1357 = FamRB 2004, 324.
606
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Ehegattenunterhalt
Rn. 737
Kap. 6 C
ne Pauschale für trennungsbedingte Mehrkosten wurde von der Rechtsprechung abgelehnt1. ee) Sonderbedarf Neben dem laufenden Lebensbedarf kann ein Anspruch auf Zahlung ei- 734 nes unregelmäßigen hohen Bedarfs bestehen, der bei der Bemessung des laufenden Unterhalts außer Betracht geblieben ist. Hierbei kann es sich zB um Umzugskosten, Renovierungskosten oder Aufwendungen für unvorhergesehene Krankheitskosten handeln. Allerdings ist der Grundsatz der Halbteilung zu berücksichtigten. Wenn bereits alle Einkünfte des Unterhaltspflichtigen in die Quotenberechnung mit eingeflossen sind, wird idR bei ihm unter Berücksichtigung des angemessenen Selbstbehalts keine Leistungsfähigkeit für die Zahlung von Sonderbedarf mehr vorhanden sein. ff) Vorsorgeunterhalt Der Krankenvorsorgeunterhalt spielt regelmäßig beim Trennungsunter- 735 halt keine Rolle, wenn entweder der unterhaltsbedürftige Ehegatte selbst einer Erwerbstätigkeit nachgeht und daher pflichtversichert ist oder jedenfalls der andere Ehegatte in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis steht. Dann dauert die Familienversicherung gem. § 10 SGB V noch bis zur Rechtskraft der Scheidung fort, so dass kein gesonderter Aufwand entsteht. Allenfalls die Kosten einer Zusatzversicherung können dann gesondert geschuldet sein. Lediglich dann, wenn der unterhaltspflichtige Alleinverdiener privat krankenversichert ist, umfasst der Anspruch auf Trennungsunterhalt auch die weiteren Beiträge für die Krankenversicherung des unterhaltsberechtigten Partners. Kündigt der unterhaltspflichtige Ehegatte die Versicherung, macht er sich schadensersatzpflichtig2.
736
Beim Altersvorsorgeunterhalt ist maßgeblich auf den Zeitpunkt der 737 Rechtshängigkeit der Scheidung abzustellen, § 1361 Abs. 2 BGB. Bis zur Zustellung des Scheidungsantrags wird der berechtigte Ehegatte über den Versorgungsausgleich weiter an der Altersvorsorge des wirtschaftlich stärkeren Ehegatten beteiligt, so dass ihm daneben nicht noch ein Anspruch auf Unterhalt für den Aufbau einer eigenen Altersvorsorge zusteht. Für die Zeit nach Rechtshängigkeit kann dagegen Vorsorgeunterhalt geltend gemacht werden. Zu beachten ist jedoch, dass der Vorsorgeaufwand zweckgebunden ist und vom Berechtigten daher auch tatsächlich zur Einzahlung in die gesetzliche oder eine private Renten- oder Lebensversicherung verwandt werden muss3. 1 BGH v. 9.6.2004 – XII ZR 308/01, FamRZ 2004, 1357 = FamRB 2004, 324. 2 OLG Koblenz v. 12.1.1989 – 11 WF 10/89, FamRZ 1989, 1111. 3 BGH v. 25.3.1987 – IVb ZR 32/86, FamRZ 1987, 684.
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607
Kap. 6 C Rn. 738 738
Ehegattenunterhalt
Reicht das Einkommen des Unterhaltspflichtigen nicht zur Deckung aller Unterhaltsansprüche aus, ist der Vorsorgeunterhalt gegenüber dem Elementarunterhalt nachrangig1. Zur Höhe des Vorsorgeunterhalts s. Rn. 1000 ff. gg) Darlegungs- und Beweislast
739
Der unterhaltbegehrende Ehegatte trägt die Darlegungs- und Beweislast sowohl für seinen Unterhaltsbedarf, also die ehelichen Lebensverhältnisse, als auch für seine Bedürftigkeit. Er muss also zu seinen eigenen Einkünften und ggf. auch zu Fragen der ausreichenden Erfüllung seiner Erwerbsobliegenheit umfassend vortragen. Dies folgt aus § 1577 Abs. 1 BGB, wonach Unterhaltsbedürftigkeit nur besteht, soweit der geschiedene Ehegatte sich nicht aus seinen eigenen Einkünften oder seinem Vermögen selbst unterhalten kann.
Û
Praxistipp: Bei der Geltendmachung von Trennungsunterhalt sollte der Mandant schon mit Übernahme des Mandats nachweisbar auf seine Obliegenheiten hingewiesen und dazu angehalten werden, seine Erwerbsbemühungen ausreichend zu dokumentieren. Dazu sollte er eine chronologische Liste seiner Bemühungen erstellen und fortführen, wobei alle Bewerbungen am besten schriftlich erfolgen und sowohl die Bewerbungsschreiben als auch alle Antworten hierauf sorgfältig aufbewahrt werden. Dies erleichtert in einem gerichtlichen Verfahren die Darstellung der Bemühungen erheblich und ist meist auch entscheidend dafür, dass die Anrechnung fiktiver Einkünfte vermieden werden kann.
hh) Vereinbarungen zum Trennungsunterhalt 740
Grundsätzlich kann der Trennungsunterhalt durch Vereinbarung geregelt werden. Allerdings ist zu beachten, dass beim Trennungsunterhalt wie beim Kindesunterhalt auf zukünftige Ansprüche nicht verzichtet werden darf, §§ 1361a Abs. 4 S. 3, 1360a Abs. 3, 1614 Abs. 1 BGB. Dabei soll eine geringfügige Unterschreitung des vereinbarten Unterhalts gegenüber dem gesetzlich geschuldeten um bis zu 20 % unschädlich sein2, eine Kürzung um 1/3 dagegen zur Unwirksamkeit der Vereinbarung führen3. Ein Verzicht auf rückständigen Unterhalt ist dagegen zulässig.
1 Palandt/Brudermüller, § 1361a BGB Rn. 66. 2 OLG Düsseldorf v. 19.6.2000 – 5 WF 114/00, FamRZ 2001, 1148. 3 OLG Hamm v. 1.1.1999 – 12 UF 38/99, FamRZ 2001, 1023.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 746
Kap. 6 C
c) Nachehelicher Unterhalt nach §§ 1569 ff. BGB aa) Grundsatz der Eigenverantwortung und nacheheliche Solidarität Der nacheheliche Unterhalt ist in den §§ 1569 ff. BGB geregelt. Die Vor- 741 schriften wurden durch das Unterhaltsrechtsänderungsgesetz (UÄndG) v. 21.12.2007 (BGBl. I, S. 3189) grundlegend reformiert. Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich auf die seither geltende Rechtslage, wobei zu beachten ist, dass für vor dem 1.1.2008 entstandene Unterhaltsansprüche weiterhin die alte Rechtslage gilt. Nach § 1569 BGB gilt für die Zeit nach der Scheidung für beide Ehegatten der Grundsatz der Eigenverantwortung. Es obliegt daher jedem Ehegatten, nach der Scheidung selbst für seinen Unterhalt zu sorgen. Nur soweit er dazu außerstande ist, steht dem wirtschaftlich schwächeren Partner als Nachwirkung der ehelichen Solidarität ein Anspruch auf nachehelichen Unterhalt zu.
742
Beide Ehegatten trifft insoweit eine korrelierende Unterhaltsobliegenheit. Der Bedürftige ist verpflichtet, so gut wie möglich selbst für seinen Unterhalt zu sorgen, um die Unterhaltslast für den anderen möglichst gering zu halten, und der Berechtigte ist verpflichtet, alles zu tun, um seine Leistungsfähigkeit zu erhalten.
743
bb) Angemessenheit eigener Erwerbstätigkeit Die Unterhaltstatbestände wegen Alters, Krankheit oder Arbeitslosigkeit sowie der Aufstockungsunterhalt stellen darauf ab, dass der Ehegatte grundsätzlich nach § 1574 Abs. 1 BGB verpflichtet ist, eine angemessene Erwerbstätigkeit auszuüben. Die Vorschrift konkretisiert einerseits die Verpflichtung des bedürftigen Ehegatten, im Rahmen seiner Eigenverantwortung einer Berufstätigkeit nachzugehen, stellt aber andererseits klar, dass die Einkünfte lediglich aus einer „angemessenen“ Erwerbstätigkeit erzielt werden müssen, der Ehegatte also nicht jede Tätigkeit aufnehmen muss.
744
Nach § 1574 Abs. 2 BGB ist eine Erwerbstätigkeit angemessen, die der 745 Ausbildung, den Fähigkeiten, einer früheren Erwerbstätigkeit, dem Lebensalter und dem Gesundheitszustand des geschiedenen Ehegatten entspricht. Als Einschränkung ist formuliert, dass die nach diesen Kriterien ermittelte Tätigkeit nach den ehelichen Lebensverhältnissen nicht unbillig sein darf. Die Ausbildung ist dann nicht entscheidendes Kriterium, wenn im Ausbildungsberuf tatsächlich nie gearbeitet wurde. Dann ist eher auf die individuellen persönlichen Fähigkeiten abzustellen. Auch nach einem längeren Ausstieg aus dem erlernten Beruf kann der Unterhaltsberechtigte
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746
Kap. 6 C Rn. 747
Ehegattenunterhalt
sich auf eine Tätigkeit minderer Qualifikation verweisen lassen müssen1. So kann nach längerer Arbeitslosigkeit auch für eine frühere Geschäftsführerin die Aufnahme einer Tätigkeit als Büroangestellte oder Bürohilfe zumutbar sein2. Allerdings kann in Hinblick auf die Ehedauer und den Lebenszuschnitt der Ehe die Verweisung auf eine Putztätigkeit ausgeschlossen sein3. 747
Durch die Unterhaltsrechtsreform wurde das Merkmal des zuvor ausgeübten Berufs neu in das Gesetz aufgenommen und hat das Kriterium der ehelichen Lebensverhältnisse als Maßstab für die Angemessenheit ersetzt. Letztlich ist für die Frage der Angemessenheit jedoch auf eine Gesamtbeurteilung aller Umstände abzustellen. Es bedarf der Einzelfallentscheidung, welcher Beruf als angemessen anzusehen ist4. Besteht keine Berufsausbildung, kann nach § 1574 Abs. 3 BGB vom Unterhaltsberechtigten auch verlangt werden, dass er sich ausbilden oder umschulen lässt, wenn ein erfolgreicher Abschluss der Ausbildung zu erwarten ist.
748
Dass eine nach den im Gesetz genannten Merkmalen einschlägige Erwerbstätigkeit nicht angemessen ist, da sie nicht den ehelichen Lebensverhältnissen entspricht, ist nach dem Wortlaut als Ausnahmetatbestand formuliert. Daraus folgt, dass es sich insoweit um einen Einwand handelt, für den der Unterhaltsberechtigte darlegungs- und beweisverpflichtet ist. cc) Übersicht über die Unterhaltstatbestände
749
Der Anspruch auf nachehelichen Unterhalt leitet sich nicht bereits aus § 1569 BGB her, sondern ausschließlich aus den in den §§ 1570 bis 1576 BGB normierten sieben Tatbeständen, nach denen ein Unterhaltsanspruch bestehen kann: – wegen Kinderbetreuung, § 1570 BGB, – wegen Alters, § 1571 BGB, – wegen Krankheit oder Gebrechen, § 1572 BGB, – wegen Arbeitslosigkeit, § 1573 Abs. 1 und 4 BGB, – als Aufstockungsunterhalt, § 1573 Abs. 2 BGB, – wegen Ausbildung, § 1575 BGB, – als Billigkeitsunterhalt, § 1576 BGB.
750
Die enumerative Aufzählung der Unterhaltstatbestände ist abschließend. Liegt keiner der genannten Tatbestände vor, kann kein Ehegattenunterhalt verlangt werden. 1 2 3 4
OLG Stuttgart v. 23.12.2008 – 17 UF 180/08, FamRZ 2009, 785. OLG Brandenburg v. 29.7.2008 – 10 UF 195/07, ZFE 2008, 428. OLG Brandenburg v. 12.6.2008 – 9 UF 186/07, FamRZ 2008, 1947. BGH v. 6.10.2004 – XII ZR 319/01, FamRZ 2005, 23 = FamRB 2005, 34.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 753
Kap. 6 C
dd) Einsatzzeitpunkte Voraussetzung für das Entstehen eines Unterhaltsanspruchs ist außer 751 beim Billigkeitsunterhalt nach § 1576 BGB ferner, dass der anspruchsbegründende Sachverhalt bereits zum Zeitpunkt der Scheidung vorliegt bzw. sich daran unmittelbar anschließt (Einsatzzeitpunkt). Das Unterhaltsrecht will den Ehegatten nicht davor schützen, dass er nach der Scheidung durch Umstände, die ihn schicksalhaft treffen, erstmalig bedürftig wird, wenn er zuvor bereits wirtschaftlich auf eigenen Beinen stand. Allerdings können verschiedene Unterhaltstatbestände auch nach der Scheidung erst aneinander anknüpfen (Unterhaltskette). Für einige Unterhaltstatbestände sind daher auch zusätzliche Einsatzzeitpunkte nach der Scheidung vorgesehen, zB mit Beendigung der Kinderbetreuung. Beispiel: Zum Zeitpunkt der Ehescheidung betreut die Ehefrau noch die gemeinsamen minderjährigen Kinder und kann daher keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Bevor die Kinder so groß sind, dass sie wieder eine Arbeit aufnehmen müsste, erkrankt sie. Hier ist die Krankheit zwar nach der Scheidung aufgetreten, da zu diesem Zeitpunkt allerdings noch ein Unterhaltsanspruch wegen der Kinderbetreuung bestand, kann sich der Krankheitsunterhalt daran anschließen.
Bestand bei Eintritt des anschließenden Unterhaltstatbestandes schon nur noch ein teilweiser Unterhaltsanspruch, kann der anschließende Anspruch ebenfalls nur in Höhe des noch bestehenden Anspruchs erwachsen.
752
Beispiel: Hatte die Ehefrau wegen des zunehmenden Alters der Kinder bereits eine Halbtagstätigkeit aufgenommen und erkrankt dann, besteht der Anschlusstatbestand wegen der Erkrankung nur in der Höhe, wie er zuvor noch wegen der nur teilweisen Erwerbstätigkeit bestanden hat. Das Gleiche gilt, wenn die Ehefrau nach Aufnahme einer Halbtagstätigkeit arbeitslos würde. Auch in diesem Fall steht ihr mit Auslaufen des Betreuungsunterhaltsanspruchs Unterhalt wegen Arbeitslosigkeit nur in der Höhe zu, wie er zuletzt aus der Kinderbetreuung resultierte.
Û
Praxistipp: Wird daher ein Anspruch auf nachehelichen Unterhalt erst nach der Scheidung geltend gemacht, muss außer beim Billigkeitsunterhalt zur Schlüssigkeit des Anspruchs unbedingt zur lückenlosen Unterhaltskette vorgetragen werden.
ee) Inverzugsetzung Der nacheheliche Unterhalt ist nicht identisch mit dem Trennungsunterhalt. Aus einem Titel über Trennungsunterhalt darf daher nach der Scheidung nicht mehr vollstreckt werden. Eine dennoch erfolgende Vollstreckung kann mit der Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO angegriffen werden.
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753
Kap. 6 C Rn. 754 754
Ehegattenunterhalt
Außerdem bedarf es für die Geltendmachung des nachehelichen Unterhalts einer erneuten Inverzugsetzung. Wegen der Verschiedenheit der Ansprüche kann diese erst nach rechtskräftiger Scheidung erfolgen.
Û
Wichtig: Die bereits vor der Rechtskraft der Scheidung erfolgte Aufforderung zur Zahlung von nachehelichem Unterhalt ist unwirksam und bewirkt keinen Verzug1! Die Inverzugsetzung mit nachehelichem Unterhalt setzt seit dem UÄndG 2007 keine bezifferte Zahlungsaufforderung und keine spezielle Stufenmahnung mehr voraus. Vielmehr verweist § 1585b BGB seither auf § 1613 Abs. 2 BGB. Damit sind die Voraussetzungen für die Geltendmachung von Verwandten- und Ehegattenunterhalt vereinheitlicht und rückständiger Unterhalt kann auch beim nachehelichen Unterhalt ab Aufforderung zur Zahlung oder zur Auskunftserteilung gefordert werden.
ff) Die Unterhaltstatbestände im Einzelnen (1) Unterhalt wegen Betreuung eines Kindes, § 1570 BGB (a) Neuregelung des Anspruchs nach dem UÄndG 2007 755
Die Vorschrift wurde durch das UÄndG neu gefasst. Dies wurde ua. nötig, nachdem das BVerfG mit seiner Entscheidung v. 28.2.2007 klargestellt hatte, dass die unterschiedliche Regelung zum Betreuungsunterhalt für nichteheliche und eheliche Kinder gegen Art. 6 Abs. 5 GG verstößt und daher verfassungswidrig ist2. Das BVerfG hatte es dabei dem Gesetzgeber freigestellt, die Unterhaltsansprüche verheirateter Elternteile denen nicht verheirateter anzupassen oder umgekehrt oder für beide eine Neuregelung zu treffen. Der Gesetzgeber hat sich für letztere Variante entschieden, wobei jedoch die Neuregelung Elemente beider vorherigen Regelungen enthält.
756
Nach § 1570 Abs. 1 S. 1 besteht ein sog. Basisunterhaltsanspruch auf jeden Fall während der ersten drei Lebensjahre eines Kindes. In § 1570 Abs. 1 S. 2 und 3 und Abs. 2 ist geregelt, unter welchen Umständen ein darüber hinausgehender Betreuungsunterhalt in Betracht kommt. (b) Gemeinsames Kind
757
Voraussetzung ist, anders als beim Trennungsunterhalt, auf jeden Fall, dass es sich um ein gemeinsames Kind handelt. Darunter fallen auch gemeinsam adoptierte Kinder. Auch scheineheliche Kinder sind bis zur rechtskräftigen Anfechtung der Vaterschaft noch gemeinsame Kinder3.
1 BGH v. 13.1.1988 – IVb ZR 7/87, FamRZ 1988, 370. 2 BVerfG v. 28.2.2007 – 1 BvL 9/04, FamRZ 2007, 965 = FamRB 2007, 226. 3 BGH v. 26.10.1984 – IVb ZR 36/83, FamRZ 1985, 51.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 762
Kap. 6 C
Allerdings kann in diesen Fällen zu prüfen sein, ob das Unterschieben eines nichtehelichen Kindes zum Wegfall oder zur Kürzung des Unterhalts wegen Verwirkung führt (s. hierzu näher Rn. 1371, 1380). Die Betreuung von Pflegekindern oder Kindern aus früheren Beziehungen 758 rechtfertigt den Anspruch nach § 1570 BGB dagegen nicht. In diesen Fällen kommt allenfalls ein Billigkeitsunterhalt nach § 1576 BGB in Betracht. Stammt das Kind vom Ehemann, wurde aber nach der Scheidung geboren, 759 richtet sich der Unterhalt nicht nach §§ 1570 oder 1576 BGB, sondern nur nach § 1615l BGB1. (c) Basisunterhalt während der ersten drei Lebensjahre des Kindes Während der ersten drei Lebensjahre des Kindes besteht überhaupt noch 760 keine Erwerbsobliegenheit. Eine Ausnahme hiervon kann jedoch in Betracht kommen, wenn aufgrund der gemeinsamen Lebensplanung und bestehender Betreuungsmöglichkeiten schon vor der Trennung wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen wurde, die auch nach Wegfall der Unterstützung bei der Betreuung durch den anderen Elternteil fortgeführt werden kann2. (d) Billigkeitsunterhalt nach Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes Ab dem dritten Geburtstag des (jüngsten) Kindes besteht ein Betreuungs- 761 unterhaltsanspruch nur noch, „solange und soweit dies der Billigkeit entspricht“ (§ 1570 Abs. 1 S. 2 BGB). Durch diese sehr offene Formulierung soll sichergestellt werden, dass jeweils eine Einzelfallprüfung erfolgt, inwieweit dem betreuenden Elternteil eine Wiederaufnahme seiner Erwerbstätigkeit zumutbar ist3. Dabei gibt § 1570 Abs. 1 S. 3 BGB die beiden wesentlichen Kriterien vor: – die Belange des Kindes und die – Möglichkeiten der Kinderbetreuung. Der BGH spricht insoweit von den kindbezogenen Verlängerungsgrün- 762 den4. Eine Verlängerung kann außerdem nach § 1570 Abs. 2 BGB unter Berücksichtigung der Gestaltung von Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit in der Ehe sowie der Dauer der Ehe in Betracht kommen. Dabei handelt es sich um die sog. elternbezogenen Gründe.
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BGH v. 17.12.1997 – XII ZR 38/96, FamRZ 1998, 426. Palandt/Brudermüller, § 1570 BGB Rn. 10. BT-Drucks. 16/1830, S. 17. BGH v. 18.3.2009 – XII ZR 74/08, FamRZ 2009, 770 = FamRB 2009, 170.
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Kap. 6 C Rn. 763
Ehegattenunterhalt
763
Damit verlangt die neue Regelung regelmäßig aber keinen abrupten Wechsel von der elterlichen Betreuung zu einer Vollerwerbstätigkeit. Nach Maßgabe der im Gesetz genannten kindbezogenen und elternbezogenen Gründe ist auch nach dem neuen Unterhaltsrecht ein gestufter Übergang bis hin zu einer Vollerwerbstätigkeit möglich1.
764
Im Rahmen der Billigkeitsentscheidung über eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus kindbezogenen Gründen nach § 1570 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB ist zunächst der individuelle Umstand zu prüfen, ob und in welchem Umfang die notwendige Betreuung der Kinder auf andere Weise gesichert ist oder in kindgerechten Betreuungseinrichtungen gesichert werden könnte. Ein Altersphasenmodell, das bei der Frage der Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus kindbezogenen Gründen allein auf das Alter der Kinder abstellt, wird diesen Anforderungen nicht gerecht2.
765
Vielmehr soll mit der Neuregelung den regional unterschiedlichen Möglichkeiten der Drittbetreuung, etwa in Kindergärten, Horten oder durch Tagesmütter, ebenso Rechnung getragen werden können wie der unterschiedlichen Entwicklung von Kindern. Steht etwa ein Kindergartenplatz erst für das letzte Jahr vor Schulbeginn zur Verfügung, ist darauf im Einzelfall ebenso Rücksicht zu nehmen wie auf Konstellationen, in denen trotz vorhandener Betreuungsplätze eine Eingewöhnung des Kindes im ersten Anlauf an der Persönlichkeit oder (mangelnden) Reife des betreffenden Kindes scheitert oder gesundheitliche Gründe gegen eine Fremdbetreuung sprechen.
766
Der Gesetzgeber hat mit der Neugestaltung des nachehelichen Betreuungsunterhalts für Kinder ab Vollendung des dritten Lebensjahres den Vorrang der persönlichen Betreuung gegenüber anderen kindgerechten Betreuungsmöglichkeiten aufgegeben. Die Obliegenheit zur Inanspruchnahme einer kindgerechten Betreuungsmöglichkeit findet erst dort ihre Grenze, wo die Betreuung nicht mehr mit dem Kindeswohl vereinbar ist, was jedenfalls bei öffentlichen Betreuungseinrichtungen wie Kindergärten, Kindertagesstätten oder Kinderhorten regelmäßig nicht der Fall ist3.
767
In dem Umfang, in dem das Kind nach Vollendung des dritten Lebensjahres eine kindgerechte Einrichtung besucht oder unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse besuchen könnte, kann sich der betreuende Elternteil nicht mehr auf die Notwendigkeit einer persönlichen Betreuung des Kindes und somit nicht mehr auf kindbezogene Verlängerungsgründe i.S. von § 1570 Abs. 1 S. 3 BGB berufen. Das gilt sowohl für den rein zeitlichen Aspekt der Betreuung als auch für den sachlichen
1 BGH v. 17.6.2009 – XII ZR 102/08, FamRZ 2009, 1391 = FamRB 2009, 269. 2 BGH v. 1.6.2011 – XII ZR 45/09, FamRZ 2011, 2430 = FamRB 2011, 269. 3 BGH v. 17.6.2009 – XII ZR 102/08, FamRZ 2009, 1391 = FamRB 2009, 269.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 769a
Kap. 6 C
Umfang der Betreuung. Umfasst die Betreuung von Schulkindern in einem Hort auch die Hausaufgabenbetreuung, bleibt auch insoweit für eine persönliche Betreuung durch einen Elternteil kein unterhaltsrechtlich zu berücksichtigender Bedarf1. Auch der allgemeine Verweis auf das Schulsystem einzelner Bundesländer (G 8) vermag nicht per se konkrete Feststellungen zum Betreuungsbedarf etwa bei der Anfertigung der Hausaufgaben zu ersetzen2. Der Anspruch auf Betreuungsunterhalt aus kindbezogenen Gründen scheidet dann aus, wenn das Kind einen Entwicklungsstand erreicht hat, bei dem es in dem – für den Betreuungsunterhalt regelmäßig bedeutsam werdenden – Zeitraum zwischen Schulschluss und Beendigung der Erwerbstätigkeit des betreuenden Elternteils sich selbst überlassen werden kann und deswegen keiner durchgehenden persönlichen Betreuung durch einen Elternteil mehr bedarf3.
768
Streitig ist oftmals, inwieweit auch Betreuungsmöglichkeiten innerhalb 769 der Familie in Anspruch genommen werden müssen4. Richtigerweise wird man die Verpflichtung zur Inanspruchnahme solcher Möglichkeiten jedenfalls dann bejahen müssen, wenn die Betreuung tatsächlich zuverlässig durch Verwandte sichergestellt werden kann, die hierzu auch uneingeschränkt bereit und in der Lage sind. Allerdings kann die Bereitschaft von zB Großeltern oder Tanten, gelegentlich eine Betreuung zu übernehmen, hierfür nicht ausreichen. Auch kann es unzumutbar sein, wenn der unterhaltspflichtige Elternteil eine Betreuung durch seine Eltern anbietet, obwohl das Verhältnis der „Schwiegereltern“ zum betreuenden Elternteil nach Trennung bzw. Scheidung gestört ist5. Dem betreuenden Elternteil ist auch nicht zuzumuten, eigene Verwandte dazu quasi zu verpflichten. Das OLG München hat die Unterstützung der betreuenden Mutter durch ihre Eltern nicht in die Billigkeitsabwägung des § 1570 BGB einbezogen, da es sich insoweit um eine freiwillige Leistung der Großeltern handle, die nach deren Willen der Mutter als eigenem Kind zugutekommen, aber nicht den Ehegatten als den Unterhaltspflichtigen entlasten solle6. Andererseits sind an die erforderlichen Darlegungen für die Verlängerung des Unterhalts aus kindbezogenen Gründen auch keine überzogenen Anforderungen zu stellen7. Auch besondere Bedürfnisse des Kindes, die etwa
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BGH v. 21.4.2010 – XII ZR 134/08, FamRZ 2010, 1050. BGH v. 21.4.2010 – XII ZR 134/08, FamRZ 2010, 1050. BGH v. 21.4.2010 – XII ZR 134/08, FamRZ 2010, 1050. Bejahend zB Borth, UÄndG, Rn. 63; Kalthoener/Büttner/Niepmann, Rn. 471; aA Gerhardt in FA-FamR, 6. Kap. Rn. 362c. 5 Wendl/Dose/Bömelburg, § 4 Rn. 181. 6 OLG München v. 4.6.2008 – 12 UF 1125/07, FamRZ 2008, 1945 = FamRB 2008, 264. 7 BGH v. 15.6.2011 – XII ZR 94/09, FamRZ 2011, 1357.
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Kap. 6 C Rn. 770
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sportliche, musische oder andere Beschäftigungen betreffen, sind zu beachten. Solche Beschäftigungen dürfen im Regelfall nach der Trennung in der bisherigen Form fortgeführt werden, wenn die hierfür vom unterhaltsberechtigten Elternteil zu erbringende Betreuungsleistung nicht außer Verhältnis zu der dadurch gehinderten Erwerbstätigkeit steht. Ggf. ist jedoch auch eine abweichenden Organisation der Abläufe oder eine Einschränkung der Aktivität vom Kind hinzunehmen1. 770
Problematisch ist auch das Angebot des unterhaltspflichtigen anderen Elternteils, durch eigene Übernahme der Betreuung eine Erwerbstätigkeit des bedürftigen Ehegatten zu ermöglichen. Der BGH hat entschieden, dass dies grundsätzlich in Betracht zu ziehen ist, wenn der Unterhaltspflichtige die Betreuung ernsthaft und verlässlich anbietet2. Allerdings sei wie bei der Gestaltung des Umgangsrechts nach § 1684 BGB maßgeblich auf das Kindeswohl abzustellen, hinter dem rein unterhaltsrechtliche Erwägungen zurücktreten müssten. Ist bereits eine am Kindeswohl orientierte abschließende Umgangsregelung vorhanden, ist diese grundsätzlich vorgreiflich3.
771
Das OLG Celle hat eine Betreuung durch den unterhaltspflichtigen Vater als zumutbare Betreuungsmöglichkeit in einem Fall abgelehnt, in dem der Vater seit der Trennung die Kinder nur in Begleitung der Mutter gesehen hatte. Zum Umfang der Erwerbstätigkeit neben der Kinderbetreuung hat das Oberlandesgericht in der og. Entscheidung zudem ausgeführt, dass ein Elternteil, der zwei Kinder im grundschulpflichtigen Alter allein betreue, mit einer gut halbschichtigen Berufstätigkeit regelmäßig der ihm obliegenden Erwerbsobliegenheit genügen wird4.
772
Allgemeine Grundsätze zum Umfang der Erwerbsobliegenheiten beim Betreuungsunterhalt lassen sich jedoch aufgrund der geforderten Einzelfallbetrachtung nicht aufstellen. Auf eine Übersicht über bislang veröffentlichte Entscheidungen5 soll daher an dieser Stelle verzichtet werden.
773
Können kindbezogene Gründe nicht festgestellt werden, ist das Vorliegen elternbezogener Gründe zu prüfen. Geschütztes Gut ist insoweit das Vertrauen der Ehegatten in die vereinbarte und praktizierte Rollenverteilung unter Berücksichtigung der Dauer der Ehe6. Um das Kriterium der längeren Dauer der Ehe zu erfüllen, muss entweder die längere Betreuung eines Kindes (etwa wegen Krankheit oder Entwicklungsstörungen) oder eine längere Betreuung mehrerer Kinder vorausgegangen sein7.
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BGH v. 18.4.2012 – XII ZR 65/10, FamRZ 2012, 1040 m. Anm. Borth. BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 20/09, FamRZ 2010, 1880 = FamRB 2010, 358. BGH v. 1.6.2011 – XII ZR 45/09, FamRZ 2011, 1209 = FamRB 2011, 269. OLG Celle v. 12.8.2008 – 10 UF 77/08, FamRZ 2009, 975 = FamRB 2009, 2. Wie zB von Wendl/Dose/Bömelburg, § 4 Rn. 194 ff. BGH v. 21.4.2010 – XII ZR 134/08, FamRZ 2010, 1050. Palandt/Brudermüller, § 1570 BGB Rn. 15.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 776
Kap. 6 C
Waren die Eltern sich während des Zusammenlebens darüber einig, dass 774 ein Elternteil seine Berufstätigkeit zugunsten der Kinderbetreuung aufgibt oder einschränkt, so kann dies zu einem Vertrauensschutz in die praktizierte Rollenverteilung führen. Voraussetzung ist allerdings, dass eine Vereinbarung der Eltern über die Ausgestaltung der Kinderbetreuung ermittelt werden kann und es sich nicht nur um einseitige Erziehungsvorstellungen des Unterhalt begehrenden Elternteils handelt1. Zudem kann nach der Rechtsprechung des BGH zu berücksichtigen sein, 775 ob eine Erwerbstätigkeit des betreuenden Elternteils neben der ihm verbleibenden Betreuung und Erziehung der Kinder zu einer überobligationsmäßigen Belastung führt2. Bei der Erwerbsobliegenheit des betreuenden Elternteils sei nämlich stets zu beachten, ob der ihm neben oder nach der Erziehung und Betreuung des Kindes in der staatlichen Einrichtung verbleibende Anteil an der Betreuung und Erziehung des Kindes i.V.m. einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit zu einer überobligationsmäßigen Belastung führen würde3. Daher sei eine Prüfung geboten, ob und in welchem Umfang und bis zu welchem Zeitpunkt die Erwerbspflicht des unterhaltsberechtigten Elternteils noch eingeschränkt ist. Dabei besteht jedoch kein Anspruch darauf, dass der betreuende Elternteil mit Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung nicht über einen Acht-Stunden-Tag hinaus beansprucht werden darf. Vielmehr kommt es im Einzelfall darauf an, ob mit der Summierung von Erwerbstätigkeit und Betreuung eine unzumutbare Belastung entsteht4. Dabei ist der Aspekt einer gerechten Lastenverteilung zwischen unterhaltsberechtigtem und unterhaltspflichtigem Elternteil zu berücksichtigen. Zwar wird dem nach der gesetzlichen Konzeption grundsätzlich bereits dadurch Rechnung getragen, dass der betreuende Elternteil von der Barunterhaltspflicht gegenüber dem Kind freigestellt ist (§ 1606 Abs. 3 S. 2 BGB). Diese Wirkung wird indessen bei der Bedarfsbemessung nach Quoten teilweise dadurch wieder aufgehoben, dass der betreuende Elternteil bei Vorwegabzug des Kindesunterhalts über eine Reduzierung seines Unterhalts im wirtschaftlichen Ergebnis einen Teil des Barunterhalts mit zu tragen hat. Dieser Umstand kann unter dem Gesichtspunkt einer gerechten Lastenverteilung im Einzelfall in die Billigkeitserwägung mit einbezogen werden5. Eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus elternbezogenen Gründen ist nicht gerechtfertigt, wenn der betreuende Elternteil nach der Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes keinen Arbeitsplatz findet. Denn der Anspruch nach § 1570 BGB soll den betreuenden Elternteil
1 Wendl/Dose/Bömelburg, § 4 Rn. 189. 2 BGH v. 6.5.2009 – XII ZR 114/08, FamRZ 2009, 1124 = FamRB 2009, 236. 3 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739 (1749) = FamRB 2008, 293 und FamRB 2008, 294. 4 BGH v. 21.4.2010 – XII ZR 134/08, FamRZ 2010, 1050. 5 BGH v. 18.4.2012 – XII ZR 65/10, FamRZ 2012, 1040 m. Anm. Borth.
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Kap. 6 C Rn. 777
Ehegattenunterhalt
nicht vor dem Risiko der Arbeitslosigkeit schützen. Etwas anderes kann jedoch gelten, wenn die Rückkehr des betreuenden Elternteils in seine zuvor ausgeübte Tätigkeit ausscheidet, weil die geforderten Arbeitszeiten nicht mit den Möglichkeiten der Kinderbetreuung korrelieren, zB Schichtarbeitszeiten mit Tag- und Nachtschichten oder berufsbedingte mehrtägige Abwesenheit etwa einer Stewardess1. 777
Im Rahmen der Billigkeitsabwägung können aber auch die finanziellen Verhältnisse der Familie eine Rolle spielen. So wird bei begrenzten Möglichkeiten eher wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen oder ausgeweitet werden müssen, während bei großzügigen Verhältnissen dem Schutz des Vertrauens des betreuenden Elternteils in die Fortführung der bisherigen Gestaltung der Kinderbetreuung eine größere Bedeutung beigemessen werden kann2. (e) Beweislast und Befristung
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Die Beweislast für das Bestehen und den Umfang des Unterhaltsanspruchs wegen Betreuung trägt nach den allgemeinen Regeln der Unterhaltsberechtigte als Anspruchsteller. Daher muss er, wenn Betreuungsunterhalt für ein mindestens drei Jahre altes Kind verlangt wird, substantiiert vortragen und beweisen, dass er trotz entsprechender Bemühungen keine Betreuungsmöglichkeit für das Kind finden kann oder weshalb nur eine teilweise Erwerbsobliegenheit besteht. Dies gilt sowohl für die Verlängerung des Unterhaltsanspruchs aus kindbezogenen als auch aus elternbezogenen Gründen.
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Dennoch ist ein Anspruch auf Betreuungsunterhalt nur dann schon im Ausgangsverfahren zu befristen, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung für die Zeit nach Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes absehbar keine kind- und elternbezogenen Gründe für eine Verlängerung des Unterhaltsanspruchs vorliegen3. Der Unterhaltspflichtige muss also Abänderungsantrag auf Kürzung oder Wegfall des Unterhalts stellen, wenn er zu einem späteren Zeitpunkt davon ausgeht, dass der Unterhaltsanspruch nicht mehr oder nicht mehr in voller Höhe besteht. Dabei soll er zwar die Behauptungslast, allerdings dennoch der Unterhaltsberechtigte die Beweislast für seinen weiteren Anspruch tragen4.
780
Der Gegenansicht, wonach bei Entscheidungen zum Betreuungsunterhalt vor dem dritten Geburtstag des Kindes eine Befristung bis zum dritten Geburtstag des Kindes vorzunehmen sein sollte, kann nicht gefolgt wer-
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OLG Hamm v. 26.8.2009 – 5 UF 25/09, FamRZ 2009, 2093. Ehinger in Ehinger/Griesche/Rasch, Rn. 440a. BGH v. 18.3.2009 – XII ZR 74/08, FamRZ 2009, 770 = FamRB 2009, 170. BGH v. 31.1.1990 – XII ZR 36/89, FamRZ 1990, 496; Zöller/Vollkommer, § 323 ZPO Rn. 30.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 784
Kap. 6 C
den. Der BGH führt insoweit aus, dass dies nicht schon nach der Systematik des § 1570 BGB geboten sei, da der Betreuungsunterhalt während der ersten drei Jahre und ein daran anschließender weiterer Betreuungsunterhalt einen einheitlichen Unterhaltsanspruch bilden1. Eine Befristung des Betreuungsunterhalts nach § 1578b BGB kommt 781 darüber hinaus nicht in Betracht. Insoweit ist dem Betreuungsunterhalt immanent, dass er bereits eine Sonderregelung zur Billigkeitsabwägung enthält. Da im Rahmen dieser Billigkeitsabwägung bereits alle kind- und elternbezogenen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind, ist für weitere Billigkeitsüberlegungen nach § 1578b BGB kein Raum2. (f) Überobligatorisch erzieltes Einkommen und Betreuungsbonus Da mit der Neufassung des § 1570 BGB eine Erwerbstätigkeit immer dann 782 auch verlangt wird, wenn sie möglich und zumutbar ist, wird die Annahme von überobligatorisch erzielten Einkünften in der Praxis künftig wesentlich seltener vorkommen als bisher. Als überobligatorisch werden Einkünfte sowohl beim Berechtigten als 783 auch beim Verpflichteten angesehen, wenn die Tätigkeit, aus der sie erzielt werden, jederzeit eingestellt werden darf, ohne dass damit eine unterhaltsrechtliche Obliegenheit verletzt wird. Damit ist beim Betreuungsunterhalt auf jeden Fall eine Erwerbstätigkeit vor Vollendung des dritten Lebensjahres des jüngsten Kindes als überobligatorisch einzuordnen. Infolgedessen sollen die Einkünfte zwar nicht gänzlich, aber nach den Umständen des Einzelfalles doch zumindest anteilig bei der Unterhaltsberechnung unberücksichtigt bleiben3. Außerdem dürfte bei überobligatorisch erzielten Einkünften neben einer 784 nur teilweisen Anrechnung der Einkünfte nach § 1577 Abs. 2 BGB wohl auch weiterhin der Abzug eines Betreuungsbonus in Betracht kommen. Ein solcher Bonus scheidet dagegen aus, wenn neben der Betreuung älterer Kinder eine Erwerbstätigkeit gem. der bestehenden Obliegenheit ausgeübt wird. Die insoweit bestehende Doppelbelastung ist vom Gesetzgeber durchaus gesehen und im Interesse der Stärkung der Selbstverantwortung in Kauf genommen worden. Im Übrigen steht dem ja auch gegenüber, dass der andere Elternteil für den Barunterhalt des Kindes allein aufkommen muss4.
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BGH v. 18.3.2009 – XII ZR 74/08, FamRZ 2009, 770 = FamRB 2009, 170. BGH v. 18.3.2009 – XII ZR 74/08, FamRZ 2009, 770 = FamRB 2009, 170. BGH v. 18.3.2009 – XII ZR 74/08, FamRZ 2009, 770 = FamRB 2009, 170. BGH v. 21.4.2010 – XII ZR 134/08, FamRZ 2010, 1050.
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Kap. 6 C Rn. 785
Ehegattenunterhalt
(2) Unterhalt wegen Alters, § 1571 BGB 785
Ein geschiedener Ehegatte kann Unterhalt auch verlangen, soweit von ihm zum Zeitpunkt – der Scheidung, – der Beendigung der Pflege oder Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes oder – des Wegfalls der Voraussetzungen für einen Unterhaltsanspruch nach den §§ 1572 und 1573 BGB wegen seines Alters eine Erwerbstätigkeit nicht mehr erwartet werden kann.
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Es bestehen drei Voraussetzungen für den Unterhaltsanspruch, nämlich – das Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze, – dass der Unterhaltsberechtigte wegen seines Alters keine angemessene Erwerbstätigkeit mehr finden kann und – das Vorliegen eines der im Gesetz genannten Einsatzzeitpunkte. (a) Altersgrenzen
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Grundsätzlich besteht eine Erwerbsobliegenheit bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung. Diese liegt gemäß § 235 SGB VI aktuell bei 65 Jahren und gilt einheitlich für Männer und Frauen sowie für gesetzlich Versicherte ebenso wie für Beamte. Für Versicherte, die nach dem 31.12.1946 geboren sind, steigt die Grenze für jedes Jahr um einen Monat an, ab dem Geburtsjahrgang 1959 um zwei Monate. Auch in den Fällen, in denen aus sozialpolitischen Gründen der vorzeitige Bezug von Altersrente vorgesehen ist (zB gem. § 237 SGB VI wegen Arbeitslosigkeit), sind diese Altersgrenzen nicht verbindlich für die Anwendung von § 1571 BGB. Allerdings lassen sich hieraus uU Rückschlüsse daraus ziehen, ob der Unterhaltsberechtigte in der Berufssparte, in der er seine angemessene Tätigkeit ausgeübt hat, typischerweise in seinem Alter eine angemessene Arbeit nicht mehr finden kann1.
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Die Altersgrenze gilt unabhängig vom sozialversicherungsrechtlichen Status auch für Selbständige und Freiberufler2. Eine über das gesetzliche Rentenalter hinaus ausgeübte Tätigkeit ist regelmäßig überobligatorisch3.
1 Ehinger in Ehinger/Griesche/Rasch, Rn. 445. 2 OLG Hamm v. 28.6.1996 – 5 UF 20/96, FamRZ 1997, 883. 3 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 793
Kap. 6 C
(b) Fehlende Erwerbserwartung Auch bei § 1571 BGB kann vom Unterhaltsberechtigten nur die fehlende 789 Aussicht auf Aufnahme einer angemessenen Tätigkeit erwartet werden. Angemessen ist eine Tätigkeit, die der Ausbildung, den Fähigkeiten, einer früheren Erwerbstätigkeit, dem Lebensalter und dem Gesundheitszustand des geschiedenen Ehegatten entspricht, soweit eine solche Tätigkeit nicht nach den ehelichen Lebensverhältnissen unbillig wäre. Bei den ehelichen Lebensverhältnissen sind insbesondere die Dauer der Ehe sowie die Dauer der Pflege oder Erziehung gemeinschaftlicher Kinder zu berücksichtigten (§ 1574 Abs. 2 BGB, s. hierzu näher Rn. 744 ff.). Kann der Ehegatte eine angemessene Erwerbstätigkeit nur noch nach ent- 790 sprechender Fortbildung finden, ist zu prüfen, ob eine solche aufgrund seines Alters noch sinnvoll ist. Ein Anspruch nach § 1571 BGB besteht auch, soweit aufgrund des Alters 791 lediglich noch eine Teilzeittätigkeit ausgeübt wird. Dies setzt allerdings voraus, dass ein anerkennenswerter Grund für die Reduzierung der Arbeitszeit vorliegt. Bei der Inanspruchnahme von Altersteilzeitmodellen ist zu prüfen, ob der Unterhaltsberechtigte dadurch seine Erwerbsobliegenheit verletzt. Dies wird idR der Fall sein, wenn die Entscheidung erst nach der Trennung bzw. der Scheidung getroffen wird und keine gesundheitlichen Einschränkungen i.S. einer geminderten Erwerbsfähigkeit den Ausschlag gegeben haben1. Allein das Erreichen des 63. Lebensjahres reicht dagegen als Grund für die Inanspruchnahme der Altersteilzeit nicht aus. Der Anspruch ist dann der Höhe nach begrenzt auf das, was der Unterhaltsberechtigte bei einer fiktiven Vollerwerbstätigkeit erzielen könnte2. Ggf. kann jedoch noch ein Aufstockungsunterhaltsanspruch ergänzend hinzukommen. Nicht erforderlich ist, dass das Alter ehebedingt ist. Ein Anspruch auf Al- 792 tersunterhalt kommt vielmehr auch in Betracht, wenn der Unterhaltsberechtigte bereits bei Eheschließung aufgrund seines Alters keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen konnte3. (c) Einsatzzeitpunkte Es muss schließlich einer der im Gesetz genannten Einsatzzeitpunkte gegeben sein. Liegt der Anspruch nicht bereits zum Zeitpunkt der Scheidung vor, kann er sich auch an einen Anspruch auf Betreuungsunterhalt, einen Anspruch auf Unterhalt wegen Arbeitslosigkeit oder an Aufstockungsunterhalt anschließen. Allerdings besteht kein Anspruch darauf,
1 OLG Köln v. 18.6.2002 – 4 UF 20/01, FamRZ 2003, 602. 2 Ehinger in Ehinger/Griesche/Rasch, Rn. 446. 3 BGH v. 8.12.1982 – IVb ZR 331/81, FamRZ 1983, 150.
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Kap. 6 C Rn. 794
Ehegattenunterhalt
eine Befristung eines Aufstockungsunterhalts allein deshalb abzulehnen, weil damit der Einsatzzeitpunkt für einen späteren Anspruch auf Altersunterhalt entfällt1. 794
Zeitpunkt der Scheidung ist dabei der Termin der Rechtskraft der Scheidung. Im Verbundurteil kann allerdings auf den Termin der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen sein, wenn die bis zur Rechtskraft eingetretene Entwicklung nicht vorauszusehen war.
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Schließt der Altersunterhalt an einen Betreuungsunterhalt an, so ist nicht auf die tatsächliche Beendigung der Betreuung, sondern an das rechtliche Bestehen eines Anspruchs wegen § 1570 BGB anzuknüpfen. Das Gleiche gilt, wenn Altersunterhalt als Anschlusstatbestand nach Unterhalt wegen Arbeitslosigkeit oder nach Aufstockungsunterhalt verlangt wird.
Û
Praxistipp: Wird Altersunterhalt als Anschlussunterhalt geltend gemacht, setzt dies voraus, dass die Unterhaltstatbestände nahtlos aneinander anschließen. Häufig geht eine Bedürfnislage wegen Krankheit oder Arbeitslosigkeit voraus. Es genügt, wenn das Alter zum Einsatzzeitpunkt vorliegt, die Bedürftigkeit aber erst später eintritt2.
796
Der Unterhaltsanspruch wegen Alters kann grundsätzlich nach § 1578b BGB begrenzt werden3. Allerdings soll eine Herabsetzung oder zeitliche Befristung entfallen, wenn Pflichtiger und Berechtigter schon Rentner sind, da dann nicht mehr erwartet werden kann, dass der Berechtigte in der Lage sein wird, sein Einkommen zu erhöhen4.
797
Bezieht der Unterhaltsberechtigte bereits Altersrente, richtet sich sein Unterhaltsanspruch ausschließlich nach § 1571 BGB, nicht nach § 1573 BGB5. (3) Unterhalt wegen Krankheit oder Gebrechen, § 1572 BGB
798
Ein geschiedener Ehegatte kann Unterhalt verlangen, solange und soweit von ihm vom Zeitpunkt – der Scheidung, – der Beendigung der Pflege oder Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes,
1 2 3 4 5
BGH v. 25.6.2008 – XII ZR 109/07, FamRZ 2008, 1508 = FamRB 2008, 295. OLG München v. 28.9.1992 – 12 WF 991/92, FamRZ 1993, 564. OLG Celle v. 20.3.2008 – 17 UF 199/07, FamRZ 2009, 121. OLG Naumburg v. 15.1.2008 – 8 UF 141/07, FamRZ 2008, 2120. OLG Naumburg v. 15.1.2008 – 8 UF 141/07, FamRZ 2008, 2120.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 803
Kap. 6 C
– der Beendigung der Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung oder – des Wegfalls der Voraussetzungen für einen Unterhaltsanspruch nach § 1573 BGB an wegen Krankheit oder anderer Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann. (a) Krankheit Der Begriff der Krankheit ist in § 1572 BGB nicht näher umschrieben und 799 wird daher an den sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff angelehnt. Eine Krankheit ist danach ein objektiv fassbarer, regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand (vgl. § 240 Abs. 2 SGB VI). Als Krankheit gelten auch selbstverschuldete Erkrankungen wie Alkohol- oder Drogensucht, Medikamentenabhängigkeit1 oder Übergewicht2. An Bedeutung gewinnen zudem wie im Sozialrecht psychische Erkrankungen3. (b) Erwerbsunfähigkeit Die Krankheit muss zur Arbeitsunfähigkeit führen. Um die Voraussetzungen des Krankenunterhalts darzutun, muss der Berechtigte im Einzelnen die Krankheiten, an denen er leidet, angeben und vortragen, inwiefern sich diese auf seine Erwerbsfähigkeit auswirken4.
800
Insoweit trägt der Unterhaltsberechtigte die Beweislast dafür, dass die Erkrankung so übermächtig ist, dass er sie auch nach Aberkennung des Unterhaltsanspruchs nicht überwinden kann. Dies gilt vor allem auch für Renten- oder Unterhaltsneurosen. Die Flucht in die neurotische Erkrankung darf nicht rechtlich „honoriert“ werden5.
801
Bezieht der Unterhaltsberechtigte eine Erwerbsminderungsrente aus der 802 gesetzlichen Rentenversicherung, ist dies ein Indiz für eine auch unterhaltsrechtlich relevante Erwerbsminderung6. Allerdings ist in diesen Fällen stets zu prüfen, inwieweit nicht zumindest noch in geringem Umfang einer Erwerbstätigkeit nachgegangen werden kann. Der Unterhaltsberechtigte muss alles Notwendige unternehmen, um ei- 803 ne Besserung seines Gesundheitszustandes herbeizuführen. Dazu gehört
1 2 3 4 5
OLG Düsseldorf v. 14.7.1987 – 5 UF 31/87, FamRZ 1987, 1262. OLG Köln v. 16.7.1991 – 4 UF 145/89, FamRZ 1992, 65. OLG Bamberg v. 4.2.1999 – 7 UF 265/98, FamRZ 2000, 231. BGH v. 25.10.2006 – XII ZR 190/03, FamRZ 2007, 200 = FamRB 2007, 33. Wendl/Dose/Bömelburg, § 4 Rn. 241; BGH v. 21.3.1984 – IVb ZR 68/82, FamRZ 1984, 660. 6 Palandt/Brudermüller, § 1573 BGB Rn. 5.
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Kap. 6 C Rn. 804
Ehegattenunterhalt
im Falle einer Suchtkrankheit zB die Durchführung eine Entziehungskur1. Kommt er dieser Obliegenheit nicht nach, kann dies zum Ausschluss oder zur Herabsetzung seines Anspruchs wegen mutwilliger Herbeiführung der Bedürftigkeit nach § 1579 BGB führen (s. hierzu näher Rn. 1347). 804
Kann eine Besserung nicht erreicht werden, muss zur Minderung der Bedürftigkeit ggf. ein Rentenantrag gestellt werden2.
805
Der Anspruch kann sich auch aus einer teilweisen Erwerbsminderung ergeben. Er umfasst dann nur die Differenz zwischen dem aus der noch möglichen Teilzeittätigkeit und dem bei voller Erwerbstätigkeit erzielten Einkommen. Daneben kann freilich noch ein ergänzender Aufstockungsunterhaltsanspruch nach § 1573 BGB bestehen. Nach der alten Rechtslage war die Unterscheidung von besonderer Bedeutung, da nur der Aufstockungsunterhalt zeitlich begrenzt werden konnte. Da inzwischen auch der Krankheitsunterhalt nach § 1578b BGB befristet werden kann, hat die Unterscheidung an Wichtigkeit verloren.
806
Dennoch hat der BGH in seiner Entscheidung v. 26.11.20083 darauf hingewiesen, dass nur bei einer teilweisen Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Differenzierung der Bestandteile des Unterhaltsanspruchs in Kranken- und Aufstockungsunterhalt in Betracht kommt. Besteht eine vollständige Erwerbsminderung, richtet sich der Anspruch ausschließlich nach § 1573 BGB und umfasst den vollen ehelichen Bedarf. Für eine Berechnung des Unterhalts auf Grundlage des durch die Krankheit bedingten Einkommensausfalls, also anhand des vor oder ohne die Krankheit erzielten bzw. erzielbaren Einkommens, sei dann kein Raum.
807
Nicht erforderlich ist nach herrschender Rechtsprechung, dass die Krankheit ehebedingt ist. Sie muss also nicht während der Ehe entstanden oder schlimmer geworden sein4. Auch wenn die Krankheit schon vor der Ehe bestand, kann ein Anspruch nach § 1573 BGB bestehen. (c) Einsatzzeitpunkte
808
Der Unterhaltsanspruch setzt weiter voraus, dass die Erwerbsunfähigkeit zu einem der in § 1572 BGB genannten Einsatzzeitpunkte besteht.
809
Unter § 1572 Nr. 1 BGB kann auch noch der Fall gefasst werden, dass der Ehegatte zum Zeitpunkt der Scheidung bereits eine Krankheit hatte, die sich jedoch erst nach der Scheidung so verschlimmert, dass daraus eine Minderung der Erwerbsfähigkeit resultiert. Dabei liegt eine großzügige
1 2 3 4
BGH v. 14.1.1987 – IVb ZR 89/85, FamRZ 1987, 359 (361). Palandt/Brudermüller, § 1573 BGB Rn. 7. BGH v. 26.11.2008 – XII ZR 131/07, FamRZ 2009, 406 = FamRB 2009, 68. BGH v. 9.2.1994 – XII ZR 183/92, FamRZ 1994, 566 mwN.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 815
Kap. 6 C
Handhabung umso näher, je kürzer der Zeitraum zwischen Scheidung und Eintritt der Erwerbsminderung ist bzw. je weiter die Krankheit zum Zeitpunkt der Scheidung bereits vorangeschritten war. Unter Nr. 2 sind die Fälle zu fassen, in denen sich die Erwerbsunfähigkeit 810 wegen Erkrankung an Zeiträume des Unterhaltsbezugs nach § 1570 BGB anschließt. Wie auch beim Altersunterhalt kommt es nicht auf die Volljährigkeit des Kindes oder die tatsächlich erfolgte Betreuung des Kindes an, sondern auf das rechtliche Bestehen eines Unterhaltsanspruchs. Im Fall von Nr. 3 ist Voraussetzung, dass die Krankheit mit Beendigung der Umschulung bzw. Ausbildung vorliegt.
811
Die Voraussetzungen von Nr. 4 sind gegeben, wenn die Krankheit eintritt, bevor der Unterhaltsberechtigte seinen Unterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit i.S.v. § 1573 Abs. 4 BGB nachhaltig sichern konnte.
812
Beim Vorliegen von Anschlusstatbeständen ist für die schlüssige Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs entscheidend, dass die Unterhaltskette lückenlos dargestellt werden kann. Die Unterhaltstatbestände müssen sich daher in enger zeitlicher Abfolge aneinander reihen. Nicht ausreichend ist beispielsweise ein zeitlicher Abstand von knapp zwei Jahren zwischen Beendigung des vorangegangenen Unterhaltstatbestandes und dem Eintritt der Erkrankung1.
813
Kommt der Unterhaltspflichtige jedoch auch im Übergangszeitraum frei- 814 willig der Unterhaltszahlung nach, ohne zB Erwerbsbemühungen vom anderen zu verlangen, kann sich daraus eine Verschiebung der Zeitpunkte ergeben. Dem Unterhaltspflichtigen kann es dann nach § 242 BGB verwehrt sein, sich auf das Fehlen des Anschlusstatbestandes zu berufen2. Ob diese Rechtsprechung in Hinblick auf die Stärkung der Selbstverantwortung der Ehegatten auch nach der Unterhaltsreform so fortgelten kann, wird angezweifelt3. (4) Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit, § 1573 Abs. 1 und Abs. 4 BGB In § 1573 Abs. 1 BGB sind die Ansprüche des Ehegatten geregelt, der nach der Scheidung keine angemessene Arbeit finden kann, um seinen eheangemessenen Unterhaltsbedarf damit voll abzudecken. Der Anspruch wird in § 1573 Abs. 4 BGB auf den Ehegatten ausgeweitet, der eine nicht nachhaltig gesicherte Erwerbstätigkeit nach der Scheidung wieder verliert.
1 BGH v. 27.6.2001 – XII ZR 135/99, FamRZ 2001, 1291. 2 BGH v. 18.10.1989 – IVb ZR 89/88, FamRZ 1990, 260. 3 Palandt/Brudermüller, § 1573 BGB Rn. 10.
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815
Kap. 6 C Rn. 816
Ehegattenunterhalt
(a) Angemessene Erwerbstätigkeit 816
Beide Unterhaltstatbestände stellen darauf ab, dass der geschiedene Ehegatte grundsätzlich nach § 1574 Abs. 1 BGB verpflichtet ist, eine angemessene Erwerbstätigkeit auszuüben. S. hierzu Rn. 744 ff. (b) Subsidiarität
817
Die Unterhaltsansprüche nach § 1573 BGB sind subsidiär gegenüber den Ansprüchen nach §§ 1570 bis 1572 BGB. Liegt daher bereits ein Unterhaltsanspruch wegen Betreuung, Alters oder Krankheit vor, richtet sich dieser zunächst nach den dortigen Anspruchsvoraussetzungen. Lediglich soweit trotz Einschlägigkeit einer der vorgenannten Anspruchsgrundlagen daraus nur ein Teilanspruch gegeben ist, kann für den darüber hinausgehenden Anspruch noch ein Erwerbslosen- oder ein Aufstockungsunterhaltsanspruch geltend gemacht werden. Beispiel: Die Ehefrau hat einen Unterhaltsanspruch nach § 1570 BGB, da sie das zehnjährige gemeinsame Kind der Parteien betreut. Aufgrund des Alters des Kindes trifft sie jedoch die Obliegenheit, jedenfalls einer Teilzeittätigkeit nachzugehen. Kann sie trotz entsprechender Bemühungen eine solche Teilzeitanstellung nicht finden, kommt insoweit ein Anspruch nach § 1573 Abs. 1 BGB neben dem (Teil-)Anspruch nach § 1570 BGB zum Tragen.
(c) Erwerbsbemühungen 818
Der Unterhaltsanspruch nach § 1573 Abs. 1 BGB setzt voraus, dass der Unterhaltsberechtigte zum Zeitpunkt der Scheidung nicht oder nur teilweise erwerbstätig ist. Nicht erheblich ist dagegen, ob er vor oder während der Ehe gearbeitet hat. Um seinen Anspruch zu begründen muss der Anspruchsteller nachweisen, dass er sich in ausreichendem Maße um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bemüht hat („soweit er keine angemessene Erwerbstätigkeit zu finden vermag“).
819
Die Anforderungen sind die gleichen, die auch an den Unterhaltspflichtigen gestellt werden. Er muss sich ernsthaft und nachhaltig um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bemühen. Dafür ist die Meldung bei der Arbeitsagentur allein nicht ausreichend. Vielmehr muss der Bedürftige auch nachweisen, in welchem Umfang er sich auch selbst durch das Studium von Inseraten in Zeitungen oder im Internet über Stellenangebote informiert hat, da erfahrungsgemäß nicht alle offenen Stellen über die Bundesagentur für Arbeit vermittelt werden1. Auch die Aufgabe von eigenen Stellengesuchen kann erforderlich sein2.
820
Die Bewerbungen müssen in entsprechender Form erfolgen, idR schriftlich oder persönlich. Eine telefonische Bewerbung soll nur bei sog. Mini1 BGH v. 2.7.1986 – IVb ZR 37/85, FamRZ 1986, 1085. 2 BGH v. 15.12.1993 – XII ZR 172/92, FamRZ 1994, 372.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 825
Kap. 6 C
jobs auf 400 Euro-Basis ausreichen1. Der Umfang der Bewerbungsbemühungen sollte nach früherer Rechtsprechung dem einer Vollzeittätigkeit entsprechen. Jedenfalls sind 20 bis 30 Bewerbungen pro Monat zu fordern2. Jedoch ist nicht allein auf die Anzahl der Bewerbungen abzustellen. Vielmehr muss aus den Bewerbungsschreiben auch erkennbar sein, dass der Anspruchsteller sich ernsthaft auf die ausgeschriebene Stelle bewirbt. Die Bewerbungsschreiben dürfen nicht so abgefasst sein, dass sie den Eindruck von mangelnder Eignung oder von Arbeitsunlust erwecken. Auch eine Bewerbung auf eine Stelle, die offensichtlich nicht der Qualifikation des Bewerbers entspricht, kann regelmäßig nicht als ernsthafte Bewerbung angesehen werden. Massive Bewerbungen erst kurz vor dem Verhandlungstermin bzw. während des Prozesses können ebenfalls ein Zeichen mangelnder Ernsthaftigkeit sein. Bei Fehlen anerkennenswerter Ortsbindungen kann uU auch ein Wohnortwechsel zumutbar sein.
821
Kommt der Unterhaltbegehrende seiner Erwerbsobliegenheit nicht in 822 ausreichendem Maß nach, ist aber anzunehmen, dass er bei gehörigen Bemühungen eine Arbeit finden könnte, ist ihm fiktives Einkommen anzurechnen. Die Höhe des anrechenbaren Einkommens richtet sich dabei nach den individuellen Erwerbschancen. Außerdem müssen vom fiktiven Einkommen auch die gesetzlichen Abzüge sowie ggf. geschätzte berufsbedingte Aufwendungen abgezogen werden. Die Anrechnung fiktiver Einkünfte kann ausgeschlossen sein, wenn es 823 aufgrund des Alters des Anspruchstellers sowie seiner Ausbildung oder seines lange zurückliegenden Ausscheidens aus dem Arbeitsleben keine reale Beschäftigungschance am Arbeitsmarkt mehr gibt. Dies wird nur im Einzelfall festzustellen sein. Zweifel hieran gehen jedoch zulasten des Anspruchstellers. Wurde dem Anspruchsteller wegen Verletzung der Erwerbsobliegenheit ein fiktives Einkommen angerechnet und kann er anschließend aufgrund nachträglicher Bemühungen um eine Erwerbstätigkeit nachweisen, dass er trotz entsprechender Bemühungen keine Arbeit findet, so kann er darauf eine Abänderungsklage stützen.
824
(d) Keine nachhaltige Sicherung der Erwerbstätigkeit Ein Anspruch wegen Erwerbslosigkeit kann nach § 1573 Abs. 4 BGB auch dann bestehen, wenn die Einkünfte des geschiedenen Ehegatten aus einer angemessenen Tätigkeit nach der Scheidung wegfallen, weil es ihm trotz seiner Bemühungen nicht gelungen war, den Unterhalt nachhaltig zu sichern. Die Vorschrift dient der Klarstellung, dass der geforderte Einsatzzeitpunkt bei nicht nachhaltiger Sicherung gewahrt bleibt. 1 OLG Hamm v. 10.10.2007 – 10 UF 235/06, FamRZ 2008, 1271. 2 OLG Jena v. 15.12.1998 – WF 87/98, FamRZ 1999, 1523 (1524).
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825
Kap. 6 C Rn. 826
Ehegattenunterhalt
826
Eine nachhaltige Sicherung des Unterhalts liegt vor, wenn aus objektiver Sicht im Zeitpunkt der Rechtskraft der Scheidung ein Dauerarbeitsplatz bestand. Für die Beurteilung der Nachhaltigkeit ist maßgebend, ob die Erwerbstätigkeit des geschiedenen Ehegatten im Zeitpunkt ihrer Aufnahme nach objektiven Maßstäben und nach allgemeiner Lebenserfahrung mit einer gewissen Sicherheit als dauerhaft angesehen werden kann oder ob befürchtet werden muss, dass der Bedürftige sie durch Umstände, die außerhalb seiner Entscheidungsfreiheit liegen, in absehbarer Zeit wieder verliert1. Dabei sind auch Umstände mit in die Beurteilung einzubeziehen, die zwar schon zu diesem Zeitpunkt bestanden haben, die aber erst später zutage getreten sind, zB eine latente Krankheit, wegen der die Tätigkeit zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegeben werden muss2.
827
Nicht ausreichend ist danach also ein Arbeitsverhältnis auf Probe3 oder ein befristetes Arbeitsverhältnis4. Jedoch steht der Annahme eines gesicherten Verhältnisses nicht entgegen, dass ein festes Arbeitsverhältnis kurz nach der Scheidung gekündigt wird5 oder der Arbeitgeber unerwartet insolvent wird6. Weiterhin stehen auch die betriebsbedingte Kündigung nach Rechtskraft der Scheidung, die zum Zeitpunkt der Scheidung noch nicht absehbar war7, sowie ein späterer krankheitsbedingter Verlust des Arbeitsplatzes8 der Annahme eines zunächst nachhaltig gesicherten Arbeitsverhältnisses nicht entgegen. Nach einer gewissen Zeitspanne muss zum Schutz des anderen Ehegatten zudem auf jeden Fall davon auszugehen sein, dass eine nachhaltige Sicherung des Unterhalts eingetreten ist. Diese soll nach OLG Karlsruhe jedenfalls nach etwa zwei Jahren anzunehmen sein9.
828
In subjektiver Hinsicht setzt der Anspruch voraus, dass der Berechtigte sich ernsthaft um die nachhaltige Sicherung seines Unterhalts bemüht hatte. Daher kann er sich nicht auf die fehlgeschlagene nachhaltige Sicherung berufen, wenn er das Arbeitsverhältnis selbst beendet oder die Kündigung selbst verschuldet hat. (5) Aufstockungsunterhalt, § 1573 Abs. 2 BGB
829
Der Anspruch auf Aufstockungsunterhalt steht demjenigen zu, der seinen Unterhaltsbedarf nicht durch eigene Einkünfte abdecken kann, obwohl er seiner Verpflichtung zur Ausübung einer angemessenen Erwerbstätigkeit in vollem Umfang nachkommt. 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Palandt/Brudermüller, § 1573 BGB Rn. 27. BGH v. 17.9.2003 – XII ZR 184/01, FamRZ 2003, 1734 = FamRB 2004, 110. BGH v. 9.10.1985 – IVb ZR 56/84, FamRZ 1985, 1234. AG Schorndorf v. 17.2.1994 – 5 F 319/93, FamRZ 1994, 1590. OLG Bamberg v. 25.6.1996 – 2 UF 32/96 FamRZ 1997, 819. OLG Hamm v. 11.10.1996 – 12 UF 392/95, FamRZ 1997, 821. OLG Köln v. 8.8.1997 – 4 WF 202/97, FamRZ 1998, 1434. OLG Düsseldorf v. 17.11.1997 – 3 WF 204/97, FamRZ 1998, 1519. OLG Karlsruhe v. 19.3.1999 – 20 UF 54/98, FamRZ 2000, 233.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 834
Kap. 6 C
(a) Lebensstandardgarantie Zweck des Aufstockungsunterhalts ist es, dem geschiedenen Ehegatten, der aufgrund seiner Ausbildung oder seiner Erwerbsbiografie trotz angemessener eigener Berufstätigkeit ein geringeres Einkommen hat als der andere, durch den Unterhaltsanspruch den ehelichen Lebensstandard zu erhalten. Damit besteht auch nach der Unterhaltsrechtsreform durch das UÄndG 2007 die bisherige Lebensstandardgarantie dem Grunde nach fort. Allerdings hat die Möglichkeit der Befristung dieses Anspruchs durch die Reform einen wesentlich größeren Stellenwert eingenommen. S. hierzu näher Rn. 1199 ff.
830
In der Praxis kommt dem Aufstockungsunterhalt wohl die größte Bedeu- 831 tung zu, da er, anders als die Unterhaltsansprüche wegen Betreuung, Arbeitslosigkeit oder Ausbildung, nicht von vornherein nur für einen bestimmten Lebensabschnitt geschuldet ist. (b) Anspruchsvoraussetzungen Die Anspruchsvoraussetzungen sind im Einzelnen:
832
– Der Anspruchsteller muss eine angemessene Erwerbstätigkeit ausüben, – die aber nicht zur Deckung seines vollen Unterhaltsanspruchs ausreicht, – und einer der Einsatzzeitpunkte nach 1573 Abs. 1 BGB ist eingehalten. Im Gesetz ist nicht ausdrücklich auf die Notwendigkeit des Einsatzzeit- 833 punkts hingewiesen. Dennoch besteht in der Rechtsprechung Einigkeit darüber, dass die gleichen Zeitpunkte wie in § 1573 Abs. 1 BGB gelten, also der Aufstockungsunterhaltsanspruch bei der Scheidung bestehen muss. Außerdem legt § 1573 Abs. 3 BGB fest, dass der Anspruch auf Aufstockungsunterhalt sich auch an Ansprüche wegen Kinderbetreuung, Alter oder Krankheit anschließen kann, wenn deren Voraussetzungen erst nach der Scheidung wegfallen. Aufstockungsunterhalt kann daher auch erst nach der Scheidung erstmals 834 geltend gemacht werden. Allerdings ist dann zur Begründung des Anspruchs erforderlich, dass die durchgehende Unterhaltskette seit Rechtskraft der Scheidung schlüssig dargelegt wird. Dabei steht der Geltendmachung des Anspruchs nicht grundsätzlich entgegen, dass über einen längeren Zeitraum bereits ein Aufstockungsunterhalt geschuldet gewesen wäre, der vom Berechtigten allerdings nicht geltend gemacht wurde. Aber wenn der Berechtigte einen längeren Zeitraum ohne die Unterhaltszahlungen ausgekommen ist, dürfte dies Rückschlüsse auf seine subjektive Angewiesenheit auf die Unterhaltszahlung und damit auf die ihm zuzubilligende Dauer des Unterhaltsanspruchs zulassen.
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Kap. 6 C Rn. 835 835
Ehegattenunterhalt
Umstritten ist, ob ein Anspruch auf Aufstockungsunterhalt ausscheidet, wenn die Höhe des Unterhalts nur geringfügig ist1. (c) Subsidiarität
836
Der Anspruch auf Aufstockungsunterhalt ist gegenüber den Unterhaltsansprüchen nach §§ 1570 bis 1572 BGB subsidiär. Reicht allerdings ein Anspruch auf Betreuungs-, Alters- oder Krankenunterhalt zusammen mit einem Teilerwerbseinkommen nicht aus, um den vollen Bedarf i.S.v. § 1578 BGB zu decken, kann daneben ein Anspruch auf Aufstockungsunterhalt bestehen. (6) Unterhalt wegen Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung, § 1575 BGB (a) Ausbildungsunterhalt
837
Ein geschiedener Ehegatte kann Ausbildungsunterhalt verlangen, wenn er in Erwartung der Ehe oder während der Ehe eine Schul- oder Berufsausbildung nicht aufgenommen oder abgebrochen hat. Der Anspruch ist kein genereller Anspruch auf Finanzierung einer Ausbildung, sondern dient nur dem Ausgleich ehebedingter Ausbildungsnachteile. Daher besteht kein Anspruch, wenn die Ausbildung tatsächlich nicht notwendig ist, um eine i.S.v. § 1574 BGB angemessene Erwerbstätigkeit aufzunehmen. War die Ehefrau beispielsweise vor der Eheschließung Au-pair-Mädchen und kann sie nach der Scheidung als Zimmermädchen arbeiten, hat sie keinen Anspruch auf Unterhalt für die Finanzierung eines Studiums2.
838
Der Anspruchsteller trägt die Beweislast dafür, dass er ehebedingt eine Ausbildung abgebrochen bzw. nicht aufgenommen hat. Dies ist nicht der Fall, wenn er eine Ausbildung erst nach der Trennung aufgenommen hat3. Nicht ausreichend ist auch, dass der Ehegatte die Ausbildung zwar vor der Eheschließung abgebrochen hat, aber nicht nachweisen kann, dass der Abbruch wegen der bevorstehenden Heirat erfolgte. Hier sind an die Darlegungspflicht hohe Anforderungen zu stellen.
839
Voraussetzung des Unterhaltsanspruchs ist außerdem, dass der Bedürftige die Ausbildung sobald wie möglich nach der Scheidung aufgenommen bzw. fortgesetzt haben muss. Ein genauer Einsatzzeitpunkt ist im Gesetz nicht genannt. Jedoch ist davon auszugehen, dass sich der Unterhaltsan-
1 Bejahend OLG München v. 3.6.1996 – 12 WF 802/96, FamRZ 1997, 425 für einen Unterhaltsanspruch unter 100 DM; OLG Düsseldorf v. 12.12.1995 – 4 WF 146/95, FamRZ 1996, 947; OLG Brandenburg v. 25.3.2004 – 9 UF 139/03, FamRZ 2005, 210 = FamRB 2004, 286; verneinend KG Berlin v. 8.6.2007 – 13 UF 118/06 für einen Unterhalt iHv 8,4 % des eigenen Einkommens des Berechtigten. 2 OLG Karlsruhe v. 23.4.2008 – 2 UF 224/07, FamRZ 2009, 120. 3 BGH v. 8.2.1984 – IVb ZR 54/82, FamRZ 1984, 561.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 844
Kap. 6 C
spruch auch an einen Anspruch wegen Kinderbetreuung1 oder Krankheit2 anschließen kann. Ein Unterhaltsanspruch besteht nur für ein anerkanntes planmäßiges 840 Ausbildungsverhältnis. Eine selbständige Tätigkeit, auch wenn sie nach einer mehrjährigen Praxis die Zulassung zu einer berufsqualifizierenden Prüfung ermöglicht, fällt nicht hierunter3. Der Abschluss der Ausbildung muss innerhalb der normalen Ausbildungszeit zu erwarten sein. Ist aufgrund des Alters des Berechtigten eine Fortsetzung oder Aufnahme der Ausbildung nicht mehr sinnvoll, entfällt der Ausbildungsanspruch. Der Anspruch besteht für die übliche Ausbildungsdauer (nicht für die Mindestdauer)4. Soweit diese bereits zu Beginn der Ausbildung feststeht, kann der Unterhaltsanspruch von vornherein auf diese Dauer befristet werden5. (b) Fortbildungsunterhalt Der Fortbildungsanspruch nach § 1575 Abs. 2 BGB setzt hingegen eine 841 bereits abgeschlossenen Berufsausbildung oder Berufserfahrung voraus. Er zielt auf den Ausgleich beruflicher Nachteile, die durch das ehebedingte Ausscheiden aus dem Beruf entstanden sind. Der Anspruch setzt voraus, dass aufgrund veränderter Arbeitsmarktbedingungen zusätzliche Kenntnisse erforderlich sind, um den Anforderungen des erlernten Berufs (wieder) zu genügen. Kein Anspruch besteht dagegen für eine Zweitausbildung, wenn bereits eine abgeschlossene Berufsausbildung vorhanden ist, die es dem Bedürftigen ermöglicht, eine angemessene Berufstätigkeit auszuüben6.
Û
842
Praxistipp: Neben einer Fortbildung kann dem Berechtigen uU zumutbar sein, bereits eine Teilzeit- oder Nebentätigkeit auszuüben, wenn der zeitliche Umfang der Fortbildung dies zulässt.
Im Übrigen umfasst der Fortbildungsunterhaltsanspruch jedoch den vollen ehelichen Bedarf.
843
Nach § 1575 Abs. 3 BGB ist dem Unterhaltsberechtigten eine Berufung auf den durch die Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung erreichten höheren Ausbildungsstand verwehrt, soweit er anschließend keine Tätigkeit findet, mit der er seinen vollen Unterhaltsbedarf selbst abdecken kann. Wird daher nach Abschluss der Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung Unterhalt wegen Arbeitslosigkeit oder Aufstockungsunterhalt
844
1 2 3 4 5 6
OLG Köln v. 22.11.1995 – 27 UF 49/95, FamRZ 1996, 867. BGH v. 24.10.1979 – IV ZR 171/78, FamRZ 1980, 126. BGH v. 1.4.1987 – IVb ZR 35/86, FamRZ 1987, 795. Palandt/Brudermüller, § 1575 BGB Rn. 3. BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 68/84, FamRZ 1986, 553. BGH v. 24.4.1985 – IVb ZR 9/84, FamRZ 1985, 782.
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Kap. 6 C Rn. 845
Ehegattenunterhalt
gefordert, muss er sich im Rahmen der Aufnahme bzw. Ausweitung einer ihm angemessenen Erwerbstätigkeit auf seinen früheren Ausbildungsstand verweisen lassen. Die Vorschrift dient dem Schutz des Unterhaltspflichtigen, der keine Ausbildung finanzieren soll, die sich anschließend als wirtschaftlich sinnlos herausstellt und nur dazu führt, dass der Berechtigte aufgrund seines neu erreichten Ausbildungsniveaus eine Beschäftigung in seinem alten Beruf bzw. bei erstmaliger Berufsausbildung eine ungelernte Beschäftigung mit Verweis auf § 1574 BGB ablehnt. 845
Im Übrigen geht jedoch der Anspruch nach § 1575 BGB dem Anspruch nach § 1573 BGB vor. Der Anspruch kann daher auch dann bestehen, wenn der Berechtigte auch ohne die Ausbildung eine angemessene Beschäftigung finden könnte. Eine Verweisung hierauf ist dann nicht möglich. (7) Unterhalt aus Billigkeitsgründen, § 1576 BGB
846
Bei § 1576 BGB handelt es sich um eine subsidiäre Auffangnorm, die in dem System der Unterhaltstatbestände nach §§ 1570 bis 1575 BGB unbillige Härten vermeiden soll. Die Ausnahmeregelung ist eng auszulegen und kommt nur dann zum Tragen, wenn die Versagung des Unterhalts grob unbillig ist, also dem Gerechtigkeitsempfinden in nahezu unerträglicher Weise widerspricht.
847
Für das Vorliegen eines Anspruchs nach § 1576 BGB ist ein sonstiger schwerwiegender Grund erforderlich. Dies sind idR die Fälle der aufopferungsvollen Betreuung naher Angehöriger oder der Betreuung gemeinschaftlich aufgenommener Pflegekinder oder Stiefkinder, die die Aufnahme einer eigenen Erwerbstätigkeit unmöglich machen.
848
Ein Einsatzzeitpunkt ist vom Gesetz nicht vorgesehen. Ein Anspruch auf Billigkeitsunterhalt kann daher unter den engen Gesichtspunkten, unter denen überhaupt ein Anspruch gegeben ist, auch erst nach der Scheidung entstehen, ohne dass hierfür eine durchgehende Unterhaltskette erforderlich ist.
849
Bei der Bemessung von Höhe und Dauer des Anspruchs sind ebenso Billigkeitsgesichtspunkte zu berücksichtigen. Eine Befristung und Beschränkung ist auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen von § 1578b BGB möglich („soweit und solange“). gg) Unterhalt für die Vergangenheit und Rückforderung von überzahltem Unterhalt
850
Nachehelicher Unterhalt ist für die Vergangenheit nur geschuldet, soweit der Unterhaltspflichtige zuvor mit der Zahlung in Verzug gesetzt wurde. Dabei genügt seit der Neufassung von § 1585b BGB durch die Unterhaltsrechtsreform wie beim Verwandtenunterhalt die Aufforderung an ihn, 632
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Ehegattenunterhalt
Rn. 855
Kap. 6 C
Auskunft über sein Einkommen zu erteilen, damit die Höhe des Unterhaltsanspruchs ermittelt werden kann. Insoweit verweist § 1585b Abs. 2 BGB auf § 1613 BGB. Eine Stufenmahnung ist damit nach aktueller Rechtslage auch für den nachehelichen Unterhalt nicht mehr erforderlich.
Û
Praxistipp: Die Mahnung zur Zahlung bzw. zur Auskunftserteilung wegen der Geltendmachung von nachehelichem Unterhalt darf erst nach Rechtskraft der Scheidung erfolgen1. Eine vor Rechtskraft der Scheidung erfolgte Mahnung ist unwirksam, da der Anspruch nicht vor seiner Entstehung angemahnt werden kann.
Der Inverzugsetzung steht nach § 1613 Abs. 1 BGB außerdem die Rechtshängigkeit des Anspruchs gleich. Rechtshängigkeit entsteht mit förmlicher Zustellung der Klage bzw. der Antragsschrift, im laufenden Verfahren mit Zustellung des klageerweiternden Schriftssatzes. Mit Zustellung eines PKH-Gesuchs tritt keine Rechtshängigkeit ein, allerdings steht diese jedenfalls der Mahnung gleich2.
851
Der Unterhalt wird ab dem Ersten des Monats geschuldet, in den eines der in § 1613 Abs. 1 BGB genannten Ereignisse fällt.
852
Ist für die Vergangenheit zuviel Unterhalt bezahlt worden, ist zunächst 853 zu unterscheiden, ob es sich um eine freiwillige oder um eine unfreiwillige Überzahlung handelte. Nur im letzteren Fall kommt eine Rückforderung über bereicherungsrechtliche Grundlagen in Betracht. Hat der Unterhaltsschuldner zuviel bezahlt, obwohl er wusste, dass er nicht dazu verpflichtet war, scheidet eine Rückforderung nach § 814 BGB aus. Erfolgt die Überzahlung dagegen aufgrund eines materiell-rechtlich un- 854 richtigen Titels, liegt regelmäßig ein Fall der ungerechtfertigten Bereicherung vor. Sobald die Unrichtigkeit festgestellt ist, kann das zu Unrecht Erlangte herausverlangt werden. In welcher Form die Änderung des Titels begehrt werden kann, hängt von dem vorliegenden Titel ab. Bei einer überhöhten einstweiligen Anordnung muss vom Unterhaltspflichtigen stets der Antrag auf Einleitung eines Hauptsacheverfahrens (§ 52 Abs. 2 FamFG) gestellt werden. Für die früher bei den Eilverfahren nach der ZPO gebotene negative Feststellungsklage besteht kein Raum mehr. Diese findet nur noch auf Altverfahren nach §§ 620 Nr. 4, 6, 644 aF ZPO Anwendung. Zu beachten ist jedoch, dass in diesen Konstellationen eine Rückforderung regelmäßig ausscheidet, wenn sich der Unterhaltsgläubiger nach § 818 Abs. 3 BGB auf Entreicherung berufen kann. Die Entreicherung ist 1 BGH v. 29.4.1992 – XII ZR 105/91, FamRZ 1992, 920. 2 BGH v. 15.11.1989 – IVb ZR 3/89, FamRZ 1990, 283 (285); BGH v. 29.4.1992 – XII ZR 105/91, FamRZ 1992, 920.
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855
Kap. 6 C Rn. 856
Ehegattenunterhalt
zwar eine vom Gläubiger darzulegende und zu beweisende Einwendung. Da der Unterhalt jedoch zur Bestreitung des Lebensunterhalts gedacht ist, besteht bei unteren und mittleren Einkommen eine Vermutung, dass er für die Verbesserung des Lebensstandards verbraucht wurde, ohne dass hierüber Nachweise erbracht werden müssen1. 856
Auf eine Entreicherung kann sich der Unterhaltberechtigte daher regelmäßig nur dann nicht berufen, wenn er der verschärften Haftung nach §§ 818 Abs. 4, 819 Abs. 1, 820 Abs. 1 BGB unterliegt. Nach § 241 FamFG gilt die verschärfte Haftung immer dann automatisch, wenn der Unterhaltsschuldner einen bereits bestehenden Hauptsachetitel (Urteil oder Beschluss, Vergleich oder Urkunde) mit einem Abänderungsantrag gerichtlich angreift. Nur noch in den Fällen, in denen die Zahlungsverpflichtung aufgrund einer einstweiligen Anordnung besteht und noch keine Entscheidung in der Hauptsache vorliegt, muss die Bösgläubigkeit noch gesondert herbeigeführt werden.
Û
Praxistipp: Der Hinweis auf der Überweisung, der Unterhalt werde „unter Vorbehalt“ gezahlt, reicht nicht aus, um den Unterhaltsgläubiger bösgläubig zu machen. Vielmehr ist in den Fällen, in denen die verschärfte Haftung nicht bereits nach § 241 FamFG eingreift, unbedingt ein Antrag auf Rückforderung des Unterhalts anhängig zu machen2, ggf als Widerantrag, sofern das Hauptsacheverfahren bereits anhängig ist. Der zurückgeforderte Betrag muss dabei gem. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO beziffert werden.
hh) Vorsorgeunterhalt 857
Auch der Anspruch auf nachehelichen Unterhalt umfasst neben dem Elementarunterhalt noch die Ansprüche auf Kranken- und Altersvorsorgeleistungen. (1) Krankenvorsorgeunterhalt
858
Der Anspruch auf kostenfreie Mitversicherung in der Familienversicherung der gesetzlichen Krankenkasse erlischt mit Rechtskraft der Scheidung. Innerhalb von drei Monaten nach Rechtskraft des Scheidungsurteils muss ein Antrag auf Weiterversicherung in der gesetzlichen Krankenkasse gestellt werden (§ 9 Abs. 2 SGB V), wenn der unterhaltsberechtigte Ehegatte nicht ohnehin aufgrund eigener Erwerbstätigkeit selbst pflichtversichert ist. War der andere Ehegatte nicht Mitglied der gesetzlichen Krankenkasse, sondern zB als Beamter oder Selbständiger privat versichert, muss der Unterhaltsberechtigte nach der Scheidung eine eigene private 1 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327. 2 BGH v. 19.12.1984 – IVb ZR 51/83, FamRZ 1985, 368.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 862
Kap. 6 C
Krankenversicherung abschließen. Ein Anspruch auf Aufnahme in die gesetzliche Krankenkasse besteht dann nicht.
Û
Praxistipp: Da die Aufnahme in die private Krankenversicherung gerade ab einem bestimmten Alter mit ganz erheblichen Kosten verbunden ist und uU an der Überschreitung von Altersgrenzen sogar ganz scheitert, kann die Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung durch Aufnahme wenigstens einer geringfügigen Tätigkeit bisweilen die einzig wirtschaftlich gängige Lösung sein. Ggf. kann der Unterhaltspflichtige selbst dieses Anstellungsverhältnis begründen, wenn er zB unternehmerisch tätig ist.
Zu beachten ist allerdings, dass Anspruch auf einen gleichwertigen Ver- 859 sicherungsschutz besteht, wie dieser in der Ehe bestanden hat. Der Anspruch kann daher ggf. auch die Kosten einer Zusatzversicherung neben der gesetzlichen Krankenversicherung umfassen. Im Gegenzug ist der Unterhaltsberechtigte dafür gehalten, bei gleichem Leistungsumfang die kostengünstigste Variante zu wählen. Dabei muss er auch den Abschluss eines Tarifs mit Selbstbeteiligung hinnehmen, wenn der Unterhaltsverpflichtete die Erstattung des Selbstbehalts zusagt1. Muss sich der Unterhaltsberechtigte ein fiktives Einkommen aus einer an- 860 gestellten Tätigkeit anrechnen lassen, hat er keinen Anspruch auf Krankenvorsorgeunterhalt, soweit der bisherige Krankenversicherungsschutz durch die gesetzliche Krankenkasse abgedeckt wäre2. Der Versicherungsbeitrag ist vom Unterhaltsberechtigten zusätzlich zum 861 Elementarunterhalt zu leisten. Dabei errechnet sich der Beitrag in der gesetzlichen Krankenkasse als Prozentsatz des Elementarunterhalts nach den gültigen Beitragssätzen. (2) Altersvorsorgeunterhalt Bereits ab Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens besteht der An- 862 spruch auf Altersvorsorgeunterhalt, da ab diesem Zeitpunkt die Teilhabe an der Altersversorgung des anderen Ehegatten durch den Versorgungsausgleich entfällt. Er gilt auch nach der Scheidung fort. Der Vorsorgeunterhalt ist nicht im Quotenunterhalt enthalten. Es besteht daneben ein Anspruch auf gesonderte Mittel zum Aufbau einer eigenen Altersvorsorge. Die Höhe des Anspruchs richtet sich nach dem angemessenen Bedarf und errechnet sich prozentual aus dem Elementarunterhaltsanspruch, s. näher Rn. 1009 ff. Anders als der Krankenvorsorgeunterhalt besteht der
1 OLG Brandenburg v. 23.8.2007 – 9 UF 115/05, FamRZ 2008, 789 = FamRB 2008, 71. 2 OLG Hamm v. 18.12.1992 – 7 UF 276/92, FamRZ 1994, 107.
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Kap. 6 C Rn. 863
Ehegattenunterhalt
Anspruch auf Altersvorsorge auch, wenn eigene Einkünfte erzielt und selbst Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt werden1. ii) Art der Unterhaltsgewährung 863
Der laufende Unterhalt ist durch Zahlung einer Geldrente zu gewähren, die monatlich im Voraus fällig ist, § 1585 Abs. 1 BGB. Der Unterhalt muss grundsätzlich zum Ersten den Monats geleistet werden. Bei Erlöschen des Unterhaltsanspruchs wegen Wiederheirat oder Tod des Berechtigten bleibt dennoch der gesamte Monatsbetrag geschuldet, es kann also keine anteilige Rückforderung geltend gemacht werden (§ 1585 Abs. 1 S. 2 BGB).
864
Statt der monatlichen Rentenzahlung kann vom Berechtigten auch eine Kapitalabfindung verlangt werden, wenn ein wichtiger Grund vorliegt und dies dem Verpflichteten zugemutet werden kann. Ein solcher wichtiger Grund kann beispielsweise in einer vom Berechtigten beabsichtigten Geschäftsgründung oder in einer drohenden Leistungsunfähigkeit des Verpflichteten wegen Vermögensverschwendung liegen2. Der Unterhaltsverpflichtete darf hierdurch jedoch nicht unbillig belastet werden, etwa durch verlustreiche Veräußerung von Wertpapieren, Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts oder Vernachlässigung anderer Schuld- und Unterhaltsverpflichtungen. jj) Sicherheitsleistung
865
Auf Verlangen des Berechtigten hat der Verpflichtete Sicherheit für die Unterhaltszahlungen zu leisten, § 1585a BGB. Der Anspruch besteht nicht, sofern kein Grund zu der Annahme vorliegt, dass die Unterhaltsleistung gefährdet ist oder wenn der Verpflichtete durch die Sicherheitsleistung unbillig belastet würde. Hierfür trägt der Unterhaltsverpflichtete die Beweislast. Der Betrag der Sicherheitsleistung soll den einfachen Jahresbetrag des Unterhalts nicht übersteigen. kk) Vereinbarungen zum nachehelichen Unterhalt
866
In der anwaltlichen Beratung ist die Frage von Unterhaltsvereinbarungen und Kapitalabfindungen von erheblicher Bedeutung. Nach § 1585c BGB können die Ehegatten über die Unterhaltspflicht nach der Scheidung Vereinbarungen treffen. Im Gegensatz zum Trennungs, Kindes- und Familienunterhalt können sie dabei auf nachehelichen Unterhalt auch für die Zukunft verzichten. Durch das UÄndG 2007 wurde in § 1585c BGB das Formerfordernis der notariellen Beurkundung eingeführt, sofern die Vereinbarung noch vor rechtskräftiger Scheidung getroffen wird. Eine ent-
1 OLG Düsseldorf v. 16.2.1982 – 6 UF 81/81, FamRZ 1983, 400. 2 Palandt/Brudermüller, § 1585 BGB Rn. 6.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 871
Kap. 6 C
gegen diesem Formbedürfnis geschlossene Vereinbarung ist nach § 125 BGB unwirksam bzw. nichtig. Die gerichtliche Protokollierung ersetzt die notarielle Beurkundung. In- 867 soweit verweist § 1585c S. 3 auf § 127a BGB, allerdings nur für die Protokollierung im Scheidungsverfahren. Ob auch eine Protokollierung in anderen Verfahren, zB im Trennungsunterhaltsprozess möglich ist, ist umstritten. Nach dem Wortlaut des Gesetzes scheint dies eher ausgeschlossen. Dies mag auch insoweit begründet sein, als bei Erlass des UÄndG 2007 eine anwaltliche Vertretung im reinen Unterhaltsprozess nicht zwingend vorgeschrieben war und daher nur im Scheidungsprozess aufgrund des Anwaltszwangs eine gleichmäßige Beratung beider Ehegatten gesichert schien. Ob dies allerdings auch nach Inkrafttreten des FamFG berechtigt ist, scheint fraglich.
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Praxistipp: Für den Anwalt wird es sich empfehlen, sicherheitshalber auf eine bloße Protokollierung im Trennungsunterhaltsverfahren nicht zu vertrauen, sondern die notarielle Beurkundung oder die Protokollierung im Scheidungsprozess vorzuziehen.
Nach der Scheidung geschlossene Vereinbarungen sind demgegenüber weiterhin formfrei.
868
Zu beachten ist jedoch in allen Fällen, dass Vereinbarungen über den Un- 869 terhalt in besonderem Maße der Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle unterliegen. Das Unterhaltsrecht liegt im Kern des Schutzbereichs, den der Gesetzgeber für die Ehe geschaffen hat. Auch wenn die Vorschriften zum nachehelichen Ehegattenunterhalt grundsätzlich disponibel sind, können entsprechende Vereinbarungen unwirksam oder jedenfalls anzupassen sein. Der BGH hat hierzu in seiner Rechtsprechung zu Eheverträgen ein zwei- 870 stufiges Prüfungsschema aufgezeigt: In einer ersten Stufe ist zu prüfen, ob ein Unterhaltsverzicht bereits nach § 138 BGB sittenwidrig ist. Dies wurde in der Vergangenheit bereits immer dann angenommen, wenn der Unterhaltsverzicht sich vorhersehbar zulasten des Sozialhilfeträgers auswirkte, also der unterhaltsberechtigte Ehegatte schon zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses erkennen konnte, dass er infolge des Unterhaltsverzichts auf den Bezug von Sozialhilfe angewiesen sein würde1. Daneben kann einem Verzicht jedoch auch entgegenstehen, dass der be- 871 günstigte Ehegatte sich wegen eines Wegfalls oder einer Änderung der Geschäftsgrundlage nicht auf ihn berufen darf, weil sich die Lebensverhältnisse der Ehegatten anders entwickelt haben als diese es sich bei Vertragsabschluss vorgestellt haben. In diesen Fällen hat ggf. vorübergehend eine Anpassung der Vereinbarung an die geänderten Verhältnisse zu er1 BGH v. 8.12.1982 – IVb ZR 333/81, FamRZ 1983, 137.
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Kap. 6 C Rn. 872
Ehegattenunterhalt
folgen. Zu Eheverträgen und Scheidungsfolgevereinbarungen s. im Einzelnen Kap. 15. 5. Bedürftigkeit des Berechtigten 872
Inwieweit der unterhaltsberechtigte Ehegatte tatsächlich auch unterhaltsbedürftig ist, richtet sich danach, ob er seinen Unterhaltsbedarf durch den Einsatz eigenen Einkommens und Vermögens selbst abdecken kann, § 1577 BGB. 6. Selbstbehalt des Verpflichteten
873
Der Unterhaltsanspruch des bedürftigen Ehegatten findet seine Grenze schließlich darin, dass dem Pflichtigen nach Abzug seiner Unterhaltsverpflichtungen jedenfalls das verbleiben muss, was er selbst für seinen Lebensunterhalt und für Unterhaltszahlungen an vorrangig Berechtigte braucht, § 1581 BGB. Deshalb ist nach Ermittlung des bzw. der Unterhaltsansprüche zu überprüfen, ob dem Verpflichteten nach Zahlung aller Unterhaltsleistungen noch der Selbstbehalt verbleibt. Beim Ehegattenunterhalt gilt im absoluten Mangelfall der eheangemessene Selbstbehalt, der nach der Rechtsprechung des BGH zwischen dem notwendigen und dem angemessenen Selbstbehalt anzusetzen ist1.
874
Es kann jedoch auch ein relativer Mangelfall vorliegen, wenn dem Unterhaltspflichtigen unter Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen nach Zahlung des Ehegattenunterhalts weniger zum Leben verbleibt als dem Unterhaltsberechtigten. Nachdem das BVerfG die Drittelmethode des BGH auf der Ebene der Bedarfsermittlung für verfassungswidrig erklärt hat2, hat die Dreiteilung der vorhandenen Einkünfte bei gleichoder vorrangig Unterhaltsberechtigten, deren Unterhaltsanspruch erst nach der Scheidung hinzugekommen ist, über die Billigkeitsprüfung nach § 1581 BGB wieder Einzug in die Unterhaltsberechnung gehalten. Der BGH hat insoweit ausgeführt, dass der Grundsatz der Halbteilung zwischen den geschiedenen Ehegatten nicht gewahrt sei, wenn der Unterhaltsschuldner allein aus dem ihm verbleibenden Teil des Einkommens den Unterhalt für nach der Ehe geborene weitere Kinder oder einen weiteren Ehegatten aufbringen müsse3. Sofern der neue Ehegatte dem geschiedenen im Rang vorgehe oder ihm gleichstehe, sei es daher gerechtfertigt, das nach Abzug des Kindesunterhalts verbleibende Einkommen zu gleichen Teilen zwischen dem Unterhaltspflichtigen sowie dem geschiedenen und dem neuen Ehegatten aufzuteilen.
1 BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 = FamRB 2006, 198. 2 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 = FamRB 2011, 66. 3 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 = FamRB 2012, 71 = FamRBint 2012, 29.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 876
Kap. 6 C
Die Beweislast für seine eingeschränkte Leistungsfähigkeit trägt dabei der Unterhaltspflichtige. Somit muss er im Rahmen dieser Einwendung umfassend zu seinen weiteren Verpflichtungen darlegen und diese beweisen, ggf. unter vollständiger Darlegung der Einkommensverhältnisse des neuen Ehegatten. Dabei wird auch weiterhin ein Synergieeffekt durch das Zusammenleben in der neuen Ehe zu berücksichtigen sein, so dass die den zusammenlebenden Ehegatten zur Verfügung stehenden Mittel um einen Anteil von je 10 % gekürzt und diese dem geschiedenen Ehegatten zusätzlich belassen werden können1.
875
Zu Rangfragen und Mangelfall s. im Übrigen näher Rn. 1267 ff.!
876
II. Höhe des nachehelichen Unterhalts Literaturverzeichnis: Bienko, Zum Unterhalt der Ehefrau nach den ehelichen Lebensverhältnissen FamRZ 2000, 13; Bißmaier, Der Prozesskostenvorschuss in der familienrechtlichen Praxis FamRZ 2002, 863; Born, Zu Unrecht totgesagt: der Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen, NJW 2007, 26; Born, Das neue Unterhaltsrecht, NJW 2008, 1; Born, Der Bedarf in der aktuellen Rechtsprechung – das Ende eines Unterhaltsrechtlichen Grundbegriffs NJW 2008, 3089; Borth, Die ehelichen Lebensverhältnisse nach § 1578 BGB – ein Danaer-Geschenk des Gesetzgebers? FamRZ 2001, 193; Borth, Die Entscheidung des BGH v. 13.6.2001 zum nachehelichen Unterhalt, FamRZ 2001, 1653; Borth, Private Altersvorsorge und Unterhalt, NJW 2008, 326; Borth, Der Betreuungsunterhalt geschiedener Ehegatten und die Erwerbsobliegenheit nach neuem Recht, FamRZ 2008, 2; Borth, Die Bestimmung des Unterhalts bei Konkurrenz mehrerer Unterhaltsansprüche, FamRZ 2012, 252; Braeuer, Gleichberechtigte Teilhabe als Grundlage für den nachehelichen Unterhalt, FamRZ 2006, 1489; Brudermüller, Zeitliche Begrenzung des Unterhaltsanspruchs (§§ 1573 V, 1578 I, 2 BGB), FamRZ 1998, 649; Büte, Die konkrete Berechnung des Unterhaltsbedarfs, FuR 2005, 385; Büte, Brennpunkte im neuen Unterhaltsrecht, Fur 2008, 309; Büttner, Abzugs-, Differenz- und Summenmethode, FamRZ 1984, 534; Büttner, Auswirkungen der Pflegeversicherung auf das Unterhaltsrecht, FamRZ 1995, 193; Büttner, Kinderbetreuung und Abzugsmethode, FamRZ 1999, 893; Büttner, Neue Rechtsprechung des BGH zur Anrechnungs- und Differenzmethode, NJW 2001, 3244; Büttner, Sind die Bedenken gegen die Rechtsprechung des BGH und BVerfG zu den ehelichen Lebensverhältnissen gerechtfertigt? FamRZ 2003, 641; Büttner, Die Härteklauseln (§§ 1587b, 1579 BGB) im geplanten Unterhaltsrecht, FamRZ 2007, 773; Büttner/Niepmann, Die Entwicklung des Unterhaltsrechts seit Mitte 2003, NJW 2004, 2284; Conradis, Die Berechnung des Vorsorgeunterhalts für Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, FamRZ 2004, 1156; Conradis, Sozialrechtliche Probleme bei Trennung und Scheidung – Die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, FamRB 2007, 304; Dieckmann, Die Unterhaltsansprüche geschiedener und getrennt lebender Ehegatten nach dem 1. EheRG vom 14. Juni 1976, FamRZ 1977, 81; Dose, Ausgewählte Fragen der Unterhaltsrechtsreform – Kindergeldanrechnung, Erwerbsobliegenheit und Beschränkungsmöglichkeiten, FamRZ 2007, 1289; Ehinger, Der Kindesunterhalt nach dem Regierungsentwurf zum Unterhaltsänderungsgesetz, FamRB 2006, 338; Ehinger, Herabsetzung und zeitliche Begrenzung nachehelicher Unterhaltsansprüche wegen Unbilligkeit, FamRB 2008, 212; Eschenbruch/Loy, Die Sättigungsgrenze beim Ehe1 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 = FamRB 2012, 71 und FamRBint 2012, 29.
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Kap. 6 C Rn. 876
Ehegattenunterhalt
gattenunterhalt, FamRZ 1994, 665; Gerhardt/Gutdeutsch, Haushaltsführung und Kindesbetreuung in der Ehe – ein unterhaltsrechtlich ungelöstes Problem, FuR 1999, 241; Gerhardt, Eheliche Lebensverhältnisse bei Kinderbetreuung und Haushaltsführung, FamRZ 2000, 134; Gerhardt, Neubewertung der ehelichen Lebensverhältnisse, FamRZ 2003, 272; Gerhardt, Die Veräußerung des Eigenheims beim Ehegattenunterhalt, FamRZ 2003, 414; Gerhardt, Die ehelichen Lebensverhältnisse beim Ehegattenunterhalt, FuR 2006, 433; Gerhardt, Die Bereinigung des Nettoeinkommens beim Ehegattenunterhalt nach der geänderten Rechtsprechung des BGH, FamRZ 2007, 945; Gerhardt, Der Betreuungsbonus beim Ehegattenunterhalt, NJWSpezial 2008, 228; Gerhardt/Gutdeutsch Die Unterhaltsberechnung bei gleichrangigen Ehegatten nach dem geplanten Recht, FamRZ 2007, 778; Götsche, Konkrete Bedarfsermittlung, FamRB 2007, 143; Graba, Zum Unterhalt der Hausfrau nach den ehelichen Lebensverhältnissen, FamRZ 1999, 1115; Graba, Fiktives Einkommen im Unterhaltsrecht, FamRZ 2001, 1257; Graba, Zum trennungsbedingten Mehrbedarf, FamRZ 2002, 857; Graba, Auf dem Weg zu einem Unterhaltsrecht nach Billigkeit, FamRZ 2008, 1217; Grandel, Unterhaltsberechnung bei „gleichrangig“ berechtigten Ehegatten außerhalb des Mangelfalls, NJW 2008, 796; Gutdeutsch, Zur integrierten Berechnung des Vorsorge- und Grundunterhalts, FamRZ 1989, 451; Hampel, Quotenunterhalt und voller Unterhalt des geschiedenen Ehegatten gemäß den ehelichen Lebensverhältnissen, FamRZ 1981, 851; Hampel, Zur Bemessung des Ehegattenunterhalts, FamRZ 1984, 621; Hahne, Zur Auslegung der §§ 1578 Abs. 1 Satz 2 und 3 und 1573 Abs. 5 BGB idF des Unterhaltsabänderungsgesetzes vom 20. Februar 1986, FamRZ 1986, 305; Hauß, Der neue § 851c ZPO und seine familienrechtlichen Konsequenzen, FamRB 2007, 147; Heumann, Beschränkung des Aufstockungsunterhalts nach langer Kindesbetreuung, Vorwirkung der Reform – und Präklusion, FamRZ 2007, 178; Holzhauer, Die Neuregelung des Unterhalts Geschiedener, JZ 1977, 77; Husheer, Der Krankenvorsorgeunterhalt – unterhalts- und versicherungsrechtliche Probleme der Vorschrift des § 1578 Abs. 2 BGB, FamRZ 1991, 264; Jacob, Integrierte Berechnung des Vorsorge und Grundunterhalts, FamRZ 1988, 997; Kleffmann, Die Entwicklung des Unterhaltsrechts im Jahr 2005 – Teil 1 – FuR 2006, 97; Klinkhammer, Brauchen wir noch die „ehelichen Lebensverhältnisse“?, FF 2009, 140; Klinkhammer, Die Rangfolge der Unterhaltsansprüche in der gesetzlichen Entwicklung, FamRZ 2007, 1205; Knops, Der familienrechtliche Prozesskostenvorschuss, NJW 1993, 1237; Krause, Der Altersvorsorgeunterhalt – eine Chance für den Pflichtigen, FamRZ 2003, 1617; Laier, Differenzmethode oder Anrechnungsmethode, FamRZ 1993, 392; Luthin, Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsrechts, FamRB 2006, 198; Luthin, Zum Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, FamRZ 1988, 1109; Maier K., Die Bemessung des Vorsorgeunterhalts – Vorstellung einer einfachen Methode unter Berücksichtigung des Anspruchs auf Krankenversicherungsunterhalts, FamRZ 1992, 1259; Maier W., Die gleiche Teilhabe der Ehegatten am gemeinsam Erwirtschafteten, NJW 2002, 3359; Maier W., Vom Unterhalt bei Vermögensauseinandersetzung, FamRZ 2006, 897; Maurer, Zum „Maß des Unterhalts nach den eheliche Lebensverhältnissen“, FamRZ 2008, 1985; Melchers, Obliegenheit des Schuldners zur Einleitung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens, NJW 2008, 806; Müller, R., Rente und Unterhalt, FuR 2002, 195; Rauscher, Veränderungen in der Bemessung des Ehegattenunterhalts, FuR 2001, 385; Röthel, Erwerbstätigenbonus und Halbteilungsgrundsatz, FamRZ 2001, 328; Schiebel, Karrieresprung oder eheprägendes Einkommen NJW-Spezial 2006, 151; Scholz, Die Düsseldorfer Tabelle (Stand 1.7.1992), FamRZ 1993, 125; Scholz, Von der Anrechnungs- zur Differenzmethode – Wirft das Urteil des BGH v. 13.6.2001 neue Gerechtigkeitsprobleme auf? FamRZ 2003, 265; Scholz, Der Kindesunterhalt nach dem Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts FamRZ 2007, 2021; Schwab, Zur Sättigungsgrenze beim Unterhalt geschiedener Ehegatten,
640
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 876
Kap. 6 C
FamRZ 1982, 456; Schwab, Familiäre Solidarität, FamRZ 1997, 521; Schwab, Zur Reform des Unterhaltsrechts, FamRZ 2005, 1417; Schwab, Koinzidenz – Zur gegenwärtigen Lage der Unterhaltsrechtsreform, FamRZ 2007, 1053; Schwolow, Auf der Suche nach der „Sättigungsgrenze“ des nachehelichen Unterhalts, FuR 1997, 313; Schürmann, Der Abschied vom Stichtagsprinzip – Was bleibt von den ehelichen Lebensverhältnissen, NJW 2006, 2301; Schürmann, Begrenzung und Befristung beim nachehelichen Unterhalt FuR 2008, 183; Söpper, Zum Unterhalt der Ehefrau nach den ehelichen Lebensverhältnissen FamRZ 2000, 14; Spangenberg, Wider den trennungsbedingten Mehrbedarf, FamRZ 1991, 269; Spangenberg, Der Erwerbstätigenbonus, FamRZ 2002, 1388; Strohal, Einflüsse der Rentenreform 2001 auf die Unterhaltsberechnung, FamRZ 2002, 277; Weisbrodt, Praktische Gestaltung des Unterhaltsprozesses bei Insolvenz des Unterhaltspflichtigen, FamRZ 2003, 1240; Wohlgemuth, Ehegattenunterhalt und Anspruch auf Versorgungsentgelt bei neuer Partnerschaft, FamRZ 2003, 983.
1. Arbeitshinweise a) Arbeitstechnik 1. Einkommen beider Eheleute erfragen; dazu Kap. 6 A. Einkommensermittlung; welches Einkommen hat die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt, welches nicht? 2. Den Bedarf des unterhaltsberechtigten Ehegatten nach den ehelichen Lebensverhältnissen berechnen nach Quote, Mindestbedarf oder nach der konkreten Methode; besteht neben dem Elementarbedarf noch Mehrbedarf und Sonderbedarf? 3. Bestehen neben dem Elementarbedarf noch Anprüche auf Krankenoder Altersvorsorgeunterhalt? 4. Welche Veränderungen nach der Scheidung haben Einfluss auf die ehelichen Lebensverhältnisse und welche nicht? Einkommensverbesserungen und Einkommensverminderungen 5. Ist der nacheheliche Unterhalt zu begrenzen; Vorliegen eines ehebedingten Nachteils; bedingen Gründe der nachehelichen Solidarität eine Verlängerung der nachehelichen Unterhaltspflicht? b) Typische Problemfelder 1. Die Bestimmung der ehelichen Lebensverhältnisse; das maßgebliche Einkommen Rn. 918 ff. und Kap. 6 A. Einkommensermittlung; Kapitalerträge Rn. 950 ff.; Rente Rn. 1113 ff.; Wohnvorteil Rn. 945 ff.; PkwNutzung Rn. 956; 2. Der gesamte Lebensbedarf: Elementarbedarf Rn. 963, 964; Mehrbedarf Rn. 966 ff.; Sonderbedarf Rn. 979; Verfahrenskostenvorschuss Rn. 980; Mindestbedarf Rn. 1160; trennungsbedingter Mehrbedarf Rn. 985; Kranken- und Pflegeversicherung Rn. 996 ff.; Altersvorsorgeunterhalt Rn. 1009; 3. Methode der Berechnung des Unterhalts: Quotenunterhalt Rn. 1159, 1185 ff.; konkrete Methode Rn. 1013 ff.; Halbteilungsgrundsatz Schlünder
641
Kap. 6 C Rn. 877
Ehegattenunterhalt
Rn. 1159; Erwerbstätigenbonus Rn. 1168 ff.; Differenz- und Additionsmethode Rn. 1185 ff.; 4. Veränderungen nach rechtskräftiger Scheidung: Einkommensverbesserung Rn. 1057 ff.; Einkommensminderungen Rn. 1066 ff.; Veräußerung der Immobilie nach Scheidung Rn. 1076 ff.; Aufnahme einer Erwerbstätigkeit Rn. 1089; Unterhaltspflichten gegenüber Kindern Rn. 1091 ff.; Versorgung eines Lebenspartners Rn. 1104 ff.; zusätzliche Altervorsorge (Sekundärvorsorge) Rn. 1112; 5. Veränderungen nach der Scheidung, welche die ehelichen Lebensverhältnisse nicht beeinflussen: Karrieresprung Rn. 1131 ff.; Splittingvorteil Rn. 1061, 1139 ff.; 6. Begrenzung des Unterhalts nach § 1578b BGB: ehebedingter Nachteil Rn. 1210 ff.; nacheheliche Solidarität Rn. 1229 f.; Begrenzung des Krankheitsunterhalts Rn. 1245 ff.; Begrenzung des Altersunterhalts Rn. 1242 ff.; Darlegungs- und Beweislast; sekundäre Darlegungslast Rn. 1261 ff.; 2. Grundlagen a) Einleitung aa) Die ehelichen Lebensverhältnisse als Maß nach § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB 877
Für die nachehelichen Unterhaltstatbestände, die dem Grund nach in den §§ 1570 bis 1573, 1575 und 1576 BGB geregelt sind, enthält § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB eine einheitliche Regelung über deren Höhe („das Maß“). Anknüpfungspunkt sind die ehelichen Lebensverhältnisse. Die Vorschrift stellt einerseits klar, dass es auf die individuellen, von den Eheleuten selbst gestalteten Lebensverhältnisse, eben die ehelichen Lebensverhältnisse ankommt, lässt andererseits jedoch wesentliche Fragen offen: Nicht geregelt ist, durch welche Umstände diese Lebensverhältnisse bestimmt werden (Problem der Prägung), auf welchen Zeitpunkt es bei der Bestimmung der ehelichen Lebensverhältnisse ankommt (Problem des Zeitpunkts), wie sich der konkrete Unterhaltsanspruch auf der Grundlage der ehelichen Lebensverhältnisse berechnet (Problem der Berechnungsmethode) und ob bzw. wie sich Veränderungen, die nach der Rechtskraft der Scheidung eintreten, auf die ehelichen Lebensverhältnisse auswirken (Problem der Wandelbarkeit). bb) Inhalt und Umfang nach § 1578 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 und 3 BGB
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§ 1578 Abs. 1 BGB formuliert den Grundsatz: Die Höhe des nachehelichen Unterhalts bestimmt sich nach den ehelichen Lebensverhältnissen, wobei Satz 1 den gegenständlichen Inhalt (die „ehelichen Lebensverhältnisse“) nennt, der Anknüpfungspunkt für die Höhe des nachehelichen Unterhalts ist, und Satz 2 den Umfang des Unterhaltsanspruchs („den gesamten Le642
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Rn. 879
Kap. 6 C
bensbedarf“) festlegt, zu dem die in den Abs. 2 und 3 aufgeführten Bedarfspositionen gehören, nämlich die Kosten einer angemessenen Versicherung für den Fall der Krankheit und der Pflegebedürftigkeit sowie die Kosten einer Schul- oder Berufsausbildung, einer Fortbildung oder einer Umschulung nach den §§ 1574, 1575 BGB und schließlich, bei bestimmten Unterhaltsansprüchen (§§ 1570 bis 1573 oder § 1576 BGB), gehören auch die Kosten einer angemessenen Versicherung für den Fall des Alters sowie der verminderten Erwerbsfähigkeit zum Umfang des nachehelichen Unterhaltsanspruchs. cc) Herabsetzung und zeitliche Begrenzung nach § 1578b BGB Der Unterhaltsanspruch nach den ehelichen Lebensverhältnissen kann 879 nach der Bestimmung des § 1578b BGB1 auf den angemessenen Lebensbedarf (des Berechtigten) herabgesetzt oder zeitlich begrenzt werden, wenn eine an den ehelichen Lebensverhältnissen orientierte Bemessung des Unterhaltsanspruchs auch unter Wahrung der Belange eines dem Berechtigten zur Pflege oder Erziehung anvertrauten gemeinschaftlichen Kindes unbillig wäre. Nach § 1578b Abs. 3 BGB können beide Instrumente, die Herabsetzung und die zeitliche Begrenzung, verbunden werden. Im Rahmen einer umfassenden Billigkeitsabwägung ist dabei vorrangig zu berücksichtigen, inwieweit durch die Ehe Nachteile im Hinblick auf die Möglichkeit eingetreten sind, für den eigenen Unterhalt zu sorgen. In Abs. 1 S. 3 werden diese Nachteile beispielhaft aufgezählt: sie können sich aus der Dauer der Pflege oder Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes, aus der Gestaltung von Haushaltsführung und Erwerbstätigkeit während der Ehe sowie aus der Dauer der Ehe selbst ergeben. Eine Befristung des nachehelichen Unterhalts scheidet regelmäßig aus, wenn der Unterhaltsberechtigte über die Scheidung hinaus fortwirkende ehebedingte Nachteile erlitten hat. Allerdings beschränkt sich die Vorschrift nicht auf die Kompensation ehebedingter Nachteile, sie berücksichtigt nach dem Willen des Gesetzgebers2 auch eine nacheheliche Solidarität, deren Umfang wesentlich von dem Grad der wirtschaftlichen Verflechtung der geschiedenen Ehegatten abhängt. Sind Gesichtspunkte der nachehelichen Solidarität bei der auch dabei anzustellenden Billigkeitsabwägung zu beachten, ist der Unterhaltsanspruch regelmäßig nicht zu befristen, bzw. möglich ist es, den Unterhaltsanspruch auf den allgemeinen Lebensbedarf herabzusetzen Nach § 1578b BGB können alle nachehelichen Unterhaltsansprüche (§§ 1570 bis 1573, 1575, 1576 BGB) nach § 1578b BGB beschränkt werden3.
1 Eingeführt durch das Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts v. 21.12.2007, BGBl. I, S. 3189. 2 BT-Drucks. 16/1830, 19; dass die Vorschrift auch Raum für Gesichtspunkte der nachehelichen Solidarität lässt, ergibt sich aus der Verwendung des Wortes „insbesondere“ in Abs. 1 S. 2. 3 Im Gegensatz zu dem bis 31.12.2007 geltenden Recht, vgl. Rn. 1193 ff.
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Kap. 6 C Rn. 880
Ehegattenunterhalt
dd) Beschränkung oder Versagung des nachehelichen Unterhaltsanspruchs wegen grober Unbilligkeit nach § 1579 BGB 880
Nach § 1579 BGB kann der nacheheliche Unterhaltsanspruch versagt, herabgesetzt oder zeitlich begrenzt werden, soweit die Inanspruchnahme des Verpflichteten auch unter Wahrung der Belange eines dem Berechtigten zur Pflege oder Erziehung anvertrauten gemeinschaftlichen Kindes grob unbillig wäre. Die Vorschrift sieht in den Nummern 1 bis 7 Regelbeispiele vor, welche die Dauer und Höhe des nachehelichen Unterhaltsanspruchs beeinflussen und normiert in Ziffer 8 einen Auffangtatbestand für Gründe, die ebenso schwer wiegen wie die in den Nummern 1 bis 7 aufgeführten Gründe. Die Bestimmung, welche durch das 1. EheRG v. 14.6.1976 eingeführt (vgl. Rn. 882 f.), und seit ihrer Geltung mehrfach geändert worden ist (hierzu und zu weiteren Einzelheiten vgl. Rn. 1313 ff.) normiert als sog. negative Härteklausel (im Gegensatz zur positiven Härteklausel nach § 1576 BGB) Tatbestände, die im Rahmen einer Billigkeitsentscheidung das unterhaltsrechtliche Gleichgewicht wieder herstellen sollen, wenn sich der Unterhaltsberechtigte nicht an die Prinzipien der nachehelichen Solidarität hält, die er mit dem nachehelichen Unterhaltsanspruch selbst für sich in Anspruch nehmen will. b) Die Entwicklung der ehelichen Lebensverhältnisse in Gesetzgebung und Rechtsprechung aa) Der nacheheliche Unterhalt nach dem Ehegesetz v. 6.7.1938
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Das bis 1976 geltende Ehegesetz (EheG) machte den Unterhaltsanspruch davon abhängig, ob ein Ehegatte allein oder überwiegend oder beide Ehegatten die Scheidung verschuldet hatten. Nach § 58 EheG hatte nur ein allein oder überwiegend für schuldig erklärter Ehemann seiner geschiedenen Ehefrau den angemessenen Unterhalt nach den „Lebensverhältnissen der Ehegatten“ zu zahlen. Trugen dagegen beide Ehegatten ein beiderseits gleiches Trennungsverschulden, richtete sich der Unterhaltsanspruch nach § 60 EheG, der die Verpflichtung des anderen Ehegatten zur Gewährung eines Unterhaltsbeitrags von Billigkeitsabwägungen abhängig machte1. Entsprechend dem Vorschlag der Eherechtskommission hat der Gesetzgeber des 1. Eherechtsreformgesetzes (vgl. Rn. 882 f.) den in § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB genannten Begriff der ehelichen Lebensverhältnisse aus § 58 EheG übernommen und als Maßstab für die Höhe aller Unterhaltstatbestände gem. §§ 1570 ff. BGB eingeführt, nachdem er auf gesetzlicher Ebene den Übergang von der Verschuldensscheidung auf das Zerrüttungsprinzip vollzogen hatte.
1 Zu §§ 60, 63 EheG vgl. BGH v. 12.1.1983 – IVb ZR 345/81, FamRZ 1983, 258 (259).
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Rn. 884
Kap. 6 C
bb) Das gesetzgeberische Anliegen des 1. Eherechtsreformgesetzes v. 14.6.1976 Nach der Vorstellung des Gesetzgebers des 1. EheRG1 bezeichnen die 882 ehelichen Lebensverhältnisse den von Ehegatten im Lauf der Ehe erreichten wirtschaftlichen Status im Sinne eines Lebensstandards, sei es, dass die Eheleute ihn während der Ehe durch Einsatz von Arbeit und/oder Vermögen erreicht, sei es, dass sie ihn von Beginn der Ehe an übernommen und weitergeführt haben, wobei gleichgültig ist, welche „soziale Höhe“ im Einzelnen die Ehepartner am Ende ihrer Ehe erreicht haben. In diesem Sinn wird von Lebensstandardgarantie gesprochen, welche § 1578 BGB im Zusammenwirken mit anderen Vorschriften, insbesondere § 1573 Abs. 2 BGB (voller Unterhalt) gewährleistet und die verhindert, „dass der bedürftige Ehegatte – idR die Ehefrau – zu einem sozialen Abstieg gezwungen wird, obwohl das erreichte eheliche Lebensniveau als das Ergebnis der Leistung beider Ehegatten anzusehen ist“2. Das folgt aus der Entstehungsgeschichte des § 1578 BGB, dessen Regelung dem vor dem Inkrafttreten des 1. EheRG geltenden Recht entlehnt ist und das den allein oder überwiegend für schuldig erklärten Ehegatten unter den Voraussetzungen des § 58 EheG zu dem „nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt“ verpflichtete3 (vgl. Rn. 881). Das 1. EheRG, das die ehelichen Lebensverhältnisse in das neue verschuldensunabhängige Scheidungsrecht übernommen hat, will besonders den Fällen gerecht werden, in denen durch gemeinsame Leistung der Ehegatten ein höherer sozialer Status erreicht worden ist, an welchem auch der nicht erwerbstätige Ehegatte teilhaben müsse. Umgekehrt sollte der berechtigte Ehegatte aber nicht an Steigerungen des 883 Einkommens auf Seiten des Unterhaltsverpflichteten teilhaben, die nicht in der Ehe angelegt waren, zB der Karrieresprung des Verpflichteten nach der Ehe. Andererseits sollten die ehelichen Lebensverhältnisse das Maß des Unterhalts auch gegenüber Einkommensminderungen bestimmen, indem sie den Bedarf des unterhaltsberechtigten Ehegatten ein für allemal dauerhaft auf die ehelichen Lebensverhältnisse fixierten mit der Folge, dass schlechte Einkommensverhältnisse des Pflichtigen nach der Scheidung nicht den Bedarf, sondern nur dessen Leistungsfähigkeit beeinflussen konnten. Die an sich konservative, am Gedanken einer lebenslangen Absicherung des berechtigten Ehegatten orientierte Konzeption des Gesetzgebers ist bald nach Inkrafttreten des 1. EheRG kritisiert worden. Die Garantie eines 1 Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts v. 14.6.1976, BGBl. I, S. 1421; Borth, FamRZ 2001, 193 (194). 2 BVerfG v. 25.1.2011 – BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 m. Anm. Borth S. 445 und Gerhardt S. 537 ff. = FamRB 2011, 66; BVerfG v. 14.7.1981 – 1 BvL 28/77 (ua.), FamRZ 1981, 745 (750); BGH v. 27.4.1983 – IVb ZR 372/81, FamRZ 1983, 678. 3 Zum früheren Recht Dieckmann, FamRZ 1977, 73; Borth, FamRZ 2001, 193 (194); Klinkhammer, FF 2009 140 (141).
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Kap. 6 C Rn. 885
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unwandelbaren Lebensstandards wecke Versprechungen, die der Begriff der ehelichen Lebensverhältnisse nicht halten könne: Die Lebensbedingungen der Ehepartner, sei es als Alleinverdiener, sei es als Doppelverdienerehe, würden sich nach der Scheidung nachhaltig ändern, mit zwei Haushalten entstünden höhere Ausgaben, die Steuervergünstigungen fielen weg, Vorsorgekosten seien jetzt für zwei Personen zu finanzieren und für den anderen Ehepartner entfielen gesellschaftliche Teilnahmemöglichkeiten, die mit der Person des früheren Partners verbunden waren1. Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich aus dem auf einen bestimmten Zeitpunkt – den der Scheidung – eingestimmten Maßstab: Wie können in einem Unterhaltsrechtsverhältnis „ohne Ehe“ eheliche Lebensverhältnisse perpetuiert werden, wenn sich der nacheheliche Unterhaltsanspruch nach einem Einkommen richtet, welches der Berechtigte und/oder der Pflichtige nach der Scheidung erzielt? Die Kritik ist bis heute nicht verstummt2. cc) Der Bemessungszeitpunkt nach der früheren Rechtsprechung des BGH 885
Der Wortlaut des § 1578 BGB lässt offen, zu welchem Zeitpunkt die ehelichen Verhältnisse beurteilt werden müssen. Die Frage stellt sich insbesondere, wenn sich die Lebensverhältnisse nach der Scheidung verändern, zB der Pflichtige ein höheres Einkommen erzielt, weniger Einkommen zur Verfügung hat oder die Unterhaltspflicht für gemeinsame Kinder wegfällt. Der BGH hatte die Anbindung an die ehelichen Lebensverhältnisse nach § 1578 BGB für die Höhe des Unterhaltsanspruchs im Sinne eines strikten Stichtagsprinzips verstanden und den Unterhaltsbedarf allein nach den monetären Verhältnissen der Ehepartner während des Zusammenlebens beurteilt. Spätere Einkommensentwicklungen bis zum Zeitpunkt der rechtskräftigen Scheidung sollten nur dann den Bedarf beeinflussen, wenn sie schon in der Ehe angelegt waren3. Eine nicht absehbare Entwicklung nach der Trennung wurde dagegen beim Bedarf nicht berücksichtigt, so dass ein erst nach der Scheidung erzieltes Einkommen des Unterhaltsberechtigten in vollem Umfang mit der Anrechnungsmethode auf den ohne dieses Einkommen bemessenen Bedarf angerechnet wurde4. Später hat der BGH nicht mehr auf den Zeitpunkt der Trennung, sondern die Rechtskraft der Scheidung abgestellt und damit auf der Ebene des Bedarfs alle Veränderungen des Einkommens berücksichtigt, welche bis zu diesem Zeitpunkt eingetreten waren, zB der Wechsel der 1 Dieckmann, FamRZ 1977, 81 (86); Holzhauer, JZ 1977, 77. 2 Büttner, FamRZ 1984, 534; Laier, FamRZ 1993, 392; Büttner, FamRZ 1999, 893; Graba, FamRZ 1999, 1115; Gerhardt/Gutdeutsch, FuR 1999, 241; Gerhardt, FamRZ 2000, 134; Borth, FamRZ 2001, 193; Schürmann, NJW 2006, 2301. 3 BGH v. 23.11.1983 – IVb ZR 21/82, FamRZ 1984, 149 (150); BGH v. 23.11.1983 – IVb ZR 15/82, FamRZ 1984, 151 (152). 4 BGH v. 14.11.1984 – IVb ZR 38/83, FamRZ 1984, 161 (162); BGH v. 25.1.1984 – IVb 51/82, FamRZ 1984, 356 (357).
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Rn. 887
Kap. 6 C
Steuerklasse von III auf I auf Seiten des unterhaltspflichtigen Ehegatten nach Ablauf des Trennungsjahrs1 oder die Geburt eines weiteren Kindes vor der Rechtskraft der Scheidung aus einer neuen Beziehung des Unterhaltspflichtigen2. Änderungen, die nach der Scheidung eingetreten sind, waren nach dieser Rechtsprechung ausnahmsweise nur zu berücksichtigen, wenn ihnen eine Entwicklung zugrunde lag, die aus der Sicht im Zeitpunkt der Scheidung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten war und wenn ihre Erwartung die ehelichen Lebensverhältnisse bereits bestimmt hatte; eine solche, beim Bedarf zu berücksichtende Veränderung hatte der BGH zB angenommen, wenn Kreditraten erwartungsgemäß zu einem bestimmten nach der Scheidung liegenden Zeitpunkt entfallen sind3 oder bei dem Wegfall des während der Ehezeit geschuldeten Kindesunterhalts4. Eine dauerhafte Verbesserung des Einkommens wurde danach nicht be- 886 rücksichtigt, wenn sie auf einer unerwarteten und vom Normalverlauf erheblich abweichenden Entwicklung beruhte5. Einkommensminderungen dagegen konnten die ehelichen Lebensverhältnisse dann nicht beeinflussen, wenn sie auf einer Verletzung der Erwerbsobliegenheit des Verpflichteten beruhten6 oder durch freiwillige berufliche oder wirtschaftliche Dispositionen des Unterhaltsverpflichteten veranlasst wurden und durch zumutbare Vorsorgemaßnahmen hätten vermieden werden können7. dd) Die Surrogatrechtsprechung des BGH Einen ersten Paradigmenwechsel in Richtung auf die Einschränkung des 887 reinen Stichtagsprinzips hat der BGH mit der Surrogatrechtsprechung (s. Rn. 905 ff.) vollzogen. Es kommt nicht mehr darauf an, ob nacheheliche Entwicklungen schon zum Zeitpunkt der Scheidung die ehelichen Verhältnisse geprägt haben; maßgeblich ist, ob die nach der Scheidung eintretenden Veränderungen als Surrogat des wirtschaftlichen Werts der bisherigen Familientätigkeit angesehen werden können. Damit hatte sich der BGH von der Vorstellung der ehelichen Lebensverhältnisse als einer 1 BGH v. 16.6.1982 – IVb ZR 727/80, FamRZ 1983, 152 (153); BGH v. 11.5.1988 – IVb ZR 42/87, FamRZ 1988, 817. 2 BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 98/97, FamRZ 1999, 367; zum Trennungsunterhalt BGH v. 20.10.1993 – XII ZR 89/92, FamRZ 1994, 87. 3 BGH v. 16.3.1988 – IVb ZR 40/87, FamRZ 1988, 701 (703). 4 BGH v. 20.7.1990 – XII ZR 73/89, FamRZ 1990, 1085 (1087); BGH v. 16.3.1988 – IVb ZR 40/87, FamRZ 1988, 701 (703). 5 BGH v. 13.3.1982 – IVb ZR 661/80, FamRZ 1982, 576 (578). 6 BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 23/91, FamRZ 1992, 1045 (1047): Der Unterhaltspflichtige hatte seine Erwerbstätigkeit als selbständiger Handelsvertreter auf den Umfang einer Halbtagstätigkeit reduziert. 7 BGH v. 4.11.1987 – IVb ZR 81/86, FamRZ 1988, 145 (147): Der bisher als angestellter Arzt Unterhaltspflichtige ließ sich als selbständiger Facharzt für Gynäkologie nieder.
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statischen, auf die Vergangenheit bezogenen festen Größe endgültig erstmals entfernt. Der Surrogatgedanke ermöglicht eine Rückbindung der nachehelichen Veränderung an die ehelichen Lebensverhältnisse zum Zeitpunkt der Scheidung und fingiert damit eine nachehezeitliche Veränderung, welche die ehelichen Lebensverhältnisse noch umfasst. Diese Rechtsprechung des BGH bezog sich in erster Linie auf ein während der Ehezeit noch nicht absehbares oder erst nachehelich hinzugetretenes Einkommen des Unterhaltsberechtigten, welches somit bei der Bemessung der ehelichen Lebensverhältnisse berücksichtigt werden konnte, wenn es als Surrogat an die Stelle der ehelichen Hausarbeit und Kindererziehung getreten war1. Den Surrogatsgedanken hat der BGH auf weitere Fallgruppen ausgedehnt: auf das nacheheliche fiktive Einkommen, die Versorgung eines anderen Partners, auf das Renteneinkommen, auf überobligatorisches Einkommen, Zinsertäge aus dem Verkaufserlös einer während der Ehe als Familienheim genutzten Immobilie sowie an die Stelle der Nutzung tretenden Nutzungsentschädigung (Rn. 917). 888
Mit der Surrogatrechtsprechung hatte der BGH weitere Ausnahmen vom Stichtagsprinzip zugelassen und damit die Ausnahme zur Regel gemacht2. Diese Rechtsprechung konnte zu Verstößen gegen den Halbteilungsgrundsatz führen, wenn der Unterhaltspflichtige unverschuldet weniger verdiente und der Bedarf des Berechtigten wegen der Anbindung an den Stichtag unverändert fortgeschrieben werden musste. Der BGH hatte es im zuletzt genannten Fall abgelehnt, dies auf der Ebene der Leistungsfähigkeit mit einem variablen Selbstbehalt auszugleichen, sondern hat der Lösung den Vorzug gegeben, den Selbstbehalt als feste Größe bereits auf der Bedarfsebene zu berücksichtigten3. Diese Ungereimtheiten führten zur Aufgabe der Rechtsprechung, wonach die ehelichen Lebensverhältnisse auf einen bestimmten Stichtag bezogen werden; allerdings hat der BGH diese Rechtsprechung nicht expressis verbis aufgegeben, sondern mit den sog. wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen einen neuen Weg beschritten4. ee) Die wandelbaren ehelichen Lebensverhältnisse und das UÄndG 2007
889
Einen weiteren Schritt zur Flexibilisierung5 hatte der BGH mit seiner Rechtsprechung zu den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen vor1 BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986 m. Anm. Scholz FamRZ 2001, 1061 und Anm. Luthin, FamRZ 2001, 1065. 2 Schlünder, FamRZ 2009, 487. 3 BGH v. 17.12.2008 – XII ZR 9/07, FamRZ 2009, 411 (Tz. 20 bis 24) m. Anm. Borth = FamRB 2009, 101; BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (685) = FamRB 2006, 198. 4 Mit der Entscheidung BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, FamRZ 2003, 590 m. Anm. Büttner = FamRB 2003, 207 hat der BGH das auf die Rechtskraft der Scheidung bezogene Stichtagsprinzip aufgegeben. 5 Unter Flexibilisierung in diesem Sinn wird verstanden, dass vorteilhafte oder ungünstige Veränderungen des Einkommens nach der Scheidung unmittelbar den
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Rn. 890
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genommen. Die Vorschrift des § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB will nach Ansicht des BGH keine die früheren ehelichen Lebensverhältnisse unverändert fortschreibende Lebensstandardgarantie begründen, die nur in den Grenzen fehlender Leistungsfähigkeit des unterhaltspflichtigen Ehegatten „nach unten korrigiert“ werden könnte. Das Recht des nachehelichen Unterhalts beabsichtigt eine solche Absicherung nicht, sondern will im Grundsatz nur die Risiken der mit der Scheidung fehlgeschlagenen Lebensplanung der Ehegatten angemessen ausgleichen. Das Unterhaltsrecht will die Ehegatten nach der Scheidung wirtschaftlich nicht besserstellen als sie ohne die Scheidung stünden. Bei Fortbestehen der Ehe hätte der berechtigte Ehegatte die ungünstige wirtschaftliche Entwicklung des anderen Ehegatten mittragen müssen: Die Scheidung nimmt ihm dieses Risiko nicht ab. Das hatte erhebliche Konsequenzen. Die Anbindung an den Stichtag ist damit überholt, die Rechtskraft als Zäsur hat keine Bedeutung mehr, vgl. Rn. 1049 ff. Spätere Veränderungen des Einkommens sind beim nachehelichen Unterhalt grundsätzlich zu berücksichtigen, unabhängig davon, ob sie vor Rechtskraft der Ehescheidung oder erst später eingetreten sind und grundsätzlich auch unabhängig davon, ob es sich um Einkommensminderungen oder -verbesserungen handelt1. Die Berücksichtigung einer nachehelichen Einkommensminderung findet ihre Grenze erst in der nachehelichen Solidarität der geschiedenen Ehegatten: Der Unterhaltspflichtige darf einen Unterhaltsanspruch nicht leichtfertig gefährden (zu Einzelheiten vgl. Rn. 1069). Nach Scheidung eintretende, unverschuldete Einkommensminderungen wirken sich auf die ehelichen Lebensverhältnisse aus – sie verringern nach Ansicht des BGH bereits den Bedarf und sind nicht erst auf der Ebene der Leistungsfähigkeit mit § 1581 BGB zu korrigieren, wenn sich die Ehegatten auch bei Fortbestand ihrer Ehe auf diese Veränderungen hätten einrichten müssen, und zwar auch dann, wenn die Einkommenseinbuße bei der Scheidung noch nicht voraussehbar war2. Schließlich macht der mit dem UÄndG 2007 eingeführte § 1578b BGB 890 (Rn. 1199 ff.) den vom BGH bereits im Jahr 20033 eingeleiteten und hin-
Bedarf beeinflussen, nicht erst die Leistungsfähigkeit; der Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen ist nicht mehr auf eine feste Größe fixiert, sondern passt sich den nachehelichen Veränderungen an. 1 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 (972) = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173. 2 BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, FamRZ 2003, 590 m. Anm. Büttner, FamRZ 2003, 594 und Graba, FamRZ 2003, 746 = FamRB 2003, 207; BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (849) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220; BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 51/03, FamRZ 2006, 387 (388) = FamRB 2006, 103 und FamRB 2006, 104; BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 m. Anm. Borth, FamRZ 2006, 852; Braeuer, FamRZ 2006, 1489; Schürmann, NJW 2006, 2301; Luthin, FamRB 2006, 198; Born, NJW 2007, 26; ausführlich zu den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen (die Rspr. des BGH zusammenfassend) Viefhues ZFE 2010, 288 ff. und 333 ff. 3 BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, FamRZ 2003, 590 = FamRB 2003, 207.
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Kap. 6 C Rn. 891
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sichtlich der Befristung im Jahr 20061 vollzogenen Paradigmenwechsel deutlich: weg von der ursprünglichen Konzeption der lebenslangen Lebensstandardgarantie als einer konstanten Größe zu einem Unterhaltsrecht hin, das auf die Kompensation von Nachteilen angelegt ist, welche die Vorschrift vorrangig an Einschränkungen (ehebedingte Nachteile) festmacht, die sich aus der konkreten Rollenverteilung in der Ehe für die Erwerbstätigkeit des Unterhaltsberechtigten nach der Scheidung ergeben. Der nacheheliche Unterhaltsanspruch kann in solchen Fällen betragsmäßig herabgesetzt oder die ehelichen Lebensverhältnisse können zeitlich beschränkt werden. Damit verbunden ist zwangsläufig ein Funktionswandel des nachehelichen Unterhalts in Richtung auf den Ausgleich ehebedingter Nachteile anstelle der lebenslangen Versorgung auf der Grundlage des einmal in der Ehe erreichten Status. Das erklärte Ziel des Reformgesetzgebers ist, unter dem Gesichtspunkt der Eigenverantwortung, die nachehelichen Unterhaltsansprüche zu begrenzen2. ff) Die Entscheidung des BVerfG v. 25.1.2011 891
Das Bundesverfassungsgericht3 hat die Rechtsprechung des BGH zu den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen und die darauf gestützte Dreiteilungsmethode für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Die Rechtsprechung des BGH bedeute einen Systemwechsel, stehe mit dem normativen Konzept des Unterhaltsrechts in Widerspruch und überschreite damit die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung. Sie lasse sich auch mit den herkömmlichen juristischen Auslegungsmethoden nicht rechtfertigen und schließlich habe der Gesetzgeber das Rechtsprechungsmodell des BGH nicht mit dem Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts v. 21.12.2007 (BGBl. I S. 3189; vgl. Rn. 890) gebilligt. Die Entscheidung hat eine Fülle literarischer Stellungnahmen ausgelöst, die teilweise die Entscheidung des BVerfG kritisieren, teilweise Berechnungsalternativen zum Problem der Unterhaltskonkurrenz zwischen geschiedenem und aktuellem Ehepartner vorstellen4. gg) Die weitere Entwicklung
892
Im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG ist der BGH zu seiner bisherigen Rechtsprechung zurückgekehrt, wonach für die Bedarfsbemessung nach den ehelichen Lebensverhältnissen der Stichtag der rechtskräftigen Scheidung maßgebend ist. Danach werden die ehelichen Lebensver1 BGH v. 12.4.2006 – XII ZR 240/03, FamRZ 2006, 1006 = FamRB 2006, 263, zu dieser Entscheidung vgl. Rn. 1233. 2 BT-Drucks. 16/1830, S. 18; Schürmann, FuR 2008, 183. 3 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 = FamRB 2011, 66. 4 Borth, FamRZ 2011, 445; Gerhardt, FamRZ 2011, 537; Götz/Brudermüller, NJW 2011, 801 (ausführlich auch zur bisherigen Entwicklung der Rspr. des BGH); Graba FF 2011, 102; Gutdeutsch, FamRZ 2011, 523; Viefhues ZFE 2011, 124; zu einer interessanten Vergleichsstudie der verschiedenen literarischen Rechnungsmodelle der Literatur vgl. Hauß, FamRB 2011, 183 ff.
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Rn. 894
Kap. 6 C
hältnisse nach § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB grundsätzlich durch die Umstände bestimmt, die bis zu dem Zeitpunkt eintreten, in welchem die Scheidung rechtskräftig wird. Aber auch Umstände, die erst nach der Ehescheidung entstanden sind und einen Anknüpfungspunkt in den ehelichen Lebensverhältnissen haben, können Einfluss auf die ehelichen Lebensverhältnisse haben. Dagegen haben Umstände, die keinen Zusammenhang mit den ehelichen Verhältnissen haben, keine Auswirkungen auf den Unterhaltsbedarf wie zB die Unterhaltspflicht gegenüber dem neuen Ehegatten und gegenüber einem erst nach der Rechtskraft der Scheidung geborenen Kind (vgl. Rn. 1053, 1150)1. c) Bedarf und Obergrenze des Unterhaltsanspruchs Das Maß (also die Höhe) und der Umfang bilden nach dem Sprach- 893 gebrauch der Praxis den sog. Bedarf; das ist der Anteil, welcher den Ehegatten an den eheprägenden Mitteln zusteht und der grundsätzlich nach dem sog. Halbteilungsgrundsatz (Rn. 1159 ff.) mit der Hälfte der beiden zusammengerechneten Einkommen berechnet wird, weil beide Ehegatten grundsätzlich in gleicher Höhe an den ehelichen Lebensverhältnissen teilhaben2. Als Bindeglied zwischen den ehelichen Lebensverhältnissen und dem konkreten Unterhaltsanspruch bezeichnet er den in Geld ausgedrückten Status, der die gemeinsame wirtschaftliche Lebensleistung der Ehegatten am Ende der Ehe (einschließlich der nach der Scheidung eintretenden Veränderungen) abbildet. Jeder Unterhaltsanspruch setzt als ungeschriebene Voraussetzung einen Bedarf voraus, der auch gleichzeitig die Obergrenze des Unterhaltsanspruchs markiert. Beispiele: M hat ein monatliches Nettoeinkommen von 2800 Euro. F verfügt über ein solches von 700 Euro und führt im Übrigen den Haushalt. Das gemeinsame Einkommen beträgt somit 3500 Euro. Nach dem Halbteilungsgrundsatz stellt die Hälfte hiervon, also 1750 Euro, den Bedarf der F – den vollen Unterhalt – dar; dieser ist gleichzeitig mit 1750 Euro die Obergrenze des Unterhaltsanspruchs. Zieht man hiervon das eigene Einkommen der F ab: 1750 Euro – 700 Euro = 1050 Euro, ergibt sich der ungedeckte Bedarf = der Unterhaltsanspruch. Der Bedarf ist für beide Ehegatten gleich: Im Ergebnis haben beide Ehegatten 1750 Euro: die Ehefrau 700 Euro (Eigenverdienst) und einen Unterhaltsanspruch von 1050 Euro = 1750 Euro, der Ehemann 2800 Euro (Eigenverdienst) abzüglich den gezahlten Unterhalt von 1050 Euro = 1750 Euro.
Die ehelichen Lebensverhältnisse gehen weiter als der Bedarf: Sie um- 894 fassen alles und werden von dem geprägt, was für den Lebenszuschnitt der Ehegatten nicht nur vorübergehend tatsächlich von Bedeutung ist, also die gemeinsamen Barmittel iHv. insgesamt 3500 Euro (vgl. Beispiel oben), die Tätigkeit der F im Haushalt, die in der Ehe erworbenen Rentenanwart1 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281, Tz. 16 ff. 2 BGH v. 26.9.1990 – XII ZR 45/89, FamRZ 1991, 304 (305); BGH v. 10.10.1990 – XII ZR 99/89, FamRZ 1991, 307 (310); BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (685) = FamRB 2006, 198.
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Kap. 6 C Rn. 895
Ehegattenunterhalt
schaften sowie alle sonstigen beruflichen, gesundheitlichen, familiären Faktoren. Die Prägung beschreibt also den Zustand, welche (wirtschaftlichen, persönlichen, familiären, beruflichen) Faktoren die ehelichen Lebensverhältnisse dauerhaft beeinflussen bzw. beeinflusst haben. Beispiel (Abwandlung): Verdient F nach der Scheidung statt 700 Euro jetzt 1000 Euro, berechnet sich der Bedarf mit 2800 Euro + 1000 Euro = 3800 Euro : 2 = 1900 Euro. Der ungedeckte Bedarf = Unterhaltsanspruch beläuft sich auf 1900 Euro – 1000 Euro = 900 Euro.
895
Nach der Surrogatrechtsprechung (Rn. 905 ff.) prägt das erhöhte Einkommen der F den Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen, obwohl es erst nach der Scheidung erzielt wird; die dargestellte Berechnungsmethode nennt man Additionsmethode (Rn. 1190), weil beide Einkommen addiert werden. Bei der Differenzmethode (Rn. 1185) wird das geringere Einkommen vom höheren abgezogen und die Hälfte der Differenz ist der Unterhaltsanspruch: 2800 Euro – 1000 Euro = 1800 Euro : 2 = 900 Euro. Die Differenzmethode ist eine verkürzte Form der Additionsmethode und kommt daher immer zu dem gleichen Ergebnis wie die Additionsmethode. Je nachdem, welche Leitlinien zugrunde gelegt werden, ergeben sich unterschiedliche Berechnungsweisen. Nach Ziff. 15.1. der Düsseldorfer Leitlinien (Stand 1.9.2010) beträgt der Bedarf des berechtigten Ehegatten 3/7 der Erwerbseinkünfte des anderen Ehegatten und 4/7 der eigenen Erwerbseinkünfte sowie 1/2 der sonstigen Einkünfte beider Eheleute. Nach Ziff. 15.2 der unterhaltsrechtlichen Leitlinien der Familiensenate in Süddeutschland (SüdL Stand 1.1.2012) gilt der Halbteilungsgrundsatz, wobei jedoch Erwerbseinkünfte nur zu 90 % zu berücksichtigen sind (Abzug von 1/10 Erwerbstätigenbonus vom bereinigten Nettoeinkommen bei der Bedarfsermittlung.
896
Nicht zu rechnen ist wie folgt: 1750 Euro – 700 Euro = 1050 Euro – 300 Euro (Mehrverdienst der F nach der Ehe) = Euro 750. Bei dieser Anrechnungsmethode (Rn. 1185, 1191) bleiben die ehelichen Lebensverhältnisse nämlich auf den Zeitpunkt der Scheidung festgeschrieben; der Mehrverdienst der F von 300 Euro wird bei dieser Methode als die ehelichen Lebensverhältnisse nicht prägendes Einkommen angesehen und vom Unterhaltsanspruch (nicht vom Bedarf) abgezogen (eben „angerechnet“). Die Anrechnungsmethode kommt zu einem für den Berechtigten ungünstigeren Ergebnis als die Additions- bzw. Differenzmethode. Die Anrechnungsmethode wird nur noch in wenigen Ausnahmefällen angewendet (Rn. 1191).
897
Ein Faktor, beispielsweise das Einkommen, kann sich auf der Ebene des Bedarfs oder auf der Ebene der Bedürftigkeit (oder der Ebene der Leistungsfähigkeit) oder auf beiden Ebenen auswirken, mit unterschiedlichen Konsequenzen für die Höhe des Unterhaltsanspruchs.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 900
Kap. 6 C
Beispiel (Abwandlung): Verdient F nach der Scheidung statt 700 Euro jetzt 1000 Euro, wirkt sich der erhöhte Verdienst auf der Ebene ihres Bedarfs und derjenigen ihrer Bedürftigkeit aus: Der Bedarf hat sich jetzt von bisher 1750 Euro auf 1900 Euro erhöht, und auf der Ebene der Bedürftigkeit wird der Mehrverdienst von 300 Euro wieder abgezogen. Tritt F dagegen nach der Scheidung eine Erbschaft an und erzielt daraus monatlich Zinseinkünfte von 200 Euro, wirkt sich dies nur auf der Ebene der Bedürftigkeit aus: Der Unterhaltsanspruch berechnet sich mit 1900 Euro – 1000 Euro (eigener Verdienst der F) – 200 Euro (Zinseinkünfte) = 700 Euro; die Einkünfte aus der Erbschaft haben die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt und können daher den Bedarf nicht beeinflussen. Bei überobligatorischen Einkünften scheidet die Rechtsprechung Einkommensteile aus, die sich weder auf der Ebene des Bedarfs noch auf derjenigen der Bedürftigkeit oder Leistungsfähigkeit auswirken (Rn. 920 ff.).
Der Bedarf ist nicht mit der Bedürftigkeit zu verwechseln; Letztere ist – 898 neben anderen – eine Voraussetzung des Unterhaltsanspruchs und meint, dass der Unterhaltsberechtigte seinen Lebensunterhalt nicht mit eigenen Mitteln bestreiten kann. Bedürftigkeit ist das Angewiesensein auf die Mittel des Verpflichteten. Dagegen ist der Bedarf der Anteil, welcher dem berechtigten und dem verpflichteten Ehegatten an den gemeinsamen Barmitteln zusteht. In den Beispielen ist F in Höhe des ungedeckten Bedarfs bedürftig. Die Düsseldorfer Tabelle verwendet den Begriff Bedarfskontrollbetrag1; dabei handelt es sich um eine Methode, die Mittel auf den Ehegattenund den Kindesunterhalt angemessen zu verteilen. Der Bedarfskontrollbetrag hat nichts mit dem Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen und nichts mit der Bedürftigkeit als Voraussetzung eines Unterhaltsanspruchs zu tun.
899
d) Prüfungsreihenfolge bei der Bemessung des Bedarfs In einem ersten Schritt ist die Frage aufzuwerfen, wonach sich das Maß 900 des nachehelichen Unterhaltsanspruchs richtet: die Faktoren, welche die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt haben, sind von den nicht prägenden Faktoren zu unterscheiden. Nur die Erstgenannten sind als Aktivoder Passivposten in den Bedarf einzustellen, die Letzteren sind auf dieser Prüfungsebene nicht zu berücksichtigen. Beispiel: M hat zum Zeitpunkt der Scheidung ein monatliches Nettoeinkommen von 2800 Euro und bedient ehebedingte Schulden in Höhe monatlich 192,50 Euro. F verdient monatlich 700 Euro. Nach der Scheidung erbt F ein Vermögen, aus welchem ihr monatliche Kapitaleinkünfte von 150 Euro zustehen. Die ehelichen Lebensverhältnisse werden durch das beiderseitige Einkommen von M und F und die monatlichen Schulden geprägt; die Einkünfte aus Kapitalvermögen iHv. 150 Euro haben die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt und bleiben auf der Ebene des Bedarfs als nicht prägender Faktor unberücksichtigt. 1 Düsseldorfer Tabelle, Stand 1.1.2011, A. Kindesunterhalt und Anm. 6, www. famrb.de.
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Kap. 6 C Rn. 901 901
Ehegattenunterhalt
Zweitens ist die Bedarfsbemessung durchzuführen, was bedeutet, dass alle prägenden Faktoren aktiviert bzw. passiviert und addiert bzw. subtrahiert werden. Die Erwerbseinkünfte sind nicht zu 100 % in den Bedarf einzustellen; es sind entsprechende Abschläge zu vorzunehmen: die beruflichen Aufwendungen und der Erwerbsanreiz (Rn. 1168 ff.). Die übrigen Positionen sind entweder zum vollen Nennbetrag oder in einer bewerteten Form (wie zB beim Wohnvorteil) zu berücksichtigen. Der Bedarf wird als monatlicher Geldbetrag ausgedrückt. Beispiel: Das Erwerbseinkommen von M und F ist zunächst pauschal um die berufsbedingten Aufwendungen iHv. 5 % zu bereinigen1: 2800 Euro – 140 Euro = 2660 Euro und 700 Euro – 35 Euro = 665 Euro. Von den verbleibenden Beträgen ist jeweils der Erwerbstätigenbonus iHv. 10 % abzuziehen2: 2660 Euro – 266 Euro = 2394 Euro und 665 Euro – 66,50 Euro = 598,50 Euro. Die bereinigten Beträge werden addiert (aktiviert) 2394 Euro + 598,50 Euro = 2992,50 Euro und der monatlich zu zahlende Schuldenbetrag wird abgezogen (passiviert) 2992,50 – 192,50 Euro = 2800 Euro = gemeinsamer Bedarf der Eheleute.
902
Nach dem Halbteilungsgrundsatz (Rn. 1159 ff.) steht jedem Ehegatten ein gleich hoher Anteil am gemeinsamen Bedarf zu. In einem dritten Schritt ist der mit dem eigentlichen Unterhaltsanspruch identische ungedeckte Bedarf zu ermitteln, indem von dem Bedarfsanteil des Berechtigten seine eigenen Einkünfte – vermindert um die berufsbedingten Aufwendungen und den Erwerbstätigenbonus – sowie diejenigen Einkünfte abgezogen werden, welche die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt haben, dem Berechtigten jedoch zur Verfügung stehen. Beispiel: Der Bedarfsanteil der F beträgt 2800 Euro : 2 = 1400 Euro, wovon zunächst ihr eigenes bereinigtes Einkommen abgezogen wird: 1400 Euro – 598,50 Euro = 801,50 Euro. Der Bedarf der F wird aber nicht nur durch ihr eigenes Einkommen gedeckt, sondern auch durch weiteres, nicht prägendes Kapitaleinkommen, welches von dem Bedarf abgezogen wird (§ 1577 Abs. 1 BGB): 801,50 Euro – 150 Euro = 651,50 Euro. In Höhe des zuletzt genannten Betrags ist der Bedarf der F nicht gedeckt, so dass sich der Unterhaltsanspruch gegen M auf 651,50 Euro beläuft.
903
Weiter ist – viertens – das Ergebnis auf seine Angemessenheit (Rn. 1192) zu überprüfen: Beispiel: M steht monatlich ein Betrag von 2800 Euro – 192,50 Euro (Schulden) – 651,50 Euro (nachehelicher Unterhalt) = 1956 Euro zu; F steht 700 Euro + 651,50 Euro + 150 Euro (Kapitaleinkünfte) = 1501,50 Euro zu. Das Ergebnis ist angemessen und gibt keine Veranlassung, eine Korrektur nach Gesichtspunkten der Angemessenheit vorzunehmen.
1 SüdL, Stand 1.1.2011 Ziff. 10.2 und Düsseldorfer Tabelle, Stand 1.1.2011, A Ziff. 3. 2 SüdL, Stand 1.1.2011 Ziff. 15.2 und Düsseldorfer Tabelle, Stand 1.1.2011, BI, 1, www.famrb.de.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 905
Kap. 6 C
Schließlich ist – fünftens – zu untersuchen, ob der errechnete Unterhaltsanspruch nach § 1578b Abs. 2 und 3 BGB herabzusetzen oder zeitlich zu befristen ist (Rn. 1206 ff.). Das hängt davon ab, inwieweit durch die Ehe Nachteile im Hinblick auf die Möglichkeit eingetreten sind, für den eigenen Unterhalt zu sorgen. Solche Nachteile können sich aus der Dauer einer Kinderbetreuungszeit, aus der Gestaltung von Haushaltsführung und Erwerbstätigkeit sowie aus der Dauer der Ehe ergeben. Grundsatz: Liegen ehebedingte Nachteile vor, ist der nacheheliche Unterhaltsanspruch grundsätzlich nicht zu befristen; liegenallerdings kann er auf den Ersatzmaßstab des angemessenen Lebensbedarfs (Rn. 1224 ff.) herabgesetzt werden. Liegen keine ehebedingten Nachteile vor, ist der Unterhaltsanspruch grundsätzlich – nach einer Übergangszeit, deren Dauer der Tatrichter zu bestimmen hat – zu befristen.
904
Beispiel: F hat das Kind aus der Ehe mit M während eines Zeitraums von zehn Jahren betreut und versorgt; in dieser Zeit ist sie keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Nach der Scheidung gelingt es ihr zunächst nur, eine Teilzeitbeschäftigung zu finden. Erst nach sieben Jahren findet sie eine vollschichtige Tätigkeit in ihrem vor der Ehe erlernten Beruf als Sekretärin. Zum Zeitpunkt der Scheidung bestehen ehebedingte Nachteile, da die F während der Betreuung des Kindes keiner Erwerbstätigkeit nachgehen konnte. Also ist der Unterhalt nicht zu befristen. Erst nachdem die F eine vollschichtige Tätigkeit gefunden hat, kann nach einer Übergangszeit an eine Befristung ihres nachehelichen Unterhaltsanspruchs gedacht werden. Abwandlung: F hat während der Ehe ihre vor der Ehe erlernte Tätigkeit als Sekretärin vollschichtig fortsetzen können, weil ihre Mutter in der Zeit der Berufstätigkeit das gemeinsame Kind versorgt und betreut hat. Hier liegen zum Zeitpunkt der Scheidung keine ehebedingten Nachteile vor, weil die F während der Dauer der Ehe keine Einbuße in ihrer Erwerbsbiografie hinnehmen musste. Nach einer Übergangszeit kann der Unterhaltsanspruch der F befristet werden. Ist die Ehe von langer Dauer, kommt auch eine Herabsetzung auf den allgemeinen Lebensbedarf in Frage.
3. Die ehelichen Lebensverhältnisse a) Die Surrogatrechtsprechung Mit der Grundsatzentscheidung v. 13.6.20011, die auf ein breites Echo der 905 Fachwelt2 gestoßen ist, hat der BGH seine über zwanzig Jahre praktizierte Rechtsprechung3 zu den ehelichen Lebensverhältnissen geändert. Die Entscheidung beeinflusst eine Reihe praxisrelevanter Fragen: Der BGH 1 BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986. m. Anm. Scholz, FamRZ 2001, 1061; Luthin, FamRZ 2001, 1065 = FamRB 2002, 3. 2 Borth, FamRZ 2001, 1653; Büttner, FamRZ 2003, 641; Gerhardt, FamRZ 2003, 272; Scholz, FamRZ 2003, 265; Scholz, FamRZ 2002, 733, Anm. z. BVerfG v. 5.2.2002 – 1 BvR 559/95 und 1 BvR 457/96, FamRZ 2002, 527; Maier, NJW 2002, 3359. 3 BGH v. 8.4.1981 – IVb ZR 566/80, FamRZ 1981, 539 (541); BGH v. 4.11.1981 – IVb ZR 625/80, FamRZ 1982, 255 (257); BGH v. 14.11.1984 – IVb ZR 38/83, FamRZ 1985, 161 = BGH v. 14.11.1984 – IVb ZR 38/83, FamRZ 1985, 161 (162);
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Kap. 6 C Rn. 906
Ehegattenunterhalt
hat die Leistungen des haushaltführenden Ehegatten neu bewertet, den Begriff der ehelichen Lebensverhältnisse neu bestimmt und seine langjährige Rechtsprechung zur sog. Anrechnungsmethode zugunsten der Differenzmethode aufgegeben. Konkret geht es darum, wie sich Veränderungen nach der Scheidung, zB die Erwerbstätigkeit des Unterhaltsberechtigten, auf die ehelichen Lebensverhältnisse auswirken. 906
Hatte während der Ehe nur ein Ehegatte Einkommen bezogen und der andere den Haushalt geführt, so ging die frühere Rechtsprechung davon aus, dass die ehelichen Lebensverhältnisse nur durch dieses Einkommen bestimmt wurden, nicht auch durch die Haushaltstätigkeit und Familienleistungen des anderen Ehegatten, obwohl diese der Erwerbstätigkeit des anderen Ehegatten gleichwertig1 angesehen wurden. Beispiel: M hat ein bereinigtes Nettoeinkommen von 2800 Euro, F hat kein eigenes Einkommen aus Erwerbstätigkeit, führt jedoch den Haushalt und betreut die gemeinsamen Kinder. Der Unterhaltsanspruch der F berechnete sich nach der älteren Rechtsprechung ausschließlich nach den Barmitteln von 2800 Euro in Höhe einer Quote vom Einkommen des M, also zB 3/7 von 2800 Euro = 1200 Euro, ohne dass die Haushaltsführung und Kinderbetreuung als Einkommen beim Bedarf bewertet wurden und damit in die Unterhaltsberechnung eingeflossen wären.
907
Einkommen, welches der bisher den Haushalt führende Ehegatte erst nach der Scheidung erzielte, prägte die ehelichen Lebensverhältnisse nicht. Der Unterhalt wurde in solchen Fällen berechnet, indem zunächst aus dem Erwerbseinkommen des verdienenden Ehegatten eine Quote gebildet und das eigene Einkommen des Berechtigten, welches dieser nach der Scheidung bezog, von dieser Quote abgezogen wurde (sog. Anrechnungsmethode Rn. 1185, 1191); die Tätigkeit des zuvor nicht erwerbstätigen, den Haushalt führenden Ehegatten wurde in dieser Berechnung als eigener Posten des Bedarfs nicht berücksichtigt. Beispiel: M hat ein bereinigtes Nettoeinkommen von 2800 Euro, F hatte während der Ehe kein eigenes Einkommen, sie führte den Haushalt und betreute die gemeinsamen Kinder. Nach der Scheidung verdient sie 700 Euro. Nach der Anrechnungsmethode stehen ihr zu 2800 Euro : 2 = 1400 Euro (Bedarf) – 700 Euro (eigenes Einkommen) = 700 Euro nachehelicher Unterhalt zu.
908
Weil die so ermittelte Quote zwangsläufig nicht immer ausreichte, den vollen Bedarf des Berechtigten zu decken, forderte die Rechtsprechung – insoweit systemwidrig2 – eine Korrektur: Das Ergebnis sollte auf seine Angemessenheit überprüft und ggf. korrigiert werden; hierfür stand die Scholz, FamRZ 2003, 265 (266) und Borth, FamRZ 2001, 193 (195) auch zur früheren Rspr. 1 BGH v. 14.11.1984 – IVb ZR 38/83, FamRZ 1985, 161. 163; BGH v. 23.4.1986 – IVb ZR 34/85, FamRZ 1986, 783 (785). 2 Spangenberg, FamRZ 1991, 269; Graba, FamRZ 2002, 857 (858); Schürmann, NJW 2006, 2301.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 911
Kap. 6 C
Rechtsfigur des trennungsbedingten Mehrbedarfs (Rn. 985 ff.) zur Verfügung1. Anders dagegen, wenn zum Zeitpunkt der Scheidung beide Ehepartner erwerbstätig waren; in diesen Fällen – so die Rechtsprechung – haben beide Einkommen die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt. Der Bedarf wurde dann nach der sog. Additions- bzw. Differenzmethode (Rn. 1185 ff., 1190) berechnet2.
909
Beispiel: M hat ein bereinigtes Nettoeinkommen von 2800 Euro, F – während der Ehe – ein solches von 700 Euro. Additionsmethode: 2800 Euro + 700 Euro = 3500 Euro : 2 = 1750 Euro – 700 Euro = 1050 Euro. Hatte F die Erwerbstätigkeit erst nach der Ehe aufgenommen, standen ihr nur 700 Euro zu, vgl. Beispiel oben.
Die ungleiche Behandlung (meistens) der Ehefrau, je nachdem, ob sie die 910 Erwerbstätigkeit vor oder nach einer Scheidung aufgenommen hat, liegt auf der Hand: Kam die Anrechnungsmethode zur Anwendung, stand ihr ein wesentlich geringerer Anspruch auf Unterhalt zu, als wenn sie bereits während der Ehe eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hatte. Die Höhe des jeweiligen Anspruchs auf Unterhalt hing damit von dem Zufall ab, wann die Ehefrau die Erwerbstätigkeit aufgenommen hatte – vor oder nach der Scheidung. b) Der erweiterte Begriff der ehelichen Lebensverhältnisse Nach früherer Rechtsprechung hatten nur wirtschaftliche Faktoren die 911 ehelichen Verhältnisse nach § 1578 BGB bestimmt, nämlich die zum Zeitpunkt der Scheidung vorhandenen Barmittel und Nutzungsmöglichkeiten3. Jetzt – nach geänderter Rechtsprechung – werden darunter alle wirtschaftlich relevanten, beruflichen, gesundheitlichen, familiären und ähnlichen Faktoren verstanden, welche die ehelichen Lebensverhältnisse mitbestimmt haben4. Es kommt auf das Gesamtbild der ehelichen Lebensverhältnisse an, wozu eine gewisse Dauer gehört (Prägung). Die ehelichen Lebensverhältnisse umfassen alles, was während der Ehe für den Lebenszuschnitt der Ehegatten nicht nur vorübergehend tatsächlich von Bedeutung war5. Die ursprünglich auf eine monetäre Dimension redu1 BGH v. 8.4.1981 – IVb ZR 566/80, FamRZ 1981, 539 (541); BGH v. 4.11.1981 – IVb ZR 625/80, FamRZ 1982, 255 (257); BGH v. 14.11.1984 – IVb ZR 38/83, FamRZ 1985, 161 (162). 2 BGH v. 13.9.1979 – IV ZR 189/77, FamRZ 1979, 692 (693); BGH v. 8.4.1981 – IVb ZR 566/80, FamRZ 1981, 539 (541). 3 Beispielhaft: BGH v. 11.2.1987 – IVb ZR 20/86, FamRZ 1987, 459 (460); BGH v. 29.3.1995 – XII ZR 45/94, FamRZ 1995, 869 (870). 4 BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986 (989) = FamRB 2002, 3; Scholz, FamRZ 2003, 265; Gerhardt, FamRZ 2003, 272; Büttner, FamRZ 2003, 641. 5 Diese Formulierung findet sich bereits in der Entscheidung des BGH v. 11.2.1987 – IVb ZR 20/86, FamRZ 1987, 459 (461).
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657
Kap. 6 C Rn. 912
Ehegattenunterhalt
zierte Verengung dieses Begriffs hat der BGH mit dieser Entscheidung aufgegeben zugunsten einer Erweiterung auf alle Faktoren, die den Charakter der ehelichen Lebensverhältnisse zum Zeitpunkt der Scheidung geprägt haben. 912
An der Bewertung der Familienleistung des nicht erwerbstätigen Ehegatten im Sinne der Gleichwertigkeit hat sich nichts geändert. Es bleibt bei dem mit Verfassungsrang1 ausgestatteten Grundsatz der Gleichwertigkeit von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit. Auch werden die Haushaltstätigkeit und die Kinderbetreuung bei der konkreten Unterhaltsberechnung nach wie vor nicht berücksichtigt, etwa in dem Sinne, dass die Familienarbeit sich in einem konkreten Betrag als Einkommen beim Bedarf ausdrückt2; denn durch reine Familienarbeit wird kein Einkommen erzielt. Allerdings wird eine Neubewertung insofern vorgenommen, als bei einer nach Scheidung aufgenommenen Erwerbstätigkeit unterstellt wird, es handele sich dabei lediglich um die Fortsetzung der ursprünglichen Familientätigkeit unter anderen Vorzeichen („Surrogat“). Mit dieser neuen Sichtweise gelingt es, die nach der Scheidung begonnene Erwerbstätigkeit als Fortsetzung der ehelichen Haushaltstätigkeit und Kindesbetreuung zu fingieren und als Folge davon eine Unterhaltsberechnung vorzunehmen, als hätte die Ehefrau die Erwerbstätigkeit bereits vor der Ehe aufgenommen, mit der weiteren Folge, dass die nach der Scheidung aufgenommene Erwerbstätigkeit die ehelichen Verhältnisse zum Zeitpunkt vor der Scheidung mitbestimmt („geprägt“) hat. c) Die praktischen Folgen der Surrogatrechtsprechung aa) Das Ende der Anrechnungsmethode
913
Die praktische Folge dieser Rechtsprechung ist das Ende der Anrechnungsmethode in diesen Fällen: Nimmt der Ehepartner, der bisher in der intakten Ehe die Familiendienste übernommen hatte, während der Trennung oder nach der Scheidung eine Erwerbstätigkeit auf, wird die daraus erzielte Vergütung als Aktivposten in den Bedarf eingestellt. Als Folge ergibt sich ein höherer Unterhaltsanspruch, weil sich der Bedarf des Berechtigten erhöht. Die Nachteile, die mit der Anrechnungsmethode verbunden waren, entfallen damit. Beispiel: M hat ein bereinigtes Nettoeinkommen von 2800 Euro, F ist während der Ehe nicht berufstätig gewesen, weil sie den Haushalt führte und die Kinder versorgte. Nach der Scheidung hat sie ein bereinigtes Nettoeinkommen von 700 Euro. Zum Rechenweg vgl. Beispiele Rn. 893 ff.
1 BVerfG v. 5.2.2002 – 1 BvR 105/95, 1 BvR 559/95 und 1 BvR 457/96, FamRZ 2002, 527 (529) = FamRB 2002, 97. 2 So aber das OLG München v. 12.10.1999 – 4 UF 57/99, FamRZ 2000, 613 (LS): „Für die die ehelichen Lebensverhältnisse prägende Haushaltsführung ist … ein fiktives Geldeinkommen einzusetzen.“
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Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 915
Kap. 6 C
bb) „Aktivierbare Bedarfsposten“ Familiendienste wie Haushaltstätigkeit und Kindesbetreuung sind in der neueren Literatur als „schlafende Werte“1 oder „stille Reserve“2 bezeichnet worden; denn solange diese Tätigkeiten in der intakten Ehe erbracht werden, haben sie im Fall der Trennung und Scheidung noch keinen Einfluss auf den Bedarf. Erst mit der späteren Erwerbstätigkeit aktiviert sich der „schlafende Wert“ der früheren Haushaltstätigkeit zum Surrogat ihres wirtschaftlichen Werts. Die Familiendienste, die während der Ehe erbracht wurden, sind damit für den nachehelichen Unterhaltsanspruch latente, jederzeit aktivierbare Bedarfsposten, die sich nach Trennung und Scheidung realisieren, wenn der Berechtigte eine Erwerbstätigkeit ausübt, die als Surrogat der früheren Familienarbeit angesehen werden kann.
914
cc) Anspruch auf gleiche Teilhabe Die Anrechnungsmethode und die sich daraus ergebende ungleiche Be- 915 handlung des nicht erwerbstätigen Ehegatten waren Gegenstand der Entscheidung des BVerfG v. 5.2.20023. Das BVerfG hat es als mit Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG unvereinbar angesehen, wenn nur solche Einkommenszuwächse nach der Scheidung beim Unterhalt berücksichtigt werden, die ein Ehegatte schon während der Ehe als Teil- oder Vollerwerbstätiger erzielt hat, nicht solche, die erst nach der Scheidung mit einer neu aufgenommenen Teil- oder Vollerwerbstätigkeit verdient werden. Gestalten die Ehegatten ihr Ehe- und Familienleben mit gleichem Recht und in gleicher Verantwortung, sind auch Leistungen, welche die Ehegatten in dem gemeinsamen Arbeits- und Aufgabenmodell erbringen, als gleichwertig anzusehen. Familiendienste haben unabhängig von der ökonomischen Bewertung keinen geringeren Wert als die Erwerbstätigkeit – kein Beitrag eines Ehegatten ist höher oder niedriger zu bewerten als der des anderen. Sind also Leistungen, die Ehegatten in gemeinsamer Solidarität für den Lebensunterhalt erbringen, gleichwertig, haben beide Ehegatten grundsätzlich auch Anspruch auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten, das ihnen zu gleichen Teilen zuzuordnen ist. Dies gilt nicht nur für die intakte Ehe, sondern auch nach Trennung und Scheidung für Unterhalt, Versorgung und Aufteilung des gemeinsamen Vermögens. Beim Unterhalt ist das Einkommen, das den Lebensstandard der Ehe geprägt hat, den Ehegatten grundsätzlich hälftig zuzuordnen.
1 Born, FamRZ 2002, 1603 (1609); Born, FR 2001, 183 (187); Born, FamRZ 2004, 1175 (1176). 2 Maier, NJW 2002, 3359 (3360). 3 BVerfG v. 5.2.2002 – 1 BvR 105/95, 1 BvR 559/95 und 1 BvR 457/96, FamRZ 2002, 527 = FamRB 2002, 97 m. Anm. Scholz, FamRZ 2002, 733.
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Kap. 6 C Rn. 916
Ehegattenunterhalt
dd) Gewandeltes Rollenverständnis 916
Die Wahl einer Alleinverdienerehe, bei welcher ein Partner einer Erwerbstätigkeit nachgeht und der andere die Familienarbeit übernimmt, stellt sich nicht so sehr als eine einmalige, die ehelichen Lebensverhältnisse auf alle Zeiten unabänderlich prägende Entscheidung der Eheleute dar, sondern wird zunehmend als erziehungsbedingte Erwerbspause innerhalb einer Berufsbiografie angesehen, in der – aus den verschiedensten Gründen – Zeiten der Berufstätigkeit mit solchen der Familienarbeit und der Kindererziehung wechseln1. Das Scheitern der Ehe durchkreuzt die Phasen einer solchen Familienkonzeption eher zufällig. Die Ehepartner von Gesetzes wegen gerade auf diejenige Phase festzulegen, die zufällig bei Trennung und Scheidung eingetreten ist, bedeutet, den langfristigen Planungscharakter von Erwerbsbiografien und Berufsentscheidungen zulasten eines Partners, meist der Ehefrau, zu negieren, zumal die berufliche Abstinenz des einen oder anderen Partners ganz verschiedene Motive haben kann. In diesem Sinn sprechen auch das BVerfG und der BGH von einem geänderten Rollenverständnis der Frau in der modernen Ehe. Einige Autoren meiden daher den Begriff des Surrogats2.
917
Der BGH hat den Surrogatgedanken nicht nur auf die nacheheliche Tätigkeit der unterhaltsberechtigten Ehefrau, sondern auch auf andere Veränderungssachverhalte nach der Scheidung angewendet: auf fiktives Einkommen3, Versorgung eines anderen Partners4, Renteneinkommen5, überobligatorisch erzieltes Einkommen6, Zinserträge aus dem Veräußerungserlös der Immobilie7 sowie auf die an die Stelle der Nutzung tretende Nutzungsentschädigung8. d) Die maßgeblichen Einkünfte
918
Um die ehelichen Lebensverhältnisse zu bestimmen, sind grundsätzlich alle Einkünfte heranzuziehen – ohne Rücksicht auf die Herkunft oder den Verwendungszweck9. Handelt es sich um öffentliche Leistungen, ist der soziale Zweck nicht ohne weiteres maßgebend. Entscheidend ist, ob
1 Zum gewandelten Rollenverständnis auch Klinkhammer, FamRZ 2007, 1205 (1210). 2 Zum Ganzen auch Scholz, FamRZ 2003, 265 (267–269). 3 BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986 = FamRB 2002, 3. 4 BGH v. 5.9.2001 – XII ZR 336/99, FamRZ 2001, 1693 = FamRB 2002, 4. 5 BGH v. 31.10.2001 – XII ZR 292/99, FamRZ 2002, 88 = FamRB 2002, 65, FamRB 2002, 66 und FamRB 2002, 79. 6 BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 121/03, FamRZ 2005, 442 (444) = FamRB 2005, 97. 7 BGH v. 3.5.2001 – XII ZR 62/99, FamRZ 2001, 1140 (1143). 8 BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354. 9 BGH v. 24.2.1988 – IVb ZR 3/87, FamRZ 1988, 604 (606); BGH v. 2.11.1988 – IVb ZR 7/88, FamRZ 1989, 170 (172).
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Ehegattenunterhalt
Rn. 920
Kap. 6 C
die Einkünfte für den Lebensbedarf zur Verfügung stehen. Kindergeld ist kein Einkommen und bestimmt daher nicht den Bedarf1. aa) Erwerbseinkommen Erwerbseinkommen prägt die ehelichen Lebensverhältnisse, wenn es 919 nachhaltig erzielt wird. Die Nachhaltigkeit ist der Maßstab für die ehelichen Lebensverhältnisse und allein aus ihr kann auf die Dauerhaftigkeit der finanziellen Mittel geschlossen werden, mit denen die Eheleute den Lebensbedarf befriedigt haben. Sie ist zudem ein dem Unterhaltsrecht immanentes Kriterium, wie sich dem Wortlaut der §§ 1573 Abs. 4, 1575 Abs. 1 S. 1 BGB entnehmen lässt2. In der Praxis wird dem Postulat der Nachhaltigkeit auf unterschiedliche Weise Rechnung getragen: Bei Lohnund Gehaltsempfängern ist das durchschnittliche Nettoeinkommen eines zeitnahen Jahreszeitraums maßgebend und bei Selbständigen wird für das unterhaltsrechtlich relevante Einkommen ein Mindestzeitraum von drei Jahren zugrunde gelegt, um Schwankungen zu nivellieren; aus den gleichen Gründen kann auch bei Vermögenseinkünften ein längerer Zeitraum gewählt werden. (1) Erwerbseinkommen aus überobligatorischer Tätigkeit (a) Überobligatorisches Einkommen Überobligatorisch ist eine Erwerbstätigkeit vor allem dann, wenn der ein 920 gemeinsames Kind betreuende Ehegatte mehr arbeitet als das Unterhaltsrecht (oder eine vertragliche Vereinbarung) von ihm verlangt. Die Grenze, ab der eine Erwerbstätigkeit überobligatorisch ist, wird durch die sog. Erwerbsobliegenheit markiert, die bestimmt, ab welchem Zeitpunkt (zB Alter des zu betreuenden Kindes) ein Ehegatte gehalten ist, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen (oder eine bisherige Tätigkeit auszuweiten). Geht die ausgeübte Erwerbstätigkeit über den zeitlichen Mindestumfang hinaus, den die Erwerbsobliegenheit vorgibt, oder ist der betreuende Ehegatte zu einem Zeitpunkt erwerbstätig, in welchem er hierzu noch nicht verpflichtet ist, ist das daraus erzielte Erwerbseinkommen überobligatorisch. Hauptanwendungsfälle einer überobligatorischen Tätigkeit sind die Erwerbstätigkeit neben der Betreuung von Kleinkindern sowohl auf Seiten des Pflichtigen als auch des Berechtigten (vgl. die folgende Rn. 921) sowie die Erwerbstätigkeit sowohl des Berechtigten als auch des Verpflichteten nach Erreichen der Regelaltersgrenze3.
1 BGH v. 16.4.1997 – XII ZR 233/95, FamRZ 1997, 806 m. Anm. Spangenberg, S. 1272; BGH v. 19.7.2000 – XII ZR 161/98, FamRZ 2000, 1492 m. Anm. Scholz und Weychardt FamRZ 2001, 414. 2 MüKo/Maurer, § 1578 BGB Rn. 2 und 6; BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 23/91, FamRZ 1992, 1045; Erman/Graba, § 1578 BGB Rn. 15. 3 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2012, 454 Rn. 15 ff.: das gilt gleichermaßen für abhängig Beschäftigte und Selbständige.
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Kap. 6 C Rn. 921
Ehegattenunterhalt
921
Die Leitlinien der OLGe regeln den Umfang der Erwerbsobliegenheit des ein Kind (oder mehrere Kinder) betreuenden Ehegatten einheitlich in Ziff. 17: Bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres eines Kindes besteht keine Erwerbsobliegenheit des berechtigt betreuenden Ehegatten1. Etwas ausführlicher beschreiben die Leitlinien des OLG Hamm den Umfang der Erwerbsobliegenheit: Maßgebend sind Billigkeitsgesichtspunkte im Einzelfall, insbesondere die Möglichkeiten der Kinderbetreuung, die Belange des Kindes (etwa Fremdbetreuungsfähigkeit, physischer und psychischer Gesundheitszustand) und der tatsächlichen bzw. geplanten Rollenverteilung der Eltern in der Ehe sowie der Dauer der Ehe. In einem Alter des Kindes von mehr als drei Jahren kann daher vielfach schon eine geringfügige Tätigkeit erwartet werden, die über eine halbschichtige bis hin zu einer vollschichtigen auszudehnen ist2.
922
Unabhängig von der Betreuung von Kindern besteht für den Berechtigten im ersten Jahr nach der Trennung idR keine Obliegenheit, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder auszuweiten3.
923
Ein weiterer Anwendungsfall überobligatorischer Tätigkeit liegt vor, wenn der Pflichtige das 65. Lebensjahr vollendet hat und nach Eintritt in den Ruhestand eine bisher ausgeübte Tätigkeit fortsetzt4 (oder aufnimmt), vgl. Rn. 1074. (b) Ist überobligatorisches Einkommen bedarfsprägend?
924
Nach der früheren Rechtsprechung des BGH war Erwerbseinkommen aus einer überobligatorischen Tätigkeit nicht als bedarfsprägend angesehen worden, weil es durch eine unzumutbare und deshalb die ehelichen Lebensverhältnisse nicht nachhaltig prägende Erwerbstätigkeit erzielt wurde, die jederzeit wieder aufgegeben werden konnte5. Solches Einkommen konnte daher nur bedarfsdeckend nach § 1577 Abs. 2 S. 2 BGB, also nach der Billigkeit, berücksichtigt werden. In der Praxis wurde das überobligatorisch erzielte Einkommen in aller Regel zur Hälfte angerechnet, dh. es wurde von dem ohne dieses Einkommen ermittelten ungedeckten Bedarf nach der Anrechnungsmethode abgezogen6. 1 ZB Ziff. 17 SüdL, Stand 1.1.2012. Danach bestimmt sich seine Obliegenheit zur Erwerbstätigkeit nach den Umständen des Einzelfalls. 2 Maurer weist in der Anm. zu BGH v. 13.4.2005 – XII ZR 273/02, FamRZ 2005, 1823 (1824) = FamRB 2005, 225 und FamRB 2005, 226, zu Recht darauf hin, dass die Frage der Erwerbsobliegenheit allzu sehr am Alter und weniger an der konkreten Betreuungssituation des Kindes und den Abreden der Eheleute festgemacht wird, wann eine Erwerbstätigkeit aufgenommen werden soll; Gerhardt, NJWSpezial 2008, 228 im Zusammenhang mit dem Betreuungsbonus. 3 Ziff. 17. 2 SüdL. 4 BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (684) = FamRB 2006, 198. 5 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 117/96, FamRZ 1998, 1501; zur Kritik an der früheren Rspr. Scholz, 2002, 733 (734). 6 BGH v. 5.9.2001 – XII ZR 108/00, FamRZ 2001, 1687 (1690) = FamRB 2002, 12.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 927
Kap. 6 C
Der BGH hat seine Rechtsprechung inzwischen geändert: Ob und in wel- 925 chem Umfang überobligatorisches eigenes Einkommen des geschiedenen Berechtigten zu berücksichtigen ist, kann nicht pauschal beantwortet werden und entzieht sich einer schematischen Beurteilung; die besonderen Umstände des Einzelfalls sind maßgebend1. Sie entscheiden darüber, ob ein Teil des Einkommens auf Seiten des Berechtigten anrechnungsfrei ist. Die Höhe dieses anrechnungsfreien Teils hängt davon ab, wie die Betreuung der Kinder mit den konkreten Arbeitszeiten zu vereinbaren ist, wobei die erforderlichen Fahrtzeiten zu berücksichtigen sind, weiter davon, ob die Kinder zu bestimmten Zeiten anderweitig beaufsichtigt werden und insofern zeitweise nicht der Betreuung des berechtigten Elternteils bedürfen2. Weiter ist bei der Billigkeitsentscheidung nach § 1577 Abs. 2 S. 2 BGB das Einkommen zu berücksichtigen, welches der betreuende Ehegatte im Vergleich zum Pflichtigen verdient3. Eine freiwillige Berufstätigkeit kann ein maßgebendes Indiz dafür sein, inwieweit die Betreuung der Kinder mit den Arbeitsmöglichkeiten vereinbar ist4. Nach dieser geänderten Rechtsprechung wird das überobligatorische Ein- 926 kommen aufgeteilt in einen anrechnungsfreien und einen unterhaltsrelevanten Teil: Der unterhaltsrelevante Teil ist eheprägendes Surrogat und damit Bestandteil des Bedarfs nach den ehelichen Lebensverhältnissen; nur insoweit kann davon gesprochen werden, dass der überobligatorische Teil des Einkommens die ehelichen Lebensverhältnisse prägt. Der anrechnungsfreie Teil ist nicht Bedarfsposten und fällt bei der eigentlichen Unterhaltsberechnung vollständig unter den Tisch5. (c) Berechnung Zunächst ist festzustellen, ob überobligatorisches Einkommen insgesamt oder nur teilweise vorliegt. Stammt das gesamte Einkommen des Ehegatten aus einer überobligatorisch ausgeübten Tätigkeit, sind der anrechnungsfreie und der unterhaltsrelevante Teil zu ermitteln. Das richtet sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. Die Praxis hilft sich vereinfachend oft damit, den anrechnungsfreien Teil mit 2/3 und den unter-
1 BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 121/03, FamRZ 2005, 442 (444) m. Anm. Schilling = FamRB 2005, 97; BGH v. 13.4.2005 – XII ZR 273/02, FamRZ 2005, 1154 m. Anm. Gerhardt, S. 1158 und Maurer, S. 1823 = FamRB 2005, 225 und FamRB 2005, 226. 2 BGH v. 29.11.2000 – XII ZR 212/98, FamRZ 2001, 350; BGH v. 13.4.2005 – XII ZR 273/02, FamRZ 2005, 1154 m. Anm. Gerhardt, S. 1158 und Maurer, S. 1823 = FamRB 2005, 225 und FamRB 2005, 226. 3 BGH v. 13.4.2005 – XII ZR 273/02, FamRZ 2005, 1154 (1156) m. Anm. Gerhardt, S. 1158 und Maurer, S. 1823 = FamRB 2005, 225 und FamRB 2005, 226. 4 BGH v. 23.9.1981 – IVb ZR 600/80, FamRZ 1981, 1159 (1181). 5 So auch Maurer, BGH v. 13.4.2005 – XII ZR 273/02, FamRZ 2005, 1823 (1824) = FamRB 2005, 225 und FamRB 2005, 226; Leitlinien zum Unterhaltsrecht OLG Hamm, Stand 1.1.2012 Ziff. 17.3, www.famrb.de.
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Kap. 6 C Rn. 928
Ehegattenunterhalt
haltsrelevanten mit 1/3 anzusetzen1. Nach Ansicht des OLG Stuttgart ist derjenige Teil des Einkommens anrechnungsfrei, den der Berechtigte – wäre er nicht berufstätig – benötigen würde, um zusammen mit dem Unterhaltsanspruch gegen den Pflichtigen wenigstens den notwendigen Eigenbedarf sicherzustellen2. 928
Wird ein Teil des Einkommens regulär, dh. in Erfüllung der Erwerbsobliegenheit, ein anderer überobligatorisch erzielt, ist zunächst der reguläre Teil auszuscheiden und in die Bedarfsberechnung einzustellen; der verbleibende überobligatorische Rest ist in den anrechnungsfreien und den unterhaltsrelevanten Teil aufzuteilen.
929
Das regulär erzielte Einkommen ist zusammen mit dem unterhaltsrelevanten Teil eheprägend; beide Einkommen sind mit der Additionsmethode bzw. Differenzmethode im Bedarf zu erfassen und bedarfsdeckend abzuziehen. Der anrechnungsfreie Betrag fällt bei der Berechnung des Unterhalts völlig unter den Tisch und wird auch nicht mit der Anrechnungsmethode bedarfsdeckend abgezogen3. Beispiel: (nach BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 882 = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231) M verdient (nach Abzug von Kindesunterhalt) 1250 Euro netto, F ist zu 3/4 einer vollen Stelle erwerbstätig und verdient 750 Euro netto; sie betreut ein zwölfjähriges gemeinsames Kind. Zunächst ist der reguläre, nicht überobligatorische Teil des Einkommens festzustellen; es soll angenommen werden, dass F eine Erwerbsobliegenheit in Höhe einer Halbtagsbeschäftigung hat, die sie – was unterstellt wird – mit den Schulzeiten des Kindes problemlos vereinbaren kann. Der reguläre, nicht überobligatorische Teil ist damit 500 Euro (3/4 = 750 Euro; 4/4 = 1000 Euro; 1/2 = 500 Euro), der überobligatorische Teil 250 Euro (750 Euro – 500 Euro). Vom überobligatorischen Teil sollen zwei Drittel anrechnungsfrei bleiben: 2/3 von 250 Euro = 166 Euro; Dieser Betrag wird nicht in die Berechnung aufgenommen, er fällt unter den Tisch. Der unterhaltsrelevante Teil beträgt 1/3 von 250 Euro = 84 Euro; dieser Betrag wird im Weg der Additionsmethode bzw. Differenzmethode – weil eheprägend – in den Bedarf eingestellt genauso wie der reguläre Teil: 1250 Euro + 500 Euro + 84 Euro = 1834 Euro : 2 = 917 Euro = Bedarf der F; ungedeckter Bedarf = Unterhaltsanspruch der F: 917 Euro – 500 Euro – 84 Euro = 333 Euro (der Frage, ob der Selbstbehalt des Pflichtigen überschritten wird, soll hier nicht nachgegangen werden).
930
Der BGH legt Wert auf die Feststellung, dass der anrechnungsfreie Teil des überobligatorischen Einkommens „vollständig unberücksichtigt“4 1 BGH v. 13.4.2005 – XII ZR 273/02, FamRZ 2005, 1823 (1824) = FamRB 2005, 225 und FamRB 2005, 226; so auch im Ergebnis BGH v. 13.4.2005 – XII ZR 273/02, FamRZ 2005, 1154 = FamRB 2005, 225 und FamRB 2005, 226. 2 OLG Stuttgart v. 18.5.2006 – 11 UF 333/05, FamRZ 2007, 150 (151). 3 BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 882 (887) m. Anm. Born = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231. 4 BGH v. 13.4.2005 – XII ZR 273/02, FamRZ 2005, 1154 (1157) = FamRB 2005, 225 und FamRB 2005, 226.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 932
Kap. 6 C
bleibt. Tatsächlich lässt sich dieser Teil des Einkommens nach der Surrogatrechtsprechung im Unterhaltsschema (Rn. 900 ff.) nicht verorten, weder auf der Ebene des Bedarfs, noch der Bedürftigkeit. Würde dieser Einkommensanteil mit der Anrechnungsmethode berücksichtigt werden, würde dies der Surrogatrechtsprechung widersprechen, mit der diese Methode gerade aufgegeben wurde. Wird der anrechnungsfreie Teil dagegen mit der Additions- bzw. Differenzmethode berücksichtigt, stünde der Unterhaltsberechtigte wie ein Unterhaltsberechtigter, dem ein in gleicher Höhe erzieltes Einkommen in vollem Umfang zurechenbar ist und das deswegen insgesamt mit der Additions- bzw. Differenzmethode berücksichtigt wird. Es bleibt daher nur der Weg, den anrechnungsfreien Teil zu negieren. (d) Konkreter Betreuungsaufwand und abstrakter Betreuungsbonus Der betreuende Elternteil hat grundsätzlich den Mehraufwand selbst zu 931 tragen, der entsteht, wenn das Kind von dritten Personen betreut wird (Tagesmutter; Ganztagsschule; Betreuung durch einen neuen Partner), vgl. auch Rn. 978. Der überobligatorisch tätige Ehegatte kann jedoch den konkreten Betrag des Betreuungsaufwands (sog. konkreter Betreuungsaufwand) von seinem Einkommen abziehen1. Allerdings wird der anrechnungsfreie Betrag auch dann berücksichtigt, wenn keine konkreten Betreuungskosten anfallen, etwa, weil Angehörige oder ein neuer Partner das Kind betreuen2. Die neue Fassung des Betreuungsunterhalts nach § 1570 BGB seit dem 932 1.1.20083 hat die Erwerbsobliegenheit bei Betreuung von Kindern auf den Zeitpunkt ab dem vollendeten dritten Lebensjahr des Kindes vorverlagert und damit dem Betreuungsbonus einen neuen Stellenwert eingeräumt. Der betreuende Ehegatte ist nämlich früher als nach altem Recht und schon im früheren Kindesalter der doppelten Belastung von Beruf und Betreuung in der Freizeit ausgesetzt. Der damit verbundene teils finanzielle, teils organisatorische Mehraufwand lässt sich oft nicht in konkreten Zahlen messen und kann daher nur pauschal berücksichtigt werden – vergleichbar dem Erwerbstätigenbonus, der den mit dem Beruf verbundenen Mehraufwand ebenfalls nur pauschal erfasst. Es wird daher vorgeschlagen, diesen Betreuungsbonus pauschal neben den konkreten Betreuungskosten zu berücksichtigen4. 1 BGH v. 19.5.1982 – IVb ZR 702/80, FamRZ 1982, 779 (780); BGH v. 26.1.1983 – IVb ZR 344/81, FamRZ 1983, 569 (570); BGH v. 29.11.2000 – XII ZR 212/98, FamRZ 2001, 350 (352); KG v. 5.7.2005 – 13 UF 9/05, FamRZ 2006, 341 = FamRB 2006, 71; BGH v. 13.4.2005 – XII ZR 273/02, FamRZ 2005, 1154 (1156) m. Anm. Maurer, FamRZ 2005, 1823 = FamRB 2005, 225 und FamRB 2005, 226. 2 BGH v. 13.4.2005 – XII ZR 273/02, FamRZ 2005, 1154 m. Anm. Maurer, FamRZ 2005, 1823 = FamRB 2005, 225 und FamRB 2005, 226. 3 Durch das UÄndG 2007. 4 Gerhardt, NJWSpezial 2008, 228 schlägt zwischen 5 und 30 % des Nettoeinkommens neben den konkreten Betreuungskosten vor.
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Kap. 6 C Rn. 933
Ehegattenunterhalt
Beispiel: F betreut nach der Scheidung von M das gemeinsame vierjährige Kind, das vormittags von Nachbarn gegen monatliche Zahlung von 200 Euro versorgt wird. Sie erzielt ein Nettoeinkommen von 500 Euro. Zieht man nach SüdL (Stand 1.1.2012 vom Einkommen der F 5 % berufsbedingte Aufwendungen (25 Euro) und den Erwerbstätigenbonus von 10 % (47,50 Euro) ab, ergibt sich als bereinigtes Einkommen 427,50 Euro. Hiervon sind die konkreten Betreuungskosten von 200 Euro abzuziehen: 427,50 Euro – 200 Euro = 227,50 Euro. Bei einem Betreuungsbonus von 15 % sind etwas mehr als 34 Euro anzusetzen.
933
Das Beispiel zeigt, dass der pauschale, nach Prozenten des bereinigten Einkommens berechnete Betreuungsbonus dem Berechtigten weder eine deutliche finanzielle Verbesserung bringt noch annähernd den tatsächlichen, nicht messbaren Mehraufwand ausgleichen kann, der durch die doppelte Belastung F mit Beruf und Kindesbetreuung entsteht. Daran ändert sich auch nichts, wenn die 15 % von dem nicht bereinigten Einkommen iHv. 500 Euro berechnet werden; auch dann würde sich nur ein geringfügiger Betrag von 75 Euro (=15 % von 500 Euro) ergeben.
934
Die doppelte Belastung des betreuenden Unterhaltsberechtigten in diesen Fällen ist genauso wenig von der Hand zu weisen wie das Problem zu lösen ist, sie in konkreten Zahlen zu messen. Wie hoch ein solcher Bonus ausfällt, wird sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu richten haben. Der konkrete Vortrag sollte das Gericht in die Lage versetzen, den Mehraufwand nach § 287 ZPO zu ermitteln. Das Einkommen des Berechtigten ist dabei jedenfalls bei Kleinkindern ein ungeeigneter Anknüpfungspunkt, weil der Betreuende in diesem Alter des Kindes in aller Regel ein geringes Einkommen haben wird.
Û
Praxistipp: Zu den konkreten Umständen des Einzelfalls hat der Rechtsanwalt ausführlich vorzutragen. Empfehlenswert ist, den Tageslauf des Betreuenden sorgfältig darzulegen: wann der Kindergarten beginnt, wie das Kind dorthin gebracht wird, wann es abgeholt wird und wie sich der Nachmittag gestaltet: Hinfahren zu Spielgruppen, Musikunterricht, sportliche Veranstaltungen, Arzttermine, und die Betreuung in den Abendstunden. Bei Schulkindern sollte zum Stundenplan und zum Schulweg vorgetragen werden, zu den Aktivitäten in der Freizeit und ob bzw. wie die Hausaufgaben überwacht werden. Wichtig ist auch, ob und ggf. welche Lernerfolge das Kind in der Schule hat, ob Nachhilfestunden erforderlich sind. Weiter ist von Bedeutung, wie es in den Schulferien betreut und versorgt wird, wie die Versorgung bei Krankheiten des Kindes sichergestellt ist und in welchem Umfang der andere Elternteil zur Betreuung während der Woche beiträgt. Schließlich kann wichtig sein, inwieweit die Betreuung durch Nachbarn, Großeltern, Freunde und Eltern von Klassenkameraden übernommen werden kann und ob die Wegstrecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem eigenen Pkw zurückgelegt werden müssen.
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Rn. 937
Kap. 6 C
(e) Überobligatorisches Einkommen und Partnerversorgung Versorgt der berechtigte Ehegatte neben der überobligatorischen Erwerbstätigkeit einen neuen Lebenspartner, sind diese Leistungen nicht hinzuzurechnen, wenn die Beschäftigung zu 75 % ausgeübt wird. Die ehelichen Lebensverhältnisse werden dann nur vom Erwerbseinkommen, nicht von den Versorgungsleistungen für den neuen Partner geprägt1.
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(2) Tatsächliches und fiktives Einkommen Die ehelichen Lebensverhältnisse werden (neben anderen Faktoren) 936 grundsätzlich nur durch Einkünfte geprägt, die den Ehegatten tatsächlich während der intakten Ehe zur Verfügung gestanden haben. Nur gedachte wirtschaftliche Verhältnisse, die keine Grundlage in den Einkommensverhältnissen der Ehegatten haben, können die ehelichen Lebensverhältnisse nicht prägen. Ein Unterhaltsbedarf kann daher nicht aus Mitteln hergeleitet werden, über welche die Ehegatten während der Ehe nicht oder nicht nachhaltig verfügen konnten, etwa wenn die Einkünfte erst aus der Verwertung von Vermögen und anschließendem Verbrauch stammen2 oder wenn ein Ehegatte ein höheres Einkommen hätte erzielen können, dieses aber unterlassen hat und die Ehegatten sich mit einem geringeren Lebensstandard zufrieden gegeben haben3. Ausnahmsweise richtet sich der Bedarf aber nach einem fiktiven Ein- 937 kommen, wenn die Einkommensminderung darauf zurückzuführen ist, dass der Unterhaltspflichtige eine Erwerbsobliegenheit verletzt hat, Einkommen zu erzielen, oder wenn die Minderung des Einkommens auf einer freiwilligen beruflichen oder wirtschaftlichen Dispositionen des Pflichtigen beruht, die mit einer zumutbaren Vorsorge hätte aufgefangen4 oder verhindert werden können. Daher können fiktive Einkünfte die ehelichen Lebensverhältnisse5 ebenso prägen; sie sind mit der Additionsbzw. Differenzmethode in den Bedarf einzustellen.
1 2 3 4
OLG Stuttgart v. 18.5.2006 – 11 UF 333/05, FamRZ 2007, 150. BGH v. 20.11.1996 – XII ZR 70/95, FamRZ 1997, 281 (284). BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 23/91, FamRZ 1992, 1045. BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (853) m. Anm. Hoppenz, S. 854 (855) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220; BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 23/91, FamRZ 1992, 1045 (1047); BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, FamRZ 2003, 590 = FamRB 2003, 207 m. Anm. Büttner, FamRZ 2003, 594 und Graba, S. 746; BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (849) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220; BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 51/03, FamRZ 2006, 387 (388) = FamRB 2006, 103 und FamRB 2006, 104. 5 BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986 (991) = FamRB 2002, 3; BGH v. 7.9.2005 – XII ZR 311/02, FamRZ 2005, 1979 (1981) = FamRB 2006, 70; BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 (1535) m. Anm. Maurer = FamRB 2007, 290.
Schlünder
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Kap. 6 C Rn. 938 938
Ehegattenunterhalt
Neben der selbstverschuldeten Erwerbsminderung setzt der Ansatz fiktiver Einkünfte voraus, dass für den Berechtigten eine reale Beschäftigungschance auf dem Arbeitsmarkt besteht, eine angemessene Erwerbstätigkeit zu finden. Insoweit obliegt dem Berechtigten die Darlegungsund Beweislast für seine Bedürftigkeit. Die pauschale Behauptung, altersund gesundheitsbedingt nicht vermittelbar zu sein, genügt nicht1.
Û
Praxistipp: Oft macht der Ehegatte, der keine ausreichenden Erwerbsbemühungen unternommen hat, im Unterhaltsverfahren geltend, auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbar zu sein, und kaschiert damit seine Obliegenheitsverletzung, sich nicht ausreichend um eine Erwerbstätigkeit bemüht zu haben. Das läuft, so der BGH in der Entscheidung v. 4.7.2007, auf einen reinen Ausforschungsbeweis hinaus. Andererseits stellt sich die Frage, welchen Sachvortrag man von demjenigen verlangen kann, der sich nicht ausreichend um eine Arbeitsstelle beworben hat2. Dessen ungeachtet ist es Aufgabe des Anwalts, zur fehlenden Beschäftigungschance konkret vorzutragen. Ein Gespräch mit dem Sachbearbeiter der Agentur für Arbeit kann hier weiterhelfen sowie weiterer Vortrag zur Ausbildung, zur bisherigen Berufsbiografie, zum Alter, zur Gesundheit sowie zu den sonstigen familiären und sozialen Verhältnissen. Auch wird im städtischen Bereich eher eine Berufstätigkeit zu finden sein als in infrastrukturschwachen oder ländlich geprägten Gebieten. Erfolgversprechender erscheint es allerdings, dem Mandanten zu intensiven Bewerbungsbemühungen über einen längeren Zeitraum zu raten, die sorgfältig dokumentiert und zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden sollten. Des Weiteren sollte sich der Mandant bei der Agentur für Arbeit Arbeit suchend melden und die dort gegebenen, modernen Kommunikationsmöglichkeiten ausschöpfen; daneben sollten die Inserate der lokalen Presseorgane ausgewertet werden.
939
Ist eine mietfrei genutzte Ehewohnung für den nach Trennung oder Scheidung dort bleibenden Ehegatten zu groß oder zu aufwendig, kann ihn die Obliegenheit treffen, den nicht genutzten Teil möglichst ertragreich zu verwerten. Unterlässt er dies, ist ihm ein fiktiver Gebrauchsvorteil in Höhe der ersparten Aufwendungen für eine angemessene Mietwohnung anzurechnen, vgl. Rn. 945 ff.
1 BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 (1536) m. Anm. Maurer = FamRB 2007, 290; BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 126/06, FamRZ 2008, 2104 (2105) m. Anm. Schürmann = FamRB 2008, 361 und FamRB 2008, 362; BGH v. 27.5.2009 – XII ZR 78/08, FamRZ 2009, 1300 (1304) m. Anm. Schürmann = FamRB 2009, 335, FamRB 2009, 270, FamRB 2009, 271 und FamRB 2009, 272. 2 So zu Recht Maurer, FamRZ 2007, 1538, in der Anm. zu BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2005, 1532 = FamRB 2007, 290.
668
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 943
Kap. 6 C
Auch auf Seiten des Berechtigten können fiktive Einkünfte anzusetzen sein1.
940
(3) Haushaltsführung und Kindesbetreuung Familiendienste wie die Führung des Haushalts und die Kindesbetreuung 941 haben keinen geringeren Wert als die Erwerbstätigkeit und letztere keinen geringeren als die erstere – beide prägen in gleicher Weise die ehelichen Lebensverhältnisse. Der BGH berücksichtigt den Wert der Familienarbeit mit dem Wert der späteren Erwerbstätigkeit als Surrogat, vgl. Rn. 905 f. bb) Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung Einkünfte aus einer fremd genutzten Immobilie prägen die ehelichen Le- 942 bensverhältnisse, wenn sie dauerhaft und nachhaltig erzielt werden. Es sind insoweit zwei Zeiträume zu unterscheiden: Wird der Unterhalt für die Zukunft berechnet, kommt es auf eine Einkommensprognose an, geht es dagegen um in der Vergangenheit liegende Zeiträume, ist stets von den tatsächlich erzielten Einkünften auszugehen, wobei aus Gründen der Vereinfachung von einem Jahresdurchschnitt ausgegangen werden kann. Von durchschnittlichen Einkünften aus mehreren Jahren darf dagegen nur dann ausgegangen werden, wenn der rückständige Unterhalt für diese Gesamtzeit oder der laufende Unterhaltsanspruch auf der Grundlage einer Einkommensprognose ermittelt werden muss2.
Û
Praxistipp: Die Höhe der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung ergibt sich verlässlich aus Anlage V zur Einkommensteuererklärung. Ihr sind die Einkünfte, nach Immobilien getrennt, auf der ersten Seite zu entnehmen. Die Rückseite der Anlage V gibt Auskunft über die Werbungskosten: die (unterhaltrechtlich nicht maßgeblichen) Abschreibungen, die Erhaltungsaufwendungen und die Kosten wie Strom, Schornsteinfeger, Gebäudeversicherung. Die maßgeblichen Einkünfte ergeben sich, indem die vereinnahmten Mieten um die Werbungskosten, mit Ausnahme der Abschreibung, vermindert werden.
Abschreibungen für die Abnutzung von Gebäuden werden nicht berück- 943 sichtigt, weil ihnen lediglich ein Verschleiß von Gegenständen des Vermögens zugrunde liegt und die zulässigen steuerlichen Pauschalen vielfach über das tatsächliche Ausmaß der Wertminderung hinausgehen. Außerdem gleicht eine günstige Entwicklung auf dem Immobilienmarkt den Wertverzehr aus. Kosten der Instandsetzung mindern das Einkommen nur, soweit es sich um einen notwendigen Erhaltungsaufwand han1 Palandt/Brudermüller, § 1578 BGB Rn. 6; BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (684) = FamRB 2006, 198. 2 BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 (1534) = FamRB 2007, 290.
Schlünder
669
Kap. 6 C Rn. 944
Ehegattenunterhalt
delt. Ausbauten und wertsteigernde Verbesserungen, die der Vermögensbildung dienen, werden nicht einkommensmindernd berücksichtigt1. 944
Wenn die Abschreibung schon nicht einkommensmindernd berücksichtigt werden kann, hat auch die dadurch erzielte Steuerersparnis außer Betracht zu bleiben. Es ist eine fiktive Steuer (vgl. Rn. 1063) zu berechnen – nämlich, welche Einkommensteuer auf das nicht durch die Abschreibung reduzierte übrige Einkommen des Pflichtigen zu entrichten wäre. Insoweit werden die ehelichen Lebensverhältnisse – ausnahmsweise – von einer fiktiven Größe geprägt. cc) Wohnvorteil
945
Die ehelichen Lebensverhältnisse werden auch durch Gebrauchsvorteile (§ 100 BGB) geprägt, welche die Eheleute in Anspruch nehmen, weil sie ein ihnen gehörendes Haus oder eine Eigentumswohnung mietfrei bewohnen. Nach der Trennung der Ehegatten ist dieser Vorteil regelmäßig nur noch in dem Umfang zu berücksichtigen, wie er sich als angemessene Wohnungsnutzung durch den verbleibenden Ehegatten darstellt. Das ist der Mietzins, den er auf dem örtlichen Wohnungsmarkt für eine dem ehelichen Lebensstandard entsprechende kleinere Wohnung bezahlen müsste. Wenn eine Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr erwartet werden kann, ist der volle Wohnwert anzusetzen. Mit einer Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft ist nicht mehr zu rechnen, wenn ein Scheidungsantrag rechtshängig ist oder die Ehegatten die vermögensrechtlichen Folgen ihrer Ehe abschließend in einem Ehevertrag geregelt haben2. Zu weiteren Fallgruppen, in denen der volle Wohnwert angesetzt wird vgl. Rn. 139 ff. Beispiel: (nach BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170) Die Parteien streiten darüber, in welcher Höhe der Wohnvorteil beim Getrenntlebenunterhalt zu berücksichtigen ist. Unmittelbar vor der Trennung schlossen sie einen notariellen Ehevertrag, mit welchem die Ehefrau ihre ideelle Miteigentumshälfte an dem gemeinsamen Hausgrundstück auf den Ehemann übertrug gegen Zahlung eines Betrags von 75 000 Euro, wovon 7500 Euro auf den Zugewinnausgleich und der Rest auf den Verkehrswert der Miteigentumshälfte entfiel; außerdem vereinarten die Eheleute Gütertrennung und verzichteten wechselseitig auf weitergehenden Zugewinn. Zieht ein Ehegatte aus dem gemeinsamen Haus oder der gemeinsamen Eigentumswohnung aus, ist der Wohnwert als Einkommen des verbleibenden Ehegatten anzusehen, allerdings nur in der Höhe des Mietzinses, der für eine eheangemessene 1 BGH v. 1.12.2004 – XII ZR 75/02, FamRZ 2005, 1159 (1160) = FamRB 2005, 286 und FamRB 2005, 287. 2 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 Tz. 15 m. Anm. Büttner = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170; BGH v. 22.4.1998 – XII ZR 161/96, FamRZ 1998, 899 (901); BGH v. 20.10.1999 – XII ZR 297/97, FamRZ 2000, 351; BGH v. 5.4.2000 – XII ZR 96/98, FamRZ 2000, 950 m. Anm. Graba.
670
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 948
Kap. 6 C
kleinere Wohnung auf dem örtlichen Wohnungsmarkt zu entrichten wäre. Ist allerdings die Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr zu erwarten, wird der volle Wohnwert dem verbleibenden Ehegatten als Einkommen zugerechnet. Hier hatten die Ehegatten die vermögensrechtlichen Folgen in einem notariellen Vertrag abschließend geregelt, Gütertrennung vereinbart und sich dann getrennt. Der BGH nahm an, dass mit einer Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr zu rechnen war und ging auf Seiten des im Anwesen verbleibenden Ehemanns vom vollen Wohnwert im Rahmen des Trennungsunterhalts nach § 1361 BGB aus.
Auf Seiten des in der Immobilie verbliebenen Ehegatten ist der volle 946 Wohnwert als Einkommen zu berücksichtigen, wenn mit der Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr gerechnet werden kann. Vor diesem Zeitpunkt, etwa der Zustellung des Scheidungsantrags oder der abschließenden Regelung der vermögensrechtlichen Folgen, sind Zins- und Tilgungsleistungen vom Wohnwert abzuziehen, selbst wenn dadurch eine Vermögensbildung zulasten des anderen Ehegatten eintritt. Denn dieser partizipiert über den Zugewinnausgleich noch an diesen Zahlungen, solange der Scheidungsantrag noch nicht gestellt ist (Endstichtag nach § 1384 BGB). Erst wenn mit der Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr gerechnet werden kann, ist der Tilgungsanteil der Darlehensraten grundsätzlich nicht mehr zu berücksichtigen, weil er zu einer einseitigen Vermögensbildung zugunsten eines Ehegatten führt. Allgemein lässt sich sagen, dass der Tilgungsanteil nicht mehr zu berücksichtigen ist, wenn der andere Ehegatte davon nicht mehr profitieren kann. Im obigen Beispiel bedeutet dies, dass der Ehemann vom vollen Wohnwert nur noch die monatlichen Aufwendungen für die Zinsen abziehen kann, nicht mehr den Tilgungsanteil1. Ausnahmsweise kann der Tilgungsanteil als Beitrag zur zusätzlichen Al- 947 terversorgung abgezogen werden iHv. 4 % des Gesamtbruttoeinkommens des Vorjahres. Die über diese Summe hinausgehenden Aufwendungen für die Tilgung der Verbindlichkeiten des Familienheims können vom Wohnvorteil nicht abgezogen werden. Der Grund für diesen Abzug besteht darin, dass eine angemessenen Alterversorgung nicht mehr durch die gesetzliche Rentenversicherung gewährleistet ist. Allerdings können nur tatsächlich erbrachte Tilgungszahlungen in der genannten Höhe berücksichtigt werden. Im obigen Beispiel kann daher der Ehemann vom vollen Wohnwert neben dem Zinsanteil (vgl. Rn. 946) den Beitrag zur Tilgung iHv. 4 % des Gesamtbruttoeinkommens des Vorjahres als Altervorsorge abziehen (5 % beim Verwandtenunterhalt)2. Nach der bisherigen Rechtsprechung konnten vom Wohnvorteil die verbrauchsunabhängigen Nebenkosten abgezogen werden. Der BGH hat seine Rechtsprechung geändert: vom Eigentümer zu tragende verbrauchs1 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 Tz. 18, 19, m. Anm. Büttner = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170. 2 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 Tz. 22, 23, m. Anm. Büttner = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170.
Schlünder
671
948
Kap. 6 C Rn. 949
Ehegattenunterhalt
unabhängige Kosten können grundsätzlich nur dann von seinem Wohnvorteil abgezogen werden, wenn es sich nicht umlagefähige Kosten i.S. von §§ 556 Abs. 1 BGB, 1, 2 BetrKV handelt. Maßstab ist also nicht mehr die Verbrauchsunabhängigkeit, sondern ob diese Kosten umgelegt werden können1. Betriebskosten werden nach der BetrKV umgelegt; nicht umlagefähig sind danach Kosten der Verwaltung und Instandhaltungskosten (§ 1 Abs. 2 BetrKV); die Grundsteuer und die Kosten der Sach- und Haftpflichtversicherung sind nach § 2 BetrKV umlagefähig. Im obigen Beispiel kann M somit neben dem Zinsanteil (vgl. Rn. 945) und dem Tilgungsanteil in Höhe der Altersvorsorge die nicht umlagefähigen Kosten vom Wohnwert abziehen. Von diesen Grundsätzen lässt der BGH eine Ausnahme zu: die Kosten wie Grundsteuer oder Haftpflichtversicherung können sich als teilweise überflüssig erweisen, wenn und soweit ihnen kein adäquater Wohnwert gegenüber steht. Insbesondere wenn der Ehegatte die Kosten dann auch im Interesse des anderen Ehegatten weiter aufbringt, kann ein teilweiser Abzug gerechtfertigt sein2. 949
Die Vorteile der mietfreien Nutzung der Ehewohnung entfallen mit der Veräusserung im Zusammenhang mit der Scheidung. Als Surrogat treten an die Stelle des verloren gegangenen Gebrauchsvorteils diejenigen Vorteile, welche die Ehegatten in Form von Zinseinkünften aus dem Erlös ihrer Miteigentumsanteile ziehen. (oder ziehen könnten). Dies gilt nicht nur, wenn die Ehewohnung an Dritte veräussert wird, sondern auch, wenn ein Ehegatte seinen Miteigentumsanteil an den anderen überträgt. Die Zinseinkünfte aus dem Kauferlös treten als Surrogat an die Stelle der früheren Nutzungsvorteile3 Im obigen Beispiel ist zu differenzieren: 67 500 Euro wurden als Kaufpreis bezahlt, 7500 auf den Zugewinnausgleich. Somit muss sich die Ehefrau Zinsen aus dem Gegenwert iHv. 67 500 Euro als Surrogat für den Wohnvorteil anrechnen lassen. Zur Anrechnung von Zinsen aus der Zahlung auf den Zugewinnausgleich vgl. Rn. 955. Zu weiteren Einzelheiten des Wohnvorteils vgl. Rn. 139 ff. und Rn. 727 ff.). dd) Kapitalerträge und wirtschaftliche Nutzungen (1) Vermögenserträge im Allgemeinen
950
Die ehelichen Lebensverhältnisse werden durch Kapital- oder andere Vermögenserträge und sonstige wirtschaftliche Nutzungen geprägt, soweit diese den Eheleuten während des Zusammenlebens zur Verfügung ge-
1 BGH v. 27.5.2009 XII ZR 78/08, FamRZ 2009, 1300 m. Anm. Schürmann = FamRB 2009, 335, FamRB 2009, 270, FamRB 2009, 271 und FamRB 2009, 272. 2 BGH v. 27.5.2009 – XII ZR 78/08, FamRZ 2009, 1300 Tz. 36 m. Anm. Schürmann = FamRB 2009, 335, FamRB 2009, 270, FamRB 2009, 271 und FamRB 2009, 272. 3 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 Tz. 13 = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170.
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Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 953
Kap. 6 C
standen haben, wobei die Herkunft des Vermögens unerheblich ist1. Dazu gehören Erträge aus einem durch Erbfall erworbenen Vermögen, wenn sie für den Familienunterhalt zur Verfügung standen2. Vermögenserträge aus der Anlage von Schmerzensgeld können prägend sein3. Auch Erträge aus Gesellschaftsbeteiligungen, aus Sparguthaben und angelegtem Kapital, auch die kapitalisierte Form einer Leibrente4, Altenteile, oder sonstige private Rentenzahlung aus Anlass von Vermögensübertragungen können prägend sein. Unterhaltsrechtlich ohne Bedeutung ist, dass sich diese Leistungen aus einem Zins- und einem Tilgungsanteil zusammensetzen; auch der Tilgungsanteil ist in den Bedarf einzustellen. Auch Erträge aus einem geltend gemachten Pflichtteilsanspruch können 951 unter den vorgenannten Voraussetzungen bedarfsprägend sein. Allerdings kommt es darauf an, ob dem Pflichtigen zugemutet werden kann, den Anspruch gegen die Erben geltend zu machen. Das ist beim sog. Berliner Testament in aller Regel nicht der Fall, wenn es eine Pflichtteilsstrafklausel enthält, wonach die Kinder beim Tod des Längstlebenden auch nur den Pflichtteil erhalten, wenn sie diesen beim Tod des Erstversterbenden geltend gemacht haben. Der Berechtigte hat es hinzunehmen, wenn es der Pflichtige im Hinblick darauf unterlässt, den Pflichtteilsanspruch gegen den überlebenden Elternteil geltend zu machen5. Den Unterhaltsberechtigten trifft die Obliegenheit, eigenes Vermögen so 952 ertragreich wie möglich anzulegen, weil auch solche Einkünfte die Bedürftigkeit mindern, die in zumutbarer Weise eingezogen werden könnten, aber nicht eingezogen werden6. Ein Ansatz fiktiver Einkünfte scheidet jedoch aus, wenn das einzusetzende Kapital nicht mehr vorhanden ist7. Kapitaleinkünfte sind nur bis zu derjenigen Höhe für den Bedarf bestimmend, in der sie bereits zum Zeitpunkt der Scheidung bezogen wurden8. (2) Zinseinkünfte Auch Zinseinkünfte aus Vermögen sind bedarfsprägend zu berücksichtigen, wenn sie der allgemeinen Lebensführung der Ehegatten während intakter Ehe zur Verfügung gestanden haben. Ist mit Teilen dieser Einkünfte allerdings Vermögen gebildet worden, haben sie für die laufenden 1 2 3 4 5
BGH v. 27.6.1984 – IVb ZR 20/83, FamRZ 1985, 354. BGH v. 8.6.1988 – IVb ZR 68/87, FamRZ 1988, 1145. BGH v. 13.7.1988 – IVb ZR 39/87, FamRZ 1988, 1031. BGH v. 24.11.1993 – XII ZR 136/92, FamRZ 1994, 228. BGH v. 7.7.1982 – IVb ZR 738/80, FamRZ 1982, 996 (997); BGH v. 21.4.1993 – XII ZR 248/91, FamRZ 1993, 1065 (1067); BGH v. 5.11.1997 – XII ZR 20/96, FamRZ 1998, 367 (368). 6 BGH v. 5.11.1997 – XII ZR 20/96, FamRZ 1998, 367 (368). 7 BGH v. 11.4.1990 – XII ZR 42/89, FamRZ 1990, 989 (991). 8 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (850) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220.
Schlünder
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953
Kap. 6 C Rn. 954
Ehegattenunterhalt
Lebensbedürfnisse nicht zur Verfügung gestanden und sind damit dem Unterhalt entzogen. Allerdings ist ein objektiver Maßstab anzulegen: Gemessen am verfügbaren Einkommen bleibt sowohl eine zu dürftige Lebensführung als auch ein übermäßiger Aufwand außer Betracht1. Der Maßstab, der für eine Korrektur der unangemessenen Vermögensbildung heranzuziehen ist, darf nicht dazu führen, dass der Boden der ehelichen Lebensverhältnisse verlassen wird und Einkünfte als prägend zugrunde gelegt werden, die auch nach einem objektiven Maßstab nicht für die Kosten der allgemeinen Lebensführung verwendet werden2. 954
Zinseinkünfte werden auch berücksichtigt, wenn das Vermögen in thesaurierenden Fonds angelegt ist, die keine laufenden Erträge abwerfen. Die Anlageform des Vermögens bestimmt nicht darüber, ob Zinsgewinne eines Vermögens unterhaltsrelevante Einkünfte sind; sie sind deshalb fiktiv so zu behandeln, als wären die Vermögenserträge laufend verfügbar gewesen3. (3) Zinsen aus Zahlungen auf den Zugewinnausgleich
955
Zahlungen auf den Zugewinnausgleich hat der Berechtigte zinsgünstig anzulegen und die Vermögenserträge für den eigenen Unterhalt zu verwenden (§ 1577 Abs. 1 und 3 BGB). Unerheblich ist dabei, ob es sich um Vermögen handelt, das schon vor der Durchführung des Zugewinnausgleichs vorhanden war und die Vermögenserträge die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt hatten oder ob das Vermögen nach der Durchführung des Zugewinnausgleichs erworben wurde, also anlässlich der Auflösung des Zugewinngemeinschaft auf beide Ehegatten verteilt worden ist. In beiden Fällen prägen die Vermögenseinkünfte die ehelichen Lebensverhältnisse und sind deswegen im Bedarf zu aktivieren4. (4) Nutzungsvorteil eines privat genutzten Dienstfahrzeugs
956
Zu den unterhaltsrelevanten Vorteilen gehört auch die private Nutzung eines Dienstfahrzeugs. Überlässt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen Pkw zur eigenen Nutzung in der Freizeit, liegt darin eine Sachzuwendung, die sich als unterhaltsrelevantes Einkommen darstellt, weil der Unterhaltspflichtige Ausgaben in dieser Höhe erspart (zu weiteren Einzelheiten vgl. Rn. 159 f.). Ist dagegen der Vorteil privater Nutzung gewinnerhöhend in den Gewinn- und Verlustrechnungen bereits enthalten, 1 BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 (1534) = FamRB 2007, 290. 2 BGH v. 20.11.1996 – XII ZR 70/95, FamRZ 1997, 281 (284); BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 (1535) = FamRB 2007, 290. 3 BGH v. 4.11.1987 – IVb ZR 81/86, FamRZ 1988, 149; BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 (1535) = FamRB 2007, 290. 4 BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 59/83, FamRZ 1985, 357 (359); BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 (1536/1537) = FamRB 2007, 290; BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 (24) m. Anm. Maurer S. 204 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35.
674
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 960
Kap. 6 C
kann nicht zusätzlich ein Betrag dem sonstigen Einkommen des Pflichtigen hinzugerechnet werden1. Einstweilen frei
957
ee) Auszahlung einer Lebensversicherungssumme Zahlt der Versicherer bei Fälligkeit einer Lebensversicherung, die der Al- 958 tersvorsorge diente, die Ablaufleistung, gehören diese Mittel zum Bedarf, einschließlich der nach Auszahlung anfallenden Zinsen, wenn die gezahlten Prämien die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt haben und beim nachehelichen Unterhalt vom Einkommen des Pflichtigen abgezogen wurden2. So wie die Parteien während intakter Ehe nach Eintritt des Versicherungsfalles Zahlungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu erwarten haben, steht ihnen nun der Kapitalbetrag einer Lebensversicherung zur Verfügung, der entsprechend der Lebensplanung der Eheleute für die Versorgung im Alter einzusetzen ist. ff) Rente bei oder nach der Scheidung Die ehelichen Lebensverhältnisse können auch von Renten3 geprägt sein, 959 die ein Ehegatte (oder beide) im Zeitpunkt der Scheidung erhält. Hat der Pflichtige die Erwerbstätigkeit im Einvernehmen mit dem anderen Partner zu einem Zeitpunkt aufgegeben, als die Ehe noch bestand, tritt die Rente als Surrogat an die Stelle des früheren Erwerbseinkommens des rentenberechtigten Ehegatten4 und prägt damit den Bedarf. Dabei spielt es keine Rolle, ob der verpflichtete Ehegatte bereits Vollrente wegen Alters oder Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezieht. Entscheidend ist, dass der Pflichtige die Erwerbstätigkeit während der intakten Ehe im Einvernehmen mit dem anderen Ehegatten aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben hat5. Die ehelichen Lebensverhältnisse werden auch durch Renten geprägt, die 960 der Pflichtige erst nach der Scheidung bezieht. Nach der Rechtsprechung des BGH zu den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen sind grundsätzlich auch Minderungen des Einkommens (Rn. 889) beim Bedarf zu berücksichtigen, die erst nach rechtskräftiger Ehescheidung eintreten und die der andere Ehegatte bei Fortdauer der Ehe hätte mittragen müssen. Das gilt insbesondere für Renten, die der Pflichtige nach der Scheidung bezieht. Der Bedarf richtet sich dann nicht mehr nach dem Erwerbsein1 OLG Celle v. 7.2.2008 – 17 UF 203/07, FamRZ 2008, 997. 2 OLG Düsseldorf v. 25.8.1997 – 3 WF 66/97, FamRZ 1998, 621, auch zur Berechnung des monatlichen Bedarfsbetrags in solchen Fällen; OLG Köln v. 5.6.1997 – 14 UF 319/96, FamRZ 1998, 743. 3 BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 = FamRB 2006, 198. 4 BGH v. 8.6.2005 – XII ZR 294/02, FamRZ 2005, 1479 (1480) = FamRB 2005, 260. 5 BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 (1534) m. Anm. Maurer = FamRB 2007, 290.
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Kap. 6 C Rn. 961
Ehegattenunterhalt
kommen zum Zeitpunkt der Scheidung, sondern nach der aktuell bezogenen Rente, auch wenn diese erheblich geringer ist als das zuvor mit der Berufstätigkeit verdiente Einkommen1. 961
Ob die Anwartschaften vor oder nach der Ehe erworben wurden, ob sie aus einer früheren Scheidung stammen oder ob sie auf einem Versorgungsausgleich beruhen: Sie sind in allen diesen Fällen als Surrogat der früheren Erwerbstätigkeit anzusehen und mit der Differenz- bzw. Additionsmethode (Rn. 1185 ff.) in den Bedarf einzustellen. Das gilt auch für die Vereinbarung der Eheleute, sich so behandeln zu lassen, als ob der Versorgungsausgleich durchgeführt worden wäre. Sind die Anwartschaften dagegen darauf zurückzuführen, dass der Pflichtige Altersvorsorgeunterhalt an den Berechtigten geleistet hat, prägen die daraus entstehenden Rentenleistungen die ehelichen Verhältnisse nicht. Renten, die zum Zeitpunkt der Scheidung oder danach bezogen werden, sind weder durch berufsbedingte Aufwendungen noch einen Erwerbsanreiz zu kürzen2, vgl. auch Rn. 1168 ff. 4. Der gesamte und der angemessene Lebensbedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen a) Der Bedarf im Allgemeinen aa) Arten des Bedarfs
962
Innerhalb der ehelichen Lebensverhältnisse umfasst der Unterhalt nach § 1578 Abs. 1 S. 2 BGB den gesamten Lebensbedarf. Dieser Gesamtbedarf umfasst den Elementarbedarf, den Mehrbedarf und den Sonderbedarf nach § 1585b Abs. 1 BGB i.V.m. § 1613 Abs. 2 BGB. Daneben bilden die Leitlinien der OLGe eigene Kategorien: Der Zusatzbedarf nach Ziff. 12.4 SüdL umfasst den Prozesskostenvorschuss, den Mehr- und den Sonderbedarf. Der volle Unterhalt, der nach § 1573 und § 1577 BGB geschuldet wird, umfasst den Elementarunterhalt sowie einen eventuellen Mehrbedarf3. bb) Elementarbedarf und Quotenunterhalt
963
Um den Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen zu berechnen, bieten sich verschiedene Wege an: Er wird in den weitaus meisten Fällen der gerichtlichen Praxis ohne Rücksicht auf das tatsächliche Konsumverhalten der Ehegatten bestimmt, indem eine Quote des Einkommens des Pflichtigen oder der Differenz beider Einkommen nach den gängigen Tabellen oder Leitlinien gebildet wird. Dieses Verfahren gewährleistet, dass 1 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 (795) = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197. 2 BGH v. 28.3.1984 – IVb ZR 64/82, FamRZ 1982, 662; zur Rente wegen Erwerbsminderung OLG Hamm v. 26.8.1997 – 2 UF 93/97, FamRZ 1998, 925. 3 BGH v. 24.11.1982 – IVb ZR 310/81, FamRZ 1983, 146.
676
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 966
Kap. 6 C
die verfügbaren Einkünfte der Ehegatten nach einem objektiven Maßstab verteilt werden1, bei dem eine zu dürftige Lebensführung genauso außer Betracht bleibt wie ein übertriebener Aufwand. Zum Elementarbedarf gehört eine Reihe von Aufwendungen: für die 964 Wohnung, also Miete, Neben- und Reinigungskosten; für Nahrung, Kleidung, Körperpflege; für die Gesundheit; für Sport, Freizeit und Hobbys; für die Pflege geistiger und kultureller Bedürfnisse2. Nicht dazu gehört die Verpflichtung, Schulden des anderen Ehegatten zu tilgen3. Beim Quotenunterhalt kommt es jedoch auf diese einzelnen Bedürfnisse nicht an: Dem Berechtigten steht ein prozentualer Anteil am Gesamteinkommen der Eheleute zu, ohne dass es darauf ankäme, ob er mit diesen Mitteln diese Bedürfnisse auch befriedigen kann. Der Berechtigte genügt der Darlegungslast, wenn er das Rechenwerk schlüssig darlegt, welches zu dem konkreten Unterhaltsanspruch führt. Anders in Fällen der konkreten Berechnung (Rn. 1013 ff.) des Unterhalts 965 bei überdurchschnittlich guten Einkommen; hier kommt es auf den detaillierten Vortrag zu den einzelnen Bedürfnissen an. Im Mangelfall kommt es weder auf die Quote noch auf die Bedürfnisse an; hier werden Mindestbedarfsätze angenommen, die eine gerechte Verteilung des noch zur Verfügung stehenden Einkommens gewährleisten. cc) Mehrbedarf Unter Mehrbedarf sind (im Gegensatz zum Sonderbedarf) regelmäßig anfal- 966 lende Mehraufwendungen oder erhöhte laufende Kosten zu verstehen, welche aufgrund besonderer Umstände entstehen, die nicht schon durch den Elementarbedarf erfasst werden und wegen ihrer Vorhersehbarkeit kein Sonderbedarf sind4. Typischerweise geht es um folgende Aufwendungen: berufs- oder ausbildungsbedingter Mehrbedarf, trennungsbedingter oder alters- und krankheitsbedingter Mehrbedarf sowie Mehrbedarf, der für einen angemessenen Kranken- und Pflegeversicherungsschutz (§ 1578 Abs. 2 BGB) und für eine eheangemessene Alters- und Invaliditätsversicherungsvorsorge (§ 1578 Abs. 3 BGB) aufgebracht werden muss5. Zum behinderungsbedingten Mehrbedarf vgl. auch §§ 1578a, 1610a BGB. Zu Kinderbetreuungskosten und Kindergartenbeiträgen vgl. Rn. 978. Ein Mehrbedarf kann auch bei luxuriösen, freiwillig begründeten Kosten entstehen6. 1 2 3 4
BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 62/83, FamRZ 1985, 582 (583). MüKo/Maurer, § 1578 BGB Rn. 64. BGH v. 6.5.1964 – IV – ZR 82/63, FamRZ 1964, 558 (559). Wendl/Dose/Scholz, § 2 Rn. 232–236, § 4 Rn. 437 ff.; BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 892 (886) m. Anm. Büttner = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231; BGH v. 26.11.2008 – XII ZR 65/07, FamRZ 2009, 962 = FamRB 2009, 203. 5 Hoppenz/Hülsmann, § 1578 BGB Rn. 46. 6 OLG Karlsruhe v. 3.8.2004 – 18 UF 248/02, FamRZ 2005, 233 (234) (Anschaffung eines Pferdes).
Schlünder
677
Kap. 6 C Rn. 967
Ehegattenunterhalt
967
Behauptet ein Ehegatte einen Mehrbedarf, muss substantiiert vorgetragen werden, worin er besteht. Durch die Vorlage von Belegen kann idR Art und Umfang des Mehrbedarfs konkret dargelegt werden. Ein pauschaler Vortrag, etwa in dem Sinne, dass die Schwerbehinderung generell einen Mehrbedarf von 150 Euro ausmacht, kann nicht berücksichtigt werden1. Ein Mehrbedarf kann sowohl beim Berechtigten als auch auf Seiten des Verpflichteten anfallen. Auf Seiten des Pflichtigen ist der Mehrbedarf teilweise zum Selbstbehalt addiert worden2, teilweise wurde er vom Eigeneinkommen des Pflichtigen abgezogen3. Auf Seiten des Berechtigten ist der Mehrbedarf zusätzlich zur laufenden Unterhaltsquote zu zahlen4, wenn er über kein Einkommen verfügt. Ist beim Berechtigten ein Einkommen zu berücksichtigen, wird der Mehrbedarf davon abgezogen, bevor die Quote des Unterhals berechnet wird.
968
Nachträglich kann der Mehrbedarf nur mit der Abänderungsklage geltend gemacht werden. Mehrbedarf kann für die Vergangenheit nur verlangt werden, wenn der Unterhaltsschuldner sich in Verzug befunden hat oder der Anspruch rechtshängig gewesen ist. Die bloße Aufforderung an den Unterhaltsschuldner, zu erklären, dass er künftig anfallende Therapiekosten übernehmen soll, begründet keinen Verzug. Wenn der Pflichtige sich bereiterklärt, entstandene Kosten nicht, zukünftige jedoch unter bestimmten Voraussetzungen übernehmen zu wollen, liegt keine Erfüllungsverweigerung vor5. (1) Berufsbedingter Mehrbedarf
969
Von einem Unterhaltsschuldner, der 12 Stunden am Tag arbeitet, kann nicht erwartet werden, dass er sich ohne Mehrkosten selbst versorgt. Er ist berechtigt, seine Mahlzeiten größtenteils in Gaststätten einzunehmen, seine Wäsche auszugeben, eine Putzhilfe einzustellen oder sich einer Haushaltshilfe zu bedienen. Der Mehraufwand kann mit 1/8 des Nettoeinkommens geschätzt werden6. (2) Altersbedingter Mehrbedarf
970
Der altersbedingte Mehrbedarf kann nicht, wie im Sozialrecht, pauschal angesetzt werden, er ist konkret darzulegen. Einem 80 Jahre alten geschiedenen Ehemann ist es grundsätzlich nicht zumutbar – ohne dass es insoweit besonderer Feststellungen bedürfte –, für seinen Haushalt selbst zu sorgen. Es ist angemessen, einen Aufwand von drei bis vier Stunden 1 OLG Hamm v. 21.8.1998 – 7 UF 39/97, FamRZ 1999, 1349. 2 BGH v. 2.5.1990 – XII ZR 72/89, FamRZ 1990, 849. 3 OLG Hamm v. 28.2.1997 – 11 UF 145/96, FamRZ 1997, 1102 (bei Kosten einer Haushaltshilfe). 4 Wendl/Dose/Scholz, § 2 Rn. 234. 5 OLG Düsseldorf v. 11.9.2000 – 2 UF 67/00, FamRZ 2001, 444 (LS 2.). 6 OLG Düsseldorf v. 25.2.1981 – 5 UF 249/80, FamRZ 1981, 772 (774).
678
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 974
Kap. 6 C
für eine Haushaltshilfe von der Rente abzusetzen1. Die Kosten werden nur berücksichtigt, wenn sie tatsächlich angefallen sind2. Bei einem unterhaltspflichtigen Rentner, der zu 80 % behindert und pflegebedürftig ist, sind 520 Euro pro Monat als das Einkommen mindernder Mehrbedarf für eine Haushaltshilfe anerkannt worden3. (3) Krankheitsbedingter Mehrbedarf Es können im Regelfall nur solche Kosten als Mehrbedarf anerkannt wer- 971 den, die medizinisch notwendig sind. Dafür bietet die Anerkennung solcher Kosten durch die Krankenkassen ein wichtiges Indiz, welches unterhaltsrechtlich jedoch nicht bindend ist und es nicht ausschließt, einen Mehrbedarf außerhalb anerkannter Therapien zu berücksichtigen. Für eine bereits während der Ehe an Polyarthritis erkrankte Ehefrau wurde ein Mehrbedarf von Fahrtkosten iHv. 450 DM anerkannt, um an dem Langzeitversuch für ein neues Medikament teilzunehmen, nachdem Therapien während der Ehe keinen Erfolg hatten4. Der Mehrbedarf eines Berechtigten, der an schwerer perinataler Hirnschädigung mit spastischen Lähmungen und angeborenem Schwachsinn leidet, ist unter Berücksichtigung des besonderen Betreuungsbedarfs und bei erhöhten Kosten für Bekleidung, Schuhwerk und sonstige Anschaffungen bis hin zu logopädischen Hilfsmitteln mit 450 DM monatlich geschätzt worden5. Bei einer Heimunterbringung während der Trennung entspricht der Bedarf den konkreten Unterbringungskosten6. Eine Zuzahlung von Arzneimittelkosten iHv. 100 DM ist monatlich pau- 972 schal anerkannt worden, ein Mehrbedarf ist konkret darzulegen7. Bei der sog. Praxisgebühr handelt es sich nicht um krankheitsbedingten Mehrbedarf, sondern um Kosten der allgemeinen Lebensführung8. Sind eine psychotherapeutische Behandlung und die damit im Zusammenhang stehenden Kosten über einen längeren Zeitraum voraussehbar, handelt es sich nicht um Sonderbedarf im Sinne von § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB, sondern um Mehrbedarf, der zusammen mit dem laufenden Unterhalt geltend gemacht werden kann9.
973
Aufwendungen für eine Haushaltshilfe sind regelmäßig Bestandteil des allgemeinen Lebensbedarfs und kein Mehrbedarf. Eine Ausnahme be-
974
1 2 3 4 5 6 7
OLG Köln v. 20.5.1980 – 4 UF 244/79, FamRZ 1980, 1006. OLG Saarbrücken v. 27.9.2007 – 6 UF 35/07, FamRB 2008, 5. OLG Saarbrücken v. 27.9.2007 – 6 UF 35/07, FamRB 2008, 5. OLG Hamm v. 7.10.1996 – 8 UF 63/96, FamRZ 1997, 296. BGH v. 5.6.1985 – IVb ZR 24/84, FamRZ 1985, 917. OLG Koblenz v. 12.1.1998 – 13 UF 468/97, FamRZ 1998, 1513. OLG Hamm v. 21.8.1998 – 7 UF 39/97, FamRZ 1999, 1349 (LS 2.); aA OLG Karlsruhe v. 7.2.2008 – 2 WF 5/08, FamRZ 2008, 2120. 8 OLG Karlsruhe v. 7.2.2008 – 2 WF 5/08, FamRZ 2008, 2120. 9 OLG Düsseldorf v. 11.9.2000 – 2 UF 67/00, FamRZ 2001, 444 (LS 2.).
Schlünder
679
Kap. 6 C Rn. 975
Ehegattenunterhalt
steht, wenn aus gesundheitlichen Gründen oder wegen des Alters eine Haushaltshilfe benötigt wird. In einem solchen Fall sind die damit verbundenen Aufwendungen Mehrbedarf1. Erforderlich ist, dass die Aufwendungen dafür tatsächlich angefallen sind; pauschal können solche Kosten nicht berücksichtigt werden2. (4) Kosten für Diät und Kur 975
Eine Diät führt nicht zwangläufig zu höheren Kosten und damit zu einem Mehrbedarf. Nicht selten steht diesem Mehrbedarf eine Ersparnis bei der normalen Ernährung gegenüber. Deshalb muss er zunächst nach Art, Menge und Preis konkret dargelegt und nachgewiesen werden, was in aller Regel damit geschehen kann, dass die Kosten im Einzelnen dargestellt und Belege vorgelegt werden. Sodann sind die ersparten Kosten darzulegen3. Ohne Einzelnachweise kann nach § 287 ZPO geschätzt werden4. Die Erkrankung an Diabetes Typ I rechtfertigte (2001) bei Fehlen sonstiger Gesundheitsbeeinträchtigungen keinen höheren Mehrbedarf als 150 DM im Monat5.
976
Die Kosten einer Kur sind Mehrbedarf, wenn die Krankenversicherung sie nicht übernimmt und sie von der Beihilfe nicht erstattet werden6. (5) Behinderungsbedingter Mehrbedarf
977
Ist der Verpflichtete zu hundert Prozent schwerbehindert und leidet er unter verschiedenen gesundheitlichen Einschränkungen, ist ein erhöhter Pflegeaufwand iHv. 500 DM als Abzugsposten beim Einkommen zu berücksichtigen gewesen (1998)7. Erbringt ein Ehegatte für den anderen, schwerstbehinderten Ehegatten einen überobligatorischen Pflegeaufwand, handelt es sich um eine freiwillige Leistung von Dritten an den Unterhaltsverpflichteten, die bei der Leistungsfähigkeit zu beachten ist und bei der es auf den Willen des Dritten ankommt: Soll die Leistung nur dem Verpflichteten zugute kommen, was bei persönlichen Beziehungen der Beteiligten anzunehmen ist, können die dadurch ersparten Mittel nicht zum Unterhalt herangezogen werden8. Ist ein doppelseitig beinamputierter 1 BGH v. 23.11.1983 – IVb ZR 15/82, FamRZ 1984, 151 (154); OLG Bamberg v. 16.1.1996 – 7 UF 116/95, FamRZ 1999, 1082; OLG Saarbrücken v. 27.9.2007 – 6 UF 35/07, FamRB 2008, 5. 2 OLG Saarbrücken v. 27.9.2007 – 6 UF 35/07, FamRB 2008, 5. 3 Büttner/Niepmann/Schwamb, Rn. 984. 4 OLG Karlsruhe v. 26.8.1997 – 18 UF 44/97, FamRZ 1998, 1435 (Mehrbedarf: 50 DM); OLG Hamm v. 24.5.2005 – 2 UF 509/04, FamRZ 2006, 124 (Mehrbedarf: 75 Euro) = FamRBint 2006, 24. 5 OLG Düsseldorf v. 20.6.2001 – 5 UF 86/00, FamRZ 2002, 751; OLG Karlsruhe v. 26.8.1997 – 18 UF 44/97, FamRZ 1998, 1435. 6 AG Bochum v. 14.2.1991 – 29 F 258/90, FamRZ 1991, 1092 (LS). 7 OLG Hamm v. 10.2.1998 – 1 UF 207/97, FamRZ 1999, 166. 8 BGH v. 22.2.1995 – XII ZR 80/94, FamRZ 1995, 537 (539).
680
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 978
Kap. 6 C
Schwerbeschädigter zum Unterhalt verpflichtet, sind von seinem Einkommen als schädigungsbedingter Mehrbedarf die Kosten abzuziehen, die für einen Pkw aufgewendet werden müssen. Ob auch ein Nichtbehinderter mit gleichem Einkommen einen Pkw halten würde, ist unerheblich1. (6) Kinderbetreuungskosten und Kindergartenbeiträge In Ziff. 10.3 der Leitlinien (Stand 1.1.2008) wird pauschal darauf verwie- 978 sen, dass Kosten für die Kinderbetreuung abzugsfähig sind, soweit die Betreuung durch Dritte infolge der Berufstätigkeit erforderlich ist; dies gilt sowohl auf der Seite des Berechtigten sowie des Verpflichteten. Der BGH2 hat Kosten, die einem erwerbstätigen Ehegatten für die Fremdbetreuung des bei ihm lebenden Kindes notwendigerweise entstehen, als mit der Erwerbstätigkeit verbundenen Aufwand angesehen. Kindergartenbeiträge bzw. vergleichbare Aufwendungen für die Betreuung eines Kindes in einer kindgerechten Einrichtung sind in den Unterhaltsbeträgen, die in den Tabellen ausgewiesen sind, nicht enthalten, unabhängig davon, wie hoch im Einzelfall der Unterhaltsanspruch ist. Das gilt auch für die Zeit vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsrechts v. 21.10.2007 (BGBl. I S. 3189). Die in einer Kindereinrichtung anfallenden Verpflegungskosten sind dagegen mit dem Tabellenunterhalt abgegolten3, vgl. Rn. 978.
Û
Praxistipp: Kindergartenbeiträge sind Mehrbedarf des Kindes. Es kommen nur Aufwendungen (für Kindergärten, Kindertagesstätten, Kindergruppen oder ähnliche Einrichtungen) in Betracht, die für ein Kind nach dem 3. Lebensjahr bis zum Schuleintritt anfallen. Vor dem 3. Lebensjahr anfallende Betreuungskosten (auch für Kindergrippen, Krabbelstuben oder ähnliche Einrichtungen) sind unter pädagogischen Gesichtspunkten nicht geboten und sind daher kein Bedarf des Kindes. Nicht zum Mehrbedarf gehören die Verpflegungskosten, die von den allgemeinen Tabellensätzen umfasst sind. Für den Beitrag haften die Eltern gem. § 1606 Abs. 3 im Verhältnis ihrer Leistungsfähigkeit. Der Mindestunterhalt gleichrangig Berechtigter und des Berechtigten selbst, welcher den Mehrbedarf geltend macht, ist als Zahlbetrag auf Seiten des Pflichtigen abzuziehen. Für die rückwirkende Geltendmachung von solchen Beträgen gilt § 16 Abs. 3 BGB4.
1 BGH v. 7.4.1982 – IVb ZR 673/80, FamRZ 1982, 579. 2 BGH v. 29.11.2000 – XII ZR 212/98, FamRZ 2001, 350 (352); BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 150/05, FamRZ 2008, 1152 = FamRB 2008, 198. 3 BGH v. 26.11.2008 – XII ZR 65/07, FamRZ 2009, 962 m. Anm. Born = FamRB 2009, 203 unter Aufgabe von BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 882 (886) = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231; BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 150/05, FamRZ 2008, 1152 (1154) = FamRB 2008, 198. 4 Zu weiteren Einzelheiten vgl. die Stellungnahme des DIJuF, FamRB 2009, 227.
Schlünder
681
Kap. 6 C Rn. 979
Ehegattenunterhalt
dd) Sonderbedarf 979
Zum Gesamtbedarf gehört neben dem laufenden Bedarf, also dem Bedarf, der vom Pflichtigen regelmäßig monatlich zu leisten ist, auch ein einmaliger, in Ausnahmefällen entstehender Sonderbedarf, den die regelmäßige Unterhaltsrente nicht befriedigt, § 1585b, Abs. 1 BGB. Als Sonderbedarf hat die Rechtsprechung bisher anerkannt: Unvorhergesehene Krankheits-, Operations- und ähnliche Kosten, Aufwendungen für die Renovierung einer Wohnung, Aufwendungen, die durch die Wahl eines aus Gesundheitsrücksichten oder aus anderen zwingenden Gründen gebotenen, teureren Wohnorts verursacht werden, unvorhergesehene Kosten als Folgen eines Stellungs-, Berufs- oder Wohnungswechsels incl. die erforderlichen Umzugskosten1. Kindergartenbeiträge sind, da sie regelmäßig anfallen, kein Sonderbedarf2. ee) Verfahrenskostenvorschuss
980
Ehegatten einer intakten Ehe sind einander nach § 1360a Abs. 4 S. 1 BGB, getrenntlebende Ehegatten nach §§ 1361 Abs. 4 S. 4, 1360a Abs. 4 S. 1 BGB verpflichtet, einen Verfahrenskostenvorschuss zu zahlen. Der BGH3 hat es abgelehnt, diese Vorschriften auf geschiedene Ehegatten analog anzuwenden. Sie sind demnach nicht verpflichtet, dem anderen einen Verfahrenskostenvorschuss zu zahlen. Gemeint sind isolierte Verfahren, die den nachehelichen Unterhalt betreffen, zB Unterhalts- und Abänderungsverfahren.
981
Das schließt nicht aus, einen Kostenvorschuss für die Ehesache und die Folgesache „nachehelicher Unterhalt“ im Wege einer einstweiligen Anordnung zu beantragen, allerdings nur im Verbund. Aus einer ergangenen einstweiligen Anordnung kann auch nach Beendigung des Verfahrens und ungeachtet der ergangenen Kostenentscheidung die Zwangsvollstreckung betrieben werden4.
982
Der geschiedene Ehegatte kann auch nicht verlangen, dass der andere die Verfahrenskosten als Sonderbedarf nach §§ 1585b Abs. 1, 1613 Abs. 2 BGB erstattet. Die Unterhaltspflicht umfasst grundsätzlich nicht die Verpflichtung, Schulden des anderen Ehegatten zu tilgen5. b) Der Mindestbedarf
983
Sowohl für den nachehelichen Betreuungsunterhalt nach § 1570 BGB, als auch den Anspruch nach § 1615l Abs. 2 BGB ist ein Mindestbedarf in 1 2 3 4 5
BGH v. 6.10.1982 – IVb ZR 307/81 FamRZ 1983, 29. BGH v. 26.11.2008 – XII ZR 65/07, FamRZ 2009, 962 (963) = FamRB 2009, 203. BGH v. 9.11.1983 – IVb ZR 14/83, FamRZ 1984, 148 m. Anm. Herpers, S. 465. BGH v. 15.5.1985 – IVb ZR 33/84, FamRZ, 1985, 802 (803). BGH v. 6.5.1964 – IVb ZR 82/63, FamRZ 1964, 558 (559); BGH v. 4.8.2004 – XII ZA 6/04, FamRZ 2004, 1633 mit instruktiver Anm. von Viefhues = FamRB 2004, 393.
682
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 986
Kap. 6 C
Höhe des Existenzminimums anerkannt. Beide Unterhaltsansprüche sollen nämlich dem Berechtigten eine persönliche Betreuung und Erziehung des gemeinsamen Kindes in den ersten Lebensjahren ermöglichen und damit der betreuende Elternteil daran nicht durch eine Erwerbstätigkeit gehindert ist, muss der Mindestbedarf das Existenzminimum des Unterhaltsberechtigten abdecken. Würde der Unterhaltsbedarf unterhalb des Existenzminimums liegen, wäre eine im Einzelfall notwendige persönliche Betreuung nicht mehr gewährleistet und der betreuende Ehegatte gezwungen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Auch im Fall, dass der betreuende Elternteil von Sozialleistungen gelebt hat, oder seine Einkünfte darunter lagen, konnte er bis zum Eintritt der Betreuung von einer gesicherten Lebensstellung in Höhe eines Existenzminimums ausgehen, sodass auch in einem solchen Fall ein Mindestbedarf gerechtfertigt ist1. Die Höhe dieses Existenzminimums ist mit dem notwendigen Selbstbehalt eines nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen pauschaliert worden, welcher gegenwärtig nach der Düsseldorfer Tabelle, Stand 1.1.2011 und den unterhaltsrechtlichen Leitlinien der Oberlandesgerichte monatlich 770 Euro beträgt. Nach dem Selbstbehalt eines Erwerbstätigen (von gegenwärtig 900 Euro) richtet sich das Existenzminimum nicht, weil dieser Betrag einen Erwerbsanreiz enthält, der zwar auf Seiten des Unterhaltspflichtigen seine Berechtigung haben mag, nicht aber in gleicher Weise auf den Unterhaltsberechtigten übertragen werden kann2.
984
c) Der trennungsbedingte Mehrbedarf aa) Trennungsbedingter Mehrbedarf als Korrektiv Die Trennung bewirkt zwangsläufig, dass der Lebensstandard wie wäh- 985 rend intakter Ehe nicht mehr oder nur mit zusätzlichem Aufwand aufrechterhalten werden kann. Das hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen erhöhen sich die Kosten, weil zwei getrennte Haushalte finanziert werden müssen. Zum anderen ändert sich die Steuerklasse im Jahr nach der Trennung von III auf I oder II und mindert das Einkommen durch höhere Lohnsteuer. Diese zusätzlichen Kosten und die genannten Einbußen können beim Berechtigten zu einem höheren Bedarf und beim Pflichtigen zu einer geminderten Leistungsfähigkeit führen3. Nach einer im Anschluss an Hampel4 vom BGH5 und der herrschenden Meinung übernommenen Ansicht folgt aus der Lebensstandardgarantie, 1 BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357 m. Anm. Maier; BGH v. 13.1.2010 – XII ZR 123/08, FamRZ 2010, 444 Tz. 17; BGH v. 17.3.2010 – XII ZR 204/08, FamRZ 2010, 802 Tz. 18. 2 BGH v. 13.1.2010 – XII ZR 123/08, FamRZ 2010, 444 Tz. 18. 3 BGH v. 1.6.1983 – IVb ZR 389/81, FamRZ 1983, 886. 4 Hampel, FamRZ 1981, 851 und FamRZ 1984, 621. 5 BGH v. 11.1.1995 – XII ZR 122/93, FamRZ 1995, 346 m. Anm. Luthin, S. 472 und Becker, S. 667.
Schlünder
683
986
Kap. 6 C Rn. 987
Ehegattenunterhalt
dass der Unterhalt auch diejenigen Mittel umfasst, die der einzelne Ehegatte benötigt, um die trennungsbedingten Mehraufwendungen auszugleichen; dabei handelt es sich um den Mehrbedarf gegenüber dem laufenden Lebensbedarf vor der Trennung bei Aufrechterhaltung des gleichen Lebensstandards. 987
Der trennungsbedingte Mehrbedarf wird in der Praxis selten geltend gemacht1. Er diente – insoweit systemwidrig2 – der Rechtsprechung als Mittel, die als ungerecht empfundenen Ergebnisse der Anrechnungsmethode (Rn. 1185) zu korrigieren und die Härten der Rechtsprechung des BGH zu mildern, die sich aus der Ablehnung des Mindestbedarfs für die durch den Vorwegabzug des Kindesunterhalts von einem geringen Quotenunterhalt betroffene Ehefrau ergaben. Nach der Surrogatrechtsprechung des BGH und der Anerkennung eines Mindestbedarfs wird sich die Bedeutung dieses Bedarfspostens verringern3. Schon nach der früheren Rechtsprechung des BGH4 konnte der trennungsbedingte Mehrbedarf ohnehin nicht neben dem nach der Differenzmethode berechneten Quotenunterhalt berücksichtigt werden, wenn keine zusätzlichen Mittel vorhanden waren, wie etwa Ersparnisse, ihn zu bedienen (Rn. 991).
988
Ein trennungsbedingter Minderbedarf ist unbeachtlich5. bb) Konkreter Vortrag erforderlich
989
Grundsätzlich ist der trennungsbedingte Mehrbedarf auf Seiten des Berechtigten und des Verpflichteten zu berücksichtigen6. Die Höhe ist vom Tatrichter – bezogen auf den Einzelfall – zu ermitteln7, was aber stets einen konkreten Vortrag des betreffenden Ehegatten zu den Mehrkosten voraussetzt. Sind ausreichende Anhaltspunkte vorgetragen worden, kann das Gericht den Mehrbedarf nach § 287 ZPO schätzen8. Ein Vortrag, der den Mehrbedarf pauschal schätzt, genügt nach Auffassung des BGH nicht der Substantiierungspflicht. Einzelne Oberlandesgerichte sind davon allerdings abgewichen und haben eine Pauschalierung zugelassen. 1 Graba, FamRZ 2002, 857. 2 Spangenberg, FamRZ 1991, 269; Graba, FamRZ 2002, 857 (858); Schürmann, NJW 2006, 2301. 3 Büttner, NJW 2001, 3244 Graba, FamRZ 2002, 857; für eine beschränkte Beibehaltung Borth, FamRZ 2001, 1653 (1655); Gerhardt, FamRZ 2003, 272 (275): „… kein Anspruch auf Finanzierung von Trennungskosten.“ 4 Nachweise bei BGH v. 9.6.2004 – XII ZR 308/01, FamRZ 2004, 1357 (1359) = FamRB 2004, 324; Gerhardt, FamRZ 2003, 272. 5 OLG Düsseldorf v. 30.1.1985 – 5 UF 149/84, FamRZ 1985, 1039. 6 BGH v. 18.4.1984 – IVb ZR 59/82, FamRZ 1984, 772 (774). 7 BGH v. 4.11.1981 – IVb ZR 625/80, FamRZ 1982, 255; BGH v. 31.1.1990 – XII ZR 21/89, FamRZ 1990, 979 (981); BGH v. 11.1.1995 – XII ZR 122/93, FamRZ 1995, 346 (347); BGH v. 9.6.2004 – XII ZR 308/01, FamRZ 2004, 1357 = FamRB 2004, 324. 8 BGH v. 24.1.1990 – XII ZR 2/89, FamRZ 1990, 499 (503), im konkreten Fall 150 DM.
684
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 994
Kap. 6 C
(1) Trennungsbedingter Mehrbedarf bei konkreter Bedarfsermittlung Wird der Unterhalt nach der konkreten Methode berechnet, ist der tren- 990 nungsbedingte Mehrbedarf ohnehin Bestandteil der einzelnen, vom Berechtigten darzulegenden Positionen, spielt also bei dieser Berechnungsform keine eigenständige Rolle. (2) Trennungsbedingter Mehrbedarf beim Quotenunterhalt Neben dem Quotenunterhalt, berechnet nach der Differenzmethode, 991 kann der trennungsbedingte Mehrbedarf nur dann geltend gemacht werden, wenn ausreichende finanzielle Mittel vorhanden sind, ihn zu bedienen – was in aller Regel nur der Fall sein kann, wenn das Einkommen für den Lebensunterhalt nicht voll verbraucht worden ist, wenn also die Ehegatten Vermögen bilden konnten oder wenn sich die Leistungsfähigkeit des Pflichtigen verbessert hat. Denn wenn der Unterhalt nach einer Quote des Einkommens oder einer Quote der Differenz beider Einkommen berechnet wird, stehen in aller Regel keine weiteren Geldmittel zur Verfügung, die für einen zusätzlichen Bedarf verteilt werden könnten1. Neben dem Unterhaltsbedarf, der nach der Differenzmethode zu berech- 992 nen ist, würde ein konkret zu bemessender zusätzlicher Bedarf eines Ehegatten stets zu einem Verstoß gegen den Halbteilungsgrundsatz führen. Und weil ein trennungsbedingter Mehrbedarf regelmäßig auch nicht in den ehelichen Lebensverhältnissen angelegt ist, kann er nicht neben dem nach der Differenzmethode ermittelten Quotenbedarf berücksichtigt werden2; beide Ehegatten müssen hinnehmen, dass die Vorteile gemeinsamen Wirtschaftens „aus einem Topf“ weggefallen sind3. (3) Trennungsbedingter Mehrbedarf bei der Anrechnungsmethode Nur bei der (nur noch in seltenen Fällen anwendbaren) Anrechnungsmethode (Rn. 1185) kann daher der trennungsbedingte Mehrbedarf zu einer Erhöhung des Unterhaltsanspruchs führen.
993
(4) Trennungsbedingter Mehrbedarf und Mangelfall Im Mangelfall ist der trennungsbedingte Mehrbedarf ohne Bedeutung4, nachdem die Rechtsprechung des BGH und der OLGe einen Mindestbedarf im Mangelfall zulässt.
1 Dagegen kritisch Graba, FamRZ 2002, 857 (859). 2 Graba, FamRZ 2002, 857 (859); Johannsen/Henrich/Büttner, 1578 BGB Rn. 25; BGH v. 9.6.2004 – XII ZR 308/01, FamRZ 2004, 1357 = FamRB 2004, 324. 3 Erman/Graba, 1578 BGB Rn. 43. 4 BGH v. 9.6.2004 – XII ZR 308/01, FamRZ 2004, 1357 = FamRB 2004, 324.
Schlünder
685
994
Kap. 6 C Rn. 995
Ehegattenunterhalt
cc) Checkliste der Bedarfspositionen des trennungsbedingten Mehrbedarfs und deren Höhe: 995
Haushaltskosten1 Krankenversicherung2 Kreditaufnahme für trennungsbedingte Renovierungen, Anschaffung von Haushaltsgegenständen und Kaution3 Maklerprovision Mietmehrkosten4 Mietnebenkosten, Telefon, Zeitungen, Hausrat (150 DM)5 Pauschale Erhöhung6 des Nettoeinkommens des Pflichtigen um 30 % wegen höherer Miete, Nebenkosten, Fahrtkosten und Anschaffungen Verfahrenskostenhilferaten7 Pkw, falls nach der Trennung die Anschaffung erforderlich ist8 Telefonanschluss (Grundgebühr)9 Umgangskosten, ausnahmsweise beim Umzug in einen weit entfernten Ort10 Umzugskosten (aus den neuen Bundesländern nach Westdeutschland mit Neueinrichtung nach westdeutschem Standard) können einmaliger, trennungsbedingter Mehrbedarf sein11 Versicherungen; Zusatzkosten bei Privathaftpflicht, Feuer12 Zeitungen13, vgl. auch Mietnebenkosten Zusammenleben mit einem anderen Partner begründet keinen Mehrbedarf, insbesondere, wenn der neue Partner Einkommen erzielt14 oder seinerseits Haushaltsgegenstände für die neue Wohnung angeschafft hat15. 1 OLG Frankfurt v. 14.2.1984 – 4 UF 180/83, FamRZ 1984, 798 (800). 2 BGH v. 7.5.1991 – XII ZR 69/90, FamRZ 1991, 1414 (1415); OLG Düsseldorf v. 26.11.1986 – 5 UF 73/86, FamRZ 1987, 595; OLG Düsseldorf v. 28.9.1987 – 2 UF 128/86, FamRZ 1987, 1254. 3 OLG Hamm v. 2.8.1996 – 12 WF 320/96, FamRZ 1997, 944. 4 OLG Koblenz v. 27.2.1991 – 9 UF 54/90, FamRZ 1991, 1187. 5 BGH v. 24.1.1990 – XII ZR 2/89, FamRZ 1990, 499 (503). 6 OLG Hamburg v. 15.12.1981 – 2 UF 13/81 U, FamRZ 1982, 925 (926). 7 OLG München v. 16.1.1994 – 12 UF 1388/93, FamRZ 1994, 898. 8 BGH v. 31.5.1988 – VI ZR 116/87, FamRZ 1988, 921 (924). 9 OLG Hamm v. 9.3.1992 – 6 UF 409/91, FamRZ 1992, 1175. 10 OLG Frankfurt v. 13.7.1990 – 1 UF 67/90, FamRZ 1991, 78. 11 OLG Frankfurt v. 12.3.1992 – 1 UF 184/91, FamRZ 1992, 1467; einschränkend OLG Köln v. 28.11.1985 – 4 WF 313/85, FamRZ 1986, 163. 12 BGH v. 31.5.1988 – VI ZR 116/87, FamRZ 1988, 921 (924). 13 BGH v. 31.5.1988 – VI ZR 116/87, FamRZ 1988, 921 (924). 14 BGH v. 12.7.1990 – XII ZR 85/89, FamRZ 1990, 1093; OLG Frankfurt v. 6.10.1981 – 3 UF 56/81, FamRZ 1982, 376; OLG Düsseldorf v. 30.4.1984 – 2 WF 90/84, FamRZ 1984, 800 (801). 15 OLG Hamm v. 2.8.1996 – 12 WF 320/96, FamRZ 1997, 944.
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Ehegattenunterhalt
Û
Rn. 997
Kap. 6 C
Praxistipp: Mit der Rechtsprechung des BGH zum Surrogat der Haushaltstätigkeit und zum Mindestbedarf hat der trennungsbedingte Mehrbedarf an Bedeutung verloren, zumal er in den in der Praxis häufigsten Fällen des Differenz- und Quotenunterhalts mangels liquider Mittel ohnehin nicht bedient werden konnte. Die in der Praxis verbleibenden Fälle sind diejenigen, in denen die Anrechnungsmethode angewendet wird, und in den Fällen des Quotenunterhalts, wenn auf Seiten des Pflichtigen zusätzliche Mittel zur Verfügung stehen, den trennungsbedingten Mehrbedarf zu bezahlen, zB bei Sparvermögen. Er ist konkret, nicht pauschal vorzutragen, zB die konkrete Mehrmiete unter Vorlage des neuen Mietvertrags, die Zeitung unter Vorlage des Abonnementvertrags, die Zusatzkosten für die Versicherungen unter Vorlage der neuen Police nebst Prämienrechnung usw., um dem Tatrichter eine Schätzung nach § 287 ZPO zu ermöglichen. Beim Zusammenleben mit einem anderen Partner in der neuen Wohnung ist darzulegen, was dieser eingebracht hat.
d) Kosten einer Kranken- und Pflegeversicherung aa) Angemessene Versicherung für Krankheit und Pflegebedürftigkeit Nach § 1578 Abs. 2, 1. Alt. BGB gehören zum Lebensbedarf auch die Kos- 996 ten einer angemessenen Versicherung für den Fall der Krankheit und der Pflegebedürftigkeit. Als Teil des Unterhalts kann der Berechtigte verlangen, dass der Pflichtige die Beiträge für Kranken- und Pflegeversicherung bezahlt. Wird der Unterhalt als Quote des Einkommens oder als Quote der Differenz zweier Einkommen geltend gemacht, sind diese Beiträge nicht in dem Betrag der Quote enthalten1; sie müssen gesondert neben dem Elementarunterhalt geltend gemacht werden. Der Krankenvorsorgeunterhalt ist wie der Elementarunterhalt an den Unterhaltsberechtigten zu leisten; er ist zweckgebunden. Wird der Betrag nicht bestimmungsgemäß eingesetzt, hat sich der Berechtigte so behandeln zu lassen, als bestehe ein entsprechender Versicherungsschutz. Wird der Unterhalt nach der konkreten Methode berechnet, sind die Kosten für eine Kranken- und Pflegeversicherung eine eigene Bedarfsposition, die neben anderen als Unterhalt geltend gemacht wird. Bei fiktiven Einkünften aus nicht selbständiger Tätigkeit ist der Krankenvorsorgebedarf gedeckt; ein Anspruch auf Krankenvorsorgeunterhalt besteht in diesem Fall nicht2.
1 BGH v. 1.6.1983 – IVb ZR 388/81, FamRZ 1983, 888 (889); BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 59/83, FamRZ 1985, 357. 2 OLG Hamm v. 18.12.1992 – 7 UF 276/92, FamRZ 1994, 107; OLG Brandenburg v. 23.8.2007 – 9 UF 115/05, FamRB 2008, 71 zum Krankenvorsorgeunterhalt, wenn die Ehefrau während der Ehe beihilfeberechtigt war.
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997
Kap. 6 C Rn. 998 998
Ehegattenunterhalt
Die Beiträge werden wie der Elementarunterhalt als monatlich fälliger Betrag geltend gemacht; sie errechnen sich als ein Prozentsatz aus dem Elementarunterhalt im Weg eines zweistufigen Berechnungsverfahrens.
Û
Praxistipp: Es empfiehlt sich, den Elementarunterhalt und den Krankenvorsorgeunterhalt im Antrag (und im klagebegründenden Schriftsatz) als solchen zu bezeichnen, zB: Der Antragsgegner wird verurteilt, an die Antragstellerin einen monatlichen, monatlich vorauszahlbaren Elementarunterhalt von 1119,25 Euro zu zahlen … und daneben – gesondert – den Krankenvorsorgeunterhalt: „Der Antragsgegner wird verurteilt, an die Antragstellerin einen monatlichen, monatlich vorauszahlbaren Kranken- und Pflegevorsorgeunterhalt von 191,40 Euro zu zahlen“ (vgl. Beispiel Rn. 1001).
bb) Erlöschen der Mitversicherung mit Rechtskraft der Scheidung 999
Ein nicht selbständig versicherter Ehegatte ist bei dem anderen, in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtigen Ehegatten unter bestimmten Voraussetzungen bis zur Rechtskraft der Scheidung mitversichert, § 10 Abs. 1 SGB V, bei Ersatzkassen und Privatkassen nach Maßgabe der jeweiligen Satzung. Mit der Rechtskraft der Scheidung erlischt diese Mitversicherung des unterhaltsberechtigten Ehegatten. Jedoch kann der unterhaltsberechtigte Ehegatte innerhalb von drei Monaten nach der Rechtskraft der Scheidung beanspruchen, die Versicherung als freiwilliges Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung fortzusetzen, § 9 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 2 SGB V. Dasselbe gilt für die Pflegeversicherung, § 26 Abs. 1 SGB XI. Kommt eine solche gesetzliche Versicherung nicht in Betracht, besteht nur die Möglichkeit, sich privat zu versichern1.
Û
Wichtig: Der Anwalt ist verpflichtet, den nach der Ehescheidung nicht mehr in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung mitversicherten Mandanten darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedschaft mit der Rechtskraft der Scheidung erlischt und dass innerhalb von drei Monaten der Beitritt anzuzeigen ist. Die Belehrung des Mandanten in diesem Sinn muss aus Gründen des Nachweises schriftlich erfolgen und von dem Mandanten unterzeichnet werden. Bei der Dreimonatsfrist handelt es sich um eine Ausschlussfrist; wird die Frist unverschuldet versäumt, ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich2.
1 Husheer, FamRZ 1991, 264. 2 BSG v. 14.5.2002 – B 12 KR 14/01 R, FamRZ 2002, 1471.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1002
Kap. 6 C
cc) Zweistufige Berechnung (Vorwegabzug) Ist der berechtigte Ehegatte als freiwilliges Mitglied der gesetzlichen 1000 Krankenversicherung beigetreten, muss er eigene Beiträge entrichten, die nach § 1578 Abs. 2 1. Alt. BGB als Unterhaltsanspruch neben dem Elementarunterhalt geltend gemacht werden können. Werden beide Beträge – der Elementarunterhalt und die Versicherungsbeiträge – zusammen geltend gemacht, könnte sich zulasten des Pflichtigen ein Ungleichgewicht ergeben, welches gegen den Halbteilungsgrundsatz (Rn. 1159 ff.) verstoßen würde1. Daher wird der Krankenvorsorgeunterhalt von dem Einkommen des Pflichtigen vorweg abgezogen, bevor der Elementarunterhalt berechnet wird: In einem ersten Schritt wird ein fiktiver Elementarunterhalt ermittelt, aus dem der Vorsorgeanspruch als Prozentsatz, meist 15,5 %, abgeleitet wird. Dieser Betrag wird im zweiten Schritt vom Einkommen des Pflichtigen abgezogen, und erst dann wird der Elementarunterhalt als endgültiger Betrag errechnet. In gleicher Weise wird der Pflegevorsorgeunterhalt berechnet, allerdings mit einem Beitragssatz von 1,95 %, der in der Pflegeversicherung einheitlich seit 1.7.2008 gilt, bzw. 2,2 % für kinderlose Erwachsene über 23 Jahre.
1001
Beispiel: M hat ein monatliches Einkommen von 2800 Euro, F. hat kein Einkommen. Die Unterhaltsquote soll 3/7 und der Beitragssatz – Prozentsatz – für die Krankenversicherung 15,5 % (allgemeiner Beitragssatz an der gesetzlichen Krankenversicherung) betragen, derjenige für die Pflegeversicherung 1,95 % (Beitragssatz für Eltern, Kinderlose: 2,2 %). Erste Stufe: 3/7 von 2800 Euro ergeben 1200 Euro, davon 15,5 % + 1,95 % = 17,45 % = 209 Euro. Zweite Stufe: 2800 Euro – 209 Euro = 2591 Euro, davon 3/7 ergeben 1110 Euro. Der Elementarunterhalt der F. beträgt 1110 Euro der Kranken- und Pflegevorsorgeunterhalt 209 Euro.
Das Problem des Vorwegabzugs besteht darin, dass die Beiträge (im vorerwähnten Beispiel) aus einem zu hohen Elementarunterhalt berechnet wurden, denn sie wurden nicht dem eigentlichen Elementarunterhaltsanspruch von 1110 Euro, sondern einem fiktiven Elementarunterhalt iHv. 1200 Euro entnommen2. Will man den Beitrag exakt berechnen, kann dies nur dann im Wege des Vorwegabzugs erfolgen, wenn der Beitrag feststeht: Das ist immer dann der Fall, wenn nur der Mindestbeitrag zu leisten ist, der nach § 240 Abs. 4 S. 1 SGB V berechnet wird: Danach ist der Beitragsberechnung als beitragspflichtiges Einkommen für den Ka-
1 BGH v. 1.6.1983 – IVb ZR 388/81, FamRZ 1983, 888 (889); BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 59/83, FamRZ 1985, 357 (358). 2 Damit werden zu hohe Beiträge verlangt, nämlich 17,45 % aus der Differenz zwischen 1200 Euro und 1110 Euro = 90 Euro, was einem Betrag von 15,70 Euro entsprechen würde.
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1002
Kap. 6 C Rn. 1003
Ehegattenunterhalt
lendertag mindestens der 90. Teil der monatlichen Bezugsgröße zugrunde zu legen1. 1003
Der Mindestbeitrag in der Pflegeversicherung berechnet sich in gleicher Weise nach § 57 Abs. 4 SGB XI. dd) „Duisburger Formel“
1004
Will man den Beitrag für die Kranken- und Pflegeversicherung exakt berechnen, muss auf andere Berechnungsverfahren zurückgegriffen werden. Denn nach § 240 Abs. 1 SGB V ist in der Satzung der Krankenversicherung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass sich die Beiträge aus dem gesamten Unterhalt berechnen, nämlich aus dem Elementar- und dem Vorsorgeunterhalt, nicht nur aus dem Elementarunterhalt. Es ist daher zweckmäßig, einen Gesamtunterhalt zu bilden, der die Beiträge für die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung bereits enthält und aus dem der Vorsorgeunterhalt mittels einer einfachen Prozentrechnung herausgerechnet werden kann. Diesen Anforderungen genügt die einfach zu handhabende sog. Duisburger Formel von Conradis2. Sinnvoll ist aber auch, eine Vorwegauskunft der jeweiligen Krankenkasse einzuholen. ee) Kranken- und Altersvorsorgeunterhalt
1005
Ist der Kranken- und Pflegevorsorgeunterhalt kombiniert mit dem Altersvorsorgeunterhalt zu berechnen, wird der Betrag der Altersvorsorge nach der Bremer Tabelle3 ermittelt und dem Nettoeinkommen des Beitragspflichtigen hinzuaddiert, weil es nach § 240 Abs. 1 S. 2 SGB V auf die gesamte Leistungsfähigkeit des Mitglieds ankommt. Das so ermittelte Nettoeinkommen wird in die Duisburger Formel eingestellt. Ist der Krankenvorsorgeunterhalt in Verhältnis zum Elementarunterhalt zu hoch, kann der Gesamtbetrag des Unterhalts in einer den Interessen beider Parteien gerecht werdenden Weise abweichend auf die Unterhaltsbestandteile verteilt werden4. ff) Beihilfe im öffentlichen Dienst
1006
Ansprüche auf Beihilfe im öffentlichen Dienst für Aufwendungen des Ehegatten entfallen mit der Rechtskraft der Scheidung. Eine private Krankenversicherung muss entsprechend aufgestockt werden5. Der zu Ehe1 Bezugsgröße 2010: 2555 Euro; 2170 Euro (Ost), FamRZ 2010, 88. Bezugsgröße 2011: 2555 Euro; 2240 Euro (Ost), FamRZ 2011, 167. Bezugsgröße 2012: 2625 Euro; 2240 Euro (Ost), FamRZ 2012, 169. 2 Conradis, FamRZ 2004, 1156 (1157); Conradis, FamRB 2007, 304. 3 FamRB 2012, 64 – ständig aktuell unter www.famrb.de. 4 BGH v. 7.12.1988 – IVb ZR 23/88, FamRZ 1989, 483. 5 Müller, FPR 2003, 160.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1009
Kap. 6 C
zeiten beihilfeberechtigte Ehegatte eines Beamten kann nach der Scheidung einen zusätzlichen Krankenvorsorgeunterhalt verlangen, um einen gleichwertigen Versicherungsschutz sicherstellen zu können1. Er muss sich jedoch Krankenversicherungsbeiträge aus einer fiktiven, nicht selbständigen Erwerbstätigkeit anrechnen lassen2. e) Kosten einer Schul- oder Berufsausbildung, Fortbildung oder Umschulung Nach § 1578 Abs. 2 2. Alt. BGB umfasst der Lebensbedarf die Kosten einer Schul- oder Berufsausbildung, einer Fortbildung oder einer Umschulung nach den §§ 1574, 1575 BGB. Mit dieser Vorschrift werden die zuletzt genannten Bestimmungen ergänzt, die über den Inhalt des Ausbildungsanspruchs nichts aussagen. Es sind also nicht nur die allgemeinen Lebenshaltungskosten zu zahlen, sondern daneben auch die Kosten der Ausbildung selbst. Darunter fallen die Kosten für erforderliche Lernmittel, Fahrtkosten zwischen Wohnort und Ausbildungsstätte, Lehrgangs, Studien- und Zulassungsgebühren sowie zusätzliche Kosten für die Unterkunft am Ausbildungsort.
1007
Kraft des Unterhaltsrechtverhältnisses ist der Berechtigte verpflichtet, die 1008 Kosten in vertretbarem Rahmen zu halten. Kostenintensive Auslandsaufenthalte werden nicht geschuldet, auch nicht Aufwendungen, die nicht angefallen wären, wenn die Ausbildung am Wohnort hätte absolviert werden können. Es wird auch darauf ankommen, inwieweit der Verpflichtete neben sonstigen Unterhaltspflichten solche Kosten tragen kann. Dabei sind die Einkommensverhältnisse des Pflichtigen zu berücksichtigen, ferner der Umstand, ob die Ausbildung einen Nebenerwerb des Berechtigten zulässt, was von der Dauer und den Kosten der Ausbildung abhängen wird. Zu prüfen ist auch, ob dem Berechtigten zugemutet werden kann, eine bisher ausgeübte Berufstätigkeit fortzusetzen. f) Altersvorsorgeunterhalt nach § 1578 Abs. 3 BGB Getrenntlebenden Ehegatten steht nach § 1361 Abs. 1 S. 2 BGB nicht 1009 schon mit der Trennung, sondern erst ab dem Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens ein Anspruch auf Zahlung der Kosten einer angemessenen Versicherung für den Fall des Alters sowie der verminderten Erwerbsfähigkeit zu. Nach § 1578 Abs. 3 BGB haben geschiedene Eheleute den gleichen Anspruch ab Rechtskraft der Scheidung. Die genannten Vorschriften haben den Zweck, eine lückenlose Versorgung des geringer verdienenden Ehegatten im Versorgungsausgleich herzustel1 Zur Berechnung des geldwerten Vorteils der Beihilfeleistung vgl. OLG Koblenz v. 16.6.2003 – 13 UF 122/03, FamRB 2004, 113 = NJW-RR 2004, 1012. 2 OLG Brandenburg v. 23.8.2007 – 9 UF 115/05, FamRB 2008, 71; der Berechtigte muss dabei auch einen Versicherungsschutz mit Selbstbeteiligung hinnehmen, sofern der Unterhaltsverpflichtete den Selbstbehalt erstattet.
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Kap. 6 C Rn. 1010
Ehegattenunterhalt
len. Denn bis zur Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags partizipiert der berechtigte Ehegatte im Rahmen des Versorgungsausgleichs an Anrechten des anderen, weil die Ehezeit i.S. der Vorschriften über den Versorgungsausgleichs nur bis zum Ende des Vormonats reicht, in welchem der Scheidungsantrag zugestellt wurde. Mit der Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens wird die Altersvorsorge von der Ebene des Versorgungsausgleichs auf diejenige des Unterhaltsrechts verlagert, was § 1361 Abs. 1 S. 2 BGB und § 1578 Abs. 3 BGB sicherstellen1. Voraussetzung ist allerdings ein Unterhaltsanspruch nach §§ 1570 ff. BGB, einen isolierten Altersvorsorgeanspruch sieht die Vorschrift nicht vor. Ein Ehegatte, dem nach § 1575 BGB ein Unterhaltsanspruch zusteht, hat keinen Vorsorgeunterhaltsanspruch, was sich unmittelbar aus dem Wortlaut von § 1578 Abs. 3 BGB ergibt, weil die Vorschrift explizit auf alle nachehelichen Unterhaltsansprüche verweist, mit Ausnahme des § 1575 BGB. 1010
In der Praxis hat sich für die Berechnung des Anspruchs ein zweistufiges Modell nach der Bremer Tabelle2 herausgebildet, welche der BGH gebilligt hat3. Wird der Unterhalt nach der konkreten Berechnungsmethode ermittelt, findet keine zweistufige Berechnung statt (Rn. 1047).
1011
Der Altersvorsorgeunterhalt ist ausschließlich auf der Grundlage von Erwerbseinkünften zu berechnen. Dem liegt nach der Bremer Tabelle die Erwägung zugrunde, dass der Betrag des Elementarunterhalts versicherungspflichtiges Erwerbseinkommen ist und der Berechtigte daraus eine eigene Altersversorgung erwerben kann. Demgemäß werden Kapitaleinkünfte, Mieterträge oder Gebrauchsvorteile (Wohnvorteil) auf Seiten des Berechtigten bei der Berechnung des Altersvorsorgeunterhalt nicht berücksichtigt und müssen eliminiert werden4, weil solche Einkünfte nicht mit einem Erwerbseinkommen gleichzusetzen sind, sondern ihrer Art nach selbst als Altersvorsorge dienen können.
1012
Fällt der Altersvorsorgeunterhalt weg, weil der Berechtigte Rente bezieht, erhöht sich der Elementarunterhalt. Da der Bedarf neu zu berechnen ist, sich also die wirtschaftlichen Verhältnisse ändern, ist die Abänderungsklage nach den §§ 238, 239 FamFG die richtige Klageart5. g) Konkrete Bedarfsermittlung aa) Fallgruppen
1013
Die sog. einkommensunabhängige oder konkrete Bedarfsermittlung wird hauptsächlich in Fällen von überdurchschnittlich hohen Einkommen an1 BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 (1537) = FamRB 2007, 290. 2 FamRB 2012, 64 – ständig aktuell unter www.famrb.de. 3 BGH v. 4.11.1987 – IVb ZR 81/86, FamRZ 1988, 145 m. Anm. Hoppenz; BGH v. 20.10.1999 – XII ZR 297/97, FamRZ 2000, 351 (355). 4 BGH v. 20.10.1999 – XII ZR 297/97, FamRZ 2000, 351 (354, 355). 5 BGH v. 8.6.2005 – XII ZR 294/02, FamRZ 2005, 1479 = FamRB 2005, 260.
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Rn. 1015
Kap. 6 C
gewandt, bei denen regelmäßig ein Teil des Einkommens zur Vermögensbildung verwendet wird und sich insoweit nicht prägend auf die ehelichen Lebensverhältnisse auswirkt (relative Sättigungsgrenze, Rn. 1026 ff.). Eine für alle Fälle geltende, einheitliche Obergrenze des Unterhaltsanspruchs oder des Bedarfs im Sinne einer abstrakten Maximalgrenze, ab der kein Unterhalt mehr verlangt werden kann, gibt es allerdings nicht (absolute Sättigungsgrenze), weil nach § 1578 BGB die individuellen ehelichen Lebensverhältnissen maßgebend sind1. Allenfalls für seltene Ausnahmefälle bei extrem hohen Einkünften hat der BGH2 eine Sättigungsgrenze erwogen, aber noch keine konkrete Entscheidung dazu getroffen. Der Unterhaltsbedarf wird als Summe der konkreten Einzelbedürfnisse aus den einzelnen Lebensbereichen nach Art und Höhe ermittelt (vgl. die Aufzählung in Rn. 1032). Der Sache nach geht es darum, ein in der Ehe tatsächlich praktiziertes Konsumverhalten3 anhand der Ausgaben und Kosten darzulegen. Allerdings müssen die geltend gemachten einzelnen Bedarfpositionen im Streitfall nicht in allen Punkten konkret nachgewiesen werden; es reicht aus, wenn der Unterhaltsberechtigte die in den einzelnen Lebensbereichen anfallenden Kosten überschlägig und exemplarisch darstellt, so dass sie nach § 287 ZPO geschätzt werden können4. Daneben soll die konkrete Berechnungsmethode auch bei schwer durchschaubaren Einkommensverhältnissen anzuwenden sein, zB bei ineinander verschachtelten Unternehmen, bei denen ein nicht unbeträchtlicher Teil des Einkommens mit unternehmerischen Zielen eingesetzt wird5.
1014
Werden die ehelichen Lebensverhältnisse nicht nur durch das Nettoein- 1015 kommen der Parteien, sondern auch durch Sachentnahmen oder andere vermögenswerte Vorteile bestimmt, rechtfertigt dieser Umstand allein nicht, den Bedarf konkret zu berechnen. Das ist zB der Fall, wenn die Parteien eigene Produkte aus einem landwirtschaftlichen Betrieb für den Lebensbedarf verwenden. In einem solchen Fall sind die Vorteile entsprechend § 287 ZPO6 nach ihrem Geldwert zu schätzen und in die Berechnung des Einkommens einzustellen7. Denn die konkrete Bedarfsbemessung darf nicht dazu führen, einen Bedarf anzunehmen, der in den
1 BGH v. 16.6.1982 – IVb ZR 727/80, FamRZ 1983, 152 (153); Schwab, FamRZ 1982, 456; Eschenbruch/Loy, FamRZ 1994, 665 (666); Götsche, FamRB 2007, 143; BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, FamRZ 2010, 1637 (1639) = FamRB 2010, 328 und FamRB 2010, 329. 2 BGH v. 22.6.1994 – XII ZR 100/93, FamRZ 1994, 1169 (1170), BGH v. 8.12.1982 – IVb ZR 331/81, FamRZ 1983, 150 (151); Büte, FuR 2005, 385 (386 Fn. 16 mwN). 3 Büte, FuR 2005, 385; Ehinger in: Ehinger/Griesche/Rasch, Rn. 493. 4 OLG Karlsruhe v. 30.10.2009 – 5 UF 5/08, FamRZ 2010, 655. 5 OLG Köln v. 13.1.1994 – 14 UF 206/93, FamRZ 1994, 1323. 6 Allgemein zur Anwendung von § 287 ZPO im Unterhaltsrecht BGH v. 4.6.1986 – IVb ZR 45/85, FamRZ 1985, 885. 7 BGH v. 9.6.2004 – XII ZR 277/02, FamRZ 2005, 97 (98) = FamRB 2005, 67.
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Kap. 6 C Rn. 1016
Ehegattenunterhalt
tatsächlichen Lebens-, Einkommens- und Vermögensverhältnissen keinen Niederschlag gefunden hat. 1016
Die konkrete Methode wird des Weiteren bei der Darlegung eines Mehrbedarfs angewandt. Ist ein Ehepartner in einem psychiatrischen Wohnheim untergebracht, entsprechen die konkreten Kosten des Heimaufenthalts dem eheangemessenen Bedarf1. bb) Eigenes Einkommen des Unterhaltsberechtigten
1017
Das eigene Erwerbseinkommen des Unterhaltsberechtigten ist nicht durch den Abzug eines Erwerbsanreizes zu bereinigen (vgl. Rn. 1170, 1176). Bei der konkreten Methode der Ermittlung des Bedarfs besteht hierfür keine Veranlassung, weil die Unterhaltsbemessung weitgehend auf Schätzungen beruht und dem Unterhaltsverpflichteten beträchtliche Spielräume eröffnet (vgl. Rn. 1013). Fiktives Einkommen des Unterhaltsberechtigten ist anzurechnen2 und der Vermögensstamm teilweise zu verwerten3. cc) Probleme der konkreten Methode
1018
Die konkrete Methode bringt für den Anwalt einige materiellrechtliche und prozessuale Probleme mit sich: (1) Quotenunterhalt oder konkrete Methode
1019
Im Einzelfall kann zweifelhaft sein, ob der Unterhalt nach einer Quote berechnet wird oder ob sich die ehelichen Lebensverhältnisse als so gut darstellen, dass es angebracht ist, den Unterhalt nach der konkreten Methode zu berechnen. Die Grenze zwischen Quote und konkretem Bedarf wird von Gericht zu Gericht unterschiedlich gezogen. (2) Auskunft
1020
Der Anwalt des Berechtigten kann nicht immer mit einer Auskunft des Verpflichteten über die Höhe des Einkommens rechnen; denn dazu ist der Unterhaltsschuldner dann nicht verpflichtet, wenn er erklärt, sich auf die Leistungsunfähigkeit nicht berufen zu wollen. Umgekehrt muss der Anwalt des Pflichtigen sorgfältig das Für und Wider abwägen, ob er die Auskunft mit dieser Erklärung verweigern will. Beruft sich nämlich der Verpflichtete im weiteren Verfahren gleichwohl auf die mangelnde Leistungsfähigkeit, setzt er sich damit entgegen den Grundsätzen von Treu und Glauben mit seinem früheren Vortrag in einen unlösbaren Wi-
1 OLG Koblenz v. 12.1.1998 – 13 UF 468/97, FamRZ 1998, 1513. 2 OLG Karlsruhe v. 30.10.2009 – 5 UF 5/08, FamRZ 2010, 655 (657). 3 OLG Karlsruhe v. 30.10.2009 – 5 UF 5/08, FamRZ 2010, 655 (657).
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Rn. 1024
Kap. 6 C
derspruch und muss damit rechnen, mit diesem Einwand nicht gehört zu werden1. (3) Die einzelnen Bedarfspositionen Während sich der Unterhaltsberechtigte beim Quotenunterhalt darauf be- 1021 schränken kann, das Rechenwerk darzulegen, aus dem sich der Betrag des Unterhalts ableitet, erfordert der Sachvortrag bei der konkreten Methode, die einzelnen Bedarfspositionen im Detail zu beschreiben und darzulegen, welche Aufwendungen dafür erforderlich sind2. Allerdings genügt eine exemplarische Schilderung, die dem Richter eine Schätzung nach § 287 ZPO ermöglicht. Damit erhöht sich die Darlegungslast des Berechtigten. Hinzu kommen Beweisschwierigkeiten, wenn der Verpflichtete einzelne Positionen bestreitet und dem Berechtigten der Beweis seiner Darlegungen misslingt. Für typische Bedarfspositionen kann sich der Anwalt an Checklisten3 1022 (Rn. 1032) orientieren, die dabei helfen, mögliche Bedarfspositionen zusammenzustellen. Ein pauschaler Hinweis auf solche Listen genügt aber nicht, und sie entbinden den Anwalt auch nicht von der eigenen Recherche, ob der Berechtigte im Einzelfall noch weitere Bedarfspositionen vortragen kann. (4) Beweislast Es tritt eine Umkehr der Beweislast ein, weil der Sachvortrag zu den Einzelbedürfnissen bewiesen werden muss, was je nach Position zuweilen recht schwierig sein kann4. Zweifel gehen zulasten des Berechtigten.
1023
(5) Die einzelnen Bedarfspositionen Der Unterhaltspflichtige muss sich, will er die Folge von § 138 Abs. 3 1024 ZPO vermeiden, zu jeder einzelnen Position erklären, wobei einfaches Bestreiten nicht genügt. Genauso wenig kommt er seiner Darlegungspflicht nach, wenn er ohne nähere Begründung darauf hinweist, eine Bedarfsposition sei überhöht. Ein nicht zu unterschätzendes Risiko liegt für den Verpflichteten auch darin, dass das Gericht die Höhe der Bedarfposition schätzen kann. Der Rechtsanwalt kann sich also nicht darauf verlassen, der Berechtigte werde die eine oder andere Position nicht nachweisen können. 1 BGH v. 22.6.1994 – XII ZR 100/93, FamRZ 1994, 1169 (1171); BGH v. 20.5.1968 – VII ZR 80/67; BGHZ 50, 191, 196; OLG Köln v. 12.1.2010 – 4 UF 93/09, FamRZ 2010, 1445 (1446). 2 Zur Substantiierungspflicht OLG Hamm v. 10.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603. 3 Eschenbruch/Loy, FamRZ 1994, 665; Büte, FuR 2005, 385; Götsche, FamRB 2007, 143. 4 Eschenbruch/Loy, FamRZ 1994, 665 (668).
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Kap. 6 C Rn. 1025
Ehegattenunterhalt
(6) Das Abänderungsverfahren 1025
Schließlich gelten Besonderheiten beim Abänderungsverfahren auf Seiten des Berechtigten und des Pflichtigen: Nicht jede Veränderung des Bedarfs und des Einkommens berechtigt zur Abänderungsklage. Macht etwa der Unterhaltspflichtige in einem künftigen Abänderungsverfahren geltend, nicht mehr leistungsfähig zu sein, hat dies zur Folge, dass er die Entwicklung seiner Leistungsfähigkeit in vollem Umfang darlegen und ggf. beweisen müsste1.
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Praxistipp: Es ist zweckmäßig, dem unterhaltsberechtigten Mandanten in einem frühen Stadium des Mandats zu raten, während eines repräsentativen Zeitraums ein tägliches oder wöchentliches Konsumprotokoll zu führen, welches alle Unkosten und Aufwendungen nach Art und Höhe detailliert und nachprüfbar erfasst und auch die entsprechenden Belege enthält wie Quittungen und Kassenbons für Einkäufe und Anschaffungen im Haushalt, Handwerker, Reparatur- und Wartungsrechnungen, Theaterprogramm und Eintrittskarte, Mitgliedausweis für den Golf- oder Tennisklub usw.2; eine solche Dokumentation zusammen mit den bereits erwähnten Checklisten kann als Grundlage einer Klage dienen. Auf Seiten des Verpflichteten muss sorgfältig abgewogen werden, ob von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden soll, die Auskunft über die Höhe des Einkommens mit der Erklärung zu verweigern, die mangelnde Leistungsfähigkeit werde nicht geltend gemacht. Zwar muss der Berechtigte zunächst die einzelnen Positionen konkret darlegen; allerdings kann das Gericht die Höhe der Position schätzen, was für den Verpflichteten ein hohes Risiko darstellt, denn die Schätzung des Gerichts nach § 287 ZPO wird in der Beschwerdeinstanz nur schwer anzugreifen sein. Hat man sich auf Seiten des Verpflichteten einmal auf diese Methode eingelassen, ist nur schwer davon weg zu kommen. Und schließlich sind die besonderen Schwierigkeiten bei Abänderungsverfahren zu berücksichtigen.
dd) Relative Sättigungsgrenze 1026
Auf die konkrete Ehe bezogen kann der Bedarf dagegen durchaus begrenzt sein – es kommt auf den konkreten Lebensbedarf des Berechtigten an, nicht auf die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten, die unbegrenzt sein kann und vom Bedarf des Ehegatten abgekoppelt ist. Unter relativer Sättigungsgrenze3 versteht man den konkreten Schwellenwert, ab dem der Unterhaltsanspruch nicht mehr in Form einer Quote, sondern nach der 1 BGH v. 22.6.1994 – XII ZR 100/93, FamRZ 1994, 1169 (1171). 2 BGH v. 11.4.2001 – XII ZR 152/99, FamRZ 2001, 1603 (1605) für den Kindesunterhalt. 3 Eschenbruch/Loy, FamRZ 1994, 665 (666); Götsche, FamRB 2007, 143.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1027
Kap. 6 C
konkreten Methode darzulegen ist. In Literatur und Rechtsprechung ist für einen solchen Schwellenwert kein einheitliches Meinungsbild auszumachen. Der BGH geht von 5100 Euro als Höchstgrenze aus, bis zu der Quotenunterhalt verlangt werden kann1. (1) Unterhaltsrechtliche Leitlinien der OLGe2 Sie beschränken sich unter Ziff. 15.3 (Stand 1.1.2012) meistens auf den 1027 kurzen Hinweis, dass bei sehr guten Einkommensverhältnissen des Pflichtigen eine konkrete Bedarfsberechnung in Betracht kommt3. Manche OLGe führen aus, was unter sehr guten Einkommensverhältnissen zu verstehen ist4, andere OLGe nennen einen konkreten Wert: – OLG Frankfurt: Ein eheangemessener Unterhaltsbedarf (Elementarunterhalt) kann bis zu einem Betrag von 2500 Euro als Quotenunterhalt geltend gemacht werden. Ein darüber hinausgehender Bedarf muss konkret dargelegt werden. Eigenes Einkommen des bedürftigen Ehegatten – Erwerbseinkommen nach Abzug des Erwerbstätigenbonus – ist hierauf anzurechnen. – OLG Hamm: Bei besonders günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen halten einige Senate die gebotene konkrete Bedarfsberechnung für erforderlich, wenn das nach Abzug der Aufwendungen einschließlich des Kindesunterhaltsbedarfs verbleibende Einkommen der Eheleute den Betrag des Einkommens der höchsten Einkommensgruppe der Unterhaltstabelle überschreitet5. – OLG Jena: Einen eheangemessenen Bedarf von mehr als 2500 Euro (ohne Alters- und Krankenvorsorgebedarf) muss der Berechtigte konkret darlegen (sog. relative Sättigungsgrenze). Eigenes Einkommen des bedürftigen Ehegatten – Erwerbseinkommen nach Abzug des Erwerbstätigenbonus – ist hierauf anzurechnen. – OLG Oldenburg: Bei hohem Einkommen – idR, wenn das für den Ehegattenunterhalt verfügbare Einkommen die höchste Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle übersteigt – ist der Bedarf konkret darzulegen.
1 BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, FamRZ 2010, 1637 (1639) m. Anm. Borth = FamRB 2010, 328 und FamRB 2010, 329. 2 S. aktuell www.famrb.de. 3 SüdL Stand 1.1.2012; KG Berlin; OLG Brandenburg; OLG Braunschweig; OLG Bremen; OLG Celle; OLG Dresden; OLG Hamburg; OLG Köln; OLG Rostock. 4 OLG Dresden; OLG Düsseldorf; OLG Hamm; OLG Oldenburg; OLG Schleswig: Bei höheren Einkommen bleiben Teile, die regelmäßig und in angemessenem Umfang zur Vermögensbildung verwandt worden sind, grundsätzlich unberücksichtigt. 5 OLG Hamm v. 21.1.2003 – 9 UF 88/02, FamRZ 2003, 1109 (nicht bei einem Unterhaltsanspruch von 8000 DM).
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Kap. 6 C Rn. 1028
Ehegattenunterhalt
– OLG Koblenz: In der Entscheidung v. 17.6.2002 wurde die konkrete Berechnung bei einem Bedarf von 3650 Euro angenommen1. Nach den Leitlinien: Bei sehr guten Einkommensverhältnissen (idR mindestens das Doppelte des Höchstbetrags der Düsseldorfer Tabelle als frei verfügbares Einkommen) der Eheleute kommt eine konkrete Bedarfsberechnung in Betracht. (2) Kritik 1028
Nach § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB sind die individuellen ehelichen Lebensverhältnisse für den Bedarf maßgebend, so dass sich ein für alle Fälle geltender abstrakter Schwellenwert im Sinne eines für alle Fälle feststehenden Betrags jedenfalls für den nachehelichen Unterhalt ohnehin verbietet, genauso, wie eine für alle Fälle maßgebliche absolute Sättigungsgrenze nicht gefunden werden kann, so sehr es einem praktischen Bedürfnis entspricht, ab einem feststehenden Betrag die konkrete Methode anzuwenden. Es fehlt deshalb auch an einer einleuchtenden Begründung, warum die höchste Einkommensstufe der Düsseldorfer Tabelle, die für den Kindesunterhalt maßgebend ist und mit ihrer periodischen Neufassung nur den Anschluss an die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse2 gewährleistet, das entscheidende Kriterium für den nach ganz anderen Maßstäben zu ermittelnden Ehegattenunterhalt sein soll.
1029
Taugliches Abgrenzungskriterium kann deshalb nur sein, wie die Ehegatten die ehelichen Lebensverhältnisse gestaltet haben: Welche Beträge sie im Einzelfall für den Lebensbedarf ausgegeben haben und welche in die Vermögensbildung investiert wurden3, sei es auch, dass die Investition zur Stärkung der Kapitalgrundlage eines Familienunternehmens eingesetzt wurde4. (3) Die Auffassung des BGH
1030
Der BGH hat die konkrete, einkommensunabhängige Methode in mehreren Entscheidungen5 nicht beanstandet; es sei Sache des Tatrichters, den 1 OLG Koblenz v. 17.6.2002 – 13 UF 781/01, FuR 2003, 128. 2 Eschenbruch/Loy, FamRZ 1994, 665 (669). 3 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (850) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220; BGH v. 9.6.2004 – XII ZR 277/02, FamRZ 2005, 97 (98) = FamRB 2005, 67. 4 BGH v. 22.6.1994 – XII ZR 100/93, FamRZ 1994, 1169 (1170). 5 BGH v. 6.10.1982 – IVb ZR 311/81, FamRZ 1982, 1187 (1188); BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 62/83, FamRZ 1985, 582 (583); BGH v. 1.4.1987 – IVb ZR 33/86, FamRZ 1987, 691 (693); BGH v. 15.11.1989 – IVb ZR 95/88, FamRZ 1990, 280; BGH v. 22.6.1994 – XII ZR 100/93, FamRZ 1994, 1169 (1171); BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (850) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220; BGH v. 9.6.2004 – XII ZR 277/02, FamRZ 2005, 97 (98) = FamRB 2005, 67; BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, FamRZ 2010, 1637 (1639) = FamRB 2010, 328 und FamRB 2010, 329.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1032
Kap. 6 C
eheangemessenen Bedarf bei sehr guten Einkommensverhältnissen konkret zu ermitteln. Kriterium ist, ob die Ehegatten während bestehender Ehe Vermögen gebildet haben. Dies legt die Vermutung nahe, dass nicht das gesamte Einkommen verbraucht worden ist, um den laufenden Lebensbedarf zu decken, sondern ein Teil davon auch der Vermögensbildung zufließt. Die konkrete Bedarfsmethode dient dazu, die nicht unterhaltsrelevanten, für das Vermögen verwandten Teile von den unterhaltsrechtlich bedeutsamen abzugrenzen1. In der Entscheidung v. 11.8.2010 geht der BGH2 davon aus, dass ein Einkommen von 5100 Euro auf Seiten des besser verdienenden Ehegatten nur die Höchstgrenze bildet, bis zu der Quotenunterhalt verlangt werden kann. (4) Literatur Auch die Literatur zeigt keine einheitliche Tendenz: Scholz3 macht den 1031 Schwellenwert an 5112 Euro (10 000 DM) fest, Büte4 geht von einem Wert nicht unter 4000 Euro aus. Eschenbruch/Loy5 setzten die Schwelle im Jahr 1994 mit 8000 DM an, Schwolow6 will die Grenze, ab der konkret gerechnet werden muss, „sehr hoch“ ansetzen. Götsche7 verweist auf die Praxis des OLG Brandenburg und zieht die Grenze bei einem monatlichen Gesamteinkommen der Ehegatten von 4800 Euro.
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Praxistipp: Die unübersichtliche Rechtsprechung zum Schwellenwert zwingt den Anwalt zu Vorsichtmaßnahmen. Zweierlei bietet sich an: Er kann das Gericht um einen rechtlichen Hinweis nach § 139 ZPO bitten, ob es von der konkreten Form der Berechnung ausgeht8, oder – auch für den Fall, dass sich das Gericht nicht festlegen will – er greift zu einer Hilfsbegründung: In erster Linie wird der Unterhalt nach einer Quote berechnet, hilfsweise, bei gleich bleibendem Antrag, nach der konkreten Methode.
(5) Einzelne Bedarfpositionen aus der Rechtsprechung Der Gläubiger ist nicht zum Nachweis sämtlicher Ausgaben und ihrer konkreten Höhe verpflichtet. Ausreichend ist eine exemplarische Schilderung der in den einzelnen Lebensbereichen anfallenden Kosten, die so
1 BGH v. 9.6.2004 – XII ZR 277/02, FamRZ 2005, 97 (98) = FamRB 2005, 67. 2 BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, FamRZ 2010, 1637, Tz. 28 = FamRB 2010, 328 und FamRB 2010, 329. 3 Scholz, FamRZ 1993, 125 (136). 4 Büte, FuR 2005, 385 (386). 5 Eschenbruch/Loy, FamRZ 1994, 665 (666). 6 Schwolow, FuR 1997, 313 (314). 7 Götsche, FamRB 2007, 143. 8 Büte, FuR 2005, 385 (386).
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1032
Kap. 6 C Rn. 1032
Ehegattenunterhalt
genau sein muss, dass sie eine Schätzung des Bedarfs nach § 287 ZPO ermöglicht1: – Der allgemeine Wohnbedarf umfasst die Anmietung einer Wohnung oder die Kosten für die Instandhaltung und Pflege eines zur Verfügung gestellten Hauses. Wohnkosten: Kaltmiete 1800 DM + Nebenkosten und Garage 450 DM2; Wohnkosten: 1200 Euro3, Wohnbedarf 1000 Euro und Nebenkosten 200 Euro4; – Kosten für Unterhaltung, Wartung und Ersatz eines Pkw 800 DM5; 325 Euro6, 400 Euro7; – Aufwendungen für Personal (Gärtner, Haushaltshilfe, Putzhilfe): Haushilfe 200 DM8; Haushaltshilfe/Fensterputzer 300 Euro9; – Allgemeine Lebenshaltungskosten – früher zur Verfügung gestelltes Haushaltsgeld, OLG München davon 30 %; allgemeines Haushaltsgeld 600 Euro10, 800 Euro11; – Privater Bedarf Kleidung, Kosmetik, Friseur: Friseur 150 Euro12; Kleidung 500 Euro, Kosmetika 100 Euro; Kosten für Kosmetikerin 60 Euro, Fußpflege 20 Euro, Friseurkosten 80 Euro13; Kosmetik 75 Euro14; Schmuck 400 Euro15; – Angemessene Freizeitgestaltung Reitpferd einschließlich Hufschmiedund Tierarztkosten 345 Euro16; – Reisen und Erholungsurlaub 500 Euro17; 300 Euro18; – Kranken- und Altersvorsorge nicht durch die Krankenkasse gedeckte Krankheitskosten 50 Euro und zusätzliche Altersvorsorge19; 1 OLG Hamm v. 15.6.2004 – 2 UF 60/03, FamRZ 2005, 719; vgl. auch die Aufzählung des BGH v. 22.6.1994 – XII ZR 100/93, FamRZ 1994, 1169 (1171); OLG Karlsruhe v. 30.10.2009 – 5 UF 5/08, FamRZ 2010, 655. 2 OLG Koblenz v. 17.6.2002 – 13 UF 781/01, FuR 2003, 128 (130). 3 OLG Hamm v. 5.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603. 4 OLG Köln v. 12.1.2010 – 4 UF 93/09, FamRZ 2010, 1445 (1446). 5 OLG Koblenz v. 17.6.2002 – 13 UF 781/01, FuR 2003, 128 (130). 6 OLG Hamm v. 5.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603. 7 OLG Köln v. 12.1.2010 – 4 UF 93/09, FamRZ 2010, 1445 (1446). 8 OLG Koblenz v. 17.6.2002 – 13 UF 781/01, FuR 2003, 128 (130). 9 OLG Hamm v. 5.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603. 10 OLG Hamm v. 5.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603. 11 OLG Köln v. 12.1.2010 – 4 UF 93/09, FamRZ 2010, 1445 (1446). 12 OLG Koblenz v. 17.6.2002 – 13 UF 781/01, FuR 2003, 128 (130). 13 OLG Hamm v. 5.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603. 14 OLG Karlsruhe v. 30.10.2009 – 5 UF 5/08, FamRZ 2010, 655 (656). 15 OLG Karlsruhe v. 30.10.2009 – 5 UF 5/08, FamRZ 2010, 655 (656). 16 BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, FamRZ 2010, 1637 (1639) = FamRB 2010, 328 und FamRB 2010, 329; OLG Koblenz v. 17.12.1984 – 13 UF 652/84, FamRZ 1985, 479 (480). 17 OLG Hamm v. 5.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1604; OLG Köln v. 12.1.2010 – 4 UF 93/09, FamRZ 2010, 1445 (1446). 18 OLG Karlsruhe v. 30.10.2009 – 5 UF 5/08, FamRZ 2010, 655 (656). 19 OLG Hamm v. 5.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603.
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Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1033
Kap. 6 C
– Monatliche Zahlungen auf einen Bausparvertrag als Altersvorsorge1; – Zeitschriften/Bücher 50 Euro2; – Aufwendungen im Rahmen gesellschaftlicher Verpflichtungen 100 Euro3; – Restaurantbesuche dreimal monatlich á 40 Euro = 120 Euro4; Theater, Abendessen, Kleidung 200 Euro5, 150 Euro6; – Unvorhersehbare Kosten 300 Euro7; eine „Mehrbedarfspauschale“ ist nicht anzusetzen8. ee) Objektiver Maßstab (1) Die Formel der Rechtsprechung Würde der Bedarf ausschließlich aus dem tatsächlich praktizierten Kon- 1033 sumverhalten während intakter Ehe abgeleitet, gäbe es kein Korrektiv, kostspielige Luxusausgaben für die Zwecke der Unterhaltsberechnung mit unterhaltsrechtlichen Mitteln zu begrenzen. Die obergerichtliche Rechtsprechung musste sich damit auseinander setzen, ob etwa das Motorboot und Helikopter-Skiing9, der Aufenthalt im eigenen Jagdschloss und die Pferdehaltung10 sowie die aufwendige Gästebewirtung11 zu den elementaren Bedürfnissen gehören, deren Kosten vom Pflichtigen zu übernehmen sind. Nach Schwab12 „sträubt sich das Rechtsgefühl dagegen, dass eine derartig dem Konsum als Lebenszweck gewidmete Daseinsgestaltung zulasten anderer soll finanziert werden können“. Die Rechtsprechung des BGH13 und der Untergerichte14 wendet denn auch einen objektiven Maßstab an: Nach dieser Auffassung sollen aus der Sicht des „vernünftigen Betrachters“ eine „zu dürftige Lebensführung“ und „ein übertriebener Aufwand“ nicht berücksichtigt werden. Mit diesen Kriterien werden einzelne, als übertrieben erachtete Bedürfnisse auf ein „bürgerliches Maß“ zurückgestutzt. Extravagante Freizeitgestaltungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
OLG Karlsruhe v. 30.10.2009 – 5 UF 5/08, FamRZ 2010, 655 (656). OLG Hamm v. 5.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603. OLG Hamm v. 5.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603. OLG Hamm v. 5.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1604. OLG Köln v. 12.1.2010 – 4 UF 93/09, FamRZ 2010, 1445 (1446). OLG Karlsruhe v. 30.10.2009 – 5 UF 5/08, FamRZ 2010, 655 (656). OLG Köln v. 12.1.2010 – 4 UF 93/09, FamRZ 2010, 1445 (1446). OLG Karlsruhe v. 30.10.2009 – 5 UF 5/08, FamRZ 2010, 655 (656). OLG Köln v. 25.11.1991 – 10 UF 105/91, FamRZ 1992, 322 (324). OLG Koblenz v. 17.12.1984 – 13 UF 652/84, FamRZ 1985, 479 (480). OLG Düsseldorf v. 28.6.1990 – 6 UF 188/89, FamRZ 1991, 76 (77). Schwab, FamRZ 1982, 456 (458). BGH v. 4.11.1981 – IVb ZR 624/80, FamRZ 1982, 151 (152) mwN; BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 62/83, FamRZ 1985, 582 (583); Hoppenz/Hülsmann, A I § 1578 BGB Rn. 86 mwN. 14 OLG Hamm v. 5.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1604; OLG Köln v. 12.1.2010 – 4 UF 93/09, FamRZ 2010, 1445 (1446); OLG Karlsruhe v. 30.10.2009 – 5 UF 5/08, FamRZ 2010, 655.
Schlünder
701
Kap. 6 C Rn. 1034
Ehegattenunterhalt
wie die zuvor erwähnten haben vor den Gerichten keine Gnade gefunden – sie gehören nicht zu dem vom Pflichtigen unterhaltsrechtlich zu finanzierenden Aufwand. (2) Andere Kriterien der Begrenzung 1034
Zweifelhaft ist, ob der so verstandene Maßstab der Objektivität rationale Kriterien bietet, die es erlauben, übertriebenen Luxus von dem Aufwand zu trennen, der für den Lebensunterhalt erforderlich ist. Mit dem Standpunkt des „vernünftigen Betrachters“ lassen sich jedenfalls solche Luxusaufwendungen nicht erfassen. In der Literatur sind deshalb Versuche gemacht worden, Maßstäbe zu entwickeln1, die helfen sollen, exzessive Konsumwünsche zu begrenzen: (a) Keine Vermögensbildung zulasten des Verpflichteten
1035
Tauglich ist der anerkannte Grundsatz, dass der Unterhalt nicht den Zweck haben soll, zulasten des Verpflichteten Vermögen zu bilden – der laufende Lebensbedarf soll gedeckt werden können, es soll keine Umverteilung des Vermögens via Unterhaltsrecht stattfinden. Mit diesem Gesichtspunkt kann zB der Wohnbedarf gekappt werden: Die Miete für ein Haus, eine Eigentumswohnung, eine Doppelhaushälfte ist Bedarfsposten, nicht dagegen die Zins- und Tilgungsraten für das Loft in Manhattan oder das Chalet in Saas Fe. (b) Wegfall der personalen Grundlage
1036
Durch Trennung und Scheidung ist die personale Grundlage für einen Lebenszuschnitt entfallen, der sich ausschließlich in der ehelichen Gemeinschaft mit dem anderen Partner verwirklicht hat2. Mit diesem weiteren Kriterium kann eine Reihe von Bedürfnissen eliminiert werden wie aufwendige Geschenke, Kosten für Repräsentation3, Feste und Gästebewirtung, kostspielige Sportarten wie Golf und Tennis4, die ausschließlich zusammen mit dem anderen Partner ausgeübt wurden, gemeinsame teure Hobbys – für die Alimentation all dieser Bedürfnisse ist die rechtfertigende Grundlage, nämlich die eheliche Gemeinschaft, entfallen. Zwar knüpft das Unterhaltsrecht an die persönlichen Verhältnisse der Ehegatten an, Trennungs- und Scheidungsunterhalt bedeuten aber nicht die Perpetuierung des gemeinsam gelebten Konsums im Verhältnis eins zu eins5.
1 Eschenbruch/Loy, FamRZ 1994, 665 (669); kritisch zum Objektivitätsgrundsatz auch Schwolow, FuR 1997, 313 (314). 2 OLG Köln v. 24.6.1992 – 26 UF 106/91, FamRZ 1993, 64 (65). 3 OLG Hamm v. 10.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603. 4 OLG Hamm v. 10.2.2006 – 5 UF 104/05, FamRZ 2006, 1603. 5 Eschenbruch/Loy, FamRZ 1994, 665 (671).
702
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1039
Kap. 6 C
(c) Leistungsfähigkeit des Verpflichteten Eine dritte Stellschraube ist die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten: 1037 Nur was er wirtschaftlich schultern kann, macht spiegelbildlich den Bedarf des Berechtigten aus. Geht dieser Bedarf über denjenigen des Verpflichteten hinaus, wirkt sich dies mindernd aus: Der Bedarf des Berechtigten ist entsprechend zu kürzen. Dieser Ansatzpunkt ist letztlich Ausdruck des Halbteilungsgrundsatzes (Rn. 1159 ff.), der auch beim konkreten Bedarf einzuhalten ist, wobei dem Verpflichteten allerdings zugemutet werden kann, seine Aufwendungen für die Vermögensbildung einzuschränken, um einen gleich hohen Betrag für seinen Unterhaltsbedarf zur Verfügung zu haben1. Vermögenswerte braucht der Berechtigte nicht aufzulösen. (d) Möglichkeit der Befristung nach § 1578b BGB Schließlich kann das Gericht eine Begrenzungsmöglichkeit nach § 1578b 1038 (Rn. 1206 ff.) BGB in Erwägung ziehen. Je nach Dauer der Ehe kann die Höhe des Unterhalts auf den angemessenen Lebensbedarf gekürzt werden, sei es, dass zuvor über eine bestimmte Zeit der volle Unterhalt gewährt wird, sei es, dass das Gericht unmittelbar nach der Scheidung die Höhe des Unterhalts auf den genannten Ersatzmaßstab senkt. Maßgeblich wird auch sein, inwieweit der berechtigte Ehegatte ehebedingte Nachteile hat und wie die Ehegatten die Rollen in der Ehe verteilt haben. ff) Die konkrete Berechnung (1) Das Vorgehen bei der konkreten Methode Der Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen gem. § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB ist nicht nach einer Quote des Einkommens vorzutragen, sondern konkret und exemplarisch an dem Konsumverhalten auszurichten, welches die Ehepartner während der Ehe praktiziert haben. Die einzelnen Bedarfspositionen sind darzulegen und unter Beweis zu stellen (vgl. Rn. 1032).
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Praxishinweis: Dabei ist zunächst der Bedarf im Einzelnen dem Grund nach zu beschreiben, etwa, dass die Parteien während der gesamten Dauer der Ehe ein Reitpferd unterhalten haben, die Unterhaltsberechtigte Reitstunden genommen und an Turnieren teilgenommen hat, oder während der Ehe jede Woche den Friseur aufgesucht hat oder wann und wo in den letzten Jahren der Ehe die gemeinsamen Urlaube verbracht wurden. Jede einzelne Bedarfsposition ist im Anwaltsschriftsatz konkret unter Beweisantritt vorzutragen. Im Anschluss daran muss zu
1 OLG Koblenz v. 17.6.2002 – 13 UF 781/01, FuR 2003, 128 (134); Wendl/Dose/Bömelburg, § 4 Rn. 767; BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 62/83, FamRZ 1985, 582 (583).
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1039
Kap. 6 C Rn. 1040
Ehegattenunterhalt
den Aufwendungen und Kosten vorgetragen werden; dabei kann man sich an den Checklisten (vgl. Rn. 1032) und der darin in Bezug genommenen Rechtsprechung orientieren. Am Ende des Schriftsatzes sind die Einzelpositionen zu addieren. Der Gesamtbetrag ergibt den Bedarf nach der konkreten Methode. Sodann ist zum Einkommen des Berechtigten vorzutragen. Dieses ist um die Fahrtkosten/berufsbedingten Auslagen, dagegen nicht um den Erwerbstätigenbonus zu vermindern (vgl. Rn. 1170, 1176). Aus diesem Einkommen ist entsprechend der Bremer Tabelle der Vorsorgeunterhalt (Rn. 862, 1047) zu ermitteln, der neben dem Elementarunterhalt geltend gemacht wird. Elementarunterhalt und Vorsorgeunterhalt sollten in zwei getrennten Anträgen in einem Antragsschriftsatz geltend gemacht werden. (2) Kann von der konkreten Methode wieder abgewichen werden? 1040
Nach der früheren Rechtsprechung des BGH1 konnte der Unterhalt in einem Abänderungsverfahren nach § 238 FamFG (§ 323 ZPO aF) weder unabhängig von der bisherigen Höhe der Vorentscheidung neu festgesetzt, noch konnten Verhältnisse, die Gegenstand des Vorverfahrens waren, abweichend beurteilt werden. Die Abänderungsentscheidung konnte nur darin bestehen, den künftigen Unterhalt an die veränderten Verhältnisse anzupassen und dabei die Grundlagen des abzuändernden Urteils beizubehalten. Für das Ausmaß, wie weit abgeändert werden kann, kam es darauf an, welche Umstände für den Unterhalt seinerzeit maßgebend waren und welches Gewicht ihnen dabei zugekommen war. Der einmal festgestellte Bedarf bestimmte das Maß des nachehelichen Unterhalts und änderte sich als rechnerische, auf einen vergangenen Zeitraum bezogene Bemessungsgrundlage nicht.
1041
Diese Rechtsprechung hatte zwangläufig Folgen für die Frage, inwieweit das Gericht an die Vorentscheidung gebunden war. Es spielte keine Rolle, ob der Unterhalt pauschal nach einer Quote oder in konkreter Form berechnet worden war, maßgebend war die einmalige Feststellung des Bedarfs, der sich nach der Rechtskraft der Scheidung grundsätzlich nicht mehr ändern konnte und damit nicht mehr Gegenstand einer Abänderungsklage sein durfte. Davon hatte der BGH eine Ausnahme gemacht für den Fall, dass ein einmal konkret festgestellter Bedarf auf Seiten des Berechtigten nach Rechtskraft weggefallen war, beispielsweise der Berechtigte den Sport, dessen Kosten (Vereinsbeitrag für den Golfklub) Bestandteil seines Unterhalts war, aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben konnte oder er das Geld nicht aufgebraucht, sondern angelegt hatte, und es darum ging, ob die daraus erzielten Zinsen anzurechnen waren2.
1 BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 62/83, FamRZ 1985, 582 (583). 2 BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 62/83, FamRZ 1985, 582 (583).
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1044
Kap. 6 C
Der BGH1 hat diese Auffassung inzwischen modifiziert. Der Bedarf kann 1042 sich nach Rechtskraft der Scheidung beim Eintritt in den Ruhestand ändern, und an die Stelle der bisherigen Erwerbseinkünfte treten jetzt die deutlich geringeren Versorgungsbezüge, so dass die Grundlage für den in der Vorentscheidung festgestellten Bedarf entfallen ist. Ein in der Erstentscheidung berechneter Bedarf ist nicht für alle Zukunft festgeschrieben, sondern ändert sich, und eine Bindung an die Vorentscheidung besteht insoweit nicht mehr. Die Konsequenz aus diesem Urteil: Verringert sich der Bedarf (ohne dass diese Entwicklung dem Pflichtigen vorgeworfen werden kann) mit der Folge, dass nicht mehr von außergewöhnlich guten Einkommensverhältnissen ausgegangen werden kann, entfällt die Grundlage für die konkrete Berechnung2. gg) Wesentliche Abänderungsgründe Da bei der konkreten Methode der Bedarf unabhängig vom Einkommen 1043 des Pflichtigen ermittelt wird, nimmt der Berechtigte an Einkommenssteigerungen des Pflichtigen nach der rechtskräftigen Scheidung nicht mehr teil. Höheres Einkommen des Pflichtigen kann daher die Abänderungsklage nicht begründen3, es sei denn, dass die relative Sättigungsgrenze (dazu Rn. 1026 ff.) unterschritten wird. Erhöhen sich die Einkünfte des Unterhaltsberechtigten, verringert sich sein Unterhaltsanspruch, was der Verpflichtete mit einer Abänderungsklage nach § 238 FamFG (§ 323 ZPO aF) geltend machen kann. Verringert sich sein Einkommen, kann sich der Unterhaltsanspruch erhöhen. Das Gleiche gilt, wenn sich einzelne Bedarfspositionen ändern: verringert oder erhöht sich der Aufwand für eine einzelne Bedarfsposition, kann der Pflichtige oder der Berechtigte unter den Voraussetzungen der §§ 238, 239 FamFG (§ 323 ZPO aF) Abänderungsklage erheben. Wurde der Unterhalt mit Rücksicht auf einen besonderen Bedarf des Be- 1044 rechtigten höher bemessen, als es sonst den ehelichen Lebensverhältnissen entsprochen hätte, kann der Unterhaltstitel abgeändert werden, wenn dieser besondere Bedarf später wegfällt4. Eine Abänderungsklage kann nicht damit begründet werden, der Berechtigte verbrauche weniger, als es den Ansätzen der Erstentscheidung entspreche, er bilde Rücklagen, indem
1 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (850) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220; mit dieser Entscheidung hat der BGH die Rspr. zu den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen eingeleitet. 2 Dieser Rspr. des BGH sind allerdings nicht alle OLGe gefolgt: OLG Köln v. 12.7.2005 – 4 UF 244/04, FamRB, 2006, 704 (LS 1); OLG Brandenburg v. 5.12.2005 – 9 UF 157/05, FamRZ 2007, 472 = FamRB 2007, 71, dazu Götsche, FamRB 2007, 143 (146). 3 BGH v. 15.11.1989 – IVb ZR 95/88, FamRZ 1990, 280 (282); BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (850) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220. 4 BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 62/83, FamRZ 1985, 582 (583).
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Kap. 6 C Rn. 1045
Ehegattenunterhalt
er freiwillig auf Konsum verzichtet. Die Bedürftigkeit des Berechtigten verringert sich nicht dadurch, dass der Berechtigte seine Ausgaben für die Lebensführung einschränkt. Wohl aber ist die Abänderungsklage möglich, wenn der Berechtigte in die Lage versetzt wird, seinen Bedarf aus eigenen Mitteln zu decken, wenn er etwa mit dem Unterhalt Rücklagen gebildet hat und daraus Zinseinkünfte bezieht1.
Û
Praxistipp: Im Fall der zuletzt genannten Entscheidung des BGH hatte die Berechtigte nach dem Vortrag des Ehemannes aus dem Unterhalt in einem Zeitraum von 30 Monaten nach der Rechtskraft des Ausgangsverfahrens 150 000 DM angespart und daraus Zinsen erzielt, die nach der zwingenden Vorschrift des § 1577 Abs. 1 BGB angerechnet werden müssen. Dabei ist es gleichgültig, woher das ertragbringende Vermögen stammt und ob die Anrechnung der Zinserträge der Billigkeit entspricht, denn insoweit kann sich der Berechtigte „aus seinem Vermögen“ selbst unterhalten. Wegen der Präklusionsvorschrift des § 238 Abs. 2 FamFG (§ 323 Abs. 2 ZPO aF) sind Erträge aus dem Vermögen nicht zu berücksichtigen, welches in dem Zeitraum zwischen der Trennung und der letzten Tatsachenverhandlung im Ausgangsverfahren gebildet wurde. Hier stellt sich für den Berater die Frage, ob dem Mandanten geraten werden sollte, das Vermögen einschließlich der Zinsen für Zwecke der Altersversorgung2 anzulegen, um den bisher hohen Lebensstandard auch für das Alter aufrechterhalten zu können; wenigstens eine teilweise Anrechnung ließe sich damit vermeiden.
1045
Ein Abänderungsgrund liegt vor, wenn an die Stelle nicht ohne weiteres verwertbarer Miteigentumsanteile durch Teilungsversteigerung ein erhebliches Barvermögen tritt; uU kann der Berechtigte trotz § 1577 Abs. 3 BGB darauf verwiesen werden, den Stamm seines Vermögens zu verwerten3.
1046
Unterhaltsverträge, in denen die Parteien eine feste Rente vereinbart haben, können nach § 313 BGB angepasst werden, auch wenn eine Anpassung nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Sie kann auf die verringerte Kaufkraft der Währung gestützt werden. Eine solche Anpassung kommt nicht in Betracht, wenn die Parteien sie ausdrücklich ausgeschlossen haben4.
1 BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 62/83, FamRZ 1985, 582 (583). 2 Zur Frage der Umwandlung von Vermögen in unpfändbares Versorgungsvermögen im Zusammenhang von § 851c ZPO Hauß, FamRB 2007, 147. 3 BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 62/83, FamRZ 1985, 582 (584). 4 BGH v. 30.1.1985 – IVb ZR 65/83, FamRZ 1986, 458 (460); Büte, FuR 2005, 385 (388); vgl. § 239 Abs. 2 FamFG.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1047
Kap. 6 C
hh) Altersvorsorgeunterhalt neben dem Elementarunterhalt Für die Berechnung eines Unterhaltsbetrags nach einer Quote des Ein- 1047 kommens ist der Betrag des Altersvorsorgeunterhalts (§ 1578 Abs. 3 BGB) von dem bereinigten Nettoeinkommen des Verpflichteten abzuziehen, und aus dem verbleibenden Einkommen der maßgebliche Elementarunterhalt zu berechnen. Entsprechend dieser vom BGH1 gebilligten Methode wird nach einhelliger Meinung der Praxis der Altersvorsorgeunterhalt auf der Grundlage der Bremer Tabelle2 in zwei Stufen ermittelt. Dabei wird unterstellt, dass der Unterhaltsberechtigte aus einer versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit Einkünfte in Höhe des ihm zustehenden Elementarunterhalts hat, der als Nettoeinkommen angesehen und mittels der Bremer Tabelle in ein Bruttoeinkommen umgerechnet wird, von dem mit dem aktuellen Beitragssatz der Rentenversicherung der Betrag des Vorsorgeunterhalts berechnet werden kann (vgl. Beispiel unten und Rn. 1010 ff.). Wird aber, wie bei der konkreten Methode der Unterhaltsermittlung, keine Quote gebildet, ist die zweistufige Berechnung nicht erforderlich, zumal diese nur sicherstellen soll, dass nicht zulasten des Unterhaltsverpflichteten über den Grundsatz der gleichmäßigen Teilhabe der Ehegatten an den ehelichen Lebensverhältnissen hinausgegangen wird. Daher wird in Fällen günstiger wirtschaftlicher Verhältnisse der volle Betrag des Altersvorsorgeunterhalts neben dem Elementarunterhalt geschulde3. Bezieht der Unterhaltsberechtigte Einkünfte als Geringverdiener, wird dieses Einkommen nicht bei der Ermittlung des Altervorsorgeunterhalts hinzugerechnet, wenn hierauf bereits Rentenbeiträge entrichtet werden4. Die Höhe des Altersvorsorgeunterhalts ist nicht auf den sich aus der Beitragsbemessungsgrenze5 der gesetzlichen Rentenversicherung ergebenden Betrag begrenzt, weil bei besonders günstigen Einkommensverhältnissen idR auch über diese Grenze hinaus Vorsorge betrieben wird6.
1 BGH v. 25.2.1981 – IVb ZR 543/80, FamRZ 1981, 442; BGH v. 25.10.2006 – XII ZR 141/04, FamRZ 2007, 117; allgemein dazu Hauß, FamRB 2004, 337. 2 Aktuell unter www.famrb.de. 3 BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, FamRZ 2010, 1637 Tz. 37 m. Anm. Borth = FamRB 2010, 328 und FamRB 2010, 329; BGH v. 25.10.2006 – XII ZR 141/04, FamRZ 2007, 117 Tz. 11 ff. = FamRB 2007, 33. 4 BGH v. 10.11.2011 – XII ZR 197/08, FamRZ 2011, 192 Tz. 31, 32. 5 Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung 2011: 66 000 Euro und 57 600 Euro (Ost); 2010: 66 000 Euro und 55 800 Euro (Ost); 2009: 64 800 Euro und 54 600 Euro (Ost). Der Tageswert ist 1/360 des Jahreswerts. Der Wochenwert ist der Tageswert mal sieben. 6 BGH v. 25.10.2006 – XII ZR 141/04, FamRZ 2007, 117 = FamRB 2007, 33; Vorinstanz: OLG München v. 21.6.2004 – 17 UF 1571/03, FamRZ 2005, 367 (368); OLG Hamm v. 21.9.2007 – 11 UF 24/07, FamRZ 2008, 1184 m. ausführlicher Anm. Born; zum Altersvorsorgeunterhalt Ehinger in: Ehinger/Griesche/Rasch, Rn. 522 mit Berechnungsbeispielen.
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Kap. 6 C Rn. 1048
Ehegattenunterhalt
Beispiel (vereinfacht nach BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, FamRZ 2010, 1637): Die im Juni 2007 rechtskräftig geschiedenen Eheleute M und F hatten im April 1977 die Ehe geschlossen, aus der zwei zwischenzeitlich volljährige Kinder hervorgegangen sind. Beide Parteien waren seit 1993 nicht mehr erwerbstätig und lebten von dem Millionenvermögen des M. Ab November 2007 arbeitete F, von Beruf angelernte Sekretärin, als Sachbearbeiterin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden zu einem monatlichen Nettoeinkommen von 1270 Euro. Zusätzlich erzielt sie Zinsen in Höhe von monatlich 215 Euro aus einem Betrag, den sie als Zugewinnausgeich erhalten hatte. Vom BGH unbeanstandet geht die Vorinstanz von der konkreten Bedarfsberechnung (anstelle der Berechnung des Unterhalts nach einer Quote) aus, weil die Eheleute nicht sämtliche Einkünfte für den Lebensunterhalt verbraucht haben, sondern ein Teil davon in die Vermögensbildung geflossen ist (Tz. 27). Der vom Oberlandesgericht festgestellte Bedarf der F mit 3200 Euro übersteigt den Bedarf nach der höchsten Stufe der Düsseldorfer Tabelle (Stand 1.1.2011), der sich mit 2185.00 Euro (= 3/7 von 5100.00 Euro) oder nach SüdL mit 2295.00 Euro (= 1/2 × (9/10 + 5100.00 Euro) ergibt (Tz. 28). Auf dieser Grundlage errechnet sich der Elementarund Vorsorgeunterhalt der F: Elementarunterhaltsanspruch: Bedarf der F 3200,00 Euro Gehalt der F 1270,00 Euro Berufbedingte Aufwendungen 5 % – 63,50 Euro Erwerbstätigenbonus 10 % – 120,60 Euro Monatliche Zinseinkünfte + 215,00 Euro Unterhaltsrelevantes Einkommen 1300,90 Euro Ungedeckter Bedarf = Elementarunterhaltsanspruch 1899,10 Euro Vorsorgeunterhaltsanspruch: Nettobemessungsgrundlage nach der Bremer Tabelle FamRZ 2011, 264 Zuschlag zur Berechnung der Bruttobemessungsgrundlage: 35 % von 1899,10 Euro Bruttobemessungsgrundlage Beitragssatz der Rentenversicherung 19,9 % von 2582,77 Euro
1899,10 Euro 683,67 Euro 2582,77 Euro 513,97 Euro
M hat somit Elementarunterhalt von 1899,10 Euro und Altersvorsorgeunterhalt von 513,97 Euro, zusammen 2413,07 Euro, aufgerundet 2414,00 Euro (Ziff. 25 SüdL Stand 1.1.2012) zu zahlen. Zur Begrenzung nach § 1578b BGB vgl. die folgende Rn. In dieser Entscheidung hat der BGH den Abzug eines Erwerbstätigenbonus auf Seiten des Unterhaltsberechtigten noch gebilligt; die Rechtsprechung zum Erwerbsanreiz bei der Bedarfsermittlung nach der konkreten Methode hat der BGH jedoch später aufgegeben (vgl. Rn. 1170).
ii) Begrenzung nach § 1578b BGB 1048
Ein Anspruch auf nachehelichen Unterhalt kann nach § 1578b Abs. 1 S. 1 BGB auf den angemessenen Lebensbedarf herabgesetzt werden, wenn eine an den ehelichen Lebensverhältnissen orientierte Bemessung des Unterhaltsanspruchs auch unter Wahrung der Belange eines dem Berechtigten zur Pflege oder Erziehung anvertrauten gemeinschaftlichen Kindes unbillig wäre. Nach § 1578b Abs. 2 S. 1 BGB ist ein Anspruch auf nachehelichen Unterhalt zeitlich zu begrenzen, wenn ein zeitlich unbegrenzter 708
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1049
Kap. 6 C
Unterhaltsanspruch unbillig wäre. Die Kriterien für die Billigkeitsabwägung ergeben sich aus § 1578b Abs. 1 S. 2 und 3 BGB. Der sich auf diese Begrenzung und Befristung berufende Unterhaltsschuldner trägt für diese Einwendung die Darlegungs- und Beweislast, wobei allerdings die vom BGH entwickelten Grundsätze der sekundären Darlegungslast den Vortrag erleichtern, vgl. Rn. 1263, 1264. Bei überdurchnittlich guten Einkommensverhältnissen neigt der BGH dazu, den nach der konkreten Methode errechneten nachehelichen Unterhalt nach einer Übergangsfrist auf den eigenen angemessenen Unterhalt des Unterhaltsberechtigten herabzusetzen (vgl. Rn. 1038). 5. Die Veränderung der ehelichen Lebensverhältnisse vor und nach der Scheidung a) Die Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses aa) Das unterhaltsrechtliche Stichtagsprinzip Nach der früheren Rechsprechung des BGH1, die vom BVerfG2 nicht be- 1049 anstandet wurde, war für die Faktoren, welche die ehelichen Lebensverhältnisse prägten, der Zeitpunkt der Scheidung maßgebend. Die Rechtskraft des Scheidungsurteils (heute: Scheidungsbeschlusses) setzte einen Endpunkt hinter die wirtschaftliche Entwicklung während der Ehe und schloss nachträgliche Veränderungen grundsätzlich aus. Die für den Unterhalt maßgebenden Lebensverhältnisse wurden nur durch die bis dahin nachhaltig3 erreichten Einkommen der Ehegatten bestimmt4. War der nacheheliche Unterhalt einmal nach dem Maß der ehelichen Lebensverhältnisse berechnet worden, blieb er als „rechnerische, auf einen vergangenen Zeitraum bezogene Bemessungsgrundlage von nachträglichen Änderungen der Verhältnisse grundsätzlich unberührt“; nur ausnahmsweise konnten Entwicklungen nach der Scheidung die ehelichen Lebensverhältnisse noch beeinflussen5. Dieser auf einen festen Zeitpunkt fixierte Status bildete eine Konstante, die den Bedarfsmaßstab für künftige Unterhaltsberechnungen abgab, vgl. Rn. 885, 886 und 892.
1 Statt vieler BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 62/83, FamRZ 1985, 582 (583); vgl. Rn. 885, 886, 892. 2 BVerfG v. 14.7.1981 – 1 BvL 28/77, FamRZ 1981, 745; BVerfG v. 12.10.1992 – 1 BvR 1233/91, FamRZ 1993, 171. 3 Zum Begriff der Nachhaltigkeit BGH v. 10.10.1984 – IVb ZR 12/83, FamRZ 1985, 53. 4 BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 23/91, FamRZ 1992, 1045 (1047); BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (849) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220. 5 BGH v. 20.7.1990 – XII ZR 73/89, FamRZ 1990, 1085 (1087); BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (849) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220.
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Kap. 6 C Rn. 1050
Ehegattenunterhalt
1050
Die Rechtsprechung des BGH hatte diese stichtagsbezogene Konzeption der ehelichen Lebensverhältnisse verlassen1. Der Bedarf wurde nicht mehr als eine feste, auf einen in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt der Scheidung bezogene Größe erkannt, sondern als variabler Status, der auch nach der Scheidung sich wandelnden Entwicklungen ausgesetzt sein konnte. Künftige Veränderungen der ehelichen Lebensverhältnisse wie zB die Berufstätigkeit der bis zur Scheidung nicht erwerbstätigen Ehefrau, der Verkauf einer gemeinsamen Immobilie, der Eintritt in den Ruhestand, das Hinzutreten weiterer unterhaltsberechtigter Personen usw. beeinflussten – obwohl sie nach der Scheidung eintraten – die ehelichen Lebensverhältnisse und nahmen der Scheidung den Charakter einer wirtschaftlichen Zäsur, die zu getrennten Wegen in der Entwicklung der Einkommen beider Ehegatten führte. Die in dieser Rechtsprechung des BGH liegende Aufgabe des Stichtagsprinzips hat das BVerfG als nicht mit dem geltenden Recht für vereinbar erklärt2. Im Anschluss an diese Entscheidung hat der BGH diese Rechtsprechung aufgegeben und ist zum Stichtagsprinzip zurückgekehrt3.
1051
Die Rechtskraft der Scheidung hat die Wirkung einer Zäsur: Nach oben (zu Einkommensverbesserungen, vgl. Rn. 1057 ff.) sind die ehelichen Lebensverhältnisse auf den Bedarf zum Zeitpunkt der Scheidung begrenzt4 (von den nachstehend dargestellten Ausnahmen abgesehen); der generelle Begrenzungsmaßstab ist, ob die nach der Rechtskraft der Scheidung eintretende Entwicklung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten war und ob diese Erwartung die ehelichen Lebensverhältnisse bereits geprägt hatte oder, ob die nach der Rechtskraft der Scheidung eintretenden Umstände auch bei fortbestehender Ehe eingetreten wären. Liegen diese Voraussetzungen vor, prägt die Entwicklung die Lebensverhältnisse auch nach der Scheidung, ansonsten sind die Einkommensverhältnisse zum Zeitpunkt der Scheidung maßgebend, allerdings angepasst an die normale Entwicklung der Einkommen nach der Scheidung.
1052
Nach unten (zu Einkommensminderungen, vgl. Rn. 1066 ff.) bleibt der Status der ehelichen Lebensverhältnisse zum Zeitpunkt der Scheidung erhalten, wenn die Einkommensminderung in einer Weise entstanden ist, die dem Unterhaltspflichtigen vorzuwerfen ist, etwa wenn der Unter1 BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, FamRZ 2003, 590 = FamRB 2003, 207 m. Anm. Büttner, FamRZ 2003, 594 und Anm. Graba, S. 746; BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (849) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220; BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 51/03, FamRZ 2006, 387 (388) = FamRB 2006, 103 und FamRB 2006, 104; BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 m. Anm. Borth, FamRZ 2006, 852 = FamRB 2006, 198; Braeuer, FamRZ 2006, 1489; Schürmann, NJW 2006, 2301; Born, NJW 2007, 26. 2 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 m. Anm. Borth = FamRB 2011, 66. 3 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281; Borth, FamRZ 2012, 253. 4 AA OLG Düsseldorf v. 18.12.2006 – II-7 UF 154/06, FamRZ 2007, 1815 = FamRB 2007, 199; kritisch OLG Hamm v. 12.3.2008 – 8 UF 148/07, FamRZ 2008, 1446.
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Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1053
Kap. 6 C
haltspflichtige sein Einkommen im Hinblick auf seine Unterhaltsverpflichtung reduziert hat. Ansonsten nimmt der andere Ehepartner an einer nach der Scheidung eintretenden ungünstigen Entwicklung teil, weil er dieses Risiko auch während intakter Ehe zu tragen gehabt hätte. Auch wenn die ehelichen Lebensverhältnisse an den Zeitpunkt der Rechtskraft der Scheidung geknüpft werden, wird dadurch keine die früheren ehelichen Lebensverhältnisse unverändert fortschreibende Lebensstandardgarantie begründet. Die frühere Rechtsprechung, wonach eine Korrektur „nach unten“ in den Fällen einer unverschuldeten Einkommensminderung nur im Rahmen der Leistungsfähigkeit nach § 1581 BGB bei gleichbleibendem Bedarf möglich war, hatte der BGH zwar aufgegeben1, sie aber unter dem Eindruck der Entscheidung des BVerfG wieder aufgenommen2. Diese Rechtsprechung des BGH war heftig kritisiert worden3. Auch das BVerfG hat sich dagegen ausgesprochen, eine nachehelich entstehende Unterhaltspflicht zugunsten der zweiten Ehefrau des Unterhaltspflichtigen auf der Ebene des Bedarfs zu berücksichtigen; konkurrierende Unterhaltspflichten seien vielmehr in die Billigkeitsabwägung im Rahmen von § 1581 BGB einzubeziehen4. Grundsätzlich werden die ehelichen Verhältnisse nach § 1578 Abs. 1 S. 1 1053 BGB durch diejenigen Umstände und Entwicklungen bestimmt, die bis zur Rechtskraft der Scheidung eintreten. Das gilt auch für das Hinzutreten weiterer Unterhaltsberechtigter bis zu diesem Stichtag, dh. für ehegemeinsame Kinder und für Kinder des Unterhaltspflichtigen und für einen Anspruch des nicht verheirateten Elternteils nach § 1615l BGB. Aber auch Umstände, die nach der Rechtskraft der Scheidung eintreten, können die ehelichen Lebensverhältnisse bestimmen, wenn ein Anknüpfungspunkt zur Ehe besteht. Das setzt einen bestimmten Bezug zu den ehelichen Lebensverhältnissen voraus (vgl. Rn. 1051). Das gilt beispielsweise für den nicht vorwerfbaren, nachehelichen Rückgang des Einkommens, auch für die nicht vorwerfbare nacheheliche Arbeitslosigkeit, den Beginn der Regelaltersrente sowie nacheheliche Veränderungen im Ausgabenbereich, wie der umzugsbedingte Wegfall von Fahrtkosten. Einkünfte aus einer nachehelich aufgenommenen Erwerbstätigkeit des Unterhaltsberechtig1 BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, FamRZ 2003, 590 (591) = FamRB 2003, 207; BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (686) = FamRB 2006, 198; BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 (971) m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173; BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35; BGH v. 17.12.2008 – XII ZR 9/07, FamRZ 2009, 411 m. Anm. Borth = FamRB 2009, 101; BGH v. 28.11.2009 – XII ZR 119/07, FamRZ 2009, 579 m. Anm. Schürmann. 2 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281. 3 Grandel, NJW 2008, 796; Born, NJW 2008, 1669; Maurer, FamRZ 2008, 975; Maurer, FamRZ 2008, 1985; Graba, FamRZ 2008, 1217; Maurer, FamRZ 2008, 1911 (1919); Norpoth, FamRZ 2009, 26 f.; Born, NJW 2008, 3089; Graba, FF 2008, 437; Brudermüller, FF 2009, 46. 4 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 m. Anm. Borth = FamRB 2011, 66.
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Kap. 6 C Rn. 1054
Ehegattenunterhalt
ten sind als Surrogat der Haushaltstätigkeit und Kindererziehung während der Ehe zu behandeln und sind somit ebenfalls beim Unterhaltsbedarf zu berücksichtigen. Ohne Einfluss auf den Bedarf sind nacheheliche Entwicklungen, welche keinen Anknüpfungspunkt in der Ehe haben, wie beispielweise die nach der Scheidung entstehende Unterhaltspflicht gegenüber einem neuen Ehegatten, einem betreuenden Elternteil nach § 1615l BGB, einem nach der Ehescheidung geborenen Kind oder der Splittingvorteil aus der neuen Ehe1.
Û
Wichtig: Mit der Wiedereinführung des Stichtagsprinzips im Unterhaltsrecht lässt sich klar abgrenzen, welche Umstände, Entwicklungen und Faktoren die Bedarfsbemessung beeinflussen und welche nicht. Maßgeblicher Zeitpunkt ist die Rechtskraft der Scheidung. Es kommt nur darauf an, wann die Umstände, welche das Einkommen beinflussen, eingetreten sind, nicht darauf, wann sie den Eheleuten bekannt geworden sind. Treten bspw. weitere Unterhaltspflichten hinzu, kommt es auf deren Entstehen an: Entstehen sie nach der Scheidung, beeinflussen sie den Bedarf nicht mehr, so dass der Unterhalt für ein nach der Ehe geborenes Kind des Unterhaltspflichtigen nicht von seinem Einkommen abgezogen wird, bevor der Ehegattenunterhalt berechnet wird. Allerdings wird das nachehelich geborene Kind auf der Ebene der Leistungsfähigkeit nach § 1581 BGB berücksichtigt, wenn es nach § 1609 Nr. 1 BGB im ersten Rang steht. Reichen die finanziellen Mittel des Unterhaltspflichtigen nicht aus, alle Unterhaltsbedürftigen zu bedienen, gehen die Kinder im ersten Rang vor, gleichgültig, ob sie vor der Rechtskraft der Scheidung geboren wurden oder danach. Ausnahmsweise können Umstände den Bedarf beeinflussen, die nach der Rechtskraft der Ehescheidung entstanden sind. Voraussetzung ist der Bezug zu den ehelichen Lebensverhältnissen. Diesen stellt der BGH mit drei Fallgruppen her. (1) Eine Entwicklung ist in der Ehe angelegt, bspw. der nacheheliche Wegfall des Kindesunterhalts, auf den sich die Ehegatten bereits während der Ehe einstellen konnten. (2) Umstände, die auch bei Fortbestehen der Ehe deren Verhältnisse bestimmt hätten, bspw. die unverschuldete Arbeitslosigkeit nach der Scheidung infolge einer betriebsbedingten Kündigung des Arbeitgebers. (3) Entwicklungen, welche als Surrogat für Umstände während der Ehe anzusehen sind, wie bspw. die nachehelich aufgenommene Erwerbstätigkeit des Unterhaltsberechtigten.
bb) Der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung 1054
Die Rechtskraft der Scheidung gibt den Maßstab dafür ab, wann ein Einkommen vom Normalverlauf abweicht und wann von einer verschulde1 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 16 ff.; Borth, FamRZ 2012, 253.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1056
Kap. 6 C
ten Einkommensminderung ausgegangen werden muss1. Der maßgebende Zeitpunkt, auf den die ehelichen Lebensverhältnisse in diesem Sinn festzulegen sind, ist derjenige der Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses. Steht der Zeitpunkt der Rechtskraft noch nicht fest, etwa weil der nacheheliche Unterhalt im Rahmen des Verbunds geltend gemacht wurde, wird diejenige Entwicklung einschließlich der Einkommensverhältnisse zugrunde gelegt, die bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachenrichter eingetreten ist2. Das kann auch der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht sein, es sei denn, dass der nacheheliche Unterhalt isoliert angefochten wurde und der Scheidungsausspruch im Lauf des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht rechtskräftig geworden ist. b) Veränderungen der ehelichen Lebensverhältnisse vor der Scheidung aa) Veränderungen vor der Trennung Verändern sich die relevanten wirtschaftlichen, beruflichen, gesundheit- 1055 lichen, familiären oder sonst maßgeblichen Faktoren3 vor der Trennung, prägen sie die ehelichen Lebensverhältnisse, wenn sie nachhaltig und dauerhaft sind4. Außergewöhnlich hohes Einkommen, das vor der Trennung erzielt wird, prägt die ehelichen Lebensverhältnisse genauso wie außergewöhnliche Einkommensminderungen. Latente Belastungen, die sich erst in der Phase der Trennung oder nach der Scheidung auswirken können, sind ebenfalls zu berücksichtigen, zB die Inanspruchnahme aus einer Bürgschaft, wenn sich der Pflichtige zweieinhalb Jahre vor der Trennung für einen Kredit seines Bruders verbürgt hatte und nach der Trennung aus der Bürgschaft in Anspruch genommen wird5. bb) Veränderungen zwischen Trennung und Scheidung Verändert sich das Einkommen zwischen Trennung und Scheidung, be- 1056 stimmt diese Entwicklung die ehelichen Lebensverhältnisse, wenn sie nicht auf einer unerwarteten, vom normalen Verlauf erheblich abweichenden Entwicklung beruht, Rn. 1131; die zuletzt genannten Veränderungen prägen die ehelichen Lebensverhältnisse nicht. Veränderungen im Ausgabenbereich durch Wegfall von Fahrtkosten gehören allerdings nicht zu einer solchen unerwarteten Entwicklung, prägen also die ehelichen
1 Schlünder, FamRZ 2009, 487. 2 BGH v. 9.6.1982 – IVb ZR 68/80, FamRZ 1982, 892; BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 59/83, FamRZ 1985, 357 (359), gebilligt von BVerfG v. 21.10.1992 – 1 BvR 1233/91, FamRZ 1993, 171. 3 BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986 m. Anm. Scholz = FamRB 2002, 3 und Rn. 900. 4 BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986 = FamRB 2002, 3. 5 OLG Hamm v. 4.8.1997 – 6 UF 12/97, FamRZ 1998, 558.
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Kap. 6 C Rn. 1057
Ehegattenunterhalt
Lebensverhältnisse1. Auch Einkünfte aus einer Erbschaft nach der Trennung, aber vor der Scheidung prägen die ehelichen Lebensverhältnisse2. Mieteinnahmen nach der Trennung, die auch ohne die Trennung eingetreten wären3, sind prägend. c) Veränderungen der ehelichen Lebensverhältnisse nach der Scheidung aa) Einkommensverbesserungen (1) Einkommensverbesserungen nach der Scheidung 1057
Einkommensverbesserungen, die nach der Scheidung beim unterhaltspflichtigen Ehegatten eintreten, wirken sich bedarfssteigernd aus, wenn die Grundlagen bereits in der Ehe geschaffen wurden, dh., wenn die Verbesserung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten war und diese Erwartung die ehelichen Lebensverhältnisse zum Zeitpunkt der Scheidung bereits geprägt hat4. Die Ehegatten müssen den künftigen Veränderungen erkennbar schon im Voraus und noch während der Ehe einen prägenden Einfluss auf ihre Lebensverhältnisse eingeräumt haben; dafür kann der zeitliche Zusammenhang zwischen der Scheidung und der künftigen Entwicklung von Bedeutung sein5. Das ist meist der Fall, wenn die künftige Veränderung bei einer üblichen beruflichen Weiterentwicklung auch ohne Trennung eingetreten wäre6. Nicht erforderlich ist, dass sich die Erwartung, welche die ehelichen Verhältnisse geprägt hat, schon in konkreten Dispositionen für die Zukunft niedergeschlagen hat7. Dagegen bleibt eine Verbesserung des Einkommens, die zur Zeit der Scheidung noch im Ungewissen lag, außer Betracht8.
1058
Geht der Pflichtige nach der Scheidung der gleichen Erwerbstätigkeit nach wie davor, ist das daraus erzielte Einkommen aus dieser Erwerbstätigkeit in der Ehe angelegt. Höheres Einkommen aus dieser Erwerbstätigkeit ist bedarfsprägend, gleichgültig, ob es auf gestiegenen Lebenshaltungskosten, einer allgemeinen Einkommensentwicklung, einer Gehaltssteigerung oder einer Regelbeförderung im öffentlichen Dienst beruht. Bestimmend für den Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen ist das 1 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 24; Borth, FamRZ 2012, 253; BGH v. 31.3.1982 – IVb ZR 652/80, FamRZ 1982, 575. 2 OLG Hamm v. 6.8.1997 – 5 UF 299/95, FamRZ 1998, 620. 3 OLG Köln v. 30.1.1998 – 4 UF 111/97, FamRZ 1998, 1431. 4 BGH v. 11.2.1987 – IVb 20/86, BGH v. 11.2.1987 – IVb ZR 20/86, FamRZ 1987, 459 (460) BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, FamRZ 2003, 590 (591) = FamRB 2003, 207; BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (685) = FamRB 2006, 198; in diesen Fällen ist der vom BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 = FamRB 2011, 66 geforderte Ehebezug gewahrt. 5 BGH v. 11.2.1987 – IVb ZR 80/86, FamRZ 1987, 459 m. Anm. Luthin, S. 462; BGH v. 16.3.1988 – IVb ZR 40/87, FamRZ 1988, 701 (703). 6 BGH v. 16.6.1993 – XII ZR 49/92, FamRZ 1993, 1304. 7 BGH v. 27.11.1985 – IVb ZR 78/84, FamRZ 1986, 148 („Assistenzarzt“). 8 BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 15/84, FamRZ 85, 791 (793).
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1060
Kap. 6 C
aktuell erzielte, in normaler Entwicklung fortgeschriebene Einkommen, auch wenn es höher ist als dasjenige zur Zeit der Scheidung1. Als „normale Entwicklung“ in diesem Sinne sind tarifliche oder arbeit- 1059 geberseitige Lohn- und Gehaltserhöhungen anzusehen, ohne dass ihnen eine wesentliche berufliche Veränderung wie eine Beförderung, die Zuweisung einer anderen Tätigkeit, eine besser dotierte Stelle oder Ähnliches zugrunde liegt. Das Gleiche gilt für höheres Einkommen eines Angestellten, welches sich aus tariflich geregelten Lebensalterstufen ergibt oder Gehaltserhöhungen eines Beamten, die allein vom Besoldungsdienstalter abhängig sind2. Auch an Besoldungsverbesserungen – Besoldungsanpassungen und Aufrücken in eine höhere Besoldungsstufe – nimmt der Berechtigte nach der Scheidung teil3.
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Praxistipp: Für einen auf „normaler Entwicklung“ beruhenden höheren Verdienst des Pflichtigen können Anhaltspunkte sein, ob alle Beschäftigten des Betriebs oder der Abteilung eine gleiche oder eine ähnliche Lohn- oder Gehaltserhöhung erhalten haben oder ob es sich um eine Erhöhung handelt, die der Pflichtige als Einziger bekommen hat, ob jährliche laufende Lohn- oder Gehaltserhöhungen in der Vergangenheit erfolgt sind, ob der Pflichtige nach Tarif entlohnt wird oder ob er außertariflicher Angestellter ist, ob er noch die gleiche Tätigkeit ausübt wie zur Zeit der Scheidung, ob ihm eine andere Tätigkeit im gleichen Unternehmen zugewiesen wurde oder ob und aus welchen Gründen er den Arbeitgeber gewechselt hat. Maßgeblich ist, wie sich die Berufstätigkeit des Mandanten seit der Scheidung entwickelt hat. Eine berufliche Kurzbiografie, welche die beruflichen Stationen nach Tätigkeit und Verdienst zusammenfasst, ist sinnvoll und nützlich. Zur unerwarteten, vom Normalverlauf abweichenden Erwerbsbiografie vgl. Rn. 1131 und zu Beispielen Rn. 1134–1136.
(2) Steuern und Sozialabgaben Gesetzlich vorgeschriebene Abzüge wie Einkommen- und Kirchensteuern4, Solidaritätszuschläge und Sozialabgaben sind stets in ihrer tatsächlich bezahlten Höhe zu berücksichtigen, ebenfalls Zuschläge, die in Lohn, Besoldungs- und Versorgungssystemen vorgesehen sind – auch soweit sie geänderten persönlichen Verhältnissen des Pflichtigen Rechnung tragen. Die Lohnsteuer ist in ihrer jeweiligen Höhe maßgebend, unabhängig davon, ob sie im konkreten Fall seit der Trennung oder Scheidung gestiegen 1 2 3 4
BGH v. 24.1.1990 – XII ZR 2/89, FamRZ 1990, 499 (501). BGH v. 16.6.1982 – IVb ZR 724/80, FamRZ 1982, 895. BGH v. 23.11.1988 – IVb ZR 20/88, FamRZ 1989, 172. Die Kirchensteuer ist zu berücksichtigen, auch wenn sie erst nach der Scheidung entsteht und die ehelichen Verhältnisse nicht prägen konnte: BGH v. 28.2.2007 – XII 37/05, FamRZ 2007, 793 (795).
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1060
Kap. 6 C Rn. 1061
Ehegattenunterhalt
oder gesunken ist und ob das auf einem gesetzlich vorgeschriebenen Wechsel der Steuerklasse oder auf einer Änderung des Steuertarifs beruht1. Maßgebend ist das tatsächliche, auf der Grundlage der konkreten Steuerbelastung nach der Steuerklasse I verfügbare Nettoeinkommen des Pflichtigen, obwohl hieran Zweifel bestehen könnten, weil die durch die Änderung der Steuerklasse nach erfolgter Trennung und Scheidung sich ergebende Steuerbelastung typisch trennungsbedingt ist und konsequenterweise in der Ehe nicht angelegt gewesen sein kann. Dieser zuletzt genannten Auffassung einiger OLGe ist der BGH nicht gefolgt2. Steuerliche Vorauszahlungen, Nachzahlungen oder Erstattungen sind beim Einkommen desjenigen Kalenderjahres zu berücksichtigen, in welchem sie erfolgen (sog. In-Prinzip) und nicht beim Einkommen für den jeweiligen Veranlagungszeitraum, für welchen sie bezahlt werden (sog. Für-Prinzip). Sind zwei Steuererstattungen in einem Jahr erfolgt, müssen die Zahlungen dem jeweiligen Veranlagungsjahr zugeordnet werden, wenn die Zeiträume streitgegenständlich sind. Eine Steuererstattung ist auch in den Folgejahren zum jährlichen Einkommen zu addieren, wenn die Bemessungsgrundlagen im Wesentlichen unverändert geblieben sind3. Dies ist nicht der Fall, wenn der Unterhaltspflichtige aus der Kirche ausgetreten und demgemäß nicht mehr kirchensteuerpflichtig ist, soweit die Steuererstattung auf dem Sonderausgabenabzug nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG für bezahlte Kirchensteuer beruht4. 1061
Den Unterhaltspflichtigen trifft grundsätzlich auch eine Obliegenheit, mögliche Steuervorteile im Wege des begrenzten Realsplittings nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu realisieren, soweit dadurch nicht eigene Interessen verletzt werden5. Die Obliegenheit, diese Vorteile in Anspruch zu nehmen, besteht nur, wenn der Pflichtige den verlangten Unterhalt anerkannt hat, zur Zahlung verurteilt wurde oder seine Unterhaltsverpflichtung freiwillig erfüllt hat. Denn die steuerlichen Voraussetzungen des Realsplittings erfordern eine tatsächliche Unterhaltszahlung in dem jeweiligen Steuerjahr. Hat der Unterhaltsschuldner nachehelichen Unterhalt auf eine feststehende Unterhaltspflicht in dem betreffenden Jahr geleistet, kann und muss er den steuerlichen Vorteil des Realsplittings in
1 BGH v. 31.1.1990 – XII ZR 35/89, FamRZ 1990, 503 (504); BGH v. 14.2.1990 – XII ZR 51/89, FamRZ 1990, 981 (983); BGH v. 23.5.2007 – XII ZR 245/04, FamRZ 2007, 1232 (1233/1234) m. Anm. Maurer = FamRB 2007, 261; BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 986 (971) m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173. 2 BGH v. 24.1.1990 – XII ZR 2/89, FamRZ 1990, 499 (502). 3 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 (863) = FamRB 2003, 239; zu den Grenzen der Fortschreibung BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 33/97, FamRZ 99, 372 (375); BGH v. 21.1.2009 – XII ZR 54/06, FamRZ 2009, 762 (765) = FamRB 2009, 172 und FamRB 2009, 173. 4 BGH v. 27.5.2009 – XII ZR 78/08, FamRZ 2009, 1300 (1303) = FamRB 2009, 335, FamRB 2009, 270, FamRB 2009, 271 und FamRB 2009, 272. 5 BGH v. 29.4.1998 – XII ZR 266/96, FamRZ 1998, 953 (954).
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1063
Kap. 6 C
Anspruch nehmen1. Beantragt der Pflichtige die Abänderung eines Vergleichs mit dem Ziel des Wegfalls des nachehelichen Unterhalts, entfällt ab diesem Zeitpunkt die Obliegenheit, den Steuervorteil des Realsplittings in Anspruch zu nehmen. Ab diesem Zeitpunkt ist es dem Pflichtigen nicht mehr zumutbar, steuerliche Vorteile geltend zu machen, die er später ggf. zurückzahlen müsste2. Der Unterhalt, den der Pflichtige geleistet hat, kann nur für den Zeit- 1062 raum abgesetzt werden, in dem er tatsächlich bezahlt wurde (sog. Zuflussprinzip nach § 11 Abs. 2 S. 1 EStG), und nicht für den Zeitraum, für welchen die Leistungen geschuldet waren. Berücksichtigt werden können daher entweder nur tatsächlich geleistete Zahlungen oder auf der Grundlage fiktiver Zurechnung schuldhaft unterlassene Zahlungen, die aufgrund einer Verurteilung hätten geleistet werden müssen, tatsächlich aber nicht geleistet worden sind3. (3) Fallgruppen der fiktiven Berechnung der Einkommensteuer Die Rechtsprechung erkennt Abweichungen von dem Grundsatz an, dass zur Feststellung des unterhaltsrelevanten Einkommens die tatsächlich entrichtete Steuer abzuziehen ist. Korrekturen der Einkommensteuer (und damit des Einkommens selbst) sind nach dem BGH in den folgenden Ausnahmefällen4 vorzunehmen, in denen dann eine fiktive Berechnung stattfindet: – Wenn der Verpflichtete Einkommen aus einer Erwerbsquelle bezieht, welche die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt hat, zB im Falle des Karrieresprungs, vgl. Rn. 1131 und zu Beispielen Rn. 1134–1136. Dieses nicht prägende Einkommen und die sich daraus ergebende Einkommensteuer sind bei der Berechnung nicht zu berücksichtigen; – wenn bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung (vgl. Rn. 942) Verluste entstehen, sei es aufgrund von Abschreibungen für Gebäude, sei es aufgrund von Zins- und Tilgungsleistungen, die nicht einkommensmindernd berücksichtigt werden, weil sie dazu dienen, zulasten des Berechtigten Vermögen zu bilden. Die damit auf Seiten des Verpflichteten entstehende Steuerersparnis ist ebenfalls zu eliminieren. Die fiktive Steuer wird nach dem Einkommen ermittelt, welches sich 1 BGH v. 23.5.2007 – XII ZR 245/04, FamRZ 2007, 1232 (1233/1234) m. Anm. Maurer = FamRB 2007, 261; BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 986 (970) m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173. 2 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 986 (971) m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173. 3 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 (797) = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197; BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 882 = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231; BGH v. 23.5 2007 – XII ZR 245/04, FamRZ 2007, 1232 (1234) m. Anm. Maurer. 4 BGH v. 31.1.1990 – XII ZR 35/89, FamRZ 1990, 503 (504); BGH v. 14.2.1990 – XII ZR 51/89, FamRZ 1990, 981 (983); BGH v. 23.5.2007 – XII ZR 245/04, FamRZ 2007, 1232 (1233/1234) m. Anm. Maurer = FamRB 2007, 261.
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Kap. 6 C Rn. 1064
Ehegattenunterhalt
ohne Abschreibung und Kreditraten ergibt1. Bei der Inanspruchnahme von Vorteilen aus sog. Bauherrenmodellen hat die Steuerersparnis ebenfalls außer Betracht zu bleiben2; – wenn mögliche Steuervorteile nicht in Anspruch genommen worden sind, obwohl eine Obliegenheit hierzu besteht, wie zB die einkommensteuerlichen Vorteile aus dem begrenzten Realsplitting nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG, vgl. Rn. 1061 u. 1139 ff. – bei der Beteiligung an und der Berücksichtigung von Steuerersparnissen durch später aufgelöste Ansparabschreibungen3. (4) Wegfall von Unterhaltsverpflichtungen Kindern gegenüber 1064
Einkommensverbesserungen liegen auch vor, wenn Kindern gegenüber bestehende Unterhaltsverpflichtungen, welche die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt haben, nach der Scheidung wegfallen: Der Unterhalt wird berechnet, ohne dass der bisher nach der Scheidung bezahlte Kindesunterhalt zuvor von dem Einkommen des Pflichtigen abgezogen wird. Es handelt sich dabei um eine Entwicklung, auf die sich die Ehegatten auch bei intakter Ehe hätten einstellen müssen und die deshalb bereits auf der Ebene des Bedarfs zu berücksichtigen ist, nicht erst im Rahmen der Leistungsfähigkeit4. Ob der Wegfall der Verpflichtung schon zum Zeitpunkt der Scheidung absehbar war oder sich bereits auf die ökonomischen Verhältnisse der Ehegatten ausgewirkt hatte, spielt keine Rolle. Beispiel: M verdient monatlich 2800 Euro netto. Zum Zeitpunkt der Scheidung war er für ein minderjähriges Kind iHv. 300 Euro unterhaltspflichtig. Der Ehegattenunterhalt wird aus dem verbleibenden Einkommen von 2500 Euro (2800 Euro – 300 Euro) berechnet, weil der Kindesunterhalt vor der Berechnung des nachehelichen Unterhalts abgezogen wird (Rn. 1091 ff.). Fällt die Unterhaltspflicht für das minderjährige Kind nach der Scheidung weg, berechnet sich der nacheheliche Unterhalt der Ehefrau aus 2800 Euro, nicht aus 2500 Euro.
(5) Wegfall von Verbindlichkeiten 1065
Der Bedarf erhöht sich, wenn regelmäßige Verbindlichkeiten, etwa Kreditraten für einen Konsumkredit, nach der Scheidung entfallen5 oder Zins- und Tilgungsraten für ein Darlehen wegfallen, welches die Eheleute für eine Wohnimmobilie aufgenommen hatten6. Zur Veräußerung der 1 BGH v. 1.12.2004 – XII 75/02, FamRZ 2005, 1159 (1161) = FamRB 2005, 286 und FamRB 2005, 287; BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 m. Anm. Büttner, FamRZ 2005, 1899 = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354. 2 BGH v. 1.10.1986 – IVb ZR 68/85, FamRZ 1986, 36 (37). 3 BGH v. 2.6.2004 – XII ZR 217/01, FamRZ 2004, 1177 (1179) = FamRB 2004, 316. 4 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 m. Anm. Borth. 5 BGH v. 16.3.1988 – IVb ZR 40/87, FamRZ 1988, 701 (703). 6 BGH v. 29.3.1995 – XII ZR 45/94, FamRZ 1995, 869.
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Rn. 1068
Kap. 6 C
Wohnimmobilie und der Behandlung der damit im Zusammenhang stehenden Verbindlichkeiten Rn. 1076 ff. Zu Verbindlichkeiten, die nach der Scheidung entstehen, Rn. 1150. bb) Einkommensminderungen (1) Einkommensminderungen im engen Sinn Einkommensminderungen nach der Scheidung können den Bedarf beeinflussen. Im engen Sinn werden darunter sowohl die Verringerung des Einkommens als auch dessen dauerhafter Rückgang verstanden, also zB die nach der Scheidung eintretende Arbeitslosigkeit1 und die altersbedingte Absenkung des Einkommens, weil der Berechtigte in den Ruhestand tritt (Rn. 1113 ff. und 1151 ff.). Im weiteren Sinn gehört dazu auch das Hinzutreten weiterer vorrangiger oder gleichberechtigter unterhaltsberechtigter Personen (Rn. 1191 ff.)2.
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Solche Einkommensminderungen können sich auf verschiedenen Ebenen 1067 des Unterhaltsschemas (Rn. 893 ff.) auswirken: auf der Ebene des Bedarfs oder auf derjenigen der Leistungsfähigkeit, je nach dem, ob die Veränderung dem Pflichtigen vorgeworfen werden kann oder nicht. Im ersten Fall bleibt der Bedarf auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Scheidung unverändert fixiert, kann dem Pflichtigen dagegen die Minderung des Einkommens nicht vorgeworfen werden, ändert sich bereits der Bedarf und wird dem geänderten Einkommen angepasst. Beispiel (nach BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 23/91, FamRZ 1992, 1045): M hatte während intakter Ehe als Handelsvertreter und Geschäftsführer ein überdurchschnittlich hohes Einkommen. Während der Trennung reduzierte er ohne plausiblen Grund seine Tätigkeit auf die Hälfte und verdiente infolgedessen entsprechend weniger. Der BGH hat den Bedarf nach dem hohen Einkommen während intakter Ehe bemessen und nicht nach dem reduzierten Einkommen, welches der M während der Trennung erzielte, weil die Einkommensminderung dem M zum Vorwurf gemacht werden konnte. Hätte M zB infolge einer schweren Krankheit seine Erwerbstätigkeit reduzieren müssen und hätte deswegen um die Hälfte weniger verdient, wäre ihm die Minderung seines Einkommens nicht vorzuwerfen und der Bedarf würde nach dem verringerten Einkommen bemessen werden.
Der BGH unterscheidet zwei Fälle, in denen die Erwerbsminderung vom 1068 Pflichtigen verschuldet ist: Der Pflichtige verletzt seine Erwerbsobliegenheit3 (zB grundlose Aufgabe des Arbeitsplatzes bzw. die grundlose Redu1 BGH v. 19.12.1984 – IVb ZR 54/83, FamRZ 1985, 374; OLG Karlsruhe v. 16.11.2005 – 2 UF 41/05, FamRZ 2006, 953 (954). 2 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 24; Borth, FamRZ 2012, 253; BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (685) = FamRB 2006, 198; Braeuer, FamRZ 2006, 1489 (1493); Born, NJW 2007, 26. 3 BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 23/91, FamRZ 1992, 1045 (1047); BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, FamRZ 2003, 590 = FamRB 2003, 207 m. Anm. Büttner, FamRZ 2003, 594 und Graba, S. 746; BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (849) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220; BGH v.
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Kap. 6 C Rn. 1069
Ehegattenunterhalt
zierung des bisherigen Arbeitsumfangs, wobei das Scheitern der Ehe kein ausreichender Grund ist) oder die Erwerbsminderung wird durch freiwillige berufliche oder wirtschaftliche Dispositionen des Pflichtigen veranlasst und hätte durch zumutbare Vorsorge aufgefangen werden können1 (zB der Wechsel vom Angestellten in die Selbständigkeit). 1069
Kann dagegen dem Pflichtigen die Erwerbsminderung nicht vorgeworfen werden, hat der Berechtigte dieses Risiko mitzutragen, weil er sich auch während intakter Ehe darauf hätte einstellen müssen und er nach der Scheidung nicht bessergestellt werden kann als während der Ehe. Die Scheidung nimmt dem berechtigten Ehegatten nicht das Risiko ab, dass sich die ehelichen Lebensverhältnisse nach der Scheidung ändern; denn hätte die Ehe fortbestanden, müsste der berechtigte Ehegatte die negative Einkommensentwicklung des anderen Ehegatten auch mittragen2. (Rn. 1051–1053; zum Karrieresprung Rn. 1131). Damit können sich die ehelichen Lebensverhältnisse auch noch Jahre nach der Scheidung nachteilig für den berechtigten Ehegatten verändern. Das vorwerfbare Verhalten muss unterhaltsbezogen mutwillig sein; das ist nicht der Fall, wenn ein geschiedener Unterhaltsschuldner eine neue Familie gründet und in dieser neuen Ehe Kinder geboren werden, denen gegenüber der Pflichtige unterhaltspflichtig wird3.
Û
Praxistipp: Auf solche möglichen Entwicklungen ist der unterhaltsberechtigte Mandant rechtzeitig aufmerksam zu machen. Jeder nacheheliche Unterhaltsfall enthält unkalkulierbare Risiken – Krankheit, Arbeitslosigkeit, altersbedingte Absenkung des Einkommens, unverschuldeter Rückgang des Gewinns eines Unternehmens. Geht es darum, den nachehelichen Unterhalt in einer Summe abzufinden, sind diese Risiken Argumente, den Klienten vor übertriebenen Forderungen zu warnen.
23.11.2005 – XII ZR 51/03, FamRZ 2006, 387 (388) = FamRB 2006, 103 und FamRB 2006, 104; BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 986 (970) m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173. 1 BGH v. 4.11.1987 – IVb ZR 81/86, FamRZ 1988, 145 (147); BGH v. 16.3.1988 – IVb ZR 40/87, FamRZ 1988, 701 (703); BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 51/03, FamRZ 2006, 387 (388) = FamRB 2006, 103 und FamRB 2006, 104; BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (685) = FamRB 2006, 198; BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197; BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 986 (970) m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173. 2 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173. 3 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 (972) m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173.
720
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1071
Kap. 6 C
(2) Inanspruchnahme von Altersteilzeit Einbußen des Einkommens, welche mit der Inanspruchnahme von Al- 1070 tersteilzeit einhergehen, sind nach den gleichen Grundsätzen wie zu aa) zu behandeln. Nach Auffassung des OLG Köln1 sind solche Einbußen nur dann relevant, wenn Grund für Altersteilzeit Beeinträchtigungen sind, welche die Erwerbstätigkeit krankheitsbedingt vermindern. Hat sich der Pflichtige auf einen Altersteilzeitvertrag eingelassen, um einer drohenden betriebsbedingten Kündigung zu entgehen, liegt keine vorwerfbare Leichtfertigkeit vor2. Minderungen des Einkommens hat der Berechtigte hinzunehmen, wenn der Verpflichtete 58 Jahre alt ist, der älteste Arbeitnehmer in seiner Abteilung war und einer anstrengenden Tätigkeit (Automobilindustrie) nachgegangen war3. Der Unterhaltsberechtigte muss ein geringeres Einkommen infolge der Inanspruchnahme von Altersteilzeit hinnehmen, wenn er selbst nicht vollschichtig arbeitet und das Modell der Altersteilzeit wirtschaftlich ausgewogen und vorteilhaft ist4. Ist einem Unterhaltspflichtigen ein fiktives Einkommen zugerechnet worden, weil er leichtfertig Altersteilzeit in Anspruch genommen hat, ist er im Abänderungsverfahren ab dem Zeitpunkt, in welchem er das Regelaltersruhegeld bezieht, so zu behandeln, als beziehe er fiktiv ein ungekürztes Renteneinkommen5. Grundsätzlich ist der durch die Inanspruchnahme von Altersteilzeit verursachte Rückgang des Einkommens nur dann relevant, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass das Arbeitsverhältnis in ein Altersteilzeitverhältnis umgewandelt wird. Solche Gründe werden angenommen, wenn gesundheitliche Beeinträchtigungen für den Wechsel maßgeblich waren, die Vereinbarung einer gemeinsamen Lebensplanung der Parteien entsprochen hat oder der drohende Verlust des Arbeitsplatzes abgewendet werden konnte. Es genügt nicht, wenn vorgetragen wird, seitens des Arbeitgebers sei zwecks Personalabbaus auf eine Altersteilzeitregelung gedrängt worden6. Liegen keine erheblichen Gründe vor, die Altersteilzeit in Anspruch zu nehmen, ist die Minderung unterhaltsrechtlich irrelevant. In der grundlos freiwilligen Wahl der Altersteilzeit liegt die Verletzung einer Erwerbsobliegenheit7. Haben sich die Ehegatten während intakter Ehe zur Altersteilzeit entschlossen, hat das Weniger die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt.
1 2 3 4
OLG Köln v. 18.6.2002 – 4 UF 20/01, FamRZ 2002, 602. OLG Hamm v. 15.10.2004 – 11 UF 22/04, FamRZ 2005, 1177. AG Hannover v. 16.6.2003 – 614 F 2024/01 UE, FamRZ 2004, 1495. OLG Bamberg v. 19.8.2009 – 7 UF 238/08, FamRZ 2010, 381 (LS); es ging um eine Reduzierung des Einkommens um weniger als 20 %. 5 OLG Saarbrücken v. 17.2.2011 – 6 UF 114/10, FamRZ 2011, 1657 = FamRB 2011, 207. 6 OLG Saarbrücken v. 18.10.2006 – 2 UF 7/06, FamRZ 2007, 1019 = FamRB 2007, 69. 7 OLG Koblenz v. 22.3.2004 – 13 UF 656/03, NJW-RR 2004, 938.
Schlünder
721
1071
Kap. 6 C Rn. 1072
Û
Ehegattenunterhalt
Praxistipp: Die Entscheidung des Pflichtigen, in Altersteilzeit zu gehen, ist nicht geeignet, Unterhaltspflichten mit Aussicht auf Erfolg zu verringern. Es müssen dringende Gründe hinzutreten, welche die Altersteilzeit rechtfertigen, etwa Gründe im beruflichen Bereich, einer drohenden betriebsbedingten Kündigung vorzugreifen, oder im Fall der Schließung eines Teilbetriebs oder einer Filiale. Andere Gründe können im gesundheitlichen Bereich liegen: Eine geringere Arbeitsbelastung ist ärztlich notwendig und dringend angeraten, und die dadurch erfolgte Verringerung der Arbeitszeit entspricht der ärztlichen Empfehlung. Im Fall des OLG Koblenz1 hatte der Pflichtige behauptet, infolge eines Bandscheibenschadens zur Verringerung gezwungen worden zu sein, obwohl der Vorfall Jahre zurücklag und er kontinuierlich weitergearbeitet hatte. Im Fall des OLG Saarbrücken2 hatte der Pflichtige nur vorgetragen, der Arbeitgeber habe auf die Altersteilzeitregelung gedrängt – was ebenfalls nicht genügt.
1072
Ist die Inanspruchnahme der Altersteilzeit gerechtfertigt, verringert sich der Bedarf. Anstelle des bisher eingestellten Gehalts wird die verringerte, altersteilzeitbedingte Vergütung mit der Additions- bzw. Differenzmethode (Rn. 1185 ff.) berücksichtigt. Zur Berücksichtigung von fiktivem Einkommen bzw. fiktiver Rente vgl. Rn. 936, 1090.
1073
Einkommensminderungen, die vom Berechtigten hinzunehmen sind, liegen nicht vor, wenn der Verpflichtete „VW-Zeitwertpapiere“ anschafft, um sich eine spätere Altersteilzeit zu ermöglichen. Mit dieser Maßnahme wird keine Altersvorsorge betrieben wie bei der Riesterrente oder der VW-Beteiligungsrente II, sondern Vermögen zulasten des Berechtigten gebildet3. (3) Eintritt in den Ruhestand und krankheitsbedingter Rückgang des Einkommens
1074
Der berechtigte Ehegatte hat die Verminderung des Einkommens mit dem Eintritt des Unterhaltspflichtigen in den Ruhestand (Rn. 1113 ff. und 1151 ff.) ebenso hinzunehmen4 wie den krankheitsbedingten Rückgang des Einkommens5 (zu den Auswirkungen einer erstmals vom Berechtigten nach der Scheidung erworbenen Rente Rn. 1113 ff.). Tritt bei einem Ehegatten noch vor der Scheidung verminderte Erwerbsfähigkeit 1 OLG Koblenz v. 22.3.2004 – 13 UF 656/03, NJW-RR 2004, 938. 2 OLG Saarbrücken v. 18.10.2006 – 2 UF 7/06, FamRZ 2007, 1019 = FamRB 2007, 69. 3 OLG Oldenburg v. 27.11.2003 – 3 WF 143/03, FamRZ 2004, 1211 (1213). 4 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (850) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220. 5 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 24; BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 51/03, FamRZ 2006, 387 (388) = FamRB 2006, 103 und FamRB 2006, 104.
722
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1077
Kap. 6 C
ein und bezieht er zunächst Krankengeld und im Anschluss daran Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit1, hat diese Entwicklung die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt. (4) Dauerhafte Absenkung des Einkommens Auch die dauerhafte Absenkung der Erwerbseinkünfte muss der Unter- 1075 haltsberechtigte hinnehmen. Das gilt nach der Rechtsprechung des BGH2 selbst dann, wenn der Verpflichtete in eine schlechter bezahlte Arbeitsstelle wechselt, auch wenn er von seinem Vorarbeitgeber eine hohe Abfindung aus Anlass der Beendigung des Arbeitsverhältnisses erhalten hatte (im konkreten Fall 300 000 DM brutto). Voraussetzung ist, dass der Verpflichtete keine Erwerbsobliegenheit verletzt oder keine freiwilligen beruflichen oder wirtschaftlichen Dispositionen getroffen hat, deren nachteilige Wirkung er durch zumutbare Vorsorge hätte abwenden können (Rn. 1068). Diese Rechtsprechung hat das BVerfG ausdrücklich gebilligt3. cc) Veräußerung einer Immobilie nach Scheidung Wird eine Immobilie nach der (Trennung oder) Scheidung veräußert, sind verschiedene Fallgruppen zu unterscheiden4:
1076
(1) Veräußerung von Miteigentum Waren beide Ehegatten in der Ehe Miteigentümer der Immobilie und wird 1077 der Erlös nach der Veräußerung geteilt, treten die Zinserträge aus dem Verkaufserlös an die Stelle des Nutzungsvorteils durch mietfreies Wohnen – sie sind Surrogat des früheren Wohnvorteils, auch wenn sie den früheren Wohnwert übersteigen. Daher sind sie mit der Differenz- oder Additionsmethode in den Bedarf einzubeziehen5 (und nicht erst auf der Ebene der Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen). Das kann dazu führen, dass sich die Zinserträge neutralisieren (wie das folgende Beispiel zeigt). Die frühere Rechtsprechung, nach welcher der Wohnwert bei Veräuße1 BGH v. 3.6.1987 – IVb ZR 64/86, FamRZ 1987, 913. 2 BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, FamRZ 2003, 590 (591) = FamRB 2003, 207; zur Berücksichtigung einer arbeitsrechtlichen Abfindung beim Bedarf vgl. die geänderte Rspr.: BGH v. 18.4.2012 – XII ZR 65/10, FamRZ 2012, 1040 m. Anm. Borth. 3 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 Tz. 70 = FamRB 2011, 66. 4 Zum Folgenden Gerhardt, FamRZ 2003, 414 mit instruktiven Rechenbeispielen. 5 BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986 (991) = FamRB 2002, 3; BGH v. 3.5.2001 – XII ZR 62/99, FamRZ 2001, 1140 (1143); entgegen BGH v. 27.6.1984 – IVb ZR 20/83, FamRZ 1985, 354 (356); BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 (24) m. Anm. Norpoth und Maurer S. 204 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35.
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Kap. 6 C Rn. 1078
Ehegattenunterhalt
rung des Familienheims weiter (fiktiv) prägend war, hat der BGH aufgegeben1. Beispiel: M verdient 2800 Euro netto, F 1500 Euro netto. Für ihre Immobilie haben M und F 100 000 Euro erlöst, wovon die F 50 000 Euro erhält, aus denen sie einen monatlichen Zinsertrag iHv. – angenommen – 100 Euro erzielt. Auch M. erlöst aus dem ihm zustehenden Anteil von 50 000 Euro monatlich 100 Euro Zinsen. Nach SüdL ergibt sich ein Bedarf der F: 1/2 (9/10 von 2800 Euro + 9/10 von 1500 Euro) + (2 × 100 Euro) = 2035 Euro. Der Unterhaltsanspruch berechnet sich: 2035 Euro – (9/10 von 1500 Euro + 100 Euro) = 585 Euro. Ohne die Zinsen: Bedarf: 1/2 (9/10 von 2800 Euro + 9/10 von 1500 Euro) = 1935 Euro – (9/10 von 1500 Euro) = Euro 585 Euro. Das Ergebnis ist das Gleiche, die Zinserträge neutralisieren sich.
Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn ein Ehegatte dem anderen den ideellen Miteigentumsanteil veräußert2; vgl. Rn. 1083. (2) Veräußerung von Alleineigentum 1078
Stand die Immobilie im alleinigen Eigentum des berechtigten oder des verpflichteten Ehegatten, der nach der Trennung oder Scheidung die Immobilie veräußert, sind die Zinsen aus dem Erlös als Surrogat des früheren Nutzungsvorteils in vollem Umfang in den Bedarf einzubeziehen. Auf der Ebene der Bedürftigkeit/Leistungsfähigkeit sind sie beim Ehegatten-Eigentümer in vollem Umfang als eigenes Einkommen zu berücksichtigen3. (3) Teilverbrauch des Veräußerungserlöses
1079
Wird ein Teil des Erlöses nach Veräußerung der Immobilie verbraucht, können Zinseinkünfte fiktiv zum Bedarf hinzugerechnet werden, wenn die Bedürftigkeit mutwillig herbeigeführt wurde, § 1579 Nr. 4 BGB4. Keine Mutwilligkeit liegt vor, wenn der Erlös für berechtigte Zwecke eingesetzt wurde: für Verfahrens- und Anwaltskosten, Kosten, die mit dem Umzug verbunden sind (einschließlich einer neuen Wohnungseinrichtung und Kaution) eines neuen Pkw oder Investitionen in die Altersvorsorge wie der Abschluss oder die Aufstockung einer Lebensversicherung oder die Investition in einen Rentenfonds5. Aus Gründen der Billigkeit
1 BGH v. 22.10.1997 – XII ZR 12/96, FamRZ 1998, 87. 2 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170. 3 BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 (24) m. Anm. Norpoth und Maurer S. 204 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35. 4 BGH v. 11.4.1990 – XII ZR 42/89, FamRZ 1990, 989 (991, 992). 5 BGH v. 1.12.2004 – XII ZR 75/02, FamRZ 2005, 1159 (1162) = FamRB 2005, 286 und FamRB 2005, 287; BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 (24) m. Anm. Norpoth und Maurer S. 204 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1082
Kap. 6 C
sollte auf Seiten des anderen (sparsamen) Ehegatten auch – fiktiv – von den Zinserträgen aus dem niedrigeren Kapitalrest ausgegangen werden1. (4) Kauf einer anderen Immobilie Erwirbt der Berechtigte mit dem Erlös aus der Veräußerung eine andere 1080 Immobilie, ist dagegen aus unterhaltsrechtlicher Sicht grundsätzlich nichts einzuwenden, da das Wohnen in einer eigenen Immobilie die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt hat. Ist die Anlage unwirtschaftlich und der nach diesen Grundsätzen ermittelte Wohnwert niedriger als die erzielbaren Zinseinkünfte oder der Wohnwert einer kleineren Wohnung ohne Zins- und Tilgungsbelastung, sind die fiktiven Zinseinkünfte zugrunde zu legen oder der Wohnwert der kleineren Wohnung ohne Schulden. Müssen für die Anschaffung einer anderen Immobilie neue Verbindlich- 1081 keiten eingegangen werden, mindern die Tilgungsleistungen nicht den prägenden Wohnwert, weil der Unterhalt grundsätzlich nicht die Verpflichtung des anderen Ehegatten umfasst, Schulden zu tilgen2, bzw. die Vermögensbildung dem Unterhalt nicht vorgeht. Wohl aber mindern die zu zahlenden Zinsen hieraus den Wohnwert zusammen mit den bisherigen Zins- und Tilgungsleistungen, soweit sie die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt haben3.
Û
Wichtig: In diesen Fällen ist jedoch immer zu prüfen, ob der Berechtigte die Obliegenheit hat, das Vermögen umzuschichten, um höhere Erträge zu erzielen4, zB Kauf einer kleineren Immobilie ohne Schulden oder Anlage des Verkaufserlöses in Wertpapieren usw.
Im Einzelfall kann auch eine Obliegenheit zur Veräußerung der neu ange- 1082 schafften Immobilie bestehen, etwa wenn anderenfalls keine wirtschaftlich angemessene Nutzung des nach dem neuen Lebenszuschnitt des Erwerbenden zu großen und seine wirtschaftlichen Verhältnisse übersteigenden Hauses zu verwirklichen ist. Es kommt darauf an, ob die tatsächliche Anlage des Vermögens eindeutig unwirtschaftlich ist, wobei die gesamte Belastung mit Zins und Tilgung zu berücksichtigen ist. Davon kann aber nicht bereits dann ausgegangen werden, wenn der zuzurech1 OLG Koblenz v. 19.3.2002 – 11 UF 671/00, FamRZ 2002, 1407 (LS 2); OLG Karlsruhe v. 27.10.2003 – 2 UF 107/03, FamRZ 2004, 1209 = FamRB 2004, 349 und FamRB 2004, 350. 2 BGH v. 8.12.1991 – XII ZR 2/91, FamRZ 1992, 423; BGH v. 22.10.1997 – XII ZR 12/96, FamRZ 1998, 87; BGH v. 22.4.1998 – XII ZR 161/96, FamRZ 1998, 899; BGH v. 5.4.2000 – XII ZR 96/98, FamRZ 2000, 950. 3 BGH v. 5.4.2000 – XII ZR 96/98, FamRZ 2000, 950. 4 BGH v. 3.5.2001 – XII ZR 62/99, FamRZ 2001, 1140 (1143); BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 (24) m. Anm. Norpoth und Maurer S. 204 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35.
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Kap. 6 C Rn. 1083
Ehegattenunterhalt
nende Wohnvorteil nicht den Ertrag erreicht, den der veräußernde Ehegatte aus dem erhaltenen Erlös erzielt bzw. erzielen könnte1. (5) Erwerb der Miteigentumshälfte des anderen Ehegatten 1083
Erwirbt ein Ehegatte die ideelle Miteigentumshälfte des anderen, hatten Teile der Rechtsprechung und Literatur fiktiv einen Fremdverkauf unterstellt und wegen der nivellierenden Wirkung der auf beiden Seiten zu berücksichtigenden Verkaufserlöse vorgeschlagen, die beiderseitigen Vorteile außer Betracht zu lassen (vgl. Beispiel Rn. 1077)2. Diese Lösung hat der BGH3 ausdrücklich verworfen: Beim übernehmenden Ehegatten ist der volle Wohnvorteil anzusetzen. Hiervon sind diejenigen Hauslasten, insbesondere Zins- und Tilgungsleistungen abzuziehen, die auf Kreditverbindlichkeiten geleistet wurden, welche schon vor der Veräußerung des Miteigentumsanteils bestanden haben, weil sie die ehelichen Lebensverhältnisse (mit)geprägt haben. Andere Zahlungen, insbesondere neue, für den Erwerb der Miteigentumshälfte zu erbringende Tilgungsleistungen sind nicht vom Wohnwert abzuziehen, weil sie die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt haben; abzuziehen sind jedoch die hierauf bezahlten Zinsen. Auch in diesen Fällen kann eine Obliegenheit zur Umschichtung des Vermögens bestehen (vgl. Rn. 1081). (6) Teilungsversteigerung
1084
Die genannten Grundsätze sind auch anzuwenden, wenn einer der Ehegatten das Haus in der Teilungsversteigerung erwirbt. In diesem Fall tritt für den Ehegatten, der seinen Anteil verliert, der Erlös als Surrogat an die Stelle der Nutzungsvorteile seines Miteigentumsanteils, bei dem anderen Ehegatten ist dagegen der volle Wohnwert anzusetzen, vermindert um eventuelle Belastungen. (7) Weiternutzung nach Scheidung; Nutzungsentschädigung
1085
Wird die Immobilie nicht veräußert und von einem Ehegatten nach der Scheidung weiter genutzt, wird der Wohnvorteil in seinem Bedarf aktiviert, allerdings vermindert um die Zinszahlungen (Rn. 727 ff. und 1 BGH v. 8.12.1991 – XII ZR 2/91, FamRZ 1992, 423; BGH v. 22.10.1997 – XII ZR 12/96, FamRZ 1998, 87; BGH v. 1.12.2004 – XII ZR 75/02, FamRZ 2005, 1159 (1162) = FamRB 2005, 286 und FamRB 2005, 287. Zu den dabei zu berücksichtigenden Zumutbarkeitsgesichtspunkten BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 m. Anm. Norpoth und Maurer S. 204 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35. 2 ZB Gerhardt, FamRZ 2003, 414 (416); OLG Karlsruhe v. 27.10.2003 – 2 UF 107/03, FamRZ 2004, 1209 = FamRB 2004, 349 und FamRB 2004, 350. 3 BGH v. 1.12.2004 – XII ZR 75/02, FamRZ 2005, 1159 (1161) = FamRB 2005, 286 und FamRB 2005, 287; aA Maier, NJW 2002, 3360 (3363) und FamRZ 2006, 897 (898); BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1088
Kap. 6 C
945–949). Eine vom nutzenden Ehegatten an den anderen gezahlte Nutzungsentschädigung tritt auf dessen Seite als Surrogat an die Stelle des früheren Nutzungsvorteils1. (8) Erträge aus Zahlungen auf den Zugewinnausgleich Zinserträge, die ein Ehegatte aus einem durch Zugewinn oder Vermö- 1086 gensauseinandersetzung erworbenen Kapitalbetrag erzielt, mindern die Bedürftigkeit nach § 1577 Abs. 1 BGB oder erhöhen die Leistungsfähigkeit nach § 1581 BGB; dies steht außer Streit2. Ob solche Zinsen allerdings auch auf der Ebene des Bedarfs zu berücksichtigen, also prägend sind, wird unterschiedlich beantwortet. Einerseits wird darauf abgestellt, der Ausgleich des Zugewinns beruhe idR auf nicht prägendem Vermögen (Lebensversicherungen, Anfangsvermögen, Praxiswert, Wertsteigerungen von Immobilien), aus dem während der Ehe noch keine Nutzungen gezogen wurden bzw. gezogen werden konnten. Nur ausnahmsweise seien Zinseinkünfte aus Zugewinnausgleich prägend, wenn Vermögen umgeschichtet werde, aus dem während der Ehe Nutzungen gezogen worden sind (Bargeld, Sparbuch, Wertpapiere; Pfandbriefe)3. Andererseits wird betont, mit Zahlungen auf die Zugewinnausgleichs- 1087 forderung werde nur Vermögen umgeschichtet, welches die Ehegatten bereits während der Ehe erworben hätten, infolgedessen habe es die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt4. Die zuletzt genannte Ansicht hat das Prinzip des Zugewinnausgleichs für sich: Am Ende einer Ehe wird nur Vermögen verteilt, welches in der Ehe erworben wurde. Die Zinsen aus dem Kapitalbetrag des Zugewinnausgleichs sind Surrogat für das in der Ehe erworbene Vermögen und daher, weil prägend, mit der Additionsbzw. Differenzmethode (Rn. 1185 ff.) im Bedarf zu erfassen; auf die einzelne Vermögensart kommt es nicht an. Der BGH hat sich der zuletzt genannten Auffassung angeschlossen: War 1088 das entsprechende Vermögen schon vor der Durchführung des Zugewinnausgleichs vorhanden und haben die Vermögenserträge hieraus auch schon die ehelichen Lebensverhältnisse während intakter Ehe geprägt, macht es keinen Unterschied, ob sie nach wie vor der Scheidung von einem Ehegatten gezogen werden oder ob sie nach dem Zugewinnausgleich auf beide Ehegatten verteilt sind. In beiden Fällen prägen die dann zu berücksichtigenden Vermögenseinkünfte auch die ehelichen Lebensverhältnisse und sind mit der Differenzmethode (Rn. 1185 ff.) zu berücksichti1 BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 (1820, 1821) m. Anm. Büttner, FamRZ 2005, 1899 = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354. 2 Maier, FamRZ 2006, 897 (898). 3 FA-FamR/Maier, Kap. 6 Rn. 584. 4 OLG Hamm v. 8.6.2006 – 4 UF 208/05, FamRZ 2007, 215; OLG Saarbrücken v. 9.10.2002 – 9 UF 155/01, FamRZ 2003, 685 (687) = FamRB 2003, 75; Maier, FamRZ 2006, 897 (898).
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Kap. 6 C Rn. 1089
Ehegattenunterhalt
gen1. Ältere Entscheidungen, welche darauf hindeuten könnten, dass Zinserträge aus dem Zugewinnausgleich die ehelichen Lebensverhältnisse nicht prägen können und daher mit der Anrechnungsmethode zu erfassen sind, sind obsolet2. Ergibt sich der Anspruch auf den Zugewinnausgleich im Wesentlichen daraus, dass die gemeinsame Immobilie veräußert wurde, werden die Zinseinkünfte als Surrogat des Wohnvorteils mit der Differenzmethode in die Berechnung des Unterhalts eingestellt3. dd) Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach Scheidung 1089
Nimmt der den Haushalt führende und/oder die Kinder betreuende Ehegatte nach der Scheidung eine Erwerbstätigkeit auf oder erweitert er sie über den bisherigen Umfang hinaus, so kann diese als Surrogat für seine bisherigen Familiendienste angesehen werden, Rn. 905 ff. Das Einkommen des Berechtigten ist mit der Differenz- bzw. Additionsmethode zu berücksichtigen, nicht mit der Anrechnungsmethode (Rn. 1185 ff.). Dabei ist unerheblich, aus welchen Gründen die Erwerbstätigkeit während der Ehe unterblieben ist: wegen der Betreuung gemeinsamer Kinder, Pflege von Verwandten, mangelnden Angebots auf dem Arbeitsmarkt oder weil der Ehegatte es gegen den Widerspruch des anderen abgelehnt hat, erwerbstätig zu sein; entscheidend ist nur, dass der Ehegatte tatsächlich nicht erwerbstätig war4.
1090
Das gilt auch für fiktive Einkünfte5, die der Berechtigte nach der Scheidung erzielen könnte, aber nicht erzielt, weil er seiner ihm obliegenden Erwerbspflicht nicht nachkommt, beispielsweise wenn die Ehefrau nach der Scheidung keine Erwerbstätigkeit aufnimmt, obwohl sie dazu wegen des Alters der Kinder verpflichtet wäre. Auch fiktives Einkommen ist als Surrogat des wirtschaftlichen Werts der bisherigen Tätigkeit anzusehen und daher mit der Differenz- bzw. Additionsmethode zu berücksichtigen6. Gleiches gilt für eine fiktive Rente auf Seiten des Berechtigten, wenn die Parteien vereinbart haben, zum Ausgleich einer betrieblichen Altersversorgung Rentenanwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung zu begründen und sich im Versorgungsfall so behandeln zu lassen, als ob der Versorgungsausgleich durchgeführt worden wäre, der Be1 BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 (1537) = FamRB 2007, 290. 2 BGH v. 29.1.1986 – IVb ZR 9/85, FamRZ 1986, 437 (439); BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 59/83, FamRZ 1985, 357 (359). 3 OLG Celle v. 11.4.2007 – 15 UF 221/06, FamRZ 2007, 1818 (1820) vgl. auch Gerhardt, FamRZ 2003, 414 zum Verhältnis zwischen Veräußerungserlös und Zugewinnausgleich. 4 In der Stichtagsentscheidung, BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 25, hat der BGH seine Surrogatsrechtsprechung ausdrücklich herangezogen. 5 Allgemein zu fiktiven Einkünften Graba, FamRZ 2001, 1257 und Rn. 936 ff. 6 BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986 (991) = FamRB 2002, 3; BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 321/00, FamRZ 2003, 434 (435) = FamRB 2003, 241; Anm. Scholz zu BVerfG v. 5.2.2002 – 1 BvR 105/95 u.a., FamRZ 2002, 733 (734).
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1092
Kap. 6 C
rechtigte jedoch den vereinbarten Betrag nicht in die Rentenversicherung eingezahlt, sondern für den eigenen Unterhalt verbraucht hat1. ee) Unterhaltspflichten gegenüber Kindern (1) Unterhaltspflicht gegenüber dem minderjährigen Kind Nach dem bis zum 31.12.2007 geltenden Recht wurde zunächst der 1091 Tabellenbetrag (ohne Abzug der Hälfte des Kindergelds) von dem Einkommen des Pflichtigen abgezogen, bevor der Unterhaltsanspruch des berechtigten Ehegatten berechnet wurde. Ausnahme: Die sich aus dem Vorwegabzug ergebende Verteilung der Mittel, die zum Unterhalt zur Verfügung stehen, würde zu einem Missverhältnis des wechselseitigen Lebensbedarfs der Beteiligten führen2. Beispiel: M. bezieht ein monatliches Nettoeinkommen von 2800 Euro. Er ist einem vierjährigen Kind gegenüber unterhaltspflichtig und seiner nicht erwerbstätigen Ehefrau. Nach der Düsseldorfer Tabelle (Stand 1.1.2011) ergibt sich der Kindesunterhalt mit 381 Euro. Nach bisherigem Recht wurde dieser sich unmittelbar aus der Tabelle ergebende Betrag von dem Einkommen des M. abgezogen: 2800 Euro – 381 Euro = 2419 Euro, bevor der Ehegattenunterhalt berechnet wurde: 3/7 nach der Düsseldorfer Tabelle (Stand 1.1.2011) ergeben 1036 Euro, 1/2 × (9/10) nach SüdL (Stand 1.1.2012) 1088, 55 Euro3.
Mit dem absoluten Vorrang des minderjährigen Kindes und der privile- 1092 gierten Volljährigen, wie er sich nach dem ab 1.1.2008 geltenden UÄndG aus § 1609 Nr. 1 BGB ergibt, ist es umso mehr gerechtfertigt, den Kindesunterhalt abzuziehen, bevor der Unterhalt des berechtigten Ehegatten berechnet wird. Neu ist allerdings, dass der Kindesunterhalt vom Einkommen mit dem Zahlbetrag und nicht mehr mit dem Tabellenbetrag abgezogen wird. Unter Zahlbetrag ist dabei der Tabellenbetrag nach Abzug des zu berücksichtigenden Kindergeldes zu verstehen. Die neue Berechnung rechtfertigt sich daraus, dass das Kindergeld als Einkommen des Kindes behandelt wird und damit seinen Unterhaltsbedarf deckt4, als 1 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (853) m. Anm. Hoppenz, S. 854 (855) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220. 2 BGH v. 10.7.1991 – XII ZR 166/90, FamRZ 1991, 1163 (1164/1165); BGH v. 17.11.2004 – XII ZR 183/02, FamRZ 2005, 347 (350) = FamRB 2005, 99. 3 Ohne Berücksichtigung der Höhergruppierung nach Anm. 1 der Düsseldorfer Tabelle, Stand 1.1.2011. 4 Dose, FamRZ 2007, 1289 (1292); Klinkhammer, FamRZ 2008, 193 (199); Gerhardt, FamRZ 2007, 945 (948); Gerhardt/Gutdeutsch, FamRZ 2007, 748; Scholz, FamRZ 2007, 2021 (2028); Reinken, FuR 2008, 9 (11); Vossenkämper, FamRZ 2008, 201 (208); Schürmann, FamRZ 2008, 313 (323); Wever, FamRZ 2008, 553 (560); Born, NJW 2008, 1; Büte, FuR 2008, 309; OLG Hamm v. 24.1.2008 – 2 UF 166/07, FamRZ 2008, 893 mit vielen Nachweisen (auch zur Gegenmeinung) und ausführlicher Begr.; OLG Hamm v. 6.3.2008 – 2 UF 117/07, FamRZ 2008, 1937 (1940) mit ausführlicher Begr. = FamRB 2008, 265; OLG Celle v. 7.2.2008 – 17 UF 203/07, FamRZ 2008, 997; grundlegend BGH v. 27.5.2009 – XII ZR
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Kap. 6 C Rn. 1093
Ehegattenunterhalt
hätte es Erwerbseinkommen (§ 1612b Abs. 1 BGB). Dem Kindergeld kommt daher die gleiche unterhaltsrechtliche Wirkung zu wie dem Eigeneinkommen (des Kindes), welches bei minderjährigen Kindern (wegen der Gleichwertigkeit von Bar- und Naturalunterhalt nach § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB) je zur Hälfte auf den Bar- und den Naturalunterhalt und bei volljährigen Kindern in vollem Umfang auf den Bedarf anzurechnen ist. Das führt in aller Regel zu einem (geringfügig) erhöhten Ehegattenunterhalt, weil der Zahlbetrag geringer ist als der Tabellenbetrag und damit weniger vom Einkommen des Pflichtigen abgezogen wird. Diese Konsequenz, die der Gesetzgeber vorausgesehen hat, ist beabsichtigt, um den Vorteil des Realsplittings auf Seiten des im zweiten Rang stehenden Ehegatten zu erhöhen1. Allerdings wird sich der Entlastungsvorteil durch das Realsplitting in bescheidenem Rahmen halten, wie das folgende Beispiel zeigt: Beispiel (Abwandlung zu Beispiel Rn. 1091): Nach dem seit 1.1.2008 geltenden Recht wird nicht mehr der Tabellenbetrag von 381 Euro vom Einkommen des Pflichtigen abgezogen, sondern (bei minderjährigen Kindern) der um die Hälfte des Kindergelds (derzeit 184 Euro für die ersten beiden Kinder) bereinigte Betrag, also 381 Euro – 92 Euro = 289 Euro, bevor der Ehegattenunterhalt berechnet wird. Dieser berechnet sich nach der Düsseldorfer Tabelle (Stand 1.1.2011) mit 3/7 aus 2800 Euro – 289 Euro = 1076,14 Euro (nach früherem Recht 1036 Euro). Nach SüdL 1/2 × (9/10) von 2800 Euro – 289 Euro = 1129,95 Euro (nach früherem Recht 1088,55 Euro). Die Differenz beträgt im ersten Fall 40.14 Euro und im zweiten 41.40 Euro. Diese Beträge, um welche sich das Einkommen des Unterhaltsverpflichteten weniger verringert hat, stehen jetzt für den Ehegattenunterhalt (zusätzlich) pro Monat zur Verfügung; hieran stehen dem unterhaltsberechtigten Ehegatten entweder 3/7 = 17,20 Euro bzw. 17,74, oder die Hälfte 20,07 Euro bzw. 20,70 Euro zu.
1093
Die meisten Oberlandesgerichte gehen vom Vorwegabzug des Zahlbetrags aus2. Das OLG Hamm stellte bei minderjährigen Kindern teilweise auf den Tabellenbetrag, teilweise auf den Zahlbetrag ab3. Nach den Leitlinien des OLG Hamm, Stand 1.1.2012, ist in Ziff. 15.2.4 jetzt ausdrücklich der Zahlbetrag des Kindesunterhalts als Abzugsposten genannt. Die Leitlinien des OLG Jena und diejenigen des OLG Koblenz4 lassen offen, ob der Tabellen- oder der Zahlbetrag abzuziehen ist.
1
2 3 4
78/08, FamRZ 2009, 1300 (1304) m. Anm. Schürmann mit ausführl. Begr. = FamRB 2009, 335, FamRB 2009, 270, FamRB 2009, 271 und FamRB 2009, 272. BT-Drucks. 16/1830, S. 29: Durch die Neuregelung sollen die unterhalts- und sozialrechtlichen Wirkungen des Kindergelds harmonisiert werden. Das Kindergeld wird im Sozialrecht gem. § 11 Abs. 1 S. 3 SGB II und des § 82 Abs. 1 S. 2 SGB XII dem Einkommen des minderjährigen Kindes zugerechnet und vermindert somit den Bedarf des Kindes. Unterhaltsrechtliche Leitlinien der Oberlandesgerichte, Stand 1.1.2012 bzw. 2011, Ziff. 15.2; s. www.famrb.de. OLG Hamm v. 24.1.2008 – 2 UF 166/07, FamRZ 2008, 893; OLG Hamm v. 6.3.2008 – 2 UF 117/07, FamRZ 2008, 1937 = FamRB 2008, 265. Unterhaltsrechtliche Leitlinien der Oberlandesgerichte, Stand 1.1.2012 bzw. 1.1.2011 Ziff. 15.2.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1095
Kap. 6 C
Konkurriert der Unterhaltsanspruch von Kindern ohne eigene Lebensstellung mit Ansprüchen getrenntlebender oder geschiedener Ehegatten oder einem Anspruch nach § 1615l BGB, wird das Einkommen ausgewogen verteilt, wenn die Bedarfskontrollbeträge der Düsseldorfer Tabelle angewendet werden1.
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Wichtig: Die unterhaltsrechtlichen Leitlinien der Oberlandesgerichte (Stand 1.1.2012 bzw. 2011) gehen mehrheitlich davon aus, den Zahl- und nicht den Tabellenbetrag abzuziehen, bevor der Ehegattenunterhalt berechnet wird. Eines der Hauptanliegen der Unterhaltsreform 2007 war, das geltende Unterhaltsrecht zu vereinfachen und den Rechenweg transparenter zu gestalten. Es wäre zu wünschen, dass sich alle Oberlandesgerichte im Interesse einer Rechtsvereinheitlichung auf eine einheitliche Praxis verständigen. Solange dies noch nicht erfolgt ist, sollte sich der Rechtanwalt erkundigen, welcher Praxis der in seinem Fall zuständige Senat dieser folgt. Der Mandant ist rechtzeitig auf die Unsicherheit der Berechnung hinzuweisen; allerdings werden sich die Unterschiede – wie das obige Beispiel zeigt – in Grenzen halten.
(2) Unterhaltspflicht gegenüber dem volljährigen Kind Der Unterhaltsbedarf volljähriger Kinder richtet sich nach dem zusam- 1095 mengerechneten Einkommen der Eltern, soweit er der Altersstufe 4 der Düsseldorfer Tabelle entnommen wird2. Allerdings schuldet ein Elternteil höchstens den Unterhalt, der sich allein auf der Grundlage seines Einkommens aus der vierten Altersstufe der Düsseldorfer Tabelle ergibt. Die Berechnung kann jedoch abgekürzt werden, wenn nur ein Elternteil Einkommen oberhalb des eigenen angemessenen Unterhalts nach § 1603 Abs. 1 BGB erzielt und der andere leistungsunfähig ist. Dann kann der Unterhaltsbetrag – vereinfacht – sogleich nach dem Einkommen des allein leistungsfähigen Elternteils bestimmt werden3. Beispiel: M verdient monatlich 2800 Euro netto, F 900 Euro. Der angemessene Selbstbehalt beträgt nach der Düsseldorfer Tabelle (Stand 1.1.2011) gegenüber volljährigen Kindern 1150 Euro. F ist daher gegenüber dem volljährigen Kind K nicht leistungsfähig, der Betrag des Unterhalts kann also nach dem Einkommen des M bestimmt werden.
1 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170; Klinkhammer, FamRZ 2008, 193; Büte, FuR 2008, 309 (313) mit einem instruktiven Beispiel. 2 Zur Berechnung des Unterhalts volljähriger Kinder Ehinger in: Ehinger/Griesche/Rasch, Rn. 206 ff. 3 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 126/06, FamRZ 2008, 2104 (2106) m. Anm. Schürmann = FamRB 2008, 361 und FamRB 2008, 362.
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Kap. 6 C Rn. 1096 1096
Ehegattenunterhalt
Nach § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB haften mehrere gleich nahe Verwandte anteilig nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen. Danach sind Eltern ihren volljährigen Kindern gegenüber anteilig barunterhaltspflichtig. Bevor der nacheheliche Ehegattenunterhalt berechnet wird, ist zunächst der jeweilige Haftungsanteil des berechtigten und des verpflichteten Ehegatten zu ermitteln und von dem jeweiligen Einkommen abzuziehen, wenn der bisher bezahlte Kindesunterhalt die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt hat1. Verletzt ein Ehegatte seine Erwerbsobliegenheit gegenüber einem volljährigen Kind, ist ein fiktives Einkommen für die Berechnung des Haftungsanteils heranzuziehen. Abzuziehen ist der Zahlbetrag, nicht der ungekürzte Tabellenbetrag nach der Düsseldorfer Tabelle2. Unter Zahlbetrag in diesem Sinne wird bei volljährigen Kindern der Tabellenbetrag abzüglich des gesamten Betrags des Kindergelds verstanden3, nicht nur der Hälfte wie bei minderjährigen Kindern (§ 1612b BGB). Beispiel: M bezieht ein Nettoeinkommen von 2700 Euro, F ein solches von 1800 Euro; der Unterhalt für das volljährige Kind soll 500 Euro betragen, der auf M entfallende Haftungsanteil 350 Euro und der auf F entfallende 150 Euro. Bereinigtes Einkommen des M: 2700 Euro – 350 Euro = 2350 Euro – 235 Euro (10 % Erwerbstätigenbonus) = 2115 Euro. Bereinigtes Einkommen der F: (1800 Euro – 150 Euro) = 1650 Euro – 165 Euro (10 % Erwerbstätigenbonus) = 1485 Euro. Unterhaltsanspruch der F: 2115 Euro – 1485 Euro = 630 Euro : 2 = 315 Euro.
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Ausnahmsweise ist der an das volljährige Kind zu zahlende Kindesunterhalt ausschließlich vom Einkommen des unterhaltsverpflichteten Ehegatten abzusetzen, wenn zwischen beiden Ehegatten eine konkludente Freistellungsvereinbarung abgeschlossen wurde. Hat der Unterhaltsverpflichtete seit dem Eintritt der Volljährigkeit den Unterhalt für das volljährige Kind bezahlt, ohne den anderen Ehegatten in Rückgriff nehmen zu wollen, kann der andere Ehegatte nicht mehr in Anspruch genommen werden. Zwar ist das volljährige Kind nicht gehindert, seinen Unterhaltsanteil gegenüber dem nicht leistenden Ehegatten geltend zu machen. Allerdings wird eine Inanspruchnahme für die Vergangenheit wegen § 1613 BGB scheitern. Auch der Rückgriff des den Kindesunterhalt leistenden Ehegatten im Weg eines familienrechtlichen Ausgleichsanspruchs wird wegen der analog anwendbaren Vorschrift des § 1613 BGB nicht möglich sein. Ist daher rechtlich gesichert, dass der nicht leistende Ehegatte nicht mehr in Anspruch genommen werden kann, geht der BGH von einer stillschweigenden Freistellungsabrede zugunsten des nicht leistenden Ehe-
1 BGH v. 10.7.1991 – XII ZR 166/90, FamRZ 1991, 1163 (1164/1165). 2 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 (967) = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170; BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 126/06, FamRZ 2008, 2104 (2107) m. Anm. Schürmann = FamRB 2008, 361 und FamRB 2008, 362; vgl. Rn. 1092. 3 BGH v. 17.11.2004 – XII ZR 183/02, FamRZ 2005, 347 (350) = FamRB 2005, 99; BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 126/06, FamRZ 2008, 2104 (2107) m. Anm. Schürmann = FamRB 2008, 361 = FamRB 2008, 362.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1100
Kap. 6 C
gatten aus, die zur Folge hat, dass der Zahlbetrag des Kindesunterhalts allein vom Einkommen des Unterhaltspflichtigen abgezogen wird, bevor der Ehegattenunterhalt berechnet wird1. Mit der im UÄndG 2007 neu eingeführten Rangordnung nach § 1609 1098 BGB treten die volljährigen Kinder an die vierte Rangstelle und damit im Mangelfall hinter die Ehegatten nach § 1609 Nr. 2 und Nr. 3 BGB zurück. In der Praxis werden diese Kinder daher nur in den seltensten Fällen zum Zug kommen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie während bestehender Ehe oder nach der Scheidung geboren wurden. Dagegen stehen die sog. privilegierten Volljährigen nach § 1603 Abs. 2 mit den minderjährigen, unverheirateten Kindern auf einer Rangstufe. (3) Unterhaltspflicht gegenüber nicht gemeinsamen Kindern Der monatlich gezahlte Betrag des Unterhalts für Kinder des Unterhalts- 1099 verpflichteten ist vom Bedarf abzuziehen, bevor der Ehegattenunterhalt berechnet wird, wenn das Kind vor der Rechtskraft der Scheidung geboren wurde2. Ist das Kind danach geboren, wird es bei der Bedarfsbemessung nicht berücksichtigt, höchstens bei der Bestimmung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten (§ 1581 BGB), wenn es im ersten Rang nach § 1609 Nr. 1 BGB steht. Auch das nichteheliche Kind des Berechtigten, das nicht von dem verpflichteten Ehemann abstammt3, bestimmt den Bedarf. (4) Nach Scheidung entstehende Unterhaltspflicht für minderjährige Kinder Ohne Auswirkung auf den Unterhaltsbedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen ist eine nacheheliche Entwicklung, die keinen Anknüpfungspunkt in den ehelichen Lebensverhältnissen hat. Das gilt auch für die Unterhaltspflicht für ein nach der Rechtskraft der Scheidung geborenes Kind. Solche Unterhaltsansprüche sind weder in der Ehe angelegt
1 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 126/06, FamRZ 2008, 2104 (2107) = FamRB 2008, 361 und FamRB 2008, 362 (Vorinstanz: OLG Koblenz v. 25.7.2006 – 11 UF 655/05, FamRZ 2007, 28 = FamRB 2007, 133); BGH v. 4.3.2009 – XII ZR 18/08, FamRZ 2009, 768 = FamRZ 2009, 856 = FamRB 2009, 171 = FPR 2009, 309 m. Anm. Schlünder zu Auslegungsfragen bei einer konkludenten Freistellungserklärung; zum Vorwegabzug des Unterhalts volljähriger Kinder BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 (865) = FamRB 2003, 239; BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 126/06, FamRZ 2008, 2104 (2107) = FamRB 2008, 361 und FamRB 2008, 362; BGH v. 21.1.2009 – XII ZR 54/06, FamRZ 2009, 762 (766) = FamRB 2009, 172 und FamRB 2009, 173; BGH v. 17.12.2008 – XII ZR 9/07, FamRZ 2009, 411 (415) = FamRB 2009, 101; BGH v. 27.5.2009 – XII ZR 78/08, FamRZ 2009, 1300 (1304) m. Anm. Schürmann = FamRB 2009, 335, FamRB 2009, 270, FamRB 2009, 271 und FamRB 2009, 272. 2 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 19; BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 98/97, FamRZ 1999, 367 (368/369). 3 OLG Jena v. 8.11.2005 – 1 WF 436/05, FamRZ 2006, 1205.
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Kap. 6 C Rn. 1101
Ehegattenunterhalt
noch mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten1. Nach der inzwischen aufgegeben Rechtsprechung zu den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen wurde das nachehelich geborene Kind bereits auf der Bedarfebene berücksichtigt2. Diese Grundsätze gelten auch für den Fall, dass der Pflichtige nach der Wiederheirat das minderjährige Kind seiner zweiten Ehefrau adoptiert3. 1101
Gegen die Auffassung des BGH, das nacheheliche geborene Kind bereits auf der Bedarfsebene zu berücksichtigen und den Zahlbetrag vor der Bemessung des Bedarfs für den geschiedenen Ehegatten abzuziehen, hatte das OLG Celle4 bereits in zwei früheren Entscheidungen eingewandt, dass eine nach der Scheidung entstehende Unterhaltspflicht für ein minderjähriges Kind die ehelichen Lebensverhältnisse nicht nachträglich bestimmen könne, weil der Bezug zu den konkret zu verstehenden ehelichen Lebensverhältnissen fehle. (5) Unterhaltspflicht gegenüber Stiefkindern
1102
Die vom Unterhaltspflichtigen für ein Stiefkind erbrachten Unterhaltsleistungen haben beim Bedarf des geschiedenen Ehegatten außer Betracht zu bleiben5. Prägen Unterhaltsleistungen für das Stiefkind nicht die ehelichen Lebensverhältnisse, ist demgemäß ein Kinderfreibetrag, den der Unterhaltspflichtige für das Stiefkind in Anspruch nimmt6, bei der Be-
1 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 27 unter Aufgabe der früheren Rspr.; Götz/Brudermüller, NJW 2011, 805 (809); Borth, FamRZ 2011, 445 (446 ff.); Maurer, FamRZ 2011, 849 (855); Maier, FuR 2011, 182 (184); aA Gutdeutsch, FamRZ 2011, 523 (524). 2 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 (972) = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173 unter Aufgabe der früheren Rspr. BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 98/97, FamRZ 1999, 367 (369); BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (686) = FamRB 2006, 198 zum Trennungsunterhalt; dazu Schürmann, NJW 2006, 2301 (2303): „revolutionäre, weit in die Zukunft weisende Bedeutung“; ablehnend Born, NJW 2007, 26 (27). 3 Entgegen BGH v. 26.9.2007 – XII ZR 11/05, FamRZ 2007, 2049 (2051); BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 m. Anm. Norpoth und Maurer S. 204 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35; Vorinstanz: OLG Celle v. 11.4.2007 – 15 UF 221/06 FamRZ 2007, 1818. 4 OLG Celle v. 11.4.2007 – 15 UF 221/06, FamRZ 2007, 1818; OLG Celle v. 18.7.2007 – 15 UF 236/06, FamRZ 2007, 1821 = FamRB 2008, 34; kritisch auch bereits Borth, FamRZ 2006, 852 (853); Büttner, FamRZ 2006, 765. 5 BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 (1819) m. Anm. Büttner FamRZ 2005, 1899 und Maurer, FamRZ 2006, 258 = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354; im konkreten Fall hatte sich der Ehemann gegenüber der Ausländerbehörde zur Zahlung von Kindesunterhalt verpflichtet, BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 (25) m. Anm. Norpoth = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35. 6 BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 (1820) m. Anm. Büttner FamRZ 2005, 1899 und Maurer, FamRZ 2006, 258 = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1104
Kap. 6 C
rechnung des Ehegattenunterhalts für den geschiedenen Ehegatten zu eliminieren. ff) Unterhaltspflicht gegenüber dem betreuenden Elternteil nach § 1615l BGB Ebensowenig wie der Unterhalt für ein nachehelich geborenes Kind den 1103 Bedarf des geschiedenen Ehegatten bestimmen kann, prägt der nachehelich entstehende Unterhaltsanspruch des nicht verheirateten Elternteils nach § 1615l BGB den Bedarf. Es fehlt an der erforderlichen Anknüpfung an die geschiedene Ehe. Wohl aber ist dieser Anspruch auf der Stufe der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen zu berücksichtigen; steht er nach § 1609 Nr. 2 BGB im Rang vor der geschiedenen Ehefrau, ist er im Mangelfall vorab zu berücksichtigen. Ist dieser Unterhaltsanspruch dagegen vor dem Zeitpunkt der Rechtskraft der Scheidung entstanden, bestimmen den Bedarf sowohl die Unterhaltspflicht gegenüber dem außerhalb der Ehe geborenen Kind als auch diejenige gegenüber dem nicht verheirateten Elternteil und sind somit als Abzugsposten in die Bedarfsbemessung einzustellen, bevor der Unterhalt des geschiedenen Ehegatten ermittelt wird1. gg) Versorgung eines Lebenspartners Mit dem Surrogatansatz hat der BGH auch diejenigen Fälle entschieden, 1104 in denen der nicht erwerbstätige Ehegatte während der Trennung oder nach der Scheidung einen neuen Lebensgefährten versorgt2. Das Problem dieser Fallgruppe ergibt sich aus zweierlei: Einerseits bezieht der Unterhaltsberechtigte aus einer solchen Tätigkeit kein reales Einkommen, welches als Bedarfsmaßstab gelten könnte, andererseits kann ein fiktives Einkommen nicht zugerechnet werden, wenn eine Erwerbsobliegenheit nicht verletzt wird, etwa weil eine Pflicht zu einer vollschichtigen Erwerbspflicht wegen des Alters gemeinsamer Kinder nicht besteht. Gleichwohl aber erbringt der Berechtigte im Haushalt des Partners eine geldwerte Leistung, die – auf dem Arbeitsmarkt angeboten – entsprechend vergütet würde3.
Û
Praxistipp: Der Anwalt des Pflichtigen wird zunächst an den Verwirkungstatbestände nach § 1579 Nr. 2 und 7 BGB denken: sozioökonomische Gemeinschaft oder Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit4. Das scheitert
1 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 27. 2 Zu Versorgungsleistungen einer unterhaltsberechtigten Mutter im Haushalt der Tochter BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532 (1536) = FamRB 2007, 290. 3 Scholz, FamRZ 2003, 265 (270). 4 Zur verfestigten Lebensgemeinschaft vgl. BGH v. 5.10.2011 – XII ZR 117/09, FamRZ 2011, 1854 m. Anm. Maurer = FamRB 2011, 361; zu den genannten bei-
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Ehegattenunterhalt
oft am Nachweis der Gemeinschaft oder der vom BGH geforderten Mindestdauer eines solchen Verhältnisses von zwei bis drei Jahren1 Sprechen auch keine besonderen Gründe dafür, diese Mindestdauer abzukürzen, wie bspw gemeinsamer Hausbau2, gemeinsamer Erwerb von Immobilieneigentum3, Kauf eines Eigenheims4 oder gemeinsamer Telefaxanschluss5, kann sich der Pflichtige auf die Tätigkeit des Ehegatten im Haushalt eines Lebensgefährten berufen, die nach bisheriger Rechtsprechung nicht eheprägend war und mit der Anrechnungsmethode abgezogen wird – eine für den Pflichtigen günstige Berechnungsform. (1) Anderweitige Deckung des Lebensbedarfs oder Surrogat 1105
Die frühere Rechtsprechung hat Haushaltsdienste dieser Art analog § 850h Abs. 2 ZPO fiktiv dem Berechtigten zugerechnet und solche Einkünfte als „besondere Art einer anderweitigen Deckung des Unterhaltsbedarfs“ und damit nicht als Einkünfte aus Erwerbstätigkeit angesehen6. Ohne diese Rechtsprechung ausdrücklich aufzugeben, hat der BGH den Surrogatgedanken auch auf diese Fälle von Versorgungsleistungen für den Lebensgefährten ausgedehnt7. Die Begründung ist allerdings sehr knapp und missverständlich ausgefallen: Diese Tätigkeit sei nicht anders zu beurteilen, als wenn die Berechtigte eine bezahlte Tätigkeit als Haushälterin bei Dritten annähme8.
1106
In einer weiteren Entscheidung9 hat der BGH dann klargestellt, dass es dem gleichen Recht und der gleichen Verantwortung der Ehegatten entspricht, die Arbeiten und Aufgaben als gleichwertig anzusehen, welche sich die Ehegatten innerhalb des selbst gewählten Arbeits- und Aufgabenmodells wechselseitig zuweisen. Familienarbeit hat keinen geringeren Wert als die Erwerbstätigkeit und letztere keinen geringeren als die ers-
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den Fallgruppen OLG Karlsruhe v. 12.10.2005 – 18 UF 305/04, FamRZ 2006, 706; zu den Kriterien einer verfestigten Lebensgemeinschaft Ehinger in: Ehinger/ Griesche/Rasch, Rn. 535b ff. BGH v. 21.12.1988 – IVb ZR 18/88, FamRZ 1989, 487 (489); BGH v. 12.3.1997 – XII ZR 153/95, FamRZ 1997, 671. OLG Köln v. 4.3.1999 – 10 UF 142/98, FamRZ 2000, 290. OLG Schleswig v. 1.3.2004 – 15 WF 197/03, FamRZ 2005, 277; OLG Schleswig v. 4.11.2005 – 7 WF 60/05, FamRZ 2006, 954; OLG Karlsruhe v. 12.10.2005 – 18 UF 305/04, FamRZ 2006, 706. OLG Hamburg v. 5.12.2001 – 12 WF 159/01, FamRZ 2002, 1038. OLG Koblenz v. 5.10.2005 – 7 WF 864/04, FamRZ 2006, 705. BGH v. 9.12.1987 – IVb ZR 97/86, FamRZ 1988, 259 (263). BGH v. 5.9.2001 – XII ZR 336/99, FamRZ 2001, 1693 m. Anm. Büttner = FamRB 2002, 4. Dagegen OLG Oldenburg v. 30.4.2002 – 12 UF 202/01, FamRZ 2002, 1488 = FamRB 2002, 257; Rauscher, FuR 2002, 337; Wohlgemuth, FamRZ 2003, 983; Scholz, FamRZ 2003, 265 (270); Gerhardt, FamRZ 2003, 272 (275); aA Born, FamRZ 2002, 1603. BGH v. 5.5.2004 – XII ZR 132/02, FamRZ 2004, 1173 m. Anm. Born.
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Rn. 1108
Kap. 6 C
tere – beide bestimmen in gleicher Weise die ehelichen Lebensverhältnisse. Daher leitet sich die Gleichwertigkeit der jeweiligen Beiträge der Ehegatten rechnerisch nicht von der Erwerbstätigkeit oder vom wirtschaftlichen Wert der Familienarbeit ab, sondern sind unabhängig von ihrer ökonomischen Bewertung gleichgewichtig. Dieser Befund bestimmt die Teilhabequote: Beide Ehegatten haben hälftig an dem ehelichen Lebensstandard teil. Spätere reale oder fiktive Einkünfte (oder zurechenbare Einkünfte wie die Versorgungstätigkeit für einen anderen Partner) dienen lediglich als Richtwert, wie die Haushaltstätigkeit und/oder die Kindererziehung während der Ehezeit zu bemessen ist. Das unterstreicht den Charakter als „Ersatz“ und spricht gegen eine Bewertung. Ob der Wechsel des Lebenspartners ehezerstörend oder trennungsbedingt ist oder ob die Versorgungsleistungen untrennbar mit der „persönlichen Beziehung“ verbunden sind, ist im Hinblick auf den Surrogatcharakter irrelevant. Der BGH findet – zweitens – klare Worte zu den Fällen, in denen der den 1107 Haushalt führende Partner zunächst keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. In diesen Fällen wird der Bedarf nach dem real verdienten Einkommen des anderen (geschiedenen) Ehepartners berechnet. Erzielt dagegen der bisher nicht erwerbstätige Partner Einkommen – ob während der Trennung oder nach der Scheidung, ist gleichgültig – oder ist er in der Lage, solches zu erzielen oder sind ihm sonst eigene Einkünfte zuzurechnen wie bei der Versorgung des neuen Partners, prägt dieses Einkommen den Bedarf und ist mit der Differenz- bzw. Additionsmethode (Rn. 1185 ff.) zu berücksichtigen. Das Aktivieren des während der Ehezeit nicht virulenten Bedarfspostens „Haushaltstätigkeit“ ist denknotwendige Voraussetzung des Surrogatgedankens und der Differenzmethode1. Drittens: Wenn es auf die wirtschaftliche Bewertung der Leistungen für 1108 den Partner nicht ankommt, spielt dessen Leistungsfähigkeit, anders als nach der früheren Rechtsprechung, keine Rolle mehr. Denn der Bedarf nach § 1578 BGB garantiert keine unveränderte Lebensstandardgarantie; vielmehr hätte sich der Berechtigte auch bei fortbestehender Ehe auf einen Rückgang des nachehelichen Einkommens einstellen müssen.
Û
Praxistipp: Nach der Rechtsprechung des BGH (Rn. 1106) zur Versorgung eines anderen Partners kommt es nicht mehr darauf an, ob und in welcher Weise die Ehefrau ihren Bedarf deckt, ob beispielsweise der neue Partner die Miete übernimmt, ob die Ehefrau Unterhalt in Natur erhält, ob Zahlungen geleistet werden usw. Die Leistungen, welche für den neuen Partner erbracht werden, sind keine besondere Form mehr, den Bedarf zu befriedigen. Der BGH hat nicht entschieden, ob es sich um Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit im eigentlichen Sinne handelt (und ob berufsbedingte Aufwendungen berücksichtigt werden,
1 Born, FamRZ 2004, 1176, Anm. zu BGH v. 5.5.2004 – XII ZR 132/02, FamRZ 2004, 1173.
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Ehegattenunterhalt
bzw. ein Erwerbstätigenbonus abgezogen werden muss). Der Anwalt des Berechtigten kann es sich ersparen, auf die mangelnde Leistungsfähigkeit des Lebenspartners abzuheben, genauso wie der Anwalt des Pflichtigen auf den Vortrag verzichten kann, der neue Partner sei leistungsfähig. Maßgeblich ist allein der Surrogatansatz: Der Wert der Versorgungsleistungen, die ein unterhaltsberechtigter Ehegatte nach Trennung oder rechtskräftiger Ehescheidung für den neuen Lebenspartner erbringt, tritt als Surrogat an die Stelle einer Haushaltsführung während der Ehezeit und ist damit bedarfsprägend. Der Wert der Versorgungsleistung ist in der Entscheidung v. 5.5.20041 mit 400 DM nicht beanstandet worden. Die Ehefrau unterhielt mit ihrem neuen Partner eine Wirtschaftsgemeinschaft, die sich mit dem Einzug in eine gemeinsame Wohnung zu einer Lebensgemeinschaft verfestigt hatte. Nach OLG Celle2 können je nach Vortrag des Pflichtigen auch 400 Euro angesetzt werden. 1109
Die weitreichenden Folgen dieser neuen Rechtsprechung liegen auf der Hand: Sieht man in der Tätigkeit der Ehefrau für den neuen Partner eine besondere Form, den Bedarf zu befriedigen, geht es darum, die ersparten Aufwendungen zu bewerten, die durch das Zusammenleben mit einem neuen Partner gegenüber einem Einzelhaushalt bestehen; ist die Versorgung Surrogat, geht es um den wirtschaftlichen Wert der gesamten Versorgungsleistung, die an die Stelle der früheren Haushaltstätigkeit tritt. (2) Erwerbstätigkeit und Partnerdienste
1110
Offen ist, wie diejenigen Fälle zu behandeln sind, in denen die Ehefrau das „Surrogatkontingent“ bereits ausgeschöpft hat: Der berechtigte Ehegatte hatte nach der Trennung oder Scheidung bereits in vollem Umfang eine Erwerbstätigkeit aufgenommen und versorgt noch zusätzlich den neuen Lebenspartner oder versorgt zunächst nach Trennung/Scheidung den Lebenspartner und nimmt nach einiger Zeit eine vollschichtige Erwerbstätigkeit auf. Da die Erwerbstätigkeit bereits als Surrogat an die Stelle der früheren Haushaltstätigkeit tritt, kann die Versorgungsleistung der Ehefrau keine zusätzliche Surrogatwirkung entfalten. Hätte die Ehefrau während intakter Ehe eine volle Erwerbstätigkeit ausgeübt, wäre ihr Einkommen mit der Differenz- bzw. Additionsmethode in den Bedarf eingeflossen. Der zusätzlichen Tätigkeit für Ehepartner und Familie wäre keine weitere Bedeutung zugekommen3 – eine kumulierende Wirkung von Versorgung und Erwerbstätigkeit tritt nicht ein, sonst stünde die Ehefrau schlechter als während der Ehe.
1 BGH v. 5.5.2004 – XII ZR 132/02, FamRZ 2004, 1173 m. Anm. Born. 2 OLG Celle v. 7.2.2008 – 17 UF 203/07, FamRZ 2008, 997. 3 AA Scholz, FamRZ 2003, 265 (270); Gerhardt, FamRZ 2003, 272 (274).
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1114
Kap. 6 C
(3) Erwerbsobliegenheit und Partnerdienste Trifft den berechtigten Ehegatten eine Obliegenheit, einer Erwerbstätigkeit in vollem Umfang nachzugehen, kann er sich nicht auf die Versorgung des neuen Lebenspartners zurückziehen. In diesem Fall sind die Grundsätze anzuwenden, die der BGH für die fiktive Tätigkeit (Rn. 936 ff.) entwickelt hat: Auch solches Einkommen ist als Surrogat mit der Differenzbzw. Additionsmethode (Rn. 1185 ff.) zu berücksichtigen.
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hh) Vorsorgeaufwendungen Vom Bruttoeinkommen des nichtselbständig Erwerbstätigen sind die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung – jeweils die Arbeitnehmeranteile – abzusetzen. Bei Selbständigen und öffentlichen Bediensteten ohne eine gesetzliche Krankenversicherung können angemessene Kosten für eine private Kranken- und Pflegeversicherung abgezogen werden. Des Weiteren können Kosten der Sekundärvorsorge iHv. 4 % des gesamten Bruttoeinkommens vom Einkommen des Vorjahres geltend gemacht werden, vorausgesetzt, dass die zusätzlichen Aufwendungen auch tatsächlich geleistet wurden; fiktive Abzüge werden nicht berücksichtigt (zu weiteren Einzelheiten vgl. Rn. 164 ff.).
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ii) Renteneinkommen (1) Frühere und neue Rechtsprechung Bezog der Unterhaltsberechtigte nach der Scheidung eine Rente oder Pen- 1113 sion, musste nach der bisherigen Rechtsprechung unterschieden werden: Rentenanteile, die der Berechtigte infolge des Versorgungsausgleichs erworben hatte, konnten die ehelichen Lebensverhältnisse nicht prägen, weil sie eine Folge der Scheidung waren. Andere Anwartschaften, welche die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt haben, konnten berücksichtigt werden – also im Wesentlichen diejenigen, die auf der eigenen Erwerbstätigkeit des Berechtigten beruhten. Die nicht prägenden Rentenanwartschaften wurden nach der Anrechnungsmethode abgezogen. Die Surrogatrechtsprechung (Rn. 905 ff.) hat diese Sichtweise geändert: 1114 Die ehelichen Lebensverhältnisse werden jetzt auch durch die Altersrente geprägt. Sie ist als Surrogateinkommen in den Bedarf einzubeziehen, und zwar ungeachtet dessen, ob sie teilweise auf vorehelich erworbenen Anwartschaften beruht, auf dem aus Anlass der Scheidung durchgeführten Versorgungsausgleich oder aus nachehelich erworbenen Versorgungsrechten stammt oder gar aus einem bereits aus Anlass der Scheidung einer ersten Ehe durchgeführten Versorgungsausgleich. Ausnahme: Versorgungsanrechte, die mit Mitteln des Altersvorsorgeunterhalts erworben wurden, sind nicht bedarfsprägend1. 1 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 m. Anm. Hoppenz, S. 854 = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220; BGH v. 13.10.2001 – XII ZR 292/99, FamRZ 2002, 88; R. Müller, FuR 2002, 195.
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Ehegattenunterhalt
Die Verringerung des Einkommens, welche mit dem Eintritt in den Ruhestand einhergeht, wirkt sich mithin nicht erst auf die Leistungsfähigkeit aus, sondern bereits auf den Bedarf. Nach der Rechtsprechung des BGH handelt es sich dabei um Entwicklungen, die auch ohne die Scheidung eingetreten wären und auf welche sich die Ehegatten hätten einstellen müssen, wenn die Ehe fortgeführt worden wäre. Solche Entwicklungen sind bedarfsprägend1.
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Wichtig: Nach der neueren Rechtsprechung wird die Altersrente auf der Ebene des Bedarfs, nicht erst bei der Leistungsfähigkeit berücksichtigt. In Abänderungsfällen ist daher der Bedarf neu zu berechnen. An die Stelle des Einkommens des Berechtigten treten die Einkünfte, die der Berechtigte aus Altersrenten bezieht. Davon macht der Altersvorsorgeunterhalt eine bedeutsame Ausnahme: Er hat die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt, ist damit nicht Bestandteil des Bedarfs und daher im Weg der Anrechnungsmethode nach Berechnung des Bedarfsanteils abzuziehen.
(2) Zeiträume des Rentenerwerbs 1116
Im Einzelnen kann nach dem Zeitraum des Erwerbs der Rente wie folgt unterschieden werden:
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– Die von einem Ehegatten bezogene Rente prägt die ehelichen Lebensverhältnisse auch dann, wenn sie auf einer vor der Ehe ausgeübten Erwerbstätigkeit beruht und erst nach der Scheidung angefallen ist. Die Rente ist Surrogat für den wirtschaftlichen Nutzen, den der rentenberechtigte Ehegatte vor dem Rentenfall aus seiner Arbeitskraft ziehen konnte2. Sie ist nach der Differenz- oder Additionsmethode (Rn. 1185 ff.) in den Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen einzubeziehen. Der BGH vergleicht die Situation des Berechtigten mit der des Verpflichteten: Auch bei diesem wird das gesamte Renteneinkommen beim Bedarf berücksichtigt, ohne dass es darauf ankäme, ob es vorehelich erworben wurde oder nicht3.
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– Das Gleiche gilt auch für Rentenanwartschaften, die nach der Ehe erworben wurden; auch sie sind bedarfsprägend. Hat nämlich ein Ehegatte während der Ehe seine Arbeitskraft in den gemeinsamen Haushalt 1 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281, Tz. 24; BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, BGHZ 153, 358; BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (849) m. Anm. Hoppenz, S. 854 = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220. 2 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (851) m. Anm. Hoppenz, S. 854 = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220; dazu kritisch Anm. Scholz, FamRZ 2002, 733 (735). 3 BGH v. 31.10.2001 – XII ZR 292/99, FamRZ 2002, 88 (91) = FamRB 2002, 65, FamRB 2002, 66 und FamRB 2002, 79.
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Rn. 1121
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und die Familienarbeit investiert, hat der Wert seiner Arbeitskraft die ehelichen Lebensverhältnisse bestimmt. Eine später aufgenommene Erwerbstätigkeit ist Surrogat dieser Familiendienste. Ihr Wert ist Surrogat dieser Familienarbeit und entspricht der später daraus bezogenen Rente, die ihrerseits Surrogat dieser nachehelichen Erwerbstätigkeit ist, so dass es keine Rolle spielt, ob der rentenberechtigte Ehegatte die Anwartschaften vor oder nach der Ehe erworben hat. Die nach der Ehe bezogene Rente aus nachehelich erworbenen Anwartschaften ist mit der Differenz- oder Additionsmethode (Rn. 1185 ff.) in die ehelichen Lebensverhältnisse einzubeziehen1. – Rentenanwartschaften, die auf einem aus Anlass der Scheidung durch- 1119 geführten Versorgungsausgleich beruhen, haben die ehelichen Lebensverhältnisse ebenfalls geprägt. Dem Versorgungsausgleich liegt der Gedanke zugrunde, dass die vom Ausgleichsverpflichteten erworbenen und formal ihm zugeordneten Anwartschaften auf einer gemeinsamen Lebensleistung beider Ehegatten beruhen, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um Erwerbstätigkeit durch den einen oder Haushaltsführung durch den anderen handelt. Da beide Ehegatten gleichwertige Beiträge zum Familienunterhalt beisteuern, sind die Versorgungsanrechte bei der Scheidung entsprechend zu teilen, wobei es keine Rolle spielt, wem die Versorgungsanwartschaften während intakter Ehe formal tatsächlich zugeordnet waren2. Die Auffassung des KG3, wonach die auf dem Versorgungsausgleich beruhenden Renten(anteile) die ehelichen Lebensverhältnisse nicht prägen, steht nur scheinbar entgegen. Die Anrechnungsmethode wendet auch das KG nicht strikt an. Die Entscheidung des KG steht im Übrigen der Entscheidung des BVerfG4 entgegen, der ebenfalls ein Rentenfall zugrunde lag. – Rentenanwartschaften, welche der Berechtigte (und der Verpflichtete) 1120 aus eigener Erwerbstätigkeit während der Ehe erworben hat, bestimmen ohnehin die ehelichen Lebensverhältnisse; denn Stichtag ist die Rechtskraft der Scheidung und Entwicklungen bis dahin beeinflussen die ehelichen Lebensverhältnisse (vgl. Rn. 1049). – Rentenanwartschaften aus dem Versorgungsausgleich einer früheren Ehe prägen die ehelichen Lebensverhältnisse der zweiten Ehe und sind mit der Differenz- oder Additionsmethode (Rn. 1185 ff.) im Bedarf zu berücksichtigen5. 1 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (851) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220. 2 BGH v. 31.10.2001 – XII ZR 292/99, FamRZ 2002, 88 (91) = FamRB 2002, 65, FamRB 2002, 66 und FamRB 2002, 79. 3 KG v. 1.2.2002 – 3 UF 184/01, FamRZ 2002, 640 m. Anm. R. Müller, FamRZ 2002, 1406; aA KG v. 3.1.2003 – 13 UF 249/02, FamRZ 2003, 1107 (1108). 4 BVerfG v. 5.2.2002 – 1 BvR 105/95, 1 BvR 559/95 und 1 BvR 457/96, FamRZ 2002, 527 = FamRB 2002, 97. 5 Hoppenz/Hülsmann, § 1578 BGB Rn. 30.
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Ehegattenunterhalt
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– Ausnahme: Beruht die Rente des Berechtigten auf Anwartschaften, die infolge eines vom Pflichtigen nach der Scheidung bezahlten Altersvorsorgeunterhalts begründet wurden, ist nach der Anrechnungsmethode (Rn. 1185, 1191) zu verfahren. Diese Rentenanteile entstehen als eine Folge der Scheidung und haben die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt1. Der Pflichtige würde doppelt belastet: Einmal müsste er dazu beitragen, die Altersversorgung seines geschiedenen Ehegatten auf- oder auszubauen, zum anderen auch noch einen aufgrund der so erworbenen Versorgung erhöhten Bedarf bedienen. Die durch Altersvorsorgeunterhalt entstandenen Anrechte des Berechtigten lassen sich nach Auffassung des BGH nicht als Surrogat für die Führung des Haushalts begreifen.
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Diese Differenzierung überzeugt nicht, weil auch die Anrechte, die mit dem Altersvorsorgeunterhalt begründet wurden, in aller Regel ehebedingte Nachteile ausgleichen und als Surrogat für die in der Ehe erbrachte Familienarbeit geleistet werden2 – für einen Zeitraum also, für den der Berechtigte keine Rentenanwartschaften begründen konnte und damit einen Einschnitt in seine Rentenbiografie hinnehmen musste. Scheidungsbedingt ist der Altersvorsorgeunterhalt allemal. Das ist jedoch kein Grund, die mit diesen Mitteln begründeten Anwartschaften als nicht eheprägend anzusehen; auch Surrogateinkommen ist scheidungsbedingt!
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Praxistipp: Die Differenz- oder Additionsmethode ist für den Berechtigten in aller Regel günstiger als die Anrechnungsmethode (Rn. 1185 ff.). Für den Verpflichteten günstiger ist dagegen die Anrechnungsmethode, weil der Betrag des Altersvorsorgeunterhalts von seinem Einkommen abgezogen wird, bevor der Elementarunterhalt berechnet wird, sog. zweistufige Berechnungsweise. Einen Teil des Altersvorsorgeunterhalts finanziert der Berechtigte also mit. Ein Risiko, ob der Berechtigte die Beträge richtig verwendet, besteht nicht: Werden sie nicht in den Vorsorgeunterhalt investiert, wird der Berechtigte fiktiv so behandelt (§ 1579 Nr. 4 BGB)3, werden die Beträge dagegen günstig angelegt, erzielt der Berechtigte ein hohes Vorsorgekapital, welches den Verpflichteten später entlasten kann. Hinzu kommt die für den Pflichtigen günstigere Berechnungsform nach der Anrechnungsmethode4, wenn der Berechtigte im Alter die Versicherungsleistung in
1 Kritisch Büttner/Niepmann, NJW 2004, 2284 (2287); Hoppenz, FamRZ 2003, 854. 2 Hoppenz, FamRZ 2003, 854; Palandt/Brudermüller, § 1578 BGB Rn. 32; Krause, FamRZ 2003, 1617. 3 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (853) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220. 4 Besonders zur Sicht des beratenden Anwalts Krause, FamRZ 2003, 1617.
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Kap. 6 C
Anspruch nimmt. Es kann sich also lohnen, zum Altersvorsorgeunterhalt zu raten. Die mit der Surrogatentscheidung geänderte Rechtslage erfasst zwar auch 1124 zurückliegende Zeiträume, Prozessvergleiche und Unterhaltsurteile können jedoch erst ab Verkündung des maßgeblichen Urteils des BGH v. 13.6.2001 abgeändert werden. Für die Zeit vor dem 13.6.2001 ist die frühere Rechtslage maßgebend, dh. für diesen Zeitraum gilt die Anrechnungsmethode, danach die Differenz- bzw. Additionsmethode, wenn Abänderungsgrund die Surrogatrechtsprechung ist. Allerdings konnten auch schon nach der früheren Rechtsprechung Ren- 1125 teneinkünfte den Bedarf prägen, die der in der Ehe nicht erwerbstätige Berechtigte nach der Scheidung aus Anwartschaften bezogen hat, welche er vor der Ehe erworben hatte, auch wenn die ehelichen Lebensverhältnisse ausschließlich durch Einkommen des Unterhaltspflichtigen geprägt waren. Der BGH hat es als unbillig angesehen, wenn die vorehelich erworbenen Anwartschaften im Wege der Anrechnungsmethode berücksichtigt werden. Der Unterhaltsberechtigte konnte in einem solchen Fall verlangen, dass der Bemessungsmaßstab für seinen Bedarf aus dem in der Ehe erreichten Niveau belassen wird. Der altersbedingte Wechsel der Einkommensquellen darf nicht einseitig den Berechtigten belasten1.
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Praxistipp: Nach Rechtsprechung des BGH hat sich der Vortrag für den Anwalt vereinfacht: Es muss jetzt nicht mehr nach den einzelnen Quellen des Renten-/Pensionsbezugs differenziert werden, es sei denn, es liegen die oben genannten Ausnahmen vor. Renten aller Art und Pensionen mit Zulagen und Zuschlägen sind unterhaltsrechtlich Einkommen, insbesondere die gesetzlichen Altersrenten (§§ 35 ff. SGB VI), Renten wegen Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI), Pensionen der Beamten, Waisen- und Halbwaisenrenten sowie die Versichertenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung (§§ 56 ff. SGB VII); letztere unterfallen nicht der Vermutung nach §§ 1610a, 1578a und 1361 Abs. 1 S. 1, 2. Hs BGB. Berufsbedingte Aufwendungen oder ein Erwerbstätigenbonus sind nicht abzuziehen (Rn. 1168, 1170). Renteneinkommen wird durch die Vorlage des Bescheids über die Rente und spätere Erhöhungen nachgewiesen. Maßgeblich ist der Nettobetrag nach Abzug der vom Versicherungsträger einbehaltenen Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung2.
1 BGH v. 11.5.1988 – IVb ZR 42/87, FamRZ 1988, 817 (818); BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (852) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220. 2 Zur wieder aufgelebten Witwen- und Waisenrente vgl. OLG Düsseldorf v. 21.3.1997 – 3 UF 242/96, FamRZ 1998, 743.
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Ehegattenunterhalt
(3) Rentenbezug durch beide Eheleute 1126
Beziehen beide Eheleute bei durchgeführtem Versorgungsausgleich zum Zeitpunkt der Scheidung Rente, ergibt sich kein Unterschied zu dem vor der Scheidung bestehenden Zustand; das Ergebnis ist das Gleiche. Der Versorgungsausgleich führt nicht dazu, dass sich das Versorgungsvermögen erhöht, es wird lediglich anderes verteilt. Für diese Fälle bringt die Surrogatrechtsprechung des BGH nichts Neues und soll es auch nicht. Dieser Fall lag der Entscheidung des BGH v. 31.10.20011 zugrunde. Beispiel: M bezieht vor Versorgungsausgleich eine Rente von 3000 Euro, F eine solche von 500 Euro. Der Betrag, welcher durch den Versorgungsausgleich auf F übertragen wird, soll 1000 Euro betragen. Ohne Versorgungsausgleich beträgt der Unterhaltsanspruch: 3000 Euro – 500 Euro = 2500 Euro : 2 = 1250 Euro. Nach durchgeführtem Versorgungsausgleich: 2000 Euro – (1000 Euro + 500 Euro) = 500 Euro : 2 = 250 Euro. Im ersten Fall hat die Ehefrau den Unterhaltsanspruch iHv. 1250 Euro und ihre eigenen Rente in Höhe 500 Euro, zusammen also 1750 Euro, im zweiten Fall ihre eigene Rente von 500 Euro, die Rente aus dem Versorgungsausgleich iHv. 1000 Euro sowie einen Unterhaltsanspruch von 250 Euro, also ebenfalls 1750 Euro. Der Versorgungsausgleich hat daher am rechnerischen Ergebnis per saldo nichts geändert. Die gleichen Mittel wie vor der Scheidung sind danach nur anders verteilt worden: Nach dem Versorgungsausgleich hat M 1000 Euro weniger, F dagegen mehr, beide haben nach der Scheidung gleich viel. Der Grund: Der Versorgungsausgleich soll nach der Intention des Gesetzgebers eine eigenständige Sicherung im Alter gewährleisten.
(4) Berechtigter bezieht Rente, Verpflichteter Erwerbseinkommen 1127
Bedeutung erlangt die Rechtsprechung des BGH in den Fällen des Versorgungsausgleichs, wenn der Berechtigte bereits Rente aus dem Versorgungsausgleich bezieht, während der Verpflichtete noch Erwerbseinkommen hat. Hier können sich im Vergleich zur früheren Rechtsprechung Änderungen ergeben2. Beispiel: M bezieht ein Erwerbseinkommen iHv. 4000 Euro, F eine Rente von 1500 Euro (eigene Rente 500 Euro und 1000 Euro aus dem Versorgungsausgleich). Der Unterhaltsanspruch von F errechnet sich wie folgt: (4000 × 6/7) + 1500 Euro = 4928 Euro : 2 = 2464 Euro. Davon sind 1500 Euro anrechenbar, so dass sich der Anspruch mit 964 Euro errechnet. Berechnung nach früherer Rechtsprechung: (4000 Euro × 6/7) + 500 Euro = 3928 Euro : 2 = 1964 Euro – 500 Euro eigene Rente und Versorgungsausgleich 1000 Euro ergibt 464 Euro. Nach der Surrogatrechtsprechung steht der Ehefrau also ein höherer Unterhaltsanspruch zu, als wenn die aus dem Versorgungsausgleich stammende Rente (entsprechend der früheren Rechtsprechung) nach der Anrechnungsmethode abgezogen wird. 1 BGH v. 31.10.2001 – XII ZR 292/99, FamRZ 2002, 88 = FamRB 2002, 65, FamRB 2002, 66 und FamRB 2002, 79. 2 KG v. 1.2.2002 – 3 UF 184/01, FamRZ 2002, 460 (462) m. Anm. Müller, FamRZ 2002, 1406; Scholz, FamRZ 2002, 733 (734); Scholz, FamRZ 2003, 265 (269).
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Rn. 1130
Kap. 6 C
Der Trennungsunterhalt fällt höher aus, weil die Ehefrau naturgemäß – im Fall der Trennung – noch keine Rente aus dem Versorgungsausgleich bezieht: Bedarf wie oben 1964 Euro, abzüglich 500 Euro eigene Rente ergibt 1464 Euro. Der nacheheliche Unterhalt ist um 500 Euro höher, weil beiden Ehegatten aus dem Versorgungsausgleich je 500 Euro zustehen.
(5) Neuentstehen eines Unterhaltsanspruchs Der Wechsel von der Anrechnungs- zur Differenzmethode kann zu einem 1128 Unterhaltsanspruch führen, der bisher nicht begründet war (Rn. 1185 ff.). Dem ausgleichspflichtigen Ehegatten konnte die Altersversorgung bis zu dem Zeitpunkt nicht gekürzt werden, in welchem der ausgleichsberechtigte Ehegatte in den Ruhestand tritt1; dieses Rentnerprivileg ist ab 1.9.2009 abgeschafft worden (vgl. Kap. 11, Versorgungsausgleich Rn. 342 ff.). Auf die konkrete Höhe des Unterhaltsanspruchs selbst kommt es nicht an2 – anders als bei der Frage der Unterhaltsverpflichtung eines Beamten bei der Einstufung in den Familienzuschlag nach § 40 Abs. 1 Nr. 3 BBesG; insbesondere muss der Unterhaltsanspruch in seiner Höhe nicht den in Rede stehenden Kürzungsbetrag erreichen. Unerheblich ist auch, ob der Unterhaltsanspruch bereits erfüllt ist, weil die Eheleute aus Anlass der Scheidung eine Vereinbarung über seine Abfindung getroffen haben3. (6) Unfallrente Eine nach Scheidung bezogenen Unfallrente der gesetzlichen Unfallversicherung ist prägendes Einkommen, wenn sie nicht zu einem erhöhten Gesamteinkommen führt, weil noch weiterhin Einkünfte aus Erwerbstätigkeit im bisherigen Umfang erzielt werden4. Ein unfallbedingter Mehrbedarf (Rn. 971–974) ist jedoch zu berücksichtigen.
1129
(7) Änderung eines Unterhaltstitels durch Bezug einer Rente Verändert sich durch den erstmaligen Bezug einer Rente der aufgrund Er- 1130 werbseinkommens berechnete Unterhaltsanspruch, ist der Unterhaltstitel nur mit §§ 238, 239 FamFG (§ 323 ZPO aF) angreifbar, nicht mit der Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO, weil der Bedarf erneut zu berechnen ist und sich damit die wirtschaftlichen Verhältnisse ändern (Änderung der Rechtsprechung)5.
1 2 3 4 5
OVG NW v. 30.8.2001 – 1 A 1727/98, FamRZ 2002, 827 = FamRB 2002, 102. BVerwG v. 10.3.1994 – 2 C 4.98, DÖV 1999, 699. BVerwG v. 22.7.1999 – 2 C 25.98, DÖV 1999, 1050. OLG Koblenz v. 21.10.2002 – 13 UF 130/02, FamRZ 2003, 1106 (1107). BGH v. 8.6.2005 – XII ZR 294/02, FamRZ 2005, 1479 = FamRB 2005, 260.
Schlünder
745
Kap. 6 C Rn. 1131
Ehegattenunterhalt
d) Veränderungen nach der Scheidung, die den Unterhalt nicht beeinflussen aa) Unerwartete, vom Normalverlauf erheblich abweichende Entwicklung („Karrieresprung“) 1131
Ein in normaler Entwicklung angepasstes Einkommen prägt die ehelichen Lebensverhältnisse, es sei denn, es beruht auf einer unerwarteten, vom Normalverlauf erheblich abweichenden, dauerhaften Entwicklung (zB die Fälle des Karrieresprungs); dann prägt es die ehelichen Lebensverhältnisse nicht. Weil es zu eliminieren ist, ist das der Berechnung zugrunde zu legende Einkommen fiktiv zu ermitteln, und zwar nach dem Maßstab, wie es sich bei einer normalen, während des Zusammenlebens der Ehepartner erwarteten Entwicklung gesteigert hätte1. Alternativ kann der Unterhalt während der Trennung berechnet und nach den statistischen Indexwerten an die gegenwärtige Entwicklung angepasst werden2. Beispiel (nach BGH v. 31.3.1982 – IVb ZR 661/80, FamRZ 1982, 576, sog. Pelzhändlerfall): Die seit 1949 verheirateten Eheleute leben seit 1961 voneinander getrennt. Zum Zeitpunkt der Trennung betrieb der Ehemann in gemieteten Ladenräumen unter Mithilfe der Ehefrau einen kleinen Pelzhandel, aus dem er monatliche Nettoeinkünfte von knapp 1000 DM erzielte. Nach der Trennung entwickelte sich dieses Geschäft seit Mitte der siebziger Jahre zu einem lukrativen Unternehmen, aus dem der Ehemann monatlich über 7000 DM netto erzielte. Die Parteien wurden 1979 geschieden. Der BGH hat eine unerwartete, vom Normalverlauf abweichende Entwicklung angenommen und die Berechnung des Oberlandesgerichts anerkannt, das den Unterhalt nicht auf der Grundlage der monatlichen Einkünfte von über 7000 DM errechnete, sondern fiktiv anhand der Jahrbücher des Statistischen Bundesamts und der entsprechenden Indexzahlen und so auf einen Nettobetrag von 3430 DM gelangte.
1132
Die innere Rechtfertigung ergibt sich aus dem fehlenden Bezug zur Entwicklung des Einkommens, wie es die Ehegatten während intakter Ehe erzielt haben: Eine erheblich vom Normalverlauf abweichende Entwicklung nach Trennung oder Scheidung ist nicht mehr als das Ergebnis einer gemeinsamen Lebensleistung und damit als ein gemeinsam erreichter Standard im Sinne der individuellen ehelichen Lebensverhältnisse anzusehen. Auch wenn ein Karrieresprung während der Trennung oder nach der Scheidung die ehelichen Lebensverhältnisse nicht beeinflussen kann, können Einkünfte hieraus durchaus im Rahmen der nach § 1581 BGB anzustellenden Billigkeitsabwägung herangezogen werden in dem Fall, dass der Unterhaltspflichtige nach der Ehescheidung erneut geheiratet hat, ein Gleichrang zwischen dem geschiedenen und den neuen Ehegatten besteht und eine Dreiteilung des vorhandenen Einkommens erfolgt. Bei der Billigkeitsabwägung ist das gesamte unterhaltsrelevante Einkommen der Beteiligten mit zu berücksichtigen einschliesslich der Einkünfte aus 1 OLG Frankfurt v. 8.7.1999 – 1 UF 269/07, NJW-RR 2000, 369. 2 BGH v. 31.3.1982 – IVb ZR 661/80, FamRZ 1982, 576; BGH v. 11.2.1987 – IVb ZR 20/86, FamRZ 1987, 459 m. Anm. Luthin, S. 462.
746
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1134
Kap. 6 C
einem nachehelichen Karrieresprung, die lediglich die nachehelich hinzutretende Unterhaltspflicht auffangen1. Umgekehrt: Hat der Pflichtige den Berechtigten an dem höheren Einkommen beteiligt, indem er ihm laufende Zahlungen daraus erbracht und damit seinen Lebensstandard erhöht hat, sind solche Zahlungen prägend2. Der Pflichtige ist für eine von ihm behauptete unerwartete, nichtprägen- 1133 de Entwicklung des Einkommens darlegungs- und beweispflichtig3. Es genügt nicht, dass sich der Ehegatte allein darauf beruft, die Eheleute hätten sich im konkreten Lebenszuschnitt nicht auf das später erzielte Einkommen eingestellt. Darzulegen sind zunächst das in normaler Entwicklung fortgeschriebene Einkommen entsprechend den ehelichen Lebensverhältnissen (vgl. Rn. 1059) sowie die Umstände, welche zu einem Karrieresprung geführt haben und das daraus erzielte Einkommen. Aus dem Vergleich der fiktiven und realen Entwicklung ergibt sich die Einkommensdifferenz, welche nicht in die Bedarfsbemessung nach den ehelichen Lebensverhältnissen einfließt (vgl. Praxistipp Rn. 1134). Mit den unpräzisen, allerdings auch nicht schärfer fassbaren Kriterien für eine anormale Entwicklung konnte es der Rechtsprechung nicht gelingen, Elemente eines Begriffs der untypischen Veränderung des Einkommens zu entwickeln, die es erlaubt hätten, subsumtionsfähige Kriterien für eine den Einzelfall transzendierende Sicht auszubilden. Die Rechtsprechung bietet das Spektrum einer schwer zu überschauenden, induktiven Kasuistik, die sich – zwangläufig – an den Anforderungen einer Einzelfallgerechtigkeit ausrichtet.
Û
Praxistipp: Ob eine Veränderung des Einkommens nach Scheidung als nichtprägend anerkannt wird, ist für den Anwalt schwer vorauszusagen. Sind Anhaltspunkte für eine anormale Entwicklung vorhanden, kann nur geraten werden, sie im Einzelnen darzulegen: Welcher beruflichen Tätigkeit ging der Pflichtige während der Trennung oder nach der Scheidung nach, welcher heute, wie lässt sich darlegen, dass eine ganz andere Tätigkeit ausgeübt wird als diejenige während der Ehe. Anhaltspunkte sind: eine ganz andere Tätigkeit des Pflichtigen, ein anderer Arbeitgeber, eine Versetzung, auch die nacheheliche Fort- und Weiterbildung, eine Beförderung. Ein zweiter Anhaltspunkt ist das Gehalt: Nach OLG Köln4 liegt die Grenze bei 20 %, dagegen hat das OLG Celle5 die mehr als zweifache Steigerung nicht genügen lassen, um eine
1 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 47; BGH v. 17.12.2008 – XII ZR 9/07, FamRZ 2009, 411 Tz. 32 ff. m. Anm. Borth = FamRB 2009, 101. 2 BGH v. 8.2.1984 – IVb ZR 54/82, FamRZ 1984, 561 (562). 3 BGH v. 26.1.1983 – IVb ZR 351/81, FamRZ 1983, 352; BGH v. 27.11.1985 – IVb ZR 79/84, FamRZ 1986, 244. 4 OLG Köln v. 29.12.2003 – 14 WF 180/03, FamRZ 2004, 1114 = FamRB 2004, 247 und FamRB 2004, 257. 5 OLG Celle v. 7.11.2007 – 15 UF 56/07, FamRZ 2008, 1853.
Schlünder
747
1134
Kap. 6 C Rn. 1135
Ehegattenunterhalt
anormale Entwicklung anzunehmen. Der Anwalt sollte auch nicht versäumen, das fiktive Einkommen (ohne das in anormaler Entwicklung erzielte Einkommen) vorzutragen und daran die Berechnung des Unterhalts anzuknüpfen: Das Einkommen, welches während der Trennung verdient wurde, kann entsprechend den Werten des Verbraucherindexes fortgeschrieben werden. 1135
Einzelfälle, in denen ein Karrieresprung bejaht wurde: – von einem kleinen Pelzhandel zu einem gewinnbringenden Unternehmen1 – vom Gebietsverkaufsleiter zum Länderrepräsentanten2 – vom Fagottisten zum über die nationalen Grenzen anerkannten Opernsänger3 – vom Handelsvertreter nach Arbeitslosigkeit zu nachhaltigen Verbesserung des Einkommens nach drei Jahren4 – vom kaufmännischen Sachbearbeiter im Innendienst zum Abteilungsbereichsleiter im Verkaufsbüro5 – vom Angestellten in gehobener Position zur Geschäftsleitung mit quasiunternehmerischen Aufgaben6 – vom Verkaufsleiter zum Geschäftsführer mit einem um DM 4000 monatlich gestiegenen Bruttoeinkommen7 – Leiter einer Lokalsportredaktion übernimmt eine übergeordnete Schwerpunktredaktion8 – Beförderung vom Sonderschullehrer (A 13) zum Konrektor (A 14 L)9 – Zeitsoldat, der sich während der Zeit der Trennung zum Mitarbeiter einer internationalen Organisation fortgebildet hatte10 – Bankangestellter, der vier Jahre nach der Scheidung zum Abteilungsdirektor mit Prokura befördert wurde11 – vom angestellten Vertriebsingenieur zum Geschäftsführer einer GmbH12
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
BGH v. 31.3.1982 – IVb ZR 661/80, FamRZ 1982, 576 (577). BGH v. 26.1.1983 – IVb ZR 351/81, FamRZ 1983, 352. BGH v. 8.2.1984 – IVb ZR 54/82, FamRZ 1984, 561. OLG Stuttgart v. 19.11.1990 – 11 UF 119/90, FamRZ 1991, 952. OLG Hamm v. 16.9.1989 – 5 UF 501/88, FamRZ 1990, 65. OLG Düsseldorf v. 29.4.1992 – 4 UF 3/92, FamRZ 1992, 1439. OLG München v. 10.1.1997 – 12 WF 1262/96, FamRZ 1997, 613. OLG Koblenz v. 25.11.1996 – 13 UF 568/96, FamRZ 1997, 1402 (L). OLG Nürnberg v. 1.12.2003 – 7 WF 3447/03, FamRZ 2004, 1212. OLG Koblenz v. 17.3.2003 – 13 UF 63/03, FamRZ 2003, 1109 (1110). OLG Köln v. 29.12.2003 – 14 WF 180/03, FamRZ 2004, 1114 (1115) = FamRB 2004, 247 und FamRB 2004, 257. 12 BGH v. 20.7.1990 – XII ZR 73/89, FamRZ 1990, 1085.
748
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1136
Kap. 6 C
– Beförderung eines Richters von einer R 2- auf eine R 3-Stelle1 – vom Bankangestellten zum Abteilungsdirektor mit Zeichnungsberechtigung2 – vom Banksachbearbeiter zum Abteilungsleiter mit einem um 1/3 erhöhten Einkommen3 – vom Beigeordneten zum Kreisdirektor4 – Aufrücken eines promovierten Chemikers aus der Position Gruppenleiter Forschung in die obere Führungsebene eines Chemieunternehmens, 21 Jahre nach der Scheidung5 – vom Beamten des gehobenen Dienstes (Besoldungsstufe A 11) zum Oberverwaltungsrat (Besoldungsstufe A 14)6 – vom Oberarzt zum Chefarzt eines Krankenhauses7 Einzelfälle, in denen ein Karrieresprung verneint wurde:
1136
– Kraftfahrzeugmeister, wenn der Verpflichtete die Meisterprüfung schon während der Ehe abgelegt hatte, seine Mitprüflinge auch bereits eine Meisterstelle erreicht hatten und sich dies bei ihm nur deshalb verzögert hatte, weil bei seinem Arbeitgeber eine entsprechende Stelle erst frei werden musste8 – Laufbahnerwartung eines kriegsgedienten Offiziers der Bundeswehr (allgemein zur Beförderung im öffentlichen Dienst)9 – Einkommenssteigerungen aus einer 1946 eröffneten Arztpraxis bis 197910 – Fachhochschulstudium Software-Engineering mit Schwerpunkt Telematik während der Ehe mit einem um etwa 3000 Euro gesteigerten Gehalt11 – Aufnahme einer Auslandstätigkeit wenige Stunden nach der Trennung nach vorausgegangener Bewerbung während der Ehe12
1 OLG Celle v. 4.11.1998 – 21 UF 146/98, FamRZ 1999, 858. 2 OLG Köln v. 29.12.2003 – 14 WF 180/03, FamRZ 2004, 1114 = FamRB 2004, 247 und FamRB 2004, 257. 3 OLG Schleswig v. 24.1.2003 – 10 UF 209/01, NJW-RR 2004, 147. 4 OLG Düsseldorf v. 18.12.2006 – II-7 UF 154/06, FamRZ 2007, 1815 = FamRB 2007, 199. 5 OLG Zweibrücken v. 28.7.2006 – 2 UF 249/05, FamRZ 2007, 473. 6 OLG Hamm v. 12.3.2008 – 8 UF 148/07, FamRZ 2008, 1446 (1447). 7 OLG Celle v. 7.11.2007 – 15 UF 56/07, FamRZ 2008, 1853. 8 BGH v. 27.6.1984 – IVb ZR 23/83, n.v., zitiert in BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 15/84, FamRZ 1985, 791. 9 BGH v. 21.4.1982 – IVb ZR 741/80, FamRZ 1982, 684 (686). 10 BGH v. 16.6.1982 – IVb ZR 724/80, FamRZ 1982, 895 = 1982, 895 (896). 11 OLG Celle v. 12.10.2005 – 15 UF 222/04, FamRZ 2006, 704. 12 OLG Karlsruhe v. 12.12.1996 – 2 UF 35/95, FamRZ 1997, 1279 (1280).
Schlünder
749
Kap. 6 C Rn. 1137
Ehegattenunterhalt
– vom Assistenz- zum Oberarzt1 – Beförderung eines Polizeibeamten von der Gehaltsstufe A 9 auf die Gehaltsstufe A 102. bb) Vermögenseinkünfte nach der Trennung oder Scheidung 1137
Vermögenseinkünfte, die nach der Trennung oder Scheidung erzielt werden, zB aus einer Erbschaft3 oder aus einem Lottogewinn4, bestimmen den Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen nicht. Einkünfte hieraus können aber durchaus im Rahmen der nach § 1581 BGB anzustellenden Billigkeitsabwägung herangezogen werden in dem Fall, dass der Unterhaltspflichtige nach der Ehescheidung erneut geheiratet hat, ein Gleichrang zwischen dem geschiedenen und den neuen Ehegatten besteht und eine Dreiteilung des vorhandenen Einkommens erfolgt. Denn in einem solchen Fall ist das gesamte Einkommen der Beteiligten zu berücksichtigen5. Haben Ehegatten bereits während intakter Ehe Vermögenseinkünfte dieser Art gehabt, sind die ehelichen Lebensverhältnisse von diesen Einkünften geprägt worden.
1138
Unterhalt dient ausschließlich dazu, den Lebensbedarf des Berechtigten zu decken. Eine Teilhabe am Vermögen des Verpflichteten wird nicht geschuldet. Demgemäß muss der verpflichtete Ehegatte über den nachehelichen Unterhalt keine Beiträge leisten, die das Vermögen des Berechtigten mehren oder ein solches begründen. Sind während der Ehe – wie meist nur bei überdurchschnittlichen Einkünften – Teile des Einkommens in das Vermögen geflossen, so haben diese Beiträge die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt (vgl. Rn. 1013 ff.). Der nacheheliche Unterhalt begründet keinen Anspruch auf Partizipation am künftigen, nicht mehr in der Ehe angelegten Vermögenserwerb des anderen Ehegatten oder den daraus gezogenen Nutzungen6.
1 OLG Celle v. 18.7.2007 – 15 UF 236/06, FamRZ 2007, 1821 = FamRB 2008, 34. 2 BGH v. 14.4.2010 – XII ZR 89/08, FamRZ 2010, 869, Tz. 22–24. 3 BGH v. 8.6.1988 – IVb ZR 68/87, FamRZ 1988, 1145; OLG Hamm v. 20.2.1992 – 1 UF 528/90, FamRZ 1992, 1184; Gerhardt, FuR 2006, 433 (438); OLG Frankfurt v. 16.9.1985 – 5 UF 268/84, FamRZ 1986, 165 zur Erbschaft drei Tage nach der Trennung der Eheleute: Einkünfte aus der Erbschaft sind nicht prägende Einkünfte. 4 Schwab/Borth, IV Rn. 938; Gerhardt, FuR 2006, 433 (438). 5 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 44, 47; BGH v. 17.12.2008 – XII ZR 9/07, FamRZ 2009, 411 Tz. 39 f. m. Anm. Borth = FamRB 2009, 101. 6 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (851) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220.
750
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1141
Kap. 6 C
cc) Splittingvorteil des wiederverheirateten Pflichtigen und andere Vorteile aus der neuen Ehe (1) Splitting- und (begrenzter) Realsplittingvorteil Geht der Unterhaltspflichtige nach der Scheidung eine neue Ehe ein und 1139 nimmt er in der neuen Ehe den (wiedererlangten) Splittingvorteil in Anspruch, stellt sich die Frage, ob dieser Vorteil ausschließlich dem Pflichtigen und seiner neuen Familie zusteht oder ob auch der geschiedene Ehepartner hieran teilhat. Die langjährige Rechtsprechung des BGH1, den geschiedenen Ehegatten an den steuerlichen Vergünstigungen der neuen Ehe teilhaben zu lassen, hat das BVerfG2 nicht gebilligt: Der einkommensteuerliche Splittingvorteil, den der wiederverheiratete Pflichtige in Anspruch nehmen kann, ist nach Art. 6 Abs. 1 GG nicht in der früheren Ehe angelegt und kann daher die Lebensverhältnisse dieser Ehe auch nicht bestimmt haben. Dem hat sich der BGH angeschlossen3. Danach war bei der Bemessung des Unterhaltsanspruchs eines früheren Ehegatten der Splittingvorteil eines wiederverheirateten Unterhaltspflichtigen außer Betracht zu lassen und sein unterhaltsrelevantes Einkommen anhand einer fiktiven Steuerberechnung nach der Grundtabelle zu ermitteln. An dieser Rechtsprechung hatte der BGH zunächst nicht mehr festgehalten4: Die Wandelbarkeit der ehelichen Lebensverhältnisse habe zur Folge, dass sich das Hinzutreten eines weiteren Unterhaltsberechtigten (unabhängig von dessen Rangstelle) auf den Unterhaltsbedarf des geschiedenen Ehegatten auswirke. Nachdem das BVerfG diese Rechtsprechung als mit dem Gesetz für unvereinbar erklärt hatte, kehrte der BGH zu der ursprünglichen Rechtsprechung zurück, wonach der einkommensteuerliche Splittingvorteil der neuen Ehe des Unterhaltsverpflichteten vorbehalten bleibt. Es handelt sich dabei um eine Entwicklung, welche keinen Anknüpfungspunkt in den ehelichen Lebnsverhältnissen findet5.
1140
Ist der Unterhaltspflichtige daher sowohl dem geschiedenen als auch dem neuen Ehegatten gegenüber unterhaltspflichtig, ist für die Bemes-
1141
1 BGH v. 14.2.1990 – XII ZR 51/89, FamRZ 1990, 982. 2 BVerfG v. 7.10.2003 – 1 BvR 246/93 u. 2298/94, FamRZ 2003, 1821 m. Anm. Schürmann, S. 1825, Ewers, S. 1913 und Weychardt, FamRZ 2004, 252. 3 BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 m. Anm. Büttner, FamRZ 2005, 1899 = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354; BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 (796) = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197; BGH v. 23.5.2007 – XII ZR 245/04, FamRZ 2007, 1232 (1233) = FamRB 2007, 261; BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 (970) = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173; aA OLG Oldenburg v. 7.3.2006 – 12 UF 154/05, FamRZ 2006, 1223 (1224). 4 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 (1916) m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327; BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 62/07, FamRZ 2009, 23 (25) m. Anm. Norpoth und Maurer S. 204 = FamRB 2009, 34 und FamRB 2009, 35. Vorinstanz OLG Celle v. 11.4.2007 – 15 UF 221/06, FamRZ 2007, 1818. 5 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 26.
Schlünder
751
Kap. 6 C Rn. 1142
Ehegattenunterhalt
sung des Unterhaltsanspruchs der geschiedenen Ehefrau von dem Einkommen des Unterhaltspflichtigen nach der Grundtabelle auszugehen1. Allerdings wird der Splittingvorteil aus der neuen Ehe nicht eliminiert, wenn im Rahmen der Leistungsfähigkeit nach § 1581 BGB eine Billigkeitsabwägung vorzunehmen ist und bei Gleichrangigkeit der beiden Ehegatten eine Dreiteilung stattfindet; denn eine gleichrangige Unterhaltspflicht aus einer neuen Ehe führt regelmäßig dazu, dass der Unterhaltsanspruch der geschiedenen Ehefrau gekürzt werden muss2. 1142
Neben dem Splittingvorteil aus der neuen Ehe steht dem Unterhaltspflichtigen der steuerliche Vorteil des begrenzten Realsplittings aus den Unterhaltszahlungen an den früheren Ehegatten nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu3. Lebt der Unterhaltspflichtige Ehegatte von seinem zweiten Ehepartner getrennt, wird für die Bedarfsermittlung bei der geschiedenen Ehefrau nur derjenige Realsplittingvorteil (abzüglich Nachteilsausgleich) auf Seiten des Pflichtigen angesetzt, der aus einer tatsächlichen Unterhaltsleistung an sie resultiert, nicht jedoch der entsprechende Vorteil aus der gleichzeitig erfolgten tatsächlichen Unterhaltsleistung an die getrenntlebende neue Ehefrau4.
1143
Ist im Ausgangsverfahren der nacheheliche Unterhalt auf der Grundlage des Splittingvorteils berechnet worden, ist in Verfahren nach §§ 238, 239 FamFG die Abänderung im Hinblick auf den Beschluss des BVerfG v. 7.10.20035 erst ab Oktober 2003 möglich6. (2) Synergieeffekte durch Zusammenleben
1144
Synergieeffekte, welche durch das Zusammenleben des Unterhaltspflichtigen in einer neuen Ehe entstehen können, beeinflussen den Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen nicht, weil ihnen der Bezug zu der Ehe mit dem unterhaltsberechtigten Ehegatten fehlt7. Denn Voraussetzung für solche Effekte ist die Scheidung der Ehe mit dem unterhaltsverpflichteten Ehegatten8. Der Vorteil des Zusammenlebens kann aber auf der Ebene der Leistungsfähigkeit bei der Billigkeitsentscheidung nach § 1581 BGB angesetzt werden und ist für jeden Ehegatten der neuen Ehe 1 BGH v. 7.12.2011 – XI ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 26. 2 BGH v. 7.12.2011 – XI ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 47. 3 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 (1916) m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 326 = FamRB 2008, 327. 4 OLG Düsseldorf v. 26.5.2011 – 7 UF 1/11, NJW 2011, 3457; Pauling, NJW 2012, 194. 5 BVerfG v. 7.10.2003 – 1 BvR 246/93 u. 2298/94, FamRZ 2003, 1821 m. Anm. Schürmann, S. 1825. 6 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 (796) m. Anm. Büttner = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197; BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 892 (884, 885) m. Anm. Büttner, S. 888 = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231. 7 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 = FamRB 2011, 66. 8 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281.
752
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1147
Kap. 6 C
mit 10 % zu berücksichtigen1. Er wird in der Weise berücksichtigt, dass die den zusammenlebenden Ehegatten zur Verfügung stehenden Mittel entsprechend gekürzt werden und der Unterhalt des geschiedenen Ehegatten entsprechend erhöht wird2. (3) Sonstige Vorteile aus der Wiederverheiratung des Unterhaltspflichtigen Einen Familienzuschlag der Stufe 1 nach § 40 Abs. 1 BBesG erhalten Be- 1145 amte, Richter oder Soldaten ua., wenn sie verheiratet oder wenn sie geschieden und aus der geschiedenen Ehe mindestens in Höhe des Familienzuschlags zum Unterhalt verpflichtet sind. Deswegen ist der Familienzuschlag nicht stets der neuen Ehe vorbehalten und soll auch nicht nur deren Belastung mildern. Nach § 40 Abs. 1 Nr. 3 BBesG wird er auch bewilligt, um die Unterhaltslasten einer geschiedenen Ehe abzumildern. Die neue Ehe löst den Familienzuschlag nicht aus, weil er schon zuvor wegen der fortdauernden Unterhaltspflicht aus erster Ehe gewährt wurde. Die zwischenzeitlich vom BVerfG missbilligte Rechtsprechung des BGH zur Drittelmethode genügte diesen Zwecken des Familienzuschlags, weil sie gewährleistete, dass der Einkommensvorteil beiden Ehegatten im gleichen Umfang zugutekam3. An der entgegenstehenden Rechtsprechung4 hielt der BGH nicht fest. Nachdem der BGH zum Stichtagsprinzip zurückgekehrt ist, beeinflussen Einkommenszuschläge, die von der neuen Ehe abhängen, den Bedarf nicht5. Erhält der arbeitslose Unterhaltspflichtige nach der Wiederheirat ein höheres Arbeitslosengeld, kommt dieser Vorteil nicht der früheren Ehefrau zugute. Dem Bedarf ist dasjenige Arbeitslosengeld zugrunde zu legen, welches sich ergibt, wenn der Pflichtige nicht verheiratet wäre6.
1146
Beim einkommensteuerlichen Freibetrag ist zu unterscheiden: Freibeträ- 1147 ge nach § 32 Abs. 6 S. 1 EStG, die dem Steuerpflichtigen für jedes zu berücksichtigende Kind gewährt werden, unabhängig von der Ehe der Eltern und unabhängig von deren Zusammenleben, werden beim Einkommen
1 BGH v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, FamRZ 2010, 1535 Tz. 26, 45 = FamRB 2010, 295. 2 Vgl. BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 46; Graba, FF 2011, 102 (104); Gerhardt/Gutdeutsch, FamRZ 2011, 597 (599). 3 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 (1917) m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327. 4 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ, 2007, 793 m. Anm. Büttner, S. 800 = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197; BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 892 (885) m. Anm. Büttner, S. 888 = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231; vgl. auch OLG Hamm v. 15.10.2004 – 11 UF 22/04, FamRZ 2005, 1177. 5 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 26. 6 OLG Koblenz v. 3.8.2004 – 11 UF 809/03, FamRZ 2005, 720; OLG Frankfurt v. 6.10.2005 – 5 WF 146/05, FamRZ 2006, 792.
Schlünder
753
Kap. 6 C Rn. 1148
Ehegattenunterhalt
des Pflichtigen in voller Höhe berücksichtigt, sind also nicht der neuen Ehe vorbehalten. Die (verdoppelten) Freibeträge nach § 32 Abs. 6 S. 2 EStG werden dagegen gewährt, wenn die Ehegatten nach den §§ 26, 26b EStG zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden und das Kind zu beiden Ehegatten in einem Kindschaftsverhältnis steht. Die Verdoppelung setzt daher das Bestehen einer Ehe voraus, so dass diese Freibeträge allein der neuen Ehe zugutekommen müssen1. 1148
Einkommen, welches aus einem Steuerfreibetrag resultiert, den der Pflichtige für ein gemeinsames, minderjähriges behindertes Kind in Anspruch nimmt (sog. Behindertenpauschbetrag nach § 33b EStG), ist beim Unterhalt der geschiedenen Ehefrau jedenfalls dann nicht zu berücksichtigen, wenn sich der Berechtigte nicht bereiterklärt, den auf ihn entfallenden hälftigen Freibetrag gem. § 33b Abs. 5 S. 2 EStG auf den Pflichtigen zu übertragen2. dd) Kindergeld
1149
Kindergeld ist kein die ehelichen Lebensverhältnisse prägendes Einkommen3 (vgl. Rn. 1091 ff.). Es ist Einkommen des Kindes. Das stimmt mit den sozialhilferechtlichen Vorschriften überein, in denen das Kindergeld als Einkommen des Kindes angesehen wird4. ee) Nach Trennung oder Scheidung entstehende Verbindlichkeiten
1150
Verbindlichkeiten, die nach der Trennung entstanden sind, prägen die ehelichen Lebensverhältnisse nicht5. Verbindlichkeiten, die nach der Scheidung entstehen und keinen Bezug zum Unterhaltsberechtigten haben, prägen die ehelichen Lebensverhältnisse ebenfalls nicht. Das gilt unabhängig davon, ob sie absehbar waren oder nicht, wie zB die spätere Pflegebedürftigkeit der Eltern des Unterhaltspflichtigen6. Zum Hinzutreten weiterer Unterhaltspflichtiger nach der Scheidung (Rn. 1091 ff.). Zur Unterhaltspflicht des wiederverheirateten Unterhaltspflichtigen gegenüber seinem neuen Ehepartner Rn. 1177 ff.
1 BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 892 (885, 886) m. Anm. Büttner, S. 888 = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231. 2 OLG Hamm v. 22.5.2007 – 3 UF 338/06 FamRZ 2008, 66; zweifelnd Götsche, FamRB 2008, 5. 3 BGH v. 16.4.1997 – XII ZR 233/95, FamRZ 1997, 806 m. Anm. Spangenberg, FamRZ 1997, 1272; BGH v. 19.7.2000 – XII ZR 161/98, FamRZ 2000, 1492 m. Anm. Scholz, und Weychardt, FamRZ 2001, 414. 4 So schon grundlegend BGH v. 26.10.2005 – XII ZR 34/03, FamRZ 2006, 99 (101) = FamRB 2006, 3; Dose, FamRZ 2007, 1289 ff. zur Entwicklung der Rspr. 5 FA-FamR/Maier Kap. 6 Rn. 595. 6 Hoppenz/Hülsmann, A I § 1578 BGB Rn. 34 aE.
754
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1153
Kap. 6 C
ff) Erwerbseinkünfte nach Erreichen der Regelaltersgrenze Eine Erwerbstätigkeit, welche der Unterhaltspflichtige nach Erreichen 1151 der Regelaltersgrenze für die gesetzliche Rente oder Pension ausübt oder fortsetzt, ist überobligatorisch. Dies bedeutet jedoch lediglich, dass die Tätigkeit jederzeit wieder aufgegeben werden kann, nicht dagegen, dass ein daraus erzieltes Einkommen für den Unterhaltsbedarf in jedem Fall außer Betracht zu lassen ist. Die Bestimmungen zur Regelaltersgrenze nach §§ 35 StGB VI, 51 BBG (§ 41 Abs. 1 aF BBG) legen den Rahmen für die Erwerbsbiografie des Einzelnen fest und können daher auch als Maßstab für das Unterhaltsrecht herangezogen werden1, es sei denn, die gesetzlichen Regelungen beruhen auf berufsbezogenen Besonderheiten2 oder weichen ansonsten von der wirklichen Erwerbsfähigkeit des Einzelnen ab3. Diese Grundsätze gelten sowohl auf Seiten des Unterhaltsberechtigten als auch auf Seiten des Pflichtigen und gleichermaßen beim Ehegatten – als auch beim Kindesunterhalt. Es ist auch unerheblich, ob der Unterhaltpflichtige in abhängiger Tätigkeit arbeitet oder selbständig ist. Denn das Ausmaß der unterhaltsrechtlichen Obliegenheit hängt nicht davon ab, in welcher konkreten Form die Berufstätigkeit im Einzelfall ausgeübt wird. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Erwerbstätigkeit im Rentenalter – wie oft bei Selbständigen – berufstypisch ist oder gar von den Ehegatten während des Zusammenlebens geplant war. Schließlich ist es auch unerheblich, ob es in bestimmten Berufszweigen üblich ist, die Erwerbstätigkeit über die Regelaltersgrenze hinaus fortzusetzen4.
1152
In welchem Umfang ein Einkommen aus überobligatorischer Tätigkeit 1153 den Unterhaltsbedarf beeinflusst, ist nach den Grundsätzen von Treu und Glauben aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls nach Billigkeitskriterien zu beurteilen. Solche Umstände sind vor allem das Alter und die mit der fortgesetzten Erwerbstätigkeit zunehmende körperliche und geistige Belastung; maßgeblich sind auch die ursprüngliche Planung der Eheleute und die beiderseitigen wirtschaftlichen Verhältnisse5. Würde beispielsweise der Unterhalt durch eine unzureichende Altersvorsorge des Unterhaltspflichtigen deutlich mehr geschmälert, als es bei dessen Eintritt in den Ruhestand üblicherweise der Fall wäre, kann dieser Umstand dazu führen, dass das Erwerbseinkommen zusätzlich herangezogen wird6. Für eine eingeschränkte Anrechnung kann dagegen ein für den Un1 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 Tz. 20. 2 Etwa für Strahlflugzeugführer: BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 65/01, FamRZ 2004, 254. 3 Vorgezogene Altersrente für Frauen: BGH v. 3.2.1999 – XII ZR 146/97, FamRZ 1999, 708 (710). 4 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 Tz. 24; aA OLG Hamburg v. 30.10.1984 – 12 UF 109/84, FamRZ 85, 394 (396). 5 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 Tz. 23. 6 BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 51/03, FamRZ 2006, 387.
Schlünder
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Kap. 6 C Rn. 1154
Ehegattenunterhalt
terhaltsberechtigten günstig ausgefallener Versorgungs- oder Zugewinnausgleich sprechen, etwa dann, wenn die Erwerbstätigkeit fortgesetzt wird, um eine beim Unterhaltspflichtigen entstandene Versorgungslücke durch besondere Erwerbsanstrengungen zu kompensieren. Im Einzelfall kann eine Anrechnung auch ganz ausscheiden1. 1154
Änderungen des Einkommens nach Erreichen der Regelaltersgrenze sind auf der Bedarfsebene zu berücksichtigen, nicht bei der Leistungsfähigkeit im Rahmen von § 1581 BGB, wenn der Unterhalt als Quote aufgrund beiderseitigen Einkommens der Ehegatten ermittelt wird. Dies gilt sowohl auf Seiten des Unterhaltsberechtigten als auch des -pflichtigen2. Zwar handelt es sich beim Eintritt in den Ruhestand um einen Umstand, der nach Rechtskraft der Scheidung eingetreten ist und nach dem vom BGH vertretenen Stichtagsprinzip grundsätzlich nicht bei der Bedarfsbemessung berücksichtigt wird; allerdings liegt ein Bezug zu dem ehelichen Lebensverhältnissen vor, weil sich die Ehegatten auch bei intakter Ehe auf den Ruhestand hätten einstellen müssen3. gg) Freiwillige Leistungen Dritter
1155
Nicht prägend sind freiwillige Leistungen dritter Personen, es sei denn, sie sollen nach dem Willen des Dritten nicht allein dem Unterhaltsverpflichteten (oder Unterhaltsberechtigten), sondern auch dem Unterhaltsberechtigten (oder Unterhaltspflichtigen) zugutekommen. Meistens wird der Wille des Dritten dahin gehen, weder den Unterhaltsverpflichteten zu entlasten noch dem Berechtigten zu einem höheren Unterhaltsanspruch zu verhelfen. Ein nicht ausdrücklich erklärter Wille des Zuwendenden lässt sich idR aus den persönlichen Beziehungen der Beteiligten zueinander entnehmen. Es spricht eine Vermutung dafür, dass ein naher Angehöriger nur den Empfänger und nicht dessen früheren Ehegatten begünstigen wollte4.
1156
Stellen Eltern ihrem Kind während der Ehe oder nach Trennung oder Scheidung Wohnraum kostenlos zur Verfügung, handelt es sich um eine solche freiwillige Leistung, die nicht als Einkommen anzusehen ist. Stellt der Lebensgefährte dem Berechtigten Wohnraum zur Verfügung, liegt keine freiwillige Leistung vor; auf den Willen des Lebensgefährten, den Berechtigten zu entlasten kommt es nicht an. Ist das Zusammenleben unstreitig, ist der Berechtigte für seine Bedürftigkeit darlegungs- und beweispflichtig. Er muss nachweisen, dass er keine Mietaufwendungen spart5. Zu dem von der neuen Ehefrau gewährten Wohnvorteil des wiederverheirateten Unterhaltsschuldners Rn. 1166. 1 2 3 4
BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (851). BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 Tz. 17. BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 24. BGH v. 22.2.1995 – XII ZR 80/94, FamRZ 1995, 537 (539); BGH v. 19.5.1999 – XII ZR 210/97, FamRZ 2000, 153. 5 BGH v. 11.1.1995 – XII ZR 236/93, FamRZ 1995, 343.
756
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1158
Kap. 6 C
hh) Verbraucherinsolvenz und Restschuldbefreiung Nachdem der Gesetzgeber mit den §§ 304 ff., 286 ff. InsO die Möglichkeit einer Verbraucherinsolvenz mit Restschuldbefreiung geschaffen hat, könnte der Verpflichtete den laufenden Unterhalt zahlen, ohne dass bei der Unterhaltsberechnung Schulden Dritter vom Einkommen abgezogen werden. Nach Ablauf von sechs Jahren seit Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann der Verpflichtete dann die Befreiung von seinen Schulden erreichen (§§ 286 ff. InsO). Aus den Vorschriften über die Insolvenzmasse (§§ 35 ff., 40 InsO) und den Vollstreckungsverboten der §§ 89 Abs. 1 und 2, 294 Abs. 1 InsO folgt nämlich, dass dem Schuldner während der Dauer des Insolvenzverfahrens und der Laufzeit der Wohlverhaltensperiode (§§ 287 Abs. 2, 295 InsO) der nach § 850c ZPO pfändungsfreie Teil seines Einkommens „schuldenfrei“ verbleibt1.
1157
Beispiel (nach BGH v. 12.12.2007 – XII ZR 23/06, FamRZ 2008, 497 = FamRB 2008, 68): Der unterhaltsverpflichtete M bezieht eine monatliche Rente von 1350 Euro. Davon zahlt er auf einen während der Ehezeit aufgenommenen Kredit monatlich 400 Euro. Werden diese Verbindlichkeiten zum Zweck der Berechnung des nachehelichen Unterhalts von seinem Renteneinkommen abgezogen, ergibt sich bei einem Selbstbehalt für nicht Erwerbstätige von 1000 Euro (Düsseldorfer Tabelle, Stand 1.1.2009) kein Unterhaltsanspruch der bedürftigen Ehefrau. Wenn M die Verbraucherinsolvenz beantragt, werden die monatlichen Schulden von 400 Euro nicht berücksichtigt. Der Ehegattenunterhalt berechnet sich mit 1350 Euro – 1000 Euro = 350 Euro. Die Verbraucherinsolvenz mit der Möglichkeit der Restschuldbefreiung führt stets zu einem Vorrang der laufenden Unterhaltsansprüche gegenüber den Insolvenzforderungen, einschließlich des rückständigen Unterhalts; denn nach § 36 Abs. 1 InsO gehören Einkünfte nicht zur Insolvenzmasse, soweit sie nicht der Zwangsvollstreckung unterliegen. Das gilt nach den §§ 850m Abs. 2, 850c ZPO auch für pfändungsfreies laufendes Einkommen, soweit es für den eigenen Unterhalt oder zur Erfüllung gesetzlicher Unterhaltsansprüche privilegiert ist2.
Den Unterhaltspflichtigen trifft nach Auffassung des BGH jedoch keine 1158 Obliegenheit, ein Verfahren der Verbraucherinsolvenz einzuleiten. Das gilt sowohl für den Trennungs- als auch den nachehelichen Unterhalt. Verbraucherinsolvenz und Restschuldbefreiung prägen die ehelichen Lebensverhältnisse als nach der Scheidung eintretende Veränderungen nicht, denn die Kreditraten haben regelmäßig die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt, und auch der Berechtigte hatte seine Lebensverhältnisse auf diese Ausgaben eingestellt. Die Möglichkeit, nach der Scheidung ein Verfahren der Verbraucherinsolvenz einzuleiten, wirkt sich damit nicht bedarfserhöhend zugunsten des Berechtigten aus, auch dann, wenn die Eheleute möglicherweise während der Ehe ein solches Verfahren eingeleitet hätten. Die Rechtsprechung zu den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen wirkt sich hier nicht zugunsten des Berechtigten aus. 1 BGH v. 23.2.2005 – XII ZR 114/03, FamRZ 2005, 608 (609) = FamRB 2005, 127. 2 Vgl. auch BGH v. 31.10.2007 – XII ZR 112/05, FamRZ 2008, 137 = FamRB 2008, 69 und FamRB 2008, 70.
Schlünder
757
Kap. 6 C Rn. 1159
Ehegattenunterhalt
Die Kreditbelastungen sind sowohl bei dem Unterhaltsbedarf als auch bei der Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen1. 6. Die Deckung des Bedarfs nach den ehelichen Lebensverhältnissen a) Halbteilungsgrundsatz aa) Grundsatz 1159
Eines der Prinzipien des deutschen Ehegattenunterhaltsrechts ist der Grundsatz der unterhaltsrechtlichen Halbteilung: Das gemeinsame eheliche Einkommen – Erwerbseinkommen, Kapitaleinkünfte, Renteneinkommen – ist grundsätzlich zwischen den Eheleuten je zur Hälfte aufzuteilen. Zwar ergibt sich dieser Grundsatz nicht explizit – wie beim Zugewinnausgleich (§ 1378 Abs. 1 BGB) – aus dem Gesetz, er wird aber aus dem Begriff der ehelichen Lebensverhältnisse abgeleitet (vgl. Rn. 893). Er entfaltet seine Wirkung auf der Ebene des Bedarfs: Den Ehegatten steht von ihrem gemeinsamen Einkommen je die Hälfte zu2. Die innere Rechtfertigung des Halbteilungsgrundsatzes ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG, die als „wertentscheidende Grundsatznormen“ die Ehe als Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner schützen. Leistungen, welche sie in gemeinsamer Verantwortung zueinander im Rahmen ihrer praktizierten Rollenverteilung wechselseitig erbringen, sind als gleichwertig anzusehen. Daraus folgt, dass beide Ehegatten grundsätzlich Anspruch auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten haben, das ihnen daher zu gleichen Teilen zuzuordnen ist. Das gilt nicht nur während des Bestehens der Ehe, sondern auch nach Trennung und Scheidung3. (vgl. auch Rn. 915 und 1201). Ausnahmen ergeben sich beim Mindestbedarf (Rn. 1160) und in den Fällen, bei denen der Unterhalt nach der konkreten Methode (Rn. 1013 ff.) ermittelt wird. Bei der Billigkeitsabwägung im Rahmen der Leistungsfähigkeit nach § 1581 BGB wird vom Halbteilungsgrundsatz abgewichen, wenn im Fall der Unterhaltskonkurrenz zwischen geschiedenem und neuen Ehegatten (oder im Fall des § 1615l BGB) Gleichrang besteht. Der Hälfteanteil des Berechtigten an den ehelichen Lebensverhältnissen entspricht dem vollen Unterhalt – gleichbedeutend mit Bedarf. Der volle Unterhalt ist zugleich die Obergrenze des Bedarfs (Rn. 893 ff.). Einen höheren Unterhaltsanspruch als 1 BGH v. 12.12.2007 – XII ZR 23/06, FamRZ 2008, 497 (499) m. Anm. Hauß = FamRB 2008, 68; Melchers, NJW 2008, 806; im Gegensatz zu BGH v. 23.2.2005 – XII ZR 114/03, FamRZ 2005, 608 (609) m. Anm. Schürmann, S. 887 = FamRB 2005, 127, wonach den Pflichtigen gegenüber minderjährigen und privilegierten Volljährigen im Hinblick auf die gesteigerte Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB die Obliegenheit trifft, das Verfahren der Verbraucherinsolvenz einzuleiten. 2 BGH v. 26.9.1990 – XII ZR 45/89, FamRZ 1991, 304 (305); BGH v. 10.10.1990 – XII ZR 99/89, FamRZ 1991, 307 (310); BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (686) = FamRB 2006, 198. 3 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 Tz. 46 mwN = FamRB 2011, 66; BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, Tz. 28.
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Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1162
Kap. 6 C
den Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen kann es nicht geben, weil mit der Teilung zu je ein halb das den Ehegatten zur Verfügung stehende Einkommen vollkommen aufgeteilt wird. Der Unterhaltsbedarf wegen der Betreuung eines ehelichen (und nicht- 1160 ehelichen) geborenen Kindes richtet sich in Fällen, in welchen der Bedarf unter dem Existenzminimum liegt, nicht nach dem Halbteilungsgrundsatz, sondern nach einem Mindestbedarf in Höhe dieses Existenzminimums, der unterhaltsrechtlich mit dem notwendigen Selbstbehalt eines nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen von (zurzeit) 770 Euro pauschaliert werden darf. Der Betreuungsunterhalt nach § 1570 BGB (und § 1615l BGB) soll dem Berechtigten eine persönliche Betreuung und Erziehung des gemeinsamen Kindes ermöglichen, die nicht gewährleistet wäre, wenn der Berechtigte einer Erwerbstätigkeit nachgehen müsste1. Wird bei guten Einkommensverhältnissen der Unterhaltsanspruch nach 1161 der konkreten Methode (Rn. 1013 ff.) berechnet, entspricht der Bedarf des Berechtigten nicht dem Hälfteanteil an dem ehelichen Gesamteinkommen, weil meist Teile davon während intakter Ehe verwendet werden, um Vermögen zu bilden und damit für den Lebensunterhalt nicht zur Verfügung gestanden haben. In diesen Fällen wird der Unterhaltsanspruch durch die Summe der einzelnen Bedarfspositionen gebildet, ohne dass es darauf ankommt, ob der Bedarf die Hälfte des verfügbaren Einkommens ausmacht. Eine Modifizierung des Halbteilungsgrundsatzes hatte der BGH in Fällen 1162 vorgenommen, in denen der Unterhaltspflichtige durch eine neue Eheschließung einem weiteren Ehegatten gegenüber unterhaltspflichtig wurde. Der Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten wurde in diesen Fällen nicht isoliert, sondern als Anteil am Gesamteinkommen ermittelt. indem das Einkommen des Pflichtigen und dasjenige der Berechtigten (sowie ggf. das Einkommen des zweiten Ehegatten) addiert und davon ein Drittel als Bedarf des geschiedenen Ehegatten angesetzt wurde, ohne dass es auf den Rang der Unterhaltsansprüche ankam. Allerdings hat das BVerfG die Dreiteilung auf der Bedarfsebene für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt, weil mit der vom BGH gewählten Auslegung von § 1578 BGB die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung überschritten seien2. Zwischenzeitlich ist der BGH wieder zum Stichtagsprinzip zurückgekehrt (vgl. Rn. 1049 ff.).
1 BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357 Tz. 24 ff. = FamRB 2010, 69; BGH v. 13.1.2010 – XII ZR 123/08, FamRZ 2010, 444 Tz 17 ff. = FamRB 2010, 103 und FamRB 2010, 104; BGH v. 17.3.2010 – XII ZR 204/08, FamRZ 2010, 802 Tz. 18 ff. = FamRB 2010, 165; vgl. noch BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (685) = FamRB 2006, 198. 2 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 = FamRB 2011, 66; grundsätzlich zur Dreiteilung vgl. BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 (1915).
Schlünder
759
Kap. 6 C Rn. 1163
Ehegattenunterhalt
bb) Halbteilungsgrundsatz bei Erwerbseinkommen und anderen Einkommensarten 1163
Die Praxis weicht vom Grundsatz der Halbteilung bei Erwerbseinkommen insofern ab, als sie einen pauschalen Vorwegabzug vom Einkommen für berufsbedingte Aufwendungen und auch einen Anreiz zur Erwerbstätigkeit (sog. Erwerbstätigenbonus vgl. Rn. 1168 ff.) zulässt.
1164
Bei anderen Einkunftsarten wie beispielsweise Kapitalvermögen1, Vermietung und Verpachtung sowie Renten hat die Rechtsprechung einen pauschalen Vorwegabzug bisher abgelehnt. Ein Abzug bei diesen Einkünften bedürfe einer besonderen Begründung2. Ein umfangreicher Immobilienbesitz und der damit verbundene Verwaltungsaufwand, auch wenn er den Umfang einer beruflichen Tätigkeit für den Pflichtigen erreicht, genügen nach Auffassung des BGH nicht, einen solchen Abzug zu rechtfertigen. Allerdings hat der BGH3 den pauschalen Bonus deswegen nicht anerkannt, weil die maßgeblichen Einkünfte die ehelichen Lebensverhältnisse nur in Höhe eines kleinen Teilbetrags geprägt haben. cc) Beschränkung durch den Ehegattenselbstbehalt
1165
Der Selbstbehalt des Pflichtigen beschränkt den Halbteilungsgrundsatz. Ein Unterhaltsanspruch besteht nicht, soweit der Pflichtige infolge einer Unterhaltsleistung selbst sozialhilfebedürftig würde. Schon aus verfassungsrechtlichen Gründen muss ihm jedenfalls der Betrag bleiben, der seinen eigenen Lebensbedarf nach sozialhilferechtlichen Grundsätzen sicherstellt. Die finanzielle Leistungsfähigkeit endet dort, wo der Unterhaltspflichtige nicht mehr in der Lage ist, seine eigene Existenz zu sichern4.
1166
Der Ehegattenselbstbehalt ist nach der Rechtsprechung des BGH entsprechend dem Rang und dem Wesen des Unterhaltsanspruchs im Verhältnis zu anderen Unterhaltsansprüchen zwischen dem für minderjährige Kinder geltenden notwendigen Selbstbehalt (§ 1603 Abs. 2 BGB) und dem zB gegenüber volljährigen Kindern geltenden angemessenen Selbstbehalt (§ 1603 Abs. 1 BGB) idR mit einem festen Betrag anzusetzen; im Übrigen ist es Sache des Tatrichters, den angemessenen Selbstbehalt festzusetzen. Dabei kann er sich an Erfahrungs- und Richtwerte anlehnen, sofern im
1 BGH v. 12.7.1989 – IVb ZR 66/88, FamRZ 1989, 1160 auch zum Wohnwert. 2 BGH v. 10.7.1991 – XII ZR 166/90, FamRZ 1991; 1163 (1166); BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 51/03, FamRZ 2006, 387 (392) m. Anm. Büttner = FamRB 2006, 103 und FamRB 2006, 104. 3 BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 51/03, FamRZ 2006, 387 (392) m. Anm. Büttner = FamRB 2006, 103 und FamRB 2006, 104. 4 BGH v. 10.7.1996 – XII ZR 121/95, FamRZ 1996, 1272 (1273); BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (684) = FamRB 2006, 198.
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Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1168
Kap. 6 C
Einzelfall nicht besondere Umstände erfordern, hiervon abzuweichen1. „Besondere Umstände“ im vorgenannten Sinn, die nach § 1581 BGB ein Abweichen von der Regel rechtfertigen, liegen nicht vor, wenn beide geschiedenen Ehegatten eine Erwerbsunfähigkeitsrente beziehen, der notwendige Selbstbehalt den ehelichen Lebensverhältnissen entspricht und der Pflichtige im Hinblick auf die geänderte Rechtsprechung zum Selbstbehalt eine Abänderung verlangt, die wegen des jetzt höheren Selbstbehalts zum Verlust des Unterhaltsanspruchs führen würde2. Wohnt der Unterhaltsverpflichtete mietfrei in der Immobilie der neuen Ehefrau, nimmt er den Wohnvorteil nicht als freiwillige Leistung Dritter in Anspruch. Denn die neue Ehefrau ist nach § 1360a BGB im Rahmen des Familienunterhalts verpflichtet, ihrem Ehegatten (Unterhaltsverpflichteten) den Wohnvorteil zu gewähren. Der Wohnvorteil ist deshalb im Rahmen des Selbstbehalts unterhaltsrechtlich zu berücksichtigen3, wobei die Selbstbehaltssätze der Leitlinien der OLGe Kosten für Unterkunft und Heizung iHv. 400 Euro beim Ehegattenselbstbehalt enthalten4. Der monatliche Selbstbehalt (Eigenbedarf) gegenüber dem getrenntleben- 1167 den und dem geschiedenen Berechtigten (unabhängig davon, ob erwerbstätig oder nicht erwerbstätig) beträgt entsprechend der Düsseldorfer Tabelle (Stand 1.1.2011) 1050 Euro (B IV der Düsseldorfer Tabelle). Hierin sind bis 400 Euro für Unterkunft einschließlich umlagefähiger Nebenkosten und Heizung (Warmmiete) enthalten. Die OLGe Karlsruhe, Stuttgart und der zweite Zivilsenat des OLG Zweibrücken gehen von einem Selbstbehalt iHv. 960 Euro für Nichterwerbstätige aus. b) Der Erwerbsanreiz aa) Erwerbsanreiz auf Erwerbseinkommen, fiktives Einkommen und Partnerversorgung Dem Grundsatz der Halbteilung widerspricht es nach herrschender Meinung nicht, wenn von der strikten Halbteilung zu einem doppelten Zweck abgewichen wird: Um den mit einer Berufsausübung zwangläufig verbundenen höheren, nicht quantifizierbaren Aufwand pauschal auszugleichen und um einen Anreiz für den Pflichtigen zu schaffen, die Erwerbstätigkeit trotz Unterhaltsverpflichtung weiter fortzusetzen5. Dieser 1 BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 (684) = FamRB 2006, 198; BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 (973) = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173. 2 OLG Koblenz v. 4.1.2007 – 11 WF 1200/06, FamRZ 2007, 1330 m. Anm. Schürmann. 3 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 (974) = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173. 4 ZB SüdL Stand 1.1.2012 Ziff. 21.4. 5 BGH v. 10.11.2010 – XII ZR 197/08, FamRZ 2011, 192 Tz. 25; BGH v. 16.12.1987 – IVb ZR 102/86, FamRZ 1988, 265; BGH v. 26.9.1990 – XII ZR 45/89; BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 51/03, FamRZ 2006, 387 (392) = FamRB 2006, 103 und FamRB 2006, 104.
Schlünder
761
1168
Kap. 6 C Rn. 1169
Ehegattenunterhalt
sog. Erwerbsanreiz (auch Erwerbstätigenbonus, Erwerbsbonus oder in Anlehnung an die Quotierung der Düsseldorfer Tabelle „Anreizsiebtel“ genannt) wird ausschließlich bei der Bedarfsbemessung nach Quoten im Trennungs- und nachehelichen Unterhalt (nicht beim Familienunterhalt) sowohl auf der Seite des Unterhaltsberechtigten als auch des Unterhaltsverpflichteten berücksichtigt. Danach wird schon auf der Ebene des Bedarfs dem unterhaltspflichtigen und dem unterhaltsberechtigten Ehegatten ein die Hälfte seines Erwerbseinkommens „maßvoll übersteigender Betrag anrechnungsfrei belassen“1. Rechnerisch wird der Erwerbsanreiz vom beiderseitigen bereinigten2 Erwerbseinkommen abgezogen, bevor er in den Bedarf eingestellt und der Unterhalt berechnet wird. Beispiel: M verdient 2800 Euro netto monatlich, F 700 Euro. Setzt man den Erwerbstätigenbonus nach SüdL mit 1/10 an, ergibt sich für M ein Einkommen von 2800 Euro – 280 Euro = 2520 Euro und für F 700 Euro – 70 Euro = 630 Euro. Das Gesamteinkommen der Ehegatten ergibt 2520 Euro + 630 Euro = 3150 Euro. Der Unterhaltsanspruch der F ergibt sich mit der Hälfte von 3150 Euro, also 1575 Euro, abzüglich des eigenen Einkommens (630 Euro), somit 945 Euro. Der Erwerbstätigenbonus wird vom jeweiligen Erwerbseinkommen abgezogen, bevor der Bedarf gebildet wird. Setzt man den Bonus mit 1/7 nach der Düsseldorfer Tabelle an, ergeben sich 2800 Euro – 400 Euro = 2400 Euro für M und 700 Euro – 100 Euro = 600 Euro für F. Unterhaltsanspruch von F: 2400 Euro + 600 Euro = 3000 Euro: 2 = 1500 Euro abzüglich eigenes Einkommen iHv. 600 Euro, somit 900 Euro.
1169
Der Erwerbsanreiz ist bei nicht prägendem3 und fiktivem Erwerbseinkommen4 sowie dann zu berücksichtigen, wenn auf Seiten des Berechtigten ein Surrogateinkommen angesetzt wird, weil er einen anderen Partner versorgt. Er ist ebenfalls bei nicht prägendem Einkommen des Berechtigten abzuziehen, welches mit der Anrechnungsmethode berücksichtigt wird5, vgl. Rn. 1185, 1191.
1170
Kein Erwerbsanreiz wird berücksichtigt bei Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosen- und Krankengeld6, bei Renteneinkommen7 und bei Pensionen, auch bei Bezug einer Rente wegen Erwerbsminderung8. Wird der Unterhalt nach der konkreten Methode ermittelt, ist weder auf der Seite des 1 BGH v. 10.11.2010 – XII ZR 197/08, FamRZ 2011, 192 Tz. 25; BGH v. 26.9.1990 – XII ZR 45/89, FamRZ 1991, 304 (305); BGH v. 10.10.1990 – XII ZR 99/89, FamRZ 1991, 307 (310); BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 51/03, FamRZ 2006, 387 (392) = FamRB 2006, 103 und FamRB 2006, 104. 2 Das Erwerbseinkommen ist also zunächst um die berufsbedingten Aufwendungen, Kindesunterhalt, Steuern, Vorsorgeaufwendungen und Schulden zu vermindern. 3 BGH v. 19.6.1985 – IVb ZR 31/84, FamRZ 1985, 908 (910). 4 BGH v. 19.2.1986 – IVb ZR 16/85, FamRZ 1986, 439 (440). 5 BGH v. 19.6.1985 – IVb ZR 31/84, FamRZ 1985, 908. 6 OLG Karlsruhe v. 31.7.1997 – 2 UF 30/97, FamRZ 1998, 746. 7 BGH v. 28.3.1984 – IVb ZR 64/82, FamRZ 1984, 662. 8 OLG Hamm v. 26.8.1997 – 2 UF 93/97, FamRZ 1998, 295.
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Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1173
Kap. 6 C
Unterhaltsberechtigten noch beim Unterhaltsverpflichteten ein Erwerbsanreiz zu berücksichtigen1 (Rn. 1017, 1176). Bei Mischeinkünften (zB Erwerbseinkommen und Einkommen aus Vermietung und Verpachtung) ist der Anreiz nur vom Erwerbseinkommen abzuziehen. Auch beim Mindestbedarf und dem angemessenen Lebensbedarf ist ein Erwerbsanreiz nicht anzusetzen. Treffen berufsbedingte Aufwendungen2 mit dem Erwerbsbonus zusam- 1171 men, kann es zweifelhaft sein, den vollen Betrag des Erwerbsanreizes zu berücksichtigen. Denn aufgrund der Doppelfunktion deckt der Anreiz auch den nicht quantifizierbaren beruflichen Aufwand ab. Gleichwohl berücksichtigt die Düsseldorfer Tabelle 1/7 Anreiz neben den berufsbedingten Aufwendungen von 5 %. Teilweise reduziert die Rechtsprechung den Bonus, bei besonders beengten Verhältnissen kann der Bonus ganz entfallen3. bb) Höhe des Erwerbsanreizes Die Höhe des Erwerbsanreizes liegt im tatrichterlichen Ermessen. Dabei 1172 kann sich das Gericht an Erfahrungs- und Richtwerte anlehnen, sofern im Einzelfall nicht besondere Umstände erfordern, hiervon abzuweichen. Seit ab 1.7.2003 die Leitlinien der Oberlandesgerichte vereinheitlicht worden sind, findet sich eine Zweiteilung: Nach den SüdL sind Erwerbseinkünfte nur zu 90 % zu berücksichtigen, es erfolgt also ein Abzug von 1/10 für den Anreiz vom bereinigten Einkommen4. Zahlungen auf prägenden Kindesunterhalt werden vom Bedarf abgezogen, bevor die Quote des Erwerbstätigenbonus gebildet wird. Nach der Düsseldorfer Tabelle (Stand 1.1.2011) beträgt die Höhe des Anreizes 1/7 des Erwerbseinkommens des Verpflichteten oder der Differenz beider Erwerbseinkommen. Der Unterhaltsanspruch des Berechtigten beläuft sich auf eine Quote von 3/7, 4/7 bleiben dem Pflichtigen. Im Einzelnen ergeben sich daher die folgenden monatlichen Unterhaltsrichtsätze des berechtigten Ehegatten ohne unterhaltsberechtigte Kinder: Gegen einen erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen, wenn der Berechtigte 1173 kein Einkommen hat, 3/7 des anrechenbaren Erwerbseinkommens zuzüglich 1/2 der anrechenbaren sonstigen Einkünfte des Pflichtigen, nach oben begrenzt durch den vollen Unterhalt, gemessen an den zu berücksichtigenden ehelichen Lebensverhältnissen. Wenn der Berechtigte ebenfalls 1 BGH v. 10.11.2010 – XII ZR 197/08, FamRZ 2011, 192 Tz. 26 ff. = FamRB 2011, 36 und FamRB 2011, 37. 2 BGH v. 21.1.2009 – XII ZR 54/06, FamRZ 2009, 762 (766) = FamRB 2009, 172 und FamRB 2009, 173 zur Frage, ob berufsbedingte Aufwendungen mit dem Hinweis auf steuerliche Werbungskosten begründet werden können. 3 BGH v. 31.1.1990 – XII ZR 21/89, FamRZ 1990, 979 (981); BGH v. 29.1.1992 – XII ZR 239/90, FamRZ 1992, 539 (541); BGH v. 11.1.1995 – XII ZR 122/93, FamRZ 1995, 346 (348). 4 SüdL Ziff. 15.2., Stand 1.1.2012.
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Kap. 6 C Rn. 1174
Ehegattenunterhalt
Einkommen hat, 3/7 der Differenz zwischen den anrechenbaren Erwerbseinkommen der Ehegatten, insgesamt begrenzt durch den vollen ehelichen Bedarf. Für sonstige anrechenbare Einkünfte gilt der Halbteilungsgrundsatz; 1174
Gegen einen nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen wie oben, jedoch 50 %.
1175
Sind die ehelichen Lebensverhältnisse durch Unterhaltspflichten gegenüber Kindern geprägt worden, wird grundsätzlich der Zahlbetrag des Kindesunterhalts vorab vom Nettoeinkommen abgezogen, bevor der Ehegattenunterhalt nach den oben dargestellten Grundsätzen errechnet wird (Rn. 1091 ff.). Beispiel: M verdient 2800 Euro netto monatlich und hat 250 Euro Kindesunterhalt an ein minderjähriges Kind zu zahlen. Der Erwerbstätigenbonus rechnet sich wie folgt: 2800 Euro – 250 Euro = 2550 Euro. Davon nach SüdL 1/10: 2550 Euro – 255 Euro = 2295 Euro; dieser Betrag ist in den Bedarf einzustellen. Nach Düsseldorfer Tabelle: 2550 Euro – 364 Euro (= 1/7 von 2550 Euro) = 2186 Euro.
cc) Erwerbsanreiz in anderen Fällen 1176
Der BGH beschränkt den Erwerbsanreiz auf die Fälle, in welchen der Unterhalt nach der pauschalen Quotenmethode berechnet wird. Wird der Unterhaltsanspruch nach der konkreten Methode ermittelt, ist ein Erwerbsanreiz nicht zu berücksichtigen. Hierfür besteht kein Anlass, wenn die Bedarfsbemessung wie bei der konkreten Methode weitgehend auf Schätzungen beruht und dem Unterhaltsberechtigten nicht unbeträchtliche Spielräume eröffnet (Rn. 1013). Auch in anderen Fällen, bei denen der nacheheliche Unterhaltsbedarf unabhängig vom Einkommen ermittlet wird, kann ein Erwerbsanreiz nicht berücksichtigt werden. Das ist der Fall, wenn sich der Bedarf des Unterhaltsberechtigten nach dem Mindestbedarf richtet, den der BGH nicht nach dem in den Leitlinien ausgewiesenen Existenzminimum eines erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen (mit Erwerbsbonus), sondern nach dem eines nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen bemisst (Rn. 1160). Gleiches gilt, wenn sich der Bedarf wie bei § 1578 Abs. 1 S. 2 BGB und § 1578b Abs. 1 BGB nach dem angemessenen Lebensbedarf richtet (Rn. 1224 ff.). Denn außerhalb einer Bedarfsermittlung nach Quoten besteht für den Abzug eines Erwerbsanreizes auf Seiten des Unterhaltsberechtigten aus Gründen der Gleichbehandlung der Ehegatten keine Rechtfertigung1. 1 BGH v. 10.11.2010 – XII ZR 197/08, FamRZ 2011, 192 Tz. 26 ff. m. Anm. Schürmann FamRB 2011, 36 und FamRB 2011, 37 unter Aufgabe von BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, FamRZ 2010, 1637 Tz. 31 = FamRB 2010, 328 und FamRB 2010, 329; zum Erwerbstätigenbonus allgemein Röthel, FamRZ 2001, 328 und kritisch Spangenberg, FamRZ 2002, 1388; (zusammenfassend zum Erwerbstätigenbonus) Born, Anm. zu OLG Hamm v. 21.9.2007 – 11 UF 24/07, FamRZ 2008, 1184 (1185).
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Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1180
Kap. 6 C
c) Die Leistungsfähigkeit nach § 1581 BGB Nach § 1581 S. 1 BGB hat eine Billigkeitsabwägung zu erfolgen, wenn der 1177 Verpflichtete nach seinen Erwerbs- und Vermögensverhältnissen unter Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung des eigenen angemessenen Unterhalts dem Berechtigten Unterhalt zu gewähren. Dabei können auch weitere Umstände berücksichtigt werden, welche nicht bereits Einfluss auf die Höhe des Unterhaltsbedarfs nach den ehelichen Lebensverhältnissen gehabt haben. Im Rahmen der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen ist der Grundsatz zu beachten, dass die Unterhaltspflicht im Hinblick auf die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG nicht unverhältnismäßig und unzumutbar sein darf. Der eigene angemessene Unterhalt darf nicht geringer sein als der an den Unterhaltsberechtigten zu leistende Betrag1. Wenn der Bedarf des Unterhaltsberechtigten den Betrag übersteigt, welcher dem Pflichtigen für den eigenen Unterhalt verbleibt, liegt zwischen beiden ein relativer Mangelfall vor, der zur Kürzung auf Seiten des Unterhaltsberechtigten und des individuellen Selbstbehalts des Unterhaltspflichtigen führt. Der individuelle Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen ist die „Kehrseite“ des Unterhaltsbedarfs des Berechtigten. Der angemessene Unterhalt i.S. von § 1581 BGB, bei dessen Gefährdung die Billigkeitsabwägung anzustellen ist, ist mit dem Unterhaltsbedarf des Berechtigten nach den ehelichen Lebensverhältnissen gem. § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB gleichzusetzen2.
1178
Nach der Rechtsprechung zur Dreiteilung bei der Bedarfsbemessung be- 1179 durfte es § 1581 S. 1 BGB nicht; der BGH hat insoweit seine Rechtsprechung aufgegeben3. Ist für den Unterhaltspflichtigen die Untergrenze seines eigenen angemessenen Selbstbehalts tangiert, liegt also ein absoluter Mangelfall vor, beeinflusst dieser allein den Unterhalt des Berechtigten. In diesem Fall sind Ansprüche des Unterhaltsberechtigten entsprechend der in § 1609 BGB geregelten Rangfolge und bei Gleichrang anteilig zu kürzen. Das führt dazu, dass auch nachehelich geborene minderjährige oder privilegiert volljährige Kinder vorrangig zu berücksichtigten sind, weil sie nach § 1609 Nr. 1 BGB im ersten Rang stehen4. Bei den „sonstigen Verpflichtungen“ i.S. von § 1581 S. 1 BGB kann es sich auch um Unterhaltsverpflichtungen handeln. Demgemäß ist bei der Billigkeitsabwägung der Rang der verschiedenen Unterhaltsberechtigten zu
1 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 32, 33 m. Anm. Borth; BGH v. 18.10.1989 – IVb ZR 89/88, FamRZ 1990, 260 (264). 2 BGH v. 18.10.1989 – IV b ZR 89/88, FamRZ 90, 260 (264). 3 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 34 gegen BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683; Borth, FamRZ 2012, 253. 4 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 35, 36; Borth, FamRZ 2012, 253.
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765
1180
Kap. 6 C Rn. 1181
Ehegattenunterhalt
berücksichtigen1. Die Darlegungs- und Beweislast für seine „sonstigen Verpflichtungen“, insbesondere für den Unterhaltsbedarf nachehelich hinzugetretener, weiterer Unterhaltsberechtigter trifft den Unterhaltspflichtigen, was der BGH bereits unter der Geltung seiner früheren Rechtsprechung ausgesprochen hatte2. Daraus ergibt sich, dass die Leistungsfähigkeit des Pflichtigen auch durch weitere vor- oder gleichrangige Unterhaltspflichten beeinflusst wird. 1181
Stehen der geschiedene und der neue oder nach § 1616l BGB Berechtigte im gleichen Rang, beeinflussen sich die Unterhaltsansprüche wechselseitig und die sich dadurch ergebene Unterhaltskonkurrenz kann grundsätzlich im Wege der Dreiteilung des vorhandenen Gesamteinkommens gelöst werden3. Ein Widerspruch zur Entscheidung des BVerfG (Rn. 891) liegt nach Auffassung des BGH nicht vor, weil es sich bei dem vom BVerfG entschiedenen Fall um einen nachrangigen Ehegatten handelte und lediglich die Dreiteilung bei der Bedarfsbemessung (und nicht auf der Ebene der Leistungsfähigkeit) als mit § 1578 BGB nicht vereinbar beanstandet wurde.
1182
Erfolgt eine Dreiteilung beim gleichen Rang, ist das gesamte Einkommen aller Beteiligten zu berücksichtigen, demgemäß auch Einkünfte aus einem nachehelichen Karrieresprung, die lediglich die nachehelich hinzutretenden Unterhaltspflichten auffangen und auch der Splittingvorteil einer neuen Ehe muss im Rahmen der Dreiteilung des vorhandenen Einkommens bei der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen nicht eliminiert werden4.
1183
Ist dagegen im Fall der Unterhaltskonkurrenz der Unterhaltsanspruch des neuen Ehegatten gegenüber dem Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten vorrangig, ist es bei der Billigkeitsabwägung nach § 1581 S. 1 BGB erst recht geboten, diesen Unterhaltsanspruch bei der Leistungsfähigkeit gegenüber dem geschiedenen Ehegatten zu berücksichtigen. Ist der neue Ehegatte hingegen gegenüber dem geschiedenen nachrangig, ist dessen Unterhaltsanspruch bei der Leistungsfähigkeit gegenüber dem geschiedenen Ehegatten nicht als sonstige Verpflichtung zu berücksichtigen. Denn in solchen Fällen ist der Unterhaltspflichtige deswegen regelmäßig in Höhe des Unterhaltsbedarfs nach den ehelichen Lebensverhältnissen leistungsfähig. Dabei ist der Unterhaltsanspruch des neuen Ehegatten im Rahmen der Unterhaltskonkurrenz mit dem geschiedenen Ehegatten nach §§ 1581 S. 1, 1609 Nr. 2 BGB als hypothetischer nachehe1 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 38; Borth, FamRZ 2012, 253; Maurer, FamRZ 2011, 849 (857); Schwamb, FamRB 2011, 120 (121). 2 BGH v. 14.4.2010 – XII ZR 89/08, FamRZ 2010, 869 Tz. 36 mwN. 3 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 42; Borth, FamRZ 2011, 445 (449); Borth, FamRZ 2012, 253; Gerhard/Gutdeutsch, FamRZ 2011, 597 (598); aA Maurer, FamRZ 2011, 849 (858); Götz/Brudermüller, NJW 2011, 2609 und NJW 2011, 801 (806). 4 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 47.
766
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1186
Kap. 6 C
licher Unterhalt zu bemessen, so dass ein von ihm erzielbares Einkommen zu berücksichtigen ist1. In seiner Grundsatzentscheidung zum Stichtagsprinzip weist der BGH 1184 darauf hin, dass die Billigkeitserwägung nach § 1581 BGB auch zu abweichenden Ergebnissen gelangen kann, weil weitere individuelle Umstände herangezogen werden können. Als weiteres Billigkeitskriterium ist insbesondere zu berücksichtigen, ob der Mindestbedarf des Unterhaltsberechtigten gedeckt ist2. d) Berechnungsmethoden aa) Differenz-, Additions- und Anrechnungsmethode Differenz, Additions- und Anrechnungsmethode sind Berechnungsarten, mit denen das Einkommen beider Ehegatten im Schema des Unterhaltsund Bedarfsmodells (Rn. 900 ff.) aufgeteilt wird. Welche Methode angewendet wird, richtet sich danach, ob Einkommen die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt hat oder nicht. Hat ein Einkommen die ehelichen Lebensverhältnisse nachhaltig geprägt, ist es im Wege der Differenz- bzw. Additionsmethode in den Bedarf einzustellen, nicht prägendes Einkommen wird nach der Anrechnungsmethode behandelt. Hat Einkommen teilweise geprägt, teilweise nicht, ist die gemischte Differenz/Anrechnungsmethode heranzuziehen.
1185
Additions- und Differenzmethode führen zum selben Ergebnis; die Diffe- 1186 renzmethode ist die abgekürzte Form der Additionsmethode. Beispiel (nach BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986, 988 = FamRB 2002, 3)3: – Anrechnungsmethode: prägendes Einkommen M nicht prägendes Einkommen F Bedarf: nicht prägendes Einkommen F Unterhaltsanspruch – Additionsmethode: prägendes Einkommen M prägendes Einkommen F Summe Bedarf: eigenes Einkommen F Unterhaltsanspruch
4000 Euro 2000 Euro 4000 Euro : 2 = 2000 Euro – 2000 Euro 0 Euro 4000 Euro + 2000 Euro 6000 Euro 6000 Euro : 2 = 3000 Euro – 2000 Euro 1000 Euro
1 BGH v. 18.11.2009 – XII ZR 65/09, FamRZ 2010, 111 Tz. 46 ff. = FamRB 2010, 33 und FamRB 2010, 34. 2 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 Tz. 15. 3 Beispiele ohne Berücksichtigung von berufsbedingtem Aufwand und ohne Erwerbsanreiz.
Schlünder
767
Kap. 6 C Rn. 1187 – Differenzmethode: prägendes Einkommen M prägendes Einkommen F Differenz Unterhaltsanspruch
Ehegattenunterhalt
4000 Euro – 2000 Euro 2000 Euro : 2 = 1000 Euro
bb) Surrogatrechtsprechung und Differenzmethode 1187
Die Rechtsprechung hat die Frage, welches Einkommen für die ehelichen Lebensverhältnisse prägend ist, in der Vergangenheit unterschiedlich beantwortet. Damit ist zwangsläufig eng die Frage verknüpft, welche Berechnungsmethode angewendet wird. Vor der Surrogatentscheidung des BGH wurde die Differenzmethode nur in Fällen angewendet, in denen beide Ehegatten zum Zeitpunkt der Scheidung erwerbstätig waren. Nahm der zum Zeitpunkt der Scheidung nicht erwerbstätige Ehegatte nach der Scheidung eine Erwerbstätigkeit auf, wurde sein Einkommen mit der Anrechnungsmethode von seinem ohne dieses Einkommen berechneten Bedarf abgezogen. Unangemessene Ergebnisse sollten mit zwei Korrektiven vermieden werden: zum einen mit dem Instrument des trennungsbedingten Mehrbedarfs, zum anderen mit der Angemessenheitskontrolle.
1188
Nach der Surrogatrechtsprechung (Rn. 905 ff.) kommt es nicht mehr darauf an, wann der nicht erwerbstätige Ehepartner die (Voll- oder Teil)Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, ob vor oder nach der Trennung oder nach der Scheidung, wenn nur die Erwerbstätigkeit als Surrogat des wirtschaftlichen Werts seiner bisherigen Familiendienste angesehen werden kann. Es ist irrelevant, ob die Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit geplant oder in der Ehe angelegt war oder ob diese Entwicklung mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten war – in allen Fällen findet die Differenzmethode Anwendung. Nicht nur reales, auch fiktives Einkommen ist nach der Differenzmethode zu behandeln. Auch der anrechenbare Teil des überobligationsmäßigen Einkommens ist nach der Differenzmethode zu berechnen. Auch nach der Entscheidung des BVerfG v. 25.1.2011 (vgl. Rn. 891) dürfte eine nachehelich aufgenommene Erwerbstätigkeit des Unterhaltsberechtigten auf der Bedarfsebene zu berücksichtigen sein. Das BVerfG hat insoweit ausdrücklich den Ehebezug anerkannt1.
1189
Die Differenzmethode dient nicht dazu, ganz geringfügige Einkommensunterschiede auszugleichen. In Rechtsprechung und Literatur wird daher die Auffassung vertreten, dass geringe Einkommensdifferenzen beim Aufstockungsunterhalt nicht auszugleichen sind2. Zweifelhaft ist, ob 1 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, FamRZ 2011, 437 Tz. 64 = FamRB 2011, 66. 2 BGH v. 14.12.1983 – IVb ZR 29/82, FamRZ 1984, 988 (990); OLG Düsseldorf v. 12.12.1995 – 4 WF 146/95, FamRZ 1996, 947; OLG München v. 3.6.1996 – 12 WF 802/96, FamRZ 1997, 425; OLG München v. 6.11.2003 – 16 WF 1599/03, FamRZ 2004, 1208 = FamRB 2004, 180; Schwab/Borth, IV Rn. 287 mwN; OLG Koblenz v. 29.9.2005 – 7 UF 284/05, FamRZ 2006, 704 (LS 3): kein Anspruch
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Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1191
Kap. 6 C
diese Grundsätze auf den Altersunterhalt nach § 1571 BGB anzuwenden sind1. cc) Additionsmethode Die Additionsmethode führt zum gleichen Ergebnis wie die Differenz- 1190 methode. Sie verlangt im Gegensatz zu der verkürzenden Differenzmethode eine zweistufige Berechnung. Zunächst werden die prägenden Einkünfte addiert, die Hälfte ergibt den Bedarf des unterhaltsberechtigten Ehegatten. Von dem Bedarf wird das eigene Einkommen des Berechtigten abgezogen; damit ergibt sich der eigentliche Unterhaltsanspruch (ungedeckter Bedarf). Die prägenden Einkünfte werden nach Abzug des Erwerbstätigenbonus addiert, je nachdem nach SüdL 1/10 bzw. Düsseldorfer Tabelle 1/7, der Bedarf wird nach dem Halbteilungsgrundsatz mit je der Hälfte angenommen. Nicht prägendes Einkommen wird zusammen mit dem prägenden vom Bedarf abgezogen; das Ergebnis stellt den Unterhaltsanspruch dar. Beispiel: prägendes Einkommen M prägendes Einkommen F Summe Bedarf: eigenes Einkommen F nicht prägendes Einkommen F Unterhaltsanspruch
4000 Euro + 2000 Euro 6000 Euro 6000 Euro : 2 = 3000 Euro – 2000 Euro – 500 Euro 500 Euro
dd) Fallgruppen der Anrechnungsmethode Bei der Anrechnungsmethode wird das nicht prägende Einkommen von 1191 dem vorher ohne dieses Einkommen gebildeten Bedarf abgezogen. Diese Methode wird insbesondere in folgenden Fällen angewendet: – bei nicht prägendem Einkommen nach Trennung oder Scheidung wie zB bei Erbschaft, Schenkung, Lottogewinn2, – bei Mehreinkommen infolge einer vom Normalverlauf abweichenden Entwicklung, zB Fälle des Karrieresprungs, Rn. 1131 ff.,
auf Ehegattenunterhalt, wenn sich die Einkommensdifferenz auf weniger als 10 % des Gesamteinkommens beläuft. 1 OLG Karlsruhe v. 7.2.2008 – 2 WF 5/08, FamRZ 2008, 2120. 2 Scholz, FamRZ 2003, 265 (269); OLG Frankfurt v. 16.9.1985 – 5 UF 268/84, FamRZ 1986, 165 zur Erbschaft drei Tage nach der Trennung der Eheleute: die Einkünfte aus der Erbschaft sind nicht prägende Einkünfte; vgl. auch BGH v. 8.6.1988 – IVb ZR 68/87, FamRZ 1988, 1145; OLG Hamm v. 20.2.1992 – 1 UF 528/90, FamRZ 1992, 1184; BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 51/03, FamRZ 2006, 387 (390) = FamRB 2006, 103 und FamRB 2006, 104: auch ein nach Rechtskraft der Scheidung eintretender Erbfall kann prägend sein; Gerhardt, FuR 2006, 433 (438).
Schlünder
769
Kap. 6 C Rn. 1192
Ehegattenunterhalt
– beim Abzug des Einkommens des Berechtigten, wenn der Unterhalt nach der konkreten Methode (Rn. 1013 ff.) berechnet wurde – in Fällen, in welchen das nach Trennung oder Scheidung erzielte Einkommen nicht als Surrogat für die Familienarbeit oder die Nutzungsvorteile angesehen werden kann, etwa dann, wenn der Berechtigte keine Familienarbeit geleistet hat, zB wegen Strafhaft, Krankheit, Drogenkonsums oder in Fällen berufsbedingter Trennung, oder wenn die Ehegatten kein gemeinsames Arbeits- und Aufgabenmodell vereinbart oder praktiziert haben, – in Fällen des durchgeführten Versorgungsausgleichs; dann ist der durch den Versorgungsausgleich übertragene Rentenanteil mit der Anrechnungsmethode zu berücksichtigen, solange der Pflichtige noch erwerbstätig ist und sich der Versorgungsausgleich bei ihm noch nicht durch Kürzung seines Renteneinkommens bemerkbar macht1. ee) Grundsatz der Angemessenheit 1192
Bei jeder Berechnung des Unterhalts, nicht nur bei der Anwendung der vorgenannten Berechnungsmethoden, ist das gewonnene Ergebnis tatrichterlich auf seine Angemessenheit und Billigkeit zu überprüfen. Dazu gehört auch die Frage, ob dem Unterhaltsberechtigten für seinen laufenden Lebensbedarf ausreichende Mittel zur Verfügung stehen und ob eine Kürzung des an sich nachrangigen Altersvorsorgeunterhalts erforderlich ist2. Auch im Mangelfall ist diese Prüfung notwendig. Sie erstreckt sich darauf, ob die errechneten Beträge in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen und ob kein Unterhaltsberechtigter aufgrund der Mangelverteilung bessersteht als ohne Vorliegen eines Mangelfalls3. 7. Herabsetzung und zeitliche Begrenzung des Unterhalts wegen Unbilligkeit a) Frühere Rechtslage aa) Rechtslage vor dem 1.1.2008
1193
Das frühere Recht kannte – von § 1579 BGB abgesehen – keine allgemeine Vorschrift, die eine zeitliche Begrenzung des Unterhaltsanspruchs eines berechtigten Ehegatten zuließ. Kraft der Lebensstandardgarantie
1 So Scholz, FamRZ 2003, 265 (269) entgegen BGH v. 31.10.2001 – XII ZR 292/99, FamRZ 2002, 88 = FamRB 2002, 65, FamRB 2002, 66 und FamRB 2002, 79. 2 BGH v. 4.11.1987 – IVb ZR 32/86, FamRZ 1988, 145 (151); BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 98/97, FamRZ 2003, 367 (370); ob sich der Vorrang der Ehefrau nach der seit dem 1.1.2008 geltenden absoluten Rangstellung der minderjährigen Kinder und der ihnen nach § 1603 Abs. 2 BGB Gleichgestellten noch so aufrecht erhalten lässt, erscheint fraglich. 3 BGH v. 22.1.2003 – XII ZR 2/00, FamRZ 2003, 363 (367) = FamRB 2003, 109.
770
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1196
Kap. 6 C
war die Vorstellung des Gesetzgebers des 1. EheRG1 von einer lebenslänglich andauernden Unterhaltspflicht geprägt (Rn. 882 ff.), die selbst mit dem Tod des Unterhaltsverpflichteten noch nicht endgültig beendet sein sollte, wie sich aus der die erbrechtlichen Folgen regelnden Vorschrift des § 1586b BGB ergibt. Erst das 1. UÄndG v. 20.2.19862 hat mit § 1573 Abs. 5 BGB eine Befristungsmöglichkeit vorgesehen, die allerdings nur auf die in § 1573 Abs. 1 BGB und Abs. 2 geregelten Anspruchsgrundlagen beschränkt war. Die Gesetzesänderung verfolgte ausdrücklich das Ziel, die Eigenverantwortung zu stärken und die Einzelfallgerechtigkeit zu betonen3. Andere Unterhaltsansprüche als die in § 1573 BGB genannten konnten zeitlich nicht begrenzt werden. Die Rechtsprechung hat in den vergangenen Jahren von den Möglichkei- 1194 ten, den nachehelichen Unterhalt zu begrenzen, kaum Gebrauch gemacht4. Obwohl der BGH immer wieder betonte, dass es keine feste Zeitgrenze gibt, galt schon eine Dauer von zehn Jahren als der „Grenzbereich, ab dem der Ehedauer als Billigkeitskriterium regelmäßig ein durchschlagendes Gewicht für eine dauerhafte Unterhaltsgarantie zukommt“5. Das 1. UÄndG v. 20.2.1986 hatte darüber hinaus mit der Vorschrift des 1195 § 1578 Abs. 1 S. 2 BGB für alle nachehelichen Unterhaltsansprüche eine weitere Begrenzungsmöglichkeit geschaffen, die sich auf den Maßstab des nachehelichen Unterhalts, also auf dessen Höhe bezog: Die Bemessung des Unterhalts nach den ehelichen Lebensverhältnissen konnte zeitlich beschränkt und danach auf den angemessenen Lebensbedarf abgestellt werden, worunter im Wesentlichen der Status des Berechtigten vor der Ehe zu verstehen war. Auch diese Vorschrift stellte sich als ein Relikt der Lebensstandardgarantie dar, weil sie die Bemessung des Anspruchs zunächst an den ehelichen Lebensverhältnissen vorschrieb und erst danach auf die Verhältnisse des Berechtigten vor der Ehe abgestellt hat. Die Vorschrift hatte ähnlich wie die Befristungsmöglichkeit nach § 1573 Abs. 5 BGB kaum praktische Relevanz. bb) Entwicklung der Rechtsprechung Die Surrogatrechtsprechung (Rn. 905 ff.) des BGH hatte zwangläufig zur 1196 Folge, dass sich der Bedarf des berechtigten Ehegatten erhöhte und damit zu einem zeitlich längeren Unterhaltsanspruch führte. Denn der nach der Anrechnungsmethode ermittelte Unterhaltsanspruch entfällt bereits dann, wenn der Unterhaltsberechtigte nach der Scheidung die Hälfte des 1 Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts v. 14.6.1976, BGBl. I, S. 1421. 2 BGBl. I, S. 301. 3 BT-Drucks. 10/2888, S. 11 f.; Brudermüller, FamRZ 1998, 649 (650). 4 Schwab, FamRZ 1997, 521 (524); Gerhardt, FamRZ 2000, 134 (136); Brudermüller, FamRZ 1998, 649 (650). 5 BGH v. 9.6.2004 – XII ZR 308/01, FamRZ 2004, 1357 (1360) = FamRB 2004, 324; Heumann, FamRZ 2007, 178 (179).
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Kap. 6 C Rn. 1197
Ehegattenunterhalt
Einkommens des Pflichtigen verdient, während der nach der Differenzmethode berechnete Unterhaltsanspruch erst dann entfällt, wenn der Berechtigte ein gleich hohes Einkommen wie der Unterhaltsverpflichtete erzielt. Der BGH hat bald nach der Grundsatzentscheidung v. 13.6.2001 (Rn. 905 ff.) die Notwendigkeit erkannt, Kriterien zu entwickeln, mit deren Hilfe Unterhaltsansprüche zeitlich begrenzt werden können1. Inundi einer Reihe von Entscheidungen den infolge seiner Rechtsprechung erhöhten Unterhaltsanspruch des Berechtigten, meist der Ehefrau, auf den Prüfstand einer möglichen Befristung gestellt; damithat er bereits vor dem Inkrafttreten des UÄndG 2007 Kriterien entwickelt, die zur Auslegung der neuen Begrenzungsvorschriften herangezogen werden können. 1197
Ausgangspunkt dieser Rechtsprechung ist eine andere Interpretation des Merkmals „Dauer der Ehe“ nach § 1573 Abs. 5 aF BGB. Es ist nicht im Sinne einer festen Zeitgrenze zu verstehen, von der ab der Unterhaltsanspruch grundsätzlich einer zeitlichen Begrenzung nicht mehr zugänglich ist. Die Vorschrift ist nicht nur bei kurzen und kinderlosen Ehen anzuwenden; sie erfasst auch die Fälle längerer Ehedauer. Abgestellt wird nicht mehr auf die reine Zeitspanne, sondern darauf, ob sich eine Differenz in den Einkommen der Ehepartner nach § 1573 Abs. 2 aF BGB als ein durch die Ehe verursachter Nachteil darstellt.
1198
Ist die Differenz der Einkommen beider Ehegatten nicht auf ehebedingte Nachteile, sondern darauf zurückzuführen, dass beide Ehegatten schon vorehelich infolge ihrer individuellen Ausbildungsbiografie unterschiedliche Qualifikationsstufen erreicht haben, kann es im Einzelfall dem Berechtigten nach einer Übergangszeit zumutbar sein, auf einen Lebensstandard nach den ehelichen Lebensverhältnissen zu verzichten und sich mit dem Lebensstandard zu begnügen, den er auch ohne die Ehe erreicht hätte2. Den entscheidenden Kurswechsel markiert die Entscheidung des BGH v. 12.4.20063. Die Maßstäbe für die Billigkeitsabwägung nach § 1575 Abs. 5 aF BGB, welche der BGH entwickelt hat, sind in der Sache keine anderen als die des seit dem 1.1.2008 geltenden § 1578b BGB. Es kann somit für die Auslegung des § 1578b BGB auf die Rechtsprechung 1 BGH v. 12.4.2006 – XII ZR 240/03, FamRZ 2006, 1006 = FamRB 2006, 263: „Die zeitliche und höhenmäßige Befristungsmöglichkeit von Unterhaltsansprüchen nach §§ 1573 Abs. 5, 1578 Abs. 1 S. 2 BGB gewinnt in Übrigen im Hinblick auf die Änderung der Rspr. des Senats zur sog. Anrechnungs/Differenzmethode (BGHZ 148, 105, 121 = FamRZ 2001, 986 [991]) eine besondere praktische Bedeutung.“; Heumann, FamRZ 2007, 178 (179). 2 BGH v. 12.4.2006 – XII ZR 240/03, FamRZ 2006, 1006 = FamRB 2006, 263; BGH v. 25.10.2006 – XII ZR 190/03, FamRZ 2007, 200 = FamRB 2007, 33; BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197; BGH v. 23.5.2007 – XII ZR 245/04, FamRZ 2007, 1232 = FamRB 2007, 261; BGH v. 26.9.2007 – XII ZR 11/05, FamRZ 2007, 2049 m. Anm. Hoppenz; BGH v. 26.9.2007 – ZR 15/05, FamRZ 2007, 2052; BGH v. 14.11.2007 – XII ZR 16/07, FamRZ 2008, 134 = FamRB 2008, 34. 3 BGH v. 12.4.2006 – XII ZR 240/03, FamRZ 2006, 1006 m. Anm. Born = FamRB 2006, 263.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1201
Kap. 6 C
des BGH zur Herabsetzung und/oder zeitlichen Befristung aus Billigkeitsgründen vor Inkrafttreten des § 1578b BGB zurückgegriffen werden1. b) Neuregelung durch das UÄndG 2007 Mit dem UÄndG 20072 sind § 1573 Abs. 5 und § 1578 Abs. 1 S. 2 BGB 1199 entfallen und durch die einheitliche, für alle nachehelichen Unterhaltsansprüche geltende neue Bestimmung des § 1578b BGB ersetzt worden. Die Vorschrift sieht in Abs. 1 vor, den Unterhaltsanspruch auf den angemessenen Lebensbedarf herabzusetzen, nach Abs. 2 ist eine Befristung vorgesehen und Abs. 3 lässt es zu, beide Instrumente der Begrenzung zu kombinieren. Unterschwellig geht der Gesetzestext von dem angemessenen Lebensbedarf als einem geringeren Standard als dem der ehelichen Lebensverhältnisse aus, indem er formuliert, dass der Unterhaltsanspruch auf dieses Niveau „herabzusetzen“ ist. Dem Reformgesetzgeber ist es nicht gelungen, letzte semantische Restbestände der Ehe als wirtschaftlicher Schicksalsgemeinschaft aus dem Gesetzestext zu tilgen. Die Konnotationen zur Lebensstandardgarantie leben in solchen Formulierungen noch fort. aa) Dogmatischer Ansatz Zweck der Vorschrift ist, eine grundsätzlich für alle nachehelichen Un- 1200 terhaltstatbestände geltende Regelung einzuführen, die es gestattet, diese entweder im Maß herabzusetzen, zeitlich zu begrenzen oder beide Möglichkeiten – wie auch immer – zu kombinieren. Maßstab der Begrenzung sind die in der Vorschrift näher aufgeführten Billigkeitskriterien. Damit verabschiedet sich der Gesetzgeber von der Lebensstandardgarantie als einer zeitlich unbegrenzten und nach der Scheidung der Höhe nach unabänderbaren Größe (Rn. 882), auch wenn die Begründung des Gesetzes dies so nicht mit letzter Klarheit zum Ausdruck bringt3. Der Gesetzgeber macht sich zunächst die Rechtsprechung des BVerfG zu eigen, wonach die Leistungen, welche Ehegatten in einem gemeinsam gewählten Rollenmodell erbringen, gleichwertig sind, so dass sie grundsätzlich Anspruch auf „gleiche Teilhabe an dem gemeinsam Erwirtschafteten“ (Rn. 915) haben4. Dieser Teilhabeanspruch, der insbesondere auch für die Trennung und die Zeit nach der Scheidung gilt, bestimmt zwar ei-
1 OLG Brandenburg v. 22.4.2008 – 10 UF 226/07, FamRZ 2008, 1952. 2 BGBl., S. 3189; zum Verlauf der Unterhaltsrechtsreform Schwab, FamRZ 2007, 1053. 3 BT-Drucks. 16/1830 S. 18; Born, NJW 2008, 1 (6), der zu Recht darauf hinweist, dass diese Entwicklung bereits mit der Rspr. des BGH zur Befristung nach altem Recht eingeleitet wurde. Born, Anm. zu BGH v. 12.4.2006 – XII ZR 240/03, FamRZ 2006, 1006 = FamRB 2006, 263. 4 BVerfG v. 5.2.2002 – 1 BvR 105/95 u.a. FamRZ 2002, 527 m. Anm. Scholz, FamRZ 2002, 733 = FamRB 2002, 97.
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1201
Kap. 6 C Rn. 1202
Ehegattenunterhalt
nerseits in besonderer Weise die unterhaltsrechtlichen Beziehungen der Ehegatten, kann andererseits aber nicht die Lebensstandardgarantie im Sinne einer dauerhaften Teilhabe begründen. Der Gesetzgeber hält es daher nach der genannten Rechtsprechung des BVerfG nicht mehr für dogmatisch begründbar, an dem Prinzip der Lebensstandardgarantie noch länger festzuhalten. 1202
Die Beschränkung des Unterhaltsanspruchs, wie sie in § 1578b BGB zum Ausdruck kommt, begründet der Gesetzgeber mit dem Grundsatz der Eigenverantwortung, der ohnehin durch das UÄndG 2007 besonders gestärkt wurde. Grund für die nachehelichen Unterhaltsansprüche ist die sich aus Art. 6 GG ergebende fortwirkende Solidarität für den bedürftigen Partner, die es vor allem erforderlich macht, diejenigen nach der Scheidung entstehenden Nachteile auszugleichen, die durch eine besondere Verteilung der Aufgaben in der Ehe entstanden sind und die verhindern, dass der benachteiligte Ehepartner die Mittel für den eigenen Lebensunterhalt in ausreichender Form sicherstellen kann. Diese Erwägung liegt den Anspruchstatbeständen nach § 1570 BGB (Betreuungsunterhalt), § 1573 BGB (Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit und Aufstockungsunterhalt) und § 1575 BGB (Ausbildungsunterhalt) zugrunde. „Ehebedingte Nachteile“ dieser Art nehmen wegen der zunehmenden persönlichen und sozialen Verflechtung typischerweise mit der Dauer der Ehe zu, so dass im Einzelfall eine lebenslange Unterhaltspflicht gerechtfertigt sein kann. Je geringer diese Nachteile aber sind, desto eher ist nach dem Grundsatz der Eigenverantwortung eine Begrenzung des Unterhaltsanspruchs nach Gesichtspunkten der Billigkeit geboten1.
1203
Allerdings bleibt das Prinzip der fortwirkenden Verantwortung nicht darauf beschränkt, ehebedingte Nachteile auszugleichen. Die Bestimmung des § 1578b BGB beschränkt sich nicht auf den Ausgleich von Nachteilen, die dem unterhaltsberechtigten Ehepartner durch eine bestimmte Rollenverteilung während intakter Ehe in Form von Erwerbseinbußen entstehen, sondern erfasst auch eine darüber hinausgehende eheliche Solidarität, die einer vollständigen Herabsetzung auf den allgemeinen Lebensbedarf entgegenstehen kann. In diesem Zusammenhang gewinnt die Ehedauer durch eine wirtschaftliche Verflechtung an Gewicht, die vor allem mit der Aufgabe der Erwerbstätigkeit als Folge der Betreuung gemeinsamer Kinder oder damit eintritt, dass sich der berechtigte Ehegatte auf Aufgaben im ehegemeinsamen Haushalt beschränkt. Gesichtspunkte dieser nachehelichen Solidarität kommen vor allem in Fallgruppen zum Tragen, bei denen die vorbeschriebenen ehebedingten Nachteile zum Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrags nicht vorliegen. Daneben sind weitere Aspekte im Rahmen einer vom Tatrichter vorzunehmenden, umfassenden Billigkeitsabwägung zu berücksichtigen; die Entscheidung des
1 BT-Drucks. 16/1830, S. 18.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1206
Kap. 6 C
Gerichts hat alle wesentlichen Gründe aufzuführen, welche für die richterliche Überzeugung maßgeblich waren1. bb) Struktur des § 1578b BGB Nach § 1578b Abs. 1 S. 1 BGB ist ein Unterhaltsanspruch des geschiede- 1204 nen Ehegatten (nach §§ 1570 bis 1575 BGB) auf den angemessenen Lebensbedarf herabzusetzen, wenn die dauerhafte Bemessung dieses Unterhaltsanspruchs an den besseren ehelichen Lebensverhältnissen (§ 1578 BGB) unbillig wäre. Bei gleichen Tatbestandsvoraussetzungen ist nach § 1578 Abs 2 S. 1 BGB auch eine Befristung zulässig und Abs. 3 lässt die Kombination der beiden Begrenzungsinstrumente zu. Voraussetzung ist neben dem nachehelichen Unterhaltsanspruch die Prüfung, ob ein dauerhaft nach den ehelichen Lebensverhältnissen berechneter Unterhaltsanspruch unbillig ist, was der Tatrichter im Wege einer umfassenden Billigkeitsentscheidung zu prüfen hat. Dabei sind nach Abs. 1 S. 2 insbesondere ehebedingte Nachteile zu berücksichtigen. Woraus sich diese „vor allem“ ergeben können, beantwortet Abs 1 S. 3: aus der Dauer der Pflege oder Erziehung gemeinschaftlicher Kinder, aus der ehelichen Rollenverteilung oder aus der Dauer der Ehe. Die Billigkeitsabwägung des Tatrichters hat aber nicht nur diese Gesichtspunkte zu berücksichtigen, sondern weitere, was sich aus der Formulierung „vor allem“ ergibt2. Dem Wortlaut der Vorschrift kann nur der ehebedingte Nachteil als Vo- 1205 raussetzung des Tatbestandes entnommen werden. § 1578b BGB beschränkt sich allerdings nicht auf die Kompensation ehebedingter Nachteile; aus dem „insbesondere“ in § 1578b Abs 1 S. 2 BGB ist nach der Gesetzesbegründung zu entnehmen, dass auch Gesichtpunkte der nachehelich fortwirkenden Verantwortung zum Tragen kommen können3. Diesen Hinweis des Gesetzgebers hat der BGH aufgegriffen und als weitere Tatbestandsvoraussetzung Aspekte der nachehelichen Solidarität (Rn. 1203, 1229, 1243, 1248) gelten lassen, wenn sich ein ehebedingter Nachteil am Ende der Ehe nicht begründen lässt, weil der berechtigte Ehegatte vollschichtig erwerbstätig ist, gleichwohl aber während der Ehe durch eine bestimmte Rollenverteilung eine wirtschaftliche Verflechtung eingetreten ist. Dieser Gesichtspunkt kann gegen eine Herabsetzung oder zeitliche Begrenzung auf den eigenen angemessenen Lebensbedarf sprechen, vgl. Rn. 1248. cc) Voraussetzungen von § 1578b BGB Der Unterhaltsanspruch ist zu begrenzen, wenn eine an den ehelichen Lebensverhältnissen orientierte Bemessung unbillig wäre. Dabei sind die 1 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 202/08, FamRZ 2010, 1971 Tz. 29–34 = FamRB 2011, 3. 2 Zur Struktur der Vorschrift Borth, FamRZ 2011, 153 ff. 3 BT-Drucks. 176/1830, S. 19.
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1206
Kap. 6 C Rn. 1207
Ehegattenunterhalt
Belange eines dem Berechtigten zur Pflege oder Erziehung anvertrauten gemeinschaftlichen Kindes zu wahren. Für die Begrenzung stehen dem Tatrichter zwei Instrumente zur Verfügung: Nach Abs. 1 kann der nacheheliche Unterhalt hinsichtlich des Maßes verändert werden, indem er von der Stufe der ehelichen Lebensverhältnisse auf den angemessenen Lebensbedarf herabgesetzt wird; oder der nacheheliche Unterhalt wird auf eine bestimmte Zeit befristet und reduziert sich danach auf Null. (1) An den ehelichen Lebensverhältnissen orientierte Bemessung 1207
Voraussetzung ist ein nachehelicher Unterhaltsanspruch, dessen Höhe sich nach den ehelichen Lebensverhältnissen gem. § 1578 BGB richtet. Das Gesetz wählt allerdings eine schwächere Formulierung: Es genügt, dass die Berechnung des Unterhalts an den ehelichen Lebensverhältnissen orientiert ist. Entscheidend ist, ob sich das Maß des konkreten Unterhaltsanspruchs auf den Maßstab der ehelichen Lebensverhältnisse zurückführen lässt. Das ist beispielsweise dann nicht mehr der Fall, wenn die Ehepartner eine vertragliche Regelung über den nachehelichen Unterhalt getroffen haben, dessen Höhe sich nach anderen Kriterien als den ehelichen Lebensverhältnissen, etwa dem Gehalt eines Bundesrichters, richten soll. In solchen Fällen besteht auch keine Notwendigkeit, den Unterhaltsanspruch herabzusetzen oder zu befristen. (2) Belange eines dem Berechtigten anvertrauten gemeinschaftlichen Kindes (Kinderschutzklausel)
1208
Die Vorschrift enthält eine Kinderschutzklausel, die wortgleich dem Eingangssatz von § 1579 BGB entnommen wurde. Der Zweck dieser Klausel lässt sich nicht ohne weiteres der Gesetzesbegründung entnehmen. Dort heißt es lapidar, eine über die immanente Begrenzung des § 1570 BGB hinausgehende Beschränkung des Anspruchs auf Betreuungsunterhalt komme nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht1. Es geht also nicht darum, ein über die Grenzen des § 1570 BGB hinausgehendes, zusätzliches Begrenzungsinstrument zu schaffen. Die Klausel soll davor schützen, den Betreuungsunterhalt so weit abzusenken, dass zwischen dem Lebensstandard des kinderbetreuenden Ehegatten und demjenigen der Kinder ein „erheblicher Niveauunterschied“ besteht2.
1209
Die Kinderschutzklausel greift nur ein, wenn es sich um ein gemeinschaftliches Kind der Ehegatten handelt, welches dem Berechtigten zur Pflege oder Erziehung anvertraut ist. Das ist dann der Fall, wenn eine gerichtliche oder einvernehmliche Sorgerechtsregelung erfolgt ist. Entsprechendes gilt bei fortbestehender gemeinsamer elterlicher Sorge, wenn die 1 BT-Drucks. 16/1830, S. 19; anders BGH v. 6.5.2009 – XII ZR 114/08, FamRZ 2009, 1124 (1128) m. Anm. Borth = FamRB 2009, 236. 2 BT-Drucks. 16/1830, S. 19; KG v. 25.4.2008 – 18 UF 160/07, FamRZ 2008, 1942 (1944).
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1212
Kap. 6 C
Ehegatten einvernehmlich festlegen, dass sich das Kind bei einem Elternteil überwiegend oder ganz aufhält (§ 1687 Abs. 1 S. 2 BGB), und von diesem die Betreuungs- und Erziehungsaufgaben allein oder überwiegend übernommen werden. Gleiches gilt grundsätzlich auch im Wechselmodell1. Es ist nicht erforderlich, dass das zur Betreuung anvertraute Kind minderjährig ist, auch volljährige Kinder werden von der Kinderschutzklausel erfasst, etwa im Fall der Behinderung. (3) Der ehebedingte Nachteil Der nacheheliche Unterhaltsanspruch ist herabzusetzen oder zu befris- 1210 ten, wenn ein zeitlich unbegrenzter Unterhaltsanspruch auch unter Wahrung der Belange eines dem Berechtigten zur Pflege oder Erziehung anvertrauten gemeinschaftlichen Kindes unbillig wäre. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, inwieweit durch die Ehe Nachteile im Hinblick auf die Möglichkeit eingetreten sind, für den eigenen Unterhalt zu sorgen. Solche Nachteile können sich vor allem aus der Dauer der Pflege oder Erziehung eines gemeinsamen Kindes, aus der Gestaltung von Haushaltsführung und Erwerbstätigkeit während der Ehe sowie aus der Dauer der Ehe selbst ergeben (§ 1578b Abs. 2 S. 2, Abs. 1 BGB). Nach der Rechtsprechung des BGH ist vorrangig, dh., vor weiteren Ge- 1211 sichtspunkten zu prüfen, ob ehebedingte Nachteile eingetreten sind, die, wenn sie vorliegen, regelmäßig einer Begrenzung oder Befristung des nachehelichen Unterhalts entgegenstehen, weil der Unterhaltsberechtigte in diesem Fall seinen eigenen angemessenen Unterhalt selbst nicht decken kann2. Diese Neuregelung gilt auch für Altfälle (§ 36 Nr. 1 EGZPO); die Unabänderbarkeit ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme3. Obwohl die Norm sehr unbestimmt gefasst ist, hält sie einer verfassungsmäßigen Überprüfung stand4. Der ehebedingte Nachteil besteht idR darin, dass der unterhaltsberechtig- 1212 te Ehegatte nachehelich nicht diejenigen Einkünfte erzielt, welcher er ohne die Ehe und die Kinderbetreuung erzielen würde5. Er wird ermittelt, indem die Lage, wie sie sich ohne Eheschließung und die gewählte Rollenverteilung ergeben hätte, und die tatsächlich bestehende Lage gegenübergestellt werden6. Solche Nachteile können durch andere mit der Ehe verbundene Vorteile – auch nach der Ehescheidung – kompensiert worden sein, etwa durch Vermögenszuwendungen oder Zahlung auf einen Anspruch auf Altersvorsorgeunterhalt7. Dabei hat der Tatrichter Fest1 Borth, UÄndG Rn. 139. 2 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 202/08, FamRZ 2010, 1971 Tz. 19 = FamRB 2011, 3; BGH v. 8.6.2011 – XII ZR 17/09, FamRZ 2011, 1381 Tz. 26. 3 BGH v. 30.6.2010 – XII ZR 7/09, FamRZ 2010, 1414. 4 BGH v. 7.7.2010 – XII ZR 157/08, FamRZ 2011, 188 Tz. 15. 5 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 202/08, FamRZ 2010, 1971 Tz. 19 = FamRB 2011, 3. 6 BGH v. 8.6.2011 – XII ZR 17/09, FamRZ 2011, 1381 Tz. 33. 7 BGH v. 8.6.2011 – XII ZR 17/09, FamRZ 2011 1381 Tz. 33 = FamRB 2011, 268.
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777
Kap. 6 C Rn. 1213
Ehegattenunterhalt
stellungen zum angemessenen Lebensbedarf des Unterhaltsberechtigten (§ 1578b Abs. 1 S. 1 BGB) und zu demjenigen Einkommen zu treffen, welches der Unterhaltsberechtigte tatsächlich erzielt, bzw. gem. §§ 1574, 1577 BGB erzielen könnte. Die Differenz aus diesen beiden Positionen ergibt den ehebedingten Nachteil1. 1213
Das in § 1578b Abs. 1 S. 2 BGB genannte Tatbestandsmerkmal „durch die Ehe“ ist durchaus kausal zu verstehen. Der Nachteil muss ganz überwiegend bzw. im Wesentlichen auf die Rollenverteilung oder Pflege und Erziehung gemeinschaftlicher Kinder während der Ehe zurückzuführen sein2. Ein eindeutig vor der Ehe liegender beruflicher Wechsel stellt keinen ehebedingten Nachteil dar, wenn er durch das voreheliche Zusammenleben der Parteien veranlasst worden ist3. Hatte die Ehefrau 1 1/2 Jahre vor der Eheschließung ihr Dienstverhältnis als Beamtin der Finanzverwaltung im gehobenen Dienst aufgegeben, liegt kein ehebedingter Nachteil vor, auch wenn der Entschluss der Ehefrau im unmittelbaren Zusammenhang mit der Beziehung der Parteien stand4. Auch eine vor oder in der Ehe abgebrochene Berufsausbildung, die nicht im Zusammenhang mit der Rollenverteilung in der Ehe oder der Kindesbetreuung steht, kann keinen ehebedingten Nachteil begründen5.
1214
Versorgungsnachteile, die aus einer ehebedingten Unterbrechung der Erwerbstätigkeit während der Ehe resultieren, stellen regelmäßig keinen ehebedingten Nachteil i.S. von § 1578b BGB dar, weil der Ausgleich unterschiedlicher Vorsorgebeiträge vornehmlich die Aufgabe des Versorgungsausgleichs ist, der die Interessen des unterhaltsberechtigten Ehegatten ausreichend wahrt6. Die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit während der Ehe rechtfertigt nicht die Annahme eines ehebedingten Nachteils auch dann, wenn im Versorgungsausgleich geringere Anwartschaften übertragen werden als diejenigen, die der Unterhaltsberechtigte Ehegatte ohne die Ehe oder Kinderbetreuung hätte erzielen können. Der Nachteil in der Versorgungsbilanz ist von beiden Ehegatten in gleichem Umfang zu tragen, vorausgesetzt, dass der Versorgungsausgleich für die gesamte Ehezeit durchgeführt worden ist7.
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BGH v. 20.10.2010 – XII ZR 53/09, FamRZ 2010, 2059 Tz. 23 = FamRB 2011, 2. BT-Drucks. 16/1830, S. 19; Schürmann, FuR 2008, 183 (185). BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 202/08, FamRZ 2010, 1971 Tz. 25 = FamRB 2011, 3. OLG Frankfurt v. 26.1.2009 – 2 UF 253/08, FamRZ 2009, 1162; Langheim, FamRZ 2010, 410. 5 BGH v. 24.3.2010 – XII ZR 175/08, FamRZ 2010, 875 Tz. 29 = FamRB 2010, 201. 6 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 202/08, FamRZ 2010, 1971 Tz. 27 = FamRB 2011, 3; BGH v. 25.6.2008 – XII ZR 109/07, FamRZ 2008, 1508 Tz. 25 = FamRB 2008, 295; BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 107/06, FamRZ 2008, 1325 Tz. 42 = FamRB 2008, 230. 7 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 202/08, FamRZ 2010, 1971 Tz. 27 = FamRB 2011, 3.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1217
Kap. 6 C
Beispiel: M. erzielt während der Ehe Einkommen aus nichtselbständiger Tätigkeit als Angestellter in einem Unternehmen; F. gibt nach der Eheschließung ihre Karriere als Rechtsanwältin auf, um die beiden ehegemeinsamen Kinder zu betreuen. Im Versorgungsausgleich bei der Scheidung würde F. geringere Anwartschaften erhalten als sie erzielt hätte, wenn sie ihre Tätigkeit als Rechtsanwältin fortgesetzt hätte. In diesem Fall hätte sie höhere Anwartschaften im Versorgungswerk der Rechtsanwälte erworben. Dieser Nachteil, der in geringeren Anwartschaften besteht, ist nicht auszugleichen, weil beide Ehegatten den Nachteil in der Versorgungsbilanz in gleichem Umfang zu tragen haben, vorausgesetzt, dass M. während der gesamten Ehezeit Rentenanwartschaften erworben hat. Ist dies nicht der Fall, kann ein ehebedingter Nachteil vorliegen, vgl. folgende Randziffern.
Ausnahmsweise können Versorgungsnachteile durch ehebedingte Er- 1215 werbsunterbrechungen während der Ehe einen ehebedingten Nachteil begründen, wenn sie in der Versorgungsbilanz des Unterhaltsberechtigten nicht oder nicht teilweise ausgeglichen worden sind. Das ist der Fall, wenn der unterhaltspflichtige Ehegatte schon während der Ehezeit als Rentner keine weiteren Anwartschaften erworben hat, die im Rahmen des Versorgungsausgleichs ausgeglichen werden könnten1. Das Gleiche gilt, wenn der Unterhaltspflichtige in Erwartung einer großen Erbschaft seine Erwerbstätigkeit aufgegeben hat und daher nur für einen geringen Teil der Ehezeit Rentenanwartschaften erworben hat2. Einen weiteren Ausnahmefall hat der BGH angenommen, wenn beim Krankheitsunterhalt nach § 1572 BGB die Voraussetzungen für eine Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht erfüllt sind3. Ob der andere Ehepartner mit der Aufgabe des Arbeitsplatzes und der damit einhergehenden Erwerbsminderung einverstanden war oder nicht, spielt keine Rolle4. Maßgebend kann auch eine gelebte Aufgabenverteilung sein, wenn im Einzelnen nicht mehr feststellbar ist, ob die unterhaltsberechtigte Ehefrau die Erwerbstätigkeit vor der Geburt des gemeinsamen Kindes aus eigenen Stücken aufgegeben hat oder ob es dem Wunsch des Ehemannes entsprach, dass die Ehefrau den Haushalt versorgt und das gemeinsame Kind betreut5.
1216
Eine ehebedingt abgebrochene Berufsausbildung stellt einen ehebedingten Nachteil dar, auch dann, wenn ein Anspruch des Unterhaltsberechtigten auf Ausbildungsunterhalt gem. § 1575 BGB nicht besteht oder nicht geltend gemacht worden ist. Denn auch dann, wenn die Voraussetzungen eines solchen Anspruchs nicht gegeben sind, kann die Rollenver-
1217
1 BGH v. 4.8.2010 – XII ZR 7/09, FamRZ 2010, 1633 Tz. 25 m. Anm. Borth = FamRB 2010, 330. 2 BGH v. 4.8.2010 – XII ZR 7/09, FamRZ 2010, 1633 Tz. 25 m. Anm. Borth. 3 BGH v. 2.3.2011 – XII ZR 44/09, FamRZ 2011, 713 Tz. 20. 4 BGH v. 16.2.2011 – XII ZR 108/09, FamRZ 2011, 628 Tz. 19, 20. 5 OLG Karlsruhe v. 24.1.2008 – 16 UF 223/06, FamRZ 2008, 1187; Ehinger, FamRB 2008, 212 (216).
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Kap. 6 C Rn. 1218
Ehegattenunterhalt
teilung in der Ehe und die Kinderbetreuung Grund für eine Berufsaufgabe sein, die dann einen ehebedingten Nachteil darstellt1. 1218
Ist der Unterhaltsberechtigte in der Lage, eine vollzeitige Erwerbstätigkeit in dem von ihm erlernten oder vor der Ehe ausgeübten Beruf auszuüben, hat er Umstände vorzutragen, dass dennoch ein Nachteil verblieben ist2. Das Gleiche gilt, wenn der Unterhaltsberechtigte vor der Ehe keine Berufsausbildung abgeschlossen hat im Hinblick auf eine von ihm zu verlangende – auch unqualifizierte – Erwerbstätigkeit3.
1219
Eine Krankheit des Unterhaltsberechtigten ist regelmäßig kein ehebedingter Nachteil, weil sie allenfalls in Ausnahmefällen auf die Rollenverteilung in der Ehe oder sonstigen mit der Ehe zusammenhängenden Tatsachen zurückzuführen ist (Rn. 1245 ff.). Allerdings kann sich ein ehebedingter Nachteil daraus ergeben, dass der Unterhaltsberechtigte in Folge der Rollenverteilung in der Ehe nicht ausreichend für eine krankheitsbedingte Erwerbsminderung vorgesorgt hat und daher seine Erwerbsunfähigkeitsrente in Folge der Ehe- und Kindererziehung geringer ist, als sie ohne die Ehe wäre oder die Voraussetzungen für eine solche Erwerbsminderung während der Ehe nicht erfüllt wurden4. Nach § 43 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze nur dann Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit bezahlt haben. Der Zeitraum von 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich nach § 43 Abs. 4 SGB VI nur durch besondere Anrechnungs- und Berücksichtungszeiten. Hat der unterhaltsberechtigte Ehegatte wegen der Kindererziehung und Haushaltstätigkeit in der relevanten Zeit nicht genügend Pflichtbeiträge bezahlt, sind die Voraussetzungen für eine Erwerbsunfähigkeitsrente für eine sich anschließende Erwerbsunfähigkeit nicht gegeben. Diese Lücke wird durch den Versorgungsausgleich nicht geschlossen, so dass in solchen Fällen ein ehebedingter Nachteil vorliegt5. Darauf, ob der andere Ehegatte mit der Kinderbetreuung und Haushaltsführung während der Ehe einverstanden war oder nicht, kommt es nicht an6.
1220
Arbeitet der Unterhaltsberechtigte zum Zeitpunkt der Scheidung in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis auf seinem erlernten oder vorehelich ausgeübten Beruf, liegt kein ehebedingter Nachteil darin, wenn der 1 BGH v. 24.3.2010 – XII ZR 175/08, FamRZ 2010, 875, Tz. 17. 2 BGH v. 14.10.2009 – XII ZR 146/08, FamRZ 2009, 1990 Tz. 18 = FamRB 2010, 2 und FamRB 2010, 9; BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 107/06, FamRZ 2008, 1325 Tz. 41. 3 BGH v. 24.3.2010 – XII ZR 175/08, FamRZ 2010, 875 Tz. 27. 4 BGH v. 2.3.2011 – XII ZR 44/09, FamRZ 2011, 713 Tz. 20; BGH v. 28.4.2010 – XII ZR 141/08, FamRZ 2010, 1057 Tz. 15, 16. 5 BGH v. 2.3.2011 – XII ZR 44/09, FamRZ 2011, 713 Tz. 20. 6 BGH v. 16.2.2011 – XII ZR 108/09, FamRZ 2011, 628 Tz. 19, 20.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1223
Kap. 6 C
Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis 7 Jahre nach der rechtskräftigen Scheidung aus betriebsbedingten Gründen kündigt und der Unterhaltsberechtigte im Anschluss daran darauf angewiesen ist, in befristeten Arbeitsverhältnissen tätig zu sein. Denn der unterhaltsberechtigte Ehegatte wäre dem Risiko einer betriebsbedingten, arbeitgeberseitigen Kündigung auch ohne Ehe und Rollenverteilung ausgesetzt gewesen1. Hat der unterhaltsberechtige Ehegatte ehebedingt einen beruflichen Auf- 1221 stieg verpasst oder wäre ohne die ehebedingte Verzögerung der Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit eine bessere Aufstiegschance für eine höhere vergütete berufliche Tätigkeit möglich gewesen, kann darin ein ehebedingter Nachteil liegen. In einem solchen Fall muss der Unterhaltsberechtigte darlegen, aufgrund welcher Umstände er eine entsprechende Karriere gemacht hätte. Als solche Umstände kommen in Frage die Fortbildungsbereitschaft, bestimmte Befähigungen, Neigungen, Talente usw. Diese Umstände sind konkret darzulegen; allein eine theoretische Chance für einen Aufstieg reicht nicht aus, um einen ehebedingten Nachteil zu begründen2. Ein ehebedingter Nachteil liegt nicht vor, wenn der Ehegatte infolge der 1222 Eheschließung einen Unterhaltsanspruch verliert, der ihm aus einer früheren – geschiedenen – Ehe zustand. Dieser Nachteil entsteht nicht durch die Rollenverteilung, insbesondere durch die Betreuung von Kindern in der Ehe, sondern mit dem Akt der Eheschließung selbst. Der Unterhaltsanspruch aus erster Ehe fällt weg, weil es sich dabei um eine zwingend vom Gesetzgeber angeordnete Rechtsfolge handelt, § 1586 Abs. 1 BGB3. (4) Die Höhe des ehebedingten Nachteils: Die Höhe des ehebedingten Nachteils ergibt sich aus dem Vergleich von 1223 zwei Positionen, der beruflichen Entwicklung des unterhaltsberechtigten Ehegatten ohne Ehe und Kinderbetreuung einerseits (angemessener Lebensbedarf) und der tatsächlichen Einkommenssituation andererseits. Stehen die ehebedingten Nachteile fest, ist es nicht erforderlich, exakt das hypothetisch erzielte Einkommen des Unterhaltsberechtigten festzustellen. Die Tatsachengerichte können sich insoweit bei einer geeigneten Grundlage der Schätzung nach § 287 ZPO bedienen. Dann genügt es, das ungefähre Ausmaß der Einbuße festzustellen4. Allerdings muss das Gericht die tatsächlichen Grundlagen der Schätzung und ihre Aus1 BGH v. 20.10.2010 – XII ZR 53/09, FamRZ 2010, 2059 Tz. 29, 30 = FamRB 2011, 2. 2 BGH v. 20.10.2010 – XII ZR 53/09, FamRZ 2010, 2059 Tz. 33 = FamRB 2011, 2; OLG Saarbrücken v. 22.10.2009 – 6 UF 13/09, FamRZ 2010, 652; OLG Köln v. 13.1.2009 – 4 UF 54/08, FamRZ 2010, 649; Born, FPR 2009, 545. 3 BGH v. 23.11.2011 – XII ZR 47/10, FamRZ 2012, 197 Tz. 23 ff. = FamRB 2012, 35. 4 BGH v. 4.8.2010 – XII ZR 7/09, FamRZ 2010, 1633 Tz. 39.
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Kap. 6 C Rn. 1224
Ehegattenunterhalt
wertung in objektiv nachprüfbarer Weise angeben1. Besteht der ehebedingte Nachteil in einer für den unterhaltsberechtigten Ehegatten ungünstigen Versorgungsbilanz, ist er der Höhe nach begrenzt. Die Kappungsgrenze ergibt sich aus den zusätzlich übertragbaren Rentenanwartschaften bei einer gedachten unverändert fortgesetzten Erwerbstätigkeit des Unterhaltspflichtigen2. (5) Der Ersatzmaßstab des „angemessenen Lebensbedarfs“ 1224
Als Rechtsfolge sieht § 1578b Abs. 1 S. 1 BGB die Herabsetzung auf den angemessenen Lebensbedarf vor. Dieser bemisst sich nach dem Einkommen, welches der unterhaltsberechtigte Ehegatte ohne die Ehe und Kindererziehung aus eigenen Einkünften zur Verfügung hätte3. Der ehebedingte Nachteil ergibt sich aus der Differenz zwischen diesem angemessenen Lebensbedarf und dem tatsächlich erzielten oder erzielbaren Einkommen des Unterhaltsberechtigten. Hat er eigene Einkünfte, ergibt sich der angemessene Lebensbedarf daraus, was er ohne die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit erzielt hätte4. Dabei ist auf die konkrete Lebenssituation des Unterhaltsberechtigten abzustellen5.
1225
Ist der Unterhaltsberechtigte bereits Rentner, wird auf das Renteneinkommen abgestellt; dabei ist von der tatsächlichen Rente nach dem durchgeführten Versorgungsausgleich auszugehen6.
1226
Beim Krankheitsunterhalt wird auf das Einkommen abgestellt, welches der kranke Unterhaltsberechtigte zur Verfügung hätte ohne die Ehe und ohne die Kindererziehung. Denn ist er auch ohne die Ehe zu einer Erwerbstätigkeit nicht in der Lage, kann nicht auf ein fiktives Einkommen abgestellt werden, das ein gesunder Unterhaltsberechtigter erzielen könne. Ist die Krankheit nicht ehebedingt, bemisst sich der angemessene Lebensbedarf bei einer vollständigen Erwerbsunfähigkeit aus der Höhe der Erwerbsunfähigkeitsrente, wobei von der tatsächlichen Rente nach Durchführung des Versorgungsausgleichs auszugehen ist. Ist der Unterhaltsberechtigte noch teilweise erwerbsfähig, kann daneben auf Erwerbseinbußen als ehebedingter Nachteil abgestellt werden7. Angemessen bedeutet, dass der Unterhaltsbedarf mindestens das Existenzminimum des Unter-
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BGH v. 20.10.2010 – XII ZR 53/09, FamRZ 2010, 2059 Tz. 33 = FamRB 2011, 2. BGH v. 8.6.2011 – XII ZR 17/09, FamRZ 2011, 1381 Tz. 34. BGH v. 17.2.2010 – XII ZR 140/08, FamRZ 2010, 629 Tz. 28. BGH v. 14.10.2009 – XII ZR 146/08, FamRZ 2009, 1990 Tz. 14 f. = FamRB 2010, 2 = FamRB 2010, 9. 5 BGH v. 4.8.2010 – XII ZR 7/09, FamRZ 2010, 1633 m. Anm. Borth Tz. 32 = FamRB 2010, 33.. 6 BGH v. 17.2.2010 – XII ZR 140/08, FamRZ 2010, 629 Tz. 29 = FamRB 2010, 134. 7 BGH v. 17.2.2010 – XII ZR 140/08, FamRZ 2010, 629 Tz. 29 = FamRB 2010, 134.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1228
Kap. 6 C
haltsberechtigten wahren muss, somit derzeit mindestens 770,00 Euro monatlich1. Erzielt der Unterhaltsberechtigte eigene Einkünfte, die den angemesse- 1227 nen Lebensbedarf (Rn. 1224) erreichen, oder könnte er solche Einkünfte erzielen, liegt somit ein ehebedingter Nachteil nicht vor, kann dies nach einer Übergangszeit zum vollständigen Wegfall des nachehelichen Unterhalts in Form einer Befristung führen. Die Übergangszeit ist danach zu bemessen, wie lange der Ehegatte braucht, um sich nach gescheiterter Ehe von den ehelichen Lebensverhältnissen auf den Lebensbedarf nach eigenen Einkünften umzustellen2. Erzielt der Unterhaltsberechtigte dagegen Einkünfte, die den angemessenen Lebensbedarf nicht erreichen, liegt damit ein ehebedingter Nachteil vor und eine Befristung des Unterhaltsanspruchs nach § 1578b Abs. 2 BGB scheidet damit regelmäßig aus. Allerdings kann auch dann der Unterhaltsanspruch nach einer Übergangzeit bis auf die Differenz zwischen dem angemessenen Unterhaltsbedarf und dem erzielten oder erzielbaren Einkommen herabgesetzt werden3. Je nach Fallkonstellation ist auch eine teilweise Herabsetzung möglich4. Beispiel: M. erzielt nach der Scheidung ein monatliches Einkommen von 3500 Euro netto (berufsbedingte Aufwendungen und Erwerbstätigenbonus sind bereits, auch beim Einkommen der F, berücksichtigt). F. erzielt in Folge einer ehebedingten Erwerbseinbuße ein Einkommen von 800 Euro netto monatlich; würde sie jedoch in ihrem vor der Ehe erlernten Beruf arbeiten, könnte sie 1200 Euro monatlich netto erzielen. Der Unterhaltsanspruch nach den ehelichen Lebensverhältnissen berechnet sich mit 3500 Euro – 800 Euro : 2 = 1350 Euro. Setzt das Familiengericht diesen Unterhaltsanspruch (nach den ehelichen Lebensverhältnissen) nach einer Übergangszeit, deren zeitliche Dauer im Ermessen des Tatrichters liegt, auf den angemessenen Lebensbedarf i.S. von § 1578b Abs. 1 S. 1 BGB herab, ergibt sich ein Unterhaltsanspruch in Höhe des ehebedingten Nachteils: 1200 Euro – 800 Euro = Der ehebedingte Nachteil beträgt – in Geld ausgedrückt – 400 Euro.
Ob eine Herabsetzung des Bedarfs von den ehelichen Lebensverhältnissen 1228 auf den angemessenen Lebensbedarf in Betracht kommt, ist im Wege einer umfassenden Billigkeitsabwägung zu bestimmen5. Dabei ist der Grundsatz der nachehelichen Solidarität zu beachten; denn § 1578b BGB beschränkt sich nicht darauf, ehebedingte Nachteile zu kompensieren. Bei dieser Billigkeitsabwägung sind „neben weiteren relevanten Umständen im Einzelfall die Dauer der Pflege oder Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes, die Gestaltung von Haushaltsführung und Erwerbstätig-
1 BGH v. 14.10.2009 – XII ZR 146/08, FamRZ 2009, 1990 Tz. 14 = FamRB 2010, 2 und FamRB 2010, 9; BGH 14.2.2010 – XII ZR 140/08, FamRZ 2010, 629 Tz. 28, 33. 2 BGH v. 12.4.2006 – XII ZR 240/03, FamRZ 2006, 1006. 3 BGH v. 14.10.2009 – XII ZR 146/08, FamRZ 2009, 1990 Tz. 16 = FamRB 2010, 2 und FamRB 2010, 9. 4 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 202/08, FamRZ 2010, 1971 Tz. 35. 5 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 202/08, FamRZ 2010, 1971 Tz. 21.
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Kap. 6 C Rn. 1229
Ehegattenunterhalt
keit während der Ehe sowie die Dauer der Ehe zu berücksichtigen1. Dabei ist die Dauer der Ehe dann kein entscheidendes Kriterium, wenn beide Ehegatten vollschichtig während der Ehe berufstätig waren und die Differenz ihrer Einkommen lediglich auf einem unterschiedlichen Qualifikationsniveau beruht, welches bereits zu Beginn der Ehe vorlag2. Durch eine wirtschaftliche Verflechtung gewinnt jedoch die Ehedauer an Gewicht. Dieser Gesichtspunkt kann in solchen Fällen, in denen keine ehebedingten Nachteile vorliegen, aus Billigkeitsgründen gegen eine Herabsetzung oder zeitliche Begrenzung des nachehelichen Unterhalts auf den eigenen angemessenen Lebensbedarf sprechen3. (6) Die umfassende Billigkeitsabwägung 1229
Die Vorschrift des § 1578b BGB beschränkt sich nicht auf die Kompensation ehebedingter Nachteile, sondern erfasst auch eine darüber hinausgehende nacheheliche Solidarität (Rn. 1203, 1205, 1243, 1248), die einer vollständigen Herabsetzung des Lebensniveaus des Unterhaltsberechtigten auf den eigenen angemessenen Lebensbedarf entgegenstehen kann. Dies ist im Wege einer umfassenden Billigkeitsentscheidung zu prüfen. Die in diesem Rahmen heranzuziehenden Kriterien und die Billigkeitsabwägung selbst ist Aufgabe des Tatrichters, der im Beschluss alle wesentlichen Gründe aufzuführen hat, die für seine Überzeugung leitend gewesen waren4.
1230
Die Dauer der Ehe gewinnt durch eine wirtschaftliche Verflechtung an Gewicht, die insbesondere durch die Aufgabe der eigenen Erwerbstätigkeit wegen der Betreuung gemeinsamer Kinder oder der Haushaltsführung eintritt. Maßgebend für die Ehedauer ist die Zeit zwischen der Eheschließung bis zur Zustellung des Scheidungsantrags5. Neben dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Verflechtung sind weitere relevante Umstände abzuwägen. Maßgebend kann sein, dass die eigene angemessene Lebensstellung des Unterhaltsberechtigten nur wenig über dem Mindestbedarf liegt, die Altersversorgung nur sehr begrenzt ist, obwohl der Versorgungsausgleich für die gesamte Ehezeit vollständig durchgeführt wurde, sowie ein geringer Zugewinnausgleich, der keine ausreichende Grundlage für eine dauerhafte Altersvorsorge darstellt6. Mit in die Billigkeitsabwägung kann einfließen die Dauer von Unterhaltsleistungen und ein damit geschaffener Vertrauenstatbestand, wenn der Unterhaltsberechtigte im Hinblick darauf Dispositionen getroffen hat7. Als weiterer Aspekt kommt eine nachehelich sich entwickelnde, zunehmende Ent1 2 3 4 5 6 7
BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 202/08, FamRZ 2010, 1971 Tz. 21. BGH v. 26.9.2007 – XII ZR 11/05, FamRZ 2007, 2049 Tz. 20 ff. BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, FamRZ 2010, 1637 Tz. 48. BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, FamRZ 2010, 1637 Tz. 42. BGH v. 17.2.2010 – XII ZR 140/08, FamRZ 2010, 629 Tz. 36. BGH v. 6.10.2011 – XII ZR 202/08, FamRZ 2010, 1971 Tz. 34. BGH v. 8.6.2011 – XII ZR 17/09, FamRZ 2011, 1381 Tz. 37.
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Rn. 1232
Kap. 6 C
flechtung der wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse der geschiedenen Ehegatten in Betracht, die um so gewichtiger sind, je weiter die Scheidung zurückliegt und dem entsprechend das Maß der geschuldeten Solidarität begrenzt. In diesem Zusammenhang kann es von Bedeutung sein, ob – ggf. wie lange – der Unterhaltsberechtigte eine Beziehung zu einem anderen Partner unterhält1. c) Abänderungsfragen Ein Abänderungsantrag kann nicht auf Gründe gestützt werden, die vor 1231 dem Schluss der Tatsachenverhandlung entstanden waren, in welcher die Einwendungen spätestens hätten geltend gemacht werden müssen (Kap. 12 Rn. 473 ff.). Lagen also zum Zeitpunkt der Erstentscheidung die Umstände vor, welche eine Befristung oder Herabsetzung des Unterhalts hätten begründen können, müssen sie schon im Ausgangsverfahren vorgetragen werden. Ist dies versäumt worden, ist der Abänderungsantrag mit dem Ziel, eine Begrenzung (Befristung und/oder Herabsetzung) des nachehelichen Unterhalts zu erreichen, bei gleich gebliebenen Verhältnissen unzulässig2. Die Gründe, die zu einer Befristung oder Herabsetzung des Unterhalts führen können, müssen auch dann im Erstverfahren vorgetragen werden, wenn sie zuverlässig voraussehbar sind. Zuverlässig voraussehbar sind solche Umstände, die – wie beispielsweise das Alter von Kindern – vom bloßen Zeitablauf abhängen. Ob die für eine Begrenzung ausschlaggebenden Umstände bereits im Ausgangsverfahren zuverlässig voraussehbar sind, lässt sich nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls beantworten; der Tatrichter hat eine Prognose zu treffen, von welchem Zeitpunkt an sich der Unterhaltsberechtigte auf die geänderten Umstände – Befristung des Anspruchs und/oder Herabsetzung – einstellen kann3. Das ist dann der Fall, wenn der berechtigte Ehegatte weder eine Vollzeitnoch eine Festanstellung hat und nicht abzusehen ist, wann er eine solche erhalten wird oder die Vollzeitstelle erst ein halbes Jahr ausgeübt wird und sich der Berechtigte noch in der Probezeit befindet4. Betreut der Unterhaltsberechtigte ein gemeinsames Kind aus der Ehe mit dem Verpflichteten, wird es oft nicht möglich sein, eine sichere Prognose abzugeben, wann der Zeitpunkt eintreten wird, in welchem die Betreuung des Kindes endet, bzw. ab welchem Zeitpunkt eine vollständige Drittbetreu-
1 BGH v. 8.6.2011 – XII ZR 17/09, FamRZ 2011, 1381 Tz. 36, 39. 2 BGH v. 9.6.2004 – XII ZR 308/01, FamRZ 2004, 1357; BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 237/05, FamRZ 2007, 793 (799); BGH v. 14.11.2007 – XII ZR 16/07, FamRZ 2008, 134. 3 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793; BGH v. 14.11.2007 – XII ZR 16/07, FamRZ 2008, 134 (137) noch unter der Geltung der §§ 1573 Abs. 5, 1578 Abs. 1 S. 2 aF BGB. 4 OLG Hamm v. 21.9.2007 – 11 UF 24/07, FamRZ 2008, 1184 m. Anm. Born.
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Kap. 6 C Rn. 1233
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ung möglich ist1 und ob – und insbesondere in welchem Umfang – dem Berechtigten infolge der Betreuung noch ehebedingte Nachteile entstehen können2. Sind die eine Befristung oder Herabsetzung rechtfertigenden Gründe im Ausgangsverfahren zuverlässig voraussehbar, wurden sie aber nicht vorgetragen, kann hierauf ein Abänderungsantrag nicht mehr gestützt werden. Sind umgekehrt diese Gründe im Erstverfahren nicht zuverlässig prognostizierbar, ist der Antragsteller mit diesen Umständen in einem späteren Abänderungsverfahren nicht präkludiert (vgl. Praxistipp Kap. 12 Rn. 498). 1233
Grundsätzlich stellt eine wesentliche Veränderung der rechtlichen Verhältnisse einen Abänderungsgrund nach § 238 Abs. 1 S. 2 FamFG dar (Kap. 12 Rn. 489). Nach der Rechtsprechung des BGH bedeutet die zum 1.1.2008 in Kraft getretene Neufassung von § 1578b BGB keine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse; das hat zur Folge, dass hierauf ein Abänderungsantrag nicht gestützt werden kann. Denn die Vorschrift des § 1578b BGB sei keine Veränderung, sondern lediglich eine gesetzliche Klarstellung der bereits seit dem Urteil v. 12.4.2006 bekannten Rechtsprechung3, wonach es bei der Billigkeitsabwägung im Rahmen der Befristung und Begrenzung nicht mehr vorrangig auf die Dauer der Ehe ankomme, sondern auf ehebedingten Nachteile, die dem Unterhaltsberechtigten am Ende der Ehe entstanden sind. Die Konsequenz dieser Rechtsprechung ist, dass bei allen rechtskräftigen Urteilen, die nach der Änderung der Rechtsprechung im April 2006, aber vor der Unterhaltsreform v. 1.1.2008 erlassen wurden, eine nachträgliche Begrenzung bei ansonsten unveränderter Tatsachenlage ausgeschlossen ist. Lediglich die vor April 2006 ergangenen Urteile können der Abänderung unterliegen4. Beispiel: In einem Unterhaltsverfahren wurde M im Jahre 2007 zu einem unbefristeten Unterhaltsbetrag durch Urteil verpflichtet. Gründe für die Befristung dieses Unterhalts lagen bereits zu diesem Zeitpunkt vor, zB weil die F in ihrem vor der Ehe erlernten Beruf vollschichtig gearbeitet hat. Nach Inkrafttreten des UÄG am 1.1.2008 beantragt M die Abänderung des Urteils mit dem Ziel, die Befristung des nachehelichen Unterhalts bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auszusprechen. Das Abänderungsverfahren ist unzulässig. Zwar kann eine Abänderung nach § 238 Abs. 1 S. 2 FamFG grundsätzlich auf eine Änderung der rechtlichen Verhältnisse und damit auf das Unterhaltsabänderungsgesetz gestützt werden, allerdings handelt es sich bei § 1578b BGB nur um eine klarstellende Regelung, welche die seit der Entscheidung des BGH v. 12.4.2006 bekannte Rechtsprechung umsetzt. Somit waren die Gründe für die Abänderung bereits zum Zeitpunkt des ersten Verfahrens 1 KG v. 25.4.2008 – 18 UF 160/07, FamRZ 2008, 1942; OLG München v. 4.6.2008 – 12 UF 1125/07, FamRZ 2008, 1945. 2 KG v. 25.4.2008 – 18 UF 160/07, FamRZ 2008, 1942 für den Fall einer Lehrerin, die infolge der Kindesbetreuung nicht an wichtigen Fortbildungsveranstaltungen teilnehmen und sich dadurch nicht erfolgreich auf Beförderungsstellen bewerben kann. 3 BGH v. 12.6.2006 – XII ZR 240/03, FamRZ 2006 1006. 4 BGH v. 18.11.2009 – XII ZR 65/09, FamRZ 2010, 1238; BGH v. 29.9.2010 – XII ZR 205/08, FamRZ 2010, 1884.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1237
Kap. 6 C
vorhanden und hätten dort vorgetragen werden müssen; die Rechtsprechung des BGH beinhaltet ein hohes Haftungsrisiko (vgl. Kap. 12 Rn. 475 ff.).
Einstweilen frei
1234
Die in Rn. 1233 f. dargestellte Rechtsprechung kann sich aber nur auf den 1235 Aufstockungsunterhalt nach § 1573 Abs. 1 oder Abs. 2 BGB beziehen; denn nach der vor dem 1.1.2008 geltenden Rechtslage konnte nur dieser Anspruch befristet oder begrenzt werden (§ 1573 Abs. 5 aF BGB). Für alle anderen nachehelichen Unterhaltsansprüche war nach dem bis 1.1.2008 geltenden Recht keine Befristungs-, wohl aber eine Herabsetzungsmöglichkeit in § 1578 Abs. 1 S. 2 BGB gegeben, allerdings erst nach einem Übergangszeitraum, für welchen Unterhalt nach den ehelichen Lebensverhältnissen bezahlt wurde (vgl. Formulierung in § 1578 Abs. 1 S. 2 aF BGB: „danach“). Nach dem bisherigen Rechtszustand war die Kombination beider Begrenzungsmöglichkeiten (Befristung und Herabsetzung) nicht möglich, sie wurde erst ab 1.1.2008 mit § 1578b BGB in das nacheheliche Unterhaltsrecht eingeführt. Der BGH differenziert daher seine Rechtsprechung: die Herabsetzung könne nicht mehr isoliert betrachtet werden, sondern müsse im Zusammenhang mit einer kumulativ oder alternativ möglichen Befristung gesehen werden1. Soll ein Unterhaltstitel wegen eines Krankheits- oder Altersunterhalts 1236 mit dem Ziel einer Befristung abgeändert werden, kann die Rechtsprechung des BGH zur eingeschränkten Anwendung von § 238 Abs. 1 S. 2 FamFG nicht greifen. Denn nach dem bis 1.1.2008 geltenden Rechtszustand konnten diese Unterhaltsansprüche nicht befristet, sondern nur nach § 1578 Abs. 1 S. 2 aF BGB herabgesetzt werden. Auch eine Kombination von Befristungs- und Herabsetzung war nicht möglich; diese ist erst durch § 1578b Abs. 3 BGB eingeführt worden. Insoweit kann also die Zeitschranke des § 238 Abs. 1 S. 2 FamFG nicht greifen, weil § 1578b BGB die Rechtsprechung des BGH nicht klargestellt, sondern eine eigenständige Regelungen statuiert hat. Zur früheren Rechtslage vgl. Rn. 1193. Nach § 36 Nr. 1 EGZPO sind bei Entscheidungen, die vor dem 1.1.2008 rechtskräftig ergangen sind, Umstände, die vor diesem Tag entstanden und durch das Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts v. 21.12.2007 (Rn. 890) erheblich geworden sind, nur zu berücksichtigen, soweit eine wesentliche Änderung der Unterhaltsverpflichtung eintritt und die Änderung dem anderen Teil unter Berücksichtigung seines Vertrauens in die getroffene Regelung zumutbar ist. Nach der Rechtsprechung des BGH eröffnet diese Übergangsregelung keine eigenständige Abänderungsmöglichkeit. Die Vorschrift stellt nur klar, dass die neue Regelung ab 1.1.2008 in solchen Fällen die Abänderung rechtfertigt, in denen bestimmte Umstände erst durch die Änderung des Gesetzes erheblich geworden sind und diese gegenüber der bisherigen, bis 1.1.2008 geltenden Rechtslage zu einer wesentlichen Änderung führt. Sind Umstände, die eine Befristung 1 BGH v. 23.11.2011 – XII ZR 47/10, FamRZ 2012, 197 m. Anm. Maurer.
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1237
Kap. 6 C Rn. 1238
Ehegattenunterhalt
begründen, nicht erst durch das neue Unterhaltsrecht erheblich geworden, sondern konnten sie bereits nach der Rechtslage zu einer Befristung führen, die vor dem 1.1.2008 bestand, ist ein Abänderungsverfahren nicht zulässig, wie etwa die Wiederaufnahme einer früheren Erwerbstätigkeit durch die unterhaltsberechtigte Ehefrau1. Das Gleiche gilt beim Aufstockungsunterhaltsanspruch nach § 1573 Abs. 2 BGB, dessen Befristung schon nach früherem Recht möglich war (§ 1573 Abs. 5 aF BGB)2. Liegen die Voraussetzungen von § 36 Abs. 1 Nr. 1 EGZPO nicht vor, ist das Zumutbarkeitskriterium unter Berücksichtigung des Vertrauens in die getroffene Regelung auch nicht analog in den Fällen anwendbar, bei welchen eine Befristung in Betracht kommt, weil es an einem ehebedingten Nachteil fehlt. Ein etwaiges Vertrauen des Unterhaltsberechtigten in eine Jahre lang ungekürzte Fortzahlung des Unterhalts ist unter dem Gesichtspunkt von § 1578b BGB zu beurteilen3. 1238
Die genannten Vorschriften (§§ 36 Nr. 1 EGZPO, 1578b BGB) können einen Vertrauenstatbestand zugunsten des Unterhaltsberechtigten begründen, wenn er im Hinblick auf den nachehelichen Unterhalt Dispositionen getroffen hat, die er nicht ohne weiteres rückgängig machen kann oder dies unzumutbar ist, wie etwa die Anschaffung einer größeren Mietwohnung4. Ein Vertrauen kann auch entstehen, wenn der Unterhaltsverpflichtete seine Erwerbstätigkeit im Hinblick auf den nachehelichen Unterhalt eingeschränkt und der Verpflichtete dies bewusst hingenommen hat5. Eine weitere Fallgruppe ist die Unterhaltszahlung für besondere ehebezogene Aufopferungen oder wenn sie Bestandteil einer Globalregelung ist. Die reine zeitliche Dauer einer Unterhaltszahlung begründet allerdings nicht ohne weiteres einen bestimmten Vertrauenstatbestand.
1239
Haben die Beteiligten einen gerichtlichen Vergleich über den nachehelichen Unterhalt geschlossen und keine Regelung zu einer Befristung getroffen, weder ausdrücklich, noch konkludent, ist nach dem BGH im Zweifel davon auszugehen, dass sie sich die spätere Befristung des Unterhalts offenhalten wollten mit der Folge, dass ein Abänderungsverfahren mit dem Ziel einer Befristung zulässig ist6. d) § 1578b BGB im Verhältnis zu den einzelnen Unterhaltstatbeständen aa) Unterhalt wegen Betreuung eines Kindes (§ 1570 BGB)
1240
Der Anspruch trägt seine eigene zeitliche Begrenzung in sich, denn seine Dauer richtet sich nach der Betreuungsbedürftigkeit des gemeinsamen Kindes. Wann der Zeitpunkt erreicht ist, ab dem das Kind der Betreuung 1 BGH v. 18.11.2009 – XII ZR 65/09, FamRZ 2010, 111; BGH v. 8.6.2011 – XII ZR 17/09, FamRZ 2011, 1381. 2 BGH v. 29.9.2010 – XII ZR 205/08, FamRZ 2010, 1884. 3 BGH v. 8.6.2011 – XII ZR 17/09, FamRZ 2011, 1381. 4 BGH v. 29.6.2011 – XII ZR 257/09, FamRZ 2011, 1721. 5 BGH v. 10.11.2010 – XII ZR 197/09, FamRZ 2011, 192. 6 BGH v. 26.5.2010 – XII ZR 143/08, FamRZ 2010, 1238.
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Rn. 1243
Kap. 6 C
nicht mehr bedarf, kann nicht exakt vorherbestimmt werden. Der Anspruch soll den gegenwärtigen Bedarf des Kindes an Betreuung sichern1 und eine kontinuierliche Lebens- und Betreuungssituation gewährleisten, so dass einer Befristung nach § 1578b Abs. 2 BGB neben diesem Anspruch keine besondere Bedeutung zukommen wird2. Anders, wenn es um die Begrenzung nach Abs. 1 S. 1 – Herabsetzung auf 1241 den angemessenen Lebensbedarf – geht, also um die Höhe des Unterhaltsanspruchs. Hier lässt der Gesetzeswortlaut zwei Möglichkeiten zu. Einmal könnte es die Pflege und Versorgung eines oder mehrerer gemeinsamer Kinder nahe legen, den Lebensstandard nach den ehelichen Lebensverhältnissen bis zum Ende der voraussichtlichen Betreuung fortzuführen und erst danach auf den angemessenen Lebensbedarf abzusenken. Es lässt sich aber auch die Auffassung vertreten, den Unterhaltsanspruch auf den Ausgleich des ehebedingten Nachteils zu reduzieren und den Anspruch befristet herabzusetzen. Borth schlägt vor, die Dauer der Ehe und die Anzahl der Kinder für ausschlaggebend zu halten. Bei längerer Ehedauer und mehreren Kindern erscheint es angemessen, zunächst den Unterhalt nach den ehelichen Lebensverhältnissen zu gewähren und erst nach Beendigung des (Teil)Anspruchs aus § 1570 Abs. 1 und 2 BGB auf den Ersatzmaßstab herabzusetzen3. Nach Auffassung des BGH4 scheidet eine Befristung des Betreuungsunterhalts nach § 1570 BGB (ohne Differenzierung) schon deswegen aus, weil die Vorschrift in der seit 1.1.2008 geltenden Fassung eine Sonderregelung für die Billigkeitsabwägung enthält. bb) Unterhalt wegen Alters (§ 1571 BGB) Auch Ansprüche auf Zahlung von Unterhalt wegen Alters können (wie 1242 alle anderen nachehelichen Unterhaltsansprüche) befristet, bzw. auf den angemessenen Lebensbedarf herabgesetzt werden (Rn. 1199 ff.). Das Alter allein ist kein Grund, von den Begrenzungsinstrumenten nach § 1578b BGB abzusehen. Ein ehebedingter Nachteil liegt nicht vor, wenn infolge der Eheschließung der Unterhaltsanspruch gegen den früheren, geschiedenen Ehegatten wegfällt. Denn der Nachteil ergibt sich allein aus dem Akt der Eheschließung selbst, nicht aus einer bestimmten Rollenverteilung in der Ehe (Rn. 1212). Auch der Gesichtspunkt der nachehelichen Solidarität (Rn. 1205, 1229) kann in solchen Fällen die Befristung oder Begrenzung ausschließen. Im 1 Schwab, FamRZ 2005, 1417 (1419); Borth, UÄndG Rn. 155; Schürmann, FuR 2008, 183 (184). 2 Borth, FamRZ 2008, 2 (10); Meyer, FamRZ 2008, 101; KG v. 25.4.2008 – 18 UF 160/07, FamRZ 2008, 1942 (1944); Ehinger, FPR 2009, 105 (106); aA Hauß, FamRZ 2007, 367 (370); Schramm, NJW-Spezial 2007, 596. 3 Borth, UÄndG Rn. 155; Schürmann, FuR 2008, 183 (184). 4 BGH, v. 18.3.2009 – XII ZR 74/08, FamRZ 2009, 770 (774) m. Anm. Borth S. 960 = FamRB 2009, 170; BGH v. 6.5.2009 – XII ZR 114/08, FamRZ 2009, 1124 (1128) m. Anm. Borth = FamRB 2009, 236.
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Kap. 6 C Rn. 1244
Ehegattenunterhalt
Rahmen der Billigkeitsabwägung hat der Tatrichter das im Einzelfall gebotene Maß der nachehelichen Solidarität festzulegen, wobei vor allem die in § 1578b Abs. 1 S. 3 BGB aufgeführten Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Durch eine wirtschaftliche Verflechtung gewinnt die Ehedauer in diesem Rahmen ein besonderes Gewicht, insbesondere durch Aufgabe einer eigenen Erwerbstätigkeit wegen der Betreuung gemeinsamer Kinder oder der Übernahme der Haushaltsführung1. Bei der Prüfung der Unbilligkeit nach § 1578b BGB ist außerdem zu berücksichtigen, ob der Unterhaltsanspruch des berechtigten Ehegatten tituliert ist, oder nicht. Denn einem titulierten oder durch Vereinbarung festgehaltenen Unterhalt kommt ein größerer Vertrauensschutz zu, als einem nicht vertraglich festgelegten oder durch Titulierung gesicherten Anspruch2. 1244
Durch Krankheit und hohes Alter erheblich erschwerte Lebensumstände genügen alleine nicht, von einer Befristung oder Herabsetzung nach § 1578b BGB abzusehen. Sie rechtfertigen für sich genommen keine lebenslange Lebensstandardgarantie. Waren die Parteien neun Jahre verheiratet und lebten nur fünf Jahre zusammen, und hat der Pflichtige über einen Zeitraum von 20 Jahren Unterhaltszahlungen geleistet, ist der Gesichtspunkt der Entflechtung der wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse der geschiedenen Ehegatten zu beachten, die umso gewichtiger wird, um so weiter die Scheidung zurückliegt und dementsprechend das Maß der geschuldeten nachehelichen Solidarität begrenzt3. Einer Befristung steht auch nicht entgegen, dass der Unterhaltsberechtigte dadurch möglicherweise sozialhilfsbedürftig würde (vgl. Rn. 1252). Beispiel4: Der 1939 geborene Ehemann und die 1932 geborene Ehefrau schlossen 1978 die Ehe und lebten seit 1983 voneinander getrennt. Die Scheidung der im Übrigen kinderlos gebliebenen Ehe ist seit 1987 rechtskräftig. In erster Ehe war die Ehefrau von 1955 bis 1977 verheiratet. Diese Ehe wurde wegen Verschuldens des Ehemannes im Jahre 1977 geschieden. Unterhaltsansprüche gegen ihren ersten Ehemann hat die Ehefrau nicht geltend gemacht. Das Oberlandesgericht hatte einen unbefristeten Unterhalt zugesprochen. Der BGH hat das Urteil aufgehoben. Der Verlust des möglichen Unterhaltsanspruchs gegen den ersten Ehemann stellt keinen ehebedingten Nachteil dar, weil dieser Nachteil nicht auf einer Rollenverteilung in der Ehe beruht. Die schweren, von der Ehefrau geltend gemachten Lebensumstände wie das hohe Alter und Krankheit begründen keinen Vertrauenstatbestand im Sinne der nachehelichen Solidarität. Zwar ist in solchen Fällen eine Verflechtung der wirtschaftlichen Verhältnisse anzunehmen. Allerdings entflechten sich diese wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse, je weiter die Scheidung zurück liegt. Der BGH hat für maßgeblich gehalten, dass der Ehemann 20 Jahre Unterhalt bezahlt hat und die Ehe kinderlos geblieben war. Dem Vertrauen der Ehefrau in einen titulierten Unterhaltsanspruch wäre vielmehr mit einer stufenweisen Herab-
1 BGH v. 23.11.2011 – XII ZR 47/10, FamRZ 2012, 197 Tz. 31. 2 BGH v. 23.11.2011 – XII ZR 47/10, FamRZ 2012, 197 Tz. 37. 3 BGH v. 23.11.2011 – XII ZR 47/10, FamRZ 2012, 197 Tz. 37; BGH v. 8.6.2011 – XII ZR 17/09, FamRZ 2011, 1381 Tz. 36. 4 Nach BGH v. 23.11.2011 – XII ZR 47/10, FamRZ 2012, 197.
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Rn. 1247
Kap. 6 C
setzung und sodann einer Befristung, wie sie das Amtsgericht (bis 30.6.2011) vorgenommen hatte, hinreichend Rechnung getragen.
cc) Unterhalt wegen Krankheit (§ 1572 BGB) Grundsätzlich kann auch ein Anspruch auf Krankheitsunterhalt nach 1245 § 1572 BGB herabgesetzt oder zeitlich begrenzt werden. Voraussetzung ist auch bei diesem Unterhaltsanspruch, dass ein ehebedingter Nachteil nicht besteht oder Gesichtspunkte der nachehelichen Solidarität nicht eine dauerhafte Unterhaltsverpflichtung erfordern. Allerdings besteht der ehebedingte Nachteil hier nur in Ausnahmefällen in der Krankheit des unterhaltsbedürftigen Ehegatten selbst; denn die Krankheit steht lediglich im zeitlichen Zusammenhang mit der Ehe und verwirklicht ein schicksalhaft eintretendes Risiko. In einzelnen Fällen kann allerdings eine Krankheit mittelbar oder unmittelbar auf der Ehe beruhen und sich als ehebedingt darstellen. Hierzu genügt es nicht, dass die Krankheit durch die Ehekrise oder die Trennung ausgelöst oder verstärkt, weil unter ehebedingten Nachteil nur solche Einbußen zu verstehen sind, die sich aus der konkreten Rollenverteilung in der Ehe ergeben, nicht aber aus sonstigen persönlichen Umständen, welche während der Ehe eintreten oder mit dem Scheitern der Ehe zusammenhängen1. Ein ehebedingter Nachteil kann sich beim Krankheitsunterhalt jedoch daraus ergeben, wenn wegen der Aufgabe der Erwerbstätigkeit in Folge der Kindererziehung und der Haushaltstätigkeit die Voraussetzungen einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht erfüllt sind (vgl. Rn. 1219). Eine solche Lücke, die durch eine ehebedingte Erwerbslosigkeit entsteht, wird durch einen anlässlich der Scheidung durchgeführten Versorgungsausgleich nicht kompensiert. Der Nachteil besteht hier im Verlust der ohne Ehe und Kindererziehung erzielbaren Erwerbsunfähigkeitsrente und ist auf die Gestaltung von Haushaltsführung und Erwerbstätigkeit während der Ehe zurückzuführen, somit ehebedingt. Ob diese Rollenverteilung einvernehmlich erfolgt ist, ist irrelevant; der Nachteil entfällt allerdings mit dem Beginn der Altersrente, weil dieser Anspruch nicht von einer Mindestzahl von Pflichtbeiträgen abhängt2. Allerdings ist der Ausgleich unterschiedlicher Vorsorgebeiträge während der Ehe vornehmlich die Aufgabe des Versorgungsausgleichs und rechtfertigt es nicht, einen ehebedingten Nachteil anzunehmen (vgl. Rn. 1214).
1246
Auch beim Krankheitsunterhalt bildet der angemessene Lebensbedarf re- 1247 gelmäßig die Grenze, bis zu der ein nachehelicher Unterhaltsanspruch herabgesetzt werden kann. Beim Krankheitsunterhalt ist dasjenige Einkommen maßgebend, welches der kranke Unterhaltsberechtigte ohne Ehe, Rollenverteilung und Kindererziehung zur Verfügung hätte. Dabei ist nicht auf ein fiktives Einkommen abzustellen, welches ein gesunder 1 BGH v. 7.7.2010 – XII ZR 157/08, FamRZ 2011, 188 Tz. 16 und 20 ff. 2 BGH v. 2.3.2011 – XII ZR 44/09, FamRZ 2011, 713 Tz. 19, 20.
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Kap. 6 C Rn. 1248
Ehegattenunterhalt
Unterhaltsberechtigter erzielen könnte; denn auch ohne die Ehe wäre der Ehegatte in Folge der Krankheit zu keiner Erwerbstätigkeit in der Lage. Ist die Krankheit nicht ehebedingt, ergibt sich der angemessene Lebensbedarf im Fall der vollständigen Erwerbsunfähigkeit aus der Höhe der Erwerbsunfähigkeitsrente. Dabei ist von der tatsächlichen Rente nach Durchführung des Versorgungsausgleichs auszugehen. Ist der Unterhaltsberechtigte allerdings noch teilweise erwerbsfähig, kann daneben auf Erwerbseinbußen als ehebedingter Nachteil abgestellt werden. Der nach § 1578b Abs. 1 BGB auf den angemessenen Lebensbedarf herabgesetzte Unterhaltsbedarf muss allerdings mindestens das Existenzminimum des Unterhaltsberechtigten erreichen; die Grenze liegt derzeit bei 770,00 Euro1. 1248
Aus der Formulierung in § 1578b Abs. 1 S. 2 BGB „insbesondere“ ergibt sich, dass sich die Vorschrift nicht auf die Kompensation ehebedingter Nachteile beschränkt. Auch beim Krankenunterhalt sind die Gesichtspunkte einer nachehelichen Solidarität (Rn. 1203, 1229, 1243) zu berücksichtigen, denn der Gesetzgeber hat mit dem Unterhaltsanspruch wegen Krankheit nach § 1572 BGB einen besonderen Tatbestand nachehelicher Solidarität geschaffen, der auch im Rahmen der Begrenzung oder Befristung des nachehelichen Krankenunterhalts Rechnung zu tragen ist2. Daher ist auch die nacheheliche Solidarität Billigkeitskriterium beim Krankheitsunterhalt, wobei die konkrete Tragweite nach § 1578b Abs. 1 S. 3 BGB vom Tatrichter zu bestimmen ist3.
1249
Im Rahmen der umfassenden Billigkeitsabwägung gewinnt die Ehedauer durch eine wirtschaftliche Verflechtung an Gewicht, die insbesondere durch Aufgabe einer eigenen Erwerbstätigkeit wegen der Betreuung gemeinsamer Kinder oder der Haushaltsführung eintritt4. Bei der Dauer der Ehe ist auf den Zeitraum von der Eheschließung bis zur Zustellung des Scheidungsantrags abzustellen5. Der Ehedauer kommt allerdings dann kein erhebliches Gewicht zu, wenn ein besonderes Vertrauen auf den Fortbestand der Unterhaltsverpflichtung nicht gerechtfertigt ist und keine Dispositionen im Hinblick auf eine fortwährende Unterhaltsleistung getroffen wurden. Dies ist der Fall, wenn die Ehefrau bei der Eheschließung 37 Jahre alt war und es sich um ihre dritte Ehe gehandelt hat6.
1250
Weiteres Kriterium der Billigkeitsabwägung ist der Unterhalt, den der Verpflichtete bezahlt hat, und wie dringend er ggf. neben eigenen Einkünften aus der Erwerbsunfähigkeitsrente darauf angewiesen ist; auf Seiten des Pflichtigen, inwieweit er durch den Unterhalt nach den ehelichen 1 BGH v. 2.3.2011 – XII ZR 44/09, FamRZ 2011, 713 Tz. 16. 2 BGH v. 27.5.2009 – XII ZR 111/08, FamRZ 2009, 1207 Tz. 39. 3 BGH v. 14.4.2010 – XII ZR 89/08, FamRZ 2010, 869 Tz. 45; BGH v. 27.5.2009 – XII ZR 111/08, FamRZ 2009, 1207 Tz. 39. 4 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 202/08, FamRZ 2010, 1971 Tz. 2. 5 BGH v. 7.7.2010 – XII ZR 157/08, FamRZ 2011, 188 Tz. 29. 6 BGH v. 7.7.2010 – XII ZR 157/08, FamRZ 2011, 188 Tz. 29.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1253
Kap. 6 C
Lebensverhältnissen oder den angemessenen Lebensbedarf belastet wird. Auch die Unterhaltspflicht gegenüber den gemeinsamen Kindern kann eine Rolle spielen, die der Unterhaltspflichtige allein trägt, weil sich die Kinder in seiner Obhut befinden; in diesem Zusammenhang kommt es darauf an, ob der Unterhaltspflichtige neben seiner Erwerbstätigkeit weitere Betreuungsleistungen erbringt1. Auch die Dauer der Zahlung von Trennungsunterhalt ist in die Billigkeitsabwägung einzubeziehen2. Als weiteren Gesichtspunkt hat der BGH die künftige Familienplanung angesehen, weil der Gesetzgeber mit § 1578b BGB die Chancen für einen „Neuanfang“ erhöhen wollte3. Erfüllt der vollständig erwerbsgeminderte Ehegatte nicht die Vorausset- 1251 zungen einer Rente wegen voller Erwerbsminderung, liegt ein ehebedingter Nachteil vor (vgl. Rn. 1219). Ein solcher Nachteil wird auch nicht durch öffentliche Unterstützungsleistungen aufgefangen. Pflegegeld ist unter dem Gesichtspunkt von §§ 1578c, 1610a BGB zu beurteilen, dh., es wird vermutet, dass die Sozialleistungen durch die in Folge der Körperoder Gesundheitsschäden notwendigen Aufwendungen vollständig aufgebraucht werden4. Dagegen ist eine drohende Sozialleistungsbedürftigkeit (Rn. 1244) kein 1252 Gesichtspunkt, der eine Befristung nach § 1578b Abs. 2 BGB ausschließt. Mit der Möglichkeit, den Krankheitsunterhalt zu befristen, nimmt der Gesetzgeber in Kauf, dass dadurch der Unterhaltsberechtigte sozialleistungsbedürftig wird und somit die Unterhaltsverantwortung des Verpflichteten endet. Allerdings sind die Folgen der Befristung des Unterhaltsanspruchs oder seine Herabsetzung für beide Ehegatten und deren jeweilige Belastung durch die Unterhaltspflicht in die Billigkeitsbetrachtung mit einzubeziehen5. dd) Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit (§ 1573 Abs. 1 BGB) Maßgeblich ist, auf welche Gründe die Erwerbslosigkeit des berechtigten 1253 Ehegatten zurückzuführen ist. Beruht sie darauf, dass der Ehegatte über lange Zeit gemeinsame Kinder betreut hat oder war die Ehe von langer Dauer, scheidet eine Befristung des Anspruchs in aller Regel aus, wogegen eine Begrenzung nach § 1578b Abs. 1 S. 1 BGB möglich ist. Dabei wird es wesentlich auf die Dauer der Ehe, das Alter des berechtigten Ehegatten und auf seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt ankommen. Hat die Erwerbslosigkeit des berechtigten Ehegatten dagegen andere Gründe, kommt eine Befristung bzw. eine Herabsetzung eher in Betracht. 1 2 3 4
BGH v. 2.3.2011 – XII ZR 44/09, FamRZ 2011, 713 Tz. 24, 25. BGH v. 30.3.2011 – XII ZR 63/09, FamRZ 2011, 875 Tz. 22. BGH v. 30.3.2011 – XII ZR 63/09, FamRZ 2011, 875 Tz. 23. BGH v. 2.3.2011 – XII ZR 44/09, FamRZ 2011, 713 Tz. 32 auch zur Grundsicherung. 5 BGH v. 30.3.2011 – XII ZR 63/09, FamRZ 2011, 875 Tz. 21; BGH v. 2.3.2011 – XII ZR 44/09, FamRZ 2011, 715 Tz. 26 = FamRB 2011, 135.
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Kap. 6 C Rn. 1254
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ee) Aufstockungsunterhalt (§ 1573 Abs. 2 BGB) 1254
Die größte praktische Bedeutung kommt § 1578b BGB im Anwendungsbereich dieses Anspruchs zu. Als Anspruch auf die Differenz der Einkommen ergibt er sich aus der Lebensstandardgarantie, an welcher der Gesetzgeber des UÄndG 2007 nicht mehr festhalten wollte, jedenfalls solange es um die lebenslange und nicht abänderbare Unterhaltspflicht geht (Rn. 882). Hier wird regelmäßig die Herabsetzung des Unterhalts auf den Ersatzmaßstab des § 1578b Abs. 1 S. 1 BGB, kombiniert mit einer Befristung, in Frage kommen. Der Anspruch kann sich aber auch aus dem Gesichtspunkt des Nachteilsausgleichs nach § 1578b Abs. 1 S. 2 ergeben, wenn der Ehegatte nach langer Dauer der Ehe oder einer Zeit der Pflege und Erziehung von gemeinsamen Kindern nur eine unterqualifizierte oder schlechter vergütete Tätigkeit findet. Der Ausgleich des Nachteils bezieht sich hier auf die Differenz zwischen dem real ausgeübten Beruf und derjenigen Tätigkeit, die dem früher ausgeübten Beruf oder der früheren Qualifikation entspricht. Die Befristung eines Unterhaltsanspruchs nach § 1573 Abs. 2 BGB scheidet nicht deswegen aus, weil der Einsatzzeitpunkt für einen eventuellen späteren Unterhaltsanspruch wegen Alters wegfällt1. ff) Unterhalt wegen Ausbildung/Umschulung (§ 1575 BGB)
1255
Dieser praktisch kaum bedeutsame Anspruch enthält nach Abs. 1 S. 2 eine immanente Grenze: Der Anspruch besteht längstens für die Zeit, in der eine solche Ausbildung im Allgemeinen abgeschlossen wird, wobei ehebedingte Verzögerungen der Ausbildung zu berücksichtigen sind. Eine Befristung nach § 1578b Abs. 2 BGB wird daher regelmäßig ausscheiden, eine Begrenzung nach § 1578b Abs. 1 BGB ist aber möglich2. gg) Unterhalt aus Billigkeitsgründen (§ 1576 BGB)
1256
§ 1576 BGB ergänzt die enumerativ aufgezählten Unterhaltsansprüche nach §§ 1570 bis 1575. Der Unterhaltsanspruch setzt selbst eine Billigkeitsabwägung voraus, bei der alle diejenigen Umstände eine Rolle spielen, die auch von § 1578b BGB angesprochen werden. Die Möglichkeit, den Unterhaltsanspruch auf den Ersatzmaßstab nach § 1578b Abs. 1 S. 1 BGB herabzusetzen und für die Dauer der Härtegesichtspunkte zu befristen, ist bereits in der Anspruchsnorm angelegt, so dass § 1578b BGB daneben keine eigenständige Bedeutung hat3.
1 BGH v. 25.6.2008 – XII ZR 109/07, FamRZ 2008, 1508 (1511) m. Anm. Borth = FamRB 2008, 295. 2 Schürmann, FuR 2008, 183 (184). 3 Schürmann, FuR 2008, 183 (184).
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Rn. 1261
Kap. 6 C
e) § 1578b BGB im Verhältnis zu § 1579 BGB Beide Vorschriften grenzen sich – wenigstens theoretisch – klar voneinan- 1257 der ab: § 1579 BGB zählt bestimmte, tatbestandsmäßig umschriebene Fallgruppen auf, die – je nachdem – an objektive Gründe anknüpfen (wie zB § 1579 Nr. 1, 2 und 8 BGB) oder ein Fehlverhalten des Berechtigten gegen die eheliche Solidarität zum Gegenstand haben (wie die restlichen Nummern der Vorschrift). Dagegen geht es in § 1578b BGB allein um objektive Kriterien, denen kein Unwerturteil anhaftet oder die keinen Vorwurf gegen den Berechtigten begründen könnten. Die Rechtsfolgen nach § 1579 BGB können weiterreichend sein: Der 1258 Unterhaltsanspruch kann völlig versagt werden, während § 1578b BGB nur die Herabsetzung oder zeitliche Begrenzung des Anspruchs vorsieht1. Allerdings lässt auch § 1578b BGB ausnahmsweise eine sofortige Begrenzung zu, so vor allem dann, wenn eine lange Trennungsdauer vorgelegen hat, während der dem Berechtigten ein Unterhaltsanspruch nach § 1361 BGB zugestanden hat, und der Berechtigte ausreichend Zeit zur Verfügung hatte, sich auf die wirtschaftlichen Folgen der Trennung einzustellen2. Ist der Unterhaltsanspruch nach § 1578b BGB einmal begrenzt, lebt er nach Ablauf der Zeit der Begrenzung nicht wieder auf. Es tritt ein endgültiger Verlust ein. Insoweit kann die Wirkung des § 1578b BGB über die des § 1579 BGB hinausgehen, bei welchem die Rechtsprechung je nach Ausschlusstatbestand ein Wiederaufleben anerkennt3.
1259
Gleichwohl ergeben sich Überschneidungen: Liegt eine Ehe von kurzer 1260 Dauer nach § 1579 Nr. 1 BGB vor, kann der Unterhaltsanspruch nicht nur herabgesetzt oder zeitlich befristet, sondern insgesamt versagt werden. Insofern geht die Rechtsfolge nach § 1579 BGB weiter als die nach § 1578b BGB, so dass es sich erübrigen kann, die Kriterien nach § 1578b BGB zu prüfen. Außerdem statuiert § 1579 BGB die höhere Prüfungsschwelle der „groben Unbilligkeit“ im Gegensatz zu § 1578b BGB, bei dem es nur auf den Maßstab der „Unbilligkeit“ ankommt. In diesen Fällen ist daher die Vorschrift des § 1579 Nr. 1 BGB vorrangig vor § 1578b BGB zu prüfen4. f) Darlegungs- und Beweislast Der berechtigte Ehegatte hat die Darlegungs- und Beweislast für diejeni- 1261 gen Tatsachen, die seinen Unterhaltsanspruch dem Grund und der Höhe 1 BT-Drucks. 16/1830, S. 20. 2 So zu Recht Borth, FamRZ 2008, 1512. 3 BGH v. 6.5.1987 – IVb ZR 61/86, FamRZ 1987, 689; BGH v. 30.9.1987 – IVb ZR 79/86, FamRZ 1987, 1238; Borth, FamRZ 2008, 1511; Ehinger in: Ehinger/Griesche/Rasch, Rn. 548. 4 Büttner, FamRZ 2007, 773 (778); Born, NJW 2008, 1 (69); Ehinger, FamRB 2008, 212 (218); Triebs, FPR 2008, 31 (35).
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Kap. 6 C Rn. 1262
Ehegattenunterhalt
nach begründen. Dazu gehört schlüssiger Sachvortrag zu den einzelnen Unterhaltsansprüchen nach §§ 1570 bis 1573, 1575 und 1576 BGB sowie dazu, aus welchen Umständen sich nach § 1578 BGB die Höhe des Unterhalts nach den ehelichen Lebensverhältnissen ergibt. In diesem Rahmen wird der berechtigte Ehegatte teilweise schon Tatsachen vortragen, welche zum Vorbringen im Zusammenhang mit den ehebedingten Nachteilen i.S.d. § 1578b Abs. 1 S. 2 BGB gehören, wie etwa die Dauer der Ehe, die Pflege oder Erziehung eines ihm anvertrauten Kindes und das aktuelle Einkommen. Da die Dauer der Ehe und die Kindesbetreuung selten mit Aussicht auf Erfolg bestritten werden können, sind sie in den seltensten Fällen beweisbedürftig. Auch die Gestaltung von Haushaltsführung und Erwerbstätigkeit während der Ehe wird regelmäßig vom Berechtigten vorgetragen werden, denn er muss begründen, aus welchen Umständen sich ergibt, dass er keiner vollschichtigen Erwerbstätigkeit nachgehen kann bzw. konnte. 1262
Die Darlegungs- und Beweislast für Tatsachen, die zu einer Befristung oder Beschränkung des nachehelichen Unterhalts führen können, trägt dagegen der Unterhaltspflichtige, weil § 1578b BGB als Einwendung konzipiert ist1. Hat der Pflichtige Tatsachen vorgetragen, die – wie zB die Aufnahme einer vollzeitigen Erwerbstätigkeit in dem vom Berechtigten erlernten oder vor der Ehe ausgeübten Beruf – einen Wegfall ehebedingter Nachteile und damit eine Begrenzung des Unterhalts nahe legen, ist es Sache des Berechtigten, Umstände darzulegen und zu beweisen, die gegen eine Unterhaltsbegrenzung oder für eine längere „Schonfrist“ sprechen2. Solche Umstände könnten darin bestehen, dass infolge der Berufspause die Gelegenheit zu Fort- und Weiterbildungen eingeschränkt gewesen war und deshalb Gehaltseinbußen nicht ausgeschlossen werden können3.
Û
Praxistipp: Erforderlich ist substantiierter Vortrag des Berechtigten zu einem hypothetischen beruflichen Aufstieg (Rn. 1221). Die pauschale Behauptung der berechtigten Ehefrau, sie habe früher als Angestellte eines öffentlichen Pflegeheims mehr verdient als heute und würde dies (hypothetisch) auch noch heute tun, genügt nicht4. Besonders schwierig ist es, den hypothetischen beruflichen Aufstieg bei einem freiberuflich tätigen Ehegatten darzulegen (Ärztin, Architektin, Rechtsanwältin, Wirtschaftsprüferin), der im Hinblick auf die Betreuung der
1 Büttner, FamRZ 2007, 773 (774); BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 107/06, FamRZ 2008, 1325 (1328) = FamRB 2008, 230. 2 BGH v. 14.11.2007 – XII ZR 16/07, FamRZ 2008, 134 = FamRB 2008, 34: Der BGH hat eine fünfeinhalbjährige Übergangszeit vom Wegfall ehebedingter Nachteile bis zum Fortfall des Unterhaltsanspruchs nicht beanstandet; s. auch Hahne, FamRZ 1986, 305 (310); Dose, FamRZ 2007, 1289 (1296). 3 BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 107/06, FamRZ 2008, 1325 (1328) = FamRB 2008, 230. 4 OLG Celle v. 7.3.2008 – 12 UF 172/07, FamRZ 2008, 1448; BGH v. 24.3.2010 – XII ZR 175/08, FamRZ 2010, 875 = FamRB 2010, 201.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1265
Kap. 6 C
gemeinsamen Kinder oder wegen der Übernahme von anderen Aufgaben in der ehelichen Lebensgemeinschaft auf eine fachliche Weiterbildung und auf eine einträgliche freiberufliche Praxis verzichtet hat. Wer nach langer Ehedauer wieder in diesen Beruf eintritt, wird in aller Regel die finanziellen Einbußen nicht mehr aufholen können. Borth1 stellt für diese Fälle die berechtigte Frage, ob nicht eine Beweislastumkehr, mindestens aber eine Beweiserleichterung anzunehmen ist. Vorgetragen werden müsste dann, bei durchschnittlichem Verlauf der beruflichen Entwicklung hätte eine höhere berufliche Stellung erreicht werden können. Allerdings muss auch in diesem Fall die hypothetische Karriere im Prozess substantiiert vorgetragen werden (vgl. Rn. 1221). Dabei kommen dem Unterhaltspflichtigen die Vorteile der sekundären 1263 Darlegungslast zugute. Sie hat zum Inhalt, dass der Unterhaltsberechtigte die Behauptung des anderen Ehegatten, es seien keine ehebedingten Nachteile entstanden, substantiiert bestreiten und seinerseits darlegen muss, welche konkreten ehebedingten Nachteile entstanden sein sollen. Ist das Vorbringen des Unterhaltsberechtigten schlüssig, muss der Unterhaltspflichtige die vorgetragenen ehebedingten Nachteile widerlegen. Eine Beweislastumkehr lehnt der BGH in diesen Fällen ab2. Im Unterhaltsverfahren kann sich der Unterhaltspflichtige entsprechend 1264 den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast zunächst auf den Vortrag beschränken, es lägen keine ehebedingten Nachteile vor. Es ist dann Sache des unterhaltsberechtigten Ehegatten, solche Nachteile konkret unter Beweisantritt darzulegen. Arbeitet der Unterhaltsberechtigte zB in seinem vor der Ehe erlernten oder ausgeübten Beruf, hat er darzulegen, dass ihm trotzdem ein Nachteil verblieben ist. Es genügt nicht, eine berufliche Qualifizierung oder ein höheres erzielbares Einkommen nur als möglich darzustellen. Das Gleiche gilt, wenn der Unterhaltsberechtigte vor der Ehe keine Berufsausbildung abgeschlossen hat im Hinblick auf die von ihm zu verlangende – auch unqualifizierte – Erwerbstätigkeit. Er hat dann Umstände vorzutragen, dass er ohne Eheschließung und Kindererziehung eine konkrete Berufsausbildung aufgenommen und abgeschlossen hätte, welche ihm ein höheres Einkommen ermöglicht hätte, als er es unter den heute gegeben Verhältnissen erzielen kann. Sodann hat der Unterhaltsverpflichtete darzulegen und zu beweisen, dass die ehebedingten Nachteile, wie sie von dem Unterhaltsberechtigten vorgetragen worden sind, nicht bestehen. Geht es um Nachteile, die nicht mit der Ehe zusammenhängen, wie etwa Alter oder Krankheit, obliegt es dem Pflichtigen, Umstände darzulegen, 1 Borth, FamRZ 2008, 1325 Anm. zu BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 107/06. 2 BGH v. 26.10.2011 – XII ZR 162/09, FamRZ 2012, 93, Rn. 22; BGH v. 24.3.2010 – XII ZR 175/08, FamRZ 2010, 875 mwN = FamRB 2010, 201; BGH v. 11.8.2010 – XII ZR 102/09, FamRZ 2010, 1637 Tz. 43 ff. = FamRB 2010, 328 und FamRB 2010, 329.
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1265
Kap. 6 C Rn. 1266
Ehegattenunterhalt
aus denen sich ergibt, dass dem Prinzip der Eigenverantwortung der Vorrang gebührt und Gründe für eine nacheheliche Solidarität nicht vorliegen. 1266
Bei § 1578b BGB handelt es sich um eine Einwendung gegen den im Grundsatz unbefristeten Anspruch, die daher von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Der Pflichtige braucht daher neben dem Antrag auf Abweisung der Klage nicht einen Hilfsantrag zu stellen, mit dem er wenigstens die befristete Verurteilung anstrebt1.
III. Der Rang im Unterhaltsrecht Literaturverzeichnis: Bergschneider, Zum Formerfordernis nach der Neuregelung des § 1585c BGB im Unterhaltsrechtsänderungsgesetz, FamRZ 2008, 17; Born, Das neue Unterhaltsrecht, NJW 2008, 1; Borth, Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform des Unterhaltsrechts, FamRZ 2006, 813; Brandtner, Unterhaltsrechtsreform, gleichrangige betreuende Elternteile und der Bedarf, FamRZ 2007, 2033; Ehinger, Der Kindesunterhalt nach dem Regierungsentwurf zum Unterhaltsrechtsänderungsgesetz, FamRB 2006, 338; Gerhardt/Gutdeutsch, Die Unterhaltsberechnung bei gleichrangigen Ehegatten nach dem geplanten Recht, FamRZ 2007, 778; Grandel, Unterhaltsberechnung bei „gleichrangig“ berechtigten Ehegatten außerhalb des Mangelfalls, NJW 2008, 796; Gutdeutsch, Additionsmethode bei Gleichrang von zwei Ehegatten, FamRZ 2006, 1072; Gutdeutsch, Erwiderung zu den Anmerkungen Brandtner (FamRZ 2007, 2033), FamRZ 2007, 2035; Hauß, Mangelfallberechnungen nach neuem Unterhaltsrecht, FamRB 2008, 52; Hohloch, Der unterhaltsrechtliche Rang minderjähriger und ihnen gleichstehender Kinder – Ein Beitrag zu § 1609 BGB in der Fassung des Entwurfs eines Unterhaltsänderungsgesetzes unter Berücksichtigung der Regelungen anderer europäischer Rechte, FPR 2005, 486 (489/490); Kemper, Rangverhältnisse im kommenden Unterhaltsrecht, FuR 2007, 49; Klinkhammer, Die Rangfolge der gesetzlichen Unterhaltsansprüche in der gesetzlichen Entwicklung, FamRZ 2007, 1205; Peschel-Gutzeit, Stärkt die geplante Reform das Kindeswohl, FF 2005, 296 (298); Puls, Der Betreuungsunterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes, FamRZ 1998, 865; Scholz, Widersprüche zwischen Unterhaltsrecht und Sozialrecht und ihre Bedeutung für die Praxis, FamRZ 2004, 751; Scholz, Der Kindesunterhalt nach dem Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts, FamRZ 2007, 2021; Schürmann, Der Rang im Unterhaltsrecht, FamRB 2007, 276; Schürmann, Kinder – Eltern – Rang. Die neue Rangordnung nach dem Unterhaltsrechtsänderungsgesetz, FamRZ 2008, 313; Schwab, Zur Reform des Unterhaltsrechts, FamRZ 2005, 1417; Vossenkämper, Der Kindesunterhalt nach neuem Recht ab 1.1.2008, FamRZ 2008, 201; Willutzki, Die neue Rangfolge im Unterhaltsrecht – ein Beitrag pro Reform, FPR 2005, 505.
1. Prinzipien der unterhaltsrechtlichen Rangordnung 1267
In der Praxis sind die Fälle häufig, bei denen dem Unterhaltspflichtigen mehrere unterhaltsbedürftige Personen gegenüberstehen. Reichen die vorhandenen finanziellen Mittel des Unterhaltspflichtigen aus, alle Un-
1 Schürmann, FuR 2008, 183 (189) empfiehlt, den Hilfsantrag zu stellen, damit der Gesichtspunkt der Begrenzung „nicht in Vergessenheit gerät.“
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1268
Kap. 6 C
terhaltsansprüche der Berechtigten zu erfüllen, spielt die Rangfolge unter den Berechtigten keine Rolle1. Reichen die vorhandenen Mittel jedoch nicht aus, um alle Ansprüche der unterhaltsberechtigten Personen zu befriedigen, stellt sich die Frage, wessen Unterhaltsanspruch vor anderen Berechtigten zuerst erfüllt werden muss. Wer den Vorrang hat, braucht seinen Anspruch nur mit dem Verpflichteten und Gleichrangigen zu teilen und verdrängt die nachrangig Berechtigten. Nachrangige Ansprüche lassen sich erfahrungsgemäß nur noch ganz selten realisieren. Das Gesetz bestimmt in §§ 1582, 1609 BGB2 eine Rangordnung, in wel- 1268 cher Reihenfolge die Ansprüche der einzelnen Unterhaltsberechtigten erfüllt werden müssen. Nach dem Prinzip der vollen Rangpriorität wird das für Unterhaltszwecke verfügbare Einkommen in der Reihenfolge der Rangstufen jeweils in Höhe des vollen Unterhalts, und nicht nur in Höhe des Existenzminimums, verteilt, bevor die nächste Rangstufe zum Zug kommt, und unabhängig davon, ob für einen nachrangig Berechtigten noch Teile des Einkommens übrig bleiben3. Der Pflichtige kann daher auch nicht einwenden, er müsse vorab von seinem Einkommen ihm näherstehende, jedoch nachrangig Berechtigte bedienen4. Das System der gesetzlichen Rangfolge ist nicht uneingeschränkt disponibel5. Dies gilt selbst dann, wenn sich der Pflichtige auf einen bestehenden Unterhaltstitel eines nachrangig Berechtigten berufen kann, weil der Anspruch des Vorrangigen so zu beurteilen ist, wie dies bei gleichzeitiger Entscheidung über mehrere Unterhaltsansprüche zu erfolgen hätte. Der Pflichtige hat jederzeit die Möglichkeit, eine Abänderungsklage gegen den Titel des nachrangig Berechtigten zu erheben6. Nachrangige Ansprüche kommen daher nur zum Zug, soweit nach voller Befriedigung vorrangiger Ansprüche noch ein freier Betrag verbleibt. Leistet der Unterhaltspflichtige an einen vorrangig Berechtigten, obliegt ihm insoweit die Darlegungs- und Beweislast. Ziel der gesetzlichen Rangregelungen ist es, in sog. Mangelfällen den Unterhalt in erster Linie einem bestimmten, als besonders schutzwürdig anerkannten Angehörigen zu sichern7.
1 OLG Nürnberg v. 31.7.1996 – 7 WF 2210/96, FamRZ 1997, 445. 2 Die Vorschriften sind mit dem Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts v. 21.12.2007, BGBl. I S. 3189 neu gefasst worden. 3 BGH v. 16.1.1985 – IVb ZR 59/83, FamRZ 1985, 357 (360); Born, NJW 2008, 1 (2) spricht in diesem Zusammenhang bildhaft von einem „Alles-oder-NichtsPrinzip“; kritisiert von Schwab, FamRZ 2005, 1417 (1423). 4 Schwab/Borth, Teil IV Rn. 1089. 5 Zum Rangverzicht vgl. weiter unten Rn. 1273; BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 68/84, FamRZ 1986, 553. 6 BGH v. 12.7.1990 – XII ZR 85/89, FamRZ 1990, 1091 (1092); BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 1/91, FamRZ 1992, 797. 7 BGH v. 23.1.1980 – IV ZR 2/78, FamRZ 1980, 555 (557); BGH v. 13.4.2005 – XII ZR 273/02, FamRZ 2005, 1154 (1155) = FamRB 2005, 225 und FamRB 2005, 226. Zum Begriff des Mangelfalls Reinken, FPR 2009, 82 (83).
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Kap. 6 C Rn. 1269
Ehegattenunterhalt
1269
Die Rangordnung kann bestimmen, dass allein eine bestimmte Gruppe von Personen eine bestimmte Rangstelle einnimmt wie zB die Eltern des Unterhaltsverpflichteten, die nach geltendem Recht an der sechsten Rangstelle (§ 1609 Nr. 6 BGB) stehen. Denkbar ist aber auch die Variante, bei der unterschiedliche Personengruppen gemeinsam auf einer Rangstufe stehen, wie beispielsweise die minderjährigen Kinder und die sog. privilegierten Volljährigen, die gleichberechtigt die erste Rangstufe einnehmen (§ 1609 Nr. 1 BGB), oder die Unterhaltsansprüche betreuender Eltern und diejenigen aus Ehen von langer Dauer, die nach geltendem Recht in die zweite Rangstufe gruppiert werden (§ 1609 Nr. 2 BGB). Liegt Gleichrang mehrerer Berechtigter vor, wird der maßgebende Betrag nicht einfach nach der Anzahl der Berechtigten gleichmäßig geteilt, sondern die auf dieser Rangstufe verfügbare Summe wird im Verhältnis zur Höhe der Unterhaltsansprüche anteilig auf die Berechtigten verteilt.
1270
Die Rangordnung gilt für konkurrierende bürgerlich-rechtliche gesetzliche Unterhaltsansprüche, gleichgültig, ob es sich um Unterhaltsansprüche gleicher Art handelt oder verschiedene, auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhende. Es konkurrieren Ansprüche auf Unterhalt von Kindern aus verschiedenen Familien mit Ansprüchen verheirateter, getrenntlebender und geschiedener Ehegatten und Ansprüchen aus § 1615l BGB, die ihrerseits auf der gleichen Rangstufe konkurrieren können. Es ist auch gleichgültig, ob die Ansprüche tituliert sind, ob der Schuldner sie bestreitet, ob sie anerkannt worden sind oder ob sie überhaupt geltend gemacht werden. Die Rangordnung gilt nicht im Verhältnis Leibgedinge und Unterhalt und auch nicht für öffentlich-rechtliche Erstattungsansprüche, wohl aber für Unterhaltsansprüche, die kraft Gesetzes übergegangen sind oder vom Leistungsträger übergeleitet werden1. Auf vertraglich begründete Unterhaltsansprüche findet die gesetzliche Rangordnung keine Anwendung. 2. Vereinbarungen über den Rang
1271
Zwar ist die gesetzliche Rangordnung zwingendes Recht und kann weder durch Parteivereinbarung noch gerichtliche Entscheidung geändert werden2. Es stellt sich aber die Frage, ob die Ergebnisse einer Rangstufenregelung nicht durch eine vertragliche Vereinbarung steuerlich optimiert werden können. Diese Lösung bietet sich auf der ersten und zweiten Rangstufe an, wenn der Kindesunterhalt etwas niedriger angesetzt wird, um den Berechtigten der zweiten Rangstufe, also den Eltern, einen höheren Unterhaltsanspruch zu ermöglichen, der im Weg des steuerlichen Realsplittings nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG geltend gemacht werden könnte. Bei einer solchen Vereinbarung könnten Eltern diejenigen Nachteile ausgleichen, die sich aus dem absoluten Vorrang der minderjährigen Kinder und den ihnen Gleichgestellten i.S. des § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB ergäben. 1 Palandt/Brudermüller, § 1609 BGB Rn. 7. 2 Schürmann, FamRB 2007, 276 (279); Schürmann, FamRZ 2008, 313 (319).
800
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1274
Kap. 6 C
Einer solchen Vereinbarung steht jedoch § 1614 BGB entgegen. Danach 1272 kann auf den Kindesunterhalt für die Zukunft durch Vereinbarung nicht verzichtet werden. Zwar ist damit der Kindesunterhalt nicht jeglicher Vereinbarung entzogen. Die Schutzfunktion der Vorschrift greift aber bereits ein, wenn von dem gesetzlichen Unterhaltsanspruch iHv. mehr als 20 % abgewichen wird1. Da dem Minderjährigen jedenfalls der in § 1612a Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. § 36 Nr. 4 EGZPO geregelte Mindestunterhalt zusteht, kann der Kindesunterhalt nicht unbegrenzt herabgesetzt werden, um den Anspruch des Elternteils zu erhöhen2. § 1614 BGB gilt aber nicht nur für den Verwandtenunterhalt, sondern nach § 1360a Abs. 3 BGB für den Familienunterhalt, nach §§ 1361 Abs. 4 S. 4, 1360a Abs. 3 BGB für den Unterhaltsanspruch während der Trennung und nach § 1615l Abs. 3 S. 1 BGB auch für den Unterhaltsanspruch des nicht verheirateten Elternteils. Der nacheheliche Unterhaltsanspruch ist dagegen nach § 1585c BGB eher disponibel3. Verzichtet der Berechtigte auf seinen Unterhaltsanspruch oder macht er 1273 ihn nicht geltend, um beispielsweise seinen Kindern bei der Mangelverteilung eine höhere Quote zu sichern, rücken die im Rang nachfolgenden Berechtigten damit nicht automatisch in eine bessere Rangstufe auf. Die Verteilungsmasse vergrößert sich nicht zugunsten der nachrangigen Berechtigten. Eine solche Disposition ist eine zweckgerichtete Verfügung, die nicht dazu dient, dem sonst nachrangig Berechtigten den Gleichrang zu verschaffen4. In § 1609 BGB ist nur die Rangfolge gesetzlicher Unterhaltsansprüche geregelt. Vertraglich eingegangene Verpflichtungen, an eine Person Unterhalt zu zahlen, sind nicht zu berücksichtigen5. Sie können das System der gesetzlichen Rangfolge nicht unterlaufen6.
1 OLG Celle 5.7.1991 – 15 WF 149/91, FamRZ 1992, 94 (LS); KG v. 15.6.1995 – 16 UF 8095/94, FamRZ 1997, 627; OLG Hamm v. 1.12.1999 – 12 UF 38/99, FamRZ 2001, 1023; OLG Hamm v. 15.3.2006 – 11 WF 47/06, FamRZ 2007, 732 (Unterschreitung von 30,4 % noch ausnahmsweise zulässig) m. Anm. Bergschneider; OLG Brandenburg v. 24.3.2003 – 10 WF 29/02, FamRZ 2004, 558; offengelassen in BGH v. 27.6.1984 – IVb ZR 21/83, FamRZ 1984, 997 (999); Borth, UÄndG Rn. 288; Hauß, FamRB 2008, 52; Bergschneider, FamRZ 2008, 17. 2 Borth, UÄndG Rn. 288. 3 Zu Einzelheiten vgl. Bergschneider, FamRZ 2008, 17. Zur Disponibilität von nachehelichen Unterhaltsansprüchen BGH v. 11.2.2004 – XII ZR 265/02, FamRZ 2004, 601 (604, 605) = FamRB 2004, 105. 4 BGH v. 13.4.2005 – XII ZR 273/02, FamRZ 2005, 1154 m. Anm. Luthin und Maurer, FamRZ 2005, 1823; Schürmann, FamRB 2007, 276 (279). 5 BGH v. 12.12.1985 – III ZR 200/84, FamRZ 1986, 669. 6 Borth UÄndG Rn. 305.
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801
1274
Kap. 6 C Rn. 1275
Ehegattenunterhalt
3. Die reformierte Rangordnung 1275
Das UÄndG 2007 regelt die unterhaltsrechtliche Rangfolge in § 1609 BGB als wichtiges Anliegen der Reform1. Sie ist damit in einer zentralen Norm für alle Unterhaltsansprüche, seien es solche aus einem Verwandtschaftsverhältnis, aus der Ehe oder aus anderen Gründen zusammengefasst, die damit das schwer durchschaubare Zusammenspiel der §§ 1582, 1609, 1615l Abs. 3 aF BGB, 16 Abs. 2 LPartG aF ersetzt. Die in Katalogform übersichtlich gestaltete Bestimmung gestattet es, die unterhaltsrechtliche Rangfolge unmittelbar dem Gesetz zu entnehmen. Die erwähnten früheren Rangregelungen sind entweder aufgehoben worden (§ 1615l Abs. 3 S. 3 aF BGB) oder beschränken sich darauf, auf die neue Vorschrift (§ 1582 BGB) zu verweisen. Von der Reform verspricht sich der Gesetzgeber eine bessere Absicherung der materiellen Grundlagen beim Kindesunterhalt sowie eine erhebliche Vereinfachung bei der Rechtsanwendung2.
1276
Die Vorschrift sieht insgesamt sieben Rangstufen vor. Während die Rangfolge der § 1609 Nr. 4–7 BGB dem bisherigen Recht entspricht, enthalten die § 1609 Nr. 1–3 BGB die beiden zentralen Reformanliegen: Der Unterhaltsanspruch der minderjährigen Kinder und der ihnen Gleichgestellten (§ 1603 Abs. 2 S. 2 BGB) hat den absoluten Vorrang vor den Unterhaltsansprüchen anderer unterhaltsberechtigter Personen. Im Rang danach folgen – gleichrangig – die kinderbetreuenden Elternteile und Unterhaltsansprüche aus Ehen von langer Dauer. Das Lebenspartnerschaftsgesetz enthält ebenfalls nur noch eine Verweisung auf § 1609 BGB (§§ 5 Abs. 2, 12 S. 2, 16 LPartG). Die Vorschriften hingegen, welche den Rang des Unterhaltsverpflichteten regeln, sind erhalten geblieben (§§ 1584, 1606, 1608 BGB).
1277
Einen neuen Impuls in die Reformbemühungen des Gesetzgebers brachte die Entscheidung des BVerfG v. 28.2.20073, wonach die ungleiche Behandlung von ehelichen Kindern und solchen von nicht verheirateten Eltern mit Art. 6 Abs. 5 GG nicht zu vereinbaren ist. Diese Entscheidung zwang den Reformgesetzgeber nicht nur, die Ansprüche auf Betreuungsunterhalt nach §§ 1570, 1615l BGB, die bisher hinsichtlich der zulässigen Betreuungsperioden unterschiedlich strukturiert waren, synchron auszugestalten, sondern stellte die Frage nach der Reform der Rangordnung unter einem neuen Blickwinkel: Nicht mehr die verwandtschaftliche Nähe oder ein Familienstatus, sondern das Wohl des Bedürftigen entscheiden darüber, welche Rangstelle er einnimmt. Außerdem war mit dieser
1 Schwab spricht von der „eigentlichen Revolution des Entwurfs“, FamRZ 2005, 1417 (1421); zu den Zielen der Reform im Einzelnen vgl. Schürmann, FamRZ 2008, 313 (314/315). 2 BT-Drucks. 16/1830, 23 f. 3 BVerfG v. 28.2.2007 – 1 BvL 9/04, FamRZ 2007, 965 m. Anm. Borth = FamRB 2007, 226.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1280
Kap. 6 C
Entscheidung zwingend der Weg eröffnet worden, alle kinderbetreuenden Eltern unterschiedslos gleich zu behandeln. a) Minderjährige unverheiratete Kinder und Kinder i.S. des § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB aa) Absoluter Vorrang und Kindeswohlprinzip Die erste Rangstufe nehmen zwei Personengruppen gleichberechtigt ein: 1278 minderjährige Kinder und die sog. privilegierten Volljährigen nach § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB. Diese Rangstelle ist exklusiv: Nicht mehr zur ersten Rangstufe gehören betreuende Elternteile, die bislang jedenfalls dann gleichen Rang hatten, wenn sie mit dem Unterhaltspflichtigen verheiratet waren. Damit gewährt der Gesetzgeber dem Kind als dem „schwächsten Mitglied der Gesellschaft“ den absoluten unterhaltsrechtlichen Vorrang vor den betreuenden Ehegatten, die der zweiten Rangstufe zugeordnet sind. Die absolute Vorrangstellung der minderjährigen Kinder und der ihnen gleichgestellten privilegierten Volljährigen nach § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB ist das komplementäre Bindeglied zur gesteigerten Unterhaltsobliegenheit der Eltern gegenüber ihren minderjährigen und diesen gleichgestellten1 Kindern. Mit der privilegierten Stellung des Kindes im Rang gelingt dem Gesetz- 1279 geber der Anschluss an andere Bereiche des Familienrechts, die ebenfalls das vorrangige Kindeswohl als zentrales Anliegen im Auge haben, wie etwa § 1568a Abs. 1 BGB (§ 2 S. 2 HausratsVO aF) für den Bereich der Ehewohnung, die §§ 1696 Abs. 1, 1697a BGB für den Bereich der elterlichen Sorge, sowie § 137 Abs. 3 FamFG für den Bereich des verfahrensrechtlichen Verbunds. Die Förderung des Kindeswohls ist eines der zentralen Anliegen des UÄndG 2007: Sie wird durch eine geänderte Rangfolge beim Mangelfall, die verbesserte Rechtsstellung kinderbetreuender, nicht miteinander verheirateter Eltern und mit der gesetzliche Definition des Mindestunterhalts von Kindern erreicht2. Seit dem Inkrafttreten des BGB ist unbestritten, dass minderjährige Kinder am stärksten schutzbedürftig sind3. Das Prinzip des ersten Rangs lässt sich auch mit einem Blick auf benachbarte Rechtsordnungen rechtfertigen4. bb) Ziele der Reform Der unterhaltsrechtliche Vorrang der Kinder wird legislativ damit be- 1280 gründet, sie hätten nicht wie Erwachsene die Möglichkeit, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen. Erwachsene könnten dagegen grundsätzlich selbst für ihren Unterhalt aufkommen, so dass ihre Ansprüche auch des1 BT-Drucks. 16/1830, S. 23. 2 BT-Drucks. 16/1830, S. 16; Willutzki, ZRP 2007, 5 (6). 3 Klinkhammer, FamRZ 2007, 1205 (1210), auch zur geschichtlichen Entwicklung des Rangs. 4 Hohloch, FPR 2005, 486 (489/490).
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Kap. 6 C Rn. 1281
Ehegattenunterhalt
wegen nachrangig befriedigt werden müssten1. Diese Begründung ist nur teilweise überzeugend; auch die nachrangig zum Zuge kommenden Erwachsenen können ihre finanziellen Mittel für den Lebensunterhalt nicht selbst aufbringen, denn sonst wären sie nicht unterhaltsberechtigt2. Überzeugender ist die empirisch belegte Erwägung, die Bereitschaft Unterhaltspflichtiger, Kindesunterhalt zu zahlen, sei signifikant höher im Vergleich zur Bereitschaft, an den getrenntlebenden oder geschiedenen Ehegatten Unterhalt zu leisten3. Im Übrigen bedeutet die Reform eine Abkehr vom früheren „Gießkannenprinzip“, zu welchem der Mangelfall mit seiner verhältnismäßigen Kürzung aller erstrangigen Unterhaltsansprüche bisher geführt hat4. 1281
Die gegenüber dem kinderbetreuenden Elternteil privilegierte Rangstellung des Kindes hat die Folge, dass die Zahl der sozialhilfebedürftigen Kinder reduziert wird, was angesichts der schlechten sozialen Stellung, welche Kinder in Deutschland im europäischen Vergleich einnehmen, politisch erwünscht ist, um bessere Vergleichswerte in der Statistik zu erreichen5. Das mag gesetzgeberisch als ein legitimes Ziel erscheinen, die unterhaltsrechtliche Gesamtbilanz wird damit nicht nachhaltig verbessert. Denn aus Sicht des Familienverbandes, bestehend aus Kindern und betreuendem Elternteil, ist es letztlich gleichgültig, für wen der Unterhalt geleistet wird, für die Kinder, den Ehegatten oder beide: Am Gesamtbetrag des Unterhalts, den der Verpflichtete im Mangelfall zu bezahlen hat, ändert dies nichts6, vgl. Beispiel Rn. 1091, 1087.
1282
Im ungünstigsten Fall führen die absolute Vorrangstellung der Kinder und der Wegfall des Ehegattenunterhalts zu einer verminderten Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten. Denn die Zahlungen auf Ehegattenunterhalt können im Rahmen von § 10 EStG entweder am Ende eines Veranlagungszeitraums steuermindernd geltend gemacht oder von vornherein als Freibeträge in die Lohnsteuerkarte eingetragen werden (begrenztes Realsplitting). Diese Vorteile des Einkommensteuerrechts fallen weg, wenn die zur Verteilung anstehende Masse nur noch den Kindern zugeteilt wird und für den Ehegattenunterhalt keine Mittel übrig bleiben7. Ob sich diese 1 BT-Drucks. 16/1830, S. 16. 2 Zweifelnd auch Kemper, FuR 2007, 49 (50). 3 Dazu überzeugend Schürmann, FamRZ 2008, 313 (315): „Die Akzeptanz von Normen ist umso größer, wie diese einem verinnerlichten gesellschaftlichen Wertesystem entsprechen.“ 4 BT-Drucks. 16/1830, S. 23. 5 Zum Ende des Jahres 2003 waren 1,08 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren auf Sozialhilfe angewiesen; damit sind 38 % aller Sozialhilfeempfänger minderjährig gewesen; Nachweise bei Peschel-Gutzeit, FF 2005, 296 (299). 6 Hohloch, FPR 2005, 486 (490); Borth, FamRZ 2006, 813 (817); Kemper, FuR 2007, 49 (50); kritisch dagegen Schwab, FamRZ 2005, 1417 (1422). 7 Kemper, FuR 2007, 49 (50); Borth, FamRZ 2006, 813 (817); Borth, UÄndG Rn. 258, der darin einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz im Verhältnis zu besser verdienenden Unterhaltspflichtigen sieht; Born, NJW 2008, 1 (2); Rechenbeispiel bei Ehinger, FamRB 2006, 338 (342).
804
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Rn. 1285
Kap. 6 C
Konsequenz in der Praxis allerdings nachteilig auswirken wird, ist fraglich, weil diese Erwägungen nur auf einen begrenzten Personenkreis zutreffen und die wirtschaftlichen Auswirkungen auf niedrige Familieneinkommen gering sein werden1, vgl. Beispiel Rn. 1087. Das Gleiche gilt für die Geltendmachung von Unterhaltsleistungen als 1283 außergewöhnliche Belastungen in besonderen Fällen gem. § 33a Abs. 1 EStG, die beim Trennungs- und beim nachehelichen Unterhalt sowie dem Unterhaltsanspruch nach § 1615l Abs. 1 und 2 BGB zulässig ist2. Der absolute Vorrang kann auch dazu führen, dass mehr als bisher das staatliche Kindergeld in vollem Umfang anzurechnen ist, was die der Familie zur Verfügung stehende Gesamtsumme vermindern kann3. Der Vorteil ist allerdings, dass die zweistufige Berechnung im Mangelfall entfällt, wenn der Selbstbehalt des Schuldners gegenüber gleichrangig Berechtigten unterschiedlich hoch ist. Die Berechnung des Unterhalts wird daher infolge der neuen Rangregelung einfacher und für die Beteiligten transparenter4. cc) Absoluter Vorrang im Mangelfall der zweiten Rangstufe Das Prinzip des Vorrangs bedeutet, dass der volle Bedarf eines vorrangigen 1284 Unterhaltsgläubigers zu befriedigen ist, bevor die Ansprüche der Personen einer folgenden Rangstufe erfüllt werden können. Dieses an sich klare und einfach zu handhabende Vorrangprinzip scheint durch einen Hinweis in der Begründung des Regierungsentwurfs relativiert zu sein5. Dort heißt es, dass auch auf der Basis der neuen Rangordnung „auf den Rechenweg Bedacht zu nehmen“ ist, „um in Mangelfällen und hier insbesondere im Verhältnis vorrangiger Kinder zu nachrangigen Unterhaltberechtigten, etwa dem betreuenden Elternteil, oder im Verhältnis von Erst- und Zweitfamilien zu gerechten Ergebnissen zu gelangen“. Dabei könnten die unter der Geltung des alten Rechts entwickelten Methoden entsprechend genutzt und fortentwickelt werden, wobei die Maßgaben und Ziele der Reform berücksichtigt werden sollen. Die Begründung des Entwurfs geht davon aus, dass die vorgegebene Rangordnung „korrekturbedürftig“ sein kann, insbesondere dann, wenn die Erstfamilie „(zusätzlich) auf Sozialleistungen angewiesen ist, während die nach der Scheidung gegründete zweite Familie auch unter Berücksichtigung des Selbstbehalts des Unterhaltspflichtigen und des Vorteils aus einem eventuellen Ehegattensplitting einer neuen Ehe im konkreten Ver-
1 Schürmann, FamRZ 2008, 313 (320). 2 BFH v. 19.6.2008 – III R 57/05, FamRZ 2008, 2111 m. Anm. Schlünder/Geißler = FamRB 2009, 12. 3 Hohloch, FPR 2005, 486 (490); Schwab, FamRZ 2005, 1417 (1422) hält diese Vorstellung für irrig, dagegen Kemper, FuR 2007, 49 (50) aus Sicht des Praktikers. 4 Born, NJW 2008, 1 (2); Reinken, FPR 2009, 83. 5 BT-Drucks. 16/1830, S. 24.
Schlünder
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1285
Kap. 6 C Rn. 1286
Ehegattenunterhalt
gleich ein gutes Auskommen hat“1. Als Mittel der Korrektur bietet die Gesetzesbegründung beispielhaft zwei Instrumente an: den Selbstbehalt des Pflichtigen zu reduzieren oder „das rechnerische Gesamtergebnis im Wege einer Gesamtschau daraufhin zu überprüfen, ob … die Aufteilung des verfügbaren Einkommens auf die minderjährigen Kinder und den oder die unterhaltsberechtigten Ehegatten insgesamt billig und angemessen ist“2. 1286
Der Gesetzesbegründung ist nicht zu entnehmen, ob allgemein von der in § 1609 BGB vorgegebenen Rangordnung aus Gründen der Billigkeit abgewichen werden kann, um ein gerechtes Verteilungsergebnis im Verhältnis zu nachrangig Berechtigten zu erreichen3, oder ob lediglich der Maßstab betont werden soll, an welchem sich jede Unterhaltsberechnung messen lassen muss, nämlich der Grundsatz der Angemessenheit4. Die erstgenannte Auffassung kann sich auf die Rechtsprechung des BGH berufen, wonach der Anspruch eines Ehegatten durch Unterhaltsansprüche nachrangiger Gläubiger, zB der Eltern, aber auch volljähriger Kinder des Pflichtigen eingeschränkt werden kann5.
1287
Diesen Hinweisen des Gesetzgebers ist entnommen worden, dass sich der Kindesunterhalt nicht nach derjenigen Einkommensstufe der Düsseldorfer Tabelle richtet, welche dem Einkommen des Pflichtigen entspricht, sondern bis zur Höhe des Mindestunterhalts herabzugruppieren ist, wenn die verbleibende Verteilungsmasse für den vollen Unterhalt der zweiten Rangstufe nicht ausreicht6. Beispiel (nach AG Coburg v. 24.9.2009 – 1 F 512/09, FamRZ 2010, 576): Die minderjährige, von ihrer Mutter betreute K verlangt von ihrem Vater M Kindesunterhalt iHv. 120 % des Mindestunterhalts der 3. Altersstufe. M verfügt über ein Einkommen von 2050 Euro. M ist wieder verheiratet; seine jetzige Ehefrau ist krankeitsbedingt arbeitsunfähig und verfügt über keinerlei Einkünfte. M hat eine Jugendamtsurkunde über 105 % des Mindestunterhalts der jeweiligen Altersstufe errichtet. K macht einen Anspruch auf 120 % des Mindestunterhalts geltend. Zunächst stellt sich die Frage, ob K an dem Splittingvorteil der zweiten Ehe partizipiert oder ob das Einkommen des M auf die Grundtabelle herunterzurechnen ist. Diese Frage hat der BGH im ersten Sinn entschieden: Im Unterschied zum geschiedenen Ehegatten nimmt das Kind an Einkommensverbesserungen nach der 1 2 3 4
BT-Drucks. 16/1830, S. 24. BT-Drucks. 16/1830, S. 24. So Scholz, FamRZ 2007, 2021 (2028). So wohl Schwab, FamRZ 2005, 1417 (1423: „Vorrang ist Vorrang“); Borth, FamRZ 2006, 813 (817/818). 5 BGH v. 31.1.1990 – XII ZR 21/89, FamRZ 1990, 979 (980); BGH v. 10.7.1991 – XII ZR 166/90, FamRZ 1991, 1163 (1164). 6 Gerhardt/Gutdeutsch, FamRZ 2007, 778; Scholz, FamRZ 2007, 2021 (2029); Hauß, FamRB 2008, 52; OLG Köln v. 27.5.2008 – 4 UF 159/07, FamRZ 2008, 2119 = FamRB 2008, 265: Der Vorrang des Kindesunterhalts wirke sich nicht auf der Bedarfsebene, sondern erst auf der Ebene der Leistungsfähigkeit aus; AG Coburg v. 24.9.2009 – 1 F 512/09, FamRZ 2010, 576; aA Schwab, FamRZ 2005, 1417 (1423); Vossenkämper, FamRZ 2008, 201; Schürmann, FamRZ 2008, 313.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1288
Kap. 6 C
Scheidung regelmäßig teil; dies gilt auch für den Mangelfall1. Allerdings verringert sich der Splittingvorteil bei eigenem Einkommen des neuen Ehegatten, denn er ist nach dem Maßstab einer fiktiven Einzelveranlagung zwischen den Ehegatten aufzuteilen2. Des Weiteren fragt sich, ob bei dem hier vorliegenden Mangelfall eine Abgruppierung des Kindesunterhalts bis zum Mindestbedarf vorzunehmen ist, was die Düsseldorfer Tabelle in Anm. 1 Abs. 2 S. 3 auch vorschreibt. K ist gem. § 1609 Nr. 1 BGB, die zweite Ehefrau dagegen nach § 1609 Nr. 3 BGB einzustufen. Das Amtsgericht Coburg schließt sich hier der Meinung an, wonach eine Herunterstufung des Kindesunterhalts vorzunehmen ist und weist den Antrag des K ab. Schließt man sich der Meinung an, wonach der absolute Vorrang des Rangbegünstigten zu wahren ist, hat der Antrag von K Erfolg, vgl. nachstehende Rn. 1288.
Der Gesetzgeber betont den absoluten Vorrang des Kindesunterhalts, der 1288 dem Kindeswohl dient und die materiellen Grundlagen für die Pflege und Erziehung gewährleisten will. Das Prinzip des absoluten Vorrangs der minderjährigen und privilegierten volljährigen Kinder verträgt es nicht, dass die vorgegebene Rangfolge durch außerrechtliche Billigkeitserwägungen relativiert werden soll. „Deshalb sieht das Gesetz einen gestaffelten Schutz der verschiedenen Unterhaltsberechtigten vor, bei dem der vorrangig Berechtigte Unterhaltsansprüche eines nachrangig Berechtigten verdrängt“3. Zweitens enthält die Gesetzesbegründung selbst einen entsprechenden Hinweis auf das allgemeine Prinzip der Angemessenheitskontrolle, wenn es dort heißt, dass „wie schon bisher“ das rechnerische Gesamtergebnis zu überprüfen ist4. Damit bezieht sich der Gesetzgeber auf die bekannte Rechtsprechung und will nicht eine allgemeine Angemessenheitskontrolle auf der Ebene der Rangregelungen einführen. Schließlich gibt die Vorschrift selbst keinerlei Hinweise darauf, nach welchen Kriterien eine solche Korrektur zu erfolgen hätte. Im Ergebnis ist daher am strikten Prinzip des absoluten Vorrangs als dem erklärten Ziel der Unterhaltsreform festzuhalten5: Der Bedarf des erstrangigen Kindes ist der Einkommensstufe zu entnehmen, die dem Einkommen des Pflichtigen entspricht und nicht auf den Mindestunterhalt herabzustufen. 1 BGH v. 2.6.2010 – XII ZR 160/08, FamRZ 2010, 1318 Tz. 17 ff. = FamRB 2010, 336 und FamRB 2010, 261; BGH v. 17.9.2008 – XII ZR 72/06, FamRZ 2008, 2189 Tz. 15 ff. = FamRB 2008, 360. 2 BGH v. 17.9.2008 – XII ZR 72/06, FamRZ 2008, 2189 Tz. 15 ff. = FamRB 2008, 360. 3 BT-Drucks. 16/1830, S. 23. 4 BT-Drucks. 16/1830, S. 24. 5 Borth, FamRZ 2006, 813 (818) befürchtet zu Recht eine „Verwässerung“ der vom Gesetz gewollten Rangfolge, wollte man die Zuordnung der Rangstufen in einem zweiten Bewertungsschritt wieder „aufweichen“, räumt allerdings ein, dass dadurch die einkommensteuerlichen Abzugsmöglichkeiten wieder gewährleistet werden könnten; s. auch Borth, UÄndG Rn. 260; Schwab, FamRZ 2005, 1417 (1423); Schwab, FamRZ 2007, 1057; Vossenkämper, FamRZ 2008, 201 (210), der zu Recht darauf hinweist, dass sich die vom Gesetzgeber beabsichtigte Vereinfachung damit in ihr Gegenteil verkehren könnte; Schürmann, FamRZ 2008, 313 (320–322); Born, NJW 2008, 1; Palandt/Diederichsen, Nachtrag zur 67. Aufl. 2008 § 1609 BGB Rn. 26.
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Kap. 6 C Rn. 1289 1289
Ehegattenunterhalt
Der Unterhaltspflichtige ist allerdings nach § 1610 Abs. 1 BGB nur verpflichtet, den angemessenen Unterhalt an das Kind zu bezahlen. Daher ist auf ein ausgewogenes Verhältnis der vorrangigen Ansprüche im Verhältnis zu den nachrangigen auf Betreuungsunterhalt zu achten. Das kann erreicht werden, wenn die Bedarfskontrollbeträge der Düsseldorfer Tabelle angewendet werden1. Bei geringem Einkommen des Unterhaltspflichtigen kann dies dazu führen, dass den minderjährigen Kindern nur der Mindestunterhalt und den privilegierten Volljährigen nur der Unterhaltsbetrag der vierten Altersgruppe der Düsseldorfer Tabelle zusteht (s. dazu auch Rn. 492). Nur in diesen Fällen reduziert sich der Vorrang auf den Mindestunterhalt; grundsätzlich findet eine Herabgruppierung nicht statt. dd) Minderjährige unverheiratete Kinder
1290
Die Vorschrift umfasst alle Kinder, leibliche wie adoptierte (§ 1754 Abs. 1, 2 BGB), gleichgültig, ob sie innerhalb oder außerhalb einer bestehenden Ehe geboren wurden, und gleichgültig, ob das unterhaltsbedürftige Kind aus der ersten oder einer weiteren Ehe des Unterhaltspflichtigen stammt. Stiefkinder des Unterhaltspflichtigen genießen diese Vorrangstellung nicht, auch wenn sich der Pflichtige gegenüber der Ausländerbehörde zur Zahlung von Kindesunterhalt verpflichtet hat, um eine Familienzusammenführung zu ermöglichen2. Nur unverheiratete Minderjährige genießen die Privilegierung des ersten Rangs. Damit sind nach herrschender Meinung Kinder gemeint, die nie verheiratet waren, nicht dagegen Kinder, deren Ehe aufgelöst wurde, weil die gesteigerte Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB nicht wieder aufleben soll (nach § 1584 S. 1 BGB haftet der geschiedene Ehegatte vor den Verwandten des Berechtigten). ee) Privilegierte Volljährige
1291
Nach § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB stehen volljährige unverheiratete Kinder – hinsichtlich der gesteigerten (Bar)Unterhaltspflicht – bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres den minderjährigen unverheirateten Kindern gleich, solange sie im Haushalt der Eltern oder eines Elternteils leben und sich in der allgemeinen Schulausbildung befinden. Entfällt eine dieser Voraussetzungen (allgemeine Schulausbildung bzw. Leben im Haushalt eines Elternteils), fällt das berechtigte Kind vom ersten in den vierten Rang. Reichen die finanziellen Mittel des Unterhaltspflichtigen nicht aus, den
1 BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170; BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, FamRZ 2008, 968 (973) = FamRB 2008, 171 und FamRB 2008, 173; Klinkhammer, FamRZ 2008, 193; Büte, FuR 2008, 309 (313) mit einem instruktiven Beispiel. 2 BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 m. Anm. Büttner = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354.
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1295
Kap. 6 C
vollen Bedarf aller Kinder dieser Rangstufe zu bedienen, findet eine quotenmäßige Aufteilung auf alle statt. Die Regelung ist als eine Ausnahmebestimmung restriktiv formuliert. 1292 Eine analoge Anwendung über den klaren Wortlaut hinaus auf behinderte Kinder oder auf Volljährige, die nicht mehr in einer Schulausbildung stehen, ist daher nicht möglich1. b) Kinderbetreuende Elternteile, Ehegatten und geschiedene Ehegatten bei Ehe von langer Dauer (§ 1609 Nr. 2 BGB) Mit dem Rang des § 1609 Nr. 2 BGB hat der Gesetzgeber die Vorgaben des 1293 BVerfG eingelöst, eheliche und nichtehelich geborene Kinder nach Art. 6 Abs. 5 GG gleichzustellen. Das frühere Recht hat einen Nachrang des Anspruchs nach § 1615l BGB gegenüber dem Unterhaltsanspruch geschiedener Ehegatten vorgesehen. Die Vorschrift stellt alle Ansprüche auf Betreuungsunterhalt auf die gleiche Stufe zusammen mit Unterhaltsansprüchen aus ehebedingten Nachteilen nach langer Ehe. aa) Betreuende Elternteile (1) Betreuungsbedürftigkeit gemeinsamer Kinder Maßgebender Anknüpfungspunkt und zentrales Anliegen der Reform ist 1294 für diese Rangposition die Betreuungsbedürftigkeit eines oder mehrerer Kinder, nicht mehr wie vor der Reform der familienrechtliche Status als verheirateter Elternteil. Dabei ist gleichgültig, worauf der Anspruch wegen Betreuung gestützt wird: ob es sich um den Familienunterhalt nach §§ 1360, 1360a BGB, um den Trennungsunterhaltsanspruch nach § 1361 BGB oder den Betreuungsanspruch nach § 1570 BGB oder § 1615l BGB handelt. Gleichgültig ist auch, zu welchem Zeitpunkt dieser Anspruch entstanden ist. Mit der Einführung der Stiefkindadoption durch Lebenspartner2 gehören hierzu auch Unterhaltsansprüche von Lebenspartnern i.S.d. LPartG, wenn sie ein Adoptivkind betreuen3. Der im zweiten Rang privilegierte Ehegatte leitet seine Stellung aus der 1295 Betreuung des Kindes ab. Maßgebend ist die kausale Verknüpfung zwischen der Betreuung und der Berechtigung, dafür Unterhalt zu verlangen4. Voraussetzung ist, dass gemeinsame Kinder des Berechtigten und des Verpflichteten betreut werden, weil sonst kein Unterhaltsanspruch nach den oben genannten Vorschriften gegeben wäre. Dies betrifft Kinder, die in der Ehe geboren wurden (§§ 1591, 1592 Nr. 1 BGB – Ausnahme § 1599 Abs. 2 BGB) und solche, für die die Vaterschaft anerkannt oder ge1 Borth, UÄndG Rn. 267; Schürmann, FamRZ 2008, 313 (316). 2 § 9 Abs. 7 LPartG idF des Gesetzes zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts v. 15.12.2004 BGBl. I, S. 3396. 3 BT-Drucks. 16/1830, S. 24. 4 Schürmann, FamRZ 2008, 313 (316).
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Kap. 6 C Rn. 1296
Ehegattenunterhalt
richtlich festgestellt wurde (§ 1592 Nr. 2, 3 BGB). Kinder eines anderen Mannes, die nach der Regel des § 1592 BGB als gemeinschaftliches Kind gelten, behalten diesen Status bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Anfechtung bei1. Die zu betreuenden Kinder müssen nicht solche i.S.v. § 1609 Nr. 1 BGB sein; es kann sich um kranke volljährige oder behinderte Kinder handeln. 1296
Nicht erfasst werden von der Vorschrift Kinder aus einer früheren Beziehung oder Pflegekinder. Ein Anspruch auf Unterhalt für die Betreuung der letztgenannten Kinder kann sich im Hinblick auf die gemeinsam übernommene Verantwortung aus § 1576 BGB ergeben, insbesondere, wenn das Pflegekind als Kleinkind in die Familie aufgenommen wurde und schon längere Zeit in der Familie lebt2. Eine Zuordnung zur zweiten Ranggruppe nach § 1609 Nr. 2 BGB ist dennoch nicht möglich, weil die Vorschrift als maßgebliches Kriterium an dem Status des „Elternteils“ anknüpft3. (2) Unterhaltsanspruch wegen Betreuung eines Kindes
1297
Maßgebend ist, ob dem Elternteil ein Unterhaltsanspruch zusteht, weil er ein Kind betreut, oder ihm ein solcher im Fall der Scheidung zustehen würde. Voraussetzung ist, dass der Anspruch an die Bedürfnisse des Kindes gekoppelt ist, von einem Elternteil persönlich betreut zu werden. Eindeutig ist dies bei dem Basisanspruch nach § 1570 Abs. 1 S. 1 BGB für die ersten drei Lebensjahre des Kindes und bei dem Anspruch auf Verlängerung wegen kindbezogener Gründe nach § 1570 Abs. 1 S. 2 BGB. Zweifelhaft könnte aber sein, ob dem Annexanspruch nach § 1570 Abs. 2 BGB eine rangsichernde Wirkung zukommt, dessen Grundlage nicht das Bedürfnis ist, ein Kind zu betreuen. Dieser Anspruch auf Unterhalt wird nämlich gewährt, weil die Eheleute ihre ehelichen Lebensverhältnisse in einer bestimmten Weise gestaltet haben bzw. weil die Ehe von langer Dauer war (zu Einzelheiten s. Rn. 1299 ff.).
1298
Bei der intakten Ehe ergibt sich der Anspruch aus §§ 1360, 1360a BGB, der den Lebensbedarf der gemeinsamen unterhaltsberechtigten Kinder als Bestandteil des Anspruchs erfasst (§ 1360a Abs. 1 BGB). Der Gesetzgeber behilft sich in den zuletzt genannten Fällen mit dem fiktiven Anspruch nach § 1570 BGB („im Fall einer Scheidung [unterhaltsberechtigt] wären“). Der Anspruch auf Familienunterhalt fällt solange in den zweiten Rang, wie damit ein aus Anlass der Betreuung eines Kindes entstandener Unterhaltsbedarf gedeckt wird4. Die günstige Rangposition entfällt, wenn der Grund für ihre Privilegierung entfallen ist.
1 2 3 4
BGH v. 26.10 1984 – IVb ZR 36/83, FamRZ 1985, 51. BGH v. 25.1.1984 – IVb ZR 28/82, FamRZ 1984, 361 (363). Borth, UÄndG Rn. 297; Schürmann, FamRZ 2008, 313 (316). BT-Drucks. 16/1830, S. 24.
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Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1301
Kap. 6 C
bb) Ehen von langer Dauer § 1609 Nr. 2 BGB umfasst weiter den Unterhaltsanspruch des – gegen- 1299 wärtigen, getrenntlebenden oder geschiedenen – Ehegatten aus einer Ehe von langer Dauer. Zweck der Regelung ist der Schutz des Vertrauens1, welches ein langjährig verheirateter Ehepartner in die dauerhaft gewährleistete Versorgungsgarantie setzt. Der Gleichrang gilt unabhängig vom konkreten Unterhaltsanspruch, so dass auch Aufstockungs- und Billigkeitsansprüche mit dem Anspruch des Kinder betreuenden Elternteils konkurrieren können. Der Gesetzestext selbst nennt mit dem Verweis auf § 1578b BGB Anhaltspunkte, wann eine Ehe von langer Dauer vorliegt, auch die Gesetzesbegründung gibt Hinweise: Die Zeitspanne könne nicht absolut und für alle Fälle gleich gefasst werden. Die Bestimmung des Begriffs „lange Ehedauer“ sei vielmehr ein Akt wertender Erkenntnis, der anhand aller Umstände des Einzelfalls vom Gericht zu treffen ist2. Hinweise zur Auslegung ergeben sich aus dem Nachsatz in § 1609 Nr. 2, 1300 2. Halbs. BGB, wonach bei der Feststellung einer Ehe von langer Dauer auch die Nachteile nach § 1578b Abs. 1 S. 2 und 3 BGB zu berücksichtigen sind. Das sind im Wesentlichen die Nachteile, die im Hinblick auf die Möglichkeit eingetreten sind, für den eigenen Unterhalt zu sorgen. Insofern kann zur Auslegung des Merkmals „lange Ehedauer“ an die jüngere Rechtsprechung des BGH zur Befristung von Unterhaltsansprüchen angeknüpft werden3. Danach ist maßgeblich darauf abzustellen, ob zum Zeitpunkt der Scheidung oder später noch ehebedingte Nachteile vorliegen. Ist der berechtigte Ehegatte vollschichtig erwerbstätig und liegen sonst keine ehebedingten Nachteile vor, dürfte sich ein Rangproblem nicht stellen, weil der Unterhalt nach § 1578b BGB zu befristen ist. Die Darlegungs- und Beweislast für Tatsachen, die über eine gleichrangige 1301 weitere Unterhaltspflicht zu einer Leistungsunfähigkeit führen können, trägt der Unterhaltspflichtige. Hat dieser allerdings Tatsachen vorgetragen, die einen Wegfall ehebedingter Nachteile nahe legen, wie beispielsweise den Umstand, dass die geschiedene Ehefrau in ihrem vor der Ehe erlernten oder ausgeübten Beruf arbeitet, obliegt es dem Unterhaltsberechtigten, Umstände darzulegen und zu beweisen, die für fortdauernde ehebedingte Nachteile und somit für den Rang des Unterhaltsanspruchs nach § 1609 Nr. 2 BGB sprechen4.
1 Nach Ansicht von Schürmann, FamRZ 2008, 313 (318) durchbricht das Gesetz damit die ihm zugrunde liegenden Wertungen zugunsten eines „undifferenzierten Vertrauensschutzes.“ Allein der Zeitablauf sei kein geeignetes Kriterium, ein Vertrauen in den dauerhaften Erhalt der ehelichen Lebensstellung zu schützen. 2 BT-Drucks. 16/1830, S. 24. 3 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 (1918) m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327. 4 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 (1918) m. Anm. Maurer = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327.
Schlünder
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Kap. 6 C Rn. 1302
Ehegattenunterhalt
c) Sonstige Ehegatten und geschiedene Ehegatten (§ 1609 Nr. 3 BGB) 1302
In dieser Rangstufe finden sich Ansprüche von Ehegatten und geschiedenen Ehegatten, die nicht von den vorangehenden Rangklassen erfasst werden, weil sie keine Kinder betreuen und auch keine Ehe von langer Dauer vorliegt. Ehegatten dieser Rangstufe leiten ihre Ansprüche auf Unterhalt aus den §§ 1571–1576 BGB ab oder – für den Fall des Getrenntlebens – aus § 1361 BGB. Unterhaltsansprüche dieser Rangstufe setzen regelmäßig voraus, dass keine ehebedingten Nachteile mehr vorliegen, so dass die Frage der Begrenzung solcher Ansprüche im Vordergrund steht. d) Sonstige Kinder (§ 1609 Nr. 4 BGB)
1303
Die Rangstufe des § 1609 Nr. 4 BGB entspricht derjenigen des früheren Rechts. Der angesprochene Personenkreis sind verheiratete minderjährige und volljährige nicht privilegierte Kinder. Es wird sich idR um Kinder in einer Berufsausbildung oder einem Studium handeln und um solche, die wegen einer Behinderung oder Krankheit erwerbsunfähig oder nur eingeschränkt erwerbsfähig sind1. Die Gesetzesbegründung geht zutreffend davon aus, dass diese Kinder, die in aller Regel eine Ausbildungsvergütung erhalten oder Anspruch auf eine staatliche Ausbildungsförderung haben, eher darauf verwiesen werden können, für ihren eigenen Lebensbedarf zu sorgen2. Für die in Ausbildung befindlichen Kinder wird diese Erwägung zutreffen, nicht jedoch für Behinderte.
1304
Unabhängig vom Rang sind die vom Unterhaltspflichtigen für diese Kinder gezahlten Beträge beim Bedarf des berechtigten Ehegatten nach den ehelichen Lebensverhältnissen vorweg abzuziehen (s. dazu Rn. 616). e) Enkelkinder und weitere Abkömmlinge (§ 1609 Nr. 5 BGB)
1305
Enkelkinder und weitere Abkömmlinge sind gleichrangig und rangieren vor den Eltern und den und den weiteren Verwandten der aufsteigenden Linie, die in den folgenden Ranggruppen genannt sind. f) Eltern (§ 1609 Nr. 6 BGB)
1306
Das Gesetz weist den Eltern aufgrund der praktischen Bedeutung des Elternunterhalts einen eigenen Rang zu und nennt sie nicht in einem Atemzug mit den übrigen Verwandten der nächsten Ranggruppe; inhaltlich ändert sich dadurch allerdings nichts.
1 BGH v. 18.4.1984 – IVb ZR 49/82, FamRZ 1984, 683. 2 Zu dem Wertungswiderspruch beim Ausbildungsunterhalt vgl. Schürmann FamRZ 2008, 313 (319, weitere Nachweise Fn. 69).
812
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1310
Kap. 6 C
g) Weitere Verwandte der aufsteigenden Linie (§ 1609 Nr. 7 BGB) Alle weiteren Verwandten der aufsteigenden Linie nach den Eltern sind in dieser (praktisch wenig bedeutsamen) Rangklasse zusammengefasst, allerdings nicht gleichrangig wie die Personen der Gruppen Nr. 1, 2 und 5. Die Näheren gehen – wie auch nach altem Recht – den Entfernteren vor.
1307
h) Unterhaltsansprüche nach dem LPartG Nicht erwähnt sind in § 1609 BGB die Ansprüche, welche Lebenspart- 1308 nern nach dem LPartG zustehen. Allerdings sehen die §§ 5 Abs. 2, 12 S. 2, 16 S. 2 LPartG die entsprechende Anwendung der §§ 1570 bis 1586b und § 1609 BGB vor, so dass der Gleichrang mit den Ehegatten hergestellt ist. 4. Mittelbare Auswirkungen der Rangfolge Welche Personen an welcher Rangstelle stehen, ist eine rechtspolitische 1309 Entscheidung, die dem Gesetzgeber vorbehalten ist und die weitgehend von gesellschaftspolitischen Grundpositionen bestimmt wird. Insofern wird der Kreis der Personen oder Personengruppen, der vor anderen schutzwürdiger ist, mit der Rangfolge gezogen. Die Rangfolge bestimmt aber nicht nur den Kreis der Berechtigten, sie beeinflusst auch die Höhe der zu verteilenden Mittel1. a) Angemessener Lebensbedarf des Pflichtigen Auch der an günstigster Rangstelle stehende Unterhaltsgläubiger kommt 1310 trotz formal bestehenden Unterhaltsanspruchs nicht zum Zug, wenn der eigene angemessene Bedarf des Unterhaltspflichtigen nicht gewahrt wird. Einen festen Maßstab dafür kennt das Gesetz nicht, vielmehr ist es der Rechtsprechung überlassen, im Einzelfall die Grenzen zu bestimmen, ab wann der eigene Lebensbedarf des Pflichtigen gefährdet ist. Diese Grenzen werden mit den Selbstbehaltssätzen gezogen, die nicht für alle Unterhaltspflichtigen gleich hoch sind, sondern danach differenzieren, in welchem Unterhaltsrechtsverhältnis der Schuldner verpflichtet ist, Unterhalt zu leisten. Die Selbstbehaltssätze sind im Einzelnen der Düsseldorfer Tabelle zu entnehmen. Damit bestimmt der im Einzelfall anzuwendende Selbstbehalt die Höhe der zu verteilenden Mittel. Beispiel: Bei einem monatlichen Nettoverdienst des Pflichtigen von 1250 Euro richten sich die zu verteilenden Mittel nach der Höhe des jeweils anwendbaren Selbstbehalts. Liegt er, wie beim Ehegattenunterhalt vom BGH2 entschieden, bei 1050 Euro, können lediglich 200 Euro für Zwecke des Unterhalts des Ehegatten eingesetzt werden. Bei einem höheren Unterhaltsbetrag wäre der Selbstbehalt des Pflichtigen 1 Schürmann, FamRB 2007, 276 (279). 2 BGH v. 15.3.2006 – XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683 = FamRB 2006, 198.
Schlünder
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Kap. 6 C Rn. 1311
Ehegattenunterhalt
nicht gewahrt. Geht es um Unterhalt zugunsten von minderjährigen Kindern, liegt der Selbstbehalt des Pflichtigen bei 950 Euro, so dass die Differenz zu 1250 Euro, somit 300 Euro, für den Unterhalt frei sind1.
1311
Die freien Mittel für den Unterhaltsanspruch von Personen einer schlechteren Rangstufe werden dagegen von zwei Seiten begrenzt: einmal vom Selbstbehalt des Unterhaltsschuldners, zum anderen von Ansprüchen vorrangig zu bedienender Gläubiger2. Beispiel: Ist ein Unterhaltsschuldner bei einem Verdienst von 1500 Euro netto einem minderjährigen und einem volljährigen Kind gegenüber unterhaltspflichtig, wird zunächst das im ersten Rang stehende Kind bedient. Beträgt der monatliche Unterhalt für das minderjährige Kind 250 Euro, bleibt für das volljährige Kind nur noch 100 Euro übrig, wenn der Selbstbehalt des Unterhaltsverpflichteten gegenüber volljährigen Kindern 1150 Euro beträgt. Weitere Mittel für die Erfüllung des Anspruchs des Volljährigen stehen nicht zur Verfügung. Sein Unterhaltsanspruch wird durch den Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen und den Anspruch des Minderjährigen begrenzt.
b) Rangfolge und unterhaltsrelevantes Einkommen 1312
Das Unterhaltsrecht wird von dem Grundsatz beherrscht, dass alle verfügbaren Mittel für den Unterhalt einzusetzen sind, gleichgültig, woher sie stammen und welchem Zweck sie dienen. Allerdings ist das Einkommen keine homogene Größe mehr, weil es von einer Reihe sozialund steuerrechtlicher Gesichtspunkte bestimmt wird, die in unterschiedlicher Weise Einfluss auf seine Höhe haben3. Werden diese Vorteile aufgrund eines konkreten gesetzlichen Anlasses gewährt, hat das Unterhaltsrecht zu entscheiden, welchen Personen oder welcher Familie dieser Vorteil zuzuordnen ist. Diese Entscheidung kann sich jedoch nicht ausschließlich auf Gesichtspunkte einer Rangordnung stützen, wenn der konkrete Vorteil nicht für die nach dieser Rangordnung privilegierten Personen gedacht ist. Zu solchen aus steuerlichen und sozialen Gesichtspunkten gewährten Vorteilen hat sich zwischenzeitlich eine verzweigte Rechtsprechung gebildet, die den oben erwähnten Grundsatz in Frage stellt. Im Einzelnen hat der BGH die folgenden Fälle entschieden: Steuererstattung für nicht anerkannte Fahrtkosten4; Kinderanteil im Familienzuschlag für ein Stiefkind5; Verheiratetenanteil im Familienzuschlag
1 Der Selbstbehalt kann auf das Existenzminimum herabgesetzt werden, wenn der Pflichtige Kosten erspart, indem er mit seiner neuen Lebensgefährtin einen gemeinsamen Haushalt führt, BGH v. 9.1.2008 – XII ZR 170/05, FamRZ 2008, 594 m. Anm. Borth = FamRB 2008, 99. 2 Hierauf weist zu Recht Schürmann, FamRB 2007, 276 (279/280) hin. 3 Dazu und zum Folgenden Schürmann, FamRZ 2007, 276 (280). 4 BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 882 (884) = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231. 5 BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 211/02, FamRZ 2005, 1817 = FamRB 2005, 351, FamRB 2005, 353 und FamRB 2005, 354.
814
Schlünder
Ehegattenunterhalt
Rn. 1315
Kap. 6 C
nach § 40 Abs. 1 BBesG1; erhöhtes Arbeitslosengeld bei Wiederverheiratung2; Kinderfreibeträge nach § 32 Abs. 6 S. 2 EStG für den neuen Ehegatten3.
IV. Ausschlussgründe 1. Verwirkung des Unterhalts nach § 1579 BGB § 1579 BGB war bis zur Änderung der Rechtsprechung des BGH zur Be- 1313 fristung von Unterhaltsansprüchen4 und der Neuregelung der Befristung des Unterhaltsrechts ab 1.1.2008 ein wichtiges Einfallstor zum Wegfall oder zur Begrenzung von Unterhaltsansprüchen. Nunmehr kann nach § 1578b BGB bereits eine Herabsetzung und zeitliche Begrenzung aller nachehelichen Unterhaltsansprüche im Rahmen einer umfassenden Billigkeitsprüfung stattfinden. Dadurch hat § 1579 BGB an Bedeutung verloren. Sein Anwendungsbereich bleibt jedoch die Verwirkung des Unterhalts bei grober Unbilligkeit. Auch § 1579 BGB wurde zum 1.1.2008 geändert. Statt vorher sieben gibt 1314 es seither acht Ausschlusstatbestände. Geändert wurden die Formulierungen zur Ehe von kurzer Dauer (Nr. 1) sowie die frühere sozio-ökonomische Lebensgemeinschaft (subsumiert unter § 1579 Nr. 7 aF.), die jetzt unter § 1579 Nr. 2 als verfestigte Lebensgemeinschaft als selbständiger Härtegrund ausdrücklich benannt ist. Dadurch erfolgt eine deutliche Hervorhebung und Präzisierung. Die früheren Nr. 2 bis 7 sind jetzt die Nr. 3 bis 85. Die Inanspruchnahme des Unterhaltspflichtigen kann somit grob unbillig sein, wenn – die Ehe von kurzer Dauer war; dabei ist die Zeit zusätzlich zu berücksichtigen, in welcher der Berechtigte wegen der Pflege und Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes nach § 1570 BGB Unterhalt verlangen kann, – der Berechtigte in einer verfestigten Lebensgemeinschaft lebt, – der Berechtigte sich eines Verbrechens oder eines schweren vorsätzlichen Vergehens gegen den Verpflichteten oder einen nahen Angehörigen des Verpflichteten schuldig gemacht hat, – der Berechtigte seine Bedürftigkeit mutwillig herbeigeführt hat, 1 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197. 2 BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 163/04, FamRZ 2007, 983 m. Anm. Schürmann = FamRB 2007, 227. 3 BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 882; BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 163/04, FamRZ 2007, 983 m. Anm. Schürmann. 4 BGH v. 12.4.2006 – XII ZR 240/03, FamRZ 2006, 1006 f. = FamRB 2006, 263. 5 Vgl. etwa Kofler, NJW 2011, 2470 ff.
Schlünder/Meyer-Götz
815
1315
Kap. 6 C Rn. 1316
Ehegattenunterhalt
– der Berechtigte sich über schwerwiegende Vermögensinteressen des Verpflichteten mutwillig hinweggesetzt hat, – der Berechtigte vor der Trennung über längere Zeit hinweg seine Pflicht, zum Familienunterhalt beizutragen, gröblich verletzt hat, – der Berechtigte wegen eines offensichtlich schwerwiegenden, eindeutig bei ihm liegenden Fehlverhaltens dem Verpflichteten zur Last fällt oder – ein anderer Grund vorliegt, der ebenso schwer wiegt, wie die zuvor aufgeführten Gründe. a) Allgemeine Grundsätze 1316
Nach § 1579 BGB ist ein Unterhaltsanspruch bei Vorliegen eines oder mehrerer Ausschlusstatbestände, die in den Nr. 1 bis 8 genannt sind, zu versagen, herabzusetzen oder zeitlich zu begrenzen, soweit die Inanspruchnahme des Unterhaltsverpflichteten auch unter Wahrung der Belange eines dem Unterhaltsberechtigten zur Pflege oder Erziehung anvertrauten gemeinschaftlichen Kindes grob unbillig wäre.
1317
Im ersten Schrift ist zunächst zu prüfen, ob einer oder mehrere der in den Nr. 1 bis 8 genannten Verwirkungstatbestände vorliegen könnten.
1318
Im zweiten Schritt hat dann der Unterhaltsverpflichtete die Tatsachen dafür im Einzelnen darzulegen und ggf. zu beweisen. Sodann ist zu prüfen, ob eine grobe Unbilligkeit gegeben wäre. Dies erfolgt im Rahmen einer umfassenden Billigkeitsabwägung unter Einbeziehung aller Umstände des Einzelfalles. Da die Verwirkung nur bei grober Unbilligkeit eintritt, muss für den Unterhaltsverpflichteten die Grenze des Zumutbaren überschritten sein. Dabei sind ua. auch zu berücksichtigen – die Schwere des Härtegrundes, – ein eventuell eigenes Fehlverhalten des Unterhaltsverpflichteten, – die Dauer der Ehe, – die wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien.
1319
Der Unterhaltsverpflichtete kann sich jedoch auf den jeweiligen Härtegrund nicht mehr berufen, wenn er dem Unterhaltsberechtigten ausdrücklich oder konkludent durch sein Verhalten zu verstehen gegeben hat, dass er ihm ein entsprechendes Fehlverhalten verziehen hat. Dies müsste dann der Unterhaltsberechtigte darlegen und beweisen.
1320
Im dritten Schritt ist dann abzuwägen, ob die Belange eines dem Unterhaltsberechtigten zur Pflege oder Erziehung anvertrauten gemeinschaftlichen Kindes gewahrt bleiben.
816
Meyer-Götz
Ehegattenunterhalt
Rn. 1323
Kap. 6 C
Trotz Einführung des Zerrüttungsprinzips im Scheidungsverfahren wird 1321 durch die Verwirkungstatbestände des § 1579 BGB teilweise ein Verschuldensprinzip wieder eingeführt.
Û
Praxistipp: Die Härteklausel des § 1579 BGB ist eine rechtsvernichtende Einwendung, keine Einrede, und daher von Amts wegen zu berücksichtigen. Allerdings müssen Ausschlusstatbestände prozessual bei Vorliegen im Erstprozess eingebracht werden, da sonst Präklusion im Abänderungsverfahren eintritt. Es muss umfassend vorgetragen und ggf. Beweis angeboten werden.
Die verschiedenen Ausschlusstatbestände des § 1579 BGB können zum 1322 völligen Wegfall des Unterhaltsanspruchs führen oder auch nur zu einer zahlenmäßigen Herabsetzung und/oder zu einer zeitlichen Limitierung, nach deren Ablauf der Unterhaltsanspruch entfällt.
Û
Wichtig: In der Auskunftsstufe ist der Einwand der Verwirkung idR nicht zu berücksichtigen. Erst im Rahmen der Bezifferung findet die Billigkeitsabwägung nach § 1579 BGB statt.
b) Die einzelnen Verwirkungstatbestände aa) § 1579 Nr. 1 BGB (kurze Ehedauer) Gerechnet wird die Zeit zwischen Eheschließung und Rechtshängigkeit 1323 des Scheidungsverfahrens. Auf die Trennungszeit oder den Antrag auf Prozesskostenhilfe für die Ehescheidung kommt es nicht an. Im Regelfall ist eine Ehezeit bis zu zwei Jahren noch kurz, über drei Jahre jedoch nicht mehr als kurz anzusehen1. Zwischen zwei und drei Jahren Ehedauer muss geprüft werden, inwieweit die Ehegatten ihre Lebensführung in der Ehe aufeinander eingestellt und in wechselseitiger Abhängigkeit auf ein gemeinsames Lebensziel ausgerichtet haben. Deshalb kann sogar eine Ehedauer von über drei Jahren bei Nichtvorliegen dieser Voraussetzungen uU noch als kurz angesehen werden. Bei einer vierjährigen Ehe hat der BGH eine Verwirkung wegen kurzer Ehedauer schon abgelehnt2. Bei einer Ehedauer von fünf Jahren kann hingegen nur bei Vorliegen besonderer Umstände noch von einer kurzen Ehe ausgegangen werden, wenn zB die Eheleute nie zusammengelebt und -gewirtschaftet haben3.
Û
Praxistipp: Prozesstaktisch kann es deshalb wichtig sein, einem Unterhaltsverpflichteten eventuell zum möglichst raschen Einreichen des Schei-
1 BGH v. 25.1.1995 – XII ZR 195/93, FamRZ 1995, 1405. 2 BGH v. 30.3.2011 – XII ZR 3/09, FamRZ 2011, 791. 3 BGH v. 27.1.1999 – XII ZR 89/97, FamRZ 1999, 710 (712).
Meyer-Götz
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Kap. 6 C Rn. 1324
Ehegattenunterhalt
dungsantrags zu raten, hingegen einem möglicherweise Unterhaltsberechtigten zum Hinauszögern eines solchen. 1324
Vor dem 1.1.2008 lautete § 1579 Nr. 1 BGB neben dem Kriterium der kurzen Ehedauer: „Der Ehedauer steht die Zeit gleich, in welcher der Berechtigte wegen der Pflege oder Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes nach § 1570 BGB Unterhalt verlangen konnte“. Daraus konnte man den Schluss ziehen, dass ein Unterhaltsanspruch nach § 1570 BGB idR den Ausschlusstatbestand der kurzen Ehe aushebeln würde. Dazu hat jedoch das BVerfG1 entschieden, dass die Auslegung und Anwendung des § 1579 Nr. 1 BGB so nicht erfolgen könne. Es sei vielmehr geboten, zunächst auf die tatsächliche Ehezeit abzustellen und – wenn diese als kurz zu beurteilen wäre – anschließend die zur Wahrung der Belange des Kindes gesetzlich vorgesehene Abwägung vorzunehmen. Im Anschluss daran sei zu prüfen, inwieweit die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre2. Dem hat sich auch der BGH angeschlossen. Danach bedurfte es der Prüfung, inwieweit die Inanspruchnahme des Unterhaltsverpflichteten auf ungekürzten und unbefristeten Unterhalt auch unter Wahrung der Belange des dem Unterhaltsberechtigten zur Pflege und Erziehung anvertrauten Kindes der Parteien grob unbillig wäre und ob es dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspräche3.
1325
Diese Korrektur, die die Rechtsprechung schon vorgenommen hatte, hat sich nun im seit dem 1.1.2008 geltenden Gesetzestext niedergeschlagen, in dem dort nun bei kurzer Ehe formuliert ist: „Dabei ist die Zeit zu berücksichtigen, in welcher der Berechtigte mit der Pflege und Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes nach § 1570 BGB Unterhalt verlangen kann“. Bei der Pflege und Erziehung eines gemeinsamen Kindes wird deshalb die Ehedauer unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten betrachtet. Der Ausschluss von Betreuungsunterhalt wird nur ausnahmsweise gerechtfertigt sein, denn die Belange eines insbesondere kleinen Kindes sind vorrangig und seine Betreuung muss gewährleistet sein. Sind hingegen keine kleinen Kinder zu betreuen, greift der Verwirkungstatbestand der kurzen Ehe eher. Wichtige objektive Kriterien für die Prüfung sind auch das Maß der Verflechtung der beiderseitigen Lebensplanung und der Grad der wirtschaftlichen Abhängigkeit des Unterhaltsbedürftigen vom anderen Ehepartner4. Dies spielt insbesondere bei einer Ehedauer zwischen zwei und fünf Jahren eine erhebliche Rolle bei der Abwägung. Je stärker die Verflechtung zwischen den Ehegatten und damit die Abhängigkeit des wirtschaftlich Schwächeren ist, umso weniger ist von einer groben Unbilligkeit auszugehen5. Dabei wird auch eine vorherige langjäh-
1 2 3 4 5
BVerfG v. 4.7.1989 – 1 BvR 537/87, FamRZ 1989, 941. BVerfG v. 28.8.1992 – 1 BvR 928/92, FamRZ 1992, 1283. BGH v. 13.12.1989 – IVb ZR 79/89, FamRZ, 1990, 492, 494, 495. OLG Celle v. 26.8.2005 – 21 UF 27/05, FamRZ 2006, 553. OLG Celle v. 26.8.2005 – 21 UF 27/05, FamRZ 2006, 553.
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Meyer-Götz
Ehegattenunterhalt
Rn. 1327
Kap. 6 C
rige nichteheliche Lebensgemeinschaft mit dem späteren Ehepartner bei der Abwägung nicht unberücksichtigt bleiben können.
Û
Wichtig: § 1579 Nr. 1 BGB gilt nur für den nachehelichen Unterhalt und nicht für Trennungsunterhalt, die Nrn. 2–8 hingegen gelten für den Trennungs- und den nachehelichen Unterhalt (§ 1361 Abs. 3 BGB).
bb) § 1579 Nr. 2 BGB (verfestigte Lebensgemeinschaft) Die verfestigte Lebensgemeinschaft ist als Härtegrund nunmehr aus- 1326 drücklich benannt und nicht mehr Bestandteil des früheren Auffangtatbestandes in § 1579 Nr. 7 aF BGB. § 1579 Nr. 2 BGB will an die rein objektiven Gegebenheiten in den Lebensverhältnissen des Berechtigten anknüpfen, die eine dauerhafte Unterhaltsleistung unzumutbar machen1. Die frühere Rechtsprechung zur sozio-ökonomischen Lebensgemeinschaft kann auch weiterhin herangezogen werden. Eine verfestigte Lebensgemeinschaft liegt vor, wenn zwischen den Partnern so enge Bindungen bestehen, dass von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in den Notund Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann (Verantwortungsund Einstehensgemeinschaft)2. Sie knüpft dabei weder an eine intime Beziehung noch an § 7 SGB II oder an eine gemeinsame Wohnung an3. § 1579 Nr. 2 BGB findet meist dann Anwendung, wenn ein langjähriges Zusammenleben (idR zwei bis drei Jahre) des Unterhaltsberechtigten mit einem neuen Partner vorliegt4. Eine Verwirkung kann nach der Rechtsprechung vornehmlich bei folgenden Fallkonstellationen gegeben sein: – Der Unterhaltsberechtigte sieht nur deshalb von einer Heirat mit dem neuen Partner ab, um seinen Unterhaltsanspruch nicht zu verlieren5. Für diesen Härtegrund ist der Verpflichtete darlegungs- und beweispflichtig. Allerdings kommt eine Verwirkung des Ehegattenunterhalts wegen langjährigen Zusammenlebens mit einem neuen Partner eher beim nachehelichen Unterhalt als bereits beim Trennungsunterhalt in Betracht, da mangels Scheidung die neue Partnerschaft nicht an die Stelle einer Ehe treten kann. Hierbei kann aber auch geprüft werden, ob beim Bedürftigen wegen Haushaltsführung für einen neuen Lebensgefährten ein Einkommen anzusetzen ist6. Dies ist eine Frage der Bedarfsdeckung i.S.v. § 1577 Abs. 1 BGB, die bereits bei Beginn der neuen 1 BGH v. 5.10.2011 – XII ZR 117/09, FamRZ 2011, 1854 = FamRB 2011, 361; BGH v. 13.7.2011 – XII ZR 84/09, FamRZ 2011, 1498 = FamRB 2011, 299. 2 BVerfGE v. 17.11.1992 – 1 BvL 8/87, FamRZ 1993, 164. 3 OLG Düsseldorf v. 13.9.2011 – II – 7 UF 69/10, FamRZ 2011, 225. 4 Büttner, FamRZ 1996, 136. 5 BGH v. 21.12.1988 – IVb ZR 18/88, FamRZ 1989, 487; OLG Koblenz v. 29.3.2004 – 13 UF 567/03, NJW-RR 2004, 1373. 6 OLG München v. 5.12.1997 – 12 UF 1437/97, FamRZ 1998, 1589.
Meyer-Götz
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1327
Kap. 6 C Rn. 1328
Ehegattenunterhalt
Lebensgemeinschaft greift. Bei Haushaltsführung durch einen Nichterwerbstätigen wird idR ein Betrag zwischen 200 Euro bis 550 Euro angesetzt1. – Der Unterhaltsberechtigte hat zwar nachvollziehbare Gründe, von einer Heirat mit dem neuen Partner abzusehen, lebt jedoch mit ihm in einer Unterhaltsgemeinschaft. Dies ist gegeben, wenn die Partner über einen längeren Zeitraum gemeinsam wirtschaften, gemeinsame Kasse machen und sich gegenseitig unterstützen2. Die neue Lebensgemeinschaft muss einen Zeitraum angehalten haben, und zwar mindestens zwei bis drei Jahre lang3. Dies gilt auch, wenn in diese Zeitspanne eine einjährige Phase mit getrennten Wohnungen, aber ohne Abbruch der Beziehung fällt4. – Die neue Lebenspartnerschaft des Unterhaltsberechtigten hat sich in einem solchen Maße verfestigt, dass ein nichteheliches Zusammenleben an die Stelle der Ehe getreten ist. Hier spricht man von der verfestigten Lebensgemeinschaft5. Die Partner treten nach außen hin wie ein Ehepaar auf, stimmen ihre Freizeit- und Feriengestaltung miteinander ab, nehmen gemeinsam an Familienfeiern teil, benutzen gemeinsam die gleichen Gegenstände, das gleiche Kfz, versorgen sich bei Krankheit und Leiden und setzen sich gar schon gegenseitig als Erben ein6. Hier muss auch nicht zwingend ein Zeitraum von zwei bis drei Jahren eingehalten werden. Die Verfestigung kann auch schon nach kürzerer Zeit eintreten, wenn besondere Anhaltspunkte für die Annahme einer langjährigen gemeinsamen Zukunft vorliegen. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine gemeinsame Immobilie erworben wurde oder gemeinsame Kinder mit dem neuen Lebensgefährten geboren wurden7. – Eine neue Beziehung eines Ehepartners kann zusätzlich einen Verwirkungsgrund darstellen, wenn sie geeignet ist, den anderen Ehepartner in außergewöhnlicher Weise zu treffen, ihn in der Öffentlichkeit bloßzustellen oder ihn sonst in seinem Ansehen zu schädigen8. 1328
Keine verfestigte Lebensgemeinschaft wird hingegen bei kürzeren Liebschaften mit wechselnden Partnern angenommen9. Es ist auch nicht ein 1 So Nr. 6 zB der Süddeutschen Leitlinien, Stand 1.1.2012 u.Ä. auch die Leitlinien des OLG Köln, des OLG Düsseldorf, des OLG Koblenz und des OLG Dresden. 2 BGH v. 25.5.1994 – XII ZR 17/93, FamRZ 1995, 540. 3 OLG Celle v. 7.2.2008 – 17 UF 203/07, FamRZ 2008, 997. 4 OLG Hamm v. 9.5.2003 – 11 UF 321/02, FamRZ 2004, 375; OLG Zweibrücken v. 22.6.2007 – 2 UF 26/06, FamRZ 2008, 1630. 5 OLG Karlsruhe v. 30.9.2008 – 2 UF 21/08, FamRZ 2009, 351. 6 Schnitzler, FamRZ 2006, 239; OLG Koblenz v. 5.10.2005 – 7 WF 864/04, FamRZ 2006, 705 (gemeinsamer Telefaxanschluss). 7 OLG Schleswig v. 17.8.2004 – 8 UF 266/03, FamRB 2004, 387; OLG Köln v. 18.5.2004 – 14 WF 55/04, FamRZ 2005, 279 = FamRB 2004, 285; OLG Karlsruhe v. 12.10.2005 – 18 UF 305/04, FamRZ 2006, 706. 8 OLG Jena v. 23.9.2004 – 1 UF 140/04, FamRZ 2005, 1095 = FamRB 2005, 166. 9 OLG Köln v. 18.5.2004 – 14 WF 55/04, FamRZ 2005, 279 = FamRB 2004, 285.
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Meyer-Götz
Ehegattenunterhalt
Rn. 1331
Kap. 6 C
ständiges räumliches Zusammenleben notwendig1. Dies ist zwar ein wesentliches Indiz; es kann jedoch auch wie in einer Wochenendehe gelebt werden2. Die Voraussetzungen für eine Unterhaltsverwirkung wegen einer verfestigten (sozio-ökonomischen) Lebensgemeinschaft sind aber dann nicht gegeben, wenn beide Seiten ihren eindeutigen Lebensmittelpunkt in verschiedenen Wohnungen haben und der neue Partner erkennbar nur als Besucher in Erscheinung tritt3. Kein maßgebliches Kriterium für die Prüfung ist auch, ob der neue Le- 1329 benspartner leistungsfähig ist4. In der Gesetzesbegründung ist als entscheidendes Merkmal die neu eingegangene Lebensgemeinschaft benannt. Hieran besteht durchaus Kritik, weil sich allein mit der neuen Lebensgemeinschaft nicht ohne weiteres der Bedarf des Unterhaltsbedürftigen ermäßigt. Es ist wohl eher in der sich anschließenden Billigkeitsabwägung zu entscheiden, ob die dem an sich noch bedürftigen Ehepartner zu gewährende Unterhaltszahlung wegen der neuen Lebenspartnerschaft grob unbillig wäre5. Ein Verwirkungstatbestand nach § 1579 Nr. 2 BGB ist auch bei gleich- 1330 geschlechtlicher Partnerschaft gegeben. Dies wurde in der Vergangenheit in dieser allgemeinen Form eher verneint6. Seit einer Entscheidung des BGH von 2002 steht der Gleichbehandlung der Partnerschaften, seien sie verschiedener oder gleichgeschlechtlicher Natur, nichts mehr entgegen7. Wird sogar eine Lebenspartnerschaft nach dem LPartG begründet, so erlischt nach § 1586 Abs. 1 BGB der Unterhaltsanspruch. Der auf nachehelichen Ehegattenunterhalt in Anspruch genommene Erbe 1331 kann sich ebenfalls auf den Verwirkungsgrund des § 1579 Nr. 2 BGB berufen, soweit der Erblasser vorher nicht auf die Erhebung des Verwirkungseinwands verzichtet hatte8.
Û
Praxistipp: Um der Darlegungs- und Beweislast als Unterhaltsverpflichteter zu genügen, sind neben Zeugen auch seriöse und ausführliche Detekteiberichte günstig. Die dadurch entstehenden Detektivkosten sind überwiegend erstattungsfähig.
1 2 3 4 5 6 7 8
OLG Koblenz v. 8.12.2005 – 7 UF 189/05, FamRZ 2006, 1540. BGH v. 12.3.1997 – XII ZR 153/95, FamRZ 1997, 671. BGH v. 24.10.2001 – XII ZR 284/99, FamRZ 2002, 23 = FamRB 2002, 34. BGH v. 13.7.2011 – XII ZR 84/09, FamRZ 2011, 1498 Tz. 31 = FamRB 2011, 299. So auch Ehinger in: Ehinger/Griesche/Rasch, Rn. 535c. BGH v. 14.12.1994 – XII ZR 180/93, FamRZ 1995, 344. BGH v. 20.3.2002 – XII ZR 159/00, FamRZ 2002, 810 = FamRB 2002, 193; BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 7/05, FamRZ 2008, 1414 = FamRB 2008, 231. BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 259/01, FamRZ 2004, 614 = FamRB 2004, 153.
Meyer-Götz
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Kap. 6 C Rn. 1332
Ehegattenunterhalt
cc) § 1579 Nr. 3 BGB (schwere Straftat) 1332
Nach § 12 Abs. 1 StGB sind Verbrechen rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bedroht sind. Dies sind zB Mord und Totschlag, auch deren Versuch sowie Anstiftung oder Beihilfe dazu.
1333
Des Weiteren kommen schwere vorsätzliche Vergehen sowie deren Versuch und alle Teilnahmehandlungen an solchen Straftaten in Betracht. Vergehen sind nach § 12 Abs. 2 StGB rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe unter einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht sind. Damit sind Fahrlässigkeitstaten ausgeschlossen, ebenso Vergehen, die einen leichteren Unrechtsgehalt haben. Wie immer im Strafrecht ist ein schuldhaftes Verhalten erforderlich, so dass Delikte, die im schuldunfähigen Zustand begangen werden, ebenfalls ausscheiden. Handlungen eines Schuldunfähigen fallen somit zwar nicht unter § 1579 Nr. 3 BGB, können aber zu einer objektiv unzumutbaren Belastung des Unterhaltsverpflichteten führen und damit den Tatbestand des § 1579 Nr. 8 BGB erfüllen1. Ob ein Vergehen als schwer einzustufen ist, hängt allerdings nicht allein von der Höhe des angedrohten Strafmaßes ab, sondern davon, ob sich der Unterhaltspflichtige durch die Straftat besonders schwer getroffen fühlt. Es muss sich um eine gravierende Straftat handeln, die über das übliche Maß typischer ehelicher Auseinandersetzungen deutlich hinaus geht.
1334
Im Übrigen kommt es nicht darauf an, ob ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden bzw. ob es zu einer Verurteilung gekommen ist2. An eine etwa ergangene strafrechtliche Entscheidung ist das Familiengericht bei der Beurteilung des Härtegrundes ohnehin nicht gebunden. § 1579 Nr. 3 BGB ist aber wohl nicht anwendbar bei rechtskräftigem Freispruch oder nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft wegen Schuldunfähigkeit.
1335
Die Straftat muss sich gegen den Unterhaltspflichtigen oder einen nahen Angehörigen des Unterhaltspflichtigen gerichtet haben. Der Kreis der nahen Angehörigen ist nicht exakt bestimmt. Die Vorschrift bezieht sich indessen nicht auf den Grad der Verwandtschaft oder die strafrechtliche Sichtweise dieses Begriffes, sondern darauf, wie stark sich der Unterhaltspflichtige familiär mit dem Angehörigen verbunden fühlt3. Unter den Begriff „naher Angehöriger“ fallen daher ua. der neue Ehegatte, die Verlobte des Unterhaltspflichtigen, dessen Kinder und auch Pflegekinder, Eltern, Großeltern, Geschwister sowie nun auch Partner in nichtehelicher Lebensgemeinschaft und gleichgeschlechtliche Partner.
1 OLG Hamm v. 23.9.1997 – 7 UF 106/97, FamRZ 1998, 371. 2 OLG Hamm v. 29.11.1989 – 10 UF 80/88, FamRZ 1990, 887. 3 Palandt/Brudermüller, § 1579 BGB Rn. 17.
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Meyer-Götz
Ehegattenunterhalt
Rn. 1339
Kap. 6 C 1336
Fallbeispiele: – nicht provozierte Körperverletzung1, – geplante schwere Körperverletzung2, – Betrugshandlungen in Unterhaltsverfahren3, – versuchter Prozessbetrug im Zugewinnausgleichsverfahren4, – wissentlich falsche Strafanzeigen5, – ehewidrige Strafanzeigen6, – Diebstahl7, – sexuelles Vergehen gegenüber der Stieftochter im Zustand verminderter Schuldfähigkeit8, – Schusswaffengebrauch gegenüber dem Unterhaltspflichtigen9, – wiederholte Versendung von Post obszönen und grob beleidigenden Inhalts10.
In Betracht kommen können auch schwere fortgesetzte Beleidigungen11 und Verleumdungen12, die mit nachteiligen Auswirkungen auf die persönliche und berufliche Entfaltung sowie die Stellung des Unterhaltspflichtigen in der Öffentlichkeit verbunden sind. Bei Körperverletzungen und Beleidigungen ist allerdings zu beachten, dass es sich um Auswüchse handeln muss, die über das übliche Maß ehelicher Auseinandersetzungen hinausgehen und zu denen der Unterhaltspflichtige keine Veranlassung gegeben hat.
1337
Der Unterhaltsanspruch kann auch verwirkt sein, wenn ein Ehegatte nicht von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht und damit dem anderen Ehegatten erhebliche finanzielle Nachteile zufügt. Ein solches Verhalten ist mit der ehelichen Solidarität nicht vereinbar und verwerflich13. Dies kann allerdings nicht gelten, wenn sich die Straftat gegen den Unterhaltsberechtigten richtete und dieser als Zeuge vernommen werden soll.
1338
Ein häufiger Verwirkungsgrund ist das Verschweigen eigener Einkünfte, 1339 sofern dies zu einer Reduktion oder zum Wegfall des Unterhaltsanspruchs führen würde. Dies stellt einen strafbaren Prozessbetrug nach § 263 StGB dar. Das wird in der Praxis viel zu wenig beachtet. Das Ver1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
OLG Koblenz v. 28.3.1991 – 11 UF 1037/90, FamRZ 1991, 1312. OLG Zweibrücken v. 30.3.2001 – 2 UF 5/00, FamRZ 2002, 241 = FamRB 2002, 6. BGH v. 19.5.1999 – XII ZR 210/97, FamRZ 2000, 153. OLG Köln v. 6.8.2002 – 4 UF 76/01, FamRZ 2003, 678 = FamRB 2003, 76. OLG Koblenz v. 28.3.1991 – 11 UF 1037/90, FamRZ 1991, 1312. OLG Zweibrücken v. 7.12.1999 – 5 UF 36/99, FamRZ 2000, 1371. OLG Karlsruhe v. 4.5.2000 – 2 UF 178/99, FamRZ 2001, 833. OLG Hamm v. 29.11.1989 – 10 UF 80/88, FamRZ 1990, 887. OLG Düsseldorf v. 14.7.1993 – 4 UF 102/92, FamRZ 1994, 896. OLG Hamm v. 31.5.2000 – 6 UF 55/98, FamRZ 2000, 1371. BGH v. 16.9.1981 – IVb ZR 622/80, NJW 1982, 100; OLG München v. 14.2.2006 – 4 UF 193/05, FamRZ 2006, 1605 = FamRB 2006, 201. 12 OLG Hamm v. 12.10.1994 – 5 UF 39/93, FamRZ 1995, 808. 13 OLG Köln v. 4.5.1995 – 10 UF 216/94, FamRZ 1995, 1580.
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823
Kap. 6 C Rn. 1340
Ehegattenunterhalt
schweigen von Einkünften oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder auch unrichtige Angaben zu einer neuen Partnerschaft führen im Rahmen eines Prozesses zur Annahme eines Prozessbetrugs im Sinn des § 263 StGB. Damit erfüllt das Verhalten des Unterhaltsberechtigten grundsätzlich den Härtegrund des § 1579 Nr. 3 und Nr. 5 BGB. Bis zur Entscheidung des BGH v. 16.4.20081 lag ein Härtegrund des § 1579 Nr. 3 BGB (§ 1579 Nr. 2 aF BGB) in allen Fällen des Verschweigens von Informationen vor, gleichgültig ob dies während oder nach einem Prozess erfolgte. Die jetzt vom BGH vorgenommene Änderung ist konsequent und spiegelt den eigentlichen Härtegrund der Nr. 3, den strafrechtlichen Aspekt der Handlung oder Unterlassung, sauberer wieder. Durch das Verschweigen auch geringer eigener Einkünfte in einem Unterhaltsverfahren begeht der Unterhaltsberechtigte einen versuchten Prozessbetrug, der grundsätzlich ausreicht, die Rechtsfolgen des § 1579 Nr. 3 BGB auszulösen. Somit erfüllt ein vollendeter oder versuchter Prozessbetrug nach § 263 StGB grundsätzlich die Voraussetzungen des § 1579 Nr. 3 BGB2,3. 1340
Auch das pflichtwidrige Verschweigen höherer Einkünfte stellt einen vollendeten oder versuchten Prozessbetrug nach § 263 StGB dar. Damit ist sowohl § 1579 Nr. 3 als auch Nr. 5 BGB (der Berechtigte hat sich mutwillig über schwerwiegende Vermögensinteressen des Verpflichteten hinweggesetzt) gegeben4.
1341
Das OLG Düsseldorf ging schon in seiner Entscheidung v. 12.5.19815 davon aus, dass ein vorsätzlicher Verstoß gegen die Wahrheitspflicht in der Absicht, sich (oder einem Dritten) einen rechtswidrigen Vermögensvorteil, also insbesondere einen überhöhten Unterhaltstitel, zu verschaffen, den Vorwurf des vollendeten oder versuchten Prozessbetrugs begründet. In dieser Entscheidung wurde auch angesprochen, dass nicht schon jedes Vermögensdelikt, also nicht jede Bagatellstraftat, nicht jeder geringfügige Betrug zulasten des Verpflichteten für eine Verwirkung des Unterhaltsanspruchs ausreicht. Da der endgültige Verlust des Unterhaltsanspruchs eine sehr belastende und einschneidende Rechtsfolge für den Unterhaltsberechtigten sei, müsse der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit und der Billigkeit müsse man sich auch die Situation des unterhaltspflichtigen geschiedenen Ehegatten vergegenwärtigen. In vielen Fällen sei der Unterhaltsverpflichtete für die Prüfung, ob überhaupt und ggf. in welchem Umfang eine den Unterhaltsanspruch auslösende Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten bestehe, auf dessen wahrheitsgemäße Selbstauskunft angewiesen.
1 2 3 4 5
BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 107/06, FamRZ 2008, 1325 = FamRB 2008, 230. BGH v. 8.4.1981 – IVb ZR 566/80, FamRZ 1981, 539. OLG Düsseldorf v. 12.5.1981 – 6 UF 247/80, FamRZ 1981, 883. Schnitzler, FF 1999, 43. OLG Düsseldorf v. 12.5.1981 – 6 UF 247/80, FamRZ 1981, 883.
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Ehegattenunterhalt
Û
Rn. 1344
Kap. 6 C
Praxistipp: Maßgeblicher Zeitpunkt für Ausschluss oder Herabsetzung des Unterhalts ist der Moment der Verfehlung. Vor der Tat entstandene Unterhaltsansprüche bleiben grundsätzlich bestehen1. Ausnahmsweise kann jedoch bei besonders schwerwiegenden Verfehlungen des Unterhaltsberechtigten eine Verwirkung von Unterhaltsansprüchen auch für die Vergangenheit gegeben sein2. Wer jedoch nach dem ihm bekannt gewordenen Vorfall weiterhin freiwillig Unterhalt zahlt, macht hinreichend deutlich, dass er selbst das Geschehene nicht als so schwerwiegend bewertet. Er kann sich dann uU später nicht mehr auf einen Härtefall berufen. Es kann auch Präklusion im Unterhaltsprozess eintreten, wenn man sich nicht auf die bekannt gewordenen Härtegründe im laufenden Verfahren beruft.
dd) § 1579 Nr. 4 BGB (mutwillig herbeigeführte Bedürftigkeit) Mutwilliges Herbeiführen der Bedürftigkeit verlangt keinen Vorsatz, es 1342 reicht ein leichtfertiges Verhalten des Unterhaltsberechtigten aus, wobei er sich unter grober Missachtung dessen, was jedem einleuchten muss, oder in Verantwortungs- und Rücksichtslosigkeit über die Möglichkeit des Eintritts der Bedürftigkeit hinweggesetzt haben muss3. Sicherlich handelt mutwillig, wer selbst grundlos seinen Arbeitsplatz 1343 kündigt, ohne eine neue Stelle in Aussicht zu haben. Bei unfreiwilligem Arbeitsplatzverlust, dh. Kündigung durch den Arbeitgeber, kann sich der Unterhaltsgläubiger auf die eigene Leistungsunfähigkeit allerdings nicht berufen, wenn er seine Leistungsunfähigkeit durch unterhaltsbezogene Mutwilligkeit herbeigeführt hat. Diese setzt voraus, dass er die Möglichkeit des Eintritts der Leistungsunfähigkeit als Folge seines Verhaltens erkannt und im Bewusstsein dieser Möglichkeit, wenn auch im Vertrauen auf den Nichteintritt jener Folge, handelte4.
Û
Praxistipp: Bei Kündigung durch den Arbeitgeber sollte der Unterhaltsberechtigte anwaltlich prüfen lassen, ob eine Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht Aussicht auf Erfolg hätte und im Zweifel eine solche erheben.
Eine mutwillige Herbeiführung der Unterhaltsbedürftigkeit kann auch 1344 dann vorliegen, wenn sich der Unterhaltsberechtigte während der Trennungszeit einer als notwendig erkannten, erfolgversprechenden Ausbil-
1 BGH v. 9.11.1983 – IVb ZR 8/82, FamRZ 1984, 34. 2 BGH v. 12.11.2003 – XII ZR 109/01, FamRZ 2004, 612 = FamRB 2004, 178 und FamRB 2004, 184. 3 BGH v. 11.4.1990 – XII ZR 42/89, FamRZ 1990, 989 (991). 4 BGH v. 12.4.2000 – XII ZR 79/98, FamRZ 2000, 815.
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Kap. 6 C Rn. 1345
Ehegattenunterhalt
dungsmaßnahme für eine angemessene nacheheliche Erwerbstätigkeit verschließt1. 1345
Der durch die Trennung herbeigeführte Wohnortwechsel und damit einhergehende Verlust des Arbeitsplatzes stellt einen Härtegrund im Sinn des § 1579 Nr. 4 BGB dar. Die Pflicht zur ehelichen Solidarität und Rücksichtnahme fordert, einen während des Zusammenlebens innegehaltenen Arbeitsplatz zu behalten.
1346
In den Fällen der Erwerbslosigkeit, bei denen der Unterhaltsberechtigte die notwendigen Bemühungen um einen Arbeitsplatz nicht nachgewiesen hat, entfällt der Unterhaltsanspruch bereits wegen § 1573 Abs. 1 BGB. Auf § 1579 BGB kommt es dann nicht mehr an. Eine Verwirkung ist folglich nur dann zu prüfen, wenn der Unterhaltsberechtigte nicht in der Lage ist, einer Berufstätigkeit nachzugehen. Dies ist bei allen physisch oder psychisch kranken Bedürftigen zu prüfen.
1347
Bei Suchterkrankungen wie Alkohol-, Medikamenten- oder Drogenabhängigkeit ist ein mutwilliges Herbeiführen der Bedürftigkeit gegeben, wenn der Unterhaltsberechtigte seine Krankheit erkennt, aber mögliche und notwendige Behandlungsmaßnahmen unterlässt. Es ist in diesen Fällen aber genau zu prüfen, ob der Berechtigte angesichts seines Suchtverhaltens auch die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit für eine notwendige Behandlung hat2. Die Möglichkeit eines Suchtkranken, entsprechend der Einsicht zu handeln und sich Behandlungsmaßnahmen zu unterziehen, ist stark gemindert und teilweise ausgeschlossen. Eine mutwillige Herbeiführung der Bedürftigkeit kann darin aber nicht gesehen werden, da die Vorstellungen und Antriebe, die zur Abhängigkeit geführt haben, meist nicht unterhaltsbezogen sind. Demzufolge kann in vielen Fällen eine Verwirkung nicht angenommen werden, zumal wenn die Abhängigkeit bereits während bestehender Ehe vorlag3. Das Gleiche gilt bei neurotischen Erkrankungen, wenn ärztliche Hilfe gemieden bzw. keine Therapie durchgeführt wird4.
1348
Auch bei sonstigen Erkrankungen jeder Art muss sich der Unterhaltsberechtigte um Therapie und Heilung bemühen5.
1 BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 68/84, FamRZ 1986, 553; OLG Hamburg v. 18.9.1990 – 12 UF 69/90, FamRZ 1991, 445. 2 BGH v. 14.1.1987 – IVb ZR 89/85, FamRZ 1987, 359 (361); BGH v. 13.1.1988 – IVb ZR 15/87, FamRZ 1988, 375 (377); OLG Bamberg v. 11.3.1997 – 7 UF 50/96, FamRZ 1998, 370; OLG Zweibrücken v. 17.11.2006 – 2 UF 79/06, FamRZ 2007, 2073. 3 BGH v. 8.7.1981 – IVb ZR 593/80, FamRZ 1981, 1042. 4 OLG Hamm v. 3.12.1997 – 5 UF 281/96, FamRZ 1999, 237. 5 OLG Stuttgart v. 21.5.1996 – 17 UF 343/95, FamRZ 1997, 358.
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Meyer-Götz
Ehegattenunterhalt
Û
Rn. 1353
Kap. 6 C
Wichtig: Der Unterhaltsberechtigte kann sich idR nur exkulpieren, wenn er bereit ist, seine Krankheitsgeschichte und seine Bemühungen um Genesung vollständig vorzutragen und die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden.
Der BGH hatte sich mit der Frage auseinander zu setzen, ob eine Ehefrau 1349 ihren nachehelichen Unterhaltsanspruch verwirkt, wenn sie sich einer homologen In-vitro-Fertilisation unterzieht, obwohl der Ehemann sein Einverständnis zurückgezogen hat. Im Ergebnis hat der BGH der unterhaltsberechtigten Ehefrau die Verwirklichung ihres Kinderwunsches nicht als sinnloses leichtfertiges Verhalten vorgeworfen. Auch § 1579 Nr. 5 BGB sei insoweit nicht einschlägig1. Ein mutwilliges Herbeiführen der eigenen Bedürftigkeit kann auch vor- 1350 liegen, wenn der Bedürftige vorhandenes Vermögen verschwendet und nunmehr mittellos ist2. Dies kann auch bei einer unvernünftigen und unwirtschaftlichen Vermögensanlage gelten.
Û
Wichtig: Bei Spekulationsgeschäften ist Vorsicht geboten; allerdings dürfte eine Wertanlage in Aktien, soweit es sich um Standardwerte handelt, nicht vorwerfbar sein. Eine Wertanlage in mündelsicheren Wertpapieren ist hingegen völlig ungefährlich.
Anders ist es, wenn Gelder aus Zugewinnausgleich, Vermögensauseinandersetzung oder Erbschaft für berechtigte Zwecke ausgegeben wurden, zB für Verfahrenskosten, Umzug, notwendiges neues Mobiliar, Altersvorsorge3.
1351
Wird ein zugesprochener Vorsorgeunterhalt nicht bestimmungsgemäß verwendet, obwohl der Elementarunterhalt den Lebensbedarf ausreichend deckt, hat dies die Konsequenz einer Teilverwirkung im Rentenfall in Höhe des dadurch niedrigeren Renteneinkommens4. Auch die Unterlassung der Geltendmachung aussichtsreicher Rentenansprüche kann zu einer Verwirkung führen, wenn man nicht bereits vorher dem Unterhaltsberechtigten diese Ansprüche als fiktives Einkommen angerechnet hat.
1352
Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der mutwillig her- 1353 beigeführten Bedürftigkeit liegt allein beim Unterhaltsverpflichteten. Er muss substantiiert vortragen und beweisen, dass dem Verhalten des Unterhaltsberechtigten eine bewusste Handlung zugrunde liegt. Dies folgt aus der Rechtstellung des § 1579 BGB als Einwendung.
1 2 3 4
BGH v. 21.2.2001 – XII ZR 34/99, FamRZ 2001, 541. OLG Koblenz v. 26.6.1989 – 13 UF 1117/88, FamRZ 1990, 51. BGH v. 11.4.1990 – XII ZR 42/89, FamRZ 1990, 989. BGH v. 25.3.1987 – IVb ZR 32/86, FamRZ 1987, 684 (686).
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Kap. 6 C Rn. 1354
Ehegattenunterhalt
ee) § 1579 Nr. 5 BGB (Verletzung von Vermögensinteressen des Verpflichteten) 1354
Der Unterhaltsberechtigte setzt sich dann über schwerwiegende Vermögensinteressen des Verpflichteten hinweg, wenn er durch sein Verhalten die Einkünfte oder das Vermögen des Ehepartners mindert oder gefährdet1. Mutwillig bedeutet wie bei § 1579 Nr. 4 BGB vorsätzlich oder leichtfertig. Der Unterhaltsberechtigte muss sich unter grober Missachtung dessen, was jedem einleuchten muss, oder in verantwortungsloser bzw. rücksichtsloser Weise über die Möglichkeit der Vermögensgefährdung hinweggesetzt haben.
1355
§ 1579 Nr. 5 BGB verwehrt es dem Unterhaltsberechtigten nicht, seine Unterhaltsansprüche mit Nachdruck durchzusetzen. Dies darf aber nur mit Mitteln geschehen, die im Rahmen der nachehelichen Solidarität noch angemessen sind. Deshalb hat der Unterhaltsberechtigte alles zu unterlassen, was geeignet wäre, den Unterhaltspflichtigen nachhaltig zu schädigen, wenn es nicht zur Durchsetzung seiner berechtigten Ansprüche unerlässlich ist. Er darf den Unterhaltspflichtigen durch seine Maßnahmen nicht dazu bringen, dass er seiner Unterhaltspflicht kaum oder gar nicht mehr nachkommen kann.
1356
Fallbeispiele: – Ungefragte Wahrheits- und Offenbarungspflicht zu allen unterhaltsrechtlich relevanten Tatsachen2, – Verschweigen der Beendigung einer Ausbildung3, – bewusst falsche Angaben zum Zusammenleben mit einem neuen Partner4, – unberechtigtes Abheben vom Konto des Unterhaltspflichtigen5, – Denunziation beim Arbeitgeber mit dem Ziel des Arbeitsplatzverlustes6, – Anschwärzen und Unmöglichmachen bei Geschäftspartnern und potenziellen Auftraggebern7, (hingegen könnte die Vorsprache des Unterhaltsgläubigers beim Arbeitgeber des Unterhaltsschuldners wegen akuter oder künftiger Pfändung nicht ohne weiteres den Verwirkungseinwand nach § 1579 Nr. 5 BGB rechtfertigen8) – wissentlich falsche oder leichtfertige Strafanzeigen, wenn wirtschaftlich nachteilige Folgen nicht ausgeschlossen werden können9. Berechtigte Anzeigen erfasst § 1579 Nr. 5 BGB hingegen regelmäßig nicht10. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
OLG Düsseldorf v. 9.2.1996 – 6 UF 38/95, FamRZ 1996, 1418. BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 107/06, FamRZ 2008, 1325 = FamRB 2008, 230. BGH v. 30.5.1990 – XII ZR 57/89, FamRZ 1990, 1095. OLG Hamm v. 30.10.1996 – 1 UF 164/96, FamRZ 1997, 1337; OLG Koblenz v. 11.6.1999 – 11 UF 402/98, FamRZ 2000, 605. OLG Hamburg v. 11.8.1987 – 2 UF 48/86, FamRZ 1987, 1250. OLG Karlsruhe v. 31.7.1997 – 2 UF 30/97, FamRZ 1998, 746; OLG Köln v. 4.5.1995 – 10 UF 216/94, FamRZ 1995, 1580. OLG Düsseldorf v. 9.2.1996 – 6 UF 38/95, FamRZ 1996, 1418. OLG Hamm v. 7.1.1998 – 6 UF 60/97, FamRZ 1999, 235. OLG Koblenz v. 28.3.1991 – 11 UF 1037/90, FamRZ 1991, 1312. OLG Stuttgart v. 16.11.1978 – 17 WF 281/78 U, FamRZ 1979, 40 (Anzeige Unterhaltspflichtverletzung).
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Ehegattenunterhalt
Rn. 1360
Kap. 6 C
Bei einer Anzeige wegen Steuerhinterziehung ist Folgendes zu beachten 1357 und zu unterscheiden: Wenn die Anzeige nur erstattet wird, um die Einkommens- und Vermögenssituation des Unterhaltspflichtigen zu gefährden, ist § 1579 Nr. 5 BGB regelmäßig zu bejahen. Hat sich der Unterhaltspflichtige hingegen über die nach der Trennung weiter bestehende eheliche Solidarität hinweggesetzt, indem er im Unterhalts- oder Zugewinnausgleichsprozess Einkünfte oder Vermögen verschwiegen hat, ist der Tatbestand des § 1579 Nr. 5 BGB regelmäßig zu verneinen.
Û
Praxistipp: Oftmals wird bei Anzeigen wegen Steuerhinterziehung nicht bedacht, dass im Falle der Zusammenveranlagung beide Eheleute steuerstrafrechtlich relevant gehandelt haben könnten. Der Anzeigende sollte deshalb vorher ggf. eine strafbefreiende Selbstanzeige erstatten.
Allein in der Wahl getrennter steuerlicher Veranlagung ohne vorherige Absprache mit dem Unterhaltspflichtigen liegt noch keine mutwillige Verletzung schwerwiegender Vermögensinteressen nach § 1579 Nr. 5 BGB. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich der Unterhaltsberechtigte Schadenersatzansprüchen ausgesetzt sieht, wenn er der Zusammenveranlagung nicht zustimmt, da auch getrenntlebende Eheleute der dem Wesen der Ehe immanenten Verpflichtung unterliegen, die finanziellen Lasten des anderen Teils nach Möglichkeit zu verringern1. Allerdings müssen die dem Unterhaltsberechtigten ggf. entstehenden Nachteile aus der Zusammenveranlagung ausgeglichen werden. Dies gilt auch bei der Durchführung des begrenzten Realsplittings.
1358
Das Unterlassen von Informationen außerhalb eines gerichtlichen Ver- 1359 fahrens stellt einen Härtegrund nach § 1579 Nr. 5 BGB dar. Geht es zB um den Fortbestand einer Unterhaltsvereinbarung, erhöht sich die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Belange des anderen Teils. Der Unterhaltsberechtigte ist zB bei Abschluss eines Unterhaltsvergleichs im Hinblick auf seine vertragliche Treuepflicht gehalten, jederzeit und unaufgefordert dem anderen Teil Umstände zu offenbaren, die ersichtlich dessen Verpflichtungen aus dem Vertrag berühren2. Zu den selbstverständlichen, in ihrem Gewicht nicht zu unterschätzenden 1360 Pflichten des Unterhaltsberechtigten im vermögensrechtlichen Bereich gehört es, wahrheitsgemäße Angaben zur Bedürftigkeit, insbesondere also zu den eigenen Einkünften zu machen. Wer eine nicht vorhandene oder nicht in einem so erheblichen Umfang vorhandene Bedürftigkeit vorspiegelt, um überhöhte Unterhaltszahlungen zu erwirken, verdient es idR als gerechte Folge, dass er seinen Unterhaltsanspruch uU völlig verliert. Denn dem Unterhaltspflichtigen, der einmal in erheblicher Weise über 1 OLG Hamm v. 3.12.2003 – 11 UF 68/03, FamRZ 2004, 1786. 2 Palandt/Grüneberg, § 242 BGB Rn. 37; BGH v. 29.1.1997 – XII ZR 257/95, FamRZ 1997, 483 (484).
Meyer-Götz
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Kap. 6 C Rn. 1361
Ehegattenunterhalt
die Einkommensverhältnisse des geschiedenen Partners getäuscht worden ist, ist es nicht zumutbar, dem täuschenden Unterhaltsberechtigten weiter Unterhalt zu gewähren, schon deshalb nicht, weil er nunmehr Anlass genug hat zu befürchten, auch in Zukunft wieder getäuscht und betrügerisch geschädigt zu werden. Insoweit fordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht, dass die den betrügerischen Angaben entsprechenden, auf ihnen beruhenden Unterhaltszahlungen des Pflichtigen ihn in seiner wirtschaftlichen Existenz genauso hart treffen wie andererseits der völlige Verlust des Unterhaltsanspruchs den Berechtigten. Ein solches Verlangen wäre im Ergebnis ein übersteigerter unangemessener Schutz des Berechtigten1. 1361
Auch falsche Angaben darüber, ob ein eheähnliches Zusammenleben mit einem neuen Partner vorliegt, kann die Folge der Verwirkung des Unterhaltsanspruchs bewirken. Der Grundsatz von Treu und Glauben stellt nämlich eine Verpflichtung zur unaufgeforderten Mitteilung auch von Veränderungen in den persönlichen Verhältnissen des Unterhaltsgläubigers dar2.
1362
Die besondere Schwere und Verwerflichkeit des Verhaltens besteht darin, dass der Unterhaltsberechtigte vom Unterhaltsverpflichteten nacheheliche Solidarität fordert, es selbst es aber an einer solchen fehlen lässt und darauf abstellt, durch Täuschung des Unterhaltsverpflichteten eine ihm nicht zustehende Leistung zu verlangen3.
1363
In jüngster Zeit häufen sich in der Praxis Fälle, in denen der Unterhaltsberechtigte Kontoverfügungen tätigt, die den Unterhaltsverpflichteten tangieren. Einer Entscheidung des Oberlandesgericht Hamburg4 lag zugrunde, dass sich die Unterhaltsberechtigte im Rahmen ihrer Unterschriftsberechtigung von Konten des Unterhaltsverpflichteten in einem Zeitraum von weniger als einem Monat 17 500 DM hatte ausbezahlen lassen, ohne dass der Unterhaltsverpflichtete hiervon wusste oder damit einverstanden war. Das Oberlandesgericht prüfte dies unter dem Aspekt der §§ 242, 267 StGB und argumentiert, dass sich möglicherweise begangene Straftaten gegen den Unterhaltsverpflichteten nur dann unterhaltsverkürzend auswirkten, wenn es sich um schwerwiegende vorsätzliche Vergehen gegenüber dem Unterhaltspflichtigen handele. Ein derartiger Sachverhalt lasse sich jedoch nicht feststellen, weil die Unterhaltsberechtigte zum einen die vor der Trennung abgehobenen Gelder für die Ausgaben des gemeinsamen Haushalts verwendet habe und sich zur weiteren Abhebung nach ihrem Auszug auch noch berechtigt gefühlt habe, da sie bei der Eheschließung auf das Konto ihres Mannes 10 000 DM eingezahlt und dieses Geld nun nach der Trennung zur Bestreitung ihrer Umzugs1 OLG Düsseldorf v. 12.5.1981 – 6 UF 247/80, FamRZ 1981, 883; OLG Bamberg v. 31.10.2000 – 7 UF 59/00, FamRZ 2001, 834. 2 OLG Celle v. 23.4.1991 – 18 UF 186/90, FamRZ 1991, 1313. 3 Wendl/Dose/Gerhardt, § 4, Rn. 1286. 4 OLG Hamburg v. 11.8.1987 – 2 UF 48/86, FamRZ 1987, 1250.
830
Meyer-Götz
Ehegattenunterhalt
Rn. 1366
Kap. 6 C
kosten und ihres nötigen Unterhalts gebraucht habe. Auch wenn der Unterhaltsverpflichtete diese Einlassung bestritten habe, so ließen doch die Umstände das Verhalten der Unterhaltsberechtigten in einem milderen Lichte erscheinen, zumal sie von diesen Geldbeträgen in der Folgezeit habe leben müssen und wegen des von ihr im Vorwege vorgenommenen Ausgleichs auch keine Zugewinnausgleichsansprüche mehr geltend mache. Neuere höchstrichterliche Rechtsprechung liegt, soweit ersichtlich, hierzu nicht vor. Für die anwaltliche Praxis sind folgende Fallkonstellationen denkbar:
1364
– Es handelt sich um ein alleiniges Konto des Unterhaltsverpflichteten, der Unterhaltsberechtigte hat lediglich Unterschriftsvollmacht: Mit der Trennung der Parteien entfällt regelmäßig die Geschäftsgrundlage für die Unterschriftsberechtigung des anderen Ehegatten. Sinnvollerweise sollte deshalb der unterhaltsverpflichtete Ehegatte die Unterschriftsberechtigung des anderen gegenüber der Bank sofort widerrufen. Geschieht dies nicht und nutzt der Unterhaltsberechtigte die Chance, noch auf das Konto des Unterhaltsverpflichteten zugreifen zu können, so wird man dies in der Tat bei einem Zugriff für einen angemessenen Unterhalt nicht als verwerflich ansehen müssen. Eine ähnliche Erwägung könnte gelten, wenn der Unterhaltsberechtigte in berechtigter Sorge, der Unterhaltsverpflichtete könnte versuchen, sich einer berechtigten Zugewinnausgleichsforderung zu entziehen, auf das Konto des Unterhaltspflichten zugreift, wenngleich dies eine Untreue nach § 266 StGB darstellen würde. Eindeutig vorwerfbar wäre jedoch, wenn das Konto des Unterhaltspflichtigen über dieses Maß hinaus gar im vollen Umfange „abgeräumt“ würde.
Û
Wichtig: In der anwaltlichen Beratung ist Vorsicht geboten, wenn dem unterhaltsberechtigten Mandanten empfohlen wird, sich über das Übliche und Angemessene hinaus vom Konto des Unterhaltsverpflichteten zu bedienen. Dies könnte ein Verwirkungsgrund nach § 1579 Nr. 5 BGB sein.
– Gemeinsames Oder-Konto der Eheleute:
1365
Wenn es sich um ein gemeinsames Gehaltskonto handelt, spricht nichts dagegen, dass jeder Ehegatte sein dort eingehendes Gehalt abhebt. Auch wird es nicht vorwerfbar sein, wenn im Rahmen des bisherigen Familienunterhalts Abhebungen auch in der Trennungszeit vorgenommen werden. Auch eine Halbierung des Kontostandes per Abhebung ist im Hinblick auf die Sicherung von Zugewinnausgleichsansprüchen wohl zunächst kein vorwerfbarer Tatbestand und entspräche § 428 BGB. Dem Sicherungsgedanken kann jedoch auch dadurch Rechnung getragen werden, dass ein Kontoinhaber gegenüber der Bank verlangt, dass dieses Konto künftig als Und-Konto und nicht mehr als Oder-Konto Meyer-Götz
831
1366
Kap. 6 C Rn. 1367
Ehegattenunterhalt
geführt wird. Entsprechend den Bedingungen für Oder-Konten bzw. Oder-Depots mit Einzelverfügungsbefugnis ist nämlich jeder Kontoinhaber berechtigt, ohne Mitwirkung des anderen Kontoinhabers Leistungen an sich allein zu verlangen. Widerruft jedoch ein Kontoinhaber diese Einzelverfügungsbefugnis, so können die Kontoinhaber die Kontogeschäfte nur noch gemeinsam vornehmen. Die Bank muss dem Widerruf durch einen Kontoinhaber sofort Folge leisten. Damit wird erreicht, dass nur noch durch gemeinsame Unterschrift über dieses Konto verfügt werden kann.
Û
Praxistipp: Bei Trennung sollte sofort die Unterschriftsberechtigung des anderen Ehegatten widerrufen werden. Jeder Ehegatte sollte künftig ein eigenes Gehaltskonto führen. Oder-Konten sollten entweder gemeinsam aufgelöst oder sofort zur Sicherheit in Und-Konten umgewandelt werden.
ff) § 1579 Nr. 6 BGB (gröbliche Verletzung der Unterhaltspflicht vor der Trennung) 1367
Der Härtegrund des § 1579 Nr. 6 BGB ist dem durch das VAStrRefG v. 3.4.2009 (BGBl. I S. 700) aufgehobenen § 1587c Nr. 3 BGB nachgebildet, welcher den Ausschluss des Versorgungsausgleichs regelte (s. jetzt § 27 VersAusglG).
1368
Voraussetzung ist, dass der Unterhaltsberechtigte vor der Trennung über längere Zeit seine Verpflichtung, zum Familienunterhalt (§§ 1360, 1360a BGB) beizutragen, verletzt hat. Dies kann die Verletzung der Pflicht zur Haushaltsführung oder zur Kindesbetreuung oder der Pflicht zur Zahlung von Wirtschaftsgeld sein. In Betracht kommt auch regelmäßiges Vertrinken des Arbeitslohns oder arbeitsscheues Verhalten zulasten der Familie. Längere Zeit bedeutet mindestens ein Jahr. Außerdem muss die Pflichtverletzung gröblich, dh. also zumindest fahrlässig bzw. unterhaltsbezogen leichtfertig geschehen sein.
Û
Wichtig: Nach dem eindeutigen Wortlaut gilt die Pflichtverletzung nur für den Beitrag zum Familienunterhalt, nicht zum Trennungsunterhalt. Unterhaltspflichtverletzungen fallen unter § 1579 Nr. 3 BGB, soweit sie strafbar sind.
gg) § 1579 Nr. 7 BGB (schwerwiegendes Fehlverhalten) 1369
Hier handelt es sich um die in der Praxis am häufigsten vorgebrachte Einwendung gegen Unterhaltsansprüche. Dieser Härtegrund liegt vor, wenn den Unterhaltsberechtigten der Vorwurf eines offensichtlich schwerwiegenden, eindeutig bei ihm allein liegenden Fehlverhaltens gegen den 832
Meyer-Götz
Ehegattenunterhalt
Rn. 1372
Kap. 6 C
Unterhaltspflichtigen trifft1. Bei einer Gesamtabwägung des Verhaltens beider Parteien muss eine Unterhaltsverpflichtung einem objektiven Betrachter wegen vom Unterhaltsberechtigten begangener gravierender Ehewidrigkeiten unerträglich erscheinen. Da aufgrund des Zerrüttungsprinzips die Scheidungsgründe normalerwei- 1370 se keine Rolle mehr spielen, besteht die Gefahr, dass über die Unterhaltsproblematik alle Gründe, die zum Scheitern der Ehe führten, im Prozess vorgetragen werden und dabei versucht wird, diese einseitig dem unterhaltsberechtigten Partner anzulasten. Allerdings fällt unter § 1579 Nr. 7 BGB nur ein Fehlverhalten von erheblichem Gewicht. Typische verbale Auseinandersetzungen reichen hierfür ebenso wenig aus, wie der Wunsch eines Partners, trotz langer Ehezeit nunmehr allein leben zu wollen. Häufig wird vorgebracht, der Ehepartner sei aus einer „intakten“ Ehe ausgebrochen. Dies trifft jedoch in Wahrheit in den seltensten Fällen zu, da bereits der Ausbruch zeigt, dass die Ehe offensichtlich nicht „intakt“ gewesen sein kann. Ein beiderseitiges Fehlverhalten schließt die Anwendung von § 1579 Nr. 7 BGB aus. Bei Scheidungen dürfte dies bei näherem Hinsehen eher der Regelfall sein. 1371
Fallbeispiele: – einseitiger Verstoß gegen die eheliche Treuepflicht2, – rücksichtsloses Sitzenlassen eines kranken oder hilflosen Partners3, – Unterschieben eines außerehelichen Kindes als ehelich4, – Rachefeldzug, Telefonterror, Kontakterzwingung5, – fortgesetzte massive schuldhafte Vereitelung des Umgangsrechts6.
Der häufigste Fall des schwerwiegenden einseitigen Fehlverhaltens ist nach der Rechtsprechung der Verstoß gegen die eheliche Treuepflicht durch Aufnahme länger andauernder intimer Beziehung zu einem neuen Partner, wenn es dadurch zum Scheitern der Ehe kommt7. Hingegen be-
1 BGH v. 23.4.1980 – IVb ZR 527/80, FamRZ 1980, 665 (Ehebruchsfälle allgemein); BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 7/05, FamRZ 2008, 1414 (gleichgeschlechtliche Partnerschaft) = FamRB 2008, 231. 2 BGH v. 23.4.1980 – IVb ZR 527/80, FamRZ 1980, 665 (Ehebruchsfälle allgemein); BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 7/05, FamRZ 2008, 1414 (gleichgeschlechtliche Partnerschaft) = FamRB 2008, 231. 3 OLG Hamm v. 18.12.1980 – 3 UF 278/80, FamRZ 1981, 954. 4 OLG Köln v. 11.4.1997 – 4 UF 218/96, FamRZ 1998, 749. 5 OLG Hamm v. 14.7.1995 – 5 UF 31/95, FamRZ 1996, 223. 6 OLG München v. 29.10.1997 – 12 UF 1174/97, FamRZ 1998, 750; OLG Schleswig v. 14.6.2002 – 10 UF 16/00, FamRZ 2003, 688; BGH v. 14.3.2007 – XII ZR 158/04, FamRZ 2007, 882 = FamRB 2007, 229, FamRB 2007, 230 und FamRB 2007, 231. 7 BGH v. 28.3.1984 – IVb ZR 64/82, FamRZ 1984, 662 (664); OLG Frankfurt v. 25.6.1993 – 1 UF 222/92, FamRZ 1994, 169; KG v. 2.2.2006 – 19 UF 93/05, FamRZ 2006, 1542; OLG Köln v. 12.9.2002 – 4 UF 108/02, FamRZ 2003, 767; OLG Hamm v. 19.7.2011 – 13 UF 3/11, FF 2011, 505.
Meyer-Götz
833
1372
Kap. 6 C Rn. 1373
Ehegattenunterhalt
gründet ein einmaliger Ehebruch unter Alkoholeinfluss noch keine Verwirkung des Unterhaltsanspruchs1. 1373
Distanziert sich der Unterhaltsberechtigte erkennbar von der ehelichen Lebensgemeinschaft durch die Schaffung eines „bösen Scheins“ hinsichtlich einer nachhaltigen, über mehrere Monate bestehenden außerehelichen Beziehung, so kann dies zum vollständigen Wegfall des Trennungsunterhaltsanspruchs führen2.
1374
Eindeutig ist der Verwirkungstatbestand, wenn es mit dem neuen Partner nach der Trennung der Eheleute sofort zur Begründung einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft kommt3. Dies ist jedoch für die Erfüllung des Verwirkungstatbestandes nicht zwingend notwendig4.
1375
Auch die Aufnahme intimer Beziehungen zu wechselnden Partnern während der Ehe kann ein schwerwiegendes Fehlverhalten darstellen5. Als besonders schwerer Vertrauensbruch wird in der Rechtsprechung die Aufnahme eines Verhältnisses mit einem gemeinsamen Freund der Eheleute gesehen. Dabei ist es unerheblich, dass das Verhältnis bei der Trennung zunächst beendet war und erst später wieder auflebte. Die Beziehung zu einem neuen Partner6 muss nicht einmal den Geschlechtsverkehr einschließen7.
1376
Unter dem Gesichtspunkt des einseitigen Schuldvorwurfs können auch die Begleitumstände einer neuen Partnerschaft dann zur Anwendung des § 1579 Nr. 7 BGB führen, wenn sie geeignet sind, den Unterhaltsverpflichteten zu demütigen, bloßzustellen oder lächerlich zu machen und damit kränkend sind.
1377
Die Anwendung von § 1579 Nr. 7 BGB entfällt aber bei Ehebruch nach jahrelanger Verweigerung sexueller Kontakte8. Auch bei Alkoholmissbrauch des Unterhaltsverpflichteten erscheint die Abkehr des anderen Ehegatten von der Ehe in einem milderen Licht9.
1378
Wenn eine neue Beziehung erst aufgenommen wurde, nachdem der Partner bereits Scheidungsabsichten geäußert hat, ist dies eher unproblematisch10.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
OLG Hamm v. 29.3.2000 – 10 UF 150/99, FamRZ 2000, 1370. OLG Zweibrücken v. 30.3.2004 – 5 UF 115/03, FamRZ 2004, 1576. OLG Hamm v. 3.6.1997 – 7 UF 523/96, FamRZ 1997, 1484. BGH v. 25.2.1981 – IVb ZR 544/80, FamRZ 1981, 439; BGH v. 3.2.1982 – IVb ZR 654/80, FamRZ 1982, 463. BGH v. 12.1.1983 – IVb ZR 348/81, FamRZ 1983, 670. KG v. 18.8.1988 – 19 UF 1296/88 FamRZ 1989, 868. OLG Celle v. 21.4.1998 – 19 UF 252/97, FamRZ 1999, 508. KG v. 16.5.1991 – 16 UF 7355/90, FamRZ 1992, 571. OLG Bamberg v. 25.6.1986 – 2 UF 132/86, FamRZ 1986, 1104. BGH v. 8.12.1982 – IVb ZR 331/81, FamRZ 1983, 150.
834
Meyer-Götz
Ehegattenunterhalt
Rn. 1383
Kap. 6 C
Nach der Ehescheidung besteht zwar keine Treuepflicht mehr, dann könnte allerdings § 1579 Nr. 8 BGB zur Anwendung kommen1. Als eheliches Fehlverhalten kommt nicht nur die Verletzung der ehe- 1379 lichen Treuepflicht in Betracht. Die Härteklausel des § 1579 Nr. 7 BGB kann auch bei hartnäckigen Verstößen des Unterhaltsberechtigten gegen das gerichtlich geregelte Umgangsrecht mit dem gemeinsamen Kind verwirklicht sein2. Ein eheliches Fehlverhalten kann auch vorliegen, wenn die Ehefrau (mit bedingtem Vorsatz handelnd) dem Ehemann ein während der Ehe empfangenes, aber nicht von ihm stammendes Kinder unterschiebt3.
1380
Auch schwerwiegende Beleidigungen, verbunden mit Telefonterror, auch 1381 über SMS, E-Mail, sog. soziale Netzwerke (facebook) etc. können zum Ausschluss führen. Das schwerwiegende eheliche Fehlverhalten muss einseitig sein, es muss also dem unterhaltsberechtigten Ehepartner allein anzulasten sein. Hat zB zunächst der unterhaltsverpflichtete Ehepartner außereheliche Beziehungen aufgenommen und sich dann der unterhaltsberechtigte Ehepartner ebenfalls einem neuen Partner zugewandt, liegt kein einseitiges Fehlverhalten vor4.
1382
Haben sich die Eheleute hingegen Ehebrüche durch Wort oder Tat verzie- 1383 hen, so greift § 1579 Nr. 7 BGB nicht. Eine vorangegangene Verzeihung von Ehebrüchen nimmt jedoch bei späterer Aufnahme einer neuen nichtehelichen Lebensgemeinschaft nicht den Verwirkungseinwand5.
Û
Praxistipp: Um den Vorwurf des schwerwiegenden Fehlverhaltens darzustellen oder zu entkräften, muss mit dem betroffenen Mandanten sehr präzise vorgearbeitet werden. Es müssen ggf. zuverlässige Zeugenaussagen zur Verfügung stehen und zB seriöse und detaillierte Detekteiberichte in Auftrag gegeben werden. Diese Detektivkosten sind dann ggf. erstattungsfähig6.
1 BGH v. 14.12.1994 – XII ZR 180/93, FamRZ 1995, 344. 2 BGH v. 14.1.1987 – IVb ZR 65/85, FamRZ 1987, 356; OLG Karlsruhe v. 11.11.1997 – 2 UF 62/97, FamRZ 1999, 92 (zusätzlich mit der unrichtigen Behauptung sexueller Kindesmisshandlung); OLG München v. 14.2.2006 – 4 UF 193/05, FamRZ 2006, 1605 = FamRB 2006, 201; OLG Schleswig v. 25.2.2004 – 12 UF 23/02, FamRZ 2004, 808. 3 OLG Köln v. 11.4.1997 – 4 UF 218/96, FamRZ 1998, 749. 4 BGH v. 25.2.1981 – IVb ZR 544/80, FamRZ 1981, 439. 5 So Büttner/Niepmann, NJW 2001, 2215 (2216). 6 OLG Frankfurt v. 15.2.2000 – 5 WF 147/98, FF 2002, 142.
Meyer-Götz
835
Kap. 6 C Rn. 1384 1384
Ehegattenunterhalt
Der Unterhaltsverpflichtete trägt die Beweislast für das Fehlverhalten als solches und auch dafür, dass es einseitig gewesen ist, es also keinen Grund zum Ausbruch gab. Das Bestreiten des Vortrags ist wohl allgemein das wirksamste Mittel zur Verteidigung durch den Unterhaltsberechtigten1.
Û
Wichtig: Die Problematik der Anwendung von § 1579 Nr. 7 BGB besteht letztendlich darin, das eindeutig auf einer Seite liegende Fehlverhalten nachzuweisen.
hh) § 1579 Nr. 8 BGB (sonstiger schwerwiegender Grund) 1385
Seit der Neuregelung des § 1579 BGB durch das UÄndG 2007 enthält die Nr. 8 den allgemeinen Auffangtatbestand, der dann eingreift, wenn die Nrn. 2–7 nicht zur Anwendung kommen. Früherer Anwendungsfall war die nichteheliche Lebensgemeinschaft, die jetzt unter Nr. 2 geregelt ist. Nr. 8 wird daher nicht mehr die praktische Bedeutung wie früher zukommen.
1386
Es kann jedoch eine Korrektur der nicht unter Nrn. 2–7 fallenden Verwirkung vorgenommen werden, wenn die Unterhaltspflicht nicht wegen subjektiver, sondern wegen objektiver Gegebenheiten unzumutbar wird2. Dies wäre dann der Fall, wenn keine kurze Ehe nach Nr. 1 mehr vorliegen würde, aber die Eheleute tatsächlich nur sehr kurz zusammengelebt haben3, oder die Erwerbsunfähigkeit durch Medikamentenmissbrauch herbeigeführt worden ist, jedoch Nr. 3 nicht greift4.
1387
Weiterhin kommt eine teilweise Verwirkung des nachehelichen Unterhalts in Betracht, wenn ein eklatanter Vertrauensmissbrauch stattgefunden hat, so zB wenn ein Ehepartner trotz Trennungsabsicht mit in den Urlaub fährt und während des Urlaubs ohne vorherige Absprache mit dem anderen Ehepartner die Auflösung des gemeinsamen Haushalts hinter dessen Rücken organisiert5.
1388
Darüber, ob und inwieweit die Inanspruchnahme des Unterhaltspflichtigen grob unbillig wäre, entscheidet nicht allein die Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten, vielmehr ist zu prüfen, ob die volle oder teilweise Inanspruchnahme des Unterhaltspflichtigen in einem groben Widerspruch zum Empfinden aller billig und gerecht Denkenden stehen würde. Dazu bedarf es einer umfassenden Billigkeitsabwägung, bei der ua. folgende Kriterien eine Rolle spielen können: 1 2 3 4 5
OLG Frankfurt v. 25.9.2006 – 25 U 21/05, FamRZ 2007, 1169. So Ehinger in: Ehinger/Griesche/Rasch, Rn. 544. BGH v. 11.5.1988 – IVb ZR 42/87, FamRZ 1988, 930. BGH v. 10.2.1988 – IVb ZR 16/87, FamRZ 1988, 927. OLG Schleswig v. 6.2.2004 – 10 UF 91/02, FamRB 2004, 176 = NJW-RR 2004, 799.
836
Meyer-Götz
Ehegattenunterhalt
Rn. 1392
Kap. 6 C
– die wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien und ggf. eines neuen Partners, wobei nach der Begründung des RegE des UÄndG 2007 dessen Einkommen keine Rolle mehr spielen soll, – die Dauer der Ehe, Alter und Gesundheitszustand der Beteiligten, – die Schwere des Härtegrundes, – Interessen gemeinschaftlicher Kinder. Ein verwirkter Unterhaltsanspruch kann uU wieder aufleben, zB wenn ein langjähriges Zusammenleben mit einem neuen Partner (§ 1579 Nr. 2 BGB) beendet wurde1 oder ein bislang verweigertes Umgangsrecht wieder auf Dauer eingeräumt wird2.
1389
c) Rechtsfolgen der Härtefallklausel: Wegfall, Herabsetzung oder zeitliche Begrenzung des Unterhaltsanspruchs Ein vollständiger Wegfall des Unterhalts kommt nur in den Fällen in Be- 1390 tracht, in denen klar zulasten des Unterhaltsberechtigten gewichtet werden kann. Dabei sind jedoch Belange gemeinsamer Kinder auf jeden Fall zu berücksichtigen. Hier kann eine Herabsetzung bis auf das Existenzminimum3 uU in Betracht kommen. Des Weiteren kann vor allem bei nicht allzu langer Ehe eine zeitliche Befristung des Unterhaltsanspruchs in Betracht kommen, insbesondere dann, wenn keine gemeinsamen Kinder vorhanden sind. Der im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum UÄndG 2007 geäußerte Gedanke, die Dauer des Unterhalts daran auszurichten, wie lange die Ehe gedauert hat, wurde jedoch nicht kodifiziert. Welche Rechtsfolgen im Einzelnen eintreten, ist tatrichterliches Ermes- 1391 sen. Wichtig für die forensische Praxis ist, sämtliche Gesichtspunkte je nach Interessenlage in den Prozess einzubringen, damit der Familienrichter eine Gewichtung und Interessenabwägung vornehmen kann.
Û
Wichtig: Liegen die Voraussetzungen für eine Verwirkung des Unterhaltsanspruchs mit den Rechtsfolgen Wegfall, Herabsetzung oder zeitliche Begrenzung vor, muss dies entsprechend geltend gemacht bzw. beantragt werden, damit keine Präklusion bei einem späteren Abänderungsverfahren eintritt4.
d) Darlegungs- und Beweislast Der Unterhaltspflichtige muss die tatsächlichen Voraussetzungen der 1392 rechtsvernichtenden Einwendungen des § 1579 BGB darlegen und be1 BGH v. 6.5.1987 – IVb ZR 61/86, FamRZ 1987, 689. 2 OLG München v. 29.10.1997 – 12 UF 1174/97, FamRZ 1998, 750. 3 OLG Hamm v. 30.6.2006 – 11 UF 10/06, FamRZ 2006, 1538 = FamRB 2006, 295. 4 BGH v. 12.3.1997 – XII ZR 153/95, FamRZ 1997, 671.
Meyer-Götz
837
Kap. 6 C Rn. 1393
Ehegattenunterhalt
weisen1. Dies bedeutet, dass er das schwerwiegende Fehlverhalten ggf. beweisen und substanziierte erhebliche Gegenvorwürfe ausräumen muss. Im Ergebnis muss jeder der Beteiligten die für ihn günstigen Tatsachen darlegen und beweisen. In der prozessualen Praxis sollte sehr viel Wert auf eine umfassende und ausführliche Darlegung der Verwirkungsgründe gelegt und sehr sorgfältig entsprechende Beweise gesammelt werden. Zeugenaussagen stellen idR ein nicht kalkulierbares Risiko dar. 2. Verjährung 1393
Nach früherem Recht verjährten Unterhaltsansprüche gem. § 197 aF BGB in vier Jahren. Nach geltendem Recht seit 2002 verjähren sie gem. § 195 BGB bereits in drei Jahren.
1394
Während des Bestehens der Ehe ist die Verjährung jedoch für Ansprüche auf Ehegattenunterhalt gehemmt (§ 207 BGB). Dies bedeutet, dass der Zeitraum, während dessen die Verjährung gehemmt ist, nicht in die Verjährungsfrist eingerechnet wird (§ 209 BGB).
1395
Vielfach übersehen wird die Vollstreckungsverjährung nach § 197 Abs. 2 BGB. Dies bedeutet, dass auch für titulierte Ansprüche, soweit es sich um regelmäßig wiederkehrende Unterhaltsleistungen handelt, die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren gilt. Bis zur Rechtskraft des Urteils aufgelaufene Leistungen (Zinsen und Unterhaltsraten) verjähren jedoch gem. § 197 Abs. 1 BGB erst in dreißig Jahren.
Û
Wichtig: Nach § 212 BGB beginnt die Verjährung erneut, wenn der Schuldner dem Gläubiger gegenüber den Anspruch durch Abschlagszahlung, Zinszahlung, Sicherheitsleistung oder in anderer Weise anerkannt hat oder eine gerichtliche oder behördliche Vollstreckungshandlung vorgenommen oder beantragt wird. Dabei sind jedoch die Abs. 2 und 3 des § 212 BGB zu beachten. Dies bedeutet, dass, um der Verjährungsfalle zu entgehen, spätestens vor Ablauf von drei Jahren zumindest ein zulässiger Vollstreckungsversuch unternommen werden muss. Damit ist allerdings das Problem der Verwirkung, wie unten unter Rn. 1404 ff. dargestellt, nicht gelöst. Im Ergebnis sollte zumindest vor Ablauf von einem Jahr regelmäßig ein Vollstreckungsversuch unternommen werden. Dies bedeutet, dass der Mandant nach Abschluss eines Unterhaltsverfahrens unbedingt auf diese Problematik hingewiesen werden muss, um anwaltliche Haftungsrisiken auszuschließen.
1 BGH v. 28.11.1990 – XII ZR 1/90, FamRZ 1991, 670.
838
Meyer-Götz
Ehegattenunterhalt
Rn. 1401
Kap. 6 C
3. Sonstige Erlöschensgründe Der Unterhaltsanspruch endet bzw. erlischt bei
1396
a) Wegfall des Unterhaltsbedarfs Dies bedeutet, dass der Unterhaltsberechtigte dann, wenn er ausreichendes Einkommen hat und damit seinen Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen abdecken kann, keinen Unterhaltsanspruch mehr hat.
1397
b) Unterhaltsverzicht Hierbei ist grundsätzlich zu beachten, dass auf Trennungsunterhalt nach 1398 § 1361 Abs. 4 i.V.m. § 1360a Abs. 3 BGB nicht verzichtet werden kann. Ein Unterhaltsverzicht bezüglich nachehelicher Unterhaltsansprüche ist grundsätzlich möglich, bedarf jedoch unter dem Gesichtspunkt eventueller Sittenwidrigkeit einer sorgfältigen Prüfung1. c) Wiederverheiratung Nach § 1586 Abs. 1 BGB erlischt der Unterhaltsanspruch bei Wiederver- 1399 heiratung oder der Begründung einer Lebenspartnerschaft nach dem LPartG. Allerdings können die Unterhaltsansprüche wieder aufleben, wenn die zweite Ehe oder die Lebenspartnerschaft wieder aufgelöst werden2. Dies ist eine Ausnahme von der ansonsten notwendigen laufenden Unterhaltskette. Voraussetzung ist aber, dass ein Unterhaltsanspruch wegen Kinderbetreuung nach § 1570b BGB oder ein Anschlussunterhaltstatbestand nach den §§ 1571 bis 1573 und 1575 BGB besteht. Der Unterhaltsanspruch ist allerdings nachrangig gegenüber dem Unterhaltsanspruch des Ehegatten aus der zweiten Ehe (§ 1586a Abs. 2 BGB). d) Tod des Berechtigten Bei Tod des Unterhaltsberechtigten nach erlischt der Unterhaltsanspruch § 1586 Abs. 1 BGB.
1400
Beim Tod des Unterhaltspflichtigen geht die Unterhaltspflicht auf den Erben als Nachlassverbindlichkeit über. Voraussetzung ist allerdings, dass der Unterhaltsberechtigte weiterhin bedürftig ist; auf die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners kommt es hingegen nicht mehr an, da sein angemessener Unterhalt nicht mehr gefährdet sein kann, so dass der Unterhaltsberechtigte vollen Unterhalt nach den ehelichen Lebensverhältnissen verlangen kann. Der Vorrang eines minderjährigen Kindes oder der Gleichrang eines neuen Ehegatten ist nunmehr unerheblich, da deren
1401
1 BGH v. 11.2.2004 – XII ZR 265/02, FamRZ 2004, 601 = FamRB 2004, 105. 2 BGH v. 13.7.2011 – XII ZR 84/09, FamRZ 2011, 1498 m. Anm. Maurer = FamRB 2011, 299.
Meyer-Götz
839
Kap. 6 C Rn. 1402
Ehegattenunterhalt
Unterhaltsansprüche ebenfalls mit dem Tod des Unterhaltsschuldners erlöschen und nunmehr erbrechtlich kompensiert werden. Der Erbe haftet jedoch nicht über den Betrag hinaus, der dem Pflichtteil entspricht, welcher dem Berechtigten zustände, wenn die Ehe nicht geschieden worden wäre (§ 1586b Abs. 1 S. 3 BGB). 1402
Der Pflichtteil errechnet sich aus dem Gesamtnachlass des Unterhaltspflichtigen bei seinem Tode, wobei sich der gesetzliche Erbteil gem. § 1586b Abs. 2 BGB nur nach § 1931 Abs. 1 und 2 BGB, somit dem kleinen Pflichtteil, bestimmt und nicht nach § 1931 Abs. 4 BGB.
1403
Bei der Bemessung der Haftungsgrenze des § 1586b Abs. 1 S. 3 BGB sind zusätzlich auch (fiktive) Pflichtteilergänzungsansprüche zu berücksichtigen, die dem Unterhaltsberechtigten nach § 2325 BGB gegen die Erben zustünden, wenn seine Ehe mit dem Unterhaltspflichtigen erst durch dessen Tod aufgelöst worden wäre. Gegenüber diesen (nur fiktiven) Pflichtteilsergänzungsansprüchen des Unterhaltsberechtigten können sich die Erben, die selbst pflichtteilsberechtigt sind, nicht auf § 2328 BGB berufen1.
Û
Wichtig: Wird jedoch in notarieller Form auf Pflichtteilsansprüche verzichtet, haftet der Erbe nicht. Dies wird vielfach nicht beachtet und leichtfertig in Eheverträgen oder in Trennungs- und Scheidungsfolgevereinbarungen auf Pflichtteilsansprüche verzichtet. Hierüber zu belehren gehört zur Beratungspflicht des Rechtsanwalts und auch des Notars.
4. Verwirkung nach § 242 BGB 1404
Ein Anspruchsverlust aufgrund von Verwirkung kommt nicht für laufenden, sondern nur für rückständigen Unterhalt in Betracht. Der Ablauf einer selbst längeren Zeitspanne und die Unterlassung der Geltendmachung des fälligen Unterhaltsanspruchs in dieser Zeit genügen für sich allein nicht zur Annahme einer Verwirkung im Sinne unzulässiger Rechtsausübung (Zeitmoment). Vielmehr müssen besondere Umstände hinzutreten, die den Verpflichteten veranlasst haben, sich darauf einzurichten, dass der Unterhaltsrückstand nicht mehr geltend gemacht wird, und die seine nachträgliche Inanspruchnahme als rechtsmissbräuchlich erscheinen lassen (Umstandsmoment). Dies stellt eine rechtsvernichtende Einwendung dar, die von Amts wegen zu beachten ist.
1405
Der BGH hat angenommen, dass die Verwirkung von Trennungsunterhalt dann erfüllt sein kann, wenn die Rückstände Zeitabschnitte betreffen, die mehr als ein Jahr zurückliegen2. Von einem Unterhaltsgläubiger, der lebensnotwendig auf Unterhaltsleistungen angewiesen sei, sei eher als von einem Gläubiger anderer Forderungen zu erwarten, dass er sich zeit1 BGH v. 18.7.2007 – XII ZR 64/05, FamRZ 2007, 1800 = FamRB 2007, 365. 2 BGH v. 13.1.1988 – IVb ZR 7/87, FamRZ 1988, 370.
840
Meyer-Götz
Kap. 6 D
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
nah um die Durchsetzung des Anspruchs bemühe. Tue er dies nicht, erwecke sein Verhalten idR den Eindruck, er sei im fraglichen Zeitraum nicht bedürftig. Dies gelte auch für titulierte Ansprüche, deren Durchsetzung mithilfe des Titels näher liegen dürfte als bei nicht titulierten Forderungen1. Allerdings kommen nach der Rechtsprechung der BGH Verwirkungsfolgen jedenfalls regelmäßig nicht vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist des § 204 Abs. 2 BGB in Betracht2.
Û
Wichtig: Um hier kein Risiko einzugehen, sollte eine rückständige Unterhaltsforderung regelmäßig im Halbjahres- oder spätestens Jahresrhythmus entweder angemahnt oder bei Titulierung vollstreckt werden. Es reicht jedenfalls nicht aus, sich vor Ablauf der Verjährungsfristen insoweit sicher zu fühlen.
Zwischenzeitlich hat sich der BGH noch mit der Frage befasst, ob Verwir- 1406 kung auch eintreten kann, wenn nach Auskunftserteilung nicht rechtzeitig beziffert wird3. Auch dann besteht die Gefahr der Verwirkung.
Û
Wichtig: Nach Auskunftserteilung sollte deshalb spätestens binnen Jahresfrist beziffert werden.
D. Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes Literaturverzeichnis: Benkelberg, § 1615l BGB und das begrenzte Realsplittin, FuR 1999, 301; Brudermüller, Der Betreuungsunterhalt nicht miteinander verheirateter Eltern und das Dilemma seiner Begründung, ZKJ 2011, 327; Büdenbender, Der Unterhaltsanspruch des Vaters eines nichtehelichen Kindes gegen die Kindesmutter, FamRZ 1998, 129; Büttner, Unterhalt für die nichteheliche Mutter, FamRZ 2000, 781; Budzikiewicz, Einheitlicher Betreuungsunterhalt bei ehelicher und außerehelicher Kindschaft, NJW 2007, 3536; Ehinger, Der Betreuungsunterhaltsanspruch der Mutter eines nichtehelichen Kindes, FPR 2010, 389; Griesche, Verwirkung eines Unterhaltsanspruchs aus § 1615l Abs. 2 S. 2 bis 5 BGB beim Zusammenleben einer verfestigten Lebensgemeinschaft, FamFR 2011, 51; Hahne, Die Annäherung des Unterhaltsanspruchs einer nichtverheirateten Mutter nach § 1615l BGB an den Unterhaltsanspruch einer verheirateten Mutter nach § 1570 BGB, FF 2006, 24; Hauß, Der Betreuungsunterhalt im neuen Unterhaltsrecht, FamRB 2007, 367; v. Hoyenberg, Der Unterhaltsanspruch der nicht verheirateten Mutter, das Verzichtsverbot und das Grundgesetz, NJW 2007, 273; Huber, Unterhaltsverpflichtung des nichtehelichen Vaters gegenüber Kind und Mutter, FPR 2005, 198; Jüdt, Unterhalt nach § 1615l BGB, FuR 2011, 241; Lenz, Vereinbarungen über den Anspruch auf 1 BGH v. 16.6.1999 – XII ZA 3/99, FamRZ 1999, 1422 mwN. 2 BGH v. 8.3.1995 – XII ZR 165/93, FamRZ 1995, 725 (726). 3 BGH v. 22.11.2006 – XII ZR 152/04, FamRZ 2007, 453.
Meyer-Götz/Caspary
841
Kap. 6 D
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
nah um die Durchsetzung des Anspruchs bemühe. Tue er dies nicht, erwecke sein Verhalten idR den Eindruck, er sei im fraglichen Zeitraum nicht bedürftig. Dies gelte auch für titulierte Ansprüche, deren Durchsetzung mithilfe des Titels näher liegen dürfte als bei nicht titulierten Forderungen1. Allerdings kommen nach der Rechtsprechung der BGH Verwirkungsfolgen jedenfalls regelmäßig nicht vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist des § 204 Abs. 2 BGB in Betracht2.
Û
Wichtig: Um hier kein Risiko einzugehen, sollte eine rückständige Unterhaltsforderung regelmäßig im Halbjahres- oder spätestens Jahresrhythmus entweder angemahnt oder bei Titulierung vollstreckt werden. Es reicht jedenfalls nicht aus, sich vor Ablauf der Verjährungsfristen insoweit sicher zu fühlen.
Zwischenzeitlich hat sich der BGH noch mit der Frage befasst, ob Verwir- 1406 kung auch eintreten kann, wenn nach Auskunftserteilung nicht rechtzeitig beziffert wird3. Auch dann besteht die Gefahr der Verwirkung.
Û
Wichtig: Nach Auskunftserteilung sollte deshalb spätestens binnen Jahresfrist beziffert werden.
D. Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes Literaturverzeichnis: Benkelberg, § 1615l BGB und das begrenzte Realsplittin, FuR 1999, 301; Brudermüller, Der Betreuungsunterhalt nicht miteinander verheirateter Eltern und das Dilemma seiner Begründung, ZKJ 2011, 327; Büdenbender, Der Unterhaltsanspruch des Vaters eines nichtehelichen Kindes gegen die Kindesmutter, FamRZ 1998, 129; Büttner, Unterhalt für die nichteheliche Mutter, FamRZ 2000, 781; Budzikiewicz, Einheitlicher Betreuungsunterhalt bei ehelicher und außerehelicher Kindschaft, NJW 2007, 3536; Ehinger, Der Betreuungsunterhaltsanspruch der Mutter eines nichtehelichen Kindes, FPR 2010, 389; Griesche, Verwirkung eines Unterhaltsanspruchs aus § 1615l Abs. 2 S. 2 bis 5 BGB beim Zusammenleben einer verfestigten Lebensgemeinschaft, FamFR 2011, 51; Hahne, Die Annäherung des Unterhaltsanspruchs einer nichtverheirateten Mutter nach § 1615l BGB an den Unterhaltsanspruch einer verheirateten Mutter nach § 1570 BGB, FF 2006, 24; Hauß, Der Betreuungsunterhalt im neuen Unterhaltsrecht, FamRB 2007, 367; v. Hoyenberg, Der Unterhaltsanspruch der nicht verheirateten Mutter, das Verzichtsverbot und das Grundgesetz, NJW 2007, 273; Huber, Unterhaltsverpflichtung des nichtehelichen Vaters gegenüber Kind und Mutter, FPR 2005, 198; Jüdt, Unterhalt nach § 1615l BGB, FuR 2011, 241; Lenz, Vereinbarungen über den Anspruch auf 1 BGH v. 16.6.1999 – XII ZA 3/99, FamRZ 1999, 1422 mwN. 2 BGH v. 8.3.1995 – XII ZR 165/93, FamRZ 1995, 725 (726). 3 BGH v. 22.11.2006 – XII ZR 152/04, FamRZ 2007, 453.
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Kap. 6 D Rn. 1407
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Betreuungsunterhalt, MittBayNot 1999, 152; Luthin, Neueres zum Betreuungsunterhalt der unverheirateten Mutter, FamRB 2005, 116; Mehrle, Zum Bedarf der Unterhaltsberechtigten nach §§ 1610, 1615l BGB, FamRZ 2010, 510; Meier, Betreuungsunterhalt gemäß §§ 1570 und 1615l BGB nach der Unterhaltsrechtsreform, FamRZ 2008, 101; Menne, Der Betreuungsunterhalt nach § 1615l BGB im Regierungsentwurf zum Unterhaltsrechtsänderungsgesetz, FamRZ 2007, 173; Peschel-Gutzeit, Verwirkung des Unterhalts nicht verheirateter Eltern, FPR 2005, 344; Schilling, § 1615l BGB im Spiegel der höchstrichterlichen Rechtsprechung, FamRZ 2006, 1; Schilling, § 1615l BGB nach der Reform, FPR 2008, 27; Schilling, Der Betreuungsunterhalt, FPR 2011, 145; Schreiber, Vertragliche Unterhaltsansprüche in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, FPR 2010, 387; Schürmann, Art. 6 Abs. 5 GG – wohin führt die Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder?, FF 2007, 235; Schumann, Zur Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Eltern-Kind-Verhältnisse, FF 2007, 227; Wever, Unterhalt bei Betreuung nichtehelicher Kinder – der neu gestaltete § 1615l BGB, FamRZ 2008, 553; Wever, Betreuungsunterhalt einer Studentin gemäß § 1615l BGB, FF 2010, 214; Wohlgemuth, Der Unterhaltstatbestand des § 1615l BGB – wohin führt die Entwicklung?, FuR 2007, 195; Wohlgemuth, Bedarfsbestimmung bei Betreuung nichtehelicher Kinder, FamRZ 2010, 1302; Zimmermann, Die Verleugnung des Anspruchs nach § 1615l BGB – Diskussionsstand und Rechtsprechung, FPR 2009, 97.
I. Arbeitshinweise 1407
1. Zahl und Alter der Kinder erfragen 2. Einkommens- und Vermögenssituation der Mutter vor der Geburt des Kindes und aktuelle Einkommens- und Vermögenssituation der Mutter klären 3. Klären, ob Mutter und Vater als Paar zusammengelebt und gemeinsam gewirtschaftet haben 4. Einkommens- und Vermögenssituation des Vaters und ggf. weiterer Unterhaltsschuldner ermitteln 5. Vorhandensein weiterer Unterhaltsberechtigter und Rangverhältnisse klären 6. Verlängerung des Unterhaltsanspruchs aus Billigkeitsgründen über drei Jahre nach der Geburt hinaus prüfen
II. Typische Problemfelder 1408
1. Ermittlung des Bedarfs der Mutter, insbesondere bei Vorhandensein gleichrangig Berechtigter (Rn. 1446 ff. und 1465 ff.) 2. Pflicht zum Einsatz des Vermögens bei Berechtigtem und Verpflichteten (Rn. 1459 und 1463) 3. Verlängerung (Rn. 1431 ff.)
des
Unterhaltsanspruchs
über
drei
Jahre
4. Haftung bei mehreren Unterhaltsschuldnern (Rn. 1473 ff.)
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Caspary
hinaus
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1414
Kap. 6 D
III. Die Ansprüche nach § 1615l BGB § 1615l BGB gibt der Mutter eines nichtehelichen Kindes insgesamt vier Unterhaltsansprüche:
1409
Erstens kann sie gem. § 1615l Abs. 1 S. 1 BGB anlässlich der Geburt für die Dauer von sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt Unterhalt vom Vater des Kindes verlangen.
1410
Zweitens hat sie gem. § 1615l Abs. 1 S. 2 BGB einen Anspruch auf Erstattung der Entbindungskosten sowie sonstiger schwangerschaftsbedingter Kosten außerhalb dieses Zeitraums.
1411
Drittens kann sie nach § 1615l Abs. 2 S. 1 BGB vom Vater des Kindes vier 1412 Monate vor der Geburt bis drei Jahre nach der Geburt Unterhalt verlangen, sofern sie infolge der Schwangerschaft bzw. einer durch die Schwangerschaft oder Entbindung verursachten Krankheit nicht erwerbstätig sein kann. Viertens kann sie nach § 1615l Abs. 2 S. 2 bis 5 BGB Unterhalt verlangen, 1413 sofern von ihr wegen der Betreuung des Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann. Auch dieser Unterhaltsanspruch beginnt frühestens vier Monate vor der Geburt und besteht für mindestens drei Jahre nach der Geburt, wobei sich die Unterhaltspflicht über diesen Zeitraum hinaus verlängern kann, solange und sofern dies der Billigkeit entspricht.
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Praxistipp: Da es sich bei allen vier Ansprüchen um echte Unterhaltsansprüche handelt, ist die übliche Reihenfolge bei der Prüfung von Unterhaltsansprüchen einzuhalten, dh. zunächst ist zu prüfen, welcher Unterhaltstatbestand vorliegt, anschließend ist der Unterhaltsbedarf zu ermitteln und schließlich ist die Bedürftigkeit des Berechtigten und die Leistungsfähigkeit des Pflichtigen zu klären.
Zu beachten ist, dass auf alle Ansprüche des § 1615l BGB die Vorschriften über den Verwandtenunterhalt nach § 1615l Abs. 3 S. 1 BGB entsprechend anzuwenden sind.
Û
Wichtig: Umstritten ist, ob die Mutter die Ansprüche nach § 1615l BGB erst geltend machen kann, nachdem der Vater die Vaterschaft anerkannt hat oder die Vaterschaft gerichtlich festgestellt wurde1, oder ob es ausreicht, dass der mutmaßliche Vater die Vaterschaft nicht bestrei-
1 OLG Bremen v. 19.2.2004 – 4 WF 10/04, FamRZ 2005, 213; OLG Schleswig v. 17.5.1999 – 8 WF 18/99, OLGReport 1999, 279; OLG Hamm v. 3.10.1988 – 6 UF 107/88, FamRZ 1989, 619.
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Kap. 6 D Rn. 1415
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
tet1. Richtigerweise muss die rechtliche Vaterschaft feststehen, da die Rechtswirkungen der Vaterschaft nach §§ 1594 Abs. 1, 1600d Abs. 4 BGB erst ab Anerkenntnis oder Feststellung der Vaterschaft geltend gemacht werden können2. Die Mutter hat aber die Möglichkeit, ein Verfahren auf Feststellung der Vaterschaft einzuleiten und gleichzeitig zu beantragen, ihren Unterhaltsanspruch und den Unterhaltsanspruch des Kindes im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 248 FamFG zu regeln. Allerdings macht sich die Mutter schadensersatzpflichtig, wenn die Vaterschaft nicht rechtskräftig festgestellt wird. 1415
Hat ausnahmsweise der Vater die Betreuung des nichtehelichen Kindes übernommen, kann er gem. § 1615l Abs. 4 BGB von der Mutter Betreuungsunterhalt nach § 1615l Abs. 2 S. 2 BGB verlangen3. Der Anspruch setzt nicht voraus, dass der Vater auch das Sorgerecht besitzt. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Betreuungssituation4. Sofern der Vater das Kind bereits während der ersten acht Wochen nach der Geburt betreut hat, soll dem Vater auch der Anspruch nach § 1615l Abs. 1 S. 1 BGB zustehen5. Allerdings wird dieser Anspruch idR an der fehlenden Leistungsfähigkeit der Mutter scheitern, da die Mutter derart kurz nach der Geburt nicht erwerbstätig sein wird und auch nicht sein muss.
1416
Ist der geschiedene Ehemann der Mutter der Vater des nichtehelichen Kindes, muss zwischen den Ansprüchen nach § 1570 BGB und § 1615l BGB abgegrenzt werden. Maßgeblich hierfür ist § 1615a BGB. Danach ist § 1570 BGB immer dann die richtige Anspruchsgrundlage, wenn für das Kind entweder eine Vaterschaft nach § 1592 Nr. 1 BGB oder § 1593 BGB besteht oder wenn die Eltern das Kind während ihrer Ehe gezeugt oder nach seiner Geburt geheiratet haben. Dagegen gelten Kinder, die mehr als 300 Tage nach Rechtskraft der Scheidung geboren wurden, als nichteheliche Kinder mit der Folge, dass in diesen Fällen, die geschiedene Ehefrau von ihrem früheren Mann nur Unterhalt nach § 1615l BGB, nicht aber nach § 1570 BGB verlangen kann6.
Û
Wichtig: Heiratet die Mutter, entfällt der Anspruch nach § 1615l BGB. Nach Auffassung des BGH ist in diesem Fall § 1586 Abs. 1 BGB entsprechend anzuwenden7, dh., es ist nicht erforderlich, die Haftungsantei-
1 OLG Zweibrücken v. 5.8.1997 – 5 UF 126/96, FamRZ 1998, 554; OLG Düsseldorf v. 9.9.1994 – 3 UF 41/94, FamRZ 1995, 690. 2 OLG Bremen v. 19.2.2004 – 4 WF 10/04, FamRZ 2005, 213. 3 Vgl. hierzu ausführlich Büdenbender, FamRZ 1998, 129. 4 Palandt/Brudermüller, § 1615l BGB Rn. 2. 5 Büdenbender, FamRZ 1998, 129; Ehinger, FPR 2001, 25; Wever, FF 2000, 20. 6 Büttner, FamRZ 2000, 781; vgl. auch BGH v. 17.12.1997 – XII ZR 38/96, FamRZ 1998, 426. 7 BGH v. 17.11.2004 – XII ZR 183/02, FamRZ 2005, 347 = FamRB 2005, 99; aA noch OLG Schleswig v. 4.10.1999 – 12 WF 145/99, FamRZ 2000, 637; OLG Mün-
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Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1418
Kap. 6 D
le von Vater und Ehemann zu ermitteln. Vielmehr muss der Ehemann allein für den Bedarf der Mutter im Rahmen des Familienunterhalts aufkommen. 1. Unterhalt während des Mutterschutzes: § 1615l Abs. 1 S. 1 BGB Nach § 1615l Abs. 1 S. 1 BGB kann die Mutter für die Dauer von sechs 1417 Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt, also während des sog. Mutterschutzes, Unterhalt vom Vater des Kindes verlangen. Der Anspruch setzt nicht voraus, dass die Mutter infolge der Schwangerschaft oder Geburt bedürftig ist, sondern besteht auch dann, wenn die Mutter wegen Krankheit, der Betreuung weiterer Kinder oder aus anderen Gründen nicht dazu in der Lage ist, für ihren Unterhalt selbst aufzukommen1. IdR wird allerdings wegen der Ansprüche auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts nach dem Mutterschutzgesetz bzw. den dort in Bezug genommenen Vorschriften der RVO, die sich zeitlich mit dem Unterhaltszeitraum von § 1615l Abs. 1 S. 1 BGB decken, keine Bedürftigkeit der Mutter bestehen2. Aufgrund des Beschäftigungsverbots nach §§ 3 Abs. 2, 6 Abs. 1 MuSchG kann die Mutter während dieses Zeitraums auch nicht verpflichtet werden, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. In der Praxis spielt daher der Anspruch nach § 1615l Abs. 1 S. 1 BGB kaum eine Rolle. Er dient letztlich vor allem dem Schutz selbständiger oder nicht erwerbstätiger Mütter. 2. Ersatz von Schwangerschafts- und Entbindungskosten: § 1615l Abs. 1 S. 2 BGB § 1615l Abs. 1 S. 2 BGB gewährt der Mutter einen Anspruch auf Ersatz 1418 derjenigen Kosten, die ihr infolge der Schwangerschaft oder Entbindung entstanden sind. Hierunter fallen sowohl die eigentlichen Entbindungskosten, also die Kosten für Arzt, Klinik, Hebamme3 und Medikamente als auch sonstige Kosten wie Aufwendungen für Umstandskleidung4, eine Haushaltshilfe bei Problemschwangerschaften, Schwangerschaftsgymnastik oder für ärztliche Vor- und Nachuntersuchungen. Zu ersetzen ist allerdings nur Sonderbedarf der Mutter, nicht aber Sonderbedarf des Säuglings, wie bspw. der Anspruch auf eine Säuglingserstaustattung5 oder die
1 2 3 4 5
chen v. 26.4.2001 – 12 UF 627/01, FamRB 2002, 198. Kritisch Graba, FamRZ 2005, 353. BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541; OLG Zweibrücken v. 23.9.1999 – 6 UF 23/99, FuR 2000, 438; OLG Hamm v. 12.12.1990 – 8 UF 89/90, FamRZ 1991, 979. BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 121/03, FamRZ 2005, 442. OLG Naumburg v. 11.7.2006 – 3 UF 26/06, FamRZ 2007, 580. LG Hamburg v. 4.11.1982 – 2 S 266/81, FamRZ 1983, 301; AG Krefeld v. 24.7.1985 – 8c 842/84, FamRZ 1985, 1181. BVerfG v. 12.5.1999 – 1 BvR 1988/95, FamRZ 1999, 1342; OLG Celle v. 20.10.2008 – 10 WF 336/08, FamRZ 2009, 704; OLG Oldenburg v. 27.4.1999 –
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Kap. 6 D Rn. 1419
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
dem Säugling entstandenen Krankenhauskosten1. In welcher Höhe Aufwendungen als angemessen und damit ersatzfähig anzusehen sind, richtet sich nach der Lebensstellung der Mutter. 1419
Umstritten ist, ob die selbständige Mutter nach § 1615l Abs. 1 S. 2 BGB auch die Kosten für einen Praxisvertreter oder für einen Vertreter in der Betriebsleitung ersetzt verlangen kann. Soweit dies bejaht wird, werden nur diejenigen Kosten für ersatzfähig gehalten, die zur Sicherung des Lebensunterhalts der Mutter unbedingt erforderlich sind. Obergrenze soll in jedem Fall das der Mutter durch Schwangerschaft und Entbindung entgangene Erwerbseinkommen sein2. Nach der Gegenmeinung besteht schon dem Grunde nach kein Anspruch, da Unterhaltszahlungen nicht den Zweck haben, Maßnahmen zur Erhaltung der Erwerbssituation zu finanzieren3. Allerdings werden es sich selbständige Mütter ohnehin eher selten leisten können, drei Jahre oder gar länger zu Hause zu bleiben. Die Streitfrage dürfte daher nicht sehr praxisrelevant sein.
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Wichtig: Zu beachten ist, dass der Anspruch nach § 1615l Abs. 1 S. 2 BGB nur solche Kosten umfasst, die der Mutter außerhalb des von § 1615l Abs. 1 S. 1 BGB erfassten Zeitraums entstanden sind. Möchte die Mutter schwangerschafts- und entbindungsbedingte Kosten geltend machen, die ihr während des Mutterschutzes, also sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt, entstanden sind, muss sie ihren Anspruch auf § 1615l Abs. 1 S. 1 BGB stützen4.
1420
In der Praxis spielt allerdings auch der Anspruch nach § 1615l Abs. 1 S. 2 BGB keine große Rolle, da häufig die nach § 1615l Abs. 1 S. 2 BGB zu ersetzenden Kosten von Dritten (Sozial- oder Privatversicherung, Beamtenbeihilfe, Zahlungen aufgrund von Tarifverträgen) übernommen werden, so dass keine Bedürftigkeit der Mutter vorliegt5. Ist das Sozialamt in Vorleistung getreten, wird der Anspruch auf den Sozialhilfeträger übergeleitet6. Der Sozialhilfeträger kann sich also im Wege des Regresses die verauslagten Kosten vom Vater zurückholen. Hierauf sollte der Mandant hingewiesen werden. Ein Anspruch des Krankenhauses auf Übernahme der Entbindungskosten7 oder ein Regressanspruch des Arbeitgebers oder Versicherers8 gegen den Vater kann aus § 1615l BGB nicht abgeleitet werden.
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11 WF 161/98, FamRZ 1999, 1685; OLG Nürnberg v. 26.1.1993 – 11 UF 3577/92, FamRZ 1993, 995. LG Aachen v. 17.1.1986 – 3 S 238/85, FamRZ 1986, 1040. LG Hamburg 4.11.1982 – 2 S 266/81, FamRZ 1983, 301. Palandt/Brudermüller, § 1615l BGB Rn. 22. Palandt/Brudermüller, § 1615l BGB Rn. 6. LG Bremen v. 7.5.1992 – 8 S 21/92, FamRZ 1993, 107. BVerwG v. 21.9.1989 – 5 C 15/86, NJW 1990, 401. LG Köln v. 11.7.1990 – 10 S 551/89, NJW 1991, 2354. Palandt/Brudermüller, § 1615l BGB Rn. 6.
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Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1423
Kap. 6 D
3. Krankheitsunterhalt: § 1615l Abs. 2 S. 1 BGB Nach § 1615l Abs. 2 S. 1, 3 BGB kann die Mutter für die Dauer von vier 1421 Monaten vor bis mindestens drei Jahre nach der Geburt Unterhalt verlangen, sofern sie aufgrund der Schwangerschaft oder einer durch die Schwangerschaft oder Entbindung verursachten Krankheit keiner Erwerbstätigkeit nachgehen kann1. Die Schwangerschaft bzw. die durch die Schwangerschaft oder Entbindung verursachte Krankheit müssen nicht die alleinige Ursache dafür sein, dass die Mutter keine Erwerbstätigkeit aufnimmt. Der Anspruch nach § 1615l Abs. 2 S. 1 BGB besteht vielmehr auch dann, wenn die Schwangerschaft oder Krankheit der Mutter lediglich mitursächlich für die Nichtaufnahme der Erwerbstätigkeit sind2. Arbeitet die Mutter dagegen aus anderen Gründen nicht, bspw. weil sie ohnehin erwerbslos war, weitere Kinder betreuen muss3 oder wegen einer Krankheit, die nicht auf die Schwangerschaft oder Entbindung zurückzuführen ist, besteht der Anspruch nach § 1615l Abs. 2 S. 1 BGB nicht. Beispiel4: M arbeitet als selbständige Rechtsanwältin. Während ihrer Schwangerschaft trennt sie sich von V. Die Schwangerschaft verläuft problematisch. M darf bereits fünf Monate vor der für den 15. Juni 2008 angesetzten Geburt nicht mehr arbeiten. V ist verpflichtet, ab dem 15. Februar 2008 Unterhalt für M zu zahlen, sofern M bedürftig ist. Bei der Geburt erleidet M einen Bandscheibenvorfall und muss sich mehreren Operationen unterziehen. Sie kann erst fünf Jahre nach der Geburt wieder arbeiten. V muss folglich gem. § 1615l Abs. 2 S. 3 BGB für weitere fünf Jahre Unterhalt an M zahlen.
Umstritten ist, ob der Anspruch auch dann gegeben ist, wenn die Mutter infolge der Schwangerschaft ihre Berufsausbildung abgebrochen hat und aus diesem Grund nach der Geburt keine Arbeit findet5.
1422
Dagegen besteht kein Anspruch auf Unterhalt, wenn die Mutter aufgrund 1423 einer nicht auf die Geburt zurückzuführenden Erkrankung nur eingeschränkt erwerbsfähig ist oder wegen der Arbeitsmarktlage keine Arbeit findet, da im Unterschied zum nachehelichen Unterhalt (§§ 1572, 1573 BGB) weder das Krankheitsrisiko noch das Beschäftigungsrisiko von § 1615l BGB erfasst wird6.
1 Eine Verlängerung nach Billigkeit ist möglich, § 1615l Abs. 2 S. 4, 5 BGB. 2 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541. 3 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541; OLG Düsseldorf v. 9.9.1994 – 3 UF 41/94, FamRZ 1995, 690; OLG Hamm v. 3.10.1988 – 6 UF 107/88, FamRZ 1989, 619. 4 In Anlehnung an Ehinger, FPR 2001, 25. 5 So LG Essen v. 22.1.1971 – 1 S 724/70 FamRZ 1971, 539; Palandt/Brudermüller, § 1615l BGB Rn. 8; ablehnend Büttner, FamRZ 2000, 782. 6 BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357; OLG Bremen v. 10.5.2010 – 4 WF 43/10, FamRZ 2010, 1917.
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Kap. 6 D Rn. 1424
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
4. Betreuungsunterhalt: § 1615l Abs. 2 S. 2 bis 5 BGB 1424
In der Praxis hat der Anspruch auf Betreuungsunterhalt nach § 1615l Abs. 2 S. 2 bis 5 BGB die größte Bedeutung.
1425
Durch die Unterhaltsrechtsreform, die am 1.1.2008 in Kraft getreten ist1, ist der Betreuungsunterhalt der unverheirateten Mutter wie folgt geregelt: Nach § 1615l Abs. 2 S. 2 und 3 BGB kann die Mutter frühestens vier Monate vor der Geburt bis mindestens drei Jahre nach der Geburt Unterhalt vom Vater verlangen, sofern von ihr wegen der Pflege oder Erziehung des Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann. Nach § 1615l Abs. 2 S. 4 und 5 BGB kann dieser Anspruch über drei Jahre hinaus verlängert werden, solange und soweit dies der Billigkeit entspricht, wobei insbesondere die Belange des Kindes und die bestehenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung zu berücksichtigen sind.
1426
Bis zum Inkrafttreten der Unterhaltsrechtsreform endete dagegen der Anspruch auf Betreuungsunterhalt drei Jahre nach der Geburt und konnte gem. § 1615l Abs. 2 S. 3 BGB nur ausnahmsweise im Falle grober Unbilligkeit über drei Jahre hinaus verlängert werden. Schon lange bestanden in Rechtsprechung und Literatur Bedenken, ob die damit verbundene Schlechterstellung der unverheirateten Mutter beim Betreuungsunterhalt gegenüber der verheirateten bzw. geschiedenen Mutter verfassungsgemäß ist2. Der BGH war der Meinung, dass man diese Bedenken durch eine verfassungskonforme, nämlich weite Auslegung des Begriffs der groben Unbilligkeit aus der Welt schaffen könne3. Dagegen hat das BVerfG am 28.2.2007 entschieden, dass jede Ungleichbehandlung von Eltern ehelicher und unehelicher Kinder beim Betreuungsunterhalt verfassungswidrig sei. Selbst eine nur mittelbare Schlechterstellung unverheirateter Eltern sei verboten4. 1 Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts v. 21.12.2007, BGBl. I S. 3189. 2 Zum damaligen Streitstand vgl. Schilling, FamRZ 2006, 1; Wever, FamRZ 2002, 581, jeweils mwN. 3 BGH v. 5.7.2005 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362 mit ausführlicher Darstellung des (damaligen) Meinungsstandes. Die Entscheidung fügte sich nahtlos in die jüngste Rspr. des BGH zu § 1516l BGB ein, nach der die Rechtsfolgen von § 1516l BGB und § 1570 BGB wegen des gleichen Schutzzweckes (Sicherung der Betreuung des Kindes durch die Mutter) einander angeglichen werden müssen: BGH v. 17.11.2004 – XII ZR 183/02, FamRZ 2005, 347 (analoge Anwendung von § 1586 Abs. 1 BGB); BGH v. 1.12.2004 – XII ZR 3/03, FamRZ 2005, 354 (Bemessung des Selbsthalts); BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 26/03, FamRZ 2005, 357 (anteilige Haftung mehrerer Väter) = FamRB 2005, 98; BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 121/03, FamRZ 2005, 442 (Begrenzung Unterhaltsbedarf durch Halbteilungsgrundsatz). Vgl. zur Entwicklung der Rspr. auch Hahne, FF 2006, 24 ff. und Schilling, FamRZ 2006, 1 ff. 4 BVerfG v. 28.2.2007 – 1 BvL 9/04, FamRZ 2007, 965. Vgl. auch die Vorlagebeschlüsse des KG v. 16.9.2004 – 16 UF 6/04, FamRZ 2004, 1895 und des OLG Hamm v. 16.8.2004 – 5 UF 262/04, FamRZ 2004, 1893. Mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit hatte sich das BVerfG außerdem bereits in drei Beschlüssen zur Gewährung von Prozesskostenhilfe beschäftigt und festgestellt, dass sie
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Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1430
Kap. 6 D
Auf die Entscheidung des BVerfG hat der Gesetzgeber reagiert, indem er 1427 die ursprüngliche Unterhaltsrechtsreform, die nur eine deutliche Annäherung, nicht aber völlige Gleichstellung der Ansprüche verheirateter und nicht verheirateter Eltern auf Betreuungsunterhalt vorsah, noch einmal überarbeitet hat. Beide Ansprüche sind nun fast wortgleich formuliert. Außerdem wurde die ursprünglich vorgesehene rangmäßige Schlechterstellung unverheirateter Eltern (dritter Rang) aufgegeben, dh. sowohl die Ansprüche von Eltern ehelicher als auch die Ansprüche von Eltern nichtehelicher Kinder auf Betreuungsunterhalt finden sich jetzt gem. § 1609 Nr. 2 BGB im zweiten Rang1. Bestand kein Anspruch, weil nur eine einfache, aber keine grobe Unbilligkeit gegeben war, ist folgende Übergangsregelung zu beachten: Lagen die Umstände, die eine Verlängerung des Unterhaltsanspruchs über drei Jahre hinaus rechtfertigen, bereits vor dem Inkrafttreten der Unterhaltsrechtsreform am 1.1.2008 vor und sind sie erst durch die Unterhaltsrechtsreform erheblich geworden, kann die Abänderung eines vor dem Inkrafttreten der Unterhaltsrechtsreform ergangenen vollstreckbaren Titels oder einer vor diesem Tag geschlossenen Unterhaltsvereinbarung ohne die Beschränkungen der §§ 323 Abs. 2, 767 Abs. 2 ZPO verlangt werden, wenn dadurch eine wesentliche Änderung der Unterhaltsverpflichtung eintritt und die Änderung dem anderen Teil unter Berücksichtigung seines Vertrauens in die getroffene Regelung zumutbar ist (§ 36 Nr. 1 und 2 EGZPO).
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Für Unterhaltsansprüche, die vor dem 1.1.2008 fällig waren, bleibt dagegen nach § 36 Nr. 7 EGZPO das frühere Recht anwendbar, da das BVerfG ausdrücklich entschieden hat, dass bis zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes die alte Rechtslage hinzunehmen ist2.
1429
a) Betreuungsunterhalt nach § 1615l Abs. 2 S. 2 und 3 BGB Nach § 1615l Abs. 2 S. 2 und 3 BGB kann der betreuende Elternteil vier 1430 Monate vor bis drei Jahre nach der Geburt Unterhalt verlangen, soweit wegen der Pflege und Erziehung des Kindes von ihm keine Erwerbstätigkeit erwartet werden kann (sog. Basisunterhalt). Die Vorschrift bezweckt, wie auch § 1570 BGB, dass Eltern ihr Kind in den ersten drei Lebensjahren persönlich betreuen können, ohne in eine finanzielle Notlage zu geraten3. Der betreuende Elternteil hat die freie Wahl, ob er das Kind selbst betreuen oder andere Betreuungsmöglichkeiten in Anspruch nehweder einfach noch eindeutig zu beantworten ist, vgl. BVerfG v. 4.2.2004 – 1 BvR 1172/02, FPR 2004, 514; BVerfG v. 4.2.2004 – 1 BvR 1715/02, FuR 2004, 400; BVerfG v. 4.2.2004 – 1 BvR 596/03, FamRZ 2004, 1013. 1 Vgl. zum Gang des Reformvorhabens hinsichtlich §§ 1570, 1615l BGB auch BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541. 2 BGH v. 13.1.2010 – XII ZR 123/08, FamRZ 2010, 444; OLG Celle v. 23.6.2010 – 14 U 23/10, juris. 3 BT-Drucks. 13/1850, S. 24.
Caspary
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Kap. 6 D Rn. 1431
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
men möchte1. Unterhalt wird also auch dann geschuldet, wenn die Mutter vor der Geburt arbeitslos, Schülerin oder Studentin2 war oder nicht erwerbstätig ist, weil sie noch weitere Kinder betreut3. Die Betreuung des Kindes muss nicht kausal für die fehlende Erwerbstätigkeit sein4. b) Verlängerung des Unterhaltsanspruchs über drei Jahre hinaus: § 1615l Abs. 2 S. 4 und 5 BGB 1431
Nach § 1615l Abs. 2 S. 4 und 5 BGB ist über drei Jahre hinaus Betreuungsunterhalt zu zahlen, solange und soweit dies der Billigkeit entspricht, wobei insbesondere die Belange des Kindes und die bestehenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung zu berücksichtigen sind. Im Unterschied zum früheren Recht reicht also nunmehr eine einfache Unbilligkeit für die Verlängerung des Unterhaltsanspruchs über drei Jahre hinaus aus.
1432
Nach dem BGH verlangt § 1615l BGB keinen abrupten Wechsel von der elterlichen Betreuung zu einer Vollzeiterwerbstätigkeit. Denkbar ist vielmehr auch ein gestufter Übergang. Das enthebt den Unterhaltsberechtigten allerdings nicht der Notwendigkeit, zu den Voraussetzungen einer Verlängerung des Betreuungsunterhalts über drei Jahre hinaus genau vorzutragen, da ihm hierfür die Darlegungs- und Beweislast obliegt. Kommt er diesen Anforderungen, wie in den meisten entschiedenen Fällen nicht (hinreichend) nach, bleibt es dabei, dass nur für die ersten drei Jahre Unterhalt geschuldet ist5.
Û
Wichtig: Zu beachten ist, dass ein Unterhaltsanspruch nach § 1615l Abs. 2 S. 3 BGB auch nach Ablauf der dreijährigen Betreuungszeit erstmals oder wieder neu entstehen kann, da der Verwandtenunterhalt, auf den § 1615l BGB verweist, keine Einsatzzeiten kennt und § 1615l BGB nicht fordert, dass die Unbilligkeit erstmals bzw. gerade dann vorliegen muss, wenn das Kind das dritte Lebensjahr vollendet hat6.
1433
Auch nach neuem Recht ist zwischen kindbezogenen und elternbezogenen Umständen zu unterscheiden. Wie sich aus dem Wort „insbesonde1 St. Rspr.: BGH v. 13.1.2010 – XII ZR 123/08, FamRZ 2010, 444; BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357. 2 OLG Frankfurt FamRZ 2000, 1522; OLG Hamm v. 11.2.2000 – 11 UF 85/99, FF 2000, 137. 3 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85, 96, FamRZ 1998, 541; OLG Zweibrücken v. 21.9.1999 – 5 UF 16/99, FuR 2000, 286; OLG Hamm v. 29.8.1996 – 2 WF 288/89, FamRZ 1997, 632. 4 BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 121/03, FamRZ 2005, 442; OLG Brandenburg v. 2.3.2010 – 10 UF 63/09, FamRZ 2010, 1915. 5 BGH v. 13.1.2010 – XII ZR 123/08, FamRZ 2010, 444; BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357. 6 Wever, FF 2000, 20; Schilling, Anwaltkommentar BGB, 2005, § 1615l BGB Rn. 11.
850
Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1436
Kap. 6 D
re“ in § 1615l Abs. 2 S. 5 BGB ergibt, stellen die Belange des Kindes und die Betreuungsmöglichkeiten nur einen, wenn auch besonders wichtigen Grund für eine Verlängerung des Unterhaltsanspruchs über drei Jahre hinaus dar. Es kann daher auch nach neuem Recht eine Verlängerung des Unterhaltsanspruchs aus elternbezogenen Gründen erfolgen1. Zu beachten ist, dass jedenfalls die kindbezogenen Gründe im Vergleich zu § 1570 BGB im Hinblick auf die insoweit fast wortgleiche Ausgestaltung der Unterhaltstatbestände und die verfassungsrechtliche Grundlage das gleiche Gewicht haben, dh. die Anforderungen an eine Verlängerung des Unterhalts über drei Jahre hinaus aus kindbezogenen Gründen sind bei § 1570 BGB und § 1615l BGB gleich2. Ob das auch für die elternbezogenen Gründe gilt, erscheint im Hinblick darauf, dass der Gesetzgeber verheiratete Eltern durch die Einfügung des Abs. 2 in § 1570 BGB besserstellen wollte, dagegen zweifelhaft3.
1434
Bisher werden vor allem folgende Fallgruppen diskutiert:
1435
aa) Kindbezogene Gründe – Behinderung4
1436
– schwerwiegende Erkrankung5 – Entwicklungsstörung6 – psychische Labilität7 – Straffälligkeit8 – besondere Begabung9
1 BGH v. 13.1.2010 – XII ZR 123/08, FamRZ 2010, 444; BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357; BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739. Vgl. zur älteren Rspr. BGH v. 5.7.2005 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362; Büttner, FamRZ 2000, 781; vgl. auch Wever, FamRZ 2008, 553; Ehinger, FuR 2001, 25; Büttner, FamRZ 2000, 781; Puls, FamRZ 1998, 865. 2 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739. 3 Wever, FamRZ 2008, 553; vgl. Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 51. 4 BGH v. 17.3.2010 – XII ZR 204/08, FamRZ 2010, 802; BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739; BGH v. 5.7.2005 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362; OLG Hamm v. 4.11.2004 – 3 UF 555/01, NJW 2005, 297; OLG Celle v. 21.11.2001 – 21 UF 96/01, FamRZ 2002, 636. 5 OLG Hamm v. 4.11.2004 – 3 UF 555/01, NJW 2005, 297; OLG Rostock v. 8.11.2006 – 10 UF 50/05, OLGReport 2007, 639; Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 31. 6 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739; BGH v. 5.7.2005 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362; OLG Hamm v. 6.3.2008 – II-2 UF 117/07, 2 UF 117/07, FamRZ 2008, 1937; OLG Düsseldorf v. 28.6.2002 – 3 UF 2/02, FamRZ 2003, 184. 7 BGH v. 18.4.1984 – IVb ZR 80/82, FamRZ 1984, 769; Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 31. 8 OLG Hamm v. 25.11.2008 – 3 UF 59/08, FamRZ 2009, 976. 9 Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 31.
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Kap. 6 D Rn. 1437
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
– besonderes Leiden unter der Trennung1 – fehlende Fremdbetreuungsmöglichkeiten2 – nicht verlässliche Fremdbetreuung3 – unzumutbare Fremdbetreuung4 1437
Bei Behinderungen oder Erkrankungen ist aber immer zu prüfen, ob nicht eine Betreuung in einer spezialisierten Einrichtung möglich ist5 bzw. die Erkrankung einem ganztägigen Kindergartenbesuch tatsächlich entgegensteht6. Das Gleiche gilt für Entwicklungsstörungen. Ob eine besondere musische oder sportliche Begabung tatsächlich einen erhöhten Betreuungsbedarf nach sich zieht, hängt vom Einzelfall ab7. Bei trennungsbedingtem Leiden muss geprüft werden, ob dieses nicht nur vorgeschoben wird, um sich länger Unterhalt zu sichern8.
1438
Der Gesichtspunkt der fehlenden Fremdbetreuungsmöglichkeit wird nach der zutreffenden Einschätzung des BGH mit der zunehmenden Ausweitung der Vollzeitbetreuung in Kindergärten und Ganztagsschulen künftig an Bedeutung verlieren9, auch wenn bundesweit die Versorgung mit Betreuungseinrichtungen nach wie vor sehr unterschiedlich ausgestaltet ist. Zu beachten ist, dass es sich bei der Kinderbetreuung nach der Gesetzesbegründung um eine verlässliche und für Mutter und Kind zumutbare Kinderbetreuung handeln muss. Nach dem BGH soll dies zumindest bei allen öffentlichen Betreuungseinrichtungen der Fall sein10. Sind die Betreuungszeiten mit den Arbeitszeiten nicht vereinbar, ist uU nur eine teilschichtige Erwerbstätigkeit zumutbar11. Allerdings wird zum Teil ein Umzug in eine nahe gelegene Stadt mit Ganztagskindergarten für zumutbar gehalten12. Unzumutbar kann im Einzelfall die Betreuung durch Dritte, zB die Schwiegereltern oder den anderen Elternteil sein, jedenfalls bei dauerndem Streit13. Grundsätzlich sind aber ernsthafte und verlässliche Betreuungsangebote des Vaters zu berücksichtigen14. 1 Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 31. 2 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739; v. 5.7.2005 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362; OLG Nürnberg v. 7.10.2002 – 10 UF 1677/02, FamRZ 2003, 1320: Mutter muss in nahe gelegenen Ort umziehen, wenn es nur dort einen Ganztagskindergarten gibt, der nur ortsansässige Kinder aufnimmt. 3 Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 38. 4 KG v. 25.4.2008 – 18 UF 160/07, FamRZ 2008, 1942: Betreuung durch Schwiegereltern; Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 38. 5 von Kiedrowski, FamRB 2009, 213. 6 OLG Karlsruhe v. 3.5.2011 – 16 UF 76/11, FamRZ 2011, 1601. 7 Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 31; abl. Hauß, FamRB 2007, 367. 8 Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 31. 9 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739. 10 BGH v. 6.5.2009 – XII ZR 114/08, FamRZ 2009, 1124. 11 Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 38. 12 OLG Oldenburg v. 14.7.2011 – 14 UF 49/11, FamFR 2011, 466. 13 Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 39 f. 14 OLG Karlsruhe v. 3.5.2011 – 16 UF 76/11, FamRZ 2011, 1601.
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Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1441
Kap. 6 D
Im Übrigen kommt bei Vorliegen kindbezogener Gründe eine Verlängerung des Unterhaltsanspruchs immer schon dann in Betracht, wenn eine eingeschränkte oder erst später einsetzende Erwerbstätigkeit der Mutter objektiv vernünftig und dem Kindeswohl förderlich erscheint1.
1439
bb) Elternbezogene Gründe – Erkrankung der Mutter2
1440
– Betreuung mehrerer Kinder desselben Vaters und Aufgabe der Erwerbstätigkeit3 – Schaffung eines Vertrauenstatbestandes durch eheähnliches Zusammenleben und gemeinsamen Kinderwunsch4; indiziell hierfür kann die Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge sein5 – freiwillige Unterhaltszahlungen über das dritte Lebensjahr hinaus – Unangemessenheit einer Verweisung auf Fremdbetreuung wegen besonders günstiger finanzieller Verhältnisse des Vaters6 – Finanzierung der Ausbildung des Vaters durch die Mutter neben Betreuung des Kleinkindes7 – Kind ist aus einer Vergewaltigung hervorgegangen8 – Schwangerschaft während Studiums9 Mit einer Erkrankung der Mutter kann eine Verlängerung des Unterhaltsanspruchs allerdings allenfalls dann begründet werden, wenn die Erkrankung jedenfalls auch auf einer Überlastung infolge einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit neben der Betreuung des Kindes beruht und sich somit zumindest mittelbar auf Belange des Kindes auswirkt, da grundsätzlich § 1615l BGB keinen Krankheitsunterhalt gewährt10. Ein elternbezogener Grund in Form einer Erkrankung der Mutter liegt auch vor, wenn es gerade durch die Schwangerschaft und die nachfolgende Kindererziehung zu
1 BGH v. 5.7.2006 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362; OLG Rostock v. 8.11.2006 – 10 UF 50/05, OLGReport 2007, 639. 2 BGH v. 5.7.2006 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362, OLG Schleswig v. 29.12.2003 – 15 UF 198/02, FamRZ 2004, 975. 3 OLG Düsseldorf v. 23.5.2005 – II-2 UF 125/04, FamRZ 2005, 1772; anders bei Zwillingen: OLG Düsseldorf v. 25.6.2004 – II-3 UF 195/03, FamRZ 2005, 234; Empfehlungen des 13. Deutschen Familiengerichtstages, FamRZ 2000, 273. 4 OLG Düsseldorf v. 23.5.2005 – II-2 UF 125/04, FamRZ 2005, 1772. 5 BGH v. 5.7.2005 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362; OLG Frankfurt v. 13.10.1999 – 2 UF 335/98, FamRZ 2000, 1522; vgl. auch OLG Karlsruhe v. 4.9.2003 – 2 UF 6/03, FamRZ 2004, 974 (im Ergebnis ablehnend). 6 BGH v. 5.7.2005 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362. 7 Büttner, FamRZ 2000, 783. 8 Büttner, FamRZ 2000, 783. 9 OLG Nürnberg v. 3.8.2009 – 10 UF 360/09, FamRZ 2010, 577. 10 BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357.
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1441
Kap. 6 D Rn. 1442
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
einer chronischen Überlastung der Mutter und einer depressiven Störung mit Angst- und Schuldgefühlen kommt1. 1442
Allerdings hat das OLG Nürnberg verlängerten Unterhalt nach § 1615l BGB zugesprochen, weil die Mutter neben ihrem Studium nicht mehr als geringfügig arbeiten konnte, obwohl § 1615l BGB auch keinen Anspruch auf Ausbildungsunterhalt vorsieht2. Ob diese Entscheidung richtig ist, erscheint zweifelhaft.
1443
Wiederholt bejaht hat der BGH, dass elternbezogene Gründe vor allem dann anzunehmen sind, wenn die Eltern mit ihrem Kind zusammengelebt haben und ein besonderer Vertrauenstatbestand als Nachwirkung dieser Familie entstanden ist. Abzustellen ist auf die individuellen Umstände der Eltern und das Maß ihrer Bindung, wobei aber die gesetzliche Regel, wonach der Betreuungsunterhalt grundsätzlich nur für drei Jahre geschuldet ist, nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden darf3. Nach fünfjährigem Zusammenleben hat es der BGH zB für angemessen und ausreichend gehalten, der Mutter eine einjährige Übergangsfrist bis zur Aufnahme einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit einzuräumen4.
1444
In seiner Entscheidung v. 16.7.2008 hat der BGH zudem darauf hingewiesen, dass hinsichtlich der Erwerbsobliegenheit des betreuenden Elternteils stets zu beachten sei, ob der ihm neben oder nach der Erziehung und Betreuung in staatlichen Einrichtungen verbleibende Anteil an der Betreuung und Erziehung des Kindes in Verbindung mit einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit zu einer überobligationsmäßigen Belastung führen würde, da vor allem kleinere Kinder auch nach einer Ganztagsbetreuung noch in stärkerem Maß Zuspruch benötigen würden5. Allerdings muss im Hinblick auf die Darlegungs- und Beweislast auch hierfür genau vorgetragen werden, woran bisher die meisten Fälle gescheitert sind. Die üblichen Kinderaktivitäten sollen nicht zu einer überobligatorischen Belastung führen6.
1445
Soweit der BGH in der vorgenannten Entscheidung Andeutungen in Richtung eines modifizierten Altersphasenmodell gemacht hat, hat er unterdessen derartigen Bestrebungen mit einigen jüngeren Entscheidungen7 eine eindeutige Absage erteilt.
1 BGH v. 5.7.2006 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362. 2 OLG Nürnberg v. 3.8.2009 – 10 UF 360/09, FamRZ 2010, 577. 3 BGH v. 13.1.2010 – XII ZR 123/08, FamRZ 2010, 444; BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357; BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739; BGH v. 5.7.2006 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362. 4 BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357. 5 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739; bestätigt durch BGH v. 13.1.2010 – XII ZR 123/08, FamRZ 2010, 444. 6 OLG Karlsruhe v. 3.5.2011 – 16 UF 76/11, FamRZ 2011, 1601. 7 BGH v. 18.3.2009 – XII ZR 74/08, FamRZ 2009, 770; BGH v. 6.5.2009 – XII ZR 114/08, FamRZ 2009, 1124.
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Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1448
Kap. 6 D
c) Bedarf Die Höhe des zu gewährenden Unterhalts richtet sich gem. §§ 1615l 1446 Abs. 3 S. 1, 1610 BGB nach der Lebensstellung der Mutter. Hat die Mutter vor der Geburt gearbeitet, ist daher für ihren Unterhaltsbedarf grundsätzlich das vor der Geburt des Kindes nachhaltig erzielte Nettoeinkommen maßgeblich1. An der Nachhaltigkeit kann es fehlen, wenn die Mutter immer wieder staatliche Leistungen bzw. Förderungsmaßnahmen in Anspruch genommen hat2. Dagegen ist das frühere Einkommen bedarfsprägend, wenn die Mutter bei Beginn der Schwangerschaft zwar arbeitslos war, aber davon ausgegangen werden kann, dass sie ohne die Schwangerschaft ohne weiteres wieder eine Arbeit gefunden hätte3. Das Gleiche gilt, wenn die Mutter aufgrund von Weiter- und Fortbildungen vorübergehend ein geringeres Einkommen erzielt hat4. Hat die Mutter vor der Geburt des zweiten Kindes ein nachhaltig höheres Einkommen als vor der Geburt des ersten Kindes erzielt, ist der Bedarf nach ihrem höherem Einkommen vor der Geburt des zweiten Kindes zu bemessen5.
1447
Fraglich ist, ob der Bedarf der Mutter für immer und ewig auf ihr Einkom- 1448 men vor der Geburt festzuschreiben ist oder ob der Bedarf durch spätere Veränderungen oder hypothetische Entwicklungen beeinflusst werden kann6. Die Frage stellt sich insbesondere dann, wenn die Mutter kurz vor der Geburt ihre Ausbildung abgeschlossen hat und klar ist, dass sie ohne Geburt des Kindes eine gut bezahlte Arbeit gefunden hätte7. Vorgeschlagen wird, das aktuelle Einkommen der Mutter auf ein Vollzeiteinkommen hochzurechnen8 oder einfach auf das Einkommen abzustellen, das die Mutter ohne Geburt hätte9. Zur Vermeidung zum Teil schwer nachvollziehbarer Ergebnisse sollten zumindest die üblichen Einkommens1 St. Rspr., vgl. BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739; BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 121/03, FamRZ 2005, 442 mwN; BGH v. 5.7.2006 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362; OLG München v. 12.1.2006 – 16 UF 1643/05, FamRZ 2006, 812; OLG Köln v. 15.11.2000 – 27 WF 203/00, FamRZ 2001, 1322; OLG Zweibrücken v. 21.9.1999 – 5 UF 16/99, FamRZ 2001, 444. 2 OLG Koblenz v. 6.8.1999 – 11 UF 127/99, NJW 2000, 669. 3 OLG Koblenz v. 10.7.2000 – 13 WF 377/00, DAVorm 2001, 137; OLG Bremen v. 11.6.1999 – 19 UF 7470/98, FamRZ 2000, 636. 4 BGH v. 5.7.2006 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362. 5 BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357. 6 Mehrle, FamRZ 2010, 510; Wohlgemuth, FamRZ 2010, 1302; Schilling, FPR 2011, 145. 7 OLG Bremen v. 20.2.2008 – 4 WF 175/07, FamRZ 2008, 1281: Referendarin mit zwei Prädikatsexamen; OLG Celle v. 16.11.2001 – 15 WF 253/01, FamRZ 2002, 1220: Auszubildende, die nach der Geburt Ausbildung abschloss und noch kurz in ihrem Beruf arbeitet. 8 Mehrle, FamRZ 2010, 510 mit Hinweis auf eine Entscheidung des AG Altötting sowie nachgehend OLG München. 9 Mehrle, FamRZ 2010, 510; Wohlgemuth, FamRZ 2010, 1302; Schilling, FPR 2011, 145.
Caspary
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Kap. 6 D Rn. 1449
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
steigerungen, aber auch hinreichend sicher prognostizierbare berufliche Aufstiegsmöglichkeiten berücksichtigt werden. § 1610 BGB steht nicht entgegen, da auch bei diesem Ansatz ausschließlich auf die Lebenstellung der Mutter abgestellt wird. Lebensstellungen werden nicht nur durch das, was ist, sondern auch durch das, was sein könnte, geprägt. Jedenfalls wenn das Potential in Form von nachweisbaren Einkommenssteigerungen oder Berufsaussichten hinreichend greifbar ist, sollte der Bedarf dadurch beeinflusst werden können. 1449
Der BGH scheint allerdings der Auffassung zuzuneigen, dass spätere Änderungen den Unterhaltsbedarf nicht beeinflussen können1. Explizit hat er sich mit den kritischen Stimmen aus der Literatur allerdings noch nicht auseinandergesetzt. Die weitere Entwicklung bleibt also abzuwarten.
1450
Dagegen hat das OLG Düsseldorf, und zwar ausdrücklich gegen den BGH, entschieden, dass der Bedarf der unverheirateten Mutter nicht durch den Halbteilungsgrundsatz zu begrenzen sei. Allenfalls käme eine solche Begrenzung auf der Ebene der Leistungsfähigkeit in Betracht. Anderenfalls würde der Bedarf der unverheirateten Mutter nicht nach ihrer eigenen Lebensstellung, sondern (auch) nach der Lebensstellung des Vaters bemessen, was mit der ausdrücklichen Bezugnahme in § 1615l BGB auf den Verwandtenunterhalt nicht zu vereinbaren sei2. Da die Unterhaltsrechtsreform an dieser Bezugnahme nichts geändert hat, gelten die Bedenken des OLG Düsseldorf unverändert fort und erscheinen angesichts des klaren Gesetzeswortlauts auch überzeugend3.
Û
Wichtig: Nach wohl herrschender Meinung4, der sich der BGH5 angeschlossen hat, ist auch der Bedarf der nicht verheirateten Mutter durch eine entsprechende Anwendung des bei Eheleuten geltenden Halbteilungsgrundsatzes zu begrenzen. Hat die Mutter vor der Geburt mehr als der Vater verdient, ist daher ihr Einkommen für die Bemessung ihres Bedarfs nur bis zur Höhe des Betrags heranzuziehen, der dem
1 BGH v. 13.1.2010 – XII ZR 123/08, FamRZ 2010, 444; BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357. 2 OLG Düsseldorf v. 16.4.2007 – II 7 - 7 UF 317/06, FuR 2007, 581 m. Anm. v. Schilling; ebenso offenbar OLG Koblenz v. 18.3.2009 – 9 UF 596/08, NJW 2009, 1974. 3 Vgl. die Anm. von Schilling zu der Entscheidung des OLG Düsseldorf, FuR 2007, 582, und die Bedenken von Büttner, FamRZ 2000, 781, sowie die Zusammenstellung des Streitstandes von Schilling, FamRZ 2005, 445, in der Anm. zu BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 121/03, FamRZ 2005, 442. 4 OLG Schleswig v. 17.5.1999 – 8 WF 18/99, OLGReport 1999, 279; Wever/Schilling, FamRZ 2002, 581; Ehinger, FPR 2000, 25; FA-FamR/Maier, Kap. 6, Rn. 405; Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 116 ff. 5 BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 121/03, FamRZ 2005, 442; bestätigt durch BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739.
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Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1452
Kap. 6 D
Vater nach Abzug aller vorrangigen Verpflichtungen unter Beachtung des Halbteilungsgrundsatzes verbleiben muss. Die Auswirkungen des Meinungsstreits können erheblich sein: Beispiel1: Die Mutter verdient 3000 Euro, der Vater 2500 Euro monatlich. Nach der Geburt arbeitet die Mutter nur noch reduziert und verdient deswegen nur noch 2000 Euro monatlich. Berücksichtigt man den Halbteilungsgrundsatz schon auf der Ebene des Bedarfs, beläuft sich der Bedarf der Mutter auf 1250 Euro (= die Hälfte des Einkommens des Vaters), dh. die Mutter bekommt im Hinblick auf ihr eigenes Einkommen iHv. 2000 Euro nichts. Bemisst man dagegen den Bedarf nach der eigenen Lebensstellung der Mutter mit 3000 Euro, beträgt der nach Anrechung ihres weiterhin erzielten Einkommens verbleibende Bedarf 1000 Euro. Diesen Bedarf kann der Vater ohne Verletzung des Halbteilungsgrundsatzes decken.
Streitig war, ob der Mutter, jedenfalls wenn sich ihr Bedarf nicht aus den 1451 ehelichen Lebensverhältnissen ableitet, ein Mindestbedarf zusteht, wenn sie vor der Geburt des Kindes nicht erwerbstätig war, ihr Einkommen nicht feststellbar ist oder unter den Mindestbedarfssätzen lag2. Der BGH3 hatte diese Frage in seiner Entscheidung v. 16.7.20084 noch offengelassen, hat nunmehr aber entschieden, dass in derartigen Fällen von einem Mindestbedarf in Höhe des Existenzminimums auszugehen ist, der dem notwendigen Selbstbehalt eines Nichtwerwerbstätigen entspricht, sich zurzeit also auf 770 Euro im Monat beläuft5. Ausnahmsweise können diese Beträge auch unterschritten werden, so etwa bei einer Schülerin, die mit ihrem nichtehelichen Kind im Haushalt ihrer Eltern lebt6. Ist die unterhaltsberechtigte Mutter erwerbstätig oder befindet sie sich in einer Berufsausbildung, soll der Mindestbedarf mit 900 Euro anzusetzen sein7. Ist die Mutter des nichtehelichen Kindes verheiratet oder geschieden, ist 1452 ihr Unterhaltsbedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen zu bemessen, insbesondere wenn sie neben dem nichtehelichen Kind noch zwei eheliche Kinder betreut8. An seiner Auffassung, dass dies auch dann gilt,
1 Nach Schilling, FuR 2007, 582. 2 OLG Karlsruhe v. 4.9.2003 – 2 UF 6/03, FamRZ 2004, 974; OLG Koblenz v. 6.8.1999 – 11 UF 127/99, NJW 2000, 669; OLG Hamm v. 11.2.2000 – 11 UF 85/99, FF 2000, 137. Dagegen: OLG Köln v. 15.11.2000 – 27 WF 203/00, FamRZ 2001, 1322 mit krit. Anm. Fischer, FamRZ 2002, 634; OLG Zweibrücken v. 21.9.1999 – 5 UF 16/99, FuR 2000, 286. 3 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739. 4 BGH v. 17.1.2007 – XII ZR 104/03, FamRZ 2007, 1303, m. Anm. v. Schilling. 5 BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357. 6 Wever, FamRZ 2002, 581. 7 OLG Hamm v. 3.11.2010 – II-8 UF 138/10, FamRZ 2011, 1600. 8 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739; BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541; OLG Hamm v. 4.11.2004 – 3 UF 555/01, NJW 2005, 297; OLG Koblenz v. 20.3.2000 – 13 UF 540/99, FamRZ 2001, 227; OLG Schleswig v. 7.11.2000 – 8 UF 220/99, OLGReport 2001, 25.
Caspary
857
Kap. 6 D Rn. 1453
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
wenn der Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen unter dem Mindestbedarf liegt, hält der BGH nicht mehr fest1. Es ist also auch in diesen Fällen von dem Mindestbedarf iHv. 770 Euro auszugehen. Muss sich die Mutter im Verhältnis zu ihrem geschiedenen Ehemann bedarfsmindernd fiktive Einkünfte zurechnen lassen, sind ihre Lebensverhältnisse nicht allein durch den ihr zustehenden Unterhaltsanspruch gegen ihren geschiedenen Ehemann, sondern auch durch die Höhe der ihr zuzurechnenden fiktiven Einkünfte geprägt2. Fraglich ist, ob bei einem wechselseitigen Verzicht auf nachehelichen Unterhalt auch die Anknüpfung an die ehelichen Lebensverhältnisse entfällt3. Nach zutreffender Auffassung soll es darauf ankommen, ob das Kind unmittelbar nach der Scheidung bzw. dem Verzicht oder erst längere Zeit danach geboren wird4. 1453
Umstritten war, ob für die Bedarfsbemessung auch auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Vaters abgestellt werden kann5. Der BGH6 hat sich der Meinung angeschlossen, dass dies nicht möglich ist, weil auch dann, wenn die Eltern vor der Geburt des Kindes zusammengelebt haben, ein etwaiger gemeinsamer Lebensstandard auf freiwilligen Leistungen des Vaters beruht und damit rechtlich nicht ausreichend gesichert ist, um eine Lebensstellung der Mutter begründen zu können.
1454
Grundsätzlich umfasst der Unterhaltsbedarf der Mutter auch die Kosten für die Kranken- und Pflegeversicherung7. Dagegen besteht kein An1 BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357. 2 OLG Hamm v. 6.3.2008 – 2 UF 117/07, FamRZ 2008, 1937. 3 Vgl. OLG Koblenz v. 20.3.2000 – 13 UF 540/99, FuR 2001, 379 (eheliche Lebensverhältnisse sind trotz Verzichts maßgeblich). 4 Wever, FamRZ 2002, 581. 5 Dafür: OLG Bremen v. 20.2.2008 – 4 WF 175/07, NJW 2008, 1745; OLG Düsseldorf v. 23.5.2005 – II-2 UF 125/04, FamRZ 2005, 1772; OLG Zweibrücken v. 21.9.1999 – 5 UF 16/99, FuR 2000, 286; OLG Schleswig v. 7.9.2000 – 13 UF 207/99 – OLGReport 2000, 443, Wever, FamRZ 2002, 581; Büttner, FamRZ 2000, 781. Dagegen: OLG Naumburg v. 17.7.2000 – 3 WF 80/00, FamRZ 2001, 1321; OLG Koblenz v. 6.8.1999 – 11 UF 127/99, FamRZ 2000, 637; OLG Hamm v. 11.2.2000 – 11 UF 85/99, FF 2000, 137. 6 BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739. Damit hat der BGH klargestellt, dass sich seine etwas missverständliche Formulierung in seiner Entscheidung v. 15.12.2004 – XII ZR 121/03, FamRZ 2005, 442, nach der das Maß des Unterhalts zusätzlich durch die Lebensstellung des Vaters begrenzt wird, ausschließlich auf die Begrenzung des Bedarfs nach dem Halbteilungsgrundsatz bezieht, nicht aber als Anhaltspunkt dafür gewertet werden kann, dass auch darüber hinaus der Unterhaltsbedarf der Mutter durch die Lebensstellung des Vaters bestimmt werden kann (so aber Schilling in seiner Anm. zu dem vorgenannten Urt. in FamRZ 2005, 445); BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357. 7 BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357; OLG München v. 12.1.2006 – 16 UF 1643/05, FamRZ 2006, 812; OLG Karlsruhe v. 4.9.2003 – 2 UF 6/03, FamRZ 2004, 974; OLG Bremen v. 11.6.1999 – 19 UF 7470/98, FamRZ 2000, 636; OLG Saarbrücken v. 17.12.1997 – 9 UF 16/97, FamRZ 1999, 382 (für Ehegatten); aA OLG Hamm v. 4.11.2004 – 3 UF 555/01, NJW 2005, 297.
858
Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1456
Kap. 6 D
spruch auf Vorsorgeunterhalt für den Fall des Alters und der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit1. Unklar ist, ob der Mutter ein Anspruch auf Verfahrenskostenvorschuss 1455 gegen den Vater zusteht. Die bisher wohl herrschende Meinung hat dies mit der Begründung bejaht, dass der Verfahrenskostenvorschuss zum Lebensbedarf nach § 1610 Abs. 2 BGB zähle2. Dieser Begründung hat der BGH, wenn auch in einer Entscheidung zum Volljährigenunterhalt, eine Absage erteilt3. Allerdings soll seiner Meinung nach eine analoge Anwendung von § 1360a Abs. 4 BGB gleichwohl in solchen Fällen in Betracht kommen, die der besonderen Unterhaltspflicht zwischen Ehegatten vergleichbar sind4. Das wäre hinsichtlich der unverheirateten Mutter jedenfalls dann zu bejahen, wenn man davon ausgeht, dass sie sich wegen der Betreuung ihres (Klein)Kindes in einer ähnlich ungefestigten Lebensstellung befindet wie noch nicht geschiedene Ehegatten und minderjährige sowie volljährige Kinder ohne eigene Lebensstellung5. d) Bedürftigkeit Erhält die Mutter Sozial- oder Versicherungsleistungen wie Mutterschafts- 1456 geld6, Krankengeld7, Arbeitslosengeld8, BAföG (auch auf Darlehensbasis)9 oder Lohnfortzahlungen, mindern diese ihren Bedarf. Dagegen sind Sozialhilfe (Grundsatz der Subsidiarität), Wohngeld10 und Erziehungsgeld11 (vgl. § 9 BErzGG) bzw. seit dem 1.1.2007 das Elterngeld bis zu einer Höhe von 300 Euro (vgl. § 11 BEEG)12 grundsätzlich nicht als anrechenbares Einkommen zu berücksichtigen. Freiwillige Leistungen Dritter sind ebenfalls nicht auf den Bedarf anzurechnen, da sie im Zweifel nicht erbracht wer-
1 OLG Düsseldorf v. 16.4.2007 – II – 7 UF 317/06, FuR 2007, 581 m. Anm. v. Schilling; OLG München v. 12.1.2006 – 16 UF 1643/05, FamRZ 2006, 812; Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 111; aA Borth, FPR 2008, 87; Büttner, FamRZ 2004, 1918; Göppinger/Wax/Maurer, Rn. 1332. 2 OLG München v. 15.10.2001 – 4 UF 122/01, FamRB 2002, 171 mit Darstellung des Streitstandes und weiteren Nachweisen. 3 BGH v. 23.3.2005 – XII ZB 13/05, FamRZ 2005, 883. 4 BGH v. 23.3.2005 – XII ZB 13/05, FamRZ 2005, 883. 5 Caspary, NJW 2005, 2577; aA Schilling, NJW 2006, 1. 6 BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 121/03, FamRZ 2005, 442; OLG Brandenburg v. 9.11.2010 – 10 UF 23/10, juris; OLG Koblenz v. 10.7.2000 – 13 WF 377/00, DAVorm 2001, 137. 7 OLG Brandenburg v. 2.3.2010 – 10 UF 63/09, FamRZ 2010, 1915. 8 OLG Brandenburg v. 2.3.2010 – 10 UF 63/09, FamRZ 2010, 1915. 9 OLG Nürnberg v. 3.8.2009 – 10 UF 360/09, FamRZ 2010, 577. 10 OLG Brandenburg v. 2.3.2010 – 10 UF 63/09, FamRZ 2010, 1915. 11 BVerfG v. 21.6.2000 – 1 BvR 1709/93, FamRZ 2000, 1149; OLG München v. 12.8.1998 – 12 WF 989/98, FamRZ 1999, 1166; AG Hannover v. 15.6.2001 – 606 F 38/01, FamRZ 2002, 191. 12 BGH v. 10.11.2010 – XII ZR 37/09, FamRZ 2011, 97.
Caspary
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Kap. 6 D Rn. 1457
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
den, um den unterhaltspflichtigen Vater zu entlasten1. Erhält die Mutter Unterhalt von ihrem Ehemann, mindert dies ihren Bedarf, allerdings nur in der Höhe, in der der Ehemann neben dem Vater des nichtehelichen Kindes für den Bedarf aufkommen muss. Nach herrschender Meinung muss sich die Mutter ferner für Versorgungsleistungen, die sie für ihren Lebensgefährten erbringt, eine angemessene fiktive Vergütung anrechnen lassen2. 1457
Erzielt die Mutter Einkünfte aus einer Tätigkeit, die ausnahmsweise von ihr erwartet werden kann, mindern diese ebenfalls ihren Bedarf, ggf. abzüglich der Kitakosten3. Ggf. sind fiktive Einkünfte anzurechnen4. Streitig ist dagegen, wie Erwerbseinkünfte zu behandeln sind, die aus einer Tätigkeit stammen, die nicht von der Mutter erwartet werden kann. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass jegliches Einkommen, das die Mutter während der ersten drei Lebensjahre des Kindes erzielt, als überobligatorisch anzusehen ist, weil die Mutter jederzeit berechtigt wäre, ihre Erwerbstätigkeit aufzugeben5. Nach zutreffender Auffassung6, der sich der BGH7 angeschlossen hat, sind derartige Einkünfte wie Einkünfte eines Ehegatten aus einer unzumutbaren Tätigkeit zu behandeln, dh. die Einkünfte sind in entsprechender Anwendung von § 1577 Abs. 2 BGB nur nach Billigkeit zu berücksichtigen8. Bei der danach im Einzelfall erforderlichen Billigkeitsprüfung sind nach dem BGH insbesondere folgende Umstände zu berücksichtigen: – Vereinbarkeit der Kindesbetreuung mit Arbeits- und Fahrtzeiten – Betreuungsmöglichkeiten für das Kind – Motiv für Erwerbstätigkeit: freiwillig oder aus wirtschaftlicher Not bzw. zur Wiederherstellung des vor der Geburt bestehenden Lebensstandards
1 Wever, FamRZ 2002, 581. 2 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541; OLG Koblenz v. 21.7.2005 – 7 UF 773/04; FamRZ 2006, 440; OLG Schleswig v. 17.5.1999 – 8 WF 18/99, OLGReport 1999, 279; LG Oldenburg v. 17.1.1990 – 9 S 176/89, FamRZ 1990, 1034; Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 130; Wever, FamRZ 2002, 581. 3 OLG Brandenburg v. 2.3.2010 – 10 UF 63/09, FamRZ 2010, 1915. 4 BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357. 5 BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357; BGH v. 18.3.2009 – XII ZR 74/08, FamRZ 2009, 770. 6 Zum Streitstand vgl. Schilling, in Anwaltkommentar BGB, 2005, § 1615l BGB Rn. 22; Wever, FamRZ 2002, 581; Büttner, FamRZ 2000, 781; OLG Hamburg v. 28.7.2004 – 2 UF 73/03, FamRZ 2005, 927; aA OLG Schleswig v. 19.12.2000 – 8 UF 87/00, OLGReport 2001, 201. 7 BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 121/03, FamRZ 2005, 442; ihm folgend jetzt auch OLG München v. 12.1.2006 – 16 UF 1643/05, FamRZ 2006, 812; BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357. 8 OLG Karlsruhe v. 24.5.2011 – 18 UF 165/09, FamRZ 2011, 1800; OLG Hamm v. 3.11.2010 – 8 UF 138/10, FamRZ 2011, 1600; OLG Brandenburg v. 2.3.2010 – 10 UF 63/09, FamRZ 2010, 1915.
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Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Û
Rn. 1459
Kap. 6 D
Praxistipp: Bevor in die Billigkeitsprüfung eingetreten wird, sollte immer geprüft werden, ob und in welcher Höhe die eigenen Einkünfte der Mutter nicht angerechnet werden können, weil der Vater wegen mangelnder Leistungsfähigkeit nicht ihren vollen Bedarf decken kann (§ 1577 Abs. 2 S. 1 BGB analog).
Beispiel: Die Mutter verdiente vor der Geburt 1000 Euro. Nach der Geburt reduziert sich ihr Einkommen auf 800 Euro. Der Vater verfügt über ein bereinigtes Einkommen von 1600 Euro. Der offene Bedarf der Mutter würde sich ohne eigene Einkünfte auf 1000 Euro belaufen. Der Vater könnte den Bedarf der Mutter wegen des ihm zuzubilligenden Selbstbehalts aber nur iHv. 550 Euro decken (1600–1050). In Höhe der Differenz, also iHv. 450 Euro (1000–550), kann das Einkommen der Mutter daher nicht auf den Unterhaltsanspruch angerechnet werden. Hinsichtlich der weiteren 350 Euro richtet sich die Anrechnung ihres Einkommens nach Billigkeit.
Auf jeden Fall abziehbar sind Fahrtkosten1 bzw. generell berufsbedingte Aufwendungen2. Ein Erwerbstätigenbonus ist der Mutter dagegen wohl ebenso wenig wie dem Vater zuzubilligen3.
1458
Erzielt die Mutter aus ihrem Vermögen laufende Einkünfte, mindern diese 1459 entsprechend den üblichen unterhaltsrechtlichen Grundsätzen ihren Bedarf (bspw. Zinsen, Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung4, Wohnwert für mietfreies Wohnen5). Aufgrund der Verweisung auf die Vorschriften des Verwandtenunterhalts ist die Mutter ferner grundsätzlich verpflichtet, auch den Stamm ihres Vermögens zur Bedarfsdeckung einzusetzen. Diese Verpflichtung entfällt nur dann, wenn ihr die Verwertung des Vermögensstammes insbesondere aus Gründen der Wirtschaftlichkeit bzw. der dauerhaften Sicherung ihres eigenen Unterhalts6 oder einer angemessenen Altersvorsorge7 nicht zuzumuten ist. Der Billigkeitsmaßstab ist allerdings strenger als beim nachehelichen Unterhalt. Eine Angleichung an den etwas großzügigeren Maßstabe des § 1577 Abs. 3 BGB wäre wünschenswert8.
1 BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 121/03, FamRZ 2005, 442. 2 BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357. 3 Vgl. BGH v. 17.1.2007 – XII ZR 104/03, FamRZ 2007, 1303 m. Anm. v. Schilling. 4 OLG Hamm v. 11.2.2000 – 11 UF 85/99, FF 2000, 137. 5 OLG Hamm v. 11.2.2000 – 11 UF 85/99, FF 2000, 137. 6 Sehr streng LG Würzburg v. 15.11.2000 – 42 S 221/98, FF 2001, 98 mit krit. Anm. Wever, FF 2001, 100; OLG Koblenz v. 6.8.1999 – 11 UF 127/99, NJW 2000, 669 (Verwertung eines vermieteten Einfamilienhauses zumutbar); OLG Hamm v. 11.2.2000 – 11 UF 85/99, FF 2000, 137 (Verwertung zweier Mehrfamilienhäuser im Hinblick auf großes Vermögen des Unterhaltspflichtigen unzumutbar); OLG Düsseldorf v. 26.3.1990 – 7 UF 220/89, FamRZ 1990, 1137. 7 BGH v. 5.7.2006 – XII ZR 11/04, FamRZ 2006, 1362; KG v. 24.6.2003 – 18 UF 418/02, FPR 2003, 671. 8 Wever, FamRZ 2002, 581.
Caspary
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Kap. 6 D Rn. 1460
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
e) Leistungsfähigkeit 1460
Der Vater ist nur verpflichtet, Unterhalt zu zahlen, soweit er leistungsfähig ist. Ob das der Fall ist, richtet sich prinzipiell nach den auch sonst geltenden Grundsätzen.
Û
Wichtig: Zu beachten ist aber Folgendes: Entgegen der bis dahin herrschenden Meinung1 hat der BGH2 im Jahr 2004 entschieden, dass der Selbstbehalt des unterhaltspflichtigen Vaters angesichts der zunehmenden Angleichung der Ansprüche nach § 1615l BGB und § 1570 BGB grundsätzlich genauso zu bemessen ist wie der Selbstbehalt eines Unterhaltsschuldners nach § 1570 BGB. Er hat es dabei für nicht beanstandungswürdig gehalten, wenn der Selbstbehalt im Regelfall hälftig zwischen dem notwendigen und dem angemessenen Selbstbehalt liegt.
1461
Nach der aktuellen Düsseldorfer Tabelle v. 1.1.20113 beträgt daher nunmehr der Selbstbehalt einheitlich für Väter ehelicher und unehelicher Kinder 1050 Euro monatlich.
1462
Grundsätzlich ist der Vater auch im Verhältnis zur Mutter eines nichtehelichen Kindes verpflichtet, erwerbstätig zu sein. Kommt er seiner Erwerbsobliegenheit nicht nach, können ihm fiktive Einkünfte zugerechnet werden4. Mangels gesteigerter Unterhaltspflicht werden allerdings die Anforderungen nicht höher angesetzt werden können als gegenüber volljährigen, nicht privilegierten Kindern5. Der Vater soll bspw. nicht verpflichtet sein, zugunsten einer Erwerbstätigkeit das Studium aufzugeben, sofern die Regelstudienzeit noch nicht überschritten ist6. Denkbar ist folglich, dass dem Vater zwar im Verhältnis zum Kind, nicht aber im Verhältnis zur Mutter fiktive Einkünfte zugerechnet werden. Ob diese strenge Linie in Anbetracht der Unterhaltsrechtsreform, der jüngsten Rechtsprechung des BGH zur Angleichung von § 1516l BGB und § 1570 BGB (vgl. Rn. 1426 ff.) sowie der Entscheidung des BVerfG zur Gleichstellung
1 Sie billigte dem Vater im Hinblick auf die Verweisung auf die Vorschriften des Verwandtenunterhalts den gleichen Selbstbehalt wie gegenüber einem volljährigen Kind zu, zuletzt also 1000 Euro monatlich. Sehr ausführliche Darstellung des Streitstandes in: BGH v. 1.12.2004 – XII ZR 3/03, FamRZ 2005, 354. 2 BGH v. 1.12.2004 – XII ZR 3/03, FamRZ 2005, 354; ebenso BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 26/03. Auch hier führt der BGH zur Begr. vorwiegend den gleichen Schutzzweck von § 1516l BGB und § 1570 BGB an, weswegen auch beim Selbstbehalt eine Gleichbehandlung von Vater und Ehemann geboten sei. 3 www.famrb.de. 4 KG v. 30.10.1997 – 16 UF 2423/97, FamRZ 1998, 556; OLG Düsseldorf v. 27.2.1989 – 2 UF 123/88, FamRZ 1989, 1226. 5 OLG Frankfurt v. 16.2.1982 – 3 UF 129/81, FamRZ 1982, 732; Wever, FF 2000, 20. 6 OLG Frankfurt v. 16.2.1982 – 3 UF 129/81, FamRZ 1982, 732.
862
Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1466
Kap. 6 D
verheirateter und unverheirateter Eltern beim Betreuungsunterhalt1 noch haltbar ist, erscheint allerdings zweifelhaft.
Û
Wichtig: Der Grundsatz, dass steuerliche Vorteile aufgrund der Inanspruchnahme des Ehegattensplittings allein der bestehenden Ehe zugutekommen sollen2, ist aus Sicht des BGH durch die Unterhaltsrechtsreform überholt, jedenfalls soweit es um Geschiedenenunterhalt geht3. Im Hinblick auf die Gleichstellung des Anspruchs nach § 1615l BGB mit dem Anspruch nach § 1570 BGB wird das Gleiche gelten müssen, soweit es um den Anspruch der unverheirateten Mutter nach § 1615l BGB geht.
Schließlich ist auch der Vater wegen der Verweisung auf den Verwandten- 1463 unterhalt verpflichtet, neben laufenden Einkünften aus seinem Vermögen ggf. auch den Stamm seines Vermögens zur Erfüllung des Unterhaltsanspruchs der Mutter einzusetzen4, sofern dadurch sein eigener lebenslanger Unterhalt nicht gefährdet wird5 oder aus anderen Gründen die Verwertung des Vermögensstammes nicht als unzumutbar erscheint. Liegt nur eine vorübergehende Arbeitslosigkeit vor, kann es zumutbar sein, den Unterhalt für den Übergangszeitraum aus dem Stamm des Vermögens zu bestreiten6. 5. Rangfragen und Ersatzhaftung Schuldet der Vater mehreren Personen Unterhalt oder kann die Mutter von mehreren Personen Unterhalt verlangen, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die einzelnen Unterhaltsansprüche zueinander stehen.
1464
a) Mehrere Unterhaltsgläubiger Bis zum Inkrafttreten der Unterhaltsrechtsreform am 1.1.2008 war die 1465 Rangstellung der Mutter eines nichtehelichen Kindes in §§ 1615l Abs. 3 S. 3, 1609 BGB geregelt. Danach waren ihre Ansprüche nur im dritten Rang angesiedelt mit der Folge, dass die Mutter eines nichtehelichen Kindes oft leer ausging. Die Unterhaltsrechtsreform hat die Regelungen zur Rangfolge einheitlich 1466 in § 1609 BGB zusammengefasst. § 1615l Abs. 3 S. 3 BGB wurde gestrichen. Nach dem neuen § 1609 Nr. 2 BGB teilen sich alle kinderbetreuenden Elternteile, ob verheiratet oder nicht, sowie Ehegatten aus Ehen von 1 2 3 4 5 6
BVerfG v. 28.2.2007 – 1 BvL 9/04, NJW 2007, 2735. OLG Koblenz v. 12.12.2003 – 13 WF 971/03, FamRZ 2004, 973. BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911. AG Lahnstein v. 12.7.1985 – 2 C 533/85, FamRZ 1986, 100. BGH v. 2.11.1988 – IVb ZR 7/88, FamRZ 1989, 170. OLG Hamm v. 3.11.2010 – 8 UF 138/10, FamRZ 2011, 1600.
Caspary
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Kap. 6 D Rn. 1467
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
langer Dauer den zweiten Rang. Im ersten Rang befinden sich alle minderjährigen und volljährigen privilegierten Kinder (§ 1609 Nr. 1 BGB). Im dritten Rang folgen die Ehegatten und geschiedenen Ehegatten, die nicht unter § 1609 Nr. 2 BGB fallen, im vierten Rang befinden sich die nicht privilegierten volljährigen Kinder, im Fünften die Enkelkinder und weitere Abkömmlinge, im Sechsten die Eltern und im Siebten die weiteren Verwandten der aufsteigenden Linie. 1467
Zu beachten ist, dass Ehegatten aus Ehen von langer Dauer nur dann mit kinderbetreuenden Elternteilen gleichrangig sind, wenn sie ehebedingte Nachteile erlitten haben. Das ergibt sich aus dem Verweis in § 1609 Nr. 2 BGB auf § 1578b BGB1.
Û
Wichtig: Auf die Rangfolge kommt es immer dann an, wenn das Geld nicht für alle Unterhaltsgläubiger reicht, da dann zunächst die Ansprüche der vorrangigen Unterhaltsgläubiger zu befriedigen sind. Eine Mangelfallberechnung ist also nur unter Gläubigern einer Rangstufe, dh. nur dann vorzu nehmen, wenn innerhalb einer Rangstufe nicht genug Geld für alle Unterhaltsgläubiger vorhanden ist.
1468
Durch die Unterhaltsrechtsreform wird die Mutter eines nichtehelichen Kindes also auch rangmäßig deutlich besser gestellt als bisher. Soweit die Voraussetzungen von § 1609 Nr. 2 BGB vorliegen, geht die Mutter eines nichtehelichen Kindes im Unterschied zur früheren Rechtslage einem (geschiedenen) Ehegatten sogar vor, sofern der (geschiedene) Ehegatte keine ehebedingten Nachteile erlitten hat und daher nach § 1609 Nr. 3 BGB in den dritten Rang einzustufen ist.
1469
Nachdem das BVerfG2 die vom BGH entwickelte Dreiteilungsmethode gekippt hat, fragt sich, wie in Zukunft die Fälle zu lösen sind, in denen der Vater nicht nur der Mutter Unterhalt nach § 1615l BGB, sondern auch einer (geschiedenen) Ehefrau Unterhalt schuldet und beide Ansprüche gleichrangig sind. In seiner ersten Entscheidung nach dem Urteil des BVerfG hat der BGH3 zu dieser Problematik folgende Grundsätze entwickelt:
1470
Entsteht der Anspruch auf Kindesunterhalt und auf Unterhalt nach § 1615l BGB vor Rechtskraft der Scheidung, prägt dies die ehelichen Lebensverhältnisse mit der Folge, dass die Unterhaltsverpflichtungen vom Einkommen des Pflichtigen in Abzug zu bringen sind, bevor der Bedarf 1 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911; OLG Celle v. 10.10.2008 – 10 WF 322/08, OLGReport 2008, 897. 2 BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, FamRB 2011, 66. 3 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281 mit Anm. Borth, FamRZ 2012, 253; vgl. auch Riegner, FamFR 2012, 1 und 54; Graba, FamFR 2012, 49; Born, FF 2012, 119; Soyka, FuR 2012, 181; Klettmann, FuR 2012, 162; Hoppenz, NJW 2012, 819.
864
Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1470
Kap. 6 D
der Ehefrau ermittelt wird. Entstehen die Ansprüche dagegen erst nach Rechtskraft der Scheidung, sind sie bei der Bemessung des Unterhaltsbedarfs der Ehefrau nicht zu berücksichtigen. Jedoch ist auf der Ebene der Leistungsfähigkeit der Halbteilungsgrundsatz zu beachten, da der eigene angemessene Unterhalt des Pflichtigen i.S. von § 1581 BGB nicht geringer sein darf als der Unterhalt, den der Berechtigte bekommt. Weitere Unterhaltsverpflichtungen sind dabei ihrem Rang entsprechend zu berücksichtigen. Führt dies zu einem relativen Mangelfall, weil dem Pflichtigen weniger als dem Berechtigten verbleibt, ist eine Kürzung des Unterhaltsanspruchs nach Billigkeit vorzunehmen. Grundsätzlich ist dabei nicht zu beanstanden, wenn das vorhandene Gesamteinkommen aller Beteiligten durch drei geteilt wird, wobei weitere Billigkeitsgesichtspunkte zusätzlich berücksichtigt werden können. Im absoluten Mangelfall sind die Ansprüche des Unterhaltsberechtigten entsprechend der in § 1609 BGB geregelten Rangfolge zu befriedigen und im Falle des Gleichrangs anteilig zu kürzen. Beispiel: Der Ehemann verdient 4000 Euro monatlich. Seine Frau betreut das zweijährige gemeinsame Kind und arbeitet nicht. Aus einer außerehelichen Beziehung hat der Ehemann ein einjähriges Kind, dessen Mutter ebenfalls nicht arbeitet. Bis zur Geburt hat die Mutter 1500 Euro monatlich verdient. Einkommen Ehemann ./. Kindesunterhalt ./. Kindesunterhalt Zwischensumme
4000 Euro 314 Euro 314 Euro 3372 Euro
In Abzug zu bringen ist außerdem der Anspruch der Mutter nach § 1615l BGB, bevor der Bedarf der Ehefrau ermittelt wird. Geht man mit dem BGH (noch) davon aus, dass bereits der Bedarf der Mutter durch den Halbteilungsgrundsatz beeinflusst wird (vgl. Rn. 1450)1, müssten 1445 Euro in Abzug gebracht werden (3372 Euro × 3/7). Anderenfalls und richtigerweise (vgl. Rn. 1450) wären 1500 Euro abzuziehen. Zu beachten ist, dass der Bedarf der nicht verheirateten Mutter nicht durch den Anspruch der Ehefrau beeinflusst werden kann, da sich ihr Bedarf allein nach ihrer Lebensstellung und nicht nach den ehelichen Lebensverhältnissen richtet2. Setzt man den Bedarf mit 1500 Euro an, verbleiben 1872 Euro. Der Bedarf der Ehefrau beträgt also 802 Euro (1872 Euro × 3/7). Der Ehemann ist für alle Unterhaltsansprüche leistungsfähig, da ihm nach Abzug aller Unterhaltspflichten 1070 Euro, also mehr als der notwendige Selbstbehalt von 1050 Euro, verbleiben: Einkommen Ehemann ./. Kindesunterhalt ./. Kindesunterhalt ./. Unterhalt 1615l BGB ./. Unterhalt Ehefrau Verbleibendes Einkommen
4000 Euro 314 Euro 314 Euro 1500 Euro 802 Euro 1070 Euro
1 In der Entscheidung BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, FamRZ 2012, 281, Tz. 20, scheint sich der Senat vorsichtig von seiner diesbezüglichen bisherigen Rspr. zu distanzieren. 2 Schwamb, FamRB 2011, 120.
Caspary
865
Kap. 6 D Rn. 1471
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Es liegt aber ein relativer Mangelfall vor, weil dem Ehemann im Verhältnis zur nicht verheirateten Mutter weniger als die Hälfte seines Einkommens bleibt. Nach der Entscheidung des BGH v. 7.12.2011 kann in einem solchen Fall das Gesamteinkommen, hier also nur das Einkommen des Ehemanns, nach Abzug des vorrangigen Kindesunterhalts und des Erwerbtätigenbonus durch drei geteilt werden. Danach bekämen die Mutter und die Ehefrau also jeweils 963 Euro. Einkommen Ehemann 4000 Euro ./. Kindesunterhalt 314 Euro ./. Kindesunterhalt 314 Euro Zwischensumme 3372 Euro ./. Erwerbstätigenbonus (1/7) 482 Euro Zwischensumme 2890 Euro :3= 963 Euro Zwar stützt der BGH seine diesbezüglichen Erwägungen in seiner Entscheidung v. 7.1.2011 auf § 1581 BGB, also eine Norm des nachehelichen Unterhalts, da es in dem entschiedenen Fall um zwei Ehefrauen ging. Seine Erwägungen gelten aber gleichermaßen für das Verhältnis zwischen dem Unterhalt eines (geschiedenen) Ehegatten zum Unterhalt nach § 1615l BGB, da der BGH wiederholt entschieden hat, dass der Halbteilungsgrundsatz den Unterhaltsanspruch der nicht verheirateten Mutter nach § 1615l BGB ebenso begrenzt wie den Unterhaltsanspruch eines Ehegatten. An dieser Rechtsprechung hält der BGH fest, wobei er allerdings andeutet, dass die Begrenzung eventuell doch erst auf der Ebene der Leistungsfähigkeit und nicht schon auf der Ebene des Bedarfs zu erfolgen hat1. Soweit der Unterhalt der Ehefrau nach dieser Berechnung höher als ihr ursprünglich errechneter Bedarf ist, ist darauf zu verweisen, dass sich nach der Entscheidung des BGH v. 7.12.2011 der endgültige Unterhaltsbedarf des neuen Ehegatten erst im Zusammenspiel mit der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen gegenüber dem geschiedenen Ehegatten bemessen lässt2. Das Gleiche muss dann aber auch für den endgültigen Unterhaltsbedarf des (geschiedenen) Ehegatten im Verhältnis zum Unterhalt einer Mutter nach § 1615l BGB gelten. Dagegen ist der Bedarf der nicht verheirateten Mutter wohl durch ihre Lebenstellung, also ihr vor der Geburt zuletzt erzieltes Einkommen, begrenzt, und kann nicht im Zusammenspiel mit anderen Unterhaltsverpflichtungen auf der Ebene der Leistungsfähigkeit erhöht werden.
1471
Sind die neuen Unterhaltspflichten erst nach der Scheidung entstanden, verändert sich die Berechnung wie folgt: Beispiel: Der geschiedene Ehemann verdient 3500 Euro. Aus der Ehe ist ein zweijähriges Kind hervorgegangen. Die geschiedene Ehefrau arbeitet nicht. Nach der Scheidung bekommt der Ehemann aus einer nichtehelichen Beziehung ein weiteres Kind. Die Mutter hat vor der Geburt 1500 Euro verdient. Sie arbeitet ebenfalls nicht. Der Bedarf der nicht verheirateten Mutter beträgt unverändert 1500 Euro bzw. 1266 Euro, Einkommen Ehemann 3500 Euro ./. Kindesunterhalt 273 Euro ./. Kindesunterhalt 273 Euro Verbleibendes Einkommen 2954 Euro × 3/7 = 1266 Euro, 1 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, Tz. 20, FamRZ 2012, 281. 2 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 151/09, Tz. 45, FamRZ 2012, 281.
866
Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1472
Kap. 6 D
je nachdem welcher Auffassung man hinsichtlich des Halbteilungsgrundsatzes folgt (vgl. Rn. 1450). Der Bedarf der Ehefrau beläuft sich dagegen nunmehr auf 1383 Euro: Einkommen Ehemann ./. Kindesunterhalt Verbleibendes Einkommen × 3/7 =
3500 Euro 273 Euro 3227 Euro 1383 Euro
In diesem Fall ist der Ehemann nicht mehr für alle Ansprüche leistungsfähig, da ihm nach Abzug aller Unterhaltspflichten lediglich 71 Euro verbleiben: Einkommen Ehemann ./. Kindesunterhalt ./. Kindesunterhalt ./. Unterhalt Ehefrau ./. Unterhalt § 1615l BGB Verbleibendes Einkommen
3500 Euro 273 Euro 273 Euro 1383 Euro 1500 Euro 71 Euro
Es liegt ein absoluter Mangelfall vor. Zu befriedigen sind daher zunächst die vorrangigen Ansprüche auf Kindesunterhalt. Danach verbleiben dem Ehemann 2954 Euro. Als Verteilungsmasse stehen somit 1904 Euro zur Verfügung: Einkommen Ehemann nach Abzug Kindesunterhalt 2954 Euro ./. Selbstbehalt 1050 Euro Verteilungsmasse 1904 Euro Die Unterhaltsansprüche von Mutter und geschiedener Frau belaufen sich auf insgesamt 2883 Euro. Die Unterhaltsansprüche der Mutter und der geschiedenen Frau sind also wie folgt zu kürzen: Unterhalt Mutter: 1500 : 2883 × 1904 = 991 Euro Unterhalt Ehefrau: 1383 : 2883 × 1904 = 913 Euro
Û
Wichtig: Zu prüfen ist immer, ob zur Vermeidung unausgewogener Ergebnisse der Kindesunterhalt auf den Mindestunterhalt herabzusetzen ist1. Ferner ist zu beachten, dass sich aus den Leitlinien der Oberlandesgerichte zum Teil abweichende Einsatzbeträge ergeben, die im Mangelfall in die Berechnung eingestellt werden sollen2.
Die vorgenannten Grundsätze sind für den Fall, dass zwei Mütter nach § 1615l BGB Unterhalt verlangen können, entsprechend anzuwenden, wobei zu beachten ist, dass sich der Bedarf einer nicht verheirateten Mutter allein nach ihrer Lebensstellung richtet. Beispiel: Die Mütter haben einen Unterhaltsbedarf von 1500 und 770 Euro. Der Vater hat ein bereinigtes Einkommen von a) 4000 Euro, b) 3600 Euro. a) Einkommen Vater ./. Unterhalt Mutter ./. Unterhalt Mutter Verbleibendes Einkommen
4000 Euro 1500 Euro 770 Euro 1730 Euro
1 OLG Köln v. 27.5.2008 – 4 UF 159/07, FamRZ 2008, 2119. 2 Die Leitlinien finden sich zB unter www.famrb.de.
Caspary
867
1472
Kap. 6 D Rn. 1473
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
In diesem Fall ist der Vater in vollem Umfang leistungsfähig, weil ihm im Verhältnis zu jeder Mutter mehr als die Hälfte seines Einkommens und insgesamt mehr als sein notwendiger Selbstbehalt verbleibt. b) Einkommen Vater ./. Unterhalt Mutter ./. Unterhalt Mutter Verbleibendes Einkommen
3600 Euro 1500 Euro 770 Euro 1330 Euro
Bei dieser Variante liegt ein relativer Mangelfall vor, weil dem Vater im Verhältnis zur ersten Mutter weniger als die Hälfte seines Einkommens bleibt. Teilt man auf der Ebene der Leistungsfähigkeit sein Einkommen durch drei, entfallen auf jeden 1200 Euro. Der Unterhalt der zweiten Mutter ist allerdings durch ihre Lebenstellung auf 770 Euro gedeckelt. Zu kürzen ist also nur der Unterhalt der ersten Mutter, und zwar auf 1200 Euro. Dem Vater verbleiben 1630 Euro: Einkommen Vater 3600 Euro ./. Unterhalt Mutter 1200 Euro ./. Unterhalt Mutter 770 Euro Verbleibendes Einkommen 1630 Euro Zu überlegen ist allerdings, ob die bei der zweiten Mutter „eingesparten“ Mittel, also 430 Euro, zwischen der ersten Mutter und dem Vater hälfig zu verteilen sind. In diesem Fall bekäme die erste Mutter 1415 Euro. Der gleiche Betrag bliebe dem Vater.
b) Mehrere Unterhaltsschuldner 1473
Kann die Mutter Unterhalt von mehreren Personen verlangen, ist wie folgt zu unterscheiden: aa) Vater und Ehemann der Mutter
1474
Das Zusammentreffen von Ansprüchen der Mutter gegen ihren Ehemann und gegen den Vater ihres nichtehelichen Kindes bzw. von Ansprüchen gegen mehrere Väter ist gesetzlich nicht geregelt. Wie diese Fälle zu behandeln sind, war lange Zeit umstritten1.
1475
Der BGH hat im Jahr 19982 zu dieser Frage grundsätzlich Stellung genommen und entschieden, dass bei einem Zusammentreffen von Ansprüchen nach § 1615l BGB und §§ 1361 BGB der Vater und der Ehemann in analoger Anwendung von § 1606 Abs. 3 BGB anteilig nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen für den Unterhalt der Mutter aufkommen müssen. Die Haftungsquote soll dabei nicht schematisch allein nach den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Vaters und des Ehemannes zu bestimmen sein, sondern es sind auch andere Umstände, insbesondere
1 Vgl. dazu BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541 mit Darstellung des Streitstandes und weiteren Nachweisen. 2 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541.
868
Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1475
Kap. 6 D
Anzahl, Alter, Entwicklung und Betreuungsbedürftigkeit der Kinder zu berücksichtigen1.
Û
Praxistipp: Der Übersichtlichkeit halber empfiehlt es sich, zweistufig vorzugehen: Zunächst sollten die Haftungsquoten allein anhand der Leistungsfähigkeit ermittelt werden, anschließend sind dann – ggf. – die Haftungsquoten wertend zu verändern.
Beispiel: Die nicht erwerbstätige Mutter F betreut zwei eheliche Kinder, A und B, die vierzehn und zehn Jahre alt sind. A und B besuchen eine Ganztagsschule. F betreut außerdem ein Kind aus einer nichtehelichen Beziehung, C, das ein Jahr alt ist. Ihr geschiedener Mann M verdient 2600 Euro im Monat. Der Vater V des nichtehelichen Kindes verdient 1500 Euro im Monat. Der Unterhaltsbedarf von F bestimmt sich sowohl gegenüber M als auch gegenüber V nach den ehelichen Lebensverhältnissen. Er ist also wie folgt zu berechnen: Einkommen M: ./. Kindesunterhalt A ./. Kindesunterhalt B bereinigtes Einkommen M Bedarf F (3/7 × 1914)
2600 Euro 377 Euro (469 ./. 92) 309 Euro (401 ./. 92) 1914 Euro 820 Euro
Um die Haftungsquoten von M und V bestimmen zu können, ist zunächst die Verteilungsmasse zu ermitteln: Einkommen M: ./. Kindesunterhalt A ./. Kindesunterhalt B ./. Selbstbehalt einzusetzendes Einkommen Einkommen V: ./. Kindesunterhalt C ./. Selbstbehalt einzusetzendes Einkommen Verteilungsmasse
2600 Euro 377 Euro 309 Euro 1050 Euro 864 Euro 1500 Euro 225 Euro (317 ./. 92) 1050 Euro 225 Euro 1089 Euro
Anschließend sind die Haftungsquoten nach der Formel zu bestimmen: Haftungsquote M: 820 Euro × 864 Euro : 1089 Euro = 651 Euro Haftungsquote V: 820 Euro × 225 Euro : 1089 Euro = 169 Euro Abschließend ist ggf. das Ergebnis aufgrund der Berücksichtigung von besonderen Umständen entsprechend der Entscheidung des BGH zu korrigieren. Es wäre zB zu erwägen, ob die Haftungsquote von V bis zu seinem Selbstbehalt zu erhöhen ist, weil F, wenn C nicht betreut werden müsste, zumindest Teilzeit arbeiten könnte, da A und B eine Ganztagsschule besuchen.
1 ZB soll der Erzeuger des vermehrt betreuungsbedürftigen Kindes ggf. auch in weiterem Umfang, als es seiner rechnerischen Quote entspricht, oder sogar allein zum Unterhalt herangezogen werden können, vgl. BGH v. 16.7.2008 – XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739; BGH v. 17.1.2007 – XII ZR 104/03, FamRZ 2007, 1303; BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541; OLG Bremen v. 19.2.2004 – 4 WF 10/04, FamRZ 2005, 213; vgl. grundsätzlich zum Konkurrenzverhältnis auch Wagner, NJW 1998, 3097; Kleffmann, FuR 1999, 205.
Caspary
869
Kap. 6 D Rn. 1476 1476
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Eine wertende Veränderung der Haftungsquoten kommt nach der Rechtsprechung ferner in folgenden Fällen in Betracht: – Haftung des Ehemanns kann ganz entfallen, wenn aus der Ehe keine betreuungsbedürftigen Kinder hervorgegangen sind und die Mutter nur wegen der Geburt des nichtehelichen Kindes keiner Erwerbstätigkeit nachgehen kann1. – Ehemann und Vater haften auch dann anteilig entsprechend § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB, wenn die Unterhaltsverpflichtung des Ehemanns nur darauf beruht, dass das nichteheliche Kind die ehelichen Lebensverhältnisse geprägt hat2. – Ist das nichteheliche Kind aufgrund einer Behinderung erhöht betreuungsbedürftig, kann die Haftungsquote zulasten des nichtehelichen Vaters angehoben werden3. – Gibt die Mutter eines in der Trennungszeit geborenen nichtehelichen Kindes ihre bisherige Erwerbstätigkeit auf, um das nichteheliche Kind betreuen zu können, kann sie ihren Ehemann auf Trennungsunterhalt nur insoweit in Anspruch nehmen, wie unter fiktiver Fortschreibung ihres früheren Einkommens noch ein ungedeckter Unterhaltsbedarf besteht4.
1477
Fraglich ist, wie bei einem Zusammentreffen von § 1615l BGB mit anderen ehelichen Unterhaltsansprüchen, insbesondere § 1570 BGB, zu verfahren ist. Die Rechtsprechung wendet auch in diesen Fällen § 1606 Abs. 3 BGB analog an5. Das erscheint insbesondere im Hinblick darauf überzeugend, dass den Besonderheiten des Einzelfalls aufgrund der nur analogen Anwendung von § 1606 Abs. 3 BGB bei der Bestimmung der Haftungsquote jeweils flexibel Rechnung getragen werden kann.
1478
Haben die Eheleute wirksam auf nachehelichen Unterhalt verzichtet, soll nach Auffassung des OLG Koblenz der Vater allein für den Unterhalt der Mutter aufkommen müssen6. Das erscheint im Hinblick darauf, dass der Ehemann der Mutter rechtlich näher steht, unbillig, zumal ein Verzicht auf den Unterhalt nach § 1615l BGB nicht möglich ist7. Ist der Verzicht unwirksam, beispielsweise wegen entgegenstehender Interessen des zu
1 2 3 4
AG Hannover v. 15.6.2001 – 606 F 38/01, FamRZ 2002, 191. KG v. 8.6.2000 – 19 UF 6449/99, FamRZ 2001, 29. OLG Hamm v. 4.11.2004 – 3 UF 555/01, NJW 2005, 297. OLG Hamm v. 8.7.1999 – 2 UF 21/99, FamRZ 2000, 637; ähnlich OLG Bremen v. 19.2.2004 – 4 WF 10/04, FamRZ 2005, 213. 5 OLG Hamm v. 4.11.2004 – 3 UF 555/01, NJW 2005, 297; OLG Bremen v. 19.2.2004 – 4 WF 10/04, FamRZ 2005, 213; KG v. 8.6.2000 – 19 UF 6449/99, FamRZ 2001, 29; OLG Hamm v. 8.7.1999 – 2 UF 21/99, FamRZ 2000, 637; OLG Schleswig v. 4.10.1999 – 12 WF 145/99, FamRZ 2000, 637. 6 OLG Koblenz v. 20.3.2000 – 13 UF 540/99, FamRZ 2001, 227. 7 Schilling, FamRZ 2006, 1.
870
Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1481
Kap. 6 D
betreuenden ehelichen Kindes, wird erwogen, den Verzicht zumindest bei der Bestimmung der Haftungsquoten zu berücksichtigen1.
Û
Wichtig: Treffen Ansprüche nach § 1615l BGB mit Unterhaltsansprüchen gegen den Ehemann zusammen, sollte immer an den Einwand der Verwirkung nach §§ 1361 Abs. 3, 1579 Nr. 2 und Nr. 7 BGB wegen Ausbruchs aus einer intakten Ehe oder Bestehens einer verfestigten eheähnlichen Lebensgemeinschaft gedacht werden2. Allerdings muss auch bei Vorliegen eines Verwirkungstatbestandes erst die Haftungsquote ermittelt werden, bevor darüber entschieden wird, ob und inwieweit der Anspruch aus Billigkeitsgründen zu kürzen ist oder sogar ganz entfällt3.
Sind Ehemann oder Vater leistungsunfähig, muss jeweils der andere al- 1479 lein für den vollen Unterhalt der Mutter aufkommen. Ein Regressanspruch besteht mangels Unterhaltspflicht des leistungsunfähigen Schuldners nicht. Konnte dagegen von Ehemann oder Vater nur wegen der Zurechnung fiktiver Einkünfte kein Unterhalt erlangt werden, sind Ehemann oder Vater also nur leistungsunwillig, haftet der jeweils andere zwar ebenfalls für den vollen Unterhalt der Mutter. Ihm steht in diesem Fall aber immerhin in entsprechender Anwendung des § 1607 Abs. 2 BGB ein Regressanspruch gegen den leistungsunwilligen Schuldner zu4. bb) Mehrere Väter Entsprechend den vorgenannten Grundsätzen sind diejenigen Fälle zu lö- 1480 sen, in denen die Mutter mehrere nichteheliche Kinder verschiedener Väter betreut. Dies folgt schon aus der unmittelbaren Anwendung von §§ 1615l Abs. 3 S. 1, 1606 Abs. 3 S. 1 BGB5. Die Väter haften also ebenfalls entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit und unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles anteilig für den Unterhalt der Mutter. c) Ersatzhaftung Grundsätzlich haftet gem. § 1615l Abs. 3 S. 2 BGB der Vater vor den Verwandten der Mutter, also vor allem vor den Eltern der Mutter6. Das gilt 1 Wever, FamRZ 2002, 581; aA Vater haftet vorrangig, weil Ehemann nur aus Billigkeitsgründen zum Ehegattenunterhalt herangezogen werden kann. 2 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541; KG v. 8.6.2000 – 19 UF 6449/99, FamRZ 2001, 29; OLG Schleswig v. 7.11.2000 – 8 UF 220/99, OLGReport 2001, 25; OLG Zweibrücken v. 23.9.1999 – 6 UF 23/99, FuR 2000, 438. 3 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541. 4 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541; Wendl/Dose/Bömelburg, § 178, Rn. 35; Wever, FamRZ, 2002, 581. 5 BGH v. 15.12.2004 – XII ZR 26/03, FamRZ 2005, 357. 6 OLG Düsseldorf v. 27.2.1989 – 2 UF 123/88, FamRZ 1989, 1226.
Caspary
871
1481
Kap. 6 D Rn. 1482
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
auch dann, wenn die Mutter noch minderjährig ist. Ist der Vater jedoch leistungsunfähig oder leistungsunwillig, kommt eine Haftung der Eltern der Mutter nach §§ 1615l Abs. 3 S. 1, 1607 Abs. 1 und 2, 1601 BGB in Betracht1. Die Eltern des Vaters haften dagegen nie für den Unterhalt der Mutter2. 1482
Allerdings soll sich die Mutter eines nichtehelichen Kindes, jedenfalls wenn sie volljährig ist und ihre Ausbildung abgeschlossen hat, gegenüber ihren Eltern nicht ohne weiteres auf die Betreuungsbedürftigkeit des Kindes berufen können, sondern alle Erwerbsmöglichkeiten ausschöpfen müssen, sofern die Betreuung des Kindes gewährleistet ist3. Hierfür soll genügen, dass der Vater bereit ist, das Kind zu betreuen4. Für zumutbar wurde eine Erwerbstätigkeit gehalten, sobald das Kind eineinhalb bis zwei Jahre alt ist5. Allerdings beruft sich die vorgenannte Rechtsprechung auf eine Entscheidung des BGH, die noch vor der Ausweitung des Betreuungsunterhalts auf drei Jahre ergangen ist. Allemal nach Inkrafttreten der Unterhaltsrechtsreform, die den Anspruch der Mutter auf Betreuungsunterhalt erneut gestärkt hat, erscheint es daher zutreffender, der Mutter auch gegenüber ihren Eltern zuzubilligen, nicht vor Erreichen des dritten Lebensjahres arbeiten zu müssen6.
1483
Haben die Eltern Unterhalt geleistet, weil der Vater leistungsunwillig war, steht ihnen wohl zumindest in entsprechender Anwendung von § 1607 Abs. 2 BGB ein Regressanspruch gegen den Vater zu7. Wurden sie dagegen wegen Leistungsunfähigkeit des Vaters zu Unterhaltszahlungen herangezogen, können sie keinen Rückgriff nehmen, da der Vater nicht unterhaltspflichtig war. 6. Darlegungs- und Beweislast
1484
Entsprechend den allgemeinen Grundsätzen muss die Mutter zunächst darlegen und beweisen, dass einer der Unterhaltstatbestände des § 1615l BGB vorliegt. Außerdem trägt die Mutter die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass ein Fall der groben Unbilligkeit bzw. nunmehr einfachen Unbilligkeit vorliegt, der eine Verlängerung des Unterhaltsanspruchs über
1 OLG Frankfurt v. 4.6.2009 – 2 UF 328/08, NJW 2009, 3105; OLG Nürnberg v. 19.1.2001 – 7 WF 136/01, FamRZ 2001, 1322. 2 OLG Nürnberg v. 19.1.2001 – 7 WF 136/01, FamRZ 2001, 1322. 3 BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 14/84, FamRZ 1985, 1245; OLG Schleswig v. 22.2.2001 – 13 UF 180/00, OLGReport 2001, 323; OLG München v. 12.8.1998 – 12 WF 989/98, FamRZ 1999, 1166; OLG Hamm v. 7.3.1996 – 3 UF 334/95, FamRZ 1996, 1493; OLG Düsseldorf v. 27.2.1989 – 2 UF 123/88, FamRZ 1989, 1226. 4 OLG Hamm v. 8.1.1996 – 2 WF 469/95, FamRZ 1996, 1104. 5 OLG München v. 12.8.1998 – 12 WF 989/98, FamRZ 1999, 1166; OLG Hamm v. 7.3.1996 – 3 UF 334/95, FamRZ 1996, 1493. 6 So auch OLG Hamm v. 8.1.1996 – 2 WF 469/95, FamRZ 1996, 1104. 7 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541.
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Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1486
Kap. 6 D
drei Jahre hinaus rechtfertigt1. Unter Umständen sind ihr Erleichterungen bei der Darlegungs- und Beweislast zuzubilligen2. Verlangt die Mutter Unterhalt nach § 1615l Abs. 2 S. 1 BGB, muss sie 1485 auch darlegen und beweisen, dass die Schwangerschaft oder eine durch die Schwangerschaft oder Entbindung verursachte Krankheit für die Nichtaufnahme der Erwerbstätigkeit zumindest mitursächlich war. Sofern die Mutter vor der Geburt erwerbstätig war, kann allerdings idR davon ausgegangen werden, dass sie ohne die Schwangerschaft bzw. Geburt weiterhin erwerbstätig geblieben wäre3. War die Mutter dagegen vor der Geburt erwerbslos, muss sie beweisen, dass es gerade die Schwangerschaft war, die der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Wege gestanden hat4.
Û
Wichtig: Verlangt die Mutter Betreuungsunterhalt nach § 1615l Abs. 2 S. 2 BGB, muss sie im Unterschied zu dem Anspruch auf Krankheitsunterhalt nicht darlegen und beweisen, dass sie mangels anderweitiger Versorgungsmöglichkeiten nicht erwerbstätig sein kann5. Vielmehr muss ggf. der Vater darlegen und beweisen, dass der Mutter trotz der Betreuung des Kindes eine Erwerbstätigkeit zumutbar ist6.
Dagegen trägt wiederum die Mutter die Darlegungs- und Beweislast für 1486 ihren Unterhaltsbedarf und ihre Bedürftigkeit. Der Vater trägt grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast für seine Leistungsfähigkeit7. Ausnahme: Gibt es mehrere Unterhaltsschuldner, muss die Mutter, unabhängig davon, wen sie in Anspruch nimmt, die Leistungs(un)fähigkeit aller Unterhaltsschuldner sowie die Höhe der sich daraus ergebenden verschiedenen Haftungsanteile darlegen und beweisen8. Nimmt die Mutter 1 BGH v. 13.1.2010 – XII ZR 123/08, FamRZ 2010, 444; BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357; BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541; OLG Celle v. 23.6.2010 – 14 U 23/10, juris; Büttner, FamRZ 2000, 781; Wever, FamRZ 2002, 581. 2 OLG Bremen v. 20.2.2008 – 4 WF 175/07, FamRZ 2008, 1281. 3 LG Verden v. 10.10.1990 – 2 S 227/90, FamRZ 1991, 481. 4 OLG Koblenz v. 10.7.2000 – 13 WF 377/00, DAVorm 2001, 137. 5 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85, 96, FamRZ 1998, 541; OLG Hamm v. 11.2.2000 – 11 UF 85/99, FF 2000, 137. 6 OLG Naumburg v. 17.7.2000 – 3 WF 80/00, FamRZ 2001, 1321; KG v. 25.2.1999 – 19 UF 7470/98, NJW-RR 2000, 809; OLG Hamm v. 29.8.1996 – 2 WF 288/96, FamRZ 1997, 632. 7 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541. 8 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541: Nach Auffassung des BGH obliegt die Darlegungs- und Beweislast insoweit entgegen den allgemeinen Grundsätzen der Mutter, da es dem Vater bzw. Ehemann im Unterschied zur Mutter mangels entsprechender Auskunftsansprüche nicht möglich sei, die erforderlichen Informationen zur Berechnung des eigenen Haftungsanteils zu erhalten; vgl. auch KG v. 8.6.2000 – 19 UF 6449/99, FamRZ 2001, 29; OLG Zweibrücken v. 23.9.1999 – 6 UF 23/99, FuR 2000, 438; OLG Zweibrücken v. 21.9.1999 – 5 UF 16/99, FuR 2000, 286.
Caspary
873
Kap. 6 D Rn. 1487
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
ihre Eltern in Anspruch, muss sie darlegen und beweisen, dass der Kindesvater leistungsunfähig oder leistungsunwillig ist.
IV. Ansprüche bei Totgeburt oder Fehlgeburt: § 1615n BGB 1487
Wird das Kind tot geboren oder erleidet die Mutter eine Fehlgeburt, kann die Mutter gem. § 1615n BGB gleichwohl Unterhalt nach § 1615l BGB verlangen. Ausgenommen hiervon ist naturgemäß der Anspruch auf Betreuungsunterhalt. Nach allgemeiner Meinung sind im Falle der Totgeburt auch die Kosten für die Beerdigung des Kindes zu erstatten.
1488
Bestreitet der Vater die Vaterschaft, sind die Vermutungen der §§ 1600c Abs. 1, 1600d Abs. 2 BGB analog anzuwenden1. Hat der Vater mit Zustimmung der Mutter die Vaterschaft bereits vor der Geburt anerkannt, soll die Anerkennung im Hinblick auf § 1615n BGB gleichwohl als wirksam angesehen werden können2.
1489
Fraglich ist, ob und inwieweit der Vater auch für die Kosten eines Schwangerschaftsabbruchs bzw. einer dadurch bewirkten Fehlgeburt aufkommen und auch in diesen Fällen Unterhalt an die Mutter nach § 1615l BGB zahlen muss. Nach zutreffender Ansicht muss der Vater in derartigen Fällen die Abbruchkosten bzw. die Kosten einer Fehlgeburt nur dann übernehmen, wenn es sich entweder um einen nach § 218a Abs. 2 oder 3 StGB gerechtfertigen Schwangerschaftsabbruch gehandelt hat oder wenn er mit dem Abbruch zumindest einverstanden war oder die Mutter sogar zum Abbruch bestimmt hat3.
1490
Auf jeden Fall muss der Vater allerdings auch bei dieser Konstellation Unterhalt nach § 1615l Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 BGB zahlen, weil diese Ansprüche auf der Schwängerung der Mutter beruhen und kein Grund besteht, den Erzeuger im Falle eines Abbruchs besserzustellen, als wenn das Kind ausgetragen worden wäre. Lediglich wenn die in § 1615l Abs. 2 S. 1 BGB vorausgesetzte Krankheit Folge eines vom Erzeuger nicht gebilligten Abbruchs ist, soll ein Unterhaltsanspruch nach dieser Vorschrift ausgeschlossen sein4.
V. Erstattung der Beerdigungskosten: § 1615m BGB 1491
Stirbt die Mutter infolge der Schwangerschaft oder Entbindung, kann der Vater gem. § 1615m BGB verpflichtet sein, die Beerdigungskosten zu übernehmen. Gem. §§ 1615m, 1968 BGB haften allerdings die Erben der 1 2 3 4
Palandt/Brudermüller, § 1615n BGB Rn. 2. Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 195. Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 223 f. Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 221 ff.; vgl. auch AG Bühl v. 6.9.1984 – C 361/84, FamRZ 1985, 107.
874
Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1494
Kap. 6 D
Mutter vorrangig für die Beerdigungskosten. Vom Sozialhilfeträger gewährte Leistungen sind dagegen, wie immer, subsidiär (§ 2 SGB XII). Zu erstatten sind Beerdigungskosten in angemessener Höhe. Maßgeblich ist insoweit die Lebensstellung der Mutter. Da § 1615m BGB nicht als Unterhaltsanspruch zu qualifizieren ist, kommt es auf die Leistungsfähigkeit des Vaters nicht an.
VI. Tod des Pflichtigen: §§ 1615l Abs. 3 S. 4, 1615n BGB Verstirbt der Unterhaltspflichtige, gehen sowohl der Anspruch auf Ersatz 1492 der Beerdigungskosten gem. § 1615m BGB als auch die Unterhaltsansprüche nach § 1615l BGB nicht unter, sondern sind gem. §§ 1615l Abs. 3 S. 4, 1615n, 1967 BGB von den Erben des Vaters zu erfüllen1. Nach § 1615l Abs. 4 S. 2 BGB gilt dies auch, wenn der Vater das Kind betreut und die Mutter anlässlich der Geburt verstirbt. Zwar erwähnt § 1615n BGB ausdrücklich nur den Vater. Hierbei soll es sich aber um ein unbeachtliches Versehen des Gesetzgebers handeln2.
Û
Wichtig: Anders als beim nachehelichen Unterhalt, bei dem die Haftung der Erben durch den Wert ihres fiktiv zu ermittelnden Pflichtteils beschränkt ist (§ 1586b BGB), haften die Erben für die Ansprüche nach § 1615l BGB grundsätzlich in voller Höhe und uU auch über drei Jahre hinaus. In letzterem Fall soll allerdings die fehlende Haftungsbegrenzung bei der Billigkeitsprüfung zu berücksichtigen sein, um unangemessene Ergebnisse zu vermeiden3.
VII. Zusatzfragen 1. Auskunft Gem. §§ 1615l Abs. 3 S. 1, 1605 BGB sind Vater und Mutter verpflichtet, einander Auskunft über ihre Einkünfte und ihr Vermögen zu erteilen4.
1493
Da sich die Höhe des Unterhalts allein nach der Lebensstellung der Mutter bemisst, wird die Auffassung vertreten, der Vater sei erst dann verpflichtet, Auskunft über sein Einkommen zu erteilen, wenn er behauptet, leistungsunfähig zu sein. Soweit er sich nicht für leistungsfähig erklärt, besteht aber der Auskunftsanspruch, da die Mutter die Leistungsfähigkeit des Vaters prüfen können muss, um beurteilen zu können, in welcher
1494
1 OLG Hamm v. 11.2.2000 – 11 UF 85/99, FF 2000, 137. 2 Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 217; Büdenbender, FamRZ 1998, 192. 3 Wendl/Dose/Bömelburg, § 7, Rn. 216; Dieckmann, FamRZ 1999, 1029; Puls, FamRZ 1998, 865. 4 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541; OLG Nürnberg v. 10.4.2003 – 9 UF 225/03, MDR 2003, 1055 = FamRB 2003, 313.
Caspary
875
Kap. 6 D Rn. 1495
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Höhe ihr Unterhalt zusteht1. Allerdings soll Voraussetzung für den Auskunftsanspruch sein, dass die Mutter ihren Unterhaltsbedarf konkret darlegt2. In der Praxis wird es auf diese Frage eher selten ankommen, da der Vater auf jeden Fall wegen des Anspruchs auf Kindesunterhalt Auskunft erteilen muss. 1495
Über das Einkommen des Ehemannes oder eines weiteren Vaters muss die Mutter keine Auskunft erteilen. Es besteht zwischen den Unterhaltspflichtigen auch kein direkter Auskunftsanspruch. Die Mutter ist aber für die Leistungsfähigkeit aller Unterhaltschuldner sowie ihrer Haftungsanteile darlegungs- und beweispflichtig ist3. 2. Unterhalt für die Vergangenheit und Sonderbedarf
1496
Grundsätzlich kann Unterhalt für die Vergangenheit nach §§ 1615l Abs. 3 S. 1, 1613 Abs. 1 BGB nur alternativ unter folgenden Voraussetzungen gefordert werden: – Verpflichteter wurde in Verzug gesetzt – Verpflichteter wurde zur Auskunft aufgefordert – Unterhaltsanspruch wurde rechtshängig gemacht.
1497
Ist das Jugendamt als Beistand des Kindes tätig und weist es lediglich am Ende eines Aufforderungsschreibens, mit dem der Vater auf Auskunft und Zahlung von Kindesunterhalt in Anspruch genommen wird, darauf hin, dass es auch die Ansprüche der Mutter nach § 1615l BGB mit berechnen wird, reicht das für eine wirksame Inverzugsetzung nicht aus4.
1498
Umstritten ist, wie die Verweisung in § 1615l Abs. 3 S. 3 BGB auf § 1613 Abs. 2 BGB zu verstehen ist: nach einer Meinung folgt aus der nochmaligen Verweisung auf Abs. 2 des § 1613 BGB, dass die Mutter nach § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht nur Sonderbedarf, sondern auch ihren regelmäßigen Unterhalt für die Vergangenheit unabhängig von den Voraussetzungen des § 1613 Abs. 1 BGB geltend machen kann, sofern die Geltendmachung innerhalb eines Jahres seit rechtskräftiger Feststellung oder Anerkennung der Vaterschaft5 bzw. seit Entstehung des Anspruchs6 erfolgt. Nach anderer und zutreffender Auffassung ist der gesonderten Verweisung keine besondere Bedeutung mehr zuzumessen, nachdem die ursprünglich gemeinten Fälle – Unmöglichkeit, den Verpflichteten zu
1 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541; OLG Nürnberg v. 10.4.2003 – 9 UF 225/03, FF 2005, 69. 2 OLG Frankfurt v. 23.9.2004 – 6 UF 152/04, FamRB 2005, 193. 3 BGH v. 21.1.1998 – XII ZR 85/96, FamRZ 1998, 541. 4 OLG Celle v. 12.5.2011 – 10 WF 135/11, FamFR 2011, 294. 5 AG Krefeld v. 24.7.1985 – 8c 842/84, FamRZ 1985, 1181; Brüggemann, FamRZ 1971, 140. 6 OLG Schleswig v. 3.9.2003 – 12 UF 11/03, FamRZ 2004, 563.
876
Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1503
Kap. 6 D
verklagen oder in Verzug zu setzen – nunmehr in § 1613 Abs. 2 Nr. 2 BGB geregelt sind1. Unabhängig von dieser Verweisungsproblematik kann jedenfalls nach 1499 § 1613 Abs. 2 Nr. 2 BGB rückständiger Unterhalt auch dann gefordert werden, ohne dass die Voraussetzungen des § 1613 Abs. 1 BGB vorliegen müssen, wenn der Unterhaltsberechtigte aus rechtlichen oder tatsächlichen, in den Verantwortungsbereich des Pflichtigen fallenden Gründen an der Geltendmachung gehindert war. Rechtliche Gründe sind insbesondere die noch ausstehende Vaterschaftsfeststellung oder Vaterschaftsanerkennung. Tatsächliche Gründe liegen bspw. vor, wenn der Aufenthalt des Unterhaltspflichtigen nicht bekannt ist. Unbillige Härten bei der Geltendmachung rückständigen Unterhalts nach § 1613 Abs. 2 Nr. 2 können nach § 1613 Abs. 3 BGB durch Stundung, Ratenzahlung oder Erlass vermieden werden. Dies gilt auch dann, wenn ein Dritter Ersatz verlangt, weil er statt des Vaters Unterhalt geleistet hat (§ 1613 Abs. 3 S. 2 BGB)2.
1500
3. Verwirkung Auch die unverheiratete Mutter kann ihren Anspruch auf Unterhalt verwirken. Allerdings sind die Voraussetzungen hier wesentlich enger als beim Ehegattenunterhalt, da der Einwand der Verwirkung nur auf § 1611 BGB3, nicht aber auf § 1579 BGB gestützt werden kann. Insbesondere ist § 1579 Nr. 2 BGB nicht entsprechend anwendbar, da Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sich nicht zur wechselseitigen Treue verpflichtet sind4. Wie auch sonst, ist der Unterhalt nach Billigkeit zu bemessen, wenn ein Verwirkungstatbestand vorliegt. In Fällen grober Unbilligkeit kann der Unterhaltsanspruch ausnahmsweise auch gänzlich versagt werden.
1501
§ 1611 BGB sieht drei Verwirkungstatbestände vor:
1502
– Bedürftigkeit aufgrund sittlichen Verschuldens – Vernachlässigung der Unterhaltspflicht gegenüber Unterhaltspflichtigen – vorsätzliche schwere Verfehlung gegenüber Unterhaltspflichtigem oder nahem Angehörigen Da die Mutter eines nichtehelichen Kindes selten gegenüber dem Vater unterhaltspflichtig sein wird, kommt eine Verwirkung des Anspruchs 1 OLG Brandenburg v. 5.12.2005 – 10 WF 277/05, FamRZ 2006, 1784; Wendl/Dose/ Bömelburg, § 7, Rn. 199; Schilling, FamRZ 2006, 1 mwN. 2 OLG Schleswig v. 19.3.2007 – 13 UF 157/05, FamRZ 2007, 2102. 3 OLG Karlsruhe v. 24.5.2011 – 18 UF 165/09, FamRZ 2011, 1800. 4 OLG Nürnberg v. 26.8.2010 – 10 UF 702/10, FamRZ 2011, 735; OLG Hamm v. 3.11.2010 – 8 UF 138/10, FamRZ 2011, 1600; aA Griesche, FamFR 2011, 51.
Caspary
877
1503
Kap. 6 D Rn. 1504
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
idR nur in Betracht, wenn die Mutter aufgrund eines sittlichen Verschuldens bedürftig ist (bspw. Trunk, Drogen, Spielsucht) oder sie sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegenüber dem unterhaltsverpflichteten Vater oder einem nahen Angehörigen schuldig gemacht hat (bspw. Gefährdung des Arbeitsplatzes durch Anschwärzen beim Arbeitgeber, Bezichtigen einer Straftat usw.). Keine schwere Verfehlung stellt es dar, wenn die Mutter abredewidrig die Pille abgesetzt hat, dh. gegen den Willen des Vaters schwanger geworden ist, da es zur personalen Würde und zum Persönlichkeitsrecht von Geschlechtspartnern gehört, sich immer wieder neu und frei für ein Kind entscheiden zu können1. 1504
Wie auch sonst kann auch der Unterhalt nach § 1615l BGB nach § 242 BGB verwirkt werden, wenn er über einen längeren Zeitraum hinweg, mindestens aber ein Jahr, nicht (ernsthaft) geltend gemacht wird2. 4. Verzicht
1505
Für die Zukunft kann die Mutter gem. §§ 1615l Abs. 3 S. 1, 1614 Abs. 1 BGB auf die ihr nach § 1615l BGB zustehenden Unterhaltsansprüche nicht wirksam verzichten. In der Praxis kommt es allerdings immer wieder vor, dass unverheiratete Mütter zur Vermeidung eines streitigen Verfahrens bereit sind, zumindest auf einen Teil ihrer Ansprüche zu verzichten. Es bleibt abzuwarten, ob die Rechtsprechung in Anlehnung an die einschlägige Rechtsprechung zum Verzicht auf Kindesunterhalt zumindest einen Verzicht, der 20 % bis 30 % des Unterhaltsbedarfs nicht überschreitet, als noch wirksam ansehen wird, sofern dadurch der Mindestbedarf nicht unterschritten wird. 5. Verjährung
1506
Durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts (v. 26.11.2001, BGBl. I, S. 3138) wurde auch die verjährungsrechtliche Sonderregelung des § 1615l Abs. 4 BGB den allgemeinen Verjährungsvorschriften angepasst. Für die Ansprüche nach § 1615l BGB gilt nunmehr einheitlich die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren (§§ 195, 197 Abs. 2 BGB). Ungeachtet § 199 Abs. 1 BGB soll die Verjährung nicht vor Anerkennung oder Feststellung der Vaterschaft (§§ 1594 Abs. 1, 1600d Abs. 4 BGB) beginnen3.
Û
Praxistipp: Man sollte allerdings auf jeden Fall versuchen, etwaige Ansprüche bereits vor Ablauf der Verjährungsfrist durchzusetzen, da nach der
1 BGH v. 17.4.1986 – IX ZR 200/85, FamRZ 1986, 773; vgl. auch zur In-Vitro-Fertilisation: BGH v. 21.2.2001 – XII 34/99, FamRZ 2001, 541 und OLG Stuttgart v. 13.5.1986 – 17 UF 344/85, FamRZ 1987, 700 (Ehegatten). 2 OLG Schleswig v. 19.12.2007 – 15 UF 142/07, FamRZ 2008, 2057. 3 Palandt/Brudermüller, § 1615l BGB, Rn. 25.
878
Caspary
Unterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes
Rn. 1508
Kap. 6 D
teilweise sehr strengen Rechtsprechung Unterhaltsansprüche trotz Verzugs oder einer Titulierung schon deutlich vor Eintritt der Verjährung verwirkt sein können1. 6. Zeitliche Befristung Auch nach der Neufassung des § 1615l BGB ist streitig, ob Betreuungs- 1507 unterhalt nur befristet auf drei Jahre oder unbefristet verlangt werden kann. Nach Meinung des OLG Bremen ist nur ein befristeter Unterhalt zuzusprechen, wenn nicht schon zum Zeitpunkt der Entscheidung festgestellt werden kann, dass nach Ablauf der Dreijahresfrist die Voraussetzungen für einen Billigkeitsunterhalt gegeben sein werden2. Umgekehrt hat der BGH für den Anspruch nach § 1570 BGB entschieden, dass der Anspruch auf Betreuungsunterhalt nur dann auf drei Jahre zu befristen ist, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung absehbar ist, dass für die Zeit nach dem dritten Lebensjahr keine kind- oder elternbezogenen Verlängerungsgründe mehr vorliegen3. Das Gleiche muss dann für den Anspruch nach § 1615l BGB gelten4. 7. Steuerliche Abzugsfähigkeit Unterhaltsleistungen an die Mutter eines nichtehelichen Kindes können 1508 steuerlich nicht im Wege des begrenzten Realsplittings nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG, sondern allenfalls als außergewöhnliche Belastung gem. §§ 33, 33a EStG bis zu einem Höchstbetrag von 8004 Euro jährlich geltend gemacht werden5. Elterngeld wird nach § 33a Abs. 1 Satz 5 EStG, soweit es 624 Euro jährlich übersteigt, als Einkommen angesehen und auf den Höchstbetrag von derzeit 8004 Euro angerechnet. Ob diese Regelung verfassungsgemäß ist, muss bezweifelt werden6.
1 BGH v. 16.6.1999 – XII ZA 3/99, FamRZ 1999, 1422. 2 OLG Bremen v. 20.2.2008 – 4 WF 175/07, FamRZ 2008, 1281; OLG Koblenz v. 18.3.2009 – 9 UF 596/08, FamRB 2009, 272; ebenso Wever, FamRZ 2008, 553; Hauß, FamRB 2007, 367. AA Menne, FamRB 2008, 110; Borth, UÄndG 2007, Rn. 82. Ebenso zum alten Recht: OLG Oldenburg v. 1.2.2000 – 12 UF 189/99, NJW-RR 2000, 1249; vgl. auch die Empfehlungen des 13. Deutschen Familiengerichtstages, FamRZ 2000, 273, wonach auch im Tenor des Urt. der Anspruch auf Betreuungsunterhalt zeitlich befristet werden soll; Wever, FF 2000, 20. 3 BGH v. 18.3.2009 – XII ZR 74/08, FamRZ 2009, 770; vgl. auch OLG Koblenz v. 18.3.2009 – 9 UF 596/08, NJW 2009, 1974. 4 OLG Brandenburg v. 2.3.2010 – 10 UF 63/09, FamRZ 2010, 1915. 5 BFH v. 19.6.2008 – III R 57/05, FamRZ 2008, 2024; BFH v. 29.5.2008 – III R 23/07, FamRZ 2008, 2026; BFH v. 7.8.2009 – III B 69/08, BFH/NV 2009, 1813. 6 Benkelberg, FuR 1999, 301.
Caspary
879
Kap. 6 E Rn. 1509
Elternunterhalt
E. Elternunterhalt Literaturverzeichnis: Bergmann, Die zersplitterte Rechtsprechungspraxis beim Elternunterhalt als Indiz für rechtliche Reformbedürftigkeit, FPR 1999, 17 ff.; Boecken/Klattenhoff, Der Elternunterhalt bei Pflegebedürftigkeit zwischen sozialstaatlicher Verantwortung und individueller Einstandspflicht, JZ 2006, 285; Born, Aktuelle Entwicklungen beim Elternunterhalt, FamRB 2003, 337; Born, Neues vom Unterhaltsrecht, FamRB 2004, 192; Born, Neues vom Unterhaltsrecht (2. Teil), FamRB 2004, 226; Born, „Zeitbombe“ Schwiegermutter? – Die aktuelle Rechtsprechung zum Elternunterhalt, MDR 2005, 194; Brudermüller, Elternunterhalt – Neue Entwicklungen in der Rechtsprechung des BGH, NJW 2004, 633; Büttner, Alterssicherung und Unterhalt, FamRZ 2004, 1918; Diederichsen, FF Sonderheft zum 51. Deutschen Anwaltstag, 7 ff.; Duderstadt, Einsatz des Vermögensstamms des Pflichtigen beim Erwachsenenunterhalt, FamRZ 1998, 273 ff.; Ebel, Der Elternunterhalt in der jüngsten Rechtsprechung des BGH, FuR 2006, 104; Ehinger, Die Leistungsfähigkeit des unterhaltspflichtigen Kindes beim Elternunterhalt, FPR 2003, 623, 627; Günther, Unterhaltsansprüche der Eltern und ihre Berechnung, FF 1999, 172 ff.; Günther, Unterhaltsansprüche der Eltern und ihre Berechnung, FuR 1995, 1 ff.; Hauß, Elternunterhalt – Grundlagen und Strategien, 3. Aufl. 2010; Herr, Elternunterhalt, FamRZ 2005, 1021; Klinkhammer, Die bedarfsorientierte Grundsicherung nach dem GSiG und ihre Auswirkungen auf den Unterhalt, FamRZ 2002, 997 ff.; Klinkhammer, Grundsicherung und Unterhalt, FamRZ 2003, 1793 ff.; Menter, Der Elternunterhalt, FamRZ 1997, 919 ff.; Mleczko, Die mittelbare Haftung des Schwiegerkindes für den Elternunterhalt, ZFE 2006, 44; Reinecke, Rechtsprechungstendenzen zum Thema Elternunterhalt, FPR 1999, 3 ff.; Scholz, Zum Verhältnis von Eltern- und Familienunterhalt, FamRZ 2004, 1829; Ziegler, Forschungsbefunde zur richterlichen Regulation des Elternunterhalts, FPR 1999, 28 ff.
I. Arbeitshinweise 1509
1. Bedarf des unterhaltsbedürftigen Elternteils ermitteln 2. Einkommens- und Vermögensverhältnisse des unterhaltsbedürftigen Elternteils klären 3. Ggf: Rückforderbarkeit von Schenkungen prüfen 4. Einkommens- und Vermögenssituation des unterhaltspflichtigen Kindes klären 5. Ggf: Bedarf vorrangiger Unterhaltsberechtigter ermitteln und Einkommen des unterhaltspflichtigen Kindes um den geschuldeten Unterhalt bereinigen 6. Ggf: Einkommens- und Vermögensverhältnisse weiterer Unterhaltsschuldner klären, Rangfolge prüfen und Haftungsanteile ermitteln 7. Ggf: Regressansprüche prüfen 8. Verzug, Verwirkung und Verjährung prüfen
880
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1512
Kap. 6 E
II. Problemfelder 1. Einsatz von Vermögen des Unterhaltsberechtigten (Rn. 1554 ff.)
1510
2. Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners, insbesondere Höhe des Selbstbehalts, Umfang anzuerkennender Abzugspositionen, Einsatz von Vermögen, Bezifferung vorrangiger Unterhaltsverpflichtungen bzw. des geschuldeten Familienunterhalts (Rn. 1528 ff.) 3. Latente Unterhaltslast (Rn. 1574 ff.) 4. Ermittlung der Haftungsanteile bei mehreren Unterhaltsschuldnern (Rn. 1589 ff.)
III. Die Unterhaltspflicht gegenüber Eltern Die Unterhaltspflicht von Kindern gegenüber ihren Eltern beruht ebenso wie die Unterhaltspflicht von Eltern gegenüber ihren Kindern auf § 1601 BGB, wonach Verwandte in gerader Linie verpflichtet sind, einander Unterhalt zu gewähren. Die Rechtsprechung zum Elternunterhalt hat sich durch den Zuständigkeitswechsel in die Familiengerichtsbarkeit relativ schnell konsolidiert.
1511
Zudem haben der BGH1 und das BVerfG2 hinsichtlich einiger stark umstrittener Fragen Klarheit geschaffen3.
1512
1 BGH v. 26.2.1992 – XII ZR 93/91, FamRZ 1992, 795; BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239; BGH v. 19.3.2003 – XII ZR 123/00, FamRZ 2003, 1179, FamRB 2003, 280 und FamRB 2003, 282; BGH v. 7.5.2003 – XII ZR 229/00, FamRZ 2003, 1836 = FamRB 2004, 39; BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144; BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ 2004, 366 = FamRB 2004, 73; BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107; BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142; BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 149/01, FamRZ 2004, 792 = FamRB 2004, 213; BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 218/01, FamRZ 2004, 795 = FamRB 2004, 212; BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 326/01, FamRZ 2004, 1184 = FamRB 2004, 317; BGH v. 21.4.2006 – XII ZR 251/01, FamRZ 2004, 1097; BGH v. 19.5.2004 – XII ZR 304/02, FamRZ 2004, 1559 = FamRB 2004, 385; BGH v. 7.7.2004 – XII ZR 272/02, FamRZ 2004, 1370 = FamRB 2004, 347; BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 155/03, FamRZ 2006, 935 = FamRB 2006, 200; BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327; BGH v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, FamRZ 2010, 1535 = FamRB 2010, 295; BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 1438/09 – BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 148/09, FamRZ 2010, 1888 = FamRB 2010, 360. 2 BVerfG v. 7.6.2005 – 1 BvR 1508/96, FamRZ 2005, 1051. 3 Übersichten über die neuere Rspr. des BGH zum Elternunterhalt: Ebel, FuR 2006, 104; Boecken/Klattenhoff, JZ 2006, 285; Herr, FamRZ 2005, 1021; Mleczko, ZFE 2006, 44; ZFE 2005, 260; Born, MDR 2005, 194; Brudermüller, NJW 2004, 633; Scholz, FamRZ 2004, 1829; Born, FamRB 2004, 192; 226; Büttner, FamRZ 2004, 1918; übersichtlich: Eschenbruch/Klinkhammer, 6.A. 2.1 ff.; Hauß, FamRB 2003, 337.
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Kap. 6 E Rn. 1513
Elternunterhalt
1. Bedarf 1513
Der Unterhaltsbedarf von Eltern richtet sich gem. § 1610 BGB nach ihrer Lebensstellung. Maßgeblich sind also nicht wie beim Kindesunterhalt die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Unterhaltsverpflichteten, sondern die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Unterhaltsberechtigten, dh. der Eltern1. Mindestens ist aber für Eltern der Betrag anzusetzen, der dem notwendigen Eigenbedarf (Existenzminimum) eines unterhaltsberechtigten Ehegatten entspricht, wobei die Kosten für Kranken- und Pflegeversicherung zusätzlich zu berücksichtigen sind2.
1514
Krankheitsbedingter Mehrbedarf erhöht den Bedarf des Elternteils. Dies spielt insbesondere bei der Heimunterbringung eine Rolle. Die Notwendigkeit der Heimunterbringung hat der Unterhaltsberechtigte darzulegen3, der zudem verpflichtet ist, die Kosten der Unterbringung möglichst gering zu halten. Dem Berechtigten obliegt es, die Belastung des Verpflichteten so gering wie möglich zu halten4. Wie bei jeder Obliegenheit ist eine Zumutbarkeitsabwägung zu treffen. Eine regionale Verbundenheit des Berechtigten, die Aufrechterhaltung räumlicher Nähe zu Verwandten, Freunden und Bekannten können dazu führen, nicht stets das kostengünstigste Heim wählen zu müssen, wenn dadurch die soziale Kontaktpflege erschwert oder gar verhindert wird. Dies kann bei totaler Demenz, die keine Interaktionsfähigkeit mehr zulässt, oder einem komatösen Zustand anders zu beurteilen sein5.
1515
In der Praxis machen fast ausnahmslos die Sozialhilfeträger und nicht die Eltern Unterhaltsansprüche gegen Kinder geltend, und zwar aus übergegangenem Recht (vgl. § 94 SGB XII, früher § 91 BSHG). Der Unterhaltsbedarf beschränkt sich in diesen Fällen auf den Umfang der gewährten Sozialhilfe, dh. idR auf die ungedeckten Heimkosten einschließlich eines Taschengeldes sowie etwaiger Zusatzkosten, beispielsweise für Medikamente6. Ein sozialrechtlich gewährter Barbetrag nach § 35 Abs. 2 S. 1 SGB XII oder Zusatzbarbetrag nach § 133a SGB XII ist unterhaltsrechtlich
1 BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 155/03, FamRZ 2006, 935 = FamRB 2006, 200; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239; Günther, FF 1999, 172 ff. 2 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239; OLG Koblenz v. 2.10.2001 – 11 UF 748/00, FamRZ 2002, 1212. 3 OLG Brandenburg v. 9.12.2008 – 9 UF 116/08, FamRZ 2010, 991. 4 OLG Düsseldorf v. 27.10.2010 – II-8 UF 38/10, FamRZ 2011, 982 = FamRB 2011, 103. 5 Vgl. OLG Karlsruhe v. 28.7.2010 – 16 UF 65/10, FamRZ 2010, 2082; OLG Schleswig v. 19.1.2009 – 15 UF 187/07, FamRZ 2009, 1751. 6 AG Hamburg v. 19.9.1990 – 17 C 1947/89, FamRZ 1991, 1086; LG Hagen v. 16.5.1989 – 11 S 21/89, FamRZ 1989, 1330; aA AG Hagen v. 14.12.1987 – 13 C 547/87, FamRZ 1988, 755 f. (Sonderbedarf).
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Elternunterhalt
Rn. 1521
Kap. 6 E
ebenfalls als Bedarf anzuerkennen1. Verfügt allerdings der unterhaltsberechtigte Elternteil über anrechnungsfreie Mittel, die den Barbetrag übersteigen, kann dieser nicht vom pflichtigen Kind verlangt werden2. Ein Anspruch der Eltern gegen ihre Kinder auf Verfahrenskostenvorschuss besteht nicht3.
1516
2. Bedürftigkeit Auch Eltern können nur dann Unterhalt von ihren Kindern verlangen, wenn sie bedürftig, dh. nicht in der Lage sind, ihren Unterhaltsbedarf durch eigene Einkünfte oder den Einsatz eigenen Vermögens zu decken.
1517
Solange die Eltern das Rentenalter noch nicht erreicht haben, sind sie 1518 grundsätzlich verpflichtet, erwerbstätig zu sein. Es besteht eine verschärfte Erwerbsobliegenheit mit einem ähnlichen Maßstab wie bei der Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern, dh. es müssen auch berufsfremde und unterhalb der eigentlichen Qualifikation liegende Tätigkeiten angenommen werden4. Berufsbedingte Aufwendungen sind nur dann in Abzug zu bringen, wenn sie tatsächlich entstanden sind5. Rentenleistungen, Pensionen, Versorgungsbezüge und Leistungen aus der 1519 Pflegeversicherung sind in vollem Umfang auf den Bedarf anzurechnen. Weiter mindern die Bedürftigkeit der Eltern: Pflegewohngeld, Schmerzensgeldrente, Altersruhegeld6 und Blindengeld. Wohngeld ist insoweit anzurechnen, als es keine erhöhten Wohnkosten 1520 ausgleicht7. Erhöht sind Wohnkosten, wenn die Miete über den in den Leitlinien der Oberlandesgerichte für Wohnkosten vorgesehenen Beträgen liegt8. Gewährt das unterhaltspflichtige Kind seinen Eltern Naturalunterhalt, beispielsweise in Form mietfreier Wohnraumgewährung, mindert dies den Bedarf9. Leben die Eltern mietfrei in einer ihnen gehörenden Eigentumswohnung, ist ihnen ein Wohnvorteil zuzurechnen, der sich nach der objektiv erzielbaren Marktmiete bestimmt. Kein anrechenbares Einkommen stellt Sozialhilfe dar. Daraus folgt aber 1521 nicht zwangsläufig, dass Eltern bedürftig sind, wenn sie Sozialhilfe erhalten. So ist beispielsweise die Bedürftigkeit trotz Sozialhilfebezugs zu ver-
1 BGH v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, FamRZ 2010, 1535 = FamRB 2010, 295. 2 OLG Düsseldorf v. 27.10.2010 – II-8 UF 38/10, FamRZ 2011, 982 = FamRB 2011, 103. 3 OLG München v. 23.10.1992 – 26 WF 605/91, FamRZ 1993, 821. 4 OLG Oldenburg v. 21.2.2006 – 12 UF 130/05, FamRZ 2006, 1292. 5 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 6 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 7 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 8 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 9 VG Frankfurt a.M. v. 8.3.2002 – 7 G 413/02 (3), FamRZ 2002, 1750.
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Kap. 6 E Rn. 1522
Elternunterhalt
neinen, wenn Eltern ihrer Erwerbsobliegenheit nicht nachkommen1 oder die Verpflichtung, vorrangige Sozialleistungen zu beantragen, verletzen2.
Û
Praxistipp: Wird einem Elternteil nur deswegen Sozialhilfe gewährt, weil der Sozialhilfeträger das Einkommen des Elternteils wegen der mit seinem Ehegatten bestehenden Bedarfsgemeinschaft nur teilweise anrechnen kann, ist immer zu prüfen, ob das Einkommen des Elternteils ohne Abzug für den Ehegatten ausreicht, um den eigenen Unterhaltsbedarf des Elternteils zu decken. Ist dies der Fall ist, besteht kein Anspruch auf Elternunterhalt3.
1522
Im Unterschied zur Sozialhilfe sind Leistungen der Grundsicherung (§§ 41 bis 46 SGB XII) einschließlich der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge auf den Bedarf anzurechnen. Sind Eltern bezugsberechtigt, sind sie verpflichtet, Leistungen der Grundsicherung anstelle von Sozialhilfe zu beantragen. Entscheiden sie sich dennoch für Sozialhilfe, sind ihnen die Grundsicherungsbeträge fiktiv zuzurechnen4.
1523
Vermögenserträge sind – ggf. vermindert um darauf zu entrichtende Steuern – voll anzurechnen.
1524
Der Vermögensstamm ist grundsätzlich zu verwerten5, es sei denn, die Verwertung wäre ausnahmsweise unzumutbar6, beispielsweise wegen Unmöglichkeit oder Unwirtschaftlichkeit7. Wird in Kenntnis der zukünftigen Unterhaltsbedürftigkeit Vermögen verschleudert, kommt auch eine fiktive Anrechnung von Vermögenswerten in Betracht8. Ein Elternteil ist ferner nicht bedürftig, wenn er Teilhaber einer ungeteilten Erbengemeinschaft ist. Zumindest muss der Anspruch auf Auseinandersetzung als Kreditunterlage genutzt werden9. Ebenso ist Immobilieneigentum grundsätzlich zu verwerten, es sei denn, es wird von den Eltern, einem Elternteil
1 OLG Oldenburg v. 21.2.2006 – 12 UF 130/05, FamRZ 2006, 1292. 2 OLG Oldenburg v. 21.2.2006 – 12 UF 130/05, FamRZ 2006, 1292. 3 BGH v. 7.7.2004 – XII ZR 272/02, FamRZ 2004, 1370 = FamRB 2004, 347: Eventuelle eigene Unterhaltspflichten des Berechtigten können seinen Unterhaltsbedarf nicht erhöhen, weil der Anspruch auf Elternunterhalt nicht den Zweck hat, dem berechtigten Elternteil die Möglichkeit zu bieten, seinerseits aus den Unterhaltsleistungen Verbindlichkeiten zu erfüllen. Soweit dem sozialhilferechtliche Vorschriften entgegenstehen, ist dies wegen der völlig anderen Zwecksetzung dieser Vorschriften ohne Belang. 4 OLG Hamm v. 30.1.2004 – 11 WF 207/03, FamRZ 2004, 1807 = FamRB 2004, 178. 5 BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 155/03, FamRZ 2006, 935 = FamRB 2006, 200; BGH v. 5.11.1997 – XII ZR 20/96, FamRZ 1998, 367. 6 BGH v. 5.11.1997 – XII ZR 20/96, FamRZ 1998, 367 (für vollj. Kind). 7 BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 155/03, FamRZ 2006, 935 = FamRB 2006, 200. 8 OLG Frankfurt v. 7.4.1987 – 3 UF 291/85, FamRZ 1987, 1179 (für vollj. Kind). 9 BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 155/03, FamRZ 2006, 935 = FamRB 2006, 200.
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Elternunterhalt
Rn. 1526
Kap. 6 E
oder dessen Ehegatten bewohnt1. Dies kann jedoch nicht unbeschränkt gelten. Der Ehegatte eines pflege- und daher sozialhilfebedürftigen Elternteils ist vorrangig vor den Kindern unterhaltspflichtig. Ihm obliegt es ggf., auch eine selbst bewohnte Immobilie zu veräußern, um seiner Unterhaltspflicht zu genügen. Der Ehegatte eines unterhaltsbedürftigen Elternteils kann sich gegen die Unterhaltsverpflichtung nicht auf eine Lebensstandardsgarantie oder ein höheres Schonvermögen berufen2. Betagten Eltern ist ein sog. Notgroschen zu belassen, der mindestens mit 1525 dem sozialhilferechtlichen Schonbetrag anzusetzen ist (§ 90 SGB XII, DVO zu § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII [früher § 88 BSHG])3 und damit derzeit 2600 Euro beträgt. Haben Eltern Ansprüche gegenüber Dritten, müssen sie diese vorrangig 1526 geltend machen. Andernfalls ist die Bedürftigkeit zu verneinen. Das gilt insbesondere für die Rückforderung von Schenkungen nach §§ 528, 530 BGB4. Der Sozialhilfeträger kann gem. § 93 SGB XII (früher: § 90 BSHG) den Rückforderungsanspruch durch schriftliche Anzeige gegenüber dem Beschenkten auf sich überleiten5. Auch diese Möglichkeit findet jedoch ihre Grenze in Zumutbarkeitserwägungen. Müsste der pflege- und unterhaltsbedürftige Elternteil gegen das eigene Kind eine Schenkung revozieren, kann das unzumutbar sein, wenn die Revokation die Verbindung zu diesem Kind nachhaltig zerstören würde6. Die Revokationsfrist von 10 Jahren beginnt nicht etwa mit Stellung des Sozialhilfeantrags, sondern nach § 529 Abs. 1 BGB mit dem Zeitpunkt des Eintritts der Bedürftigkeit.
Û
Wichtig: Auch Schenkungen von Eltern an ihre Kinder können nach § 528 BGB zurückverlangt werden, wenn die Eltern nach der Vollziehung der Schenkung unterhaltsbedürftig werden7. Die Angemessenheit des Unterhalts der Eltern bestimmt sich in diesen Fällen danach, was
1 Brudermüller, NJW 2004, 633 (635). 2 Zweifelnd Koch/Wellenhofer, Rn. 5019. 3 BGH v. 23.11.2005 – XII ZR 155/03, FamRZ 2006, 935 = FamRB 2006, 200; BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107. 4 OLG Schleswig v. 19.1.2009 – 15 UF 187/07, FamRZ 2009, 1751. 5 BGH v. 16.9.1993 – V ZR 246/92, FamRZ 1994, 103; BGH v. 9.11.1994 – IV ZR 66/94, FamRZ 1995, 160; BGH v. 14.6.1995 – IV ZR 212/94, FamRZ 95, 1123; BVerwG v. 25.6.1992 – 5 C 37/88, FamRZ 1993, 184; OLG Zweibrücken v. 13.7.2000 – 6 UF 1/00, FamRZ 2001, 660. 6 OVG Münster v. 14.10.2008 – 16 A 1409/07, FamRZ 2009, 84 = FamRB 2008, 373 für das Pflegewohngeld NRW. 7 BGH v. 5.11.2002 – X ZR 140/01, FamRZ 2003, 224 = FamRB 2003, 156; BGH v. 28.10.1997 – X ZR 157/96, FamRZ 1998, 155; BGH v. 17.1.1996 – IV ZR 184/94, FamRZ 1996, 483; BGH v. 7.6.1991 – V ZR 214/89, FamRZ 1991, 1288; OLG Naumburg v. 22.5.1996 – 8 U 105/95, FamRZ 1997, 293; OLG Hamm v. 26.11.1992 – 22 U 347/91, FamRZ 1993, 1436.
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Kap. 6 E Rn. 1527
Elternunterhalt
nach der Schenkung als objektiv angemessener Lebensstil anzusehen ist1. 1527
Zu prüfen ist in diesen Fällen aber immer, ob der Rückforderungsanspruch nicht nach §§ 529, 534 BGB ausgeschlossen ist, weil – der Schenker seine Bedürftigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat, – seit der Schenkung und bis zum Eintritt der Bedürftigkeit zehn Jahre verstrichen sind2, – die Herausgabe nicht ohne Gefährdung des eigenen Unterhalts oder anderer Unterhaltspflichten möglich ist3, – die Schenkung einer sittlichen Pflicht oder einer auf den Anstand zu nehmenden Rücksicht entsprochen hat.
Û
Praxistipp: Zwischen Eltern und Kindern besteht die Möglichkeit, Vermögen rückforderungsfest zu übertragen, wenn die Übertragung gegen Entgelt erfolgt. So ist die Revokation nicht möglich, wenn ein Wohnrecht oder eine Pflegeverpflichtung mit einer Immobilienübertragung übernommen wird oder wenn eine Vermögensübertragung als belohnendes Entgelt für bereits erbrachte Pflege oder Versorgungsleistungen erfolgt. Dabei ist stets genau zu prüfen, ob der gesamte Vermögensgegenstand unentgeltlich übertragen wurde, oder aber – wie oft – lediglich eine Teilschenkung oder gar keine Schenkung vorliegt. Wird zB von einer 65 Jahre alten Frau ein mit einem Wohnrecht belastetes Einfamilienhaus dem Sohn geschenkt, wird das Haus wegen des langen Wohnrechts unverkäuflich sein. Daran ändert sich nichts, wenn wenige Jahre später Pflegebedarf entsteht und das Wohnrecht nicht mehr genutzt werden kann. Für die Eigenbedarfseinrede nach § 529 Abs. 2 BGB gelten zur Bestimmung des „standesgemäßen“ (lies: „angemessenen“4) Unterhalts die gleichen Bemessungsregeln wie zur Bestimmung der unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit im Elternunterhalt5, also der erhöhte Sockelselbstbehalt (Rn. 1550 ff.).
1 BGH v. 5.11.2002 – X ZR 140/01, FamRZ 2003, 224 = FamRB 2003, 156. 2 Dabei kommt es auf den Zeitpunkt der Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten an und nicht auf den Zeitpunkt der Inanspruchnahme von Sozialhilfe. Vielfach versuchen unterhaltspflichtige Kinder durch Zahlungen an den Berechtigten über einen gewissen Zeitraum die Beantragung von Sozialhilfe über die Zehnjahres-Frist hinauszuschieben. Dies nutzt nichts, wenn die Bedürftigkeit innerhalb der Zehnjahres-Frist eingetreten ist. 3 BGH v. 5.11.2002 – X ZR 140/01, FamRZ 2003, 224 = FamRB 2003, 156; OLG Hamm v. 26.11.1992 – 22 U 347/91, FamRZ 1993, 1436. 4 BGH v. 6.9.2005 – X ZR 51/03, FamRZ 2005, 1989. 5 BGH v. 11.7.2000 – X ZR 126/98, FamRZ 2001, 21; Palandt/Weidenkaff, § 529 BGB Rn. 3; Erman/Herrmann, § 529 BGB Rn. 2.
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Elternunterhalt
Rn. 1529
Kap. 6 E
3. Leistungsfähigkeit Die meisten Probleme des Elternunterhalts liegen auf dem Gebiet der 1528 Leistungsfähigkeit. Darin spiegelt sich wider, dass vielfach die Inanspruchnahme auf Elternunterhalt als ungerecht empfunden wird, weil und insofern die in Anspruch genommenen Kinder idR bereits erhebliche Leistungen für die Erfüllung des Generationenvertrags erbracht haben. Sie haben ihre eigenen Kinder großgezogen, deren Ausbildung finanziert und gleichzeitig über Steuern und Sozialabgaben die Sozialkassen gefüllt (Stichwort: Sandwichgeneration)1. Hinzu kommt neuerdings noch die zusätzliche eigene Altersabsicherung. Wie die jüngsten Entscheidungen des BGH zeigen, war er sich dieser Problematik bewusst und ist ihr dadurch begegnet, dass er bei der Prüfung der Leistungsfähigkeit aus Sicht des pflichtigen Kindes einen eher großzügigen Maßstab angelegt hat. Grundsätzlich richtet sich die Leistungsfähigkeit, wie auch sonst beim 1529 Verwandtenunterhalt, nach § 1603 Abs. 1 BGB. Danach müssen dem unterhaltspflichtigen Kind diejenigen Mittel verbleiben, die es zur Deckung seines angemessenen Bedarfs benötigt2. Da die Lebensführung erfahrungsgemäß an die vorhandenen Mittel angepasst wird, kann der angemessene Unterhaltsbedarf nicht mit einem festen Betrag angesetzt werden, sondern ist vom Tatrichter je nach Einzelfall individuell zu bestimmen, wobei insbesondere die Lebensstellung, das Einkommen und Vermögen sowie der soziale Rang des unterhaltspflichtigen Kindes eine Rolle spielen3. Eine spürbare und dauerhafte Senkung seines berufs- und einkommenstypischen Unterhaltsniveaus muss das unterhaltspflichtige Kind nicht hinnehmen, solange es keinen für seine Verhältnisse unangemessenen Aufwand betreibt oder ein Leben im Luxus führt4 (Lebensstandardgarantie). Unterste Grenze ist der Halbteilungsgrundsatz, dh. das unterhaltspflichtige Kind muss auf keinen Fall mehr von seinem Einkommen für den Unterhalt seiner Eltern einsetzen als ihm selbst verbleibt5. 1 BVerfG v. 7.6.2005 – 1 BvR 1508/96, FamRZ 2005, 1051; BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4; BGH v. 26.2.1992 – XII ZR 93/91, FamRZ 1992, 795; Diederichsen, FF Sonderheft zum 51. Deutschen Anwaltstag, 7 ff. 2 BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4; BGH v. 26.2.1992 – XII ZR 93/91, FamRZ 1992, 795; vgl. auch LG Münster v. 7.5.1993 – 10 S 65/92, FamRZ 1994, 843; LG Paderborn v. 25.4.1996 – 5 S 11/96, FamRZ 1996, 1497; LG Kiel v. 15.11.1995 – S 42/95, LG Kiel v. 15.11.1995 – 5 S 42/95, FamRZ 1996, 753; LG Düsseldorf v. 29.8.1997 – 22 S 441/96, FamRZ 1998, 50; LG Bielefeld v. 28.8.1997 – 22 S 106/97, FamRZ 1998, 49. 3 BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4. 4 BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4. 5 BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144; BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4.
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Kap. 6 E Rn. 1530
Û
Elternunterhalt
Praxistipp: Bedürftigkeit und Leistungsfähigkeit müssen immer zeitlich zusammenfallen (Kongruenz). Wird das pflichtige Kind erst leistungsfähig, wenn keine Bedürftigkeit mehr besteht, beispielsweise weil der betreffende Elternteil verstorben ist, entsteht der Unterhaltsanspruch nicht etwa rückwirkend, sondern es gab von vorneherein keinen Unterhaltsanspruch1. Aus diesem Grund ist es auch durchaus ratsam, bei der Bestimmung der Leistungsfähigkeit Änderungen in der Einkommens- und Belastungssituation des unterhaltspflichtigen Kindes und seines Gatten zeitgenau zu bestimmen und zu weiträumige Durchschnittsbildung zu vermeiden.
1530
Das gilt im Prinzip zwar für alle Unterhaltsansprüche. Relevant wird das Prinzip der Kongruenz aber vor allem beim Elternunterhalt, weil dieser wegen des Übergangs der Ansprüche auf den Sozialhilfeträger häufig zeitlich deutlich nach der Entstehung der Bedürftigkeit geltend gemacht wird. a) Einkommen
1531
Das für den Elternunterhalt einzusetzende Nettoeinkommen wird grundsätzlich nicht anders ermittelt als beim Ehegatten- oder Kindesunterhalt. Dementsprechend sind Einkünfte aus Überstunden zu berücksichtigen, wenn sie nur in geringem Umfang anfallen oder berufsüblich sind2. Ein geringer Umfang liegt jedenfalls dann vor, wenn die Überstunden weniger als 10 % der regulären Arbeitszeit ausmachen3. Die Darlegungs- und Beweislast liegt beim pflichtigen Kind4.
1532
Dagegen sind fiktive Einkünfte grundsätzlich nicht anzusetzen5, weil ansonsten die Lebensstandardgarantie6 leerliefe. Elterngeld, jedenfalls iHv. 300 Euro monatlich, oder Sozialhilfe müssen nicht für den Elternunterhalt eingesetzt werden. Kindergeld ist im Rahmen des § 1612b BGB zur Hälfte auf den Unterhaltsanspruch minderjähriger und voll auf den Unterhaltsanspruch volljähriger Kinder anzurechnen.
1 BVerfG v. 7.6.2005 – 1 BvR 1508/96, FamRZ 2005, 1051 m. Anm. Klinkhammer; vgl. auch Schürmann, FF 2005, 187; vgl. auch KG v. 11.1.2011 – 13 UF 199/10, FamRZ 2011, 985. 2 BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144. 3 BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144. 4 BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144. 5 LG Köln, FamRZ 2002, 572. Vgl. auch OLG Köln v. 5.7.2001 – 14 UF 13/01, FamRZ 2002, 572; OLG Köln v. 29.9.1999 – 27 UF 87/99, FamRZ 2001, 437; aA OLG Karlsruhe v. 28.7.2010 – 16 UF 65/10, FamRZ 2010, 2082; Nur in Ausnahmefällen: Wendl/Dose/Wönne, § 2, Rn. 949; ausführlich Hauß, Elternunterhalt, Rn. 233 ff. 6 BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4.
888
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1534
Kap. 6 E
Lebt das pflichtige Kind im Eigenheim, ist ihm ein Wohnwert zuzurech- 1533 nen, der jedoch nicht nach dem objektiv erzielbaren Mietzins zu bemessen ist. Anzusetzen ist vielmehr, wie beim Trennungsunterhalt, nur der angemessene Wohnwert1, dessen Höhe sich nach den konkreten Verhältnissen des unterhaltspflichtigen Kindes bestimmt2. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Wohnbedarf im Verhältnis zu den vorhandenen Einkünften nicht unangemessen hoch ist3. Die Angemessenheit der Wohnvorteils ist nicht am Einkommen der unterhaltspflichtigen Person zu bemessen, sondern an der Wohnfläche, die eine unterhaltspflichtige Person in Ansehung ihrer Unterhaltspflichten (auch der aufkommenden gegenüber den Eltern) benötigen würde4. Angesichts einer durchschnittlichen Mietfläche von ca. 42 m2 je Einzelperson in Deutschland5, wäre dieser Wert mit der ortüblichen Vergleichsmiete der tatsächlich bewohnten Wohnung zu multiplizieren. Von dem so ermittelten Wohnvorteil sind Zins und Tilgung, Heiz- und sonstige Nebenkosten6 abzuziehen. Ob die Immobilie als angemessene Altersvorsorge anzusehen ist, spielt hier keine Rolle7. Vielfach wird von den Sozialhilfeträgern als Obergrenze der Wohnwertzurechnung ein Betrag von 450 Euro für den Alleinstehenden und 350 Euro für den Ehegatten angenommen. Damit schließen die Sozialämter sich an die in den unterhaltsrechtlichen Leitlinien der Oberlandesgerichte ausgewiesenen „Kosten des Wohnens“ an8. Diese Begrenzung erscheint sinnvoll, da der Wohnvorteil „fiktives Einkommen“ darstellt. Eine Einkommensfiktion ist jedoch im Unterhaltsrecht stets Sanktion für die Verletzung einer unterhaltsrechtlichen Obliegenheit. Die Beibehaltung des erworbenen Wohn- und Lebensstils kann aber angesichts der schwachen Stellung des Elternunterhalts nicht als Obliegenheitsverletzung gewertet werden9. Einkommensteuern sind in Abzug zu bringen. Hat das pflichtige Kind Lohnsteuerklasse V, ist sein Nettoeinkommen entsprechend Lohnsteuer-
1 BGH v. 19.3.2003 – XII ZR 123/00, FamRZ 2003, 1179 = FamRB 2003, 280 und FamRB 2003, 282; BGH v. 20.10.1999 – XII ZR 297/97, FamRZ 2000, 351; FAFamR/Gerhardt, Kap. 6, Rn. 376; Palandt/Brudermüller, § 1601 BGB Rn. 9; Wendl/Dose/Wönne, § 2 Rn. 954; Büttner/Niepmann/Schwamb, Rn. 119; Koch/ Wellenhofer Rn. 5031; Schwab/Borth Rn. IV.1626. 2 BGH v. 19.3.2003 – XII ZR 123/00, FamRZ 2003, 1179 = FamRB 2003, 280 und FamRB 2003, 282. 3 BGH v. 19.3.2003 – XII ZR 123/00, FamRZ 2003, 1179 = FamRB 2003, 280 und FamRB 2003, 282. 4 BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 21/05, FamRZ 2007, 879 = FamRB 2007, 228. 5 Statistisches Jahrbuch 2011 S. 291. 6 § 27 Abs. 1 der 2. BerechnungsVO, BGH v. 27.5.2009 – XII ZR 78/08, FamRZ 2009, 1300 = FamRB 2009, 335, FamRB 2009, 270, FamRB 2009, 271 und FamRB 2009, 272. 7 BGH v. 19.3.2003 – XII ZR 123/00, FamRZ 2003, 1179 = FamRB 2003, 280 und FamRB 2003, 282. 8 LL Nr. 21. 9 Vgl. Hauß, Elternunterhalt, Rn. 163.
Caspary/Hauß
889
1534
Kap. 6 E Rn. 1535
Elternunterhalt
klasse I bzw. IV fiktiv zu erhöhen1. Ebenso konsequent ist es jedoch auch, bei der Steuerklassenwahl III/V zugunsten des unterhaltspflichtigen Kindes das Nettoeinkommen auf der Basis der fiktiven Besteuerung nach Steuerklassen IV/IV (entsprechend I/I) vorzunehmen2. Fraglich ist, ob die zum Ehegattenunterhalt ergangene Entscheidung des BVerfG3, wonach der aus der neuen Ehe resultierende Splittingvorteil bei der Bemessung des Unterhalts des ehemaligen Ehegatten nicht zu berücksichtigen ist, weil der Splittingvorteil allein der Ehe des Unterhaltspflichtigen, aus der er resultiert, zugute kommen soll, sinngemäß auch auf den Elternunterhalt anzuwenden ist. 1535
Steuererstattungen sind dem Einkommen des Jahres hinzuzurechnen, in welchem sie erfolgen. Dies gilt allerdings nur dann, wenn die wirtschaftlichen Vorgänge, die die Steuererstattung verursacht haben, auch unterhaltsrechtlich berücksichtigt wurden. Darauf ist im Fall von Abschreibungen und Ansparabschreibungen zu achten. Werden diese nicht einkommensmindernd bei der Einkommensermittlung berücksichtigt, kann die auf ihnen beruhende Steuererstattung nicht ohne weiteres unterhaltsrechtlich abgeshöpft werden. Vielmehr ist in diesen Fällen eine fiktive Besteuerung vorzunehmen4.
Û
Wichtig: Steht die Höhe der Erstattung noch nicht fest, ist das pflichtige Kind ohne Aufforderung verpflichtet, dem Gericht die Steuererklärung oder sonstige aussagekräftige Unterlagen vorzulegen, anhand derer das Gericht die voraussichtliche Erstattung berechnen kann. Anderenfalls läuft es Gefahr, dass das Gericht die Erstattung gem. § 287 ZPO schätzt5.
1536
In den OLG Bezirken Bremen, Hamburg, Hamm, Köln, Rostock und Schleswig können berufsbedingte Aufwendungen nur dann vom Einkommen abgezogen werden, wenn sie konkret nachgewiesen werden und anfallen. Ansonsten ist ein pauschaler Abzug in Höhe von 5 % des Nettoeinkommens zulässig. Auch in diesen Bezirken können aber über die Pauschale hinausgehende berufsbedingte Aufwendungen abgezogen werden, wenn sie tatsächlich entstehen und nachgewiesen werden.
1537
Krankenversicherungsbeiträge sind abzuziehen, ebenso krankheitsbedingter Mehraufwand des unterhaltspflichtigen Kindes wie auch seiner eigenen Kinder. Auch Eigenanteile von Krankenbehandlungskosten (Praxisgebühren und Medikamentezuzahlungen) sind abzugsfähig, da ansonsten eine 1 2 3 4
BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142. Hauß, Elternunterhalt, Rn. 171. BVerfG v. 7.10.2003 – 1 BvR 246/93, 1 BvR 2298/94, FamRZ 2003, 1821. OLG Brandenburg v. 19.12.2006 – 10 UF 183/05, FamRZ 2007, 1020 = FamRB 2007, 198; BGH v. 2.6.2004 – XII ZR 217/01, FamRZ 2004, 1177 m. Anm. Engels, 1355 = FamRB 2004, 316. 5 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239.
890
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1540
Kap. 6 E
Ungleichbehandlung von gesetzlich und privat Krankenversicherten entstünde. Privat Krankenversicherte können einen Versicherungstarif ohne jegliche Zuzahlungen vom anrechenbaren Einkommen absetzen. Pflichtversicherte hingegen haben regelmäßig Zuzahlungen zu erbringen, die daher gleichfalls unterhaltsrechtlich zu berücksichtigen sind. Das Gleiche gilt für die Kostendämpfungspauschale im Bereich des Beihilferechts für Beamte. Auch Krankentagegeldversicherungen von Selbständigen1 mindern das anrechenbare Einkommen. Auch die gesetzlichen Aufwendungen zur Altersvorsorge sind abzugsfähig. Selbständige können Vorsorgeaufwendungen in gleicher Höhe, zurzeit also ca. 20 % des Bruttojahreseinkommens, geltend machen2. Auch soweit die Einkünfte eines Kindes die Beitragsbemessungsgrenze übersteigen3, können von diesen Einkünften 20 % Altersvorsorgerücklagen gebildet werden. Allerdings muss die Altersvorsorge tatsächlich geleistet werden. Fiktive Vorsorgebeiträge können nicht abgezogen werden4.
1538
Zusätzlich zu der primären Altersvorsorge ist das pflichtige Kind be- 1539 rechtigt, Zusatzvorsorge für das Alter iHv. 5 % seines Bruttojahreseinkommens zu betreiben, und zwar unabhängig davon, ob es sozialversicherungspflichtig oder selbständig ist5. Das gilt auch für Beamte6. Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte können für Einkünfte jenseits der Beitragsbemessungsgrenze 25 % des Bruttoeinkommens für Altersvorsorge abziehen. Geht das pflichtige Kind vor Erreichen der Regelaltersgrenze in den Ruhestand, können gleichwohl Aufwendungen für eine zusätzliche Altersvorsorge bis zur Regelaltersgrenze noch in Abzug gebracht werden7. In welcher Form das pflichtige Kind für sein Alter vorsorgt, ist ihm prinzipiell freigestellt8. Vorgesorgt werden kann durch den Erwerb einer Immobilie9 ebenso wie durch Einzahlung auf ein Sparkonto10 oder in eine 1 OLG Hamm v. 27.5.2007 – 6 UF 239/03, OLGReport 2004, 340. 2 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 3 Im Jahr 2012 beträgt die Beitragsbemessungsgrenze 67 200 (West) bzw. 57 600 (Ost). 4 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239; Büttner, FamRZ 2004, 1918 (1920). 5 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327; BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 326/01, FamRZ 2004, 1817 = FamRB 2004, 317; BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 149/01, FamRZ 2004, 792 = FamRB 2004, 213; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 (863) = FamRB 2003, 239. 6 BGH v. 19.3.2003 – XII ZR 123/00, FamRZ 2003, 1179 (1182) = FamRB 2003, 280 und FamRB 2003, 282. 7 BGH v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, FamRZ 2010, 1535 = FamRB 2010, 295. 8 BGH v. 30.8.1006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 9 BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 149/01, FamRZ 2004, 792 = FamRB 2004, 213; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 (863) = FamRB 2003, 239. 10 BGH v. 30.8.1006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 (863) = FamRB 2003, 239, vgl. hierzu Büttner,
Caspary/Hauß
891
1540
Kap. 6 E Rn. 1541
Elternunterhalt
andere geeignete Kapitalanlage, beispielsweise eine Lebensversicherung. Zweifel hatte der BGH allerdings an der Eignung von Wertpapieren oder Fondsbeteiligungen wegen der mit ihnen verbundenen Risiken1. 1541
Hat der Ehegatte des unterhaltspflichtigen Kindes keine eigenen Einkünfte oder reicht sein Einkommen für eine angemessene Altersvorsorge nicht aus, sind auch die für ihn geleisteten Vorsorgebeträge abzugsfähig, vorausgesetzt, sie halten sich in dem von der Rechtsprechung vorgegebenen Rahmen von insgesamt 25 % des jeweiligen Bruttoeinkommens2.
1542
Private Aufwendungen zur Sicherung späterer Altersteilzeit sind nicht absetzbar3. Allerdings ist es möglich, dass der Ehegatte des unterhaltspflichtigen Kindes Rücklagen für einen vorzeitigen Ruhestand bildet, zB um wegen eines Altersunterschiedes den Ruhestand vorzeitig – gemeinsam mit dem Gatten – beginnen zu können. Dies folgt daraus, dass das Schwiegerkind nicht unterhaltspflichtig ist4.
1543
Dagegen kann der Selbständige jedenfalls wohl dann Beiträge zur Arbeitslosenversicherung in Abzug bringen, wenn ihm aufgrund einer unternehmerischen Entscheidung Arbeitslosigkeit droht5.
1544
Für Verbindlichkeiten gilt, dass, anders als im Deszendenten- und Gattenunterhaltsrecht, alle vor dem Entstehen der Unterhaltspflicht den Eltern gegenüber eingegangenen Verbindlichkeiten – unabhängig vom Grund ihrer Entstehung – das unterhaltspflichtige Einkommen des Kindes mindern. Dies folgt zwingend aus der Lebensstandardgarantie und der Tatsache, dass bis zum Einsetzen der Unterhaltsverpflichtung das unterhaltspflichtige Kind seine Lebensgewohnheiten nicht vorauseilend auf eine mögliche Unterhaltsverpflichtung hin einstellen muss. In der Praxis werden an vor Entstehen der Unterhaltspflicht eingegangene Verbindlichkeiten daher keine großen Anforderungen gestellt. Auch Aufwendungen für teure Hobbys (Pferdesport, Golf, aber auch Fitnessausgaben) sind daher unterhaltsrechtlich bedeutsam und ggf. nicht aus dem Selbstbehalt zu finanzieren, wenn dieser nicht angemessen hoch ist, um die konkrete Ausgabe zu ermöglichen. IdR gilt, dass Konsumentenkredite, die vor dem Entstehen der Unterhaltspflicht aufgenommen wurden, mit Zins- und
1 2 3 4 5
FamRZ 2004, 1918 (1920), der zur Missbrauchsverhinderung eine bindende Zweckbestimmung fordert. BGH v. 30.8.1006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 (863) = FamRB 2003, 239. BGH v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, FamRZ 2010, 1535 = FamRB 2010, 295; Borth, FamRZ 2004, 792. Büttner, FamRZ 2004, 1918 (1920). OLG Hamm v. 27.11.2007 – 1 UF 50/07, FamRZ 2008, 1881 = FamRB 2008, 200. BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239.
892
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1547
Kap. 6 E
Tilgungsraten vom Einkommen abzuziehen sind1. Kosten einer Hausratsoder Haftpflichtversicherung müssen jedoch aus dem erhöhten Selbstbehalt bestritten werden2. Zur Vermeidung einer nicht nachvollziehbaren Ungleichbehandlung von 1545 kredit- und rücklagenfinanziertem Konsum3 muss dementsprechend eine Rücklagenbildung zur Finanzierung erforderlicher Hausrats- oder PkwAnschaffungen, für Instandhaltungs- und Reparaturmaßnahmen an einer Immobilie unterhaltsrechtlich ebenfalls akzeptiert werden4. Allerdings wird die Rücklagenbildung in der Praxis nur bei einem konkret darzulegenden Bedarf zu berücksichtigen sein5. Bei Immobilien wird zum Teil eine angemessene moderate allgemeine Rücklagenbildung akzeptiert, weil sonst ein nicht zu rechtfertigender Wertungswiderspruch zu Eigentumswohnungen entstünde, bei denen die Hausgelder nach allgemeiner Auffassung einkommensmindernd zu berücksichtigen sind. Hausgelder werden jedoch nicht nur für allgemeine Verbrauchskosten, sondern auch zur Ansparung von Instandhaltungs- und Reparaturkosten genutzt6. Grundsätzlich mindern Zins- und Tilgungsleistungen für Darlehen, die zur Finanzierung der selbst genutzten Immobilie aufgenommen worden sind7, das unterhaltsrechtlich anrechenbare Einkommen. Andere vermögensbildende Maßnahmen sollen dagegen, sofern sie nicht der angemessenen Altersvorsorge dienen, grundsätzlich nicht abzugsfähig sein8. Allerdings ist zu bedenken, dass beim Ehegattenunterhalt vermögensbildende Aufwendungen jedenfalls dann in Abzug gebracht werden können, wenn gehobene Einkommensverhältnisse vorliegen und sich die Vermögensbildung in einem angemessenen Rahmen hält. Da der unterhaltsberechtigte Ehegatte den Eltern im Rang vorgeht, müsste zumindest in diesen Fällen die Vermögensbildung auch beim Elternunterhalt akzeptiert werden.
1546
Ansonsten kommt es auf den Einzelfall an. So ist der Abzug von Kreditra- 1547 ten möglich, wenn die Aufnahme des Kredits unumgänglich war, um not-
1 BGH v. 19.3.2003 – XII ZR 123/00, FamRZ 2003, 1179 = FamRB 2003, 280 und FamRB 2003, 282; Eschenbruch/Klinkhammer, Rn. 2.69; Hauß, Elternunterhalt, Rn. 194 ff. 2 BGH v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, FamRZ 2010, 1535 = FamRB 2010, 295. 3 Eschenbruch/Klinkhammer, Rn. 2.69. 4 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 m. Anm. Klinkhammer = FamRB 2006, 327. 5 OLG Karlsruhe v. 28.7.2010 – 16 UF 65/10, FamRZ 2010, 2082. 6 BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 149/01, FamRZ 2004, 792 = FamRB 2004, 213; OLG Hamm v. 7.6.1989 – 8 UF 475/87, FamRZ 1989, 871. 7 BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 326/01, FamRZ 2004, 1184 = FamRB 2004, 317; BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107; BGH v. 19.3.2003 – XII ZR 123/00, FamRZ 2003, 1179 = FamRB 2003, 280 und FamRB 2003, 282. 8 BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142; BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107.
Caspary/Hauß
893
Kap. 6 E Rn. 1548
Elternunterhalt
wendige Bedarfsgüter zu finanzieren1 (zB für einen Ersatz-Pkw). Ebenso sind Kreditkosten abzugsfähig, wenn der Kredit aufgenommen wurde, bevor das pflichtige Kind Kenntnis von dem Unterhaltsanspruch seiner Eltern hatte, da es ihm grundsätzlich freisteht, wofür es sein Geld verwendet2.
Û
Praxistipp: Generell gilt also, dass Konsumieren besser ist als Sparen. Allerdings ist zu beachten, dass dies nur dann gilt, wenn das pflichtige Kind noch nicht wusste, dass es Unterhalt an seine Eltern zahlen muss. Auch wenn nur eine latente Unterhaltslast (Rn. 1574 ff.) besteht, ist daher Vorsicht geboten.
1548
Fahrtkosten, die dem Kind durch Besuche bei den Eltern entstehen, sind in Abzug zu bringen3. Auch ein vom unterhaltspflichtigen Kind übernommener Sonderbedarf des Elternteils mindert das Einkommen des Kindes, beispielsweise zusätzliche Kosten des im Heim lebenden Elternteils für Wäsche, Radiogebühren und dergleichen mehr4. b) Selbstbehalt
1549
Einstweilen frei
1550
Durch die Entscheidung des BGH v. 28.7.20105 ist die Frage der Berechnungsmethode des Elternunterhalts nunmehr geklärt. Dem unterhaltspflichtigen Kind steht ein Sockelselbstbehalt, einem mit ihm zusammenlebenden Schwiegerkind ein um 20 % verminderter Sockelselbstbehalt6 zu, weil der BGH die „häusliche Ersparnis“, die aus dem Zusammenleben mit einem Partner resultiert, mit 10 % annimmt. Lebt das Kind mit mit einem Ehegatten oder Lebenspartner zusammen, wird der Sockelselbstbehalt um 45 %, sonst bei Alleinleben um 50 % des ihn übersteigenden Familieneinkommens aufgestockt. Von diesem „individuellen Familienselbstbehalt“ haben die Partner ihren Anteil entsprechend dem Verhältnis ihrer anrechenbaren Einkommen zu tragen. Die Berechnung gestaltet sich daher wie folgt: 1 Ehinger, FPR 2003, 623 (627). 2 Vgl. OLG Hamm v. 22.11.2004 – 8 UF 411/00, FamRZ 2005, 1193, das sich auch mit der Abgrenzung von Vermögensbildung und Kreditrückführung beschäftigt. Danach stellt die Rückführung von Krediten grundsätzlich keine Vermögensbildung dar, es sei denn, der mit dem Kredit finanzierte Gegenstand wächst mit zunehmender Tilgung immer mehr dem Vermögen des Kreditnehmers zu, was bei Konsum- oder Geschäftskrediten allerdings regelmäßig nicht der Fall ist. 3 OLG Köln v. 5.7.2001 – 14 UF 13/01; FamRZ 2009, 572; OLG Düsseldorf v. 14.1.2009 – II – 8 UF 172/08, FamRZ 2009, 1077. 4 OLG Hamm v. 2.11.2004 – 3 UF 263/00, FamRZ 2005, 1193 = FamRB 2002, 37. 5 BGH v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, FamRZ 2010, 1535 = FamRB 2010, 295. 6 Dieser ist in den Leitlinien der OLG ab dem Jahr 2011 mit 1500 Euro für das Kind und 1200 Euro für den Gatten vorgeschlagen.
894
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1554
Kap. 6 E
Nach den Leitlinien der Oberlandesgerichte beträgt der Mindestselbstbehalt für das pflichtige Kind 1500 Euro einschließlich eines Warmmietanteils von 450 Euro1.
Û
1551
Wichtig: Der Selbstbehalt ist nicht zu vermindern, wenn das unterhaltspflichtige Kind preisgünstiger wohnt, als in den Tabellensätzen der Oberlandesgerichte für die Warmmiete vorgesehen ist, da es seiner freien Entscheidung unterliegt, wofür es sein Einkommen verwenden möchte2.
Der Mindestselbstbehalt für den Ehegatten des pflichtigen Kindes beläuft sich nach den Leitlinien der Oberlandesgerichte auf 1200 Euro einschließlich eines Warmmietanteils von 350 Euro3.
Û
1552
Wichtig: Liegt das Familieneinkommen, also das Einkommen beider Eheleute, nicht über den Mindestselbstbehalten, ist kein zusätzlicher Abschlag für die Ersparnis durch gemeinsame Haushaltsführung zu berücksichtigen, weil diese bereits in dem geringeren Mindestselbstbehalt des Ehegatten enthalten ist. Liegt das Familieneinkommen der Ehegatten dagegen über den Mindestselbstbehalten, ist nach der Rechtsprechung des BGH hinsichtlich des übersteigenden Betrags ein weiterer Abschlag von 10 % für die Ersparnis durch die gemeinsame Haushaltsführung vorzunehmen4.
Einstweilen frei
1553
c) Vermögen Regelmäßig anfallende Vermögenserträge sind, wie auch sonst, Einkommen, das grundsätzlich für den Elternunterhalt einzusetzen ist. Das gilt allerdings nur, soweit die Grenze für das Altersvorsorgevermögen (vgl. Rn. 1562 ff.) überschritten ist. Ist diese Grenze nicht überschritten, kann das unterhaltspflichtige Kind Kapitalerträge akkumulieren5. Dies ist da-
1 Vgl. Düsseldorfer Tabelle v. 1.1.2011 sowie die Leitlinien der Oberlandesgerichte, www.famrb.de. 2 BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107; BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144. 3 Vgl. Düsseldorfer Tabelle v. 1.1.2011 sowie die Leitlinien der Oberlandesgerichte, www.famrb.de. 4 BGH v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, FamRZ 2010, 1535 = FamRB 2010, 295; BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 149/01, FamRZ 2004, 792 = FamRB 2004, 213; BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 5 OLG Düsseldorf v. 14.1.2009 – II-8 UF 172/08, FamRZ 2009, 1077; ausführlich Hauß, Elternunterhalt, Rn. 101 ff.
Caspary/Hauß
895
1554
Kap. 6 E Rn. 1555
Elternunterhalt
mit zu begründen, dass nach der Rechtsprechung des BGH1 das Altersvorsorgeschonvermögen pauschal mit 5 % der sozialversicherungspflichtigen und 25 % der nicht sozialversicherungspflichtigen Erwerbseinkünfte, aufgezinst über die Lebensarbeitszeit, berechnet werden kann. Wenn aber die Zinsen aus dem Vorsorgekapital zu dessen Bildung zu thesaurieren sind, können sie nicht als unterhaltspflichtiges Einkommen zu werten sein, ohne die Bildung des Altersvorsorgevermögens während einer Unterhaltspflicht zu beeinträchtigen. 1555
Anders sieht es dagegen mit dem Stamm des Vermögens aus. Zwar sind grundsätzlich auch Kinder gegenüber ihren Eltern verpflichtet, Vermögen zu verwerten, um den Unterhaltsanspruch der Eltern erfüllen zu können2. Es ist hier aber ein großzügigerer Maßstab anzulegen als im umgekehrten Fall, da der Elternunterhalt deutlich schwächer ausgestaltet ist als der Kindesunterhalt3. Allerdings gibt es beim Verwandtenunterhalt keine allgemeine Billigkeitsgrenze, wie sie § 1577 Abs. 3 und § 1581 BGB beim Unterhalt geschiedener Ehegatten vorsehen4. Es wäre aber kaum zu rechtfertigen, wenn das unterhaltspflichtige Kind gegenüber seinen Eltern zu einem weitergehenden Einsatz seines Vermögen als gegenüber dem vorrangig berechtigten Ehegatten verpflichtet wäre5, so dass die genannten Vorschriften jedenfalls die äußerste Grenze darstellen.
1556
Im Übrigen richtet sich auch der Einsatz des Vermögens im Bereich des Verwandtenunterhalts nach § 1603 Abs. 1 BGB. Das Vermögen muss danach nicht eingesetzt werden, wenn dadurch der eigene angemessene Unterhalt gefährdet wird6 oder wenn sonstige zu berücksichtigende Verbindlichkeiten entgegenstehen (§ 1603 Abs. 1 BGB), also insbesondere dann nicht, wenn dadurch fortlaufende Einkünfte wegfallen würden, die das unterhaltspflichtige Kind zur Erfüllung weiterer Unterhaltsansprüche7, 1 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327. 2 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327; BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 326/01, FamRZ 2004, 1184 = FamRB 2004, 317. 3 Wendl/Dose/Wönne, § 2, Rn. 956; OLG München v. 11.5.2004 – 30 UF 303/03, FamRZ 2005, 299; offengelassen von BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 326/01, FamRZ 2004, 1184 = FamRB 2004, 317; wohl bejahend: BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327. 4 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327; BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 326/01, FamRZ 2004, 1184 = FamRB 2004, 317. 5 BVerfG v. 7.6.2005 – 1 BvR 1508/96, FamRZ 2005, 1051; BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327. Auch die Einführung der Grundsicherung im Alter zeigt im Übrigen, dass die Belastungen von Kindern durch den Elternunterhalt in Grenzen gehalten werden sollen. 6 OLG Köln v. 12.6.2002 – 27 UF 194/01, FamRZ 2003, 470 = FamRB 2002, 354. 7 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327; BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 326/01, FamRZ 2004, 1184 = FamRB 2004, 317; BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4; BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 52/84, FamRZ 1986, 48; LG Duisburg v. 15.2.1991 – 4 S 319/90, FamRZ 1991, 1086; OLG Hamm v. 10.6.2005 – 9 UF 141/04, ZFE 2005, 452.
896
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1557
Kap. 6 E
zur Bestreitung seines eigenen Unterhalts1 einschließlich der Altersabsicherung2 oder zur Erfüllung weiterer berücksichtigungswürdiger Verbindlichkeiten benötigt3. Ferner muss der Stamm des Vermögens nicht angegriffen werden, wenn 1557 dies unwirtschaftlich wäre4. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Verwertung des Vermögens nur unter Inkaufnahme eines erheblichen Wertverlustes möglich wäre5. Grundsätzlich ist nach dem BGH davon auszugehen, dass Vermögen, das angemessene Erträge abwirft, nicht zu verwerten ist6. Das ist bei der Frage fremdgenutzten Immobilienvermögens zu beachten. Ist eine Immobilie fremdgenutzt, genießt sie nicht mehr den allgemeinen Schonvermögensschutz der selbst genutzten Wohnung. Eine unterwertige Vermietung kann daher dazu führen, ihre Verwertung durch Verkauf zumutbar erscheinen zu lassen. Das ist bei privilegierter Vermietung an Verwandte des Eigentümers zu beachten. Die Verwertung von Vermögen, mit dem nur ein relativ geringer Gewinn erzielt wird und von dem die Existenz des Unterhaltsschuldners nicht abhängt, kommt grundsätzlich in Betracht7. Auch wenn das Vermögen kurzfristig verwertbar ist, wie beispielsweise ein Bankguthaben oder Wertpapierdepot, soll es grundsätzlich für den Unterhalt eingesetzt werden müssen8. Allerdings ist auch hier vor allem der Zweck der Vermögensanlage zu berücksichtigen. Soweit das Vermögen berechtigterweise
1 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327; BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 326/01, FamRZ 2004, 1184 = FamRB 2004, 317; OLG Hamm v. 10.6.2005 – 9 UF 141/04, ZFE 2005, 452. 2 BVerfG v. 7.6.2005 – 1 BvR 1508/96, FamRZ 2005, 1051; BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327; BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4; LG Duisburg v. 3.5.1996 – 24 (4) S 285/95, FamRZ 1996, 1498; LG Lübeck v. 30.1.1996 – 6 S 136/95, FamRZ 1996, 961; LG Osnabrück v. 3.1.1996 – 6 S 66/95, FamRZ 1996, 960. 3 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327; BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 326/01, FamRZ 2004, 1184 = FamRB 2004, 317; BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4; OLG Hamm v. 8.10.2001 – 8 UF 21/01, FamRZ 2002, 1212. 4 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327; BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 326/01, FamRZ 2004, 1184 = FamRB 2004, 317. 5 BGH v. 23.10.85 – IVb ZR 52/84, FamRZ 1986, 48; BGH v. 2.11.1988 – IVb ZR 7/88, FamRZ 1989, 170; OLG München v. 14.6.1999 – 26 UF 617/99, FamRZ 2000, 307; OLG Köln v. 12.6.2002 – 27 UF 194/01, FamRZ 2003, 470 = FamRB 2002, 354. 6 BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 326/01, FamRZ 2004, 1184 = FamRB 2004, 317; BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4; BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 52/84, FamRZ 1986, 48; OLG Hamm v. 10.6.2005 – 9 UF 141/04, ZFE 2005, 452; LG Duisburg v. 15.2.1991 – 4 S 319/90, FamRZ 1991, 1086. 7 OLG Karlsruhe v. 27.3.2003 – 2 UF 23/02, FamRZ 2004, 292 = FamRB 2004, 320. 8 Schürmann, FF 2005, 187 (189); Klinkhammer, FamRZ 2005, 1051 (1056).
Caspary/Hauß
897
Kap. 6 E Rn. 1558
Elternunterhalt
der Altersabsicherung dient, kommt eine Verwertung nicht in Betracht. Das gilt vor allem für Lebensversicherungen1. 1558
Das selbst genutzte Familienheim muss regelmäßig nicht veräußert werden2, wohl aber ggf. eine Ferienwohnung, wenn diese nicht der Erzielung von notwendigen Einkünften dient3. Der Miteigentumsanteil einer Eigentumswohnung soll außer Betracht bleiben, wenn der andere Ehegatte der Veräußerung nicht zustimmt4. Dagegen ist nach anderer Ansicht Grundbesitz zu verwerten, wenn aus ihm keine laufenden Einkünfte erzielt werden5.
1559
Das unterhaltspflichtige Kind ist idR nicht verpflichtet, Vermögensgegenstände zu beleihen, zumal das auch gar nicht zu einer Verwertung des Vermögensstamms, sondern nur zu neuen laufenden Verpflichtungen führen würde. Insbesondere ist das unterhaltspflichtige Kind nicht verpflichtet, ein (zinsloses) Darlehen des Sozialhilfeträgers anzunehmen und dieses mit Hilfe einer eigenen Immobilie zu besichern, um auf diese Weise seine Leistungsfähigkeit herbeizuführen, jedenfalls wenn es – wie meist – auch zivilrechtlich nicht zur Aufnahme eines Darlehens verpflichtet gewesen wäre6. Alles andere würde dem Nachrang der Sozialhilfe widersprechen7. In konsequenter Fortführung dieser Rechtsprechung ist die Aufnahme eines Darlehens zu marktüblichen Konditionen dem Kind erst recht nicht zumutbar8.
1560
In welchem Umfang vorhandenes Vermögen für den Elternunterhalt eingesetzt werden muss, lässt sich nicht allgemein sagen, sondern muss wegen der Besonderheiten des Elternunterhalts für jeden Einzelfall individuell geklärt werden. Wenig überraschend variieren daher die von der 1 AG Höxter v. 9.6.1995 – 2 C 361/94, FamRZ 1996, 752; LG Lübeck 30.1.1996 – 6 S 136/95, FamRZ 1996, 961. 2 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327; BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 52/84, FamRZ 1986, 48; OLG Köln v. 29.9.1999 – 27 UF 87/99, FamRZ 2001, 437; OLG Köln v. 21.8.2000 – 21 UF 274/99, FamRZ 2001, 1475; OLG Oldenburg v. 27.7.1999 – 12 UF 79/99, FamRZ 2000, 1174; LG Paderborn v. 29.8.1996 – 5 S 399/95, FamRZ 1997, 228 (einziger Vermögensgegenstand der wegen Krankheit nicht erwerbsfähigen Tochter). 3 BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 52/84, FamRZ 1986, 48. 4 LG Heidelberg v. 25.4.1997 – 5 S 164/96, FamRZ 1998, 164. 5 AG Ansbach v. 12.7.1994 – C 77/94, FamRZ 1997, 766. 6 BVerfG v. 7.6.2005 – 1 BvR 1508/96, FamRZ 2005, 1051. Das war früher umstritten: bejahend: LG Duisburg v. 3.5.1996 – 24 (4) S 285/95, FamRZ 1996, 1498; OLG München v. 14.10.1999 – 12 UF 1330/99, FamRZ 2000, 1177; LG Heidelberg v. 25.4.1997 – 5 S 164/96, FamRZ 1998, 164; ablehnend: OLG Köln v. 21.8.2000 – 21 UF 274/99, FamRZ 2001, 1475. 7 BVerfG v. 7.6.2005 – 1 BvR 1508/96, FamRZ 2005, 1051. Außerdem hätte es sonst entgegen diesem Grundsatz der Sozialhilfeträger auch in der Hand, durch die Gewährung eines Darlehens die Leistungsfähigkeit des unterhaltspflichtigen Kindes und damit auch den Unterhaltsanspruch überhaupt erst zum Entstehen zu bringen. 8 Vgl. Schürmann, FF 2005, 187 (190).
898
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1562
Kap. 6 E
Rechtsprechung als Schonvermögen zugebilligten Beträge sehr stark1. Grundsätzlich gilt auch für das Vermögen, dass es nicht angetastet werden muss, wenn das unterhaltspflichtige Kind seine Lebensstellung auf ein bestimmtes Vermögen eingestellt hat, ohne unangemessenen Luxus zu betreiben, oder wenn es dieses Vermögen für seine Altersabsicherung braucht2. Es ist auch zulässig, dem unterhaltspflichtigen Kind einen bestimmten Betrag für die Risiken der allgemeinen Lebensführung, beispielsweise der Arbeitslosigkeit, zu belassen3. Geht es um die Altersvorsorge, sind bei der Prüfung der Angemessenheit 1561 alle weiteren vorhandenen Vermögenswerte einzubeziehen. Dies gilt vor allem für Grundeigentum4. Sichert das pflichtige Kind den Fortbestand seiner gegenwärtigen Lebensverhältnisse durch Sparvermögen oder ähnliche Kapitalanlagen, muss ihm davon jedenfalls der Betrag verbleiben, den es braucht, um die ihm unterhaltsrechtlich zuzubilligenden Altersvorsorgebeträge erwirtschaften zu können5. Der BGH hat mit seiner Entscheidung v. 30.8.20066 die Grundsätze für die Berechnung des Altersvorsorgeschonvermögens präzisiert. Danach kann das unterhaltspflichtige Kind pauschal ohne den Nachweis eines besonderen Bedarfs 5 % seines sozialversicherungspflichtigen und 25 % seines sonstigen Brutto-Erwerbseinkommens, aufgezinst mit 4 %, über die Lebensarbeitszeit als Vorsorgevermögen ansparen. In der Praxis kommen schon bei dieser Berechnung erhebliche Vermögenssummen zusammen. Abzustellen ist zunächst einmal auf das letzte Bruttoeinkommen, weil dieses (wie in der Beamtenversorgung) den angemessenen Lebensbedarf nach Beendigung des Erwerbslebens prägt. Die Frage, ab wann das Erwerbsleben zu berechnen ist, ist in Analogie zu § 851c ZPO zu bestim1 OLG Düsseldorf v. 27.10.2010 – II-8 UF 38/10, FamRZ 2011, 982 = FamRB 2011, 103; OLG Köln v. 12.6.2002 – 27 UF 194/01, FamRZ 2003, 470 = FamRB 2002, 354 (Schonvermögen von 58 800 DM); OLG Koblenz v. 23.6.1999 – 11 UF 63/99, FuR 2000, 132 (Schonvermögen von 150 000 DM bei Ansprüchen beider Elternteile); LG Paderborn v. 15.1.1998 – 1 S 51/98, FamRZ 1999, 457 (bei Vermögen von 100 000 DM sind 5000 DM einzusetzen); LG Paderborn v. 25.4.1996 – 5 S 11/96, FamRZ 1996, 1497 (Invaliditätsentschädigung von 200 000 DM muss nicht eingesetzt werden); LG Lübeck v. 30.1.1996 – 6 S 136/95, FamRZ 1996, 961 (490 000 DM als zusätzliche Altersvorsorge); AG Höxter v. 9.6.1995 – 2 C 361/94, FamRZ 1996, 752; AG Wetter v. 29.10.1990 – 8 C 105/90, FamRZ 1991, 852 (jeweils 20 000 DM); AG Blomberg v. 6.11.2003 – 3 F 101/03, FamRZ 2004, 1598 (Freibetrag von 12 500 DM). 2 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327. 3 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327. 4 BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107; vgl. aber auch BGH v. 19.3.2003 – XII ZR 123/00, FamRZ 2003, 1179 = FamRB 2003, 280 und FamRB 2003, 282. 5 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327; BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 149/01, FamRZ 2004, 792 = FamRB 2004, 213; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 6 BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327; OLG Düsseldorf v. 14.1.2009 – II – 8 UF 172/08, FamRZ 2009, 1077.
Caspary/Hauß
899
1562
Kap. 6 E Rn. 1563
Elternunterhalt
men; daher ist vom 18. Lebensjahr auszugehen. Dies ist damit zu begründen, dass auch der Spätstart in ein Berufsleben den Lebensbedarf im Alter nicht aufhebt. Berechnungsfaktoren Altersschonvermögen Aufzinsungsfaktor 4 % ab 18. Lebensjahr Zur Berechnung der Höhe des Vorsorgevermögens ist der Faktor im Alter des Unterhaltspflichtigen mit dem monatlichen Bruttoeinkommen zu multiplizieren Alter
Faktor
Alter
Faktor
Alter
Faktor
Alter
Faktor
Alter
Faktor
20
1,8730
30
9,9761
40
21,9707
50
39,7257
60
66,0074
21
2,5479
31
10,9751
41
23,4496
51
41,9147
61
69,2477
22
3,2498
32
12,0142
42
24,9875
52
44,1913
62
72,6176
23
3,9798
33
13,0947
43
26,5870
53
46,5590
63
76,1223
24
4,7390
34
14,2185
44
28,2505
54
49,0213
64
79,7672
25
5,5285
35
15,3872
45
29,9805
55
51,5822
65
83,5579
26
6,3497
36
16,6027
46
31,7798
56
54,2455
66
87,5002
27
7,2037
37
17,8668
47
33,6510
57
57,0153
67
91,6003
28
8,0918
38
19,1815
48
35,5970
58
59,8959
29
9,0155
39
20,5488
49
37,6209
59
62,8918
Beispiel: Alter 55, Bruttoeinkommen 3500 × 51,8522 = 181 482 Euro
1563
Für Geringverdiener und Personen mit einer gebrochenen Altersvorsorgebiographie sind diese Werte oft nicht ausreichend, um ein angemessenes Alterseinkommen zu sichern. Das gilt auch dann, wenn das aktuelle Einkommen des unterhaltspflichtigen Kindes zum Berechnungszeitpunkt nicht dem den Lebensstandard prägenden Einkommen entspricht, zB dann, wenn krankheitsbedingte Teilzeitarbeit geleistet wird oder Arbeitslosigkeit oder abgesenktes Vorruhestands- oder Kurzarbeitereinkommen besteht. In diesen Fällen ist zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse vom den Lebensstandard prägenden fiktiven Einkommen auszugehen und die Berechnung vorzunehmen. Der BGH hat mit dieser Berechnungsmethode eine Bestimmung der angemessenen Altersvermögenshöhe entwickelt, die im Normalfall zu angemessenen Ergebnissen kommt. Keinesfalls ist dem unterhaltspflichtigen Kind damit die Berechnung eines höheren Altersvorsorgeschonvermögens verwehrt1.
1564
Bei Geringverdienern lohnt zur Berechnung der Höhe des Altersvorsorgeschonvermögens ein Blick auf § 851c ZPO. Danach ist ein Altersvorsorgekapital in Form des Deckungskapitals zu einer Rentenversicherung von der Pfändung ausgeschlossen, sofern es eine bestimmte Höhe nicht überschreitet. Ein 55 Jahre alter Unterhaltspflichtiger hätte danach zB ein 1 Ausführlich Hauß, Elternunterhalt, Rn. 120 ff.; vgl. auch AG Pankow/Weißensee v. 5.11.2008 – 17 F 4142/08, FamRZ 2009, 1076.
900
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1566
Kap. 6 E
Vorsorgeschonvermögen von 152 000 Euro. Wenn schon der Gesetzgeber die Heranziehung von Vermögen in dieser Weise begrenzt, muss diese Vermögensgrenze im nachrangigen Elternunterhalt jedenfalls als Mindestgrenze angesehen werden1.
Û
Praxistipp: Es lohnt sich also, gerade auch beim Vermögen genau vorzutragen. Angesichts dessen, dass das pflichtige Kind nach dem BGH bis zur Grenze des Luxus keine Einschränkung seines Lebensstils hinnehmen muss, kann immer damit argumentiert werden, dass es seinen Lebensstil eben auch auf das Vorhandensein bestimmter Vermögenswerte und ggf. daraus fließender Erträge eingestellt hat, ganz abgesehen davon, dass natürlich immer zu prüfen ist, ob das pflichtige Kind das Vermögen als zusätzliche Altersvorsorge braucht.
Die sozialhilferechtlichen Vorschriften zum Schonvermögen (früher § 88 1565 BSHG, jetzt § 90 SGB XII) spielen insofern eine Rolle, als dem unterhaltspflichtigen Kind jedenfalls nicht weniger als das sozialrechtlich akzeptierte Einkommen und Vermögen verbleiben soll2.
Û
Praxistipp: Eine sozialhilferechtliche Vergleichsberechnung muss also nur dann durchgeführt werden, wenn die sozialhilferechtlichen Schonbeträge den nach Unterhaltsrecht dem unterhaltspflichtigen Kind zu belassenden Betrag übersteigen3.
Ist Vermögen über das Schonvermögen hinaus vorhanden, muss dieses 1565a verrentet werden. Sachgerecht dürfte es sein, das Kapital über die Lebenserwartung des pflichtigen Kindes zu verrenten, sofern dieses bereits eine Rente bezieht. Anderenfalls ist auf die Lebenserwartung des berechtigten Elternteils abzustellen, weil das pflichtige Kind das Kapital bis zur Verrentung auch vollständig verbrauchen könnte4. d) Vorrangige Unterhaltsverpflichtungen Die nach § 1609 BGB gegenüber dem Elternunterhalt vorrangigen Unter- 1566 haltsverpflichtungen sind bei der Prüfung der Leistungsfähigkeit vorab in Abzug zu bringen. Nach § 1609 Nr. 6 BGB befindet sich der Anspruch auf Elternunterhalt im sechsten Rang. Den Eltern gehen alle minderjährigen und privilegierten volljährigen Kinder, alle Kinder betreuenden Elternteile und unterhaltsberechtigten Ehegatten, volljährige Kinder sowie Enkel und weitere Abkömmlinge vor. Reicht das Einkommen des unterhalts1 2 3 4
Hauß, Elternunterhalt, Rn. 128a. BVerfG v. 7.6.2005 – 1 BvR 1508/96, FamRZ 2005, 1051. BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511 = FamRB 2006, 327. OLG Düsseldorf v. 27.10.2010 – II-8 UF 38/10, FamRZ 2011, 982 = FamRB 2011, 103 m. Anm. Hauß, Rechtsbeschwerde ist eingelegt: XII ZR 150/10.
Caspary/Hauß
901
Kap. 6 E Rn. 1567
Elternunterhalt
pflichtigen Kindes nicht aus, um die Unterhaltsansprüche der vorstehend genannten vorrangig Berechtigten zu befriedigen, gehen die Eltern leer aus. aa) Kinder 1567
Schuldet das unterhaltspflichtige Kind seinen eigenen Kindern Barunterhalt, mindert der geschuldete Betrag seine Leistungsfähigkeit. Liegt über den Kindesunterhalt ein Titel vor, ist der titulierte Betrag abzuziehen.
1568
Lebt die Familie noch zusammen, wird nur Familienunterhalt geschuldet. Gleichwohl bestimmt die Rechtsprechung den Unterhaltsbedarf der Kinder auch in diesen Fällen überwiegend nach den Unterhaltstabellen der Oberlandesgerichte1. Teilweise wird vertreten, dass die Tabellenbeträge noch angemessen zu erhöhen sind2. Nach den Empfehlungen des 13. Deutschen Familiengerichtstages soll bei minderjährigen Kindern im Haushalt des Unterhaltspflichtigen Barunterhalt in bedarfsdeckender Höhe, mindestens aber 150 % des früheren Regelbetrags, und ggf. eine angemessene Betreuungspauschale in Abzug gebracht werden können3.
1569
Verdienen beide Elternteile, ist der Unterhaltsbedarf des Kindes anhand der Tabellen – ungeachtet etwaiger Erhöhungsbeträge – aus dem zusammengerechneten Nettoeinkommen beider Elternteile zu ermitteln und entsprechend dem Verhältnis ihrer Nettoeinkünfte zu quoteln4. Abgezogen werden kann nur der auf den Unterhaltsverpflichteten entfallende Betrag. Beispiel: Der Ehemann M verdient 3500 Euro, die Ehefrau F 2000 Euro. Zusammen verfügen sie also über 5500 Euro. Der Unterhaltsbedarf des gemeinsamen vierjährigen Sohnes S beläuft sich somit nach der Düsseldorfer Tabelle v. 1.1.2011 auf 508 Euro bzw. abzüglich des Kindergeldes auf 416 Euro. Vom Einkommen der Eltern ist zunächst jeweils ein angemessener Sockelbetrag5 iHv. 1150 Euro in Abzug zu bringen. Danach verbleiben bei M 2350 Euro und bei F 850 Euro. Das sind zusammen 3200 Euro. M haftet folglich für den Unterhalt von S mit 306 Euro (416 × 2350 : 3200) und F mit 110 Euro (416 × 850 : 3200). Das um den Kindesunterhalt bereinigte Nettoeinkommen von M beträgt somit 3194 Euro (3500 – 306) und von F 1890 Euro (2000 – 110).
1570
Ein nachweisbarer besonderer Bedarf der Kinder (Musikunterricht, teure Sportaktivitäten, Nachhilfekosten etc.) ist ggf. gesondert zu begründen. 1 BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107; LG Bielefeld v. 17.12.1997 – 1b S 169/97, FamRZ 1999, 399. 2 OLG Oldenburg v. 12.3.1991 – 12 UF 141/90, FamRZ 1991, 1347; Günther, FF 1999, 172 ff. 3 Abgedruckt in: FamRZ 2000, 274. 4 LG Detmold v. 2.7.1997 – 2 S 241/96, FamRZ 1998, 47; aA LG Osnabrück v. 20.3.1996 – 11 S 202/95, FamRZ 1996, 1494. 5 Wendl/Dose/Klinkhammer, § 2 Rn. 426: bei bescheidenen Einkünften der notwendige Selbstbehalt iHv. 950 Euro.
902
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1573
Kap. 6 E
bb) Ehegatte (1) Gescheiterte Ehe Ist die Ehe gescheitert und muss das pflichtige Kind Ehegattenunterhalt 1571 zahlen, ist der geschuldete bzw. der titulierte Unterhaltsbetrag in Abzug zu bringen. Hat umgekehrt das unterhaltspflichtige Kind einen Unterhaltsanspruch gegen seinen Ehegatten, gilt gegenüber den Eltern auch der Unterhalt als Einkommen, dh. das Kind muss auch hiervon Unterhalt an seine Eltern zahlen, vorausgesetzt, es ist leistungsfähig und sein eigener angemessener Unterhalt ist nicht gefährdet1. (2) Intakte Ehe Leben die Eheleute noch zusammen, besteht wiederum nur ein Anspruch 1572 auf Familienunterhalt nach §§ 1360, 1360a BGB. Auch wenn dieser Anspruch grundsätzlich nicht auf einen Geldbetrag gerichtet ist, kann er doch zumindest im Fall der Konkurrenz mit anderen Unterhaltsansprüchen in Geldbeträgen veranschlagt und auf die einzelnen Familienmitglieder aufgeteilt werden2. Die Höhe des Familienunterhalts bestimmt sich nicht nach Mindestbeträgen, sondern nach den jeweils individuell zu bestimmenden ehelichen Lebensverhältnissen, wobei § 1578 BGB als Orientierungshilfe herangezogen werden kann3.
Û
Praxistipp: Der Unterhaltsbedarf des Ehegatten kann also im Ergebnis auch bei der intakten Ehe wie der Unterhaltsbedarf des getrenntlebenden oder geschiedenen Ehegatten ermittelt werden.
Dem Ehegatten muss aber immer mindestens der sich aus den Leitlinien der Oberlandesgerichte ergebende Selbstbehalt bleiben4.
Û
Wichtig: Waren die ehelichen Lebensverhältnisse durch den Elternunterhalt geprägt, ist der geschuldete Elternunterhalt in Abzug zu bringen, bevor der Unterhaltsanspruch des Ehegatten ermittelt wird5. Weiterhin dürften nach dem Eintritt der Prägung begründete Verbindlichkeiten nicht abzugsfähig sein6, sofern sie vermeidbar sind.
1 Vgl. Günther, FF 1999, 172 ff. mwN. 2 BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 149/01, FamRZ 2004, 792 = FamRB 2004, 213; BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 3 BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 149/01, FamRZ 2004, 792 = FamRB 2004, 213; BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 4 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 5 BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144. 6 BGH v. 19.3.2003 – XII ZR 123/00, FamRZ 2003, 1179 = FamRB 2003, 280 und FamRB 2003, 282.
Caspary/Hauß
903
1573
Kap. 6 E Rn. 1574 1574
Elternunterhalt
Eine derartige Prägung der ehelichen Lebensverhältnisse liegt sicher dann vor, wenn zum Zeitpunkt der Hochzeit bereits Unterhalt gezahlt wurde. Aber auch, wenn noch kein Unterhalt an die Eltern geleistet wurde, kann die Ehe zumindest latent durch den Anspruch auf Elternunterhalt geprägt gewesen sein. Das soll dann der Fall sein, wenn sich die Pflegebedürftigkeit des Elternteils längerfristig abgezeichnet hat und die Unterhaltspflicht absehbar war1. Die Unterbringung in einem Heim wegen Pflegebedürftigkeit soll nach dem BGH allerdings meist nicht vorhersehbar sein2. Dagegen ist nach Meinung des BGH vorhersehbar, dass ein Elternteil mit Beginn des Rentenbezugs bedürftig wird, weil seine Rente nicht ausreicht3.
Û
Wichtig: Maßgeblich für den Beginn der Latenzphase ist nicht unbedingt der Tag der Hochzeit. Die Prägung der ehelichen Lebensverhältnisse kann vielmehr zu jedem beliebigen Zeitpunkt eintreten, je nachdem, ab wann die zukünftige Unterhaltsbedürftigkeit des Elternteils erkennbar wird4.
1575
Allerdings muss dem Ehegatten auch dann, wenn die Ehe durch eine bereits vorhandene oder latente Unterhaltslast geprägt war, immer zumindest der Selbstbehalt verbleiben, um unangemessene Ergebnisse zu vermeiden5.
Û
Wichtig: Unterdessen hat der BGH entschieden, dass bei unteren und mittleren Einkommen des pflichtigen Kindes der Elternunterhalt nicht als prägende Last vorweg abzuziehen ist, weil bzw. insoweit sonst der angemessene Unterhalt des Ehegatten gefährdet wäre. Ein unteres oder mittleres Einkommen soll vorliegen, wenn der Ehegattenunterhalt nach Quoten zu berechnen ist6.
1575a
Zu beachten ist, dass sich in den Fällen der Prägung der ehelichen Lebensverhältnisse durch den Unterhaltsanspruch eines Elternteils rechnerisch eine erhöhte Leistungsfähigkeit des unterhaltspflichtigen Kindes ergeben kann. Übersteigt diese Erhöhung die aus dem Zusammenleben mit dem Gatten resultierenden Ersparnisse, muss stets geprüft werden, ob nicht eine unzulässige Inanspruchnahme von Einkünften des Schwie1 BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 149/01, FamRZ 2004, 792 = FamRB 2004, 213; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 2 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 3 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 4 BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 149/01, FamRZ 2004, 792 = FamRB 2004, 213; BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144. 5 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239; BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144. 6 BGH v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, FamRZ 2010, 1535 = FamRB 2010, 295; Günther, FamFR 2010, 433.
904
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1577
Kap. 6 E
gerkindes vorliegt. Die Ersparnis des Zusammenlebens ist durch die Differenz der Selbstbehalte von zwei Alleinlebenden zum Selbstbehalt Zusammenlebender (3000 – 2700 Euro) gekennzeichnet. Diese Differenz steht den zusammenlebenden Gatten zu je 1/2 zu. Durch die Heirat eines unterhaltspflichtigen Kindes kann daher dessen unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit um nicht mehr erhöht werden als um 150 Euro. (a) Pflichtiges Kind Hauptverdiener Ist das unterhaltspflichtige Kind der Hauptverdiener, schuldet es seinem Ehegatten gem. §§ 1360, 1360a BGB Familienunterhalt, der nach den vorstehend ausgeführten Grundsätzen zu bemessen ist. Für den Fall, dass das pflichtige Kind mehr verdient als sein Ehegatte, hat der BGH nunmehr entschieden, wie sich die Leistungsfähigkeit des pflichtigen Kindes unter Berücksichtigung der Unterhaltslast gegenüber seinem Ehegatten berechnet1. Der BGH gibt folgendes Beispiel vor:
1576
Beispiel: Der gegenüber seinem Vater unterhaltspflichtige Ehemann M verdient 3000 Euro, seine Frau F 1000 Euro. Zu rechnen ist dann nach dem BGH wie folgt: Einkommen M Einkommen F Familieneinkommen ./. Familienselbstbehalt ./. 10 % Haushaltsersparnis davon 1/2 zzgl. Familienselbstbehalt individueller Familienbedarf Anteil pflichtiges Kind (75 %) Einkommen pflichtiges Kind ./. Anteil pflichtiges Kind leistungsfähig für Elternunterhalt
3000,00 Euro 1000,00 Euro 4000,00 Euro 2450,00 Euro 1550,00 Euro 155,00 Euro 1395,00 Euro 697,50 Euro 2450,00 Euro 3147,50 Euro 2360,63 Euro 3000,00 Euro 2360,63 Euro 639,37 Euro
Vereinfacht kann der individuelle Familienbedarf auch ermittelt werden, indem man zum Familienselbstbehalt, also 2450 Euro, einen Betrag iHv. 45 % des nach Abzug des Familienselbstbehalts verbleibenden Betrags, also 45 % von 1550 Euro, nämlich 697,50 Euro, hinzu addiert (2450,00 Euro + 697,50 Euro = 3147,50 Euro).
1576a
Denkbar ist, dass dem unterhaltspflichtigen Kind letztlich weniger Geld 1577 zur Verfügung steht als seinem Ehegatten, da es von seinem hälftigen Anteil an dem ehelichen Gesamteinkommen noch Unterhalt an seine Eltern zahlen muss. Nach der Rechtsprechung des BGH ist das aber nicht ungerecht, sondern Folge dessen, dass das unterhaltspflichtige Kind gegenüber seinen Eltern nicht den eheangemessenen Unterhalt, sondern nur den 1 BGH v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, FamRZ 2010, 1535 m. Anm. Hauß = FamRB 2010, 295; OLG Celle v. 2.11.2010 – 10 UF 176/10, FamRZ 2011, 984.
Caspary/Hauß
905
Kap. 6 E Rn. 1578
Elternunterhalt
ihm gegenüber seinen Eltern zustehenden Selbstbehalt geltend machen kann1. 1578
Ist auch der Ehegatte erwerbstätig und betreut er neben seiner Erwerbstätigkeit noch minderjährige Kinder, stellt sich die Frage, ob bei der Bemessung seines Unterhaltsanspruchs sein Einkommen zum Teil als überobligatorisch außer Betracht zu bleiben hat. Der BGH hat dazu festgestellt, dass zwar der Rechtsgedanke des § 1577 Abs. 2 BGB zur Beurteilung dieser Frage herangezogen werden kann, dass aber die Erwerbstätigkeit des Ehegatten neben der Kinderbetreuung bei einer intakten Ehe in einem weiteren Umfang als bei der gescheiterten Ehe als zumutbar angesehen werden muss, weil der Ehegatte durch seinen Partner bei der Betreuung der Kinder entlastet wird2.
Û
Wichtig: Unklar ist, ob die in der Entscheidung des BGH v. 28.7.2010 dargestellte Berechnungsmethode entsprechend dem Leitsatz tatsächlich nur auf den Fall anwendbar ist, dass das pflichtige Kind über höhere Einkünfte als sein Ehegatte verfügt, oder ob mit der vom BGH in der vorgenannten Entscheidung entwickelten Berechnungsmethode nicht auch der umgekehrte Fall oder andere komplexe Konstellationen des Elternunterhalts angemessen gelöst werden können. Nach zutreffender Meinung ist das der Fall3.
Beispiel4: Einkommen pflichtiges Kind Einkommen Ehegatte Familieneinkommen Anteil pflichtiges Kind am Familieneinkommen 28 % ./. Familienselbstbehalt Resteinkommen Selbstbehaltszuschlag: 400,00 × 45 % Individueller Familienselbstbehalt Anteil pflichtiges Kind: 2680,00 × 28 % Leistungsfähigkeit pflichtiges Kind: 800,00 – 750,40
800,00 Euro 2100,00 Euro 2900,00 Euro 2500,00 Euro 400,00 Euro 180,00 Euro 2680,00 Euro 750,40 Euro 49,60 Euro
(b) Pflichtiges Kind mit geringfügigem Einkommen 1579
Verfügt das unterhaltspflichtige Kind nur über ein geringfügiges Einkommen unterhalb des Selbstbehalts, stellt sich die Frage, ob es gleichwohl Elternunterhalt zahlen muss. Würde man allein auf sein Einkommen abstellen, wäre es nicht leistungsfähig. Berücksichtigt man dagegen den Anspruch des unterhaltspflichtigen Kindes auf Familienunterhalt, kann es je nach Einzelfall zur Leistungsfähigkeit kommen. Zu dieser unter der 1 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 2 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 3 Hauß, FamRB 2010, 315; Gutdeutsch, FamRZ 2010, 77; aA Günther, FamFR 2010, 433. 4 Nach Hauß, FamRB 2010, 315.
906
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1581
Kap. 6 E
Bezeichnung „verdeckte Schwiegersohnhaftung“ diskutierten Problematik hat der BGH ebenfalls Stellung genommen. Danach ist der Ehegatte des unterhaltspflichtigen Kindes nicht verpflichtet, sich zugunsten seiner Schwiegereltern in seiner Lebensführung einzuschränken, da er außerhalb des Unterhaltsschuldverhältnisses steht1. Daraus folgt allerdings nicht, wie man zunächst glauben könnte, dass es nur auf das Einkommen des unterhaltspflichtigen Kindes ankommt. Vielmehr kann nach Meinung des BGH der dem unterhaltspflichtigen 1580 Kind zu belassende angemessene Selbstbehalt auch durch den Familienunterhalt gewahrt werden. Die Höhe des anzusetzenden Familienunterhalts ist vom Tatrichter nach den im Einzelfall maßgeblichen Verhältnissen, insbesondere der Lebensstellung, dem Einkommen und Vermögen sowie dem sozialen Rang der Eheleute zu bestimmen. Zu dem auf diese Weise bestimmten Familienunterhalt haben die Ehegatten nach dem Verhältnis ihrer bereinigten Nettoeinkünfte beizutragen. Muss danach das unterhaltspflichtige Kind nicht sein gesamtes Einkommen für den Familienunterhalt einsetzen, muss es den verbleibenden Rest für den Elterunterhalt verwenden, und zwar in voller Höhe2. Gleichwohl wird der nicht unterhaltspflichtige Ehegatte, also das Schwiegerkind, nach Meinung des BGH nicht zum Unterhalt herangezogen, und zwar auch nicht mittelbar, weil sein eigener angemessener Familienunterhalt gedeckt ist und er auch die Schmälerung des Einkommens seines Ehegatten, also des pflichtigen Kindes, nicht kompensieren muss, da auch dessen angemessener Unterhalt gedeckt ist3. Voraussetzung für die Inanspruchnahme des wenig verdienenden Kindes 1581 ist aber immer, dass dieses nicht sein gesamtes Einkommen für den Familienunterhalt einsetzen muss. Dazu kann es vor allem in zwei Konstellationen kommen: – der Ehegatte verdient so gut, dass das Gesamteinkommen beider Eheleute den tatrichterlich festzustellenden Familienbedarf deutlich überschreitet4.
1 BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 218/01, FamRZ 2004, 795 = FamRB 2004, 212; BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142; BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107; BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ 2004, 366 = FamRB 2004, 73; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 2 BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 218/01, FamRZ 2004, 795 = FamRB 2004, 212; BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142; OLG Karlsruhe v. 7.7.2005 – 16 UF 50/05, OLGReport 2006, 384. 3 BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 218/01, FamRZ 2004, 795 = FamRB 2004, 212; BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142; BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107; BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ 2004, 366 = FamRB 2004, 73. 4 BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ 2004, 366 = FamRB 2004, 73.
Caspary/Hauß
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Kap. 6 E Rn. 1582
Elternunterhalt
– die Einkommensverhältnisse sind durchschnittlich, aber die Eheleute bilden davon zum Teil unterhaltsrechtlich nicht zu akzeptierendes Vermögen1. 1582
Besonders gute Einkommensverhältnisse im Sinne der ersten Fallgruppe sollen vorliegen, wenn das bereinigte Einkommen der Ehegatten den doppelten Selbstbehalt erreicht oder wenn es im Bereich der letzten Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle liegt2.
1583
Sind die Einkommensverhältnisse nur durchschnittlich, darf der Tatrichter gleichwohl nicht einfach vermuten, dass die Eheleute ihr gesamtes Einkommen zur Finanzierung ihrer Lebensführung verwenden, sondern muss konkret feststellen, ob und inwieweit ein Teil des Einkommens der Vermögensbildung dient3. Soweit die Vermögensbildung nicht in der Finanzierung eines Eigenheims besteht oder einer angemessenen zusätzlichen Altersabsicherung dient, ist sie unterhaltsrechtlich nicht zu akzeptieren und kann somit zur Leistungsfähigkeit für den Elternunterhalt führen4.
Û
Wichtig: Die Darlegungs- und Beweislast, wie sich der Familienunterhalt gestaltet und wofür das Einkommen im Einzelnen verwendet wird, liegt beim unterhaltspflichtigen Kind5. Es ist daher genau vorzutragen und sauber Beweis anzutreten.
1584
Rechnerisch ist in beiden Fällen wie folgt vorzugehen: Zunächst muss der angemessene Familienbedarf ermittelt und durch zwei geteilt werden6. Dann sind die bereinigten Nettoeinkünfte beider Ehegatten zueinander ins Verhältnis zu setzen, um zu ermitteln, mit welchem Betrag sich jeder Ehegatte am Familienunterhalt beteiligen muss. Dieser Betrag ist vom Einkommen des pflichtigen Ehegatten abzuziehen. Verbleibt danach ein überschießender Betrag, muss dieser für den Elternunterhalt verwendet werden: Beispiel: Der Ehemann M verdient 5200 und die pflichtige Ehefrau F 800 Euro. Insgesamt verfügen die Eheleute also über Einkünfte von 6000 Euro. Zu den Gesamteinkünf1 BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 218/01, FamRZ 2004, 795 = FamRB 2004, 212; BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142; BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107. 2 BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 218/01, FamRZ 2004, 795 = FamRB 2004, 212; BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107. 3 BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142. 4 BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142. 5 BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 218/01, FamRZ 2004, 795 = FamRB 2004, 212; BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142; BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107; OLG Hamm v. 2.11.2004 – 3 UF 263/00, FamRZ 2005, 193 = FamRB 2002, 37; OLG Hamm v. 22.11.2004 – 8 UF 411/00, FamRZ 2005, 1193. 6 BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ 2004, 366 = FamRB 2004, 73.
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Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1586
Kap. 6 E
ten trägt M 87 % (5200 ./. 6000 × 100) und F 13 % bei. Der vom Tatrichter festgestellte angemessene Familienbedarf beläuft sich auf 5000 Euro. F muss zur Deckung dieses Bedarfs von ihren Einkünften 13 %, also 650 Euro, einsetzen. Von ihrem Einkommen iHv. 800 Euro stehen ihr also noch 150 Euro frei zur Verfügung, die sie für den Unterhalt ihrer Eltern verwenden muss.
Unabhängig von den beiden gerade erläuterten Konstellationen kann der eigentlich nicht leistungsfähige Ehegatte nach Meinung des BGH noch in zwei weiteren Fällen doch leistungsfähig werden, nämlich:
1585
– wenn er sein geringfügiges Einkommen tatsächlich für sich verwenden kann, etwa weil er schon durch die Haushaltsführung seine Pflicht, zum Familienunterhalt beizutragen, erfüllt1 – wenn er sein geringfügiges Einkommen zwar tatsächlich für den Familienunterhalt einsetzt, dieses aber wegen der ebenfalls übernommenen Haushaltsführung nicht müsste und dadurch ein erhebliches Missverhältnis zwischen den beiderseitigen Beiträgen zum Familienunterhalt entsteht2. (c) Pflichtiges Kind ohne Einkommen Verfügt das unterhaltspflichtige Kind über kein Einkommen, kann es 1586 nach Meinung des BGH gleichwohl zumindest teilweise leistungsfähig für die Zahlung von Elternunterhalt sein, nämlich insoweit sein Anspruch auf Taschengeld nicht zur Deckung seines angemessenen Unterhaltsbedarfs benötigt wird3. Taschengeld ist grundsätzlich unterhaltspflichtiges Einkommen und muss daher auch für den Elternunterhalt eingesetzt werden, sofern der angemessene Selbstbehalt gewahrt bleibt4. Ausreichend ist auch hier, dass der angemessene Selbstbehalt durch den Familienunterhalt gedeckt ist5. Ist bei sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen der allgemeine Bedarf gedeckt, ist es aus Sicht des BGH nicht zu beanstanden, wenn das Taschengeld jedenfalls zur Hälfte für den Elternunterhalt eingesetzt werden muss6. Der Taschengeldanspruch beträgt etwa 5 % des bereinigten Nettoeinkommens des erwerbstätigen Ehegatten. Die sozialhilferechtlichen Mindestbeträge sind nach Auffassung des BGH für die Höhe des Taschengeldes nicht maßgeblich7. Der Taschengeldrechtsprechung ist in der Praxis indessen mit erheblichen Vorbehal1 BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 218/01, FamRZ 2004, 795 = FamRB 2004, 212; BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107. 2 BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 218/01, FamRZ 2004, 795 = FamRB 2004, 212: Missverhältnis verneint bei geringfügiger Beschäftigung der Ehefrau neben Haushaltsführung für Ehemann und volljähriges Kind, während Ehemann neben abhängiger Arbeit noch selbständig tätig war; BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107. 3 BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ 2004, 366 = FamRB 2004, 73. 4 BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ 2004, 366 = FamRB 2004, 73. 5 BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ 2004, 366 = FamRB 2004, 73. 6 BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ 2004, 366 = FamRB 2004, 73. 7 BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ 2004, 366 = FamRB 2004, 73.
Caspary/Hauß
909
Kap. 6 E Rn. 1587
Elternunterhalt
ten zu begegnen: Hat das Schwiegerkind ein anrechenbares Einkommen von zB 6000 Euro, betrüge der Taschengeldanspruch ca. 300 Euro. Wird davon noch Unterhalt verlangt, hätte der taschengeldberechtigte Erwachsene letztendlich weniger Taschengeld zur Verfügung, als einem Schüler zustünde. Ob das tatsächlich gerechtfertigt ist, erscheint mehr als fragwürdig. Zu Recht spielt daher die Taschengeldrechtsprechung in der Praxis kaum eine Rolle.
Û
Praxistipp: Die Grundsätze der sog. Hausmannrechtsprechung1 gelten beim Elternunterhalt nicht, weil keine gesteigerte Unterhaltspflicht besteht. Das verheiratete unterhaltspflichtige Kind kann daher nicht darauf verwiesen werden, eine Neben- oder Erwerbstätigkeit aufzunehmen, um dem Anspruch seiner Eltern auf Unterhalt nachkommen zu können, jedenfalls sofern es seine Pflicht, zum Familienunterhalt beizutragen, durch die Führung des Haushalts erfüllt2.
(d) Doppelverdienerehe 1587
Für die Doppelverdienerehe gelten die vorgenannten Grundsätze entsprechend. Auch hier kann der pflichtige Ehegatte also auch dann leistungsfähig sein, wenn sein Einkommen unter dem Mindestselbstbehalt liegt, sofern sein angemessener Unterhalt durch den Familienunterhalt gewährleistet ist3. Wird das Einkommen des unterhaltspflichtigen Ehegatten in voller Höhe für den Familienunterhalt verbraucht, ist er gleichwohl dann leistungsfähig, wenn sein Einkommen seinen angemessenen Selbstbehalt übersteigt, wobei es in diesem Fall, wie auch sonst, gerechtfertigt sein kann, nur die Hälfte des den Mindestselbstbehalt übersteigenden Einkommens für den Elternunterhalt heranzuziehen4 (vgl. Rn. 1579 ff., und 1550 ff.). cc) Unverheiratete Mutter, § 1615l BGB
1588
Auch der Anspruch der unverheirateten Mutter auf Betreuungsunterhalt nach § 1615l BGB ist gegenüber dem Anspruch auf Elternunterhalt vorrangig. Ggf. ist daher das Einkommen des unterhaltspflichtigen Kindes um den nach § 1615l BGB geschuldeten bzw. titulierten Betrag zu bereinigen. 4. Mehrere Unterhaltsschuldner und Ersatzhaftung
1589
Kommen mehrere Personen als Unterhaltsschuldner in Betracht, bestimmt sich das Rangverhältnis nach §§ 1601, 1606, 1608 BGB. 1 BGH v. 11.2.1987 – IVb ZR 81/85, FamRZ 1987, 472; BGH v. 7.11.1990 – XII ZR 123/89, FamRZ 1991, 182; BGH v. 19.11.1997 – XII ZR 1/96, FamRZ 1998, 286. 2 OLG Köln v. 29.9.1999 – 27 UF 87/99, FamRZ 2001, 437; Müller, Anm. zu OLG Frankfurt v. 20.6.2000 – 3 UF 122/99, FamRZ 2002, 570. 3 BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142. 4 BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142.
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Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1592
Kap. 6 E
a) Ehegatte des bedürftigen Elternteils Vor jeglichen Verwandten haftet nach § 1608 BGB der Ehegatte des be- 1590 dürftigen Elternteils, allerdings nur, sofern nicht sein eigener angemessener Unterhalt gefährdet wird1. Sind keine Verwandten vorhanden oder diese nicht leistungsfähig, haftet der Ehegatte verschärft, indem er auf den billigen2 oder notwendigen Selbstbehalt3 beschränkt wird. Die vorrangige Haftung des Ehegatten greift auch dann, wenn ihm nur fiktive Einkünfte zuzurechnen sind4. Beispiel: M verfügt über ein Einkommen von 2500 Euro. Seine Ehefrau F hat kein Einkommen und ist im Heim. Die ungedeckten Heimkosten belaufen sich auf 1500 Euro. Der gemeinsame Sohn S verdient 1900 Euro, ist also iHv. 200 Euro (1900– 1500 = 400 : 2) leistungsfähig. M haftet vorrangig iHv. 1072 Euro (3/7 × 2500). IHv. 200 Euro muss S für die Heimkosten von M aufkommen. Für den Restbedarf von F iHv. 228 Euro haftet M nach Billigkeit.
b) Verwandte des bedürftigen Elternteils Sind mehrere leistungsfähige und in gerader Linie Verwandte des bedürf- 1591 tigen Elternteils vorhanden, haften nach § 1606 Abs. 1 BGB die Abkömmlinge vor den Verwandten der aufsteigenden Linie, also für den Elternunterhalt die Kinder vor den Großeltern. Unter den Abkömmlingen und Verwandten einer Linie haften wiederum nach § 1606 Abs. 2 BGB die näheren vor den entfernteren Verwandten, also für den Elternunterhalt die Kinder vor den Enkelkindern und – theoretisch – die Großeltern vor den Urgroßeltern. c) Gleich nahe Verwandte Mehrere gleich nahe Verwandte, also insbesondere Geschwister, haften 1592 nicht als Gesamtschuldner, sondern entsprechend § 1606 Abs. 3 BGB anteilig nach ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen5. Beispiel: Der ungedeckte Bedarf des Vaters beträgt 1000 Euro. Seine Tochter T verdient 2700 Euro, sein Sohn S 2200 Euro monatlich. T kann also 600 Euro (2700 – 1500 = 1 OLG Düsseldorf v. 21.8.2001 – 1 UF 63/01, FamRB 2002, 69 = NJW 2002, 1353; OLG Oldenburg v. 12.2.1991 – 12 UF 136/90, FamRZ 1991, 1090; OLG Köln v. 8.6.1889 – 10 UF 40/89, FamRZ 1990, 54; OLG Zweibrücken v. 29.10.1986 – 2 UF 56/86, FamRZ 1987, 590. 2 Wendl/Dose/Wönne, § 2, Rn. 906. 3 OLG Köln v. 8.6.1889 – 10 UF 40/89, FamRZ 1990, 54. Beschränkung auf den notwendigen Selbstbehalt geht aber wohl zu weit, vgl. Wendl/Dose/Wönne, § 2, Rn. 906. 4 OLG Oldenburg v. 12.2.1991 – 12 UF 136/90, FamRZ 1991, 1090. 5 BGH v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, FamRZ 2010, 1535 = FamRB 2010, 295; BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239; OLG Celle v. 2.11.2010 – 10 UF 176/10, FamRZ 2011, 984.
Caspary/Hauß
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Kap. 6 E Rn. 1593
Elternunterhalt
1200 : 2) und S 350 Euro (2200 – 1500 = 700 : 2) für den Unterhalt des Vaters einsetzen. Insgesamt stehen folglich 950 Euro für den Unterhalt des Vaters zur Verfügung. Der Haftungsanteil von T beträgt somit 632 Euro (1000 × 600 : 950). Der Haftungsanteil von S beläuft sich auf 368 Euro (1000 × 350 : 950).
1593
Von einer exakten Quotierung kann nur dann abgesehen werden, wenn klar absehbar ist, dass das Geschwister mit dem höheren Einkommen nicht weitergehend in Anspruch genommen wird, als es seinem nach Kopfteilen ermittelten Anteil entspricht1.
Û
Praxistipp: Einschlägig hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit ist § 2 Abs. 1 FamFG (eine dem § 36 Abs. 1 Nr. 5 ZPO entpr. Regelung kennt das FamFG nicht [mehr])2.
d) Ersatzhaftung 1594
Fällt ein vorrangig haftender Verwandter wegen Leistungsunfähigkeit aus, ist gem. § 1607 Abs. 1 BGB der nachrangig haftende Verwandte verpflichtet, Unterhalt zu gewähren. Ein Regressanspruch besteht nicht, da der eigentlich vorrangig haftende Verwandte mangels Leistungsfähigkeit materiell-rechtlich nicht unterhaltspflichtig ist. Fällt dagegen ein vorrangig haftender Verwandter aus, weil die Rechtsverfolgung im Inland ausgeschlossen oder erheblich erschwert ist, muss der nachrangig haftende Verwandte zwar ebenfalls Unterhalt zahlen. Ihm steht in diesem Fall aber gem. § 1607 Abs. 2 BGB gegen den vorrangig haftenden Verwandten ein Regressanspruch zu, da der Ausfall des vorrangig haftenden Verwandten nicht auf dem Fehlen einer materiell-rechtlichen Unterhaltspflicht beruht3. Beispiel: Der ungedeckte Bedarf des Vaters V beträgt 900 Euro. Seine Tochter T verdient 3000 Euro. T ist also leistungsfähig iHv. 750 Euro (3000 – 1500 = 1500 : 2). Ihr Sohn E verdient 2500 Euro. Er ist somit leistungsfähig iHv. 500 Euro (2500 – 1500 = 100 : 2). T haftet als nähere Verwandte vorrangig. Sie zahlt jedoch nur 600 Euro. Hinsichtlich der weiteren geschuldeten 150 Euro entzieht sie sich erfolgreich der Vollstreckung. Das Sozialamt nimmt deswegen für den Restbedarf iHv. 300 Euro E in Anspruch. Da T iHv. weiteren 150 Euro leistungsfähig gewesen wäre, kann E insoweit bei T Regress nehmen, mangels darüber hinaus gehender Leistungsfähigkeit von T aber nicht hinsichtlich der weiteren von ihm geschuldeten 150 Euro.
1595
Eine entsprechende Regelung trifft § 1608 BGB unter Verweis auf § 1607 Abs. 2 und 4 BGB für den Fall, dass der vorrangig haftende Ehegatte wegen Leistungsunfähigkeit oder Erschwerung der Rechtsverfolgung aus1 BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ 2004, 366 = FamRB 2004, 73; BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186 = FamRB 2004, 144. 2 OLG Hamm v. 17.10.2002 – 2Sdb (FamS) Zust. 12/02, FamRB 2003, 152. 3 OLG Karlsruhe v. 18.12.1990 – 18 UF 117/89, FamRZ 1991, 971; AG Bad Homburg v. 2.12.1998 – 9 F 423/98, FamRZ 1999, 1450.
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Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1599
Kap. 6 E
fällt. Analog anzuwenden ist § 1607 Abs. 2 BGB bei der Haftung mehrerer gleich naher leistungsfähiger Verwandter, also wiederum vor allen Dingen, wenn mehrere leistungsfähige Geschwister vorhanden sind. Grundsätzlich ausgeschlossen ist nach § 1611 Abs. 3 BGB die Ersatzhaf- 1596 tung, wenn der Unterhaltsberechtigte seinen Unterhaltsanspruch nach § 1611 Abs. 1 BGB verwirkt hat, da der Unterhaltsberechtigte gegenüber dem Ersatzhaftenden nicht besser gestellt sein kann als gegenüber dem eigentlich Unterhaltspflichtigen1. Folgt die Verwirkung aus § 1579 BGB, ist nach herrschender Meinung (mit Ausnahme der Verwirkung nach § 1579 Nr. 1 BGB) § 1611 Abs. 3 BGB analog anzuwenden2. Dagegen schließt ein wirksamer Unterhaltsverzicht zwischen Ehegatten 1597 die Haftung nachrangig unterhaltspflichtiger Verwandten idR nicht aus3. Ist allerdings zum Zeitpunkt des Verzichts absehbar, dass der Berechtigte bedürftig wird und Sozialleistungen in Anspruch nehmen muss, ist der Verzicht idR gem. §§ 138, 242 BGB unwirksam und kann damit auch den nachrangig Haftenden nicht entgegengehalten werden4. Die Höhe des Anspruchs bestimmt sich nach dem ursprünglichen Unter- 1598 haltsanspruch. Für die Frage der Leistungsfähigkeit und die Höhe des Selbstbehaltes ist dagegen auf die Verhältnisse des Ersatzhaftenden abzustellen5. Rückständiger Unterhalt kann nur unter den Voraussetzungen des § 1613 BGB verlangt werden.
Û
Praxistipp: Dem potentiell Regresspflichtigen sollte aus Gründen der Prozessökonomie immer der Streit verkündet werden, da dieser dann alle Einwendungen, wie Leistungsunfähigkeit usw., bereits im Ausgangsprozess erheben muss.
5. Darlegungs- und Beweislast Für den Unterhaltsbedarf sowie die Bedürftigkeit ist der unterhaltsberechtigte Elternteil, in der Praxis also meist der klagende Sozialhilfeträger, darlegungs- und beweispflichtig. Ferner muss der unterhaltsberechtigte Elternteil bzw. der Sozialhilfeträger die Leistungsfähigkeit, also die Einkommens- und Vermögensverhältnisse vorrangig haftender Ehegatten oder vorrangig haftender Verwandter oder weiterer gleichrangig haftender 1 Wendl/Dose/Wönne, § 2, Rn. 907. 2 Wendl/Dose/Wönne, § 2, Rn. 907. 3 BGH v. 9.7.1992 – XII ZR 57/91, FamRZ 1992, 1403; OLG Hamm v. 26.9.2001 – 6 UF 14/01, FamRZ 2002, 693; aA OLG Frankfurt v. 24.1.1984 – 4 UF 165/83, FamRZ 1984, 395 (Verzicht wirkt nur zwischen Ehegatten, dh. nachrangige Verwandte können den bedürftigen Ehegatten auf seinen vorrangigen Anspruch gegen den anderen Ehegatten verweisen); Wendl/Dose/Wönne, § 2, Rn. 907. 4 BGH v. 17.9.1986 – IVb ZR 59/85, FamRZ 1987, 40. 5 OLG Oldenburg v. 14.12.1999 – 12 UF 149/99, FamRZ 2000, 688.
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1599
Kap. 6 E Rn. 1600
Elternunterhalt
Verwandter bzw. deren fehlende Leistungsfähigkeit darlegen und beweisen1. Nimmt der Elternteil bzw. Sozialhilfeträger nicht alle Kinder in Anspruch, ist er darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass die nicht in Anspruch genommenen Kinder nicht leistungsfähig sind2.
Û
Praxistipp: Kommt der Sozialhilfeträger diesen Anforderungen nicht nach, kann zunächst Klageabweisung wegen Unschlüssigkeit beantragt werden. UU kann man dadurch umgehen, renitente Geschwister auf Auskunft zu verklagen. Ein Kostenrisiko besteht nicht, weil auch eine erst im Laufe des Prozesses schlüssig gewordene Klageforderung noch sofort i.S.v. § 93 ZPO anerkannt werden kann3. Allerdings ist zu beachten, dass unter bestimmten Voraussetzungen auf eine genaue Quotierung verzichtet werden kann (vgl. Rn. 1593).
1600
Das in Anspruch genommene Kind (oder der Ersatzhaftende) muss darlegen und beweisen, dass es leistungsunfähig oder nur eingeschränkt leistungsfähig ist4. Das umfasst die Pflicht darzulegen und zu beweisen, wie der Familienunterhalt gestaltet ist und wofür das Einkommen im Einzelnen verwendet wird5, was insbesondere wichtig ist, wenn unterhaltsberechtigte Kinder und Ehegatten vorhanden sind (vgl. Rn. 1566 ff.).
IV. Sonstige Fragen 1. Auskunft 1601
Grundsätzlich sind nach § 1605 Abs. 1 BGB nur Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Auskunft über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu erteilen, wobei der nachrangig Unterhaltsverpflichtete erst dann Auskunft erteilen muss, wenn feststeht, dass der vorrangig haftende Unterhaltspflichtige ganz oder teilweise leistungsunfähig ist6.
1602
Der BGH hat allerdings entschieden, dass auch auf Elternunterhalt in Anspruch genommene Geschwister voneinander Auskunft verlangen können, und zwar nach § 242 BGB, sofern sie anderenfalls den eigenen Haftungsanteil nicht errechnen können7. Ggf. müssen die Geschwister auch 1 OLG Frankfurt v. 24.1.1984 – 4 UF 165/83, FamRZ 1984, 395; OLG Hamm v. 4.7.1995 – 29 U 64/92, FamRZ 1996, 116; LG Kiel v. 15.11.1995 – 5 S 42/95, FamRZ 1996, 753; LG Detmold v. 2.7.1997 – 2 S 241/96, FamRZ 1998, 47. 2 BGH v. 7.5.2003 – XII ZR 229/00, FamRZ 2003, 1836 = FamRB 2004, 39. 3 BGH v. 7.5.2003 – XII ZR 229/00, FamRZ 2003, 1836 = FamRB 2004, 39. 4 LG Detmold v. 2.7.1997 – 2 S 241/96, FamRZ 1998, 47. 5 BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 218/01, FamRZ 2004, 795 = FamRB 2004, 212; BGH v. 14.1.2004 – XII ZR 69/01, FamRZ 2004, 443 = FamRB 2004, 142; BGH v. 17.12.2003 – XII ZR 224/00, FamRZ 2004, 370 = FamRB 2004, 107. 6 LG Osnabrück v. 11.7.1984 – 1 S 251/84, FamRZ 1984, 1032. 7 BGH v. 7.5.2003 – XII ZR 229/00, FamRZ 2003, 1836 = FamRB 2004, 39.
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Elternunterhalt
Rn. 1606
Kap. 6 E
Auskunft über die Einkünfte ihrer Ehegatten erteilen, sofern diese ihre eigenen Einkommensverhältnisse über den Familienunterhalt mitbestimmen. Ein direkter Auskunftsanspruch gegen Ehegatten besteht dagegen nicht, da Ehegatten außerhalb des Unterhaltsrechtsverhältnisses stehen1. Auch gegenüber dem Sozialamt ist Auskunft zu erteilen. Nach § 94 SGB XII (früher: § 91 BSHG) geht der Auskunftsanspruch gemeinsam mit dem Unterhaltsanspruch auf den Sozialhilfeträger über2.
Û
1603
Praxistipp: Der Sozialhilfeträger kann aber auch nach § 117 SGB XIII (früher: § 116 BSHG) Auskunft verlangen, und zwar nicht nur vom Unterhaltspflichtigen selbst, sondern auch von seinem nicht von ihm getrenntlebenden Ehegatten oder Lebenspartner.
Zur Auskunft verpflichtet ist grundsätzlich jeder, der als Unterhaltspflichtiger in Betracht kommt3. Der Sozialhilfeträger kann zudem die Vorlage von Belegen verlangen. Das Auskunftsersuchen ist ein Verwaltungsakt gem. § 31 SGB X, der notfalls im Wege der Verwaltungsvollstreckung durch Verhängung von Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden kann. Die zur Auskunft Verpflichteten können lediglich solche Angaben verweigern, die sie oder die ihnen i.S.d. § 383 Abs. 1 Nr. 1–3 ZPO nahestehenden Personen dem Risiko aussetzen würden, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.
1604
Ob das Schwiegerkind gegenüber dem Sozialamt hinsichtlich seines Ver- 1605 mögens auskunftspflichtig ist, wenn der Familienunterhalt nicht aus verzehrendem Vermögenseinsatz bestritten wird, ist nicht abschließend entschieden. Gegen eine Auskunftspflicht spricht, dass das Schwiegerkind hinsichtlich der Verwendung seines Vermögens völlig frei ist und nicht erkennbar ist, wie durch Vermögenseinsatz des Schwiegerkindes der Unterhaltsanspruch der Schwiegereltern beeinflusst wird. Insoweit würde die Annahme einer Auskunftspflicht das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Schwiegerkindes verletzen. 2. Rückständiger Unterhalt und Sonderbedarf Unterhalt für die Vergangenheit sowie Sonderbedarf können grundsätz- 1606 lich nur unter den Voraussetzungen von § 1613 BGB geltend gemacht werden. Rückständiger Unterhalt kann also erst ab dem Ersten des Monats, in dem der Unterhaltspflichtige zur Auskunft über sein Einkommen 1 BGH v. 7.5.2003 – XII ZR 229/00, FamRZ 2003, 1836 = FamRB 2004, 39; OLG München v. 17.7.2000 – 26 UF 748/00, FamRZ 2002, 50; OLG Zweibrücken v. 15.12.1999 – 5 UF 114/99, FamRZ 2001, 249; LG Braunschweig v. 15.1.1998 – 4 S 43/97, FamRZ 1999, 457. 2 Der Auskunftsanspruch des Hilfeempfängers bleibt daneben bestehen, vgl. KG v. 24.3.1997 – 16 WF 8174/96, FamRZ 1997, 1405. 3 BVerwG v. 21.1.1993 – 5 C 22/90, FamRZ 1993, 1067.
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Kap. 6 E Rn. 1607
Elternunterhalt
und Vermögen aufgefordert worden ist, oder wenn die Voraussetzungen von 1613 Abs. 2 Nr. 2 BGB vorliegen, verlangt werden. Sonderbedarf ist dagegen nach § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB ohne diese Einschränkungen zu zahlen, es sei denn, die Entstehung des Anspruchs liegt länger als ein Jahr zurück. Dann muss auch für Sonderbedarf Verzug oder Rechtshängigkeit vorliegen. 1607
Zu beachten ist, dass der Sozialhilfeträger nach § 94 Abs. 4 S. 1 SGB XII (früher § 91 Abs. 3 S. 1 BSHG) unabhängig von § 1613 BGB auch ab dem Zeitpunkt Unterhalt für die Vergangenheit verlangen kann, ab dem er das unterhaltspflichtige Kind darüber informiert hat, dass er Leistungen an seine Eltern erbringt1. Diese sog. Rechtswahrungsanzeige, die meist mit einem Auskunftsersuchen verbunden wird, spielt in der Praxis eine große Rolle.
Û
Praxistipp: Nicht selten verfallen die Sozialhilfeträger allerdings anschließend in Untätigkeit2. Dauert dieser Zustand länger als ein Jahr an, sind die länger zurückliegenden Ansprüche idR verwirkt (vgl. Rn. 1613).
3. Verwirkung 1608
In Ausnahmefällen kann dem Unterhaltsanspruch der Eltern der Einwand der Verwirkung nach § 1611 Abs. 1 BGB entgegenstehen3. Liegt einer der drei Verwirkungstatbestände vor, wird Unterhalt nur nach Billigkeit geschuldet bzw. entfällt sogar ganz, wenn die Gewährung von Unterhalt dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise widersprechen würde4.
1609
Der erste Tatbestand, nämlich die Bedürftigkeit durch sittliches Verschulden, kommt vor allem bei Trunk5, Spiel- und Drogensucht in Betracht, wurde aber auch bejaht, wenn trotz ausreichender eigener Einkünfte keine angemessene Altersvorsorge betrieben wurde6.
1610
Der zweite Tatbestand, die vorsätzliche Verletzung der Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltspflichtigen, umfasst neben der Pflicht zur Zahlung von Barunterhalt auch die Pflicht zur Erbringung von Naturalunter1 BGH v. 19.2.2003 – XII ZR 67/00, FamRZ 2003, 860 = FamRB 2003, 239. 2 Vgl. BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4. 3 LG Bielefeld v. 27.12.1997 – 1b S 196/97, LG Bielefeld v. 17.12.1997 – 1b S 169/97, FamRZ 1999, 399. 4 BGH v. 19.5.2004 – XII ZR 304/02, FamRZ 2004, 1559 = FamRB 2004, 385. 5 OLG Karlsruhe v. 28.7.2010 – 16 UF 65/10, FamRZ 2010, 2082; OLG Celle v. 9.12.2009 – 15 UF 148/09, FamRZ 2010, 817. 6 AG Frankfurt a.M. v. 6.6.2001 – 35 F 7001/99, FPR 2002, 76; ebenso für Verhältnis Kind – Eltern OLG Hamm v. 19.10.2001 – 11 UF 36/01, FamRZ 2002, 1357 = FamRB 2002, 99; aA OLG Koblenz v. 2.10.2001 – 11 UF 748/00, FamRZ 2002, 1212.
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Elternunterhalt
Rn. 1612
Kap. 6 E
halt, wozu insbesondere auch die Pflicht gehört, sein Kind zu betreuen1. War der Elternteil krankheitsbedingt nicht in der Lage, sein Kind zu betreuen, war er nicht zum Unterhalt verpflichtet. Eine Verwirkung nach § 1611 S. 1 Alt. 2 BGB scheidet damit in derartigen Fällen aus2. Dagegen wurde die Verwirkung für den Fall bejaht, dass der unterhaltsberechtigte Elternteil dem pflichtigen Kind keine Ausbildung ermöglicht, sondern dieses mit 14 Jahren auf seine eigene Erwerbsverpflichtung verwiesen hat3. Der dritte Tatbestand, eine schwere Verfehlung gegen den Unterhalts- 1611 pflichtigen oder einen nahen Angehörigen, wurde bejaht, wenn der unterhaltsbedürftige Elternteil seiner Pflicht zur Zahlung von Kindesunterhalt niemals nachgekommen ist und keinerlei Kontakt zwischen Elternteil und Kind bestand4, oder wenn der Elternteil das Kind im Kleinkindalter bei den Großeltern zurückgelassen und sich in der Folgezeit nicht nennenswert um dieses gekümmert hat5. Menschlich bedauerliche, aber nicht völlig ungewöhnliche Kränkungen reichen dagegen nicht aus6. Erforderlich ist immer ein Verschulden. Vorsatz im natürlichen Sinn genügt nicht. Beruht der Kontaktabbruch daher auf einer psychischen Erkrankung des Elternteils, greift § 1611 S. 1 Alt. 3 BGB nicht ein7.
Û
Praxistipp: Auch wenn keine Verwirkung vorliegt, kann aber nach § 94 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII (früher § 91 Abs. 2 S. 2 BSHG) zumindest der Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Sozialhilfeträger ausgeschlossen sein, wenn es anderenfalls zu einer unbilligen Härte käme. Der Sozialhilfeträger kann dann also keinen Regress nehmen, dh. die Zahlungspflicht entfällt.
Eine unbillige Härte liegt vor, wenn mit dem Anspruchsübergang soziale 1612 Belange vernachlässigt würden, die nach öffentlich-rechtlichen Kriterien den Übergang des Anspruchs ausschließen8. Bejaht wurde dies vom BGH beispielsweise für den Fall, dass der bedürftige Elternteil wegen einer auf 1 BGH v. 19.5.2004 – XII ZR 304/02, FamRZ 2004, 1559 = FamRB 2004, 385. 2 BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 148/09, FamRZ 2010, 1888 m. Anm. Hauß = FamRB 2010, 360; OLG Celle v. 2.11.2010 – 10 UF 176/10, FamRZ 2011, 984. 3 AG Krefeld v. 30.10.2009 – 65 F 130/09, FamRZ 2010, 817. 4 OLG Celle v. 26.5.2010 – 15 UF 272/09, FamRZ 2010, 2082; AG Helmstedt v. 4.9.2000 – 5 F 134/00, FamRZ 2001, 1395; AG Leipzig v. 18.9.1996 – 23 C 280/95, FamRZ 1997, 965; LG Hannover v. 17.1.1991 – 3 S 247/90, FamRZ 1991, 1094. 5 BGH v. 19.5.2004 – XII ZR 304/02, FamRZ 2004, 1559 = FamRB 2004, 385. 6 OLG Karlsruhe v. 18.9.2003 – 2 UF 35/03, FamRZ 2004, 971. 7 BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 148/09, FamRZ 2010, 1888 m. Anm. Hauß = FamRB 2010, 360; OLG Celle v. 2.11.2010 – 10 UF 176/10, FamRZ 2011, 984. 8 BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 148/09, FamRZ 2010, 1888 m. Anm. Hauß = FamRB 2010, 360; BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 251/01, FamRZ 2004, 1097 = FamRB 2004, 283; BGH v. 23.7.2003 – XII ZR 339/00, FamRZ 2003, 1470 mwN; OLG Celle v. 9.12.2009 – 15 UF 148/09, FamRZ 2010, 817.
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Kap. 6 E Rn. 1613
Elternunterhalt
seine Kriegserlebnisse zurückzuführenden psychischen Erkrankung nicht in der Lage war, für das in Anspruch genommene Kind zu sorgen1. Ist die psychische Erkrankung dagegen nicht durch einen dem Staat zuzurechnenden Vorgang – wie den Kriegsdienst – verursacht, greift § 94 Abs. 1 S. 1 SGB XII nicht ein2. Soziale Belange sind aber berührt, wenn das pflichtige Kind vor Eintritt der Sozialhilfe den Elternteil über das Maß einer zumutbaren Unterhaltsverpflichtung hinaus betreut oder gepflegt hat3. 1613
Rückständiger Unterhalt kann, wie auch sonst, gem. § 242 BGB verwirkt sein, wenn er über längere Zeit nicht geltend gemacht worden ist, obwohl dies möglich gewesen wäre, und wenn der Verpflichtete sich darauf eingerichtet hat und auch einrichten durfte, der Berechtigte werde auch in Zukunft seinen Anspruch nicht geltend machen4. Dabei sind an das Zeitmoment keine strengen Anforderungen zu stellen, da von einem Unterhaltsgläubiger, der auf Unterhaltsleistungen lebensnotwendig angewiesen ist, eher als von anderen Gläubigern erwartet werden kann, dass er seine Ansprüche zeitnah durchsetzt. Grundsätzlich gilt das auch für den Sozialhilfeträger5. Das Zeitmoment ist daher idR zu bejahen, wenn die Rückstände älter als ein Jahr sind6. Auch an das Umstandsmoment hat der BGH keine allzu strengen Anforderungen gestellt. Er hielt es insbesondere nicht für erforderlich, dass der Unterhaltsverpflichtete besondere Investitionen nachweisen kann, die er gerade im Hinblick darauf, dass er nicht mehr auf Unterhalt für seine Eltern in Anspruch genommen wird, vorgenommen hat, da erfahrungsgemäß davon auszugehen sei, dass ein Unterhaltsverpflichteter seine Lebensführung an die zur Verfügung stehenden Einkünfte anpasst7. Hat der Sozialhilfeträger vor Ablauf eines Jahres immer wieder Fristen zur Stellungnahme und weiteren Sachverhaltsaufklärung eingeräumt, ist weder das Zeit- noch das Umstandsmoment erfüllt8. Hat er dagegen die ursprünglich geltend gemachte Unter1 BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 251/01, FamRZ 2004, 1097 = FamRB 2004, 283. 2 BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 148/09, FamRZ 2010, 1888 m. Anm. Hauß = FamRB 2010, 360. 3 BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 148/09, FamRZ 2010, 1888 m. Anm. Hauß = FamRB 2010, 360; BGH v. 23.6.2010 – XII ZR 170/08, FamRZ 2010, 1418 = FamRB 2010, 297; BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 251/01, FamRZ 2004, 1097 = FamRB 2004, 283; OLG Oldenburg v. 14.1.2010 – 14 UF 134/09, FamRZ 2010, 992. 4 BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4. 5 BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 148/09, FamRZ 2010, 1888 m. Anm. Hauß = FamRB 2010, 360. 6 BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4. 7 BGH v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698 = FamRB 2003, 3 und FamRB 2003, 4. Das gilt aber nicht, wenn nur das über dem angemessenen Familienunterhalt liegende Einkommen einzusetzen ist, vgl. BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 218/01, FamRZ 2004, 795 = FamRB 2004, 212. 8 BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 148/09, FamRZ 2010, 1888 m. Anm. Hauß = FamRB 2010, 360.
918
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1616
Kap. 6 E
haltsforderung außergerichtich mehrfach ermäßigt, ist der Anspruch auf höheren Unterhalt verwirkt1. 4. Verzicht Da es sich beim Elternunterhalt um einen Unterhaltsanspruch unter Ver- 1614 wandten handelt, gilt § 1614 BGB. Eltern können also gegenüber ihren Kindern auf die ihnen zustehenden Unterhaltsansprüche für die Zukunft nicht wirksam verzichten. Ein Verzicht auf rückständigen Unterhalt ist dagegen zulässig. 5. Verjährung Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts am 1615 1.1.2002 verjähren Unterhaltsansprüche gem. §§ 195, 197 Abs. 2 BGB grundsätzlich in drei Jahren. Sind die Ansprüche tituliert, beträgt die Verjährungsfrist für die bis zur Rechtskraft aufgelaufenen Leistungen nach § 197 Nr. 3 BGB 30 Jahre. Für die nach Rechtskraft fällig werdenden Leistungen gilt dagegen nach § 197 Abs. 2 BGB die Regelverjährung.
Û
Praxistipp: Nach der teilweise sehr strengen Rechtsprechung können allerdings Unterhaltsansprüche trotz Verzugs oder Titulierung schon deutlich vor Eintritt der Verjährung verwirkt sein2. Es empfiehlt sich daher, regelmäßig, am besten jedes Jahr, die Ansprüche geltend zu machen oder einen Vollstreckungsversuch zu unternehmen.
V. Bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Als Bestandteil der Rentenreform des Jahres 2001 wurde das Gesetz über 1616 die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG) verabschiedet, das am 1.1.2003 in Kraft getreten ist und bis zum 31.12.2004 galt. Danach wurden die Regelungen zur Grundsicherung in das SGB XII mit aufgenommen, das am 1.1.2005 in Kraft trat. Die Grundsicherung ist dort in §§ 41–46 SGB XII geregelt. Ziel dieser Vorschriften ist es, den Lebensbedarf alter und erwerbsgeminderter Menschen zu sichern, ohne dass der Sozialleistungsträger bei den Kindern oder Eltern des Hilfebedürftigen Rückgriff nehmen kann. Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass wegen dieser Regressmöglichkeit vor allem ältere Menschen häufig keine Sozialhilfe beantragt haben. Diesem Zustand sollte abgeholfen werden3. 1 OLG Celle v. 2.9.2008 – 10 UF 101/08, FamRZ 2009, 1076. 2 BGH v. 16.6.1999 – XII ZA 3/99, FamRZ 1999, 1422. 3 Zu den Einzelheiten vgl. Klinkhammer, FamRZ 2003, 1793 ff.; Klinkhammer, FamRZ 2002, 997 ff.
Caspary/Hauß
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Kap. 6 E Rn. 1617
Elternunterhalt
1. Voraussetzungen und Umfang der Grundsicherung 1617
Antragsberechtigt sind nach § 41 Abs. 1 und 3 SGB XII Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, die das 65. Lebensjahr oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind.
1618
Voraussetzung für die Gewährung der Grundsicherung ist nach § 41 Abs. 1 SGB XII, dass der Antragsberechtigte seinen Lebensunterhalt nicht aus seinem Einkommen und Vermögen bestreiten kann. Die Ermittlung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse erfolgt nach den in §§ 82 bis 84, 90 SGB XII geregelten Grundsätzen. Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn die Bedürftigkeit in den letzten zehn Jahren vorsätzlich oder grob fahrlässig durch den Bedürftigen selbst herbeigeführt wurde, § 41 Abs. 4 SGB XII.
1619
Unterhaltsansprüche gegen Kinder und Eltern, deren jährliches Gesamteinkommen unter 100 000 Euro liegt, sind nach § 43 Abs. 2 SGB XII bei der Einkommensermittlung nicht zu berücksichtigen. Wird aber tatsächlich laufender Unterhalt gezahlt, sind die Zahlungen als Einkommen anzurechnen. Gegenüber dem privilegierten Unterhaltspflichtigen mit einem jährlichen Einkommen unter 100 000 Euro hat der Unterhaltsberechtigte kein Wahlrecht zwischen Unterhalt und Grundsicherung. Er kann vielmehr von dem privilegierten Unterhaltspflichtigen darauf verwiesen werden, vorrangig einen Antrag auf Grundsicherung zu stellen. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn der bedürftige Elternteil mehrere Kinder hat und ein Kind unter, das andere über der Einkommensgrenze des § 43 Abs. 2 SGB XII liegt. Die Überschreitung der Einkommensgrenzen durch eines seiner Kinder lässt die Antragsberechtigung des bedürftigen Elternteils entfallen.
1620
Gegenüber anderen Unterhaltsansprüchen, also vor allem Ansprüchen gegen den Ehegatten des Antragstellers, ist dagegen die Grundsicherung nachrangig, § 43 Abs. 1 SGB XII. Da es bei der Grundsicherung keinen Regressanspruch gegen den vorrangig Unterhaltspflichtigen gibt, muss vor Gewährung der Grundsicherung abschließend geprüft werden, ob der Antragsteller in zumutbarer Weise auf die Realisierung nicht privilegierter Unterhaltsansprüche verwiesen werden kann. Die Anforderungen an die Unzumutbarkeit werden dabei wegen der fehlenden Regressmöglichkeit höher anzusetzen sein als bei der Sozialhilfe. Wird die Grundsicherung nicht sogleich gewährt, steht dem Antragsteller weiterhin die Sozialhilfe offen.
1621
Der Umfang der Leistungen der Grundsicherung ergibt sich aus § 42 SGB XII. Er entspricht im Wesentlichen der Sozialhilfe bzw. liegt zum Teil sogar noch darunter.
920
Caspary/Hauß
Elternunterhalt
Rn. 1622
Kap. 6 E
2. Auswirkungen auf den Elternunterhalt Die Auswirkungen der Grundsicherung auf den Elternunterhalt unter- 1622 scheiden sich deutlich danach, ob der bedürftige Elternteil in einem Heim untergebracht ist oder nicht. In den in der Praxis häufigsten Fällen der Heimunterbringung ergibt sich eine Entlastung zugunsten der unterhaltspflichtigen Kinder lediglich bei gehobenen Einkommensverhältnissen, ohne dass die 100 000 Euro-Grenze überschritten wird, wie die folgenden Beispiele1 zeigen: Beispiel 1: Die 70-jährige O ist verwitwet. Sie wohnt in einer Mietwohnung, für die sie 300 Euro zahlen muss und bezieht eine Rente von 400 Euro. Tochter T ist alleinstehend und verdient 2100 Euro monatlich. (1) Berechnung bis Inkrafttreten des GSiG bzw. SGB XII Der Mindestbedarf von O beläuft sich nach der Düsseldorfer Tabelle auf 770 Euro. Hierauf anzurechnen ist ihre Rente iHv. 400 Euro, so dass sich ein ungedeckter Bedarf von 370 Euro ergibt. T ist unter Berücksichtigung des Selbstbehaltes von 1500 Euro allerdings nur iHv. 300 Euro leistungsfähig (2100 – 1500 = 600 : 2). (2) Berechung nach Inkrafttreten des GSiG bzw. SGB XII Der Mindestbedarf von O beläuft sich wiederum auf 770 Euro. Nach dem SGB XII hat O Anspruch auf den Regelsatz von 345 Euro und zusätzlich 300 Euro für Unterkunft und Heizung, insgesamt also auf 645 Euro. Hierauf ist ihre Rente von 400 Euro anzurechnen. Als Grundsicherung sind also 245 Euro zu leisten. Zieht man diesen Betrag und die Rente von 400 Euro vom Mindestbedarf der O iHv. 770 Euro ab, verbleibt ein ungedeckter Bedarf von 125 Euro, für den T aufkommen muss. Die Entlastung von T durch die Grundsicherung beläuft sich somit auf 225 Euro (350–125). Allerdings wäre in einem solchen Fall stets zu prüfen, ob der Unterhaltspflichtige nicht seine Lebensverhältnisse seiner finanziellen Leistungsfähigkeit anzupassen hätte. Beispiel 2: Die 80-jährige O ist im Pflegeheim und fällt in Pflegestufe III. Sie ist anerkannt schwerbehindert. Ihr Ehemann ist verstorben. Sie erhält eine Rente iHv. 300 Euro und Pflegegeld iHv. 1482 Euro. Die monatlichen Heimkosten belaufen sich auf 3600 Euro zuzüglich eines Taschengeldes iHv. 100 Euro. Der alleinstehende Sohn S verdient monatlich 2500 Euro. (1) Berechnung bis Inkrafttreten GSiG bzw. SGB XII Der Bedarf von O beläuft sich auf insgesamt 3700 Euro. Hierauf sind die Rente von O iHv. 300 Euro und das Pflegegeld iHv. 1482 Euro anzurechnen. Es ergibt sich also ein ungedeckter Bedarf von 1986 Euro. Der Sohn S ist nach Abzug seines Selbstbehaltes von 1500 Euro lediglich iHv. 500 Euro leistungsfähig (2500 – 1500 = 100 : 2). (2) Berechnung nach Inkrafttreten GSiG bzw. SGB XII O hat nach dem SGB XII Anspruch auf den Regelsatz von 345 Euro zuzüglich eines Zuschlags von 58,65 Euro gem. § 30 Abs. 1 SGB XII und Kosten für Unterkunft und Heizung iHv. 350 Euro, insgesamt also auf 753,65 Euro. Hierauf ist die Rente von O iHv. 300 Euro anzurechen. Als Grundsicherung sind also 453,65 Euro zu 1 Die Beispiele wurden von Klinkhammer, FamRZ 2002, 997 übernommen und aktualisiert.
Caspary/Hauß
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Kap. 6 E Rn. 1623
Elternunterhalt
leisten. Zieht man vom Unterhaltsbedarf iHv. 3700 diesen Betrag sowie die Rente iHv. 300 Euro und die Pflegeversicherung iHv. 1432 Euro ab, verbleibt ein ungedeckter Bedarf iHv. 1514,35. Es ergibt sich somit im Vergleich zur bisherigen Rechtslage keine Entlastung für S, der nach wie vor Unterhalt iHv. 500 Euro leisten muss.
1623
Eine Entlastung durch die Grundsicherung würde in diesem Fall erst ab einem Nettoeinkommen des Sohnes von rund 5500 Euro und mehr eintreten, da erst dann seine Leistungsfähigkeit über dem ungedeckten Bedarf läge (5500 – 1500 = 4000 : 2 = 2000).
1624
Diese Begünstigung von Beziehern gehobener Einkünfte erscheint ebenso ungereimt wie die Tatsache, dass ein wirtschaftlich leistungsfähiges Kind mit einem Einkommen von über 100 000 Euro auch für seine weniger leistungsfähigen Geschwister den Regressausschluss aufhebt, oder die Tatsache, dass freiwillige Unterhaltsleistungen als Einkommen gewertet werden und die Grundsicherung insoweit ausschließen1. Insgesamt ist daher festzustellen, dass das Grundsicherungsgesetz nicht nur für die Betroffenen wenig bringt2, sondern auch die unterhaltspflichtigen Kinder nur in Ausnahmefällen entlastet, nämlich vor allem, wenn die Eltern noch einen eigenen Haushalt führen oder – in den weitaus häufigeren Fällen der Heimunterbringung – wenn das Kind über ein außergewöhnlich gutes Einkommen verfügt, aber noch nicht 100 000 Euro im Jahr verdient.
1 Vgl. Klinkhammer, FamRZ 2003, 1793 ff. 2 Auf der Leistungsebene sogar gar nichts. Der Vorteil besteht im Grunde nur im Regressausschluss.
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Caspary/Hauß
Kapitel 7 Ehewohnung und Haushaltsgegenstände Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . II. Die Überlassung der Ehewohnung 1. Arbeitshinweise (Checkliste) . 2. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . 3. Begriff der Ehewohnung . . . . . . 4. Endgültige Überlassung der Ehewohnung a) Allgemeine Überlassungskriterien nach § 1568a BGB . aa) Kindeswohl. . . . . . . . . . . . bb) Lebensverhältnisse der Ehegatten . . . . . . . . . . . . . cc) Entscheidung nach Billigkeitsgesichtspunkten b) Besondere Eigentumsverhältnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ehewohnung im Eigentum eines oder beider Ehegatten . . . . . . . . . . . . . bb) Dienst- und Werkswohnungen . . . . . . . . . . . . c) (Richterlicher) Eingriff in das Mietverhältnis . . . . . . . . . aa) Änderung eines bestehenden Mietvertrags. . . . bb) Neubegründung eines Mietverhältnisses . . . . . . d) Zusatzanträge . . . . . . . . . . . . . 5. Vorläufige Überlassung der Ehewohnung für die Zeit der Trennung nach § 1361b BGB . . a) Zuweisungsvoraussetzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beweisschwierigkeiten beim Zuweisungskriterium „unbillige Härte“ . . . . . . . . . . c) Maßnahmen bei Kündigung des Mietvertrags oder Verkauf der Ehewohnung durch einen der Ehegatten aa) Beide Ehegatten als Mieter der Ehewohnung . . . . bb) Nur ein Ehegatte als Mietvertragspartei . . . . . cc) Verkauf durch den Eigentümer-Ehegatten . . . .
1
6 7 12
16 17 20 23 25 26 30 32 35 38 41 44 47 55
59 61 65
d) Besitz sowie Zutrittsrechte und -verbote an der Ehewohnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 e) Nutzungsvergütung in der Zeit des Getrenntlebens aa) Allgemeine Voraussetzungen. . . . . . . . . . . . . . 90 bb) Mietwohnungen. . . . . . . . 93 cc) Ehewohnung im Eigentum eines oder beider Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . 98 dd) Höhe der Nutzungsvergütung. . . . . . . . . . . . . . 102 6. Durchsetzung des Anspruchs auf Wohnungsüberlassung a) Besondere Verfahrensvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Wahl der Verfahrensart . . . . . 114 c) Insbesondere: Vorläufiger Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . 117 III. Auseinandersetzung der Haushaltsgegenstände 1. Arbeitshinweise (Checkliste) . . 122 2. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . 123 3. Begriff der „Haushaltsgegenstände“ . . . . . . . . . . . . . . . . 126 a) Begriffbestimmung durch die Rechtsprechung . . . . . . . . 127 b) Abgrenzung zu Gegenständen des persönlichen Gebrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 c) Abgrenzung zum Zugewinnausgleich . . . . . . . . . . . . . 141 4. Eigentumsverhältnisse an den Haushaltsgegenständen . . . . . . . 146 a) Die Eigentumsvermutung des § 1568b Abs. 2 BGB . . . . . 147 b) Alleineigentum eines Ehegatten durch Kauf? . . . . . . . . . 150 c) Geschenkte oder geerbte Haushaltsgegenstände . . . . . . 154 5. Endgültige Überlassung nach § 1568b BGB a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Verteilungsgrundsätze . . . . . . 162 aa) Kindeswohl . . . . . . . . . . . . 163 bb) Lebensverhältnisse der Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . 165
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Kap. 7 Rn. 1 cc) Aufteilung nach Billigkeitsgesichtspunkten . . . c) Ausgleichszahlungen . . . . . . 6. Besonderheiten bei Überlassung während des Getrenntlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Herausgabeanspruch . . . . . . . b) Anspruch auf Gebrauchsüberlassung bei Alleineigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verteilung der gemeinsamen Haushaltsgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Entscheidung und Vergütungsfestsetzung . . . . . . . . . . 7. Ansprüche aus außergerichtlicher Einigung der Beteiligten
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
166 170 174 176 180 186 188 190
8. Durchsetzung des Anspruchs a) Besondere Verfahrensvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 b) Wahl der richtigen Verfahrensart . . . . . . . . . . . . . . 197 c) Ermittlung des Hausrats aa) Vollständige Ermittlung . 204 bb) Auskunftsanspruch . . . . . 206 d) Vollstreckung titulierter Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . 209 e) Schadensersatz . . . . . . . . . . . . 215 f) Verbotene Eigenmacht aa) Eigenmächtig weggeschaffte Haushaltsgegenstände . . . . . . . . . . . . 218 bb) Nicht abgeholte Haushaltsgegenstände . . . . . . . 222
I. Vorbemerkung 1
Das am 1.9.2009 in Kraft getretene „Gesetz zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts“1 hat auch für die Behandlung der Ehewohnung und der Haushaltsgegenstände (früher: Hausrat) anlässlich der Scheidung weitreichende Änderungen gebracht. Die HausratsVO, mit der das Reichsjustizministerium im Jahre 1944 auf die kriegsbedingte Verknappung von Wohnraum und Hausrat reagiert hat, ist vollständig aufgehoben worden. Stattdessen wurde im 7. Titel des 4. Buches BGB nach dem Untertitel 1, der die Ehescheidungsgründe behandelt, ein Untertitel 1a mit der Überschrift „Behandlung der Ehewohnung und der Haushaltsgegenstände anlässlich der Scheidung“ (§§ 1568a, 1568b) eingefügt. Für die Trennungszeit verbleibt es bei den entsprechenden §§ 1360a und 1360b BGB.
2
Auseinandersetzungen über Ehewohnung und Haushaltsgegenstände sind unter Anwälten meist nicht sonderlich beliebt. Dies liegt daran, dass das Verhältnis der Eheleute zur gemeinsam bewohnten Wohnung und den während des Zusammenlebens genutzten Gegenständen oft in hohem Maße emotional besetzt ist. Allein schon die Erfassung des Sachverhalts ist oft mühsam und zeitaufwendig. Trotzdem gilt es, gerade auch diese Anliegen der Mandantschaft sorgfältig zu bearbeiten, da hier oft die Grundlagen für ein Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Anwalt geschaffen werden.
3
Bedauerlicherweise befördert die Reform des Familienrechts das Interesse der Anwaltschaft an den Themen Ehewohnung und Haushaltsgegenstände nicht, im Gegenteil: § 48 FamGKG schreibt für Ehewohnungssachen nach § 200 Abs. 1 Nr. 1 FamFG einen Wert von 3000 Euro und für Verfah1 V. 6.7.2009, BGBl. I, S. 1696.
924
Viethen
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 6
Kap. 7
ren nach § 200 Abs. 1 Nr. 2 FamFG einen Wert von 4000 Euro fest. In Haushaltssachen nach § 200 Abs. 1 Nr. 1 FamFG beträgt der Verfahrenswert sogar nur 2000 Euro, in Verfahren nach § 200 Abs. 2 Nr. 2 FamFG 3000 Euro. § 48 Abs. 3 FamGKG erlaubt dem Gericht lediglich dann eine Korrektur des Verfahrenswerts – nach oben oder unten –, wenn der Regelstreitwert nach den besonderen Umständen des Einzelfalls unbillig ist. Gerade durch eine Entscheidung im Wohnungszuweisungsverfahren stel- 4 len sich oft auch die Weichen für das weitere Schicksal der ganzen Familie. Unabhängig von seiner Verpflichtung, den Mandanten und seine Interessen zu vertreten, trifft den Anwalt insoweit auch eine besondere Verantwortung, insbesondere wenn minderjährige Kinder von der Entscheidung über die Ehewohnung der Eltern betroffen sind. In solchen Verfahren ist „Gewinnen um jeden Preis“ nicht immer das Ziel, auf das hin Beratung und Vertretung des Mandanten ausgerichtet sein sollten. Dass die Eheleute selbst in die Aufarbeitung ihrer (gescheiterten) Ehe zutiefst emotional verstrickt und deshalb oft nur eingeschränkt in der Lage sind, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen, darf das Gesichtsfeld des Anwalts nicht eingrenzen. Der Wunsch nach Vergeltung für angeblich oder tatsächlich erlittene Verletzungen der Vergangenheit ist kein tragfähiges Motiv für die Gestaltung der Zukunft. Dies alles betrifft in gleichem Maß auch Lebenspartnerschaften nach dem LPartG. Gem. § 17 LPartG gelten für die Behandlung der gemeinsamen Wohnung und der Haushaltsgegenstände der Lebenspartner §§ 1568a und 1568b BGB entsprechend. Eine ausdrückliche Regelung über die Anwendung der Vorschriften für die Trennungszeit (§§ 1360a, 1360b BGB) enthält die Vorschrift nicht. Im Übrigen sind die Vorschriften über die Ehewohnung und der Haushaltsgegenstände auf nichteheliche Lebensgemeinschaften weder direkt noch analog anwendbar1.
5
II. Die Überlassung der Ehewohnung 1. Arbeitshinweise (Checkliste) – Name und Anschrift beider Beteiligten, berufliche Stellung, finanzielle Verhältnisse, Vermögen – Liegt eine „Ehewohnung“ vor? – Anschrift der Wohnung, genaue Beschreibung der Lage im Haus, Anzahl der Zimmer, Funktionsräume und Nebenräume – Zahl der Bewohner, Alter der Kinder, deren besondere Verhältnisse (Schulbesuch, Fremdbetreuung etc.) und Zuordnung zu den Elternteilen
1 OLG Hamm v. 11.4.2005 – 4 WF 86/05, FamRZ 2005, 2085 = FamRB 2005, 319.
Viethen
925
6
Kap. 7 Rn. 7
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
– Eigentumsverhältnisse, Name und Anschrift der Vermieters, dessen Haltung bzw. Interessen bei endgültiger Zuweisung/Umgestaltung des Mietverhältnisses – Zuweisungskriterien bei vorläufiger Zuweisung: schwere Härte, Kindeswohl – Zuweisungskriterien bei endgültiger Zuweisung: auch hier Kindeswohl. Daneben auch: Eigentumsverhältnisse, gesundheitliche Verhältnisse (und darauf fußende Ein- und Umbauten), Mitgliedschaft in Wohnungsbaugenossenschaft, Erschwerung des Umzugs durch Alter oder Krankheit, Möglichkeit, eine Ersatzwohnung zu finden. – Erfolgte Aufforderung an den gegnerischen Ehegatten zum Auszug; Reaktion? – Vorübergehende oder dauerhafte Ausweichmöglichkeiten des anderen Ehegatten 2. Grundsätzliches 7
Die endgültige Zuweisung der Ehewohnung richtet sich nach § 1568a BGB. Sie betrifft die Nutzung der Ehewohnung für die Zeit ab Rechtskraft der Ehescheidung.
8
Dabei greift die endgültige Entscheidung über die Zuweisung der Ehewohnung in das Rechtsverhältnis zwischen dem Eigentümer der Wohnung bzw. dem Vermieter und den Ehegatten ein. Das Gleiche gilt auch für eine Einigung der Ehegatten darüber, welchem von ihnen die Wohnung nach der Scheidung überlassen wird. Zeitpunkt für die Übernahme des Mietverhältnisses bzw. den Eintritt in das Mietverhältnis des überlassenden Ehegatten ist entweder die rechtskräftige Endentscheidung im Wohnungszuweisungsverfahren oder aber der Zeitpunkt, in dem die Mitteilung der Ehegatten über die Überlassung der Wohnung an einen von ihnen dem Vermieter zugeht. Besteht noch kein Mietverhältnis, so kann der Richter ein solches begründen (§ 1568a Abs. 5 BGB).
9
Der Anspruch auf Eintritt in ein bestehendes Mietverhältnis oder auf Neubegründung eines Mietverhältnisses endet jedoch nach § 1568a Abs. 6 BGB – wenn er nicht vorher rechtshängig gemacht wurde – ein Jahr nach Rechtskraft der Endentscheidung in der Scheidungssache.
10 Während oder zur Durchführung des Getrenntlebens erfolgt die Zuweisung der Ehewohnung nach § 1361b BGB unter Beachtung besonderer Voraussetzungen. Es handelt sich jedoch lediglich um eine Nutzungsregelung zwischen den Ehegatten; ein Eingriff in das Mietverhältnis ist im Verfahren nach § 1361b BGB nicht zulässig1.
1 OLG Hamm v. 18.1.2000 – 7 WF 31/00, FamRZ 2000, 1102.
926
Viethen
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 15
Kap. 7
§ 1568a BGB sieht die Teilung einer Wohnung unter den Ehegatten an- 11 ders als der frühere § 6 HausratsVO nicht vor. Für die Zeit der Trennung ist jedoch nach wie vor eine Aufteilung der Wohnung unter den Ehegatten möglich. 3. Begriff der Ehewohnung Die Ehewohnung umfasst die von den Eheleuten und ggf. den (gemeinsamen) Kindern bewohnte Wohnung bzw. das gemeinsam bewohnte Eigenheim. Unerheblich ist dabei, wem die Wohnung oder das Haus gehört, oder ob die einzelnen Familienmitglieder dort polizeilich gemeldet sind.
12
Der Begriff der Ehewohnung ist weit auszulegen. Darunter fallen auch 13 Zweit- und Wochenendwohnungen sowie Ferienwohnungen. Die Ehegatten können durchaus zwei oder mehrere „Ehewohnungen“ bewohnen, die weder nach Größe und Ausstattung noch nach der durchschnittlichen Dauer der Nutzung durch die Eheleute gleichwertig sein müssen1. Der BGH2 hat selbst für eine Wohnlaube (Gartenhaus) entschieden, dass solche Räumlichkeiten, wie auch ein Wochenendhaus, als Ehewohnung gelten können, wenn sie über eine entsprechende Größe und Einrichtung verfügen und in der Vergangenheit von der Familie tatsächlich zum Wohnen und nicht nur zu vorübergehenden Tagesaufenthalten oder für wenige Wochen im Jahr genutzt wurden3. Dies soll selbst für einen Wohnwagen oder ein Wohnmobil gelten4. Allerdings wird gefordert, dass der Wagen auf einem festen Platz nicht nur zum vorübergehenden Gebrauch, etwa im Urlaub, abgestellt ist; sonst soll es sich um einen Haushaltsgegenstand handeln. Entscheidendes Kriterium für den Begriff der Ehewohnung ist demnach immer das „Wohnen“ als Aufenthalt, der auf eine gewisse Dauer angelegt ist und den Ort des Wohnens zum wenigstens zeitweiligen Lebensmittelpunkt macht.
14
Die Eigenschaft als Ehewohnung fällt auch nicht dadurch weg, dass einer 15 der Ehegatten den Besitz an der Wohnung aufgibt und vorübergehend auszieht5. Das Gleiche gilt, wenn die Wohnung aus sonstigen Gründen nur von einem Ehegatten bewohnt wird, etwa weil sich der andere in Strafhaft befindet. Etwas anderes soll allerdings gelten, wenn der Auszug aus
1 OLG Brandenburg v. 17.1.2008 – 10 WF 311/07 und 10 WF 2/08, FamRZ 2008, 1930. 2 BGH v. 21.3.1990 – XII ARZ 11/90, FamRZ 1990, 987. 3 Vgl. auch OLG Bamberg v. 1.2.2000 – 7 UF 212/00, FamRZ 2001, 1316; OLG Naumburg v. 7.9.2004 – 3 WF 137/04, FamRZ 2005, 1269 = FamRB 2005, 66. 4 MüKo-BGB/Müller-Gindullis, § 1 HausratsVO aF., Rn. 6. 5 OLG Karlsruhe v. 13.10.1998 – 2 WF 97/98, FamRZ 1999, 1087; OLG Koblenz v. 13.2.2006 – 7 WF 102/06, FamRZ 2006, 1207; KG v. 18.12.2006 – 25 W 42/06, FamRZ 2007, 908.
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Kap. 7 Rn. 16
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
der Ehewohnung endgültig war1. Für den Wegfall der Eigenschaft als „Ehewohnung“ wird vielfach gefordert, dass die Ehegatten eine eindeutige und endgültige Entscheidung über die weitere Nutzung durch einen von ihnen sowie eine ggf. zu zahlende Nutzungsentschädigung getroffen haben2.
Û
Wichtig: Dies wird nach § 1361b Abs. 4 BGB unwiderleglich vermutet, wenn der nach der Trennung ausgezogene Ehegatte sechs Monate nach dem Auszug keine ernstliche Rückkehrabsicht bekundet hat. Auch wenn nach der Trennung einer der Ehegatten allein eine Wohnung bezieht, handelt es sich bei dieser neuen Wohnung definitiv nicht mehr um eine Ehewohnung.
4. Endgültige Überlassung der Ehewohnung a) Allgemeine Überlassungskriterien nach § 1568a BGB 16 § 1568a Abs. 1 BGB nennt grundsätzliche Entscheidungskriterien für die Überlassung einer Ehewohnung. Es besteht nach neuem Recht ein Anspruch des einen Ehegatten auf Überlassung der Ehewohnung gegen den anderen, wenn er auf die Nutzung der Wohnung unter Berücksichtigung des Wohls der im Haushalt lebenden Kinder und der Lebensverhältnisse der Ehegatten in stärkerem Maße angewiesen ist als der andere Ehegatte oder wenn die Überlassung aus anderen Gründen der Billigkeit entspricht. Die Vorschrift enthält drei unbestimmte Rechtsbegriffe, nämlich das Kindeswohl, die Lebensverhältnisse der Ehegatten und Billigkeitsgründe, die anhand der zur früheren HausratsVO ergangenen Rechtsprechung auszulegen sind. aa) Kindeswohl 17 Das Wohl der Kinder, und zwar auch der nicht gemeinsamen oder auch volljährigen Kinder, ist das überragende Kriterium für die Entscheidung darüber, welchem Ehegatten die Wohnung zu überlassen ist3. Den Kindern soll, wenn die Ehe der Eltern scheitert, solange wie möglich ihr häusliches Umfeld erhalten bleiben. Deswegen soll dem Ehegatten, bei dem die Kinder ihren Aufenthaltsort haben bzw. dem die elterliche Sorge übertragen wurde, auch die Ehewohnung verbleiben. Auch einem Gericht, das die Räumung einer Wohnung in einem normalen Zivilverfah1 KG v. 6.8.1992 – 18 UF 3863/92, NJW-RR 1993, 132. 2 OLG Köln v. 17.3.2010 – 27 UF 28/10, FamRZ 2011, 372; OLG Hamm v. 1.7.2010 – II-3 UF 222/09, FamRZ 2011, 481. 3 KG v. 8.11.1990 – 16 WF 5430/90, FamRZ 1991, 467; OLG Schleswig v. 23.3.1991 – 8 UF 250/90, FamRZ 1991, 1301; OLG Bamberg v. 18.3.1996 – 7 UF 225/95, FamRZ 1996, 1293; OLG Celle v. 10.11.2005 – 10 UF 268/05, FamRZ 2006, 1143; exemplarisch zum Abwägungsprozess: OLG Karlsruhe v. 10.7.1981 – 18 UF 65/81, FamRZ 1988, 1987.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 21
Kap. 7
ren verfügt, ohne die Entscheidung in einem parallel dazu anhängigen Wohnungszuweisungsverfahren abzuwarten, wird ausdrücklich die Berücksichtigung des Kindeswohls auferlegt1. Nach § 205 FamFG soll das Gericht in Wohnungszuweisungssachen nun- 18 mehr das Jugendamt anhören, wenn Kinder im Haushalt der Ehegatten leben. Wenn die Anhörung nur deshalb unterblieben ist, weil Gefahr im Verzug herrschte, ist sie unverzüglich nachzuholen.
Û
Praxistipp: Die eindeutige Hervorhebung des Kindeswohls als Hauptkriterium der Wohnungszuweisung ist verständlich, zeitigt jedoch oft auch fatale Folgen. Der Anwalt, der für seinen Mandanten die Ehewohnung erstreiten will, muss zwingend darauf bedacht sein, auch den gewöhnlichen Aufenthaltsort der Kinder bei seinem Mandanten zu sichern, ggf. durch Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts als Teil der elterlichen Sorge.
Der umgekehrte Fall betrifft den Elternteil, der sich die elterliche Sorge 19 bzw. den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes in seinem Haushalt sichern will und deshalb das Wohnungszuweisungsverfahren anstrengt. Erfahrungsgemäß tendieren Kinder, die sich nicht zwischen den Eltern entscheiden können oder wollen, dazu, in der bisherigen Familienwohnung zu bleiben. bb) Lebensverhältnisse der Ehegatten Die Anknüpfung an die Lebensverhältnisse der Ehegatten soll sicherstellen, dass bei der gerichtlichen Entscheidung alle Umstände des Einzelfalls Berücksichtigung finden können. Grundsätzlich soll derjenige Ehegatte die Wohnung behalten, der unter Berücksichtigung dieser Umstände stärker auf sie angewiesen ist.
20
Bei der Entscheidung können zB folgende Gründe zu berücksichtigen sein:
21
– die Möglichkeiten eines Ehegatten, sich eine Ersatzwohnung zu beschaffen; – die Aufwendungen, die ein Ehegatte für die Wohnung allein erbracht hat; – die wirtschaftlichen Verhältnisse beider Eheleute2; – die Notwendigkeit der Ehewohnung für den Lebensunterhalt (Nähe zum Arbeitsplatz, insbes. wenn ein Ehegatte behindert ist; Wohnung auf gepachtetem Hof);
1 BVerfG v. 12.5.2006 – 1 BvR 254/06, FamRZ 2006, 1596 = FamRB 2007, 66. 2 KG v. 28.8.1987 – 17 UF 1644/87, FamRZ 1988, 182.
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Kap. 7 Rn. 22
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
– der Umstand, dass die Wohnung schon vor der Eheschließung oder seit vielen Jahren allein bewohnt wurde1; – persönliche Verhältnisse, insbesondere Alter, Gesundheitszustand2, Hilfsbedürftigkeit und entsprechende Hilfsmöglichkeiten in der Umgebung. 22 Der Wunsch, die Wohnung nicht selbst weiter zu benutzen, sondern optimal weitervermieten zu können, rechtfertigt die Zuweisung nicht3. cc) Entscheidung nach Billigkeitsgesichtspunkten 23 Sind beide Eheleute gleichermaßen auf die Wohnung angewiesen, kann die Überlassung der Ehewohnung gem. § 1568a Abs. 1 BGB auch gefordert werden, wenn dies aus anderen Gründen der Billigkeit entspricht. Eine Entscheidung nach Billigkeitsgesichtspunkten ist nur eingeschränkt einer Überprüfung zugänglich. Es fließen die eigenen Vorstellungen des Richters über die Gründe ein, die die weitere Nutzung der Ehewohnung durch einen der Ehegatten als „billig“, mithin „gerecht“ erscheinen lassen. Die Kenntnis von der Haltung des Familienrichters, etwa zu ehelichen Verfehlungen, beeinflusst demnach Ausmaß und Ausrichtung des anwaltlichen Vortrags. 23a
Sind beide Ehegatten in gleichem Maße auf die Nutzung der Ehewohnung angewiesen und liegen auf Seiten beider Beteiligten die Vorausssetzungen für eine Überlassung der Ehewohnung nicht vor, so unterbleibt eine gerichtliche Zuweisung4.
24 Dabei sind nach der Rechtsprechung grundsätzlich die Gründe, die zum Scheitern der Ehe geführt haben, bei der Entscheidung über die endgültige Zuweisung der Ehewohnung nicht zu berücksichtigen; dies soll nur für Ausnahmefälle gelten, etwa wenn einem der Ehegatten das aus dem Unterhaltsrecht (§ 1579 Nr. 7 BGB) bekannte schwerwiegende, eindeutig bei ihm liegende Fehlverhalten vorgeworfen werden kann5. Trotzdem ist immer wieder eine Neigung der Gerichte zu beobachten, demjenigen die Überlassung der Wohnung zu verweigern, der (angeblich) das Verschulden am Scheitern der Ehe trägt. Der Anwalt muss also auch im Verfahren nach § 1568a BGB auf solche Ausführungen des Gegners eingehen, will er den Anspruch seines Mandanten nicht gefährden.
1 AG Königstein v. 21.12.2000 – 10 F 285/00, FamRZ 2002, 973. 2 OLG Jena v. 30.5.1996 – UF 60/96, FamRZ 1997, 559. 3 OLG Karlsruhe v. 13.10.1998 – 2 WF 97/98 und 2 WF 100/98, FamRZ 1999, 1087. 4 OLG Schleswig v. 24.3.2010 – 15 UF 166/09, FamRZ 2010, 1985 = FamRB 2010, 327. 5 KG v. 28.8.1987 – 17 UF 1644/87, FamRZ 1988, 182.
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Rn. 29
Kap. 7
b) Besondere Eigentumsverhältnisse § 1568a BGB enthält neben den allgemeinen Überlassungskriterien besondere Regelungen, wenn die Ehewohnung im eigenen Haus eines der Ehegatten liegt oder wenn es sich um eine Dienst- oder Werkwohnung handelt.
25
aa) Ehewohnung im Eigentum eines oder beider Ehegatten Bis zur Rechtskraft der Ehescheidung hat auch der Ehegatte, der nicht Eigentümer der Ehewohnung ist, ein aus der Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft nach § 1353 BGB resultierendes Recht, die Ehewohnung zu nutzen. An den Eigentumsverhältnissen ändert dies allerdings nichts. In diese kann der Richter, der über die Ehewohnung zu entscheiden hat, niemals verändernd eingreifen.
26
Ist einer der Ehegatten allein oder gemeinsam mit einem Dritten Eigen- 27 tümer des Hauses, in dem sich die Ehewohnung befindet, so soll die Wohnung dem anderen nur zugewiesen werden, wenn dies erforderlich ist, um eine „unbillige Härte“ zu vermeiden. Das Gleiche gilt, wenn einem Ehegatten allein oder gemeinsam mit einem Dritten ein Nießbrauch, das Erbbaurecht oder ein dingliches Wohnrecht an dem Grundstück zusteht. An das Kriterium der „unbilligen Härte“ sind strenge Anforderungen zu stellen, wird doch durch die Zuweisung gegen den Willen des Eigentümer-Ehegatten in eine Rechtsposition mit Verfassungsrang eingegriffen. Die Wohnungszuweisung an den Nicht-Eigentümer muss dringend not- 28 wendig sein, um eine für den Betroffenen unerträgliche Belastung abzuwenden1, etwa zur Vermeidung von Obdachlosigkeit, insbesondere für die von dem betroffenen Ehegatten betreuten Kinder, oder bei zwingenden Erfordernissen, aus beruflichen oder familiären Gründen. Reine Unbequemlichkeiten oder eine schlechtere Unterbringung sind nicht entscheidungserheblich. Auch § 1568a BGB schweigt jedoch zu dem Fall, dass beide Eheleute Ei- 29 gentümer der in Streit stehenden Wohnung sind. Dies entspricht dem früher einschlägigen § 3 HausratsVO. Die Rechtsprechung wandte bei gemeinsamem Miteigentum der Eheleute jedoch nicht § 745 BGB an, wonach jeder Eigentümer eine dem billigem Ermessen entsprechende Verwaltung und Benutzung der gemeinsamen Immobilie verlangen konnte, sondern ebenfalls die damals geltenden Vorschriften der HausratsVO. Dies ist auch heute noch sachgerecht, da die materielle Problemlage bei gemeinsamem Eigentum der Eheleute eher dem Regelungsgehalt des § 1568a BGB entspricht als der allgemeinen Interessenlage nicht verheirateter Gemeinschaftseigentümer. Obergerichtliche Entscheidungen zum neuen Recht stehen noch aus. 1 OLG Naumburg v. 2.8.2001 – 14 UF 85/01, FamRZ 2002, 672 = FamRB 2002, 131.
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Kap. 7 Rn. 30
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
bb) Dienst- und Werkswohnungen 30 Eine Besonderheit besteht nach § 1568a Abs. 4 BGB auch für eine Wohnung, die dem überlassenden Ehegatten von einem Dritten zur Verfügung gestellt wurde, weil zu diesem Dritten ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis besteht. Die Begründung eines Mietverhältnisses zugunsten des anderen Ehegatten kann nur mit Zustimmung des Wohnungseigentümers verlangt werden, oder wenn dies zur Vermeidung einer schweren Härte notwendig ist. Nach Eintritt in den Ruhestand soll eine solche Wohnung idR dem bisherigen Arbeitnehmer zugewiesen werden1. 31 Wohnungen bei einer Baugenossenschaft unterfallen nicht Abs. 4 des § 1568a BGB. Eine Genossenschaftswohnung ist zu behandeln wie eine normale Mietwohnung, dh. dass sie auch dem Ehegatten zugewiesen werden kann, der nicht Mitglied der Genossenschaft ist2.
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Praxistipp: Allerdings besteht das Mitgliedschaftsrecht des einen Ehegatten an der Genossenschaft auch dann fort, wenn die Nutzung der Wohnung dem anderen zugewiesen wird. Hat die Genossenschaft keinen besonderen Mietvertrag mit den Eheleuten geschlossen, sondern die Wohnung durch Zuteilung zugewiesen, sollte der Richter für den Ehegatten, der nicht Genosse ist, ein neues Mietverhältnis gem. § 1568a Abs. 5 BGB begründen. Dies ist bei der Antragstellung unbedingt zu berücksichtigen.
c) (Richterlicher) Eingriff in das Mietverhältnis 32 Der häufigste Fall der Wohnungszuweisung betrifft Wohnungen, die von einem oder beiden Ehegatten gemietet wurden. Ist der Ehegatte, dem die Wohnung überlassen wird, bereits Alleinmieter, ist ein Eingriff in das Mietverhältnis entbehrlich: Das Nutzungsrecht des anderen Ehegatten entfällt automatisch mit der Rechtskraft der Ehescheidung. 33 An einem gerichtlichen Verfahren über die Änderung eines bestehenden oder die Neubegründung eines Mietverhältnisses ist gem. § 204 FamFG der Vermieter zwingend zu beteiligen. 34 Der Anspruch auf Eintritt in ein Mietverhältnis oder auf Neubegründung eines Mietverhältnisses erlischt gem. § 1568b Abs. 6 BGB ein Jahr nach Rechtskraft der Endentscheidung in der Scheidungssache. Etwas anderes gilt nur, wenn der Anspruch zuvor rechtshängig gemacht wurde.
1 AG Duisburg-Hamborn v. 20.11.2001 – 19 F 149/01, FamRZ 2002, 1715. 2 BVerfG v. 9.10.1991 – 1 BvR 1106/91, FamRZ 1991, 1413; OLG München v. 5.6.1991 – 2 UF 1550/89, FamRZ 1991, 1452.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 37
Kap. 7
aa) Änderung eines bestehenden Mietvertrags Sind beide Ehegatten Mieter der Wohnung oder soll der Alleinmieter die 35 Wohnung dem anderen Ehegatten überlassen, so greift der Richter gem. § 1568a Abs. 3 Nr. 2 BGB gestaltend in das Mietverhältnis ein und bestimmt auch mit Wirkung gegenüber dem Vermieter, mit welchem der Ehegatten der Mietvertrag fortgesetzt wird. Mit der Rechtskraft der Endentscheidung im Wohnungszuweisungsverfahren tritt der Ehegatte, dem die Wohnung überlassen wird, anstelle des zur Überlassung verpflichteten Ehegatten in ein von diesem eingegangenes Mietverhältnis ein oder setzt ein von beiden eingegangenes Mietverhältnis allein fort. Nach § 1568a Abs. 3 Nr. 1 BGB kann daneben auch durch schlichte – au- 36 ßergerichtliche oder gerichtliche – Einigung der Eheleute ein bestehendes Mietverhältnis über die Ehewohnung abgeändert werden. Mit dem Zugang der Mitteilung der Ehegatten über die Überlassung der Wohnung beim Vermieter tritt der Ehegatte, dem die Wohnung überlassen wird, anstelle des zur Überlassung verpflichteten Ehegatten in ein von diesem allein eingegangenes Mietverhältnis ein oder setzt ein von beiden eingegangenes Mietverhältnis allein fort. Erforderlich sind die Erklärungen beider Ehegatten gegenüber dem Vermieter, die jedoch auch sukzessive erfolgen können.
Û
Wichtig: Diese Regelung des § 1568a Abs. 3 Nr. 1 BGB hat sich in der Praxis als reichlich unpraktikabel erwiesen. Nach Abs. 6 der Vorschrift erlischt nämlich der Anspruch auf Eintritt in ein bestehendes Mietverhältnis durch Erklärungen des ausgezogenen und des in der Wohnung verbliebenen Ehegatten gegenüber dem Vermieter innerhalb eines Jahres, sofern er nicht früher rechtshängig gemacht worden ist. Signalisiert der in der Wohnung verbliebene Ehegatte, dass er den Mietvertrag allein fortführen will, bleibt aber untätig, so hat der ausgezogene Ehegatte einen Anspruch auf Mitwirkung des in der Wohnung verbliebenen Ehegatten, der jedoch innerhalb der Frist durchgesetzt werden muss. Die nach alten Recht mögliche Klage des ausgezogenen Ehegatten auf Zuweisung der Ehewohnung an den in der Wohnung verbliebenen Ehegatten mit Wirkung gegen den Vermieter ist wegen des eindeutigen Wortlauts des § 1568a Abs. 1 BGB nicht mehr gegeben. Der gesamte Themenkomplex ist von der Rechtssprechung bislang noch nicht ausreichend geklärt, birgt für den Anwalt mithin ein erhöhtes Haftungsrisiko!
Zudem verweist § 1568a Abs. 3 BGB ausdrücklich auf § 563 Abs. 4 BGB, 37 der das Eintrittsrecht des überlebenden Ehegatten bei Tod des Mieters regelt. Danach kann der Vermieter das Mietverhältnis innerhalb eines Monats, nachdem er von der endgültigen Übernahme des Mietvertrags durch einen der Ehegatten Kenntnis erlangt hat, außerordentlich mit der gesetzlichen Frist kündigen, wenn in der Person des Eingetretenen ein wichtiViethen
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Kap. 7 Rn. 38
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
ger Grund vorliegt. Nach h.M. entspricht der Begriff des „wichtigen Grundes“ demjenigen in § 553 Abs. 1 BGB, wo geregelt ist, wann ein Vermieter die Gebrauchsüberlassung einer Wohnung an einen Dritten ablehnen kann1. bb) Neubegründung eines Mietverhältnisses 38 Bestand bisher kein Mietvertrag über die Wohnung, so begründet der Richter gem. § 1568a Abs. 5 BGB ein neues Mietverhältnis. Dies ist auch möglich, wenn die Wohnung einem oder beiden Ehegatten gehört. 39 Der Vermieter kann unter den Voraussetzungen, nach denen auch ein Zeitmietvertrag nach § 575 Abs. 1 BGB zulässig wäre, eine angemessene Befristung des Mietverhältnisses verlangen. Das Gleiche soll gelten, wenn die Begründung eines unbefristeten Mietverhältnisses unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Vermieters ausnahmsweise unbillig ist.
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Praxistipp: Der Anwalt, der den Eigentümer-Ehegatten vertritt, sollte immer darauf drängen, dass die Überlassung der Ehewohnung an den anderen Ehegatten zumindest zeitlich begrenzt wird.
40 Das Gesetz geht davon aus, dass sich die Parteien des neu begründeten Mietverhältnisses über die Miethöhe einigen. Kommt eine Einigung nicht zustande, kann der Vermieter gem. § 1568a Abs. 5 S. 3 BGB eine angemessene Miete verlangen. Dies ist nach dem Wortlaut der Vorschrift im Zweifel die ortsübliche Vergleichsmiete.
Û
Praxistipp: Bei Antragstellung ist darauf zu achten, dass die Räumung nötigenfalls durch den Gerichtsvollzieher ohne den berechtigten Ehegatten durchgeführt werden kann. Nur wenn der Gegenstand der richterlichen Entscheidung zweifelsfrei bezeichnet ist, liegt überhaupt ein vollstreckungsfähiger Titel vor. Deshalb empfiehlt es sich, bei der Antragsstellung die zu räumenden Teile der Wohnung aufzuzählen. Auch sollte die Lage der Wohnung im Haus genau bezeichnet werden. Weiterhin ist zu beachten, dass „Räumung“ gem. § 885 ZPO automatisch auch bedeutet, dass bewegliche Sachen, die nicht Gegenstand der Zwangsvollstreckung auf Herausgabe oder Räumung einer Immobilie sind, vom Gerichtsvollzieher zwingend weggeschafft und dem Räumungsschuldner zur Verfügung gestellt werden müssen. Dies betrifft schlimmstenfalls den gesamten Hausrat, der unter der Eigentumsvermutung der §§ 1362 BGB, 739 ZPO steht. Es empfiehlt
1 Erman/Lützenkirchen, § 563 BGB Rn. 20; Palandt/Weidenkaff, § 563 BGB Rn. 23.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 41
Kap. 7
sich demnach, die Anwendung des § 885 Abs. 2 ZPO auszuschließen1. Antragsmuster: 1. Das zwischen den Beteiligten und dem Vermieter … bestehende Mietverhältnis lt. Mietvertrag vom … über die Wohnung in … (Anschrift und Lage der Wohnung im Haus, zB 3. Obergeschoss links) wird ab Rechtskraft der Ehescheidung von der Antragstellerin allein fortgesetzt. Der Antragsgegner scheidet aus dem Mietverhältnis aus. Alternative 1: Die Antragstellerin tritt ab Rechtskraft der Scheidung anstelle des Antragsgegners als alleinige Mieterin in das von diesem mit dem Beteiligten … durch Mietvertrag vom … eingegangene Mietverhältnis für die Wohnung in (Anschrift, Lage der Wohnung im Haus) ein. Der Antragsgegner scheidet aus dem Mietverhältnis aus. Alternative Zwischen der Antragstellerin (Mieterin) und dem Antragsgegner (Vermieter) wird über den im Eigentum des Antragsgegners stehenden Teil der Ehewohnung der Beteiligten in … (Anschrift, Lage der Wohnung im Haus) für die Zeit ab … (ggf. zeitliche Begrenzung) ein Mietverhältnis begründet. Das Mietverhältnis endet zum … 2. Der Antragsgegner ist verpflichtet, die Wohnung, bestehend aus (genaue Bezeichnung der Wohnung, Funktions- und Nebenräume) ab Rechtskraft der Scheidung zu räumen und der Antragstellerin zu überlassen. Bei der Räumung ist § 885 Abs. 2 ZPO nicht anzuwenden.
d) Zusatzanträge Nach 209 Abs. 1 FamFG soll der Richter mit seiner Entscheidung die Anordnungen treffen, die zu ihrer Durchführung nötig sind. Zusatzanträge könnten zB wie folgt lauten: – Der Antragsgegner ist verpflichtet, der Antragstellerin sämtliche Schlüssel zum Haus sowie zur Ehewohnung und die Schlüssel zur Garage herauszugeben. – Dem Antragsgegner und seiner Lebensgefährtin, Frau … wird untersagt, die Ehewohnung nach der Räumung/nach Rechtskraft der Ehescheidung zu betreten2. – Dem Antragsgegner wird aufgegeben, bei Auszug seine persönlichen Sachen, insbesondere Kleidung und Dokumente mitzunehmen; sämtliche Haushaltsgegenstände sind in der Wohnung zu belassen. 1 OLG Karlsruhe v. 6.9.1993 – 16 WF 123/93, FamRZ 1994, 1185. 2 Vgl. OLG Karlsruhe v. 6.6.1993 – 16 WF 123/93, FamRZ 1994, 1185.
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Kap. 7 Rn. 42
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
– Die Antragstellerin ist verpflichtet, sich an den Umzugskosten des Antragsgegners bis zu einer Höhe von …/zur Hälfte zu beteiligen. – Dem Antragsgegner wird untersagt, sich dem Anwesen in … auf eine Distanz von unter 100 m zu nähern1.
42 Gem. § 95 Abs. 1 Nr. 4 FamFG richtet sich die Vollstreckung zur Erzwingung von Duldungen und Unterlassungen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung über die Zwangsvollstreckung. Demnach sind Verbotsanträge, wie etwa das Zutrittsverbot, als Unterlassung einer Handlung nach § 890 ZPO zu vollstrecken. Für jeden Fall der Zuwiderhandlung kann auf Antrag des Gläubigers vom Prozessgericht des ersten Rechtszuges ein Ordnungsgeld bzw. Ordnungshaft festgesetzt werden. Dieser Verurteilung muss jedoch eine entsprechende Androhung vorausgehen, die auch schon in dem Beschluss enthalten sein kann, der das Verbot ausspricht. Der entsprechende Zusatzantrag lautet dann wie folgt: Dem Antragsgegner wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen das vorstehende Verbot ein Ordnungsgeld angedroht, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird.
43 Die Frage der Vollstreckbarkeit der Verpflichtung zur Herausgabe sämtlicher Schlüssel ist hingegen rein akademisch: Wenn der Ehegatte, dem die Ehewohnung überlassen wurde, den Zutritt des anderen Ehegatten endgültig verhindern will, so wird er das Schloss auswechseln lassen2. Er kann auch nach einer Vollstreckung nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 FamFG i.V.m. § 888 Abs. 1 ZPO durch Verhängung eines Ordnungsgeldes nie sicher sein, ob der andere Ehegatte sämtliche Schlüssel herausgegeben hat bzw. nicht zuvor einen Nachschlüssel hat fertigen lassen. 5. Vorläufige Überlassung der Ehewohnung für die Zeit der Trennung nach § 1361b BGB 44 Während der Richter die Ehewohnung einem der Ehegatten für die Zeit ab Rechtskraft der Ehescheidung zuweisen muss, sofern ein solcher Antrag vorliegt, kann ein Antrag auf vorläufige Überlassung nur für die Zeit der Trennung nach § 1361b BGB zurückgewiesen werden, wenn die erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen. Dies beruht auf der Verpflichtung der Ehegatten zur ehelichen Lebensgemeinschaft nach § 1353 BGB und dem daraus resultierenden Recht beider Ehegatten, bis zur Rechtskraft der Ehescheidung die Ehewohnung zu nutzen. Dieses Recht und die damit jeweils korrespondierende Verpflichtung des anderen, die Nutzung der Ehewohnung zu gewähren, entfällt mit der Ehescheidung. 1 Vgl. Schwab, FamRZ 1999, 1322. 2 Vgl. OLG Karlsruhe v. 6.6.1993 – 16 WF 123/93, FamRZ 1994, 1185.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 48
Kap. 7
Ein Antrag nach § 1361b BGB richtet sich auf die Überlassung der Ehe- 45 wohnung für die Zeit des Getrenntlebens. Ein Scheidungsverfahren muss weder anhängig sein noch zum Zeitpunkt der Antragstellung angestrebt werden. Demzufolge leitet der Antrag nach § 1361b BGB ein isoliertes Verfahren beim Familiengericht ein. Voraussetzung ist allerdings, dass die Ehegatten bereits getrenntleben oder dass einer von ihnen getrenntleben will. Eine sog. Vorratsentscheidung für den Fall, dass es später zu einem Trennungsentschluss kommt, ist nicht möglich. Eine Wohnungszuweisung darf auch nur zu Wohnzwecken erfolgen, 46 selbst wenn der andere Ehegatte ohnehin faktisch an einer Nutzung der Wohnung gehindert ist, etwa weil er sich in Strafhaft befindet1. a) Zuweisungsvoraussetzungen Eine Zuweisung der Ehewohnung für die Zeit des Getrenntlebens setzt 47 gem. § 1361b Abs. 1 S. 1 BGB voraus, dass dies notwendig ist, um eine „unbillige Härte“ zu vermeiden. Die Vorschrift wurde grundlegend geändert durch das „Gesetz zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung“ (Gewaltschutzgesetz – GewSchG v. 11.12.2001 – BGBl. I S. 3513), das am 1.1.2002 in Kraft getreten ist (dazu Kap. 8). Forderte das Gesetz früher noch das Vorliegen einer „schweren Härte“, so wird mit dem Begriff der „unbilligen Härte“ die Eingriffsschwelle für gerichtliche Entscheidungen deutlich herabgesetzt. Dies gilt verstärkt dann, wenn die Ehegatten bereits längere Zeit innerhalb der Wohnung oder in verschiedenen Wohnungen getrenntleben2. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Brandenburg sollen die Voraussetzung für eine Zuweisung der Ehwohnung schon dann vorliegen, wenn „ein erträgliches Nebeneinander der unerbittlich streitenden Beteiligten in der relativ kleinen Ehewohnung nicht mehr möglich“ ist3. Zu beachten ist, dass der Gesetzgeber mit dem Begriff der „Unbilligkeit“ ausdrücklich auch ein Gerechtigkeitskriterium in die Abwägung eingeführt hat.
47a
Entsprechend der Vorschrift des § 1568a Abs. 1 BGB führt § 1361b BGB 48 ausdrücklich aus, dass eine unbillige Härte auch dann vorliegen kann, wenn das Wohl von im Haushalt lebenden Kindern beeinträchtigt ist. Das Kindeswohl hat als Zuweisungskriterium im Rahmen der Billigkeitsabwägung grundsätzlich Priorität4.
1 2 3 4
OLG Frankfurt v. 26.8.2003 – 3 UF 112/03, FamRZ 2004, 875. OLG Brandenburg v. 21.11.1999 – 10 WF 169/99, FamRZ 2001, 636. OLG Brandenburg v. 8.7.2010 – 9 WF 40/10, FamRZ 2010, 1983. OLG Brandenburg v. 10.6.2010 – 9 UF 142/09, FamRZ 2011, 118.
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Kap. 7 Rn. 48a 48a
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§ 1361b Abs. 1. S. 3 BGB sieht zudem ausdrücklich vor, dass das Eigentum eines der Ehegatten an der Ehewohnung, eigentumsähnliche Rechte oder Dauernutzungsrechte bei der Abwägung besonders zu berücksichtigen sind1.
49 In § 1361b Abs. 2 BGB definiert der Gesetzgeber den Regelfall der „unbilligen Härte.“ Dieser liegt vor bei einer widerrechtlichen und vorsätzlichen Verletzung des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit des anderen Ehegatten. Ein auch nur zeitlich kurzes Einsperren eines Ehegatten durch den anderen erfüllt regelmäßig den Tatbestand der Freiheitsverletzung2. Ausreichend ist auch die widerrechtliche Drohung mit einer solchen Verletzung oder eine widerrechtliche Tötungsdrohung. Das Gesetz bestimmt ausdrücklich, dass in einen solchen Fall idR die gesamte Wohnung zur alleinigen Benutzung zu überlassen ist. Deshalb kommt bei häuslicher Gewalt eine Aufteilung der ehelichen Wohnung durch das Gericht nur in Ausnahmefällen in Betracht, etwa bei besonders großzügig zugeschnittenen Anwesen und ausreichenden Sicherungsmöglichkeiten für den bedrohten Ehegatten. 50 In Fällen häuslicher Gewalt sieht das Gesetz auch eine Beweislastumkehr vor: Nicht der bedrohte oder verletzte Ehegatte hat nachzuweisen, dass eine Wiederholungsgefahr besteht. Vielmehr ist der Anspruch auf Wohnungsüberlassung nur ausgeschlossen, wenn keine weiteren Verletzungen und widerrechtlichen Drohungen zu befürchten sind, § 1361b Abs. 2 S. 2 BGB3. Eine – auch strafbewehrte – Unterlassungserklärung des Täters beseitigt die Wiederholungsgefahr nicht4. Ist der Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht nachweisbar, bleibt es bei dem Anspruch auf Überlassung der gesamten Wohnung. Selbst dann jedoch, wenn sichergestellt ist, dass sich eine Gewalttat nicht wiederholen kann, also etwa bei Strafhaft des Täters, ist die gesamte Wohnung zuzuweisen, wenn dem verletzten Ehegatten ein weiteres Zusammenleben aufgrund der Schwere der Tat nicht zuzumuten ist. 51 Zur Annahme einer „unbilligen Härte“ ist eine unmittelbare Gefahr für Leib oder Leben nicht erforderlich. Ausreichend soll auch eine unerträgliche Belastung sein, insbesondere durch grob rücksichtsloses Verhalten des anderen Ehegatten5. Etwas umständlich formuliert das OLG Köln6, dass auch eine subjektive Belastung ausreichend sein soll, die durch fortwährende Drohungen des anderen Ehegatten bewirkt wird, auch wenn diese Drohungen objektiv nicht ernst zu nehmen sind.
1 S. auch OLG Köln v. 1.8.2008 – 4 UF 74/08, FamRZ 2009, 973. 2 OLG Brandenburg v. 20.4.2005 – 9 UF 27/05, NJW-RR 2006, 220. 3 OLG Stuttgart v. 27.11.2003 – 18 WF 190/03, FamRZ 2004, 876; OLG Brandenburg v. 20.4.2005 – 9 UF 27/05, FamRZ 2006, 947 = FamRB 2005, 330. 4 OLG Stuttgart v. 12.9.2006 – 18 WF 176/06, FamRZ 2007, 829. 5 OLG Naumburg v. 27.7.2005 – 3 UF 108/05, FamRZ 2006, 1205. 6 OLG Köln v. 8.4.2005 – 4 UF 68/05, FamRZ 2006, 126.
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Rn. 54
Kap. 7
Schon nach früherer Rechtsprechung reichten für eine Zuweisung der 52 Ehewohnung folgende Voraussetzungen aus: – schwere körperliche Misshandlungen anderer Familienmitglieder1; – Alkohol- oder Drogenmissbrauch2; – ständige nächtliche Störungen3; – Terrorisierung der Familie aufgrund psychischer Erkrankung4; – Randalieren und Sachbeschädigung5; – Aufnahme eines neuen Partners in die Wohnung6. Nach wie vor gilt allerdings, dass bloße Zwistigkeiten und Belästigungen, wie sie bei der Trennung von Eheleuten regelmäßig auftreten, für eine Zuweisung der Ehewohnung nicht ausreichen7. Auch wenn die Ehefrau mit drei gemeinsamen schulpflichtigen Kindern wegen andauernder Streigkeiten auszieht, führt dies selbst dann nicht zu einem Zuweisungsanspruch wegen „unbilliger Härte“, wenn ihre neue Wohnung eine deutlich verringerte Wohnfläche aufweist8.
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War es nach früherer Rechtslage zwischen den Gerichten streitig, ob ein 54 einseitiges oder überwiegendes Fehlverhalten des einen Ehegatten zwangsläufig dazu führen muss, dass dem anderen die Ehewohnung zugewiesen wird, so wird sich angesichts des in den Gesetzestext eingefügten Begriffs der „Unbilligkeit“ eine Zuweisung an den Ehegatten, der die unhaltbare Situation in der Ehewohnung zu verantworten hat, nicht mehr rechtfertigen lassen. Bei beiderseitigem Verschulden greifen die für die endgültige Wohnungszuweisung nach § 1568a BGB genannten allgemeinen Kriterien. Dabei sind nach § 1361b Abs. 1 S. 1 BGB bei der Abwägung ausdrücklich auch die Belange des Antragsgegners zu berücksichtigen.
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Praxistipp: Die Erfahrung lehrt, dass den Familienrichter nicht die Zitierung obergerichtlicher Urteile beeindruckt, sondern die möglichst sorgfältige Sachverhaltsschilderung. Die zur Begründung herangezogenen Vorfälle sind nach Zeit, Ort, Ablauf und den entstandenen Folgen ge-
1 OLG Düsseldorf v. 14.3.1988 – 4 UF 38/88, FamRZ 1988, 1058; OLG Köln v. 30.4.1996 – 25 UF 82/96, FamRZ 1996, 1220; OLG Hamm v. 22.3.1996 – 12 UF 451/95, FamRZ 1997, 301. 2 OLG Karlsruhe v. 26.2.1991 – 16 WF 251/90, FamRZ 1991, 1440; OLG Celle v. 12.12.1991 – 18 WF 196/91, FamRZ 1992, 676. 3 OLG Düsseldorf v. 14.3.1988 – 4 UF 38/88, FamRZ 1988, 1058. 4 OLG Hamm v. 22.3.1996 – 12 UF 451/95, FamRZ 1997, 301. 5 OLG Köln v. 5.9.2000 – 4 UF 63/00, FamRZ 2001, 761. 6 OLG Hamm v. 24.3.1993 – 8 UF 77/93, FamRZ 1993, 1442. 7 Anders: AG Tempelhof-Kreuzberg v. 5.9.2002 – 142 F 3248/02, FamRZ 2003, 532. 8 OLG Köln v. 17.3.2010 – 27 UF 28/10, FamRZ 2011, 372.
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nau zu schildern1. Dabei empfiehlt es sich, auch die gegenläufigen Interessen des anderen Ehegatten sowie voraussichtliche Gegenargumente bereits in der Antragsschrift zu nennen und eine sorgfältige Abwägung vorzunehmen. Die Unversehrtheit der privaten Wohnung hat Verfassungsrang und kann deshalb nur in gut begründeten Fällen eingeschränkt werden. Antragsmuster: 1. Die in … (Anschrift, Lage der Wohnung im Haus) gelegene Ehewohnung der Beteiligten wird der Antragstellerin für die Dauer der Trennung der Eheleute zur alleinigen Nutzung zugewiesen. 2. Der Antragsgegner ist verpflichtet, die Wohnung, bestehend aus … (genaue Bezeichnung der Wohn-, Funktions- und Nebenräume) zu räumen und an die Antragstellerin herauszugeben (ggf. Räumungsfrist). § 885 Abs. 2 ZPO ist bei der Räumung nicht anzuwenden.
b) Beweisschwierigkeiten beim Zuweisungskriterium „unbillige Härte“ 55 Streitigkeiten innerhalb der Ehewohnung, „Psychoterror“ oder Tätlichkeiten des einen Ehegatten gegen den anderen oder gegen die Kinder finden meist hinter den geschlossenen Türen gerade dieser Ehewohnung statt. Fatal wirkt sich aus, dass Ehegatten idR bestrebt sind, die Probleme so lange vor Nachbarn, Freunden und Familienmitgliedern geheimzuhalten, bis das Maß der psychischen, oft auch physischen Verletzungen unerträglich wird. Nur selten suchen geschlagene Ehefrauen einen Arzt auf, und wenn doch, so geben sie oft falsche Ursachen für die erlittenen Verletzungen an. Dies führt dazu, dass entscheidungserhebliche Vorgänge, insbesondere zur Begründung des Tatbestandsmerkmals „unbillige Härte“ als Voraussetzung für eine Entscheidung nach § 1361b Abs. 1 S. 1 BGB nur schwer oder gar nicht nachzuweisen sind. Dies gilt ebenso für Drohungen gegen Leib und Leben.
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Praxistipp: Zunächst muss sorgfältig nach sachlichen Beweisanzeichen gesucht werden. Dies können etwa ärztliche Atteste sein, auch wenn sie von einer falschen Verletzungsursache ausgehen, Briefe mit Drohungen oder solche, in denen der Ehegatte, der das eheliche Zusammenleben stört, sein Verhalten zugibt, oder entsprechende Tonbandaufnahmen, etwa vom Anrufbeantworter. Zu den sachlichen Beweisanzeichen gehören auch Fotografien von Verletzungen, zerbrochene Gegenstände, zerrissene Kleidung, im Haushalt vorhandene Waffen oder sonstige gefährliche Gegenstände etc. Des Weiteren ist zu klären, wer mögli-
1 OLG Karlsruhe v. 26.2.1991 – 16 WF 251/90, FamRZ 1991, 1440; OLG Brandenburg v. 24.1.1996 – 9 WF 8/96, FamRZ 1996, 743.
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Kap. 7
cherweise als Zeuge für das vorwerfbare Verhalten des anderen Ehegatten aussagen könnte. Es empfiehlt sich, dass der betroffene Ehegatte die Zeugen um schriftliche Stellungnahmen bittet, da trotz des im Wohnungszuweisungsverfahren gem. § 26 FamFG herrschenden Untersuchungsgrundsatzes Zeugen von den Gerichten nur selten geladen und vernommen werden. Da die Wahrnehmungen solcher Zeugen oft aus privaten Zusammenhängen stammen, ist es den Zeugen meist wesentlich angenehmer, schriftliche Aussagen zu machen, als dem anderen Ehegatten in der Verhandlung gegenübersitzen zu müssen. Den Zeugen ist immer mit Nachdruck klarzumachen, dass ihre (mündlichen oder schriftlichen) Aussagen auf ihrer eigenen Wahrnehmung beruhen müssen und auch dann unbedingt der Wahrheit zu entsprechen haben, wenn keine eidesstattlichen Versicherungen im engeren Sinne abgegeben werden. Zeugenaussagen vom „Hörensagen“ sind wenig wert und diskreditieren eher das Anliegen des Ehegatten, der seine Ansprüche auf diese Aussagen stützen will. Aus dem Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der „unbilligen Härte“ ergibt sich in den meisten Fällen eine mehr oder weniger große Eilbedürftigkeit der Wohnungszuweisung. Es empfiehlt sich nicht zuletzt auch wegen möglicher Beweisschwierigkeiten, eine einstweilige Anordnung zu beantragen. Zum Nachweis strittiger Behauptungen sind in diesem Verfahren nämlich keine Beweise erforderlich, sondern lediglich das mindere Nachweismittel der Glaubhaftmachung. Dies kann auch durch eine eidesstattliche Versicherung des antragstellenden Ehegatten erfolgen, was dessen Beweisnot oft erleichtert. In einer eidesstattlichen Versicherung kann der betroffene Ehegatte selbst ausführlich und lebensnah schildern, was ihm in der Ehewohnung widerfährt. Problematisch ist insbesondere der Nachweis psychischer Beeinträchti- 56 gungen. Diese müssen ein solches Ausmaß erreicht haben, dass die Schwelle zur „unbilligen Härte“ überschritten ist. Streitigkeiten, wie sie bei der Trennung von Eheleuten üblicherweise zu beobachten sind, reichen hierzu nicht aus. Trotzdem können sich – je nach psychischer Disposition des betroffenen Ehegatten – von außen gesehen harmlose, jedoch über Jahre hinweg ständig wiederholte Demütigungen, Drohungen und Einschüchterungen zu Beeinträchtigungen mit Krankheitswert entwickeln, die durchaus der Schwere nach einer körperlichen Verletzung gleichstehen. In solchen Fällen sollte mit dem Mandanten überlegt werden, ob nicht die Folgen des Wohnungswechsels eher hinzunehmen sind als ein gerichtliches Verfahren, insbesondere wenn die Aussichten ungewiss sind und ein Unterliegen im Verfahren die psychische Belastung möglicherweise noch verstärken würde. Abzuklären ist, ob sich der betroffene Ehegatte bereits in therapeutischer Behandlung befindet. Möglicherweise ist der Besuch einer Beratungsstelle nahezulegen. Dies alles auch im Hinblick darauf, dass die psychische
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Befindlichkeit eines Menschen indirekt auch darüber nachgewiesen werden kann, was Dritte aussagen, denen gegenüber er sich öffnet. 58 Problematisch ist, dass Ärzte und Therapeuten sich häufig weigern, während der laufenden Behandlung oder auch später schriftlich oder mündlich Aussagen darüber zu machen, was sie während der Behandlung erfahren haben. Tatsächlich haben Ärzte, Psychologen, Drogenberater, Sozialarbeiter und Heilpraktiker ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO. Allerdings gilt dies nur, solange sie nicht von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden wurden. Gem. § 385 Abs. 2 ZPO sind sie nach der Entbindung von der Schweigepflicht durch den Klienten zur Aussage verpflichtet. Dies gilt allerdings nur für eine mündliche Zeugenaussage vor Gericht, nicht für die Erstellung einer schriftlichen Stellungnahme. Ins Feld geführt werden von Therapeuten regelmäßig die Grundsätze ihrer Berufsausübung, insbesondere der Vorrang einer noch laufenden Therapie und die Gefährdung des Therapieziels durch eine öffentliche Stellungnahme. Solche Befürchtungen können im Einzelfall durchaus beachtenswert sein, die Aussageverpflichtung nach § 385 Abs. 2 ZPO beseitigen sie hingegen nicht. c) Maßnahmen bei Kündigung des Mietvertrags oder Verkauf der Ehewohnung durch einen der Ehegatten aa) Beide Ehegatten als Mieter der Ehewohnung 59 Sind beide Ehegatten Parteien des Mietvertrags, so können sie diesen nur gemeinsam kündigen1. Der Ehegatte, der in der Wohnung verbleiben will, ist demnach vor einer überraschenden Auflösung des Mietverhältnisses geschützt. 60 Streitig ist, ob der ausgezogene Ehegatte von dem anderen verlangen kann, einer Kündigung des gemeinsamen Mietvertrags zuzustimmen. Dies soll nach einer Entscheidung des OLG München2 stets ausgeschlossen sein, nach Auffassung des AG Wetzlar3 auf jeden Fall vor Rechtskraft der Ehescheidung. Nach Auffassung des OLG Hamburg4 soll jedoch im Innenverhältnis der Ehegatten zueinander Gesellschaftsrecht gelten. Aus dem Recht zur jederzeitigen Kündigung der Gesellschaft gem. § 730 Abs. 1 BGB folge danach auch gem. § 749 BGB eine Pflicht des anderen Ehegatten, an einer Kündigung des Mietverhältnisses mitzuwirken. Dies soll insbesondere dann gelten, wenn der in der Wohnung verbliebene Ehegatte nicht bereit oder in der Lage ist, den ausgezogenen Ehegatten im Innenverhältnis von allen Verpflichtungen aus dem Mietverhältnis freizustellen oder seine Entlassung hieraus herbeizuführen. Auch dann wird jedoch der Anspruch auf Zustimmung zur Kündigung im Einzelfall recht1 2 3 4
BGH v. 28.6.2000 – VIII ZR 240/99, NJW 2000, 3133. OLG München v. 19.4.2004 – 6 U 5683/03, FamRZ 2004, 1875. AG Wetzlar v. 12.6.2002 – 30 C 935/02, FamRZ 2003, 379. OLG Hamburg v. 18.5.2001 – 8 U 177/00, NJW-RR 2001, 1012.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 63
Kap. 7
missbräuchlich sein, wenn der in der Wohnung verbliebene Ehegatte aus gewichtigen Gründen, etwa im Falle der Erkrankung, nicht in der Lage ist, die Wohnung zu räumen.
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Wichtig: Der Vermieter seinerseits kann den Mietvertrag nicht kündigen, wenn einer der Ehegatten auszieht, selbst wenn dieser Ehegatte der Alleinverdiener in der Ehe war. Allerdings kann der Vermieter den ausgezogenen Ehegatten ohne Zustimmung des anderen aus dem Mietverhältnis entlassen1.
bb) Nur ein Ehegatte als Mietvertragspartei Eine andere Interessenlage ergibt sich, wenn nur ein Ehegatte Partei des Mietvertrags ist. In diesem Fall droht dem anderen Ehegatten der Verlust der Ehewohnung, wenn der Alleinmieter die Wohnung kündigt. Das Familiengericht kann in solchen Fällen auf Antrag des in der Wohnung verbliebenen Ehegatten ein Kündigungsverbot durch einstweilige Anordnung aussprechen.
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Wichtig: Da das Kündigungsverbot eine Nebenentscheidung i.S.d. § 209 Abs. 1 FamFG ist, kann es nur bei Vorliegen eines Hauptsacheverfahrens ausgesprochen werden. Hauptsacheverfahren kann auch das Ehescheidungsverfahren sein.
Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist allerdings, dass tatsächlich eine Kündigung durch den Alleinmieter droht; eine Vorratsentscheidung ist nicht zulässig2. Das Kündigungsverbot sollte, wenn es erlassen ist, unverzüglich dem Vermieter mitgeteilt werden.
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Bei einem isolierten Wohnungszuweisungsverfahren bestimmt § 1361b 63 Abs. 3 S. 1 BGB, dass der ausgezogene Ehegatte alles zu unterlassen hat, was die Nutzung der Wohnung durch den anderen erschwert oder vereitelt. Hierauf kann sich ein Antrag auf Anordnung eines Kündigungsverbots ebenso stützen wie ein Antrag auf Einrichtung eines zeitlich befristeten Miet- oder Nutzungsverhältnisses. Dies galt schon früher gem. §§ 15, 18a HausratsVO analog. Neuere Rechtsprechung existiert hierzu nicht. Liegt allerdings kein Hauptsacheverfahren vor und kann ein solches auch nicht angestrengt werden, etwa weil keine „unbillige Härte“ als Voraussetzung für eine Wohnungszuweisung während des Getrenntlebens vorgetragen werden kann, kann auch kein Kündigungsverbot ergehen.
1 BGH v. 3.3.2004 – VIII ZR 124/03, FamRZ 2004, 936. 2 OLG Dresden v. 6.8.1996 – 10 WF 206/96, FamRZ 1997, 183.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
64 Ein Kündigungsverbot geht im Übrigen ins Leere, wenn das Mietverhältnis bereits durch den Alleinmieter gekündigt wurde. Dadurch ist das bisherige Mietverhältnis über die Ehewohnung aufgelöst worden. Allerdings ändert die Kündigung des Mietvertrags nichts daran, dass es sich nach wie vor um die Ehewohnung handelt. Auch nach erfolgter Kündigung ist also noch ein Wohnungszuweisungsverfahren möglich. Der Richter soll zugunsten des antragstellenden Ehegatten ein Mietverhältnis begründen können, und zwar sogar rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Beendigung des früheren Mietvertrags1. Das Oberlandesgericht Köln2 hält allerdings die Neubegründung eines Mietverhältnisses für unzulässig, wenn der Alleinmieter-Ehegatte endgültig ausgezogen ist und die Wohnung damit den Charakter einer Ehewohnung verloren hat. Die Begründung eines Mietverhältnisses mit dem verbliebenen Ehegatten ist jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn der Vermieter die Wohnung schon an einen Dritten vermietet hat. cc) Verkauf durch den Eigentümer-Ehegatten 65 Ist einer der Ehegatten alleiniger Eigentümer der Ehewohnung, besteht die Gefahr, dass er die Wohnung verkauft und damit das Nutzungsrecht des anderen Ehegatten vereitelt. Liegen die Voraussetzungen für die Zuweisung der Ehewohnung vor, so kann der Richter gem. § 1568a Abs. 5 BGB ein Mietverhältnis zwischen den Eheleuten begründen, das den Verkauf der Ehewohnung überdauert. Den Verkauf der Wohnung selbst, etwa durch ein Veräußerungsverbot, kann der Richter im Wohnungszuweisungsverfahren nicht verhindern. d) Besitz sowie Zutrittsrechte und -verbote an der Ehewohnung 66 Dem Anwalt, der Ehegatten anlässlich der Durchführung der Trennung berät, werden viele Fragen zum Nutzungsrecht an der Ehewohnung gestellt, die in der Rechtsprechung nicht bzw. nicht detailliert entschieden sind, jedoch schnellen praktischen Rat erfordern. Typische Fragen sind etwa: (1) Ich bin ausgezogen, habe aber noch die Schlüssel. Darf ich in die Ehewohnung, um meine Sachen zu holen? (s. dazu Rn. 76 f.) (2) Ich habe den Schlüssel zur Ehewohnung nicht mehr. Muss mein Mann mich hereinlassen, damit ich meine Sachen holen kann? (s. dazu Rn. 78 f.) (3) Mein Mann ist ausgezogen, will jetzt aber wieder zurück; muss ich ihn hereinlassen? (s. dazu Rn. 80 ff.) (4) Wann kann ich das Schloss der Wohnungstür auswechseln? (s. dazu Rn. 83 ff.) 1 KG v. 17.7.1984 – 17 UF 1727/84, FamRZ 1984, 1242; OLG München v. 5.6.1991 – 2 UF 1550/89, FamRZ 1991, 1452. 2 OLG Köln v. 10.3.2005 – 14 UF 11/05, FamRZ 2005/1993 = FamRB 2005, 223.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 70
Kap. 7
(5) Kann ich der Freundin meines Mannes den Zutritt zu unserer Wohnung verbieten? (s. dazu Rn. 86 ff.) Das tatsächliche Verhalten der Ehegatten in der Trennungssituation be- 67 wegt sich oft im rechtlichen Graubereich. Die rechtliche Beurteilung hat zu unterscheiden zwischen einerseits dem bloßen Recht beider Ehegatten, die Ehewohnung zu benutzen, sowie andererseits dem faktischen Besitz, also der tatsächlichen Gewaltausübung über die Wohnung. Für den Rechtsanwalt, der dem Mandanten konkrete Verhaltensratschläge erteilen soll, ist nicht nur die abstrakte Rechtslage wichtig, sondern auch die Frage, welche Folgen ein Handeln des Mandanten zeitigen könnte, das sich möglicherweise erst aus der Rückschau als nicht rechtskonform darstellt. Die Ehegatten haben einander die Nutzung von Ehewohnung und Hausrat zu gewähren. Es handelt sich um einen Ausfluss der Verpflichtung zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nach § 1353 BGB. Dieses Recht zur Benutzung der Ehewohnung durch beide Ehegatten unabhängig von den Eigentumsverhältnissen gilt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Ehe bis zur Rechtskraft der Scheidung1. Das Nutzungsrecht endet allerdings dort, wo die Wohnung den Charakter der Ehewohnung verliert, also gekündigt oder verkauft und dann von Dritten bewohnt wird.
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Die Ehe selbst gewährt jedoch nicht den faktischen Besitz, sondern nur 69 das Recht auf Besitz (Nutzung). Daneben besteht der Besitz an der Ehewohnung als rein faktische, mit Besitzwillen einhergehende Mitbenutzung. Der Besitz endet durch freiwillige Aufgabe oder durch unfreiwilligen Ausschluss von der Nutzung, etwa durch Auswechseln des Türschlosses, Zerstörung des Hauses etc. Wer den Besitz an einer Wohnung nicht freiwillig aufgegeben hat, son- 70 dern durch Gewalt von der Nutzung ausgeschlossen wurde, kann grundsätzlich die Wiedereinräumung des Besitzes nach § 861 BGB verlangen und dies gem. § 23a Abs. 1 Nr. 1 GVG i.V.m. §§ 1, 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG über das Familiengericht gerichtlich durchsetzen. Dies trifft jedoch nicht die regelmäßige Interessenlage zwischen Eheleuten, von denen einer den anderen aussperrt. Lebten die Ehegatten schon zuvor getrennt oder will der in der Wohnung verbliebene Ehegatte getrenntleben, so verdrängt § 1361b BGB als Spezialvorschrift die Regelungen des allgemeinen Besitzschutzes. In analoger Anwendung des § 1361b BGB kann das Familiengericht dem ausgesperrten Ehegatten erneut den Mitbesitz an der Ehewohnung einräumen, wenn die Voraussetzungen für eine Zuweisung nicht vorliegen2.
1 BGH v. 7.4.1978 – V ZR 154/75, FamRZ 1978, 496. 2 OLG Karlsruhe v. 25.4.2000 – 2 UF 195/99, FamRZ 2001, 760.
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Kap. 7 Rn. 71
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
71 Hat der ausgesperrte Ehegatte das Familiengericht angerufen, kann sich der in der Wohnung verbliebene Ehegatte zur Wehr setzen, indem er nun seinerseits ein Verfahren auf Zuweisung der Ehewohnung nach § 1361b BGB beim Familiengericht anhängig macht. Beide Verfahren sind nach der Einführung des „großen“ Familiengerichts nunmehr unschwer zu einer einheitlichen Lösung zu bringen. 72 Wer freiwillig den Besitz aufgibt, hat keinen Anspruch auf Wiedereinräumung des Besitzes nach § 861 BGB. Dies gilt selbst dann, wenn der ausgezogene Ehegatte Alleineigentümer der Ehewohnung ist1. 73 Fraglich ist, ob ein Ehegatte Wiedereinräumung des Besitzes zum Zwecke der Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft verlangen kann. In seinem grundlegenden Urteil hierzu hat der BGH2 ausgeführt: „Hat sich ein Ehemann von seiner Familie unter Aufgabe seines Mitbesitzes an der bisherigen ehelichen Wohnung mit dem erklärten Willen getrennt, die eheliche Lebensgemeinschaft nicht wiederherzustellen, dann kann er ein Recht zum Betreten der von der Ehefrau und den Kindern bewohnten Wohnung nicht daraus herleiten, dass Ehegatten einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet sind, oder dass ihm neben seiner Ehefrau die elterliche Gewalt über die minderjährigen Kinder zusteht.“ 74 Ein Ende der Rechtsunsicherheit hat § 1361b Abs. 4 BGB bewirkt. Danach wird sechs Monate nach Trennung und Auszug eines Ehegatten aus der Wohnung unwiderleglich vermutet, dass er dem anderen die Nutzung der Wohnung überlassen hat, sofern er bis dahin keine ernstliche Rückkehrabsicht geäußert hat. Allerdings soll die Vermutung des § 1361b Abs. 4 BGB nicht eingreifen, wenn tatsächlich kein freiwilliger „Auszug“ eines Ehegatten erfolgt ist. Ein Auszug soll erst dann anzunehmen sein, wenn dieser Ehegatte einen anderen Lebensmittelpunkt begründet hat3. 75 Die Beantwortung der eingangs (Rn. 66) gestellten Fragen ergibt sich aus der geschilderten Rechtslage. Konkrete Ratschläge an die Mandanten orientieren sich zudem nicht nur an möglichen rechtlichen Folgen, sondern auch an der zu erwartenden Reaktion des anderen Ehegatten, der Fähigkeit und der Bereitschaft des Mandanten, eine schwierige Auseinandersetzung durchzustehen, und ggf. vorhandenen Ausweichmöglichkeiten. Zu (1) 76 Wer zum Zwecke der Trennung ausgezogen ist und eine andere Wohnung bezogen hat, hat den Nutzungswillen an der Ehewohnung aufgegeben. Dies betrifft aber nicht die in der ehelichen Wohnung verbliebenen Haus-
1 LG Münster v. 25.6.1998 – 5 T 519/98, FamRZ 1999, 1200. 2 BGH v. 13.10.1971 – IV ZR 12/71, MDR 1972, 33 = NJW 1972, 44. 3 OLG Koblenz v. 13.2.2006 – 7 WF 102/06, FamRZ 2006, 1207; aA allerdings für ein Haus mit 23 Zimmern: OLG Brandenburg v. 17.1.2008 – 10 WF 311/07 und 10 WF 2/08, FamRZ 2008, 1930.
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Rn. 81
Kap. 7
haltsgegenstände, es sei denn, dass seit dem „Auszug“ schon längere Zeit vergangen ist. Ansonsten darf der Wohnungsschlüssel durchaus genutzt werden, um die eheliche Wohnung zu betreten und dort noch verbliebene Gegenstände abzuholen. Soweit dies ohne ernst zu nehmende Gefährdung der eigenen Person möglich ist, entspricht es dem Anstand, dies (ggf. in Begleitung Dritter) in Gegenwart des anderen Ehegatten zu tun.
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Praxistipp: Es sollte zumindest eine Liste der Gegenstände gefertigt werden, die abgeholt werden. Handelt es sich um Haushaltsgegenstände, die der ausgezogene Ehegatte unbedingt zur Führung eines eigenen Haushalts benötigt, sollte zweckmäßigerweise eine Liste über den gesamten Hausrat erstellt werden. Damit kann später nachgewiesen werden, dass der ausgezogene Ehegatte sich nicht übermäßig „bedient“ hat.
Zu (2) Ohne Wohnungsschlüssel besteht keine Zutrittsmöglichkeit zur Wohnung und damit auch kein Besitz, also keine Möglichkeit zur tatsächlichen Gewaltausübung an den in der ehelichen Wohnung verbliebenen persönlichen Gegenständen. Hat der in der Wohnung verbliebene Ehegatte den anderen mit Gewalt vom Besitz ausgeschlossen, also etwa das Schloss ausgewechselt, so besteht nach § 861 BGB ein Anspruch auf Wiedereinräumung des Besitzes an den persönlichen Gegenständen.
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Wenn zuvor jedoch der Besitz an der Wohnung selbst freiwillig aufgegeben wurde, dürfte ein Wiederbetreten der Wohnung nicht durchzusetzen sein, auch wenn dies nur der Herausnahme von persönlichen Gegenständen dienen soll. Obergerichtliche Urteile zu dieser Detailfrage liegen nicht vor.
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Zu (3) Wer mit dem erklärten Willen aus der ehelichen Wohnung ausgezogen 80 ist, die eheliche Lebensgemeinschaft nicht wiederherzustellen und getrennt zu leben, hat kein Recht zum Betreten der Wohnung. Dem in der Wohnung verbliebenen Ehegatten steht dann, wenn der andere gegen seinen Willen die Wohnung betreten will, der Unterlassungsanspruch wegen Besitzstörung nach § 862 Abs. 1 BGB zu. Der BGH1 hat das Recht des ausgezogenen Ehegatten zum Betreten der 81 Wohnung deshalb verneint, weil der ausgezogene Ehegatten im damaligen Ausgangsfall die Wohnung nicht deshalb betreten wollte, um die eheliche Lebensgemeinschaft wieder aufzunehmen. Dieser Ehegatte, so der
1 BGH v. 13.10.1971 – IV ZR 12/71, MDR 1972, 33.
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BGH, könne jedoch dann, wenn er wieder mit dem anderen zusammenleben wolle, eine Klage auf Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft erheben. Eine solche Klage könne auch nur auf bestimmte Einzelhandlungen, hier also Wiedereinräumung der Nutzung der Ehewohnung gerichtet und darauf beschränkt sein. 82 Klagen auf Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft sind praktisch unbekannt. Grundsätzlich ist gem. § 888 Abs. 3 ZPO eine Vollstreckung solcher Urteile ausgeschlossen. Etwas anderes soll für einen Titel gelten, nach dem ein Ehegatte den anderen in die Ehewohnung aufzunehmen und ihm den Verbleib dort zu gestatten hat1. Neuere Rechtsprechung dieses Tenors existiert aber nicht. Zu (4) 83 Wechselt der Ehegatte, dem konkrete Gefahr für Leib oder Leben droht, die Wohnungsschlösser aus, verhindert er zwar gewaltsam den Zutritt des anderen zur Ehewohnung. Dem Anspruch des anderen Ehegatten nach § 861 BGB auf Wiedereinräumung des Besitzes kann er jedoch im Streitfall durch Einleitung eines selbständigen Wohnungszuweisungsverfahrens nach § 1361b BGB entgegentreten. 84 Ansonsten kann der in der Wohnung verbliebene Ehegatte zulässigerweise die Schlösser auswechseln, wenn der andere mit Trennungswillen ausgezogen ist und eine andere Wohnung bezogen hat. Der andere Ehegatte hat damit nämlich dokumentiert, dass er die frühere Ehewohnung nicht mehr als Wohnung nutzen und die eheliche Lebensgemeinschaft auch nicht wiederherstellen will. Eine (isolierte) Forderung auf Herausgabe sämtlicher Schlüssel macht wenig Sinn, da dies nicht nachprüfbar und deshalb auch kaum vollstreckbar sein dürfte. 85 Zur Verdeutlichung der Rechtsposition des in der Wohnung verbliebenen Ehegatten kann darauf hingewiesen werden, dass dieser auch nicht über einen Schlüssel zur neuen Wohnung des anderen Ehegatten verfügt. Soweit nicht gewichtige Gründe entgegenstehen, hat jeder der getrenntlebenden Ehegatten einen Anspruch auf ein geschütztes Wohnumfeld, zu dem der jeweils andere Ehegatte keinen Zutritt hat. Zu (5) 86 Jeder Ehegatte hat das Recht, Angriffe auf den sog. räumlich-gegenständlichen Bereich der Ehe abzuwehren. Dies umfasst auch die Entfernung eines Dritten, der ein ehebrecherisches Verhältnis zum anderen Ehegatten unterhält, oder die Abwehr derartiger Störungen2. Dieser Schutzanspruch bezieht sich nicht nur auf die Ehewohnung, sondern schließt das gesamte
1 OLG Hamm v. 25.1.1965 – 15 W 374/64, MDR 1965, 577. 2 BGH v. 26.6.1952 – IV ZR 228/51, BGHZ 6, 360; OLG München v. 29.4.1971 – 12 U 483/69, FamRZ 1973, 939.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 89
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Grundstück ein1. Bei Führung eines gemeinsamen Betriebs soll dies auch die Geschäftsräume betreffen2. Die Klage auf Räumung der Ehewohnung durch den ehebrecherischen 87 Dritten sowie gegen den anderen Ehegatten, es zu unterlassen, dem ehebrecherischen Dritten das Betreten der Wohnung zu gestatten, ist beim Familiengericht zu erheben (§ 23a GVG iVm §§ 111 Nr. 5, 209 Abs. 1 FamFG). Dies soll nach älterer Judikatur auch noch nach der räumlichen Trennung der Eheleute zulässig sein3, ja sogar dann, wenn der aus der Ehewohnung ausgezogene Ehegatte selbst den Scheidungsantrag gestellt hat4. Ob dies heute noch gelten kann, erscheint fraglich. Es dürfte danach zu 88 differenzieren sein, in welchem Maße – als Ausfluss der grundlegenden Bestimmung des § 1353 BGB – der eine Ehegatte vom anderen Rücksicht verlangen kann. In dem der Entscheidung des OLG Celle zugrunde liegenden Fall war die Ehefrau mit den Kindern in das Obergeschoss des zweigeschossigen Hauses gezogen, während der Ehemann, dem das Haus gehörte, seine Geliebte und deren erwachsene Tochter in die Erdgeschosswohnung aufgenommen hatte und selbst dort wohnte. Auch heute noch kann gegen ein derart rücksichtsloses Verhalten mit einer Ehestörungsklage vorgegangen werden. Demgegenüber erscheint das Urteil des OLG Schleswig lebensfremd: Die 89 Ehefrau, die aus der Wohnung ausgezogen ist und dann selbst Scheidungsantrag gestellt hat, kann der Freundin ihres Ehemannes nicht verwehren, ihn in der Wohnung zu besuchen oder auch dort zu nächtigen. Die Entscheidung ist ein Beispiel dafür, dass persönliche Urteile der Richter in die Entscheidungsfindung einfließen; sie zeigt auf, dass auch moralische Wertvorstellungen, also das, was eine Mehrheit der Gesellschaft für „billig und gerecht“ hält, im Laufe der Zeit einem Wandel unterworfen sind. Antragsmuster: 1. Die Beklagte zu 1 wird verurteilt, die von der Klägerin und dem Beklagten zu 2 bewohnte Ehewohnung in … (Anschrift, Lage der Wohnung im Haus) zu räumen und an die Klägerin und den Beklagten zu 2 herauszugeben. Bei der Räumung ist § 885 Abs. 2 ZPO nicht anzuwenden. 2. Der Beklagte zu 2 wird verurteilt, es zu unterlassen, der Beklagten zu 1 das Betreten der im Antrag Nr. 1 näher bezeichneten Wohnung zu gestatten.
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OLG Stuttgart v. 19.10.1979 – 15 U 57/78, FamRZ 1980, 49. OLG Köln v. 19.4.1983 – 15 U 118/82, FamRZ 1984, 267. OLG Celle v. 29.11.1979 – 12 UF 153/79, FamRZ 1980, 242. OLG Schleswig v. 2.11.1988 – 13 U 3/88, 13 U 4/88, FamRZ 1989, 979.
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e) Nutzungsvergütung in der Zeit des Getrenntlebens aa) Allgemeine Voraussetzungen 90 § 1361b Abs. 3 S. 2 BGB sieht ausdrücklich vor, dass der ausgezogene Ehegatte von dem anderen, dem die Ehewohnung ganz oder zum Teil überlassen wurde, eine Nutzungsvergütung verlangen kann, soweit dies der Billigkeit entspricht1. 91 Der Gesetzgeber hat damit die viel diskutierte Streitfrage beantwortet, ob eine Nutzungsvergütung nach § 1361b BGB nur dann gefordert werden kann, wenn dem anderen Ehegatten die Wohnung durch gerichtliche Entscheidung zugewiesen wurde. Klargestellt ist nun, dass auch bei einem freiwilligen Auszug eines der Ehegatten § 1361b BGB die richtige Anspruchsgrundlage ist2. Voraussetzung für den Anspruch auf Nutzungsentschädigung ist auch nicht, dass vor der Überlassung der Ehewohnung ein Zuweisungsverfahren anhängig gemacht worden ist.
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Praxistipp: Bei freiwilligem Auszug eines Ehegatten kann der Verbleibende jedoch durch ein Angebot auf Wiedereinräumung des Mitbesitzes den Anspruch auf Nutzungsentschädigung abwenden3, sofern dies nicht rechtsmissbräuchlich ist. Die alleinige Nutzung der Wohnung soll dem dort verbliebenen Ehegatten nicht aufgedrängt werden können.
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Wichtig: Der Anspruch auf Zahlung einer Nutzungsvergütung kann immer erst ab Zugang einer eindeutigen Zahlungsaufforderung für noch nicht abgelaufene Zeiträume geltend gemacht werden4.
92 Einstweilen frei bb) Mietwohnungen 93 Ein Anspruch auf Nutzungsentschädigung gegen den anderen Ehegatten ist bis auf Ausnahmefälle nur denkbar, wenn die Ehewohnung im Eigentum eines oder beider Ehegatten steht. Obergerichtliche Entscheidungen über Nutzungsentschädigungen für die Überlassung von Mietwohnungen gibt es nur vereinzelt. Das OLG München5 lehnt eine Nutzungsentschädigung unter Mietern rundweg ab. 1 Als Beispiel für eine Billigkeitsabwägung vgl. OLG Brandenburg v. 14.2.2008 – 10 UF 97/07, FamRZ 2008, 1931. 2 BGH v. 15.2.2006 – XII ZR 202/03, FamRZ 2006, 930; OLG Brandenburg v. 14.2.2008 – 10 UF 97/07, FamRZ 2008, 1931; KG v. 13.12.2007 – 2 AR 60/07, FamRZ 2008, 1933. 3 KG v. 15.8.2000 – 18 UF 10350/99, FamRZ 2001, 368. 4 OLG Köln v. 9.11.1998 – 13 W 55/98, FamRZ 1999, 1273. 5 OLG München v. 26.7.2007 – 16 UF 1164/07, FamRZ 2008, 695 = FamRB 2008, 66.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 98
Kap. 7
Grundsätzlich hat der in der Wohnung verbleibende Ehegatte die Miete 94 zu übernehmen. Zu diskutieren wäre allenfalls, ob sich der andere Ehegatte bei überraschendem Auszug eine Zeit lang – ggf. für die Dauer der mietrechtlichen Kündigungsfrist – an der Miete zu beteiligen hat. Verbleibt ein Ehegatte nach dem Auszug des anderen länger in der vormals gemeinsamen Wohnung als eine ihm zuzubilligende angemessene Überlegungsfrist, ohne sich um eine Auflösung des Mietverhältnisses zu bemühen, so gibt er damit zu erkennen, dass er bereit ist, das Mietverhältniss allein fortzuführen sowie Miete und Nebenkosten allein zu tragen1. Ob die vom OLG Düsseldorf insoweit angesetzte Überlegungsfrist von sechs Monaten tatsächlich angemessen und nicht überzogen ist, dürfte nach der bisherigen Dauer des Mietverhältnisses und der sonstigen wirtschaftlichen Verhältnisse der Ehegatten zu beurteilen sein. Probleme entstehen immer wieder dann, wenn der aus der Wohnung ausgezogene Ehegatte allein oder gemeinsam mit dem anderen Ehegatten Partei des Mietvertrags ist und vom Vermieter weiter auf Zahlung der Miete in Anspruch genommen wird. Sind beide Ehegatten Mieter, muss dies über den Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 BGB gelöst werden. Eine „anderweitige Bestimmung“ nach § 426 Abs. 1 S. 1 BGB ergibt sich in diesem Fall aus der Natur der Sache bzw. aus den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften. Nach Auffassung des OLG Hamburg2 soll jedoch im Innenverhältnis der Ehegatten zueinander Gesellschaftsrecht gelten.
95
Ist der aus der Wohnung ausgezogene Ehegatte nach dem Mietvertrag Al- 96 leinmieter, kann er vom anderen Ehegatten gem. § 670 BGB Ersatz von Aufwendungen aus einem Auftragsverhältnis geltend machen, wenn er weiter vom Vermieter in Anspruch genommen wird und die Miete zahlt. Er besitzt daneben auch einen Anspruch auf Freistellung von dieser Verpflichtung nach § 257 BGB. Der Alleinmieter kann im Übrigen auch das Mietverhältnis kündigen. 97 Wenn die weiteren Voraussetzungen für eine Zuweisung der Ehewohnung vorliegen, so kann der in der Wohnung verbleibende Ehegatte im isolierten Wohnungszuweisungsverfahren beantragen, dass ein zeitlich begrenztes Miet- oder Nutzungsverhältnis begründet wird. Das Gericht kann auch ein Kündigungsverbot aussprechen (s. Rn. 61). cc) Ehewohnung im Eigentum eines oder beider Ehegatten Fälle, in denen der ausgezogene Ehegatte vom anderen eine Nutzungsentschädigung verlangt, betreffen fast ausschließlich Immobilien, die zumindest im Teileigentum des ausgezogenen Ehegatten stehen. Dabei gilt bei gemeinsamem Eigentum an einer Immobilie grundsätzlich Gemein-
1 OLG Düsseldorf v. 12.3.2010 – I-22 U 142/09, FamRZ 2011, 375. 2 OLG Hamburg v. 18.5.2001 – 8 U 177/00, NJW-RR 2001, 1012.
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Kap. 7 Rn. 99
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
schaftsrecht nach §§ 741 ff. BGB1. Gem. § 745 Abs. 2 BGB kann danach jeder Teilhaber der Gemeinschaft eine dem Interesse aller Teilhaber nach billigem Ermessen entsprechende Verwaltung und Benutzung verlangen. Dies betrifft auch grundsätzlich die Festsetzung eines Nutzungsentgelts zwischen den Teilhabern der Gemeinschaft.
Û
Wichtig: Widersetzt sich ein Miteigentümer einer Neuregelung der Verwaltung und Benutzung des Miteigentums, obwohl eine solche Neuregelung nach billigem Ermessen i.S. von § 745 Abs. 2 BGB geboten ist, kann der Anspruch auf Nutzungsentschädigung erst dann entstehen, wenn der eine Zahlung verlangende Miteigentümer mit hinreichender Deutlichkeit eine Neuregelung der Verwaltung und Benutzung des Miteigentums nach billigem Ermessen verlangt. Ein bloße Zahlungsaufforderung soll insoweit nicht ausreichen2.
99 Durch die Neufassung des § 1361b BGB aufgrund des GewSchG v. 11.12.2001 (BGBl. I S. 3513) wurde geklärt, dass diese Vorschrift lex specialis zu § 745 Abs. 2 BGB ist, solange es sich bei der Wohnung um eine „Ehewohnung“ handelt3, also begrenzt auf die Trennungszeit. Dem in der Wohnung verbleibenden Ehegatten soll jedoch eine Übergangszeit eingeräumt werden, bevor die Verpflichtung zur Zahlung einer Nutzungsvergütung einsetzt4. § 1361b BGB ist auch anwendbar, wenn kein gerichtliches Zuweisungsverfahren anhängig war, sondern ein Ehegatte freiwillig ausgezogen ist5. 100
Das Verlangen des ausgezogenen Ehegatten auf Nutzungsentschädigung kann auf das gegenläufige Unterhaltsverlangen des in der Wohnung verbleibenden Ehegatten treffen. Ist der Unterhalt bereits geregelt und wurde dabei die mietfreie Nutzung der Wohnung durch einen der Ehegatten berücksichtigt, ist kein Raum mehr für Ansprüche auf Nutzungsentschädigung6. Es besteht dann ein Vorrang der Unterhaltsregelung. Dabei wird idR der Nutzungsvorteil, den der in der Ehewohnung verbleibende Ehegatte besitzt, im Rahmen der Unterhaltsberechnung auf seiner Seite als fiktiver Einkommensposten oder Unterhaltsleistung des Unterhaltspflichtigen berücksichtigt. 1 OLG Brandenburg v. 29.6.2000 – 9 U 4/00, FamRZ 2001, 427. 2 OLG Karlsruhe v. 5.6.2008 – 4 U 72/06, FamRZ 2009, 775. 3 OLG Jena v. 22.11.2005 – 2 W 597/05, FamRZ 2006, 868; OLG Brandenburg v. 7.6.2006 – 9 AR 3/06, FamRZ 2006, 1392 = FamRB 2007, 12; OLG Jena v. 25.2.2008 – 11 SA 1/08, FamRZ 2008, 1934; OLG Hamm v. 27.2.2008 – I-33 U 29/07, FamRZ 2008, 1935. 4 OLG München v. 17.4.2007 – 2 UF 1607/06, FamRZ 2007, 1655 = FamRB 2007, 290. 5 OLG Naumburg v. 7.7.2009 – 3 WF 157/09, FamRZ 2010, 391; so auch Wever, FamRZ 2009, 237. 6 BGH v. 13.11.1996 – XII ZR 125/95, FamRZ 1997, 484; OLG Naumburg v. 23.4.2009 – 8 U 17/08, FamRZ 2009, 2090.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 101
Kap. 7
Die Nutzung der im Eigentum eines oder beider Ehegatten stehenden 101 Wohnung kann auch Einfluss haben auf die Verbindlichkeiten, die zur Finanzierung der Wohnung aufgenommen wurden. Soweit der in der Ehewohnung verbleibende Ehegatte Alleineigentümer ist, ist er verpflichtet, ab dem Scheitern der Ehe auch für die Bedienung von gesamtschuldnerisch eingegangenen Finanzierungsverbindlichkeiten allein aufzukommen1.
Û
Wichtig: Probleme entstehen oft, wenn der in der Ehewohnung verbleibende Ehegatte Zins- und Tilgung für die gemeinsamen, zur Finanzierung der Wohnung aufgenommenen Darlehen weiter bedient und der andere Ehegatte im Hinblick darauf die Nutzung duldet, ohne eine Vergütung zu fordern. Macht der in der Ehewohnung verbleibende Ehegatte dann nach längerer Zeit wegen der von ihm allein getragenen Verbindlichkeiten seinen Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich gem. § 426 Abs. 2 BGB geltend, was auch rückwirkend ohne weiteres möglich ist, steht einer Aufrechung des ausgezogenen Ehegatten mit seinem Nutzungsvergütungsanspruch die Tatsache entgegen, dass ein solcher Anspruch erst mit einer konkreten Zahlungsaufforderung entsteht, die jedoch meist nicht erfolgt ist. Nach Auffassung des BGH kann dem Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich in diesen Fällen jedoch der Anspruch auf Nutzungsentschädigung des ausgezogenen Ehegatten auch dann als Einwendung im Verfahren entgegengehalten werden, wenn der verbleibende Ehegatte mit Duldung des anderen die Immobilie nach der Trennung genutzt und wie bisher die Lasten getragen hat, ohne zu erkennen zu geben, dass er einen hälftigen Ausgleich für die von ihm bedienten Verbindlichkeiten geltend machen will2. Andernfalls ergäbe sich nach Auffassung des BGH die unbillige Konsequenz, dass der weiter den Nutzen und die Lasten tragende Ehegatte rückwirkend einen hälftigen Ausgleichsanspruch hätte, während dem ausgezogenen Ehegatten nur ein für die Zukunft wirkender Anspruch auf Nutzungsentgelt zustünde3.
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Praxistipp: Erhält der in der gemeinsamen Ehewohnung verbleibende Ehegatte allein zusammen mit den gemeinsamen Kindern Unterhalt von dem aus der Wohnung ausgezogenen Ehegatten, empfiehlt es sich dringend, eine ausdrückliche Vereinbarung über die zukünftige Tilgung der Verbindlichkeiten und die in Ansatz zu bringende Nutzungsvergütung in Verbindung mit den geschuldeten Unterhaltsleistungen herbeizuführen.
1 BGH v. 27.11.1996 – XII ZR 43/95, FamRZ 1997, 487. 2 BGH v. 13.1.1993 – XII ZR 212/90, FamRZ 1993, 676. 3 Ebenso: OLG Brandenburg v. 21.7.2002 – 9 W 7/02, FamRZ 2003, 378.
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Kap. 7 Rn. 102
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
dd) Höhe der Nutzungsvergütung 102
Nutzungsvergütung nach § 1361b Abs. 3 S. 2 BGB ist ausdrücklich nur zu zahlen, soweit dies der Billigkeit entspricht. Dies betrifft auch die Höhe der Vergütung. Dabei spielen auch die persönlichen Verhältnisse der Eheleute eine Rolle. Die Festsetzung einer Nutzungsvergütung entspricht beispielsweise nicht der Billigkeit, wenn der in der Wohnung verbleibende Ehegatte wegen der Versorgung eines kleinen Kindes nicht erwerbstätig ist und eine Nutzungsvergütung nicht zahlen kann, weil der andere keinen Unterhalt zahlt1. Zu berücksichtigen sind ggf. auch Verfehlungen des einen Ehegatten, die zur gerichtlichen Zuweisung der Wohnung geführt haben2.
102a Widersprüchliches Verhalten eines Ehegatten, der während der Trennungszeit ein Nutzungsentgelt für die dem anderen überlassene, im gemeinsamen Eigentum der Eheleute stehende Ehewohnung verlangt, den anderen Ehegatten jedoch von der Nutzung eines Ferienhauses ausschließt, soll ebenfalls zur Unbillligkeit des Verlangens auf Nutzungsentschädigung führen3. 103
Der objektive Mietwert der Wohnung bzw. bei hälftigem Miteigentum die Hälfte dieses Werts stellt die absolute Höhe der vom ausgezogenen Ehegatten zu beanspruchenden Nutzungsvergütung dar. Eine Nutzungsvergütung iHd. objektiven Mietwerts soll insbesondere dann gerechtfertigt sein, wenn ein Ehegatte das im Alleineigentum des anderen Ehegatten stehende Haus zusammen mit den Kindern jahrelang nutzt und der Alleineigentümerehegatte in wirtschaftlich beengten Verhältnissen lebt4. Maßgebend für die zu treffende Billigkeitsentscheidung sind neben dem Mietwert auch die bisherige Lebensgestaltung der Ehegatten und ihre wirtschaftlichen Verhältnisse sowie ggf. die Mitnutzung durch erwachsene Kinder5.
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Wichtig: Neben der Nutzungsenschädigung hat der in der Wohnung verbleibende Ehegatte nicht nur die verbrauchsabhängigen Nebenkosten, sondern sämtliche Betriebskosten zu tragen, die ein Vermieter nach der Betriebskostenverordnung (BetrKV) v. 25.1.2003 auf einen Mieter umlegen kann. Nicht umlagefähig sind danach die Kosten der Verwaltung und Instandhaltungskosten, während die Kosten der Sachund Haftpflichtversicherung umlagefähig sind6.
1 2 3 4 5 6
OLG Köln v. 16.12.1996 – 14 UF 275/96, FamRZ 1997, 943. OLG Köln v. 23.6.1992 – 4 UF 21/92, FamRZ 1993, 562. OLG Frankfurt v. 1.11.2010 – 5 UF 300/10, FamRZ 2011, 373. OLG Bremen v. 31.3.2010 – 4 WF 32/10, FamRZ 2010, 1980. OLG Hamm v. 30.9.2010 – II-3 UF 154/10, FamRZ 2011, 892. BGH v. 27.5.2009 – XII ZR 78/08, FamRZ 2009, 1300 = FamRB 2009, 335, FamRB 2009, 270, FamRB 2009, 271 und FamRB 2009, 272.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 107
Kap. 7
Schon bei der Rechtsprechung zum Trennungsunterhalt wird regelmäßig 104 der Teil des Wohnwerts, den der in der Wohnung verbleibende Ehegatte nicht nutzen kann, als „totes Kapital“ bei der Bestimmung des Unterhaltsbedarfs nach Maßgabe der ehelichen Lebensverhältnisse eliminiert1. IdR kommt bei der Regelung des Trennungsunterhalts der Ansatz des vollen Mietwerts nicht in Frage2. Dabei lehnt der BGH ausdrücklich die sog. 1/3-Obergrenze als schematischen Ansatz für den Mietwert der Ehewohnung während der Trennungszeit ab. Auch wenn dies im Einzelfall seine Berechtigung haben könne, sei vielmehr der Mietzins zugrunde zu legen, den der in der Ehewohnung verbleibende Ehegatte auf dem örtlichen Wohnungsmarkt für eine dem ehelichen Lebensstandard entsprechende angemessene kleinere Wohnung zahlen müsste. Der Gesichtspunkt des „toten Kapitals“ ist auch bei der Bemessung des 105 Nutzungsentgelts nach § 1361b Abs. 3 S. 2 BGB zu berücksichtigen. Wurde etwa dem in der Ehewohnung verbleibenden Ehegatten die Nutzung der Wohnung gegen seinen Willen aufgedrängt, so kann dies bei der Bemessung des Nutzungsentgelts zu berücksichtigen sein. Dementsprechend hat der Ehegatte, dem die Alleinnutzung aufgedrängt wurde, auch nach dem Auszug des anderen Ehegatten Anspruch auf eine hälftige Beteiligung des anderen Ehegatten an der Zurückführung der Finanzierungsdarlehen3. „Totes Kapital“ liegt spätestens nach einer Übergangszeit von sechs bis 106 zwölf Monaten nicht mehr vor4, deshalb soll spätestens nach Ablauf eines Jahres statt dem „angemessenen“ der volle Mietwert zu zahlen sein5. Eine Absenkung der Nutzungsentschädigung ist auch dann nicht (mehr) erforderlich, wenn der in der Wohnung verbleibende Ehegatte die Wohnung tatsächlich voll nutzt. Dies ist etwa dann der Fall, wenn er einen Teil der Wohnung untervermietet oder wenn er seinen neuen Partner in die Wohnung aufgenommen hat, der dadurch eigene Mietzahlungen einspart. 6. Durchsetzung des Anspruchs auf Wohnungsüberlassung a) Besondere Verfahrensvorschriften Örtlich zuständig ist gem. § 201 FamFG während der Anhängigkeit einer Ehesache das Gericht des ersten Rechtszuges, ansonsten das Gericht, in dessen Bezirk sich die gemeinsame Wohnung der Ehegatten befindet.
1 BGH v. 12.7.1989 – IVb ZR 66/88, FamRZ 1989, 1160; BGH v. 22.4.1998 – XII ZR 161/96, FamRZ 1998, 899. 2 BGH v. 20.10.1999 – XII ZR 297/97, FamRZ 2000, 351. 3 OLG Hamm v. 6.3.1996 – 33 U 59/95, FamRZ 1996, 1476. 4 OLG Brandenburg v. 21.7.2002 – 9 W 7/02, FamRZ 2003, 378. 5 OLG Hamm v. 30.9.2010 – II-3 UF 154/10, FamRZ 2011, 892.
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Kap. 7 Rn. 108
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
108
Der Antrag in Ehewohnungssachen soll gem. § 203 Abs. 3 FamFG die Angabe enthalten, ob Kinder im Haushalt der Ehegatten leben. Ist das der Fall, hat das Familiengericht das Jugendamt auf seinen Antrag zu beteiligen (§ 204 Abs. 2 FamFG). Das Jugendamt soll angehört werden. Unterbleibt die Anhörung allein wegen Gefahr im Verzug, ist sie unverzüglich nachzuholen. Dem Jugendamt steht gegen einen verfahrensbeendenden Beschluss ein selbständiges Beschwerderecht zu (§ 205 FamFG).
109
Kinder haben idR keinen eigenständigen Mitbesitz an der Wohnung, so dass es ihnen gegenüber keines Räumungstitels bedarf1.
110
Auch der Vermieter ist in Ehewohnungssachen nach § 1568a BGB gem. § 204 Abs. 1 FamFG am Verfahren zu beteiligen.
111
Nach § 209 Abs. 1 FamFG soll das Gericht zusammen mit der Endentscheidung die Anordnungen treffen, die zu ihrer Durchführung erforderlich sind. Dazu gehört beispielsweise die Anordnung, dass die Ehewohnung durch den unterlegenen Ehegatten zu räumen und an den obsiegenden herauszugeben ist, oder dass die Wohnungsschlüssel herauszugeben sind. Weiter sind Zutrittverbote oÄ denkbar (zu Einzelheiten s. Rn. 41).
112
Die Entscheidung über die Überlassung der Ehewohnung wird grundsätzlich mit Rechtskraft wirksam. Jedoch soll das Gericht in Ehewohnungssachen die sofortige Wirksamkeit anordnen, § 209 Abs. 2 S. 2 FamFG. Gleichzeitig kann das Gericht die Zulässigkeit der Vollstreckung vor der Zustellung an den Antragsgegner anordnen, § 209 Abs. 3 S. 1 FamFG.
Û
Praxistipp: Die Räumungsanordnung wird gem. § 885 ZPO vollstreckt, indem der Gerichtsvollzieher den zur Räumung verpflichteten Ehegatten aus der Wohnung weist. Dabei umfasst die „Räumung“ gem. Abs. 2 der Vorschrift zwingend auch die Wegschaffung der beweglichen Sachen, die der Gerichtsvollzieher in der Wohnung auffindet. Es sollte deshalb unbedingt bei Antragstellung bzw. bei Abfassung eines Vergleichs im Hinblick auf die Haushaltsgegenstände unbedingt darauf geachtet werden, dass die Anwendung von § 885 Abs. 2 ZPO ausdrücklich ausgeschlossen wird.
113
Die Vollstreckung von rechtskräftigen Entscheidungen und einstweiligen Anordnungen richtet sich gem. § 95 FamFG nach der ZPO. Auf Antrag erteilt die Geschäftsstelle des Familiengerichts Vollstreckungsklauseln für rechtskräftige Entscheidungen und gerichtliche Vergleiche. Einstweilige Anordnungen bedürfen gem. § 53 Abs. 1 FamFG einer Vollstreckungsklausel nur dann, wenn die Vollstreckung für oder gegen einen anderen als den in dem Beschluss bezeichneten Beteiligten erfolgen soll. 1 BGH v. 19.3.2008 – I ZB 56/07, FamRZ 2008, 1174.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 117
Kap. 7
Bei einem Beschluss, mit dem ein Antrag auf Zuweisung der Ehewoh- 113a nung zurückgewiesen wird, handelt es sich um eine Entscheidung mit Dauerwirkung i.S.d. § 48 Abs. 1 S. 1 FamFG. Eine Abänderung kommt danach nur im Falle einer wesentlichen Änderung der Sach- oder Rechtslage in Frage. Eine solche Änderung muss nach Eintritt der Rechtskraft der ursprünglichen Entscheidung eingetreten sein. Auch die Korrektur einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung der Vorentscheidung kommt andernfalls nicht in Betracht1. b) Wahl der Verfahrensart In den meisten Fällen stellt sich die Frage der weiteren Nutzung der Ehe- 114 wohnung zu Beginn der Trennungszeit, da die (räumliche) Trennung durch den Auszug eines der Ehegatten erfolgt. Demzufolge dürften Verfahren nach § 1568a BGB – ebenso wie früher Verfahren nach der der HausratsVO –, ob als Folgesache oder isoliert nach Abschluss des Scheidungsverfahren äußerst selten sein. Wer sich einmal eine andere Wohnung gesucht hat, hat sich meist auf Dauer anders orientiert. Denkbar ist allerdings der Fall, dass ein Ehegatte, der alleiniger Eigentümer der Ehewohnung ist, diese freiwillig oder aufgrund gerichtlicher Entscheidung dem anderen Ehegatten für die Trennungszeit überlassen hat und diesen Zustand für die Zeit nach der Ehescheidung ändern will.
Û
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Praxistipp: Schon aus Kostengründen (Aufsummierung der Gegenstandswerte) empfiehlt es sich, ein Verfahren nach § 1568a BGB für die Zeit nach Rechtskraft der Ehescheidung im Rahmen des Scheidungsverbunds als Folgesache anhängig zu machen. Möglicherweise wird auch Verfahrenskostenhilfe für ein isoliertes Verfahren nach der Scheidung abgelehnt, wenn die Angelegenheit auch als Folgesache hätte behandelt werden können. Die Rechtsprechung zu dieser Frage ist völlig uneinheitlich.
Andererseits besteht im isolierten Verfahren außerhalb des Scheidungs- 116 verbunds kein Anwaltszwang. Ist also keine anwaltliche Vertretung erforderlich, so empfiehlt sich diese Verfahrensart. c) Insbesondere: Vorläufiger Rechtsschutz Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 49 ff. FamFG 117 sind auch ohne gleichzeitige Anhängigkeit eines Hauptsacheverfahrens zulässig. Gem. § 57 Nr. 5 FamFG sind einstweilige Anordnungen in Wohnungszuweisungssachen mit der Beschwerde anfechtbar, wenn das Gericht aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat.
1 OLG Stuttgart v. 12.1.2011 – 15 UF 243/10, FamRZ 2011, 976.
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Kap. 7 Rn. 118
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Empfohlen wird folgendes Antragsmuster: In der Familiensache … (Rubrum) wegen Erlasses einer einstweiligen Anordnung auf Überlassung der Ehewohnung beantrage ich, der Dringlichkeit halber ohne vorherige Anberaumung einer mündlichen Verhandlung eine einstweilige Anordnung folgenden Inhalts zu erlassen: Die Ehewohnung der Beteiligten in … (Anschrift, Lage der Wohnung im Haus) wird dem Antragsteller vorläufig zur alleinigen Nutzung zugewiesen. Die Antragsgegnerin ist verpflichtet, die Wohnung, bestehend aus … (Anzahl der Räume, Funktionsräume, Nebenräume) zu räumen und an den Antragsgegner herauszugeben. § 885 Abs. 2 ZPO ist bei der Räumung nicht anzuwenden.
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Im Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz ist kein Nachweis strittiger Behauptungen möglich, da aufgrund der Eilbedürftigkeit nur eine kursorische Ermittlung des streitigen Sachverhalts erfolgen kann. Es reicht gem. § 51 Abs. 1 FamFG das mindere Nachweismittel der Glaubhaftmachung. Darunter fällt insbesondere die eidesstattliche Versicherung des antragstellenden Ehegatten, die beizufügen und auf die in der Antragsschrift verwiesen werden kann. Dabei hat der antragstellene Ehegatte sowohl den Anordnungsanspruch, also die materiellen Voraussetzungen für eine Zuweisung der Ehewohnung glaubhaft zu machen, als auch den Anordnungsgrund, also die Dringlichkeit der Entscheidung, die ein Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache ausschließt1.
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Die Gründe für die Zuweisung der Wohnung an den antragstellenden Ehegatten und für eine rasche Entscheidung des Gerichts müssen zudem substantiiert dargelegt werden. Es reicht nicht aus, etwa pauschal zu behaupten, die antragstellende Ehefrau sei mehrfach geschlagen oder sonst misshandelt worden2.
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Praxistipp: Es ist zu empfehlen, den Sachverhalt ausführlich in der eidesstattlichen Versicherung des Mandanten darzustellen und nicht mit Anwaltsschriftsatz vorzutragen, der dann nur noch pauschal vom Antragsteller eidesstattlich versichert wird („Der im Schriftsatz meines Anwalts vom … unterbreitete Vortrag entspricht den Tatsachen“). Ein Vortrag direkt aus der Sicht des Betroffenen wirkt immer authentischer als eine Nacherzählung des Anwalts.
1 OLG Köln v. 27.8.2010 – 4 WF 160/10, FamRZ 2011, 118. 2 OLG Düsseldorf v. 14.3.1988 – 4 UF 38/88, FamRZ 1988, 1058.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 122
Kap. 7
Es empfiehlt sich, die ausführliche eidesstattliche Versicherung in Anwesenheit des betreffenden Ehegatten zu diktieren und sie dem Antragsteller dann noch einmal zur Korrektur vorlegen zu lassen. Dieses Verfahren vermeidet zum einen Verständnisfehler, zum anderen gibt es die Sicherheit, dass der Mandant sich tatsächlich um eine detaillierte Schilderung bemüht. Letztendlich ist er es, der sich bei Abgabe einer auch nur unabsichtlich falschen eidesstattlichen Versicherung strafbar machen kann.
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Empfehlenswert ist auch, bereits in der Antragsschrift oder aber in der eidesstattlichen Versicherung mögliche Einwände des anderen Ehegatten vorwegzunehmen, da die Schilderung des Sachverhalts immer vollständig sein muss. Außerdem können dann schon mit der Antragstellung Argumente gegen mögliche Erwiderungen des Antragsgegners vorgebracht werden.
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III. Auseinandersetzung der Haushaltsgegenstände 1. Arbeitshinweise (Checkliste) – Namen und Anschriften beider Beteiligten, berufliche Stellung, finanzielle Verhältnisse, Vermögen, Hobbys – Im gemeinsamen Haushalt lebende Kinder, deren Geschlecht und Alter, ggf. Hobbys, ausgeübte Sportarten – Vollständige Ermittlung aller Haushaltsgegenstände und deren Verbleib (Liste): – Genaue Beschreibung, Marke, Alter, Anschaffungsdatum, Neupreis und aktueller Verkehrswert – Abgrenzung zu den persönlichen Gegenständen: Allein für den Gebrauch eines Ehegatten oder der Kinder bestimmt? – Pkw: Vorwiegend für den beruflichen Gebrauch eines Ehegatten? Nutzung für familiäre Zwecke vorrangig? – Wertvolle Haushaltsgegenstände? Ausschließlich als Geldanlage gekauft oder als Einrichtungsgegenstand genutzt? – Persönliches Interesse der Ehegatten und der Kinder an einzelnen Haushaltsgegenständen – Eigentumsverhältnisse an den Haushaltsgegenständen: – Schon bei Eheschließung vorhanden oder während der Ehe angeschafft? Eigentumserwerb durch „den, den es angeht“ oder als Kapitalanlage eines Ehegatten? – Für das eigene Geschäft/Berufsausübung erworben (Nachweise!)? – Persönlich geschenkt erhalten durch den anderen Ehegatte oder Dritte (Zeugen)?
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Kap. 7 Rn. 123
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
– Vollständige oder teilweise Einigung, ggf. durch schlüssiges Verhalten? – Ggf. überschlägige Zugewinnausgleichsberechnung 2. Grundsätzliches 123
Bei der Verteilung der Haushaltsgegenstände unterscheidet das Gesetz zwischen der endgültigen Überlassung nach Rechtskraft der Ehescheidung und einer vorläufigen Zuteilung für die Trennungszeit.
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Die endgültige Regelung für die Zeit nach der Scheidung erfolgt nach § 1568b BGB. Anders als bei der Wohnungszuweisung greift die endgültige Überlassung der Haushaltsgegenstände in das Eigentumsrecht der Ehegatten ein. Voraussetzung für die Entscheidung durch das Gericht ist, dass keine bzw. keine vollständige Einigung der Eheleute getroffen wurde.
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Für die Zeit der Trennung regelt § 1361a BGB die vorläufige Überlassung von Haushaltsgegenständen zur Nutzung durch einen Ehegatten allein. Die Vorschrift betrifft nicht nur die vorläufige Nutzungszuweisung von Haushaltsgegenständen, die den Ehegatten gemeinsam oder einem von ihnen allein gehören, sondern auch die Herausgabe von Haushaltsgegenständen. § 1361a BGB überlagert insoweit die §§ 985 ff. BGB. Voraussetzung für die Zuweisung der Haushaltsgegenstände ist eine bereits vollzogene Trennung der Eheleute; eine Vorratsentscheidung für eine lediglich beabsichtigte Trennung ist nicht möglich. Einen Eingriff des Richters in die Eigentumsverhältnisse schließt § 1361a Abs. 4 BGB für die Zeit der Trennung allerdings ausdrücklich aus.
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Wichtig: Die Aufteilung von Haushaltsgegenständen ist dem Grundsatz nach „Realteilung“! Ein auf Geld gerichteter Anspruch auf Entschädigung für eine ungleichmäßige Aufteilung des Hausrats kommt nur in seltenen Fällen in Frage, etwa wenn eine Verteilung nach Billigkeitsgesichtspunkten nicht (mehr) möglich ist1. Allerdings sieht § 1568b Abs. 3 BGB für den Fall der Eigentumsübertragung einen Anspruch auf eine angemessene Ausgleichszahlung für die überlassenen Haushaltsgegenstände vor.
3. Begriff der „Haushaltsgegenstände“ 126
Nach Aufhebung der HausratsVO zum 1.9.2009 verwendet auch § 1568b BGB den bereits an anderer Stelle, etwa in § 1361a, im BGB verwandten Begriff der „Haushaltsgegenstände“, der dem des „Hausrats“ der früheren HausratsVO entspricht. Der Begriff ist weit auszulegen.
1 OLG Naumburg v. 7.10.1993 – 4 WF 83/93, FamRZ 1994, 390.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 131
Kap. 7
a) Begriffbestimmung durch die Rechtsprechung Unter Haushaltsgegenständen werden bewegliche Sachen verstanden, die 127 nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten und ihrer Kinder, insbesondere nach den Einkommens- und Vermögensverhältnissen, für die Zwecke des Zusammenlebens sowie für die Wohnung und die Hauswirtschaft bestimmt sind. Dies betrifft auch die Freizeitgestaltung, so dass auch die Einrichtung eines Wochenendhauses1 oder Gegenstände, die der Freizeitgestaltung dienen, wie etwa eine gemeinsam genutzte Segeljacht2 oder sogar eine Motorjacht im Wert von 42 000 Euro3 unter den Begriff „Haushaltsgegenstand“ fallen. Ein auf einem gepacheten Kleingartengrundstück stehendes Gartenhaus ist jedoch kein Haushaltsgegenstand, da es mit dem Grundstück auch dann als wirtschaftliche Einheit zu betrachten ist, wenn es nicht wesentlicher Bestandteil nach § 94 Abs 1 S. 1 BGB geworden ist4. Auf den Wert der Gegenstände kommt es nicht an, solange sie ihrer Art 128 nach als Haushaltsgegenstände geeignet sind und nach dem Lebenszuschnitt der Beteiligten auch als solche dienen5. Grundsätzlich kommt es immer auf die tatsächliche Nutzung an. Keine Haushaltsgegenstände sind demnach die Gegenstände, die lediglich 129 für den persönlichen Gebrauch der Ehegatten oder der Kinder bestimmt sind, etwa Kleider, Schmuck, Familienandenken eines Ehegatten, für die Ausübung eines nur von einem Ehegatten betriebenen Hobbys angeschaffte Gegenstände, Schulbücher etc. Auch auf das Anschaffungsmotiv kommt es für die Zugehörigkeit zum 130 ehelichen Haushalt nicht an: Selbst ein Gegenstand, der für das Geschäft eines der Ehegatten angeschafft wurde, ist ein Haushaltsgegenstand, wenn er tatsächlich als Einrichtungsstück in der Wohnung genutzt wurde, und zwar selbst dann, wenn dieser Ehegatte Kunden und Geschäftspartner (auch) in der Wohnung empfangen hat6. Der Aufteilung nach § 1568b BGB unterliegen solche Gegenstände aber nur dann, wenn sie als gemeinsames Eigentum der Ehegatten anzusehen sind. Zum Hausrat gehören demnach bei gemeinsamer Nutzung durch die Familie: – Möbel, Teppiche, Lampen, Vorhänge; – Küchengeräte, Töpfe und Pfannen, Geschirr, Besteck, Badezimmer-Zubehör, Wäsche; – Vasen, Deko-Artikel, Bilder, Wandschmuck; 1 2 3 4 5 6
OLG Bamberg v. 14.9.1992 – SA 11/92, FamRZ 1993, 335. LG Ravensburg v. 31.3.1995 – 3 O 2221/94, FamRZ 1995, 1585. OLG Dresden v. 25.4.2003 – 10 ARf 2/03, FamRZ 2004, 273. OLG Hamm v. 30.10.2008 – II-2 UF 147/08, FamRZ 2009, 1225. BGH v. 14.3.1984 – IVb ARZ 59/83, FamRZ 1984, 575. OLG Düsseldorf v. 15.5.1986 – 9 UF 207/85, FamRZ 1986, 1132.
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131
Kap. 7 Rn. 132
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
– Fernsehgeräte, Radios, Musikanlagen einschl. Tonträger sowie VideoGeräte, Film- und Diaprojektoren nebst Bildträgern, Fotos; – Bücher, soweit sie nicht als Fachliteratur einem Familienmitglied allein zuzuordnen sind; – Musikinstrumente und Fahrzeuge, wenn sie von mehreren Familienmitgliedern genutzt werden; – Sportgeräte, Boote, Wohnwagen bzw. -mobil; – Computer (soweit nicht der Berufsausübung nur eines Ehegatten dienend); – Kunstgegenstände und Antiquitäten, sofern sie nicht ausschließlich als Kapitalanlage angeschafft, sondern wenigsten zeitweise auch als Einrichtungsgegenstände der Ehewohnung genutzt wurden. 132
Kraftfahrzeuge sind im Zweifel keine Haushaltsgegenstände1. Nur dann, wenn die Verwendung eines Pkw zur gemeinsamen Haushaltsführung deutlich überwiegt, ist die Zugehörigkeit zu den Haushaltsgegenständen zu bejahen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn das Fahrzeug überwiegend genutzt wurde zu Einkaufsfahrten, Familienausflügen oder um die gemeinsamen Kinder zur Schule oder anderen Unternehmungen zu transportieren, und demgegenüber die Nutzung für berufliche Zwecke eines der Ehegatten in den Hintergrund tritt2. Ein Pkw, der vorrangig von einem Ehegatten genutzt wird, um zu seiner Arbeitsstelle zu gelangen, wird nicht deshalb zum Haushaltsgegenstand, weil damit auch gelegentlich Ausflüge unternommen oder Großeinkäufe erledigt werden3.
133
Auf Haustiere werden die Vorschriften über Haushaltsgegenstände entsprechend angewendet4. Das gilt auch für Tiere, die als Nahrungsmittelvorrat gedacht sind, nicht jedoch für solche, die mit Gewinnerzielungsabsicht gehalten werden wie etwa bei einer Pferdezucht5. Ein „Umgangsrecht“ für Haustiere kann über die entsprechende Anwendung der Vorschriften über die Verteilung von Haushaltsgegenständen jedoch nicht erreicht werden6.
134
Für die Qualifizierung als Haushaltsgegenstand kommt es im Übrigen auch nicht auf die Herkunft der Mittel an. Auch Möbel, die mit ge1 BGH v. 24.10.1990 – XII ZR 101/89, FamRZ 1991, 43. 2 BGH v. 24.10.1990 – XII ZR 101/89, FamRZ 1991, 43; OLG Düsseldorf v. 18.7.1991 – 3 WF 97/91, FamRZ 1992, 60; OLG Karlsruhe v. 3.4.2000 – 2 WF 111/99, FamRZ 2001, 760; KG v. 17.1.2003 – 13 UF 439/02, FamRZ 2003, 1927; OLG Zweibrücken v. 1.7.2004 – 2 UF 84/04, FamRZ 2005, 902. 3 AA OLG Düsseldorf v. 23.10.2006 – 2 UF 79/06, OLG Düsseldorf v. 23.10.2006 – II-2 UF 97/06, FamRZ 2007, 1325 = FamRB 2007, 97. 4 OLG Zweibrücken v. 5.2.1998 – 2 UF 230/97, FamRZ 1998, 1432; OLG Schleswig v. 21.4.1998 – 12 WF 46/98, NJW 1997, 3127. 5 OLG Naumburg v. 29.10.1999 – 3 UF 95/99, FamRZ 2001, 481; OLG Celle v. 9.3.2009 – 15 WF 44/09, FamRZ 2009, 1911 = FamRB 2009, 334. 6 OLG Hamm v. 25.11.2010 – 10 WF 240/10, FamRZ 2011, 893.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 138
Kap. 7
schenktem oder geerbtem Geld angeschafft wurden, gehören zum Haushalt1. Möglichweise steht ein solcher Haushaltsgegenstand aber im Alleineigentum des Ehegatten, dem das Geld geschenkt wurde, was ggf. darzulegen und nachzuweisen ist. Einbaumöbel, insbesondere in Küchen oder Badezimmern, gehören nicht 135 zu den Haushaltsgegenständen, wenn sie gem. § 94 BGB als wesentliche Bestandteile des Gebäudes und damit des Grundstücks anzusehen sind2. Für Einbauküchen gilt dies nur dann, wenn sie mit besonderem Aufwand auf das Gebäude abgestimmt worden sind und ohne großen Kostenaufwand nicht ausgebaut und anderweitig wieder eingebaut werden können. Standardeinbauküchen, die aus einzelnen Korpus-Teilen zusammengesetzt sind, werden durch den Einbau grundsätzlich nicht wesentliche Bestandteile eines Gebäudes3. Auch die Höhe der Montagekosten ist nicht ausschlaggebend4. Im Übrigen sind Einbaumöbel, also etwa eingebaute Schränke oder Regale, grundsätzlich wesentliche Bestandteile des Grundstücks5 und gehören nicht in die Aufteilung der Haushaltsgegenstände. Unter die Aufteilung der Haushaltsgegenstände fallen auch Rechte, die 136 sich auf solche Gegenstände beziehen, beispielsweise eine Forderung auf Schadensersatz oder auf eine Versicherungsleistung für untergegangene Haushaltsgegenstände, Ansprüche auf Herausgabe von Haushaltsgegenständen, wenn eine nach §§ 1368, 1369 BGB unwirksame Übereignung stattgefunden hat, etc. Für Schadensersatzansprüche des einen Ehegatten gegen den anderen wegen schuldhaften Untergangs eines Haushaltsgegenstandes ist allerdings nicht § 1568a BGB anwendbar; es entscheidet das Familiengericht unter Anwendung der allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften über den Schadensersatz. b) Abgrenzung zu Gegenständen des persönlichen Gebrauchs Nicht zum Haushalt der Eheleute gehören die ausschließlich dem persönlichen Gebrauch oder der Berufsausübung eines Ehegatten dienenden Sachen, die auch in § 1362 Abs. 2 BGB Erwähnung finden.
137
Bei den „persönlichen Gegenständen“ handelt es sich ausschließlich um 138 bewegliche Sachen, allerdings auch vertretbare und verbrauchbare, wie etwa Vorräte, nicht jedoch Bauwerke oder Grundstücke. Anders als beim Hausrat können auch nicht Forderungen oder dingliche Rechte persönliche Gegenstände darstellen. Auch das Sparbuch als sog. „hinkendes Inhaberpapier“ nach § 808 BGB ist kein Haushaltsgegenstand, obwohl es 1 OLG Düsseldorf v. 23.3.1987 – 10 UF 258/86, FamRZ 1987, 1055. 2 BGH v. 1.2.1990 – IX ZR 110/89, NJW-RR 1990, 586; BGH v. 12.12.1989 – VI ZR 311/88, NJW-RR 1990, 914; OLG Hamm v. 1.6.1990 – 5 UF 50/90, FamRZ 1991, 89. 3 OLG Nürnberg v. 2.4.2002 – 3 U 4158/01, FamRZ 2003, 156. 4 BGH v. 15.2.1990 – VII ZR 175/89, MDR 1990, 1101. 5 OLG Köln v. 6.5.1991 – 12 U 130/88, NJW-RR 1991, 1077.
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Kap. 7 Rn. 139
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
nicht zu den beweglichen Sachen gehört, auf die sich die Eigentumsvermutung des § 1362 Abs. 1 BGB bezieht. Das Sparbuch steht dem Inhaber der Forderung gegen die Bank zu. 139
Unter die persönlichen Gegenstände fallen der Pass, der Personalausweis, Zeugnisse, Versicherungsunterlagen, Kleidung, Schmuck, Medikamente, Kosmetika, der Rasierapparat, Schulbücher, Fachliteratur, Schul- und Aktenmappen, Handarbeitszeug, ggf. auch die Nähmaschine, Damen- bzw. Herrenfahrräder etc. Auch Sachgesamtheiten wie etwa Münzsammlungen oder Briefmarkenalben können zu den persönlichen Gegenständen eines Ehegatten gehören1. Weiter werden erwähnt der Trauring oder der Krankenfahrstuhl für den kranken Ehegatten2.
140
Entscheidend ist immer die konkrete Betrachtungsweise, dh. ob ein Gegenstand tatsächlich nur zum persönlichen Gebrauch eines Ehegatten bestimmt und auch so gebraucht wird. c) Abgrenzung zum Zugewinnausgleich
141
In der Rechtsprechung nicht vollständig geklärt, aber für den Anwalt ein wichtiges Betätigungsfeld, insbesondere auch zur Ausrichtung seiner Prozesstaktik, ist die Abgrenzung der Hausratsteilung vom Zugewinnausgleich. Dies mag folgendes Beispiel illustrieren: Beispiel einer Zugewinnausgleichsberechnung: Anfangsvermögen Endvermögen Zugewinn Differenz
Ehemann
Ehefrau
50 000 Euro 10 000 Euro
0 Euro 100 000 Euro
0 Euro
100 000 Euro 100 000 Euro
Ausgleichsanspruch des Ehemannes gegen die Ehefrau (1/2)
142
50 000 Euro
Ist zusätzlich noch ein Pkw im Wert von 20 000 Euro vorhanden, dessen Halter der Ehemann ist, so ist die Interessenlage klar: Für den Ehemann wäre es günstiger, wenn der Pkw in den Zugewinnausgleich fällt; auch dann, wenn der Pkw seinem Endvermögen zuzurechnen wäre, würde dies auf seiner Seite nicht zu einem positiven Vermögenszuwachs führen, mit der Folge, dass die Ausgleichsberechnung zum gleichen Ergebnis käme. Der Ehemann wird also argumentieren, dass der Pkw in seinem Eigentum steht und während der Ehe vollständig bzw. überwiegend von ihm für seine beruflichen Zwecke genutzt wurde.
1 OLG Hamm v. 8.1.1980 – 2 UF 344/79, FamRZ 1980, 683; OLG Düsseldorf v. 1.7.1986 – 9 UF 145/85, FamRZ 1986, 1134. 2 Vgl. Erman/Kroll-Ludwigs, § 1362 BGB Rn. 13; MüKo-BGB/Wacke, § 1362 BGB Rn. 27.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 146
Kap. 7
Für die Ehefrau wäre es günstiger, wenn der Pkw zu den Haushaltsgegenständen gehören würde. Wird der Pkw im Rahmen der Verteilung der Haushaltsgegenstände dem Ehemann zugeordnet, so kann die Ehefrau nach § 1568b Abs. 3 BGB eine angemessene Ausgleichszahlung verlangen.
143
Während § 1587 Abs. 3 BGB ausdrücklich regelt, dass für Anwartschaften 144 oder Aussichten, über die der Versorgungsausgleich stattfindet, die güterrechtlichen Vorschriften keine Anwendung finden, existiert eine entsprechende Vorschrift zur Abgrenzung des Zugewinnausgleichs von der Verteilung der Haushaltsgegenstände nicht. Der BGH hat jedoch in einer grundlegenden Entscheidung zur HausratsVO im Jahre 19831 entschieden, dass Hausrat, der nach der HausratsVO verteilt werden kann, nicht dem Zugewinnausgleich unterliegt. Dies dürfte auch für die seit dem 1.9.2009 geltende Regelung des § 1568b BGB gelten. Bestimmungen über die Verteilung der Haushaltsgegenstände stellen demnach die güterrechtlichen Vorschriften verdrängende Sonderregelungen dar. Weiterhin hat der BGH in dieser Entscheidung ausgeführt, dass Haus- 145 haltsgegenstände, die bei ihrer Anschaffung gerade nicht dem ehelichen Zusammenleben dienen sollen, sondern für das Getrenntleben der Ehegatten bestimmt sind, nicht zum Hausrat gehören; dies betrifft idR die erst nach der Trennung angeschafften Gegenstände. Auch diese unterliegen dem Zugewinnausgleich, soweit sie einem der Ehegatten am maßgeblichen Stichtag gehören.
Û
Wichtig: Haushaltsgegenstände, die nach der Trennung angeschafft werden, fallen ins Endvermögen2. Haushaltsgegenstände, die einer der Ehegatten mit in die Ehe bringt, fallen in sein Anfangsvermögen3.
4. Eigentumsverhältnisse an den Haushaltsgegenständen Der Aufteilung unterfallen nach § 1568b Abs. 1 BGB nur solche Haushaltsgegenstände, die im gemeinsamen Eigentum der Ehegatten stehen4. Dies soll nur dann nicht gelten, wenn Haushaltsgegenstände im Rahmen einer früheren Hausratsteilung einem der Ehegatten gegen Zahlung einer Entschädigung zugeteilt worden sind5, Die Vorschrift sieht eine Überlassung von Haushaltsgegenständen, die im Eigentum des anderen Ehegatten stehen, nicht einmal für Ausnahmefälle vor. Auch kann über § 1568b BGB kein Anspruch auf Überlassung von Haushaltsgegenständen, die im 1 2 3 4
BGH v. 1.12.1983 – IX ZR 41/83, FamRZ 1984, 144. BGH v. 1.12.1983 – IX ZR 41/83, FamRZ 1984, 144. So zuletzt OLG Celle v. 29.12.1998 – 19 UF 178/95, FamRZ 2000, 226. BGH v. 17.11.2010 – XII ZR 170/09, FamRZ 2011, 183 = FamRB 2011, 97 und FamRB 2011, 98. 5 BGH v. 11.5.2011 – XII ZR 33/09, FamRZ 2011, 1139 = FamRB 2011, 233.
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Kap. 7 Rn. 147
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Allein- oder auch nur Miteigentum eines Dritten stehen, an einen der Ehegatten geltend gemacht werden1, ebenso wenig wie die Zuweisung von Haushaltsgegenständen der Eheleute an Dritte. Deshalb ist die Ermittlung der Eigentumsverhältnisse von entscheidender Bedeutung. a) Die Eigentumsvermutung des § 1568b Abs. 2 BGB 147
Bei Haushaltsgegenständen, die während der Ehe für den gemeinsamen Haushalt „angeschafft“ wurden, gilt die Vermutung des § 1568b Abs. 2 BGB. Danach gelten solche Gegenstände als gemeinsames Eigentum, wenn nicht das Alleineigentum eines der Ehegatten feststeht. Sofern die Eheleute nichts anders vortragen, kann der Familienrichter davon ausgehen, dass gemeinsames Eigentum der Eheleute an den Haushaltsgegenständen vorliegt. Der Ehegatte, der sich auf Alleineigentum an einem Haushaltsgegenstand beruft, ist dafür beweispflichtig. Umgekehrt ist beweispflichtig, wer sich auf gemeinsames Eigentum beruft, wenn ein Gegenstand vor der Eheschließung mit dem Geld des anderen Ehegatten angeschafft wurde2.
148
Die dementsprechende Eigentumsvermutung des früheren § 8 Abs. 2 HausratsVO galt auch für selbst angefertigten Hausrat. Auch dieser sollte grundsätzlich im gemeinsamen Eigentum beider Ehegatten stehen. Diese Auffassung dürfte auch für den inzwischen einschlägigen § 1568b Abs. 2 BGB gelten.
149
Die Auffassung, dass Haushaltsgegenstände, die ein Ehegatte mit in die Ehe bringt, dadurch gemeinsames Eigentum werden, dass sie fortan im gemeinsamen Haushalt genutzt werden, ist abzulehnen. Die häufig zitierte Entscheidung des OLG Bamberg3 ist unzutreffend. Die Ehegatten schulden einander als Ausfluss der Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft nach § 1353 BGB die Nutzung von Wohnung und Haushaltsgegenständen, nicht jedoch die Eigentumsübertragung. Allein aus der in Erfüllung dieser Verpflichtung gewährten Nutzung kann nicht (konkludent) auf eine Eigentumsübertragung gefolgert werden. Andernfalls ließen sich Extrembeispiele denken, in denen einer der Ehegatten den kompletten Hausrat mit in die Ehe bringt und dieser schon nach kurzer Ehedauer zwischen den Ehegatten zu verteilen wäre. b) Alleineigentum eines Ehegatten durch Kauf?
150
Zur Widerlegung der Eigentumsvermutung reicht es nicht aus, dass der Kaufvertrag über den Haushaltsgegenstand allein im Namen eines Ehegatten abgeschlossen wurde und die Übergabe allein an diesen Ehegatten 1 OLG Brandenburg v. 26.8.2002 – 10 WF 18/02, FamRZ 2004, 891 zur HausratsVO. 2 OLG Köln v. 12.10.2010 – 25 UF 166/09, FamRZ 2011, 975. 3 OLG Bamberg v. 18.3.1996 – 7 UF 225/95, FamRZ 1996, 1293.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 153
Kap. 7
stattgefunden hat. Wenn er zusätzlich den Haushaltsgegenstand aus eigenen Mitteln gezahlt hat, ist dies möglicherweise ein Indiz, reicht jedoch zum Nachweis des Alleineigentums ebenfalls nicht aus. Der nach außen nicht auftretende Ehegatte wird allerdings auch nicht 151 unter dem Gesichtspunkt des § 1357 Abs. 1 BGB bei Geschäften zur Deckung des allgemeinen Lebensbedarfs von Gesetzes wegen automatisch Miteigentümer eines Gegenstandes, den der andere Ehegatte für den gemeinsamen Haushalt anschafft. Vielmehr hängt die Frage des Eigentumserwerbs durch einen oder beide Ehegatten entscheidend von der nach § 929 S. 1 BGB für den Eigentumsübergang erforderlichen Einigung mit dem Verkäufer ab. Dem Veräußerer eines Haushaltsgegenstandes ist es bei Geschäften des 152 täglichen Lebens allerdings in aller Regel gleichgültig, welcher der Ehegatten Eigentümer wird, also insbesondere, ob neben der mit ihm verhandelnden Person auch noch deren Ehegatte Eigentümer werden soll. Er übereignet „an den, den es angeht“1. Wird also die Frage, wer Eigentümer werden soll, bei der Abwicklung des Geschäfts überhaupt nicht angesprochen, so erwerben bei Haushaltsgegenständen nach Auffassung des BGH2 im Regelfall beide Ehegatten Miteigentum. Dies gilt auch bei wertvollen Haushaltsgegenständen, also etwa Antiquitäten3 Nur dann, wenn beide Vertragspartner sich einig waren, dass nur der im Außenverhältnis am Geschäft beteiligte Ehegatte Eigentum erwerben sollte, ist dieser auch Alleineigentümer geworden. Ansonsten hat der im Außenverhältnis auftretende Ehegatte den anderen Ehegatten auch bei der Übertragung des (Mit)Besitzes und der dinglichen Einigung vertreten. Schwierigkeiten bereiten Fälle, in denen einer der Ehegatten Gegenstän- 153 de, die üblicherweise zum Haushalt gehören (Kaffeemaschine, Regale etc.) für ein Geschäft erwirbt, das er allein betreibt. Solche Fälle sind meist noch über die Vorlage der Rechnung zu lösen, die der Geschäftsinhaber sich ausstellen lässt, um die Vorsteuer dem Finanzamt gegenüber in Rechnung stellen zu können. In der Rechtsprechung bislang nicht entschieden sind jedoch die Fälle, in denen ein Gegenstand zwar nach außen hin für das Geschäft eines der Ehegatten angeschafft wurde, in Wahrheit jedoch sofort nach der Anschaffung oder erst einige Zeit danach ausschließlich für den gemeinsamen Haushalt der Eheleute genutzt wird. Insbesondere in Fällen, in denen die Eheleute im Güterstand der Gütertrennung leben, kann dies zu völlig ungerechten Ergebnissen führen, wenn solche Gegenstände entgegen der tatsächlichen Nutzung der Hausratsteilung entzogen werden.
1 OLG Stuttgart v. 14.5.1992 – 17 UF 147/92, FamRZ 1992, 1446. 2 BGH v. 13.3.1991 – XII ZR 53/90, FamRZ 1991, 923. 3 OLG Köln v. 12.7.1995 – 11 U 36/95, NJW-RR 1996, 904; OLG Köln v. 12.10.2010 – 25 UF 166/09, FamRZ 2011, 975.
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Kap. 7 Rn. 154
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Wichtig: § 1370 BGB, wonach Haushaltsgegenstände, die anstelle von nicht mehr vorhandenen oder wertlos gewordenen Gegenständen angeschafft werden, Eigentum des Ehegatten werden, dem die nicht mehr vorhandenen oder wertlos gewordenen Gegenstände gehört haben, ist mit Wirkung zum 1.9.2009 aufgehoben worden. Nach der Übergangsvorschrift des Art. 229 § 20 Abs. 1 EGBGB ist diese Vorschrift jedoch auch in Zukunft noch auf Haushaltsgegenstände anzuwenden, die bis zum 1.9.2009 angeschafft worden sind1. Da nach § 1568b BGB nur gemeinsame Haushaltsgegenstände der Ehegatten aufgeteilt werden können, unterfallen solche Gegenstände nicht der endgültigen Hausratsteilung für die Zeit nach Rechtskraft der Ehescheidung.
c) Geschenkte oder geerbte Haushaltsgegenstände 154
Haushaltsgegenstände, die ein Ehegatten erbt oder geschenkt erhält, fallen jedoch nicht unter die Eigentumsvermutung des § 1568b Abs. 2 BGB. Geerbte Haushaltsgegenstände gehören immer demjenigen Ehegatten, der sie geerbt hat. Es ist also immer genau zu klären, ob einer der Ehegatten als gesetzlicher Erbe berufen war oder ob einer oder beide Ehegatten testamentarisch zu Erben bestimmt wurden.
155
Bei Geschenken kommt es auf die Absicht des Schenkers an. Dies gilt auch für Geschenke der Herkunftsfamilien, etwa zur Hochzeit der Beteiligten. Ein Grundsatz, dass Geschenke immer demjenigen zuzuordnen sind, von dessen Familien sie stammen, existiert nicht.
156
Ob ein Haushaltsgegenstand, den ein Ehegatte dem anderen schenkt, in dessen Alleineigentum übergeht, ist umstritten. Entgegen diversen Äußerungen im Schrifttum, die bei Geschenken der Ehegatten untereinander gemeinsames Eigentum der Ehegatten annehmen, hält der BGH2 offenbar auch Schenkungen unter Eheleuten für „echte“ Schenkungen mit der Folge, dass der beschenkte Ehegatte Alleineigentum erwirbt. Zur Begründung des im damaligen Fall gefundenen Entscheidungsergebnisses (gemeinsamer Eigentumserwerb durch Übereignung an „den, den es angeht“, obwohl nur einer der Ehegatten bei Abschluss des Geschäfts nach außen auftrat) machte der BGH auch folgende Anmerkung zu Schenkungen eines Ehegatten an den anderen: „… Besondere Umstände, die gegen einen Erwerb zu Miteigentum der Parteien sprechen könnten, sind weder festgestellt, noch aus den gesamten Umständen ersichtlich. Sie können sich etwa daraus ergeben, dass angeschaffte Sachen für den alleinigen Bedarf eines Ehegatten bestimmt oder gerade ihm, etwa als Geschenk, zugedacht sind.“ 1 S. auch unter Berufung auf die Eigentumsgarantie nach Art. 14 GG: AG Meldorf v. 10.11.2009 – 81 C 33/09, FamRZ 2010, 483; so auch Anm. Kogel, FamRZ 2011, 1135. 2 BGH v. 13.3.1991 – XII ZR 53/90, FamRZ 1991, 923.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 160
Kap. 7
Dies dürfte richtig sein, kann doch die Hobby-Heimwerker-Ausrüstung, 157 die der Ehemann zum Geburtstag erhält, nicht anders bewertet werden als das Service, das die Hausfrau auf dem Geburtstagstisch vorfindet. Über die Frage, ob dieser Gegenstand der Verteilung der Haushaltsgegenstände unterliegt, entscheidet nicht nur die Zugehörigkeit zum Haushalt, also ob der Gegenstand (auch) zur Mitbenutzung durch andere Familienmitglieder bestimmt ist. Entscheidend für die Anwendung des § 1568b BGB sind die Eigentumsverhältnisse. 5. Endgültige Überlassung nach § 1568b BGB a) Allgemeines Verteilt werden können grundsätzlich nur Haushaltsgegenstände, die im Zeitpunkt der Entscheidung noch vorhanden sind. Maßgeblich ist im Scheidungsverfahren der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung, in einem späteren Verfahren, das isoliert nach Abschluss des Scheidungsverfahrens geführt wird, der Tag der Rechtskraft des Scheidungsausspruchs.
158
Steht fest, dass ein Haushaltsgegenstand bei der Trennung vorhanden 159 war, so wird er auch für die Aufteilung bei der Scheidung als vorhanden angenommen und in die Aufteilung miteinbezogen, es sei denn, das Gegenteil würde nachgewiesen. Dabei ist zu beachten, dass § 1369 BGB auch über die Trennung der Eheleute hinaus wirksam ist1. Danach kann ein Ehegatte über ihm gehörende Haushaltsgegenstände nur verfügen, wenn der andere Ehegatte einwilligt. Die Vorschrift dient zunächst einmal dem Erhalt der „stofflichen Substanz“ des familiären Zusammenlebens2 und verfolgt erst in zweiter Linie die Sicherung des Zugewinnausgleichsanspruchs.
Û
Wichtig: Verfügt ein Ehegatte ohne die erforderliche Zustimmung des anderen, so ist der Vertrag schwebend unwirksam; er wird erst wirksam mit der Genehmigung des anderen Ehegatten. Bis zur Genehmigung kann der Dritte den Vertrag gem. § 1369 Abs. 3 i.V.m. § 1366 Abs. 2 BGB widerrufen. § 1369 BGB stellt demnach ein absolutes Veräußerungsverbot dar, das allerdings ehevertraglich abbedungen werden kann. Der gutgläubige Dritte muss sich also selbst vergewissern, ob sein Vertragspartner verheiratet ist und im gesetzlichen Güterstand lebt.
Wurde ein Haushaltsgegenstand entgegen § 1369 BGB von einem Ehegatten verkauft, so hat der andere Ehegatte gegen den Käufer einen Rückschaffungsanspruch nach §§ 1369 Abs. 3, 1368 BGB. Der Ehegatte, der
1 OLG Koblenz v. 18.3.1991 – 11 UF 204/91, FamRZ 1991, 1302; KG v. 16.1.2003 – 13 UF 439/02, FamRZ 2003, 1927. 2 Palandt/Brudermüller, § 1369 BGB Rn. 1.
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Kap. 7 Rn. 161
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
den Gegenstand veräußert hat, ist auskunftspflichtig über die Person des Erwerbers1. 161
Ob § 1369 BGB über die Rechtskraft der Ehescheidung hinaus Wirkung entfaltet, war früher streitig. Allerdings besteht nach Rechtskraft der Ehescheidung kein Interesse mehr daran, die gegenständliche Grundlage des familiären Zusammenlebens zu erhalten. Auch die Sicherung des Zugewinns kann nicht mehr Zweck der Vorschrift sein. Eine Einbeziehung solcher Haushaltsgegenstände in die Hausratsteilung kommt ebenfalls nicht in Betracht, da § 1568b Abs. 1 BGB ausdrücklich nur von den gemeinsamen Haushaltsgegenständen der Ehegatten spricht. b) Verteilungsgrundsätze
162
§ 1568b Abs. 1 BGB normiert einen Anspruch des einen Ehegatten gegen den anderen auf Überlassung von Haushaltsgegenständen, wenn er auf deren Nutzung unter Berücksichtigung des Wohls der im Haushalt lebenden Kinder und der Lebensverhältnisse der Ehegatten in stärkerem Maße angewiesen ist als der andere Ehegatte oder dies aus anderen Gründen der Billigkeit entspricht. Diese Kriterien entsprechen denen der Überlassung der Ehewohnung nach § 1568a Abs. 1 BGB. aa) Kindeswohl
163
Auch bei der Verteilung der Haushaltsgegenstände ist das Kindeswohl einer der überragenden Gesichtspunkte. Dabei ist nicht nur daran gedacht, dass Gegenstände, an denen die Kinder besonders hängen, im Haushalt verbleiben sollen. Vielmehr hat der Ehegatte, bei dem die Kinder leben, einen Anspruch darauf, dass ihm die Haushaltsgegenstände überlassen werden, die er zur Führung des Haushalts zusammen mit den Kindern benötigt.
164
Daneben soll auch die Einrichtung der Kinderzimmer grundsätzlich dem Ehegatten überlassen werden, in dessen Haushalt die Kinder leben, und zwar ohne Anrechnung bei der übrigen Aufteilung der Haushaltsgegenstände und ohne Festsetzung einer Ausgleichszahlung. Auch bei der Verteilung von Musikinstrumenten und Sportgeräten sind die Interessen der Kinder vorrangig zu berücksichtigen. bb) Lebensverhältnisse der Ehegatten
165
Bei dem Verteilungskriterium „Lebensverhältnisse der Ehegatten“ können Alter und Gesundheit der Ehegatten eine Rolle spielen oder auch die emotionale Bindung an einen Haushaltsgegenstand. Auch die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Ehegatten zur Beschaffung von Ersatz für Haushaltsgegenstände sind zu beachten. Die Gründe, die zur Trennung der 1 OLG Frankfurt v. 13.10.2003 – 2 WF 319/03, FamRZ 2004, 1105.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 169
Kap. 7
Eheleute geführt haben, spielen bei der Aufteilung grundsätzlich keine Rolle. cc) Aufteilung nach Billigkeitsgesichtspunkten Wenn keiner der Ehegatten in stärkerem Maße auf einen Haushaltsgegen- 166 stand angewiesen ist, erfolgt eine Aufteilung nach Billigkeitsgesichtspunkten. Beispielsweise kann darauf abgestellt werden, wer die Anschaffung des Gegenstandes veranlasst oder ihn während der Ehe auf eigene Kosten gepflegt und erhalten hat. Einigkeit besteht darüber, dass dabei kein strenger Halbteilungsgrundsatz 167 gilt. In geeigneten Fällen empfiehlt es sich, entweder in der mündlichen Verhandlung vor Gericht oder aber bei der außergerichtlichen Hausratsteilung in der Praxis erprobte Aufteilungsverfahren anzuwenden, die ein „gerechtes“ Ergebnis sicherstellen sollen. Außen vor bleiben dabei auf jeden Fall die Gegenstände, die den Kindern zustehen. In der Praxis erprobt ist eine Zuweisung nach dem sog. „Zugreifverfah- 168 ren“1: Aus der Liste mit allen Haushaltsgegenständen wählen die Ehegatten abwechselnd einen Gegenstand aus, bis der gesamte Hausrat verteilt ist. Dabei darf der Ehegatte, der als Zweiter am Zug ist, auch den dritten Gegenstand auswählen, um nicht benachteiligt zu werden. Erst ab dann wechselt der Zugriff regelmäßig. Bewährt ist auch das Verfahren „einer teilt, der andere wählt“: Die Ehegatten einigen sich darauf, dass einer von ihnen die Gesamtheit der Haushaltsgegenstände in zwei „gerechte“ Hälften aufteilt, ggf. auch unter Festsetzung einer Ausgleichszahlung, um ein gleichwertiges Ergebnis zu erzielen. Der andere Ehegatte darf dann wählen, welche Hälfte er für sich beansprucht. Nach dem gleichen Prinzip funktioniert auch die Alternative, dass ein Ehegatte die Ausgleichszahlung für die Übernahme des gesamten Hausrats bestimmt, während der andere dann zwischen Übernahme des Hausrats und Ausgleichszahlung wählen darf. Bei einer außergerichtlichen Teilung können die Ehegatten die Auftei- 169 lung auch einem oder mehreren Dritten überlassen, die die häuslichen Verhältnisse der Familie kennen und als „Schiedsrichter“ fungieren. Von der Einbeziehung der Kinder in solche Verfahren ist jedoch abzuraten. Rechtlich handelt es sich um eine Schiedsvereinbarung nach §§ 1029 ff. ZPO, wenn die schlichten Formerfordernisse des § 1031 ZPO erfüllt sind. Dazu reichen etwa übereinstimmende Erklärungen in zwischen den Beteiligten gewechselten Schreiben aus. Von einer solchen Schiedsvereinbarung können sich die Ehegatten nicht ohne weiteres lösen, wenn ihnen der Schiedsspruch später dann doch nicht zusagt.
1 Vgl. Haußleiter/Schulz, Kap. 4, Rn. 146, 205.
Viethen
971
Kap. 7 Rn. 170
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
c) Ausgleichszahlungen 170
Nach § 1568b Abs. 3 BGB kann der Ehegatte, der sein Eigentum nach Abs. 1 der Vorschrift überträgt, eine angemessene Ausgleichszahlung verlangen. Dies gilt sowohl für eine außergerichtliche Einigung der Eheleute, bei der der Eigentumsübergang mit dinglicher Einigung und Besitzübertragung erfolgt, als auch für die endgültige Zuweisung der Haushaltsgegenstände durch den Familienrichter nach § 209 Abs. 2 FamFG. Zweckmäßigerweise erfolgt die Entscheidung über die geschuldete Ausgleichszahlung als Durchführungsanordnung nach § 209 Abs. 1 FamFG mit dem gleichen Beschluss.
171
Die angemessene Ausgleichszahlung soll nach der Gesetzesbegründung grundsätzlich dem Verkehrswert des Gegenstands zum Zeitpunkt der Verteilung entsprechen. Auf diese Weise soll eine gerechte und abschließende Verteilung der Haushaltsgegenstände im Rahmen der Sonderregelung des § 1568b BGB ermöglicht werden. Machen die Ehegatten von dieser Sonderregelung keinen Gebrauch, verlangen sie also nicht im Rahmen der Verteilung der Haushaltsgegenstände auch eine entsprechende Ausgleichszahlung, soll ggf. das Ehegüterrecht des BGB zur Anwendung kommen.
172
Möglich ist auch, dass die Ehegatten wechselseitig Ausgleichszahlungen für überlassene Haushaltsgegenstände zu leisten haben, die unter ihnen verteilt werden. Auch diese Ausgleichszahlungen unterfallen zunächst der Sonderregelung des § 1568b Abs. 3 BGB. Solche gegenseitig geschuldeten Ausgleichszahlungen können miteinander verrechnet werden.
173
Eine Aufteilung der für die Anschaffung von Haushaltsgegenständen aufgenommenen Verbindlichkeiten im Rahmen der Entscheidung über die Verteilung nach § 1568b BGB sieht das Gesetz nicht vor. Dies ist ausweislich der Begründung des Gesetzes bewusst unterblieben, so dass insoweit die allgemeine Bestimmungen des BGB gelten. Im Zugewinnausgleich mindern solche Verbindlichkeiten das Endvermögen desjenigen Ehegatten, der im Außenverhältnis Schuldner ist1. Antragsmuster: 1. Der Antragsgegner ist verpflichtet, der Antragstellerin folgende Haushaltsgegenstände Zug um Zug gegen eine Ausgleichszahlung von … Euro zu überlassen: (Liste) Der Antragsgegner ist verpflichtet, diese Haushaltsgegenstände an die Antragstellerin herauszugeben. Der Antragstellerin wird das Eigentum an diesen Gegenständen übertragen.
1 BGH v. 23.4.1986 – IVb ZR 2/85, NJW-RR 1986, 1325.
972
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 177
Kap. 7
2. Die übrigen Gegenstände des gemeinsamen Haushalts der Beteiligten, die sich im Besitz des Antragsgegners befinden, werden diesem zu Alleineigentum übertragen. Alternativantrag: Der Antragsgegner wird verurteilt, an die Antragstellerin mit Rechtskraft der Ehescheidung folgende Haushaltsgegenstände herauszugeben: … Die Antragstellerin erwirbt an diesen Haushaltsgegenständen mit Rechtskraft der Ehescheidung Alleineigentum. Im Übrigen erwerben beide Ehegatten Alleineigentum an den Haushaltsgegenständen, die sich in ihrem Besitz befinden. Der eheliche Haushalt ist damit aufgeteilt. Der Antragsgegner wird verpflichtet, mit Eintritt der Rechtskraft der Ehescheidung an die Antragstellerin eine Ausgleichszahlung von … Euro zu zahlen.
6. Besonderheiten bei Überlassung während des Getrenntlebens Die Verteilung der Haushaltsgegenstände bei Getrenntleben regelt § 1361a BGB. Geregelt werden folgende Ansprüche: – Herausgabe von Haushaltsgegenständen, die dem antragstellenden Ehegatten gehören,
174
– Überlassung von Haushaltsgegenständen, die einem der Ehegatten gehören, an den anderen, – Aufteilung von Haushaltsgegenständen, die den Ehegatten gemeinsam gehören, – Festsetzung einer Benutzungsvergütung. Die Auflistung zeigt, dass sämtliche Streitigkeiten über den Besitz, die 175 Benutzung oder die Herausgabe von Haushaltsgegenständen der Vorschrift unterfallen. a) Herausgabeanspruch § 1361a BGB normiert den Anspruch jedes der getrenntlebenden Ehegatten 176 gegen den anderen auf Herausgabe der Haushaltsgegenstände, die ihm gehören. Die Vorschrift überlagert bei Haushaltsgegenständen damit auch die Vindikationsvorschriften §§ 985 ff. BGB. Herausgabeklagen nach § 985 BGB sind ab dem Zeitpunkt der Trennung der Eheleute nicht mehr zulässig1. Ebenso wie bei dem Verfahren nach § 1568b BGB unterliegen § 1361a BGB auch Anwartschaften auf Haushaltsgegenstände, die unter Eigentumsvorbehalt stehen, oder Surrogate für untergegangene Haushaltsgegenstände, also etwa Geldansprüche. 1 S. MüKo-BGB/Wacke, § 1361a BGB Rn. 3 mwN.
Viethen
973
177
Kap. 7 Rn. 178 178
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Das Recht des Ehepartners, der nicht Eigentümer eines Haushaltsgegenstandes ist, reduziert sich mit der Trennung auf die Einwendung aus einer Überlassungsverpflichtung nach § 1361a Abs. 1 S. 2 BGB. Es besteht ein Zurückbehaltungsrecht gem. § 273 BGB, wenn auch der andere Ehegatte seinerseits die Herausgabe von Sachen schuldet.
Û
Wichtig: Seit dem Inkrafttreten des FamFG kann ein Ehegatte gegen den anderen auch wegen der Herausgabe von Gegenständen, die nicht zum Hausrat gehören, wie etwa Schmuck, Aktien etc. einen Antrag beim Familiengericht einlegen (§§ 23a Abs. 1 Nr. 1 GVG, 266 Abs. 1 FamG).
Antragsmuster: Der Antragsgegner ist verpflichtet, an die Antragstellerin die in ihrem Eigentum stehende braune Kommode, Jugendstil, Kirschbaum, drei Schubladen, Breite ca. 1,20 m, Tiefe ca. 0,60 m, Höhe ca. 0,90 m herauszugeben.
179
Einstweilen frei b) Anspruch auf Gebrauchsüberlassung bei Alleineigentum
180
Anders als § 1568b BGB kennt § 1361a BGB in Ausnahmefällen einen Anspruch auf Überlassung von Gegenständen, die dem anderen Ehegatten gehören. Jedoch kann der Richter gem. § 1361a BGB dabei nicht in die Eigentumsverhältnisse eingreifen, sondern lediglich Gegenstände, die im Alleineigentum eines Ehegatten stehen, dem anderen nur zur Nutzung zuweisen.
181
Auch die Verpflichtung zur Gebrauchsüberlassung bei Alleineigentum ist Ausfluss der Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft nach § 1353 BGB. Die Verpflichtung besteht nur insoweit, als der andere Ehegatte diese Gegenstände zur Führung eines abgesonderten Haushalts benötigt und die Überlassung „nach den Umständen des Falles der Billigkeit entspricht.“ Der Begriff der benötigten Gegenstände ist weit auszulegen. Er betrifft nicht nur die unentbehrlichen Haushaltsgegenstände, sondern alle Gegenstände, auf die der Nichteigentümer zur alleinigen Führung eines angemessenen Haushalts angewiesen ist. In der Praxis betrifft dies regelmäßig Fälle, in denen der Nichteigentümer-Ehegatte Haushaltsgegenstände besonders dringend benötigt, weil die gemeinsamen Kinder in seinem Haushalt leben, also etwa eine Waschmaschine oder einen Herd, die zur Versorgung der Kinder dringend notwendig sind.
182
Die Verpflichtung des Alleineigentümers zur Gebrauchsüberlassung wird jedoch einer Billigkeitsprüfung unterzogen. Entscheidend ist, ob die Überlassung dem Eigentümer zugemutet werden kann, ob er also die beanspruchten Stücke entbehren und sich ggf. neue anschaffen kann. 974
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 186
Kap. 7
Die Gebrauchsüberlassungspflicht ist eine Holschuld nach § 269 BGB. Der Alleineigentümer-Ehegatte, der zur Herausgabe verpflichtet ist, schuldet also nicht den Transport oder dessen Kosten.
183
Wird dem Nichteigentümer-Ehegatten für die Zeit der Trennung ein Pkw 184 zur Nutzung zugewiesen, weil er auf dessen Nutzung angewiesen ist und dem anderen Ehegatten die Überlassung zugemutet werden kann, hat der Ehegatte, der den Pkw nutzt, für diese Zeit die Haftpflichtversicherung zu zahlen. Bei Kraftfahrzeugen von hohem Wert kann er auch verpflichtet werden, eine Vollkaskoversicherung abzuschließen1. Die Überlassung von Haushaltsgegenständen an den Nichteigentümer- 185 Ehegatten wird dann als unzumutbar angesehen, wenn dieser mit einem Dritten zusammenlebt. Der Alleineigentümer-Ehegatten ist gem. § 1353 BGB nicht verpflichtet, dem anderen Ehegatten Gegenstände zur Führung eines Haushalts mit einem ehebrecherischen Dritten zur Verfügung zu stellen2. Antragsmuster: Die Antragsgegnerin ist verpflichtet, dem Antragssteller bis auf weiteres, längstens für die Zeit des Getrenntlebens die gesamte Kücheneinrichtung im Anwesen … zu überlassen. Alternativantrag: Der Antragssteller ist verpflichtet, der Antragsgegnerin die Waschmaschine Marke … zur alleinigen Benutzung zu überlassen. Er ist weiterhin verpflichtet, die Waschmaschine unverzüglich an die Antragstellerin herauszugeben.
c) Verteilung der gemeinsamen Haushaltsgegenstände Gem. § 1361a Abs. 2 BGB werden Haushaltsgegenstände, die den Ehegat- 186 ten gemeinsam gehören, zwischen ihnen nach Grundsätzen der Billigkeit verteilt. Auch bei der Hausratsaufteilung für die Zeit der Trennung existiert kein Halbteilungsgrundsatz. Neben den Bedürfnissen der gemeinsamen Kinder soll entscheidend sein, wer die Sachen leichter entbehren kann bzw. ihrer dringender bedarf. So soll beispielsweise der beruflichen Nutzung des Fahrzeugs der Vorzug zu geben sein, wenn der kinderbetreuende Ehegatte zumindest zeitwiese auf ein Fahrzeug Dritter zurcügreifen kann3. Maßgeblich sind insbesondere die wirtschaftlichen Verhältnisse der Ehegatten, dh. ihre Möglichkeiten zur Ersatzbeschaffung. 1 OLG Koblenz v. 18.3.1991 – 11 UF 204/91, FamRZ 1991, 1302. 2 So MüKo-BGB/Wacke, § 1361a BGB Rn. 11. 3 OLG Köln v. 11.9.2009 – 4 WF 128/09, FamRZ 2010, 470.
Viethen
975
Kap. 7 Rn. 187 187
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Für die Frage, ob gemeinschaftliches Eigentum vorliegt, wird die Vermutung des § 1568 Abs. 2 BGB analog angewendet. Antragsmuster: Vom gemeinsamen Hausrat der Beteiligten werden dem Antragssteller folgende Gegenstände zur Nutzung zugewiesen: … Die Antragsgegnerin hat diese Gegenstände sofort an den Antragsgegner herauszugeben.
d) Entscheidung und Vergütungsfestsetzung 188
Zuständig für Entscheidungen nach § 1361a BGB ist das Familiengericht. Voraussetzung für die Entscheidung ist, dass die Ehegatten bereits getrenntleben. Eine Vorratsentscheidung für den Fall einer späteren Trennung ist nicht möglich. Für die Zwecke der vorläufigen Nutzungsregelung nach § 1361a BGB kann auch ein auf einzelne Haushaltsgegenstände beschränkter Antrag gestellt werden.
189
Das Gericht hat zunächst festzustellen, ob nicht eine Einigung der Eheleute erzielt werden kann. Eine Entscheidung ergeht erst dann, wenn die Ehegatten sich nicht einigen können. Das Gericht kann neben der Verpflichtung zur Nutzungsüberlassung bzw. neben der Aufteilung gemeinsamer Gegenstände ggf. eine angemessene Vergütung für die Benutzung der Haushaltsgegenstände festsetzen. Antragsmuster: Der im gemeinsamen Eigentum der Eheleute stehende Pkw Marke …, Baujahr …, amtl. Kennzeichen … wird dem Antragssteller zur alleinigen Nutzung zugewiesen. Er hat für die Dauer der Nutzung die Kfz-Steuer sowie die Prämien für die KfzVersicherung zu tragen. Weiterhin hat er an die Antragsgegnerin eine monatliche Nutzungsvergütung von 150 Euro zu zahlen.
7. Ansprüche aus außergerichtlicher Einigung der Beteiligten 190
Eine Regelung durch den Familienrichter kann nicht mehr getroffen werden, wenn und soweit sich die Eheleute bereits über die Aufteilung der Haushaltsgegenstände geeinigt haben. Ob eine Einigung vorliegt oder nicht, hat das Gericht somit als Vorfrage zu klären1. Liegt eine Einigung vor, so ist – im Umfange dieser Einigung – eine Entscheidung im Haus-
1 OLG Zweibrücken v. 19.8.1992 – 5 UF 191/91, FamRZ 1993, 82.
976
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 194
Kap. 7
ratsverfahren unzulässig1. Allerdings muss die Einigung voll wirksam und vorbehaltlos sein. Eine Einigung der Eheleute über die Verteilung der Haushaltsgegenstände kann auch konkludent zustande kommen. Allerdings sind daran strenge Anforderungen zu stellen. Ob bereits der Umstand, dass einer der Ehegatten auszieht und sich eine neue Wohnung einrichtet, einen stillschweigenden Verzicht auf die Zuteilung jeglichen Hausrats darstellt2, dürfte zweifelhaft sein. Schlüssiges Handeln reicht nur dann aus, wenn daraus gefolgert werden kann, dass beide Ehegatten eine Dauerregelung auch für die Zeit nach der Scheidung gewollt haben3.
191
Auch eine Teileinigung der Eheleute ist möglich. Das Gericht kann dann 192 nur noch über die Verteilung der restlichen Haushaltsgegenstände entscheiden. Allerdings muss auch dazu der Umfang des gesamten Hausrats vorgetragen bzw. ermittelt werden. Denn nur so ist das Gericht in der Lage, die restlichen Gegenstände so aufzuteilen, dass insgesamt ein gerechtes Ergebnis erzielt wird. Etwas anderes gilt nur, wenn der Teileinigung der Beteiligten nicht nur Einigkeit über die Zuordnung der einzelnen Gegenstände zu entnehmen ist, sondern auch darüber, dass die bislang vorgenommene Zuordnung in sich eine angemessene Regelung darstellt, die sie auf jeden Fall beibehalten wollen4. Für Anträge aus einer Einigung der Beteiligten ist gem. §§ 23a Abs. 1 Nr. 1 GVG, 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG das Familiengericht zuständig.
Û
193
Praxistipp: Formuliert der Anwalt eine Vereinbarung zu den Haushaltsgegenständen, ist darauf zu achten, dass zumindest die Gegenstände, die den Besitzer oder Eigentümer wechseln sollen, genau bestimmbar sein müssen. Außerdem sollte eine solche Vereinbarung keinen Zweifel daran lassen, dass damit eine endgültige und abschließende Einigung getroffen wird.
8. Durchsetzung des Anspruchs a) Besondere Verfahrensvorschriften Im Verfahren auf Verteilung der Haushaltsgegenstände gilt die Rangfolge des § 201 FamFG für die örtliche Zuständigkeit der Familiengerichte. Während der Anhängigkeit einer Ehesache ist das Gericht des ersten Rechtszugs zuständig, ansonsten das Gericht, in dessen Bezirk sich die gemeinsame Wohnung der Ehegatten befindet. Leben die Ehegatten be1 2 3 4
BGH v. 4.7.1979 – IV ARZ 21/79, FamRZ 1979, 789. So Haußleiter/Schulz, 4. Kap. Rn. 163, 210. MüKo-BGB/Müller-Gindullis, § 1 HausratsVO Rn. 20. So auch OLG Naumburg v. 4.9.2003 – 8 UF 211/02, FamRZ 2004, 889 = FamRB 2004, 281.
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194
Kap. 7 Rn. 195
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
reits getrennt, so ist das Gericht, in dessen Bezirk der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, örtlich zuständig, ansonsten das Gericht am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Antragstellers. 195
Der verfahrenseinleitende Antrag in Hausratssachen soll die Gegenstände bezeichnen, deren Zuteilung begehrt wird. Einem Antrag auf endgültige Aufteilung der Haushaltsgegenstände nach § 1568b BGB soll zudem eine Aufstellung über die gesamten Haushaltsgegenstände beigefügt werden. Die Gegenstände sollen, da der spätere Beschluss des Gerichts einen vollstreckbaren Inhalt haben soll, schon im Antrag genau bezeichnet werden.
Û
Wichtig: Zwar gilt in Verfahren über die Verteilung von Haushaltsgegenständen nach wie vor der Amtsermittlungsgrundsatz, er wird jedoch durch § 206 FamFG beträchtlich eingeschränkt: Das Gericht kann den Ehegatten Auflagen bezüglich des Vortrags und der Vorlage von Belegen erteilen und hierzu eine angemessene Frist setzen. Wird die Frist versäumt, so kann das Gericht späteren Vortrag als verspätet zurückweisen und ist dann zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts nicht verpflichtet.
196
Einstweilen frei b) Wahl der richtigen Verfahrensart
197
Verfahrensrechtlich gilt für die Geltendmachung von Ansprüchen auf Hausrat das Gleiche wie für die Zuweisung der Ehewohnung.
198
Ansprüche gem. § 1361a BGB für die Dauer der Trennung der Eheleute werden im isolierten Verfahren geltend gemacht. Das Gericht kann mit der vorläufigen Entscheidung für die Dauer der Trennung der Eheleute nicht in Eigentumsverhältnisse eingreifen, es sei denn, die Ehegatten würden etwas anderes vereinbaren (§ 1361a Abs. 4 BGB). Grundsätzlich ist also nur eine (vorläufige) Benutzungsregelung denkbar.
199
Nach Rechtskraft der Ehescheidung kann ein Verfahren nach § 1361a BGB nicht mehr eingeleitet werden. Bereits ergangene Entscheidungen werden wirkungslos1. Ein isoliertes Hausratsverfahren nach § 1361a BGB, das bei Rechtskraft der Ehescheidung noch anhängig ist, wird damit unzulässig. Das Verfahren kann jedoch bis zur letzten mündlichen Verhandlung auf Antrag als Folgesache im Scheidungsverbund weitergeführt werden.
200
§ 49 FamFG ermöglicht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Dies setzt weder ein Hauptsacheverfahren noch einen darauf gerichteten Verfahrenskostenhilfeantrag voraus. Hauptsache- und eA-Ver1 OLG Zweibrücken v. 30.1.1991 – 2 UF 87/90, FamRZ 1991, 848; OLG Brandenburg v. 17.2.2000 – 2 UF 39/99, FamRZ 2000, 1102.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 204
Kap. 7
fahren sollten jedoch ggf. mit getrennten Schriftsätzen anhängig gemacht werden. Gem. § 57 FamFG sind einstweilige Anordnungen in Hausratssachen nicht anfechtbar. Das OLG Koblenz lässt bei verbotener Eigenmacht neben dem Vorgehen aus dem Hausratsverteilungsverfahren auch die Geltendmachung der Rechte aus § 861 BGB über eine einstweilige Verfügung nach den Vorsschriften der ZPO zu1.
200a
Der Ehegatte, der eine endgültige Aufteilung der Haushaltsgegenstände 201 nach § 1568b BGB beantragen will, kann das Verfahren entweder als Folgesache im Scheidungsverbund anhängig machen oder als isoliertes Verfahren, nachdem das Scheidungsverfahren bereits abgeschlossen ist. Eine Antragsfrist für ein isoliertes Hausratsverfahren nach Rechtskraft der Ehescheidung besteht nicht. Das Verfahren kann also theoretisch auch noch Jahre nach der Ehescheidung eingeleitet werden. Auch eine Verwirkung des Anspruchs durch Zeitablauf kommt idR nicht 202 in Betracht, solange neben dem „Zeitmoment“ das „Umstandsmoment“ fehlt. Das OLG Bamberg2 hat einen Antrag auf Hausratsteilung, der zwei Jahre nach Rechtskraft der Ehescheidung beim Gericht einging, als unbegründet zurückgewiesen, da das Scheidungsverfahren fast fünf Jahre gedauert hatte und der antragstellende Ehegatte eine Anfrage nach seinen Wünschen auf Übertragung von Haushaltsgegenständen nicht beantwortet hatte. Das AG Weilburg3 hat einen Anspruch auf Aufteilung der Haushaltsgegenstände als verwirkt angesehen, der nach vierjährigem Scheidungsverfahren als Folgesachenantrag in das Verfahren eingeführt worden war. Der Antrag auf endgültige Überlassung von Haushaltsgegenständen nach 203 § 1568b BGB kann bereits gleichzeitig mit dem Scheidungsantrag gestellt werden. Die Entscheidung wird jedoch frühestens mit Rechtskraft der Ehescheidung wirksam. c) Ermittlung des Hausrats aa) Vollständige Ermittlung Eine Entscheidung auf endgültige Aufteilung der Haushaltsgegenstände 204 und ggf. die Festsetzung einer angemessenen Ausgleichszahlung nach § 1568b Abs. 3 BGB kann der Richter nur treffen, wenn der gesamte Hausrat bekannt ist und zur Verteilung steht. Ein ordnungsgemäßer Antrag zum Familiengericht hat deshalb gem. § 206 Abs. 1 Nr. 2 FamFG nicht nur die Gegenstände aufzuführen, die der antragstellende Ehegatte
1 OLG Koblenz v. 29.5.2009 – 10 U 1519/08, FamRZ 2009, 1934. 2 OLG Bamberg v. 22.5.1991 – 2 UF 105/91, FamRZ 1992, 332. 3 AG Weilburg v. 7.10.1997 – 20 F 1017/92 WH, FamRZ 1998, 963.
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979
Kap. 7 Rn. 205
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
zugeteilt haben möchte, vielmehr soll er sämtliche Haushaltsgegenstände auflisten und dabei kennzeichnen, welche Gegenstände sich in seinem Besitz befinden, welche Gegenstände im Besitz des anderen Ehegatten stehen und welche Gegenstände der antragstellende Ehegatte noch herausverlangt1. 205
Es empfiehlt sich auch, Angaben zum aktuellen Verkehrswert der Gegenstände zu machen. Der Neuwert kann lediglich als Indiz für die ursprüngliche Qualität des Gegenstandes dienen. Auch an dieser Stelle sei nochmals angemerkt, dass § 1568b BGB einen „Halbteilungsgrundsatz“ nicht kennt und ein solcher auch nicht zur früher geltenden HausratsVO von der Rechtsprechung entwickelt worden ist.
Û
Praxistipp: Die Ermittlung der Haushaltsgegenstände begegnet oft größeren Schwierigkeiten. Will ein Ehegatte ausziehen, so tut er gut daran, vor dem Auszug und eine komplette Hausratsliste zu erstellen. Sämtliche Haushaltsgegenstände später aus dem Gedächtnis niederzuschreiben, dürfte im Regelfall wesentlich schwieriger sein.
bb) Auskunftsanspruch 206
Ebenso wenig wie die frühere HausratsVO enthalten weder § 1568b BGB noch die einschlägigen Vorschriften des FamFG eine ausdrückliche Auskunftsverpflichtung der Eheleute zum Bestand des Hausrats. Die zu dieser Frage ergangene Rechtsprechung ist uneinheitlich und überwiegend älteren Datums. Das OLG Frankfurt2 hat einen Auskunftsanspruch zugebilligt, nachdem ein früherer Zuteilungsantrag wegen mangelnder Konkretisierung der Haushaltsgegenstände als unzulässig zurückgewiesen worden war. Der erstinstanzliche Familienrichter hatte nach Auffassung des Senats seine Pflicht zur Amtsermittlung verletzt. Vertreten wird erstaunlicherweise auch die Meinung, dass ein Auskunftsanspruch entbehrlich ist, weil jedem Ehegatten auch mehrere Jahre nach Auszug aus der Ehewohnung der Bestand des Hausrats noch erinnerlich sein sollte3.
207
Das OLG Düsseldorf4 hat einen Auskunftsanspruch zugebilligt, wenn einer der Ehegatten in entschuldbarer Weise über den Bestand des Hausrats im Ungewissen war. In dem zur Entscheidung stehenden Fall handelte es sich um einen Ehegatten, der vielfältig beruflich in Anspruch genommen war und die eheliche Wohnung, ein Einfamilienhaus, unter Zurücklassung der wesentlichen Haushaltsgegenstände verlassen hatte. Entgegen-
1 OLG Bamberg v. 1.12.2000 – 7 UF 212/00, FamRZ 2001, 1316; OLG Brandenburg v. 26.8.2002 – 10 WF 18/02, FamRZ 2004, 891. 2 OLG Frankfurt v. 10.2.1988 – 1 UF 324/87, FamRZ 1988, 645. 3 OLG Bamberg v. 22.5.1991 – 2 UF 105/91, FamRZ 1992, 332. 4 OLG Düsseldorf v. 14.7.1986 – 4 UF 43/86, FamRZ 1987, 81.
980
Viethen
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 210
Kap. 7
gesetzt argumentierte das OLG Zweibrücken1, das der in einem Einfamilienhaus verbliebenen Ehefrau nicht zumuten wollte, ein schriftliches Bestandsverzeichnis zu fertigen. Eine Reihe von Stimmen der Literatur2 spricht sich generell dafür aus, ein Recht auf Auskunft zuzubilligen, wenn der Antragsteller die Ehewohnung nicht mehr betreten darf. Der Anspruch auf Auskunftserteilung dürfte jedoch wie auch in anderen 208 Bereichen des Familienrechts idR eine relativ stumpfe Waffe sein, und zwar selbst dann, wenn er grundsätzlich durch einen Anspruch auf Abgabe der eidesstattlichen Versicherung zur Vollständigkeit der Auskunftserteilung ergänzt wird. Hier hilft nur die rechtzeitige Auflistung aller Haushaltsgegenstände vor dem Verlassen der ehelichen Wohnung, ggf. unter Zuhilfenahme Dritter, die die Hausratsliste unterschreiben und später dann den Bestand des Hausrats zum Trennungszeitpunkt bezeugen können. Für den Untergang von Haushaltsgegenständen zwischen dem Zeitpunkt der Trennung und dem Zeitpunkt der Entscheidung haftet dann grundsätzlich der Ehegatte, in dessen Besitz sich die betreffenden Haushaltsgegenstände befunden haben. d) Vollstreckung titulierter Ansprüche Liegt ein bestandskräftiger gerichtlicher Beschluss vor, stellt sich die Fra- 209 ge der Vollstreckbarkeit. Die Vollstreckung scheitert oft daran, dass kein vollstreckungsfähiger Tenor vorliegt, für den nach Auffassung des OLG Zweibrücken3 das Familiengericht verantwortlich ist.
Û
Praxistipp: Die Faustregel lautet, dass Herausgabeverpflichtungen so konkret tenoriert sein müssen, dass der Gerichtsvollzieher sich ohne Hilfe des begünstigten Ehegatten in die Wohnung des Herausgabeschuldners begeben und dort die betreffenden Gegenstände auffinden kann4.
Es empfiehlt sich, in Grenzfällen bereits vor Formulierung des Antrags 210 im Hausratsverfahren die Meinung der örtlich zuständigen Gerichtsvollzieher einzuholen. Das AG Berlin5 hat 1938 entschieden, dass der Gerichtsvollzieher vom Herausgabegläubiger verlangen kann, zu einem Vollstreckungsakt eine Person zu stellen, welche die herauszugebenden Sachen identifizieren kann. Ein Streit darüber, ob eine vom Gerichtsvollzieher weggenommene Sache auch die im Schuldtitel bezeichnete ist, ist mit dem Rechtsmittel der Erinnerung gem. § 766 ZPO zu verfolgen.
1 OLG Zweibrücken v. 21.11.1994 – 5 UF 35/93, FamRZ 1995, 1211. 2 Haußleiter/Schulz, Kap. 4, Rn. 151, 207; MüKo-BGB/Wacke, § 1361a BGB Rn. 12. 3 OLG Zweibrücken v. 17.6.1998 – 5 UF 25/98, FamRZ 1999, 672. 4 OLG Brandenburg v. 17.2.2000 – 9 UF 39/99, FamRZ 2000, 1102; OLG Köln v. 27.6.2000 – 14 UF 47/00, FamRZ 2001, 174. 5 DGVZ 1938, 215.
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981
Kap. 7 Rn. 211
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
211
Entscheidungen in Haushaltssachen sind gem. § 209 Abs. 2 FamFG erst mit Rechtskraft vollstreckbar. Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit durch das erstinstanzliche Gericht ist in diesem Verfahren nicht vorgesehen. Rechtskraft tritt ein, wenn die Rechtmittelfristen für alle Beteiligten abgelaufen sind.
212
Die Vollstreckung von rechtskräftigen Entscheidungen und einstweiligen Anordnungen richtet sich gem. § 95 FamFG nach der ZPO. Auf Antrag erteilt die Geschäftsstelle des Familiengerichts Vollstreckungsklauseln für rechtskräftige Entscheidungen und gerichtliche Vergleiche. Einstweilige Anordnungen bedürfen gem. § 53 Abs. 1 FamFG einer Vollstreckungsklausel nur dann, wenn die Vollstreckung für oder gegen einen anderen als den in dem Beschluss bezeichneten Beteiligten erfolgen soll.
213
Die Herausgabevollstreckung selbst erfolgt über § 883 ZPO. Der Gerichtsvollzieher nimmt dem Herausgabeschuldner die Haushaltsgegenstände weg und übergibt sie dem Herausgabegläubiger. Wird die herauszugebende Sache nicht vorgefunden, so ist der Herausgabeschuldner auf Antrag des Gläubigers zur Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung des Inhalts verpflichtet, dass er die Sache nicht besitzt und auch nicht weiß, wo sie sich befindet. Es liegt auf der Hand, dass sich das komplizierte Vollstreckungsverfahren nur bei einigermaßen werthaltigen Haushaltsgegenständen lohnt.
214
Ergänzend bestimmt § 95 Abs. 4 FamFG, dass die Vollstreckung einer Verpflichtung zur Herausgabe einer Sache neben oder anstelle einer Maßnahme nach § 883 ZPO auch nach den Vorschriften über die Vollstreckung bei unvertretbaren Handlungen nach § 888 ZPO, etwa durch Anordnung eines Zwangsgeldes, erfolgen kann. e) Schadensersatz
215
Schadensersatzansprüche wegen der Beschädigung oder Weggabe von Haushaltsgegenständen sind mittlerweile ebenfalls Familiensachen und vor den Familiengerichten zu verfolgen. Der antragstellende Ehegatte ist beweispflichtig dafür, dass der betreffende Haushaltsgegenstand vom anderen Ehegatten schuldhaft beschädigt worden ist bzw. bei Trennung vorhanden war und dann vom anderen Ehegatten veräußert oder weggegeben worden ist. Bei schuldhafter Beschädigung gilt der besondere Haftungsmaßstab des § 1359 BGB. Danach haben Ehegatten bei Erfüllung der sich aus dem ehelichen Verhältnis ergebenden Verpflichtung nur für die Sorgfalt einzustehen, welche sie üblicherweise in eigenen Angelegenheiten anwenden.
216
Weiterhin ist der Anspruchsteller verpflichtet, den Wert der untergegangenen Sache nachzuweisen. Trotz der Befugnis der Zivilgerichte zur freien Schadensschätzung nach § 278 Abs. 1 ZPO dürfte dies meist größeren Schwierigkeiten begegnen. Auch für die gerichtliche Schätzung müssen 982
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 220
Kap. 7
dem Gericht ausreichend konkrete Anhaltspunkte an die Hand gegeben werden. Der gesamte Fragenkomplex macht klar, dass die Hausratsteilung den 217 Ehegatten in vielfältiger Weise Gelegenheit bietet, Aversionen auszuleben und sich gegenseitig zu schaden. Wer nicht bei der Ermittlung des Hausrats mitwirkt, Hausrat fälschlich als verloren gegangen bezeichnet, beiseite schafft oder beschädigt, wird nur dann zur Rechenschaft gezogen, wenn der andere Ehegatte die Energie aufbringt, aufwändige und langwierige Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Nicht zuletzt aus diesem Grunde sind Hausratsteilungen auch bei Anwälten nicht beliebt. f) Verbotene Eigenmacht aa) Eigenmächtig weggeschaffte Haushaltsgegenstände Sucht ein Ehegatte, der sich trennen will, den Anwalt auf, lautet eine 218 typische Frage, welche Haushaltsgegenstände er beim Auszug mitnehmen darf. Bisweilen fürchten Ehegatten die Auseinandersetzung über den Hausrat anlässlich des Auszugs oder möchten heimlich ausziehen, weil in der Vergangenheit tätliche Angriffe des anderen Ehegatten erfolgt sind. Der Anwalt steht vor der Frage, ob er dem Rat suchenden Ehegatten zur verbotenen Eigenmacht raten soll. Immerhin bricht die Mitnahme von Haushaltsgegenständen ohne bzw. gegen den Willen des anderen Ehegatten dessen Gewahrsam und verhindert die Ausübung des gleichzeitig bestehenden Rechts zum Besitz an den Haushaltsgegenständen, das Ausfluss der Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft nach § 1353 BGB ist. Dies dürfte angesichts der klaren Formulierung des § 1568b BGB mittlerweile aber nicht mehr für solche Haushaltsgegenstände gelten, die im Alleineigentum des auszugswilligen Ehegatten stehen1. Strafrechtlich erfüllt eine solche Handlung nur dann den Tatbestand der 219 Unterschlagung nach § 246 StGB, wenn der betreffende Ehegatte sich die Sache rechtswidrig zueignen, dh. auf Dauer das Eigentumsrecht des anderen Ehegatten ausschließen will, und dies vorsätzlich tut, dh. zumindest billigend in Kauf nimmt, dass er widerrechtlich handelt. Allerdings werden solche Fälle gem. § 247 StGB nur auf Antrag verfolgt. Die schlichte Ingebrauchnahme einer Sache, ohne dass ein endgültiger Ausschluss des anderen Berechtigten beabsichtigt ist, also eine lediglich zeitweilige Beseitigung des tatsächlichen Gewahrsams (Besitz) ist nur strafbar beim unbefugten Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder Fahrrads (§ 248b StGB). Es ist indessen völlig lebensfremd, dem ausziehenden Ehegatten zu empfehlen, nur unter Mitnahme der persönlichen Dinge und Kleidungsstücke auszuziehen und erst nach erfolgtem Auszug die Aufteilung des ehelichen Haushalts anzugehen. Wesentlich lebensnaher ist eine neuere Ent1 Zur früheren HausratsVO noch anders: BGH v. 31.1.1979 – VIII ZR 93/78, FamRZ 1979, 282.
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Kap. 7 Rn. 221
Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
scheidung des OLG Nürnberg1. Danach besteht ein Herausgabeanspruch gegen den Ehegatten, der Haushaltsgegenstände durch verbotene Eigenmacht an sich gebracht hat, jedenfalls dann nicht, wenn diese Gegenstände ihm im Rahmen der Hausratsteilung ohnehin nach § 1361a Abs. 1 oder Abs. 2 BGB wieder zuzuweisen wären.
Û
Praxistipp: Es empfiehlt sich deshalb für den Regelfall, die Aufteilung der Haushaltsgegenstände vor dem Auszug mit dem anderen Ehegatten durchzusprechen. Besteht der begründete Verdacht einer über das zumutbare Maß hinaus gehenden Auseinandersetzung bzw. sogar tätlicher Angriffe des anderen Ehegatten, so verhält sich korrekt, wer für sich und den anderen Ehegatten eine Liste des gesamten Hausrats fertigt und darauf markiert, welche Gegenstände er mitgenommen hat. Auf dieser Grundlage kann auch der andere Ehegatte beurteilen, ob die eigenmächtig vorgenommene Hausratsteilung angemessen war oder nicht. Er ist weiterhin in die Lage versetzt, ein aus seiner Sicht nicht angemessenes Ergebnis ggf. durch eine gerichtliche Aufteilung der Haushaltsgegenstände zu korrigieren.
221
Eine vorsorgliche Abwendung bevorstehender Eigenmacht des anderen Ehegatten ist kaum umzusetzen. Die Familiengerichte verlangen eine genaue Bezeichnung der Gegenstände, deren Wegnahme befürchtet wird. Pauschale Anträge, dem Gegner vorsorglich die Wegnahme von Haushaltsgegenständen ohne Zustimmung zu untersagen, sind nicht vollstreckbar. bb) Nicht abgeholte Haushaltsgegenstände
222
Ein Handeln ohne Auftrag für den eigentlich Berechtigten, aber im umgekehrten Sinne, kommt auch vor, wenn einer der Ehegatten Haushaltsgegenstände, die ihm gehören oder ihm zugeteilt wurden, nicht abholt. Der andere Ehegatte steht dann vor der Frage, wie er die Haushaltsgegenstände loswerden kann, ohne dass ihn später Ersatzansprüche treffen.
Û
Praxistipp: Es empfiehlt sich in solchen Fällen, den Gegner unter Einräumung einer angemessenen Frist zur Abholung aufzufordern, ggf. auch per Einschreibebrief mit Rückantwortschein. Holt der andere Ehegatte die Gegenstände dann nicht ab, kann der zur Herausgabe verpflichtete Ehegatte gem. § 372 BGB iVm der jew. landesrechtlichen Hinterlegungsvorschrift Urkunden und „Kostbarkeiten“ bei der Hinterlegungsstelle des Amtsgerichts hinterlegen. Kostbarkeiten sind bewegliche Sachen, deren Wert im Vergleich zu ihrem Umfang und ihrem
1 OLG Nürnberg v. 5.8.2005 – 7 UF 382/05, FamRZ 2006, 486.
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Ehewohnung und Haushaltsgegenstände
Rn. 224
Kap. 7
Gewicht besonders hoch ist. Sie müssen leicht aufzubewahren und unverderblich sein (Gold, Edelsteine, Schmuck, Kunstwerke oÄ). In der Praxis dürfte es jedoch kaum vorkommen, dass ein Ehegatte Kostbarkeiten, die ihm gehören oder zugeteilt wurden, nicht abholt. Vielmehr wird dieses Schicksal eher Gegenstände treffen, deren Wert zweifelhaft ist. Gibt der zur Herausgabe verpflichtete Ehegatte solche Gegenstände zum Müll, so wandelt sich der Herausgabeanspruch in einen Schadensersatzanspruch. Der Ehegatte, der seine Abholungspflicht verletzt hat, ist jedoch beweispflichtig für den Wert der in Verlust geratenen Sache, aus dem sich dann die Höhe des Schadensersatzanspruchs ergibt. Allein der Umstand, dass er trotz Aufforderung die Sache nicht abgeholt hat, indiziert bereits die Wertlosigkeit des Gegenstandes.
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Wertvolle Haushaltsgegenstände können gem. § 383 BGB versteigert wer- 224 den. Der Erlös ist dann beim Amtsgericht zu hinterlegen. Das Verfahren dürfte jedoch dem zur Herausgabe verpflichteten Ehegatten regelmäßig zu aufwändig erscheinen. Verkauft er einen Haushaltsgegenstand, den der andere trotz Aufforderung nicht abgeholt hat, so ist er zur Auskehrung des Erlöses nach den Vorschriften der Geschäftsführung ohne Auftrag verpflichtet. Er kann jedoch die ihm entstandenen Aufwendungen gem. § 683 BGB geltend machen.
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Kapitel 8 Gewaltschutz Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . .
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II. Arbeitshinweise (Checkliste) III. Materielles Recht 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Maßnahmen bei Verletzung besonders geschützter Rechtsgüter sowie unzumutbarer Belästigungen a) Allgemeine Voraussetzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konkrete Maßnahmen nach § 1 GewSchG . . . . . . . . . . . . . 3. Wohnungszuweisung nach dem GewSchG . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Voraussetzungen und Abgrenzung . . . . . . . b) Befristung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wiederholungsgefahr . . . . . . IV. Verfahrensrechtliche Besonderheiten 1. Zuständigkeit
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a) Sachliche Zuständigkeit . . . . b) Örtliche Zuständigkeit . . . . . 2. Gerichtliches Verfahren und Durchführung von Entscheidungen nach dem GewSchG a) Wirksamkeit von Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vollstreckung aa) Grundsätzliches . . . . . . . . bb) Vollstreckung vor Zustellung . . . . . . . . . . . . . c) Mitteilung an Polizeibehörden und andere öffentliche Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einstweilige Anordnungen a) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . b) Nebeneinander von einstweiligen Anordnungs- und Hauptsacheverfahren. . . . . . . 4. Besonderheiten bei Vergleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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30 32 34 36 38 43 44
I. Vorbemerkung 1
Das Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen (Gewaltschutzgesetz – GewSchG) v. 11.12.2001 (BGBl. I, S. 3513) ist am 1.1.2002 als Art. 1 eines Gesamtpakets von gesetzlichen Neuerungen in Kraft getreten, mit denen der Gesetzgeber der zunehmenden Bedrohung durch Gewalttaten, insbesondere auch im Privatbereich, entgegentreten wollte.
2
Das Gewaltschutzgesetz regelt nicht wie die familienrechtlichen Vorschriften ein Schuldverhältnis – sei es ein gesetzliches (die Verwandtschaft) oder ein vertragliches (die Ehe) –, sondern enthält deliktische Vorschriften zur Bekämpfung einer rechtspolitisch missbilligten Entwicklung. Obwohl es sich bei §§ 1, 2 GewSchG formal um Regelungen der Rechtsbeziehungen von Privatpersonen untereinander durch die Zivilgerichte handelt, haben die Vorschriften gleichzeitig einen ambivalenten Charakter. Aus dem gesetzlichen Gesamtbezug ergibt sich das Interesse des Gesetzgebers an einem verstärkten Schutz gewaltbetroffener Personen durch hoheitliche Maßnahmen. Dafür spricht auch die in § 216a FamFG gesetzlich normierte Verpflichtung des Familiengerichts zur Information der Polizei-
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Gewaltschutz
Rn. 4
Kap. 8
behörden und sonstiger öffentlicher Institutionen über die verhängten Maßnahmen. Da die §§ 1, 2 GewSchG teilweise gleiche Sachverhalte wie familienrecht- 3 liche Regelungen betreffen, ergeben sich naturgemäß Überschneidungen und Systemwidrigkeiten. Überschneidungen gibt es vor allem mit der Zuweisung der Ehewohnung nach den §§ 1361b und 1568a BGB oder den Vorschriften über die verbotene Eigenmacht nach §§ 858 ff. BGB. Erstaunlich ist auch, dass – zur Begründung der sachlichen Zuständigkeit der Familiengerichte – Gewaltschutzsachen nach § 111 Nr. 6 FamFG ausschließlich als Familiensachen definiert werden, obwohl die Regelungen des Gesetzes auch Personen betreffen, die miteinander weder verwandt noch verheiratet sind oder waren. Daneben handelt es sich bei dem Gewaltschutzgesetz um ein sog. straf- 4 rechtliches Nebengesetz. § 4 enthält für den Fall der Zuwiderhandlung gegen gerichtlich erlassene Maßnahmen eine Strafvorschrift, nach der Geldund Haftstrafen verhängt werden können. Zuständig dafür ist selbstverständlich nicht das Familiengericht, sondern der Strafrichter. Voraussetzung für die strafrechtliche Ahndung ist jedoch eine konkrete vollstreckbare Entscheidung des Familiengerichts, die dem Täter auch tatsächlich zugestellt worden sein muss1.
II. Arbeitshinweise (Checkliste) – Name und Anschrift der Beteiligten, berufliche Stellung, finanzielle Verhältnisse, Vermögen – Verletzung des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit des Mandanten bzw. angedrohte Verletzung? – Beweismittel (Zeugen, ärztliche Atteste, Polizeiberichte etc.)? – Bei Belästigung durch Nachstellungen bzw. der Verfolgung mit Fernkommunikationsmitteln: Tathergang, Beweismittel, ausdrückliche Erklärung des entgegenstehenden Willens? – Bei Wohnungszuweisung: Anschrift der Wohnung, genaue Beschreibung der Lage im Haus, Anzahl der Zimmer, Funktionsräume und Nebenräume; Zahl der Bewohner, Alter der Kinder, deren besondere Verhältnisse (zB Entfernung zur Schule); Parteien des Mietvertrags bzw. Eigentumsverhältnisse/dingliche Berechtigung der Beteiligten an der Wohnung – Vollstreckung vor Zustellung der Entscheidung erforderlich?
1 BGH v. 7.10.2010 – 1 StR 404/10, juris; BGH v. 15.3.2007 – 5 StR 536/06, FamRZ 2007, 812.
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Kap. 8 Rn. 5
Gewaltschutz
III. Materielles Recht 1. Übersicht 5
Das Gewaltschutzgesetz regelt in § 1 Maßnahmen zu zwei Sachverhaltskomplexen, nämlich – Maßnahmen bei einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit einer anderen Person (Abs. 1) sowie die Drohung mit einer solchen Verletzung (Abs. 2 Nr. 1); – Maßnahmen für den Fall, dass eine Person in die Wohnung einer anderen Person oder deren befriedetes Besitztum eindringt oder eine andere Person dadurch unzumutbar belästigt, dass sie ihr gegen den ausdrücklich erklärten Willen wiederholt nachstellt oder sie unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln verfolgt (Abs. 2 Nr. 2).
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In § 2 regelt das Gesetz den besonderen Fall, dass die verletzte Person mit dem Täter zum Zeitpunkt einer Tat nach § 1 Abs. 1 S. 1 bzw. zum Zeitpunkt der Drohung einen auf Dauer angelegten gemeinsamen Haushalt geführt hat. 2. Maßnahmen bei Verletzung besonders geschützter Rechtsgüter sowie unzumutbarer Belästigungen a) Allgemeine Voraussetzungen
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Soweit § 1 Abs. 1 GewSchG für die Verhängung von Maßnahmen das Vorliegen einer Körperverletzung voraussetzt, so soll dies auch dann gegeben sein, wenn sich die Ausübung psychischer Gewalt beim Opfer körperlich auswirkt, beispielsweise durch Schlafstörungen1. Gleichermaßen umfasst der Begriff der Gesundheit auch die psychische Gesundheit, soweit medizinisch feststellbare psychische Gesundheitsschäden auf erhebliche Beeinträchtigungen durch den Täter zurückgeführt werden können.
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Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wird durch das Gewaltschutzgesetz nicht geschützt. Ebenso wie Verletzungen sonstiger Rechtsgüter, die nicht im Katalog des § 1 GewSchG enthalten sind, können Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nur nach dem allgemeinen Deliktsrecht des BGB mit Schadensersatz- und Unterlassungsansprüchen geahndet werden2.
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Die Rechtsgutverletzung muss vorsätzlich und widerrechtlich erfolgt sein. Dies schließt etwa Körperverletzungen mit Einwilligung, wie sie im medizinischen Bereich stattfinden, von einer Verfolgung aus. Auch gesetzlich zugelassene Tatbestände der Freiheitsberaubung, etwa durch staatliche Vollzugsorgane, werden dadurch dem Gewaltschutz entzogen. 1 BT Drucks. 14/5429, S. 19. 2 BT Drucks. 14/5429, S. 18; OLG Hamm v. 23.5.2011 – 8 UF 77/11, FamFR 2011, 576.
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Gewaltschutz
Rn. 14
Kap. 8
Nach hM kommt eine Anordnung von Gewaltschutzmaßnahmen i.S.v. 10 § 1 GewSchG nicht in Betracht, wenn der Täter bei der Begehung der Anlasstaten unzurechnungsfähig gewesen ist1. Dies gilt nach dem dem § 827 S. 2 BGB nachempfundenen § 1 Abs. 3 GewSchG allerdings dann nicht, wenn sich der Täter vorwerfbar durch den Genuss alkoholischer Getränke oder ähnlicher Mittel vorübergehend selbst in den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit versetzt hat. In sonstigen Fällen sollen Schutzanordnungen des Familiengerichts (!) nach §§ 823, 1004 BGB in entsprechender Anwendung von § 17 Abs. 2 S. 1 GVG selbst dann zulässig sein, wenn sich erst im Lauf des Verfahrens herausgestellt hat, dass eine Zuständigkeit der Familiengerichte nach § 111 Nr. 6 FamFG nicht gegeben war. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn sich erst durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens eine psychische Grunderkrankung des Täters herausstellt, die zu einer permanenten Unzurechnungsfähigkeit geführt hat2. Die Voraussetzungen für die Verhängung von Schutzmaßnahmen nach § 1 GewSchG müssen im Entscheidungszeitpunkt noch gegeben sein. Liegen sie zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht (mehr) vor, so ist eine erstinstanzliche Entscheidung aufzuheben3.
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Die Anordnung von Schutzmaßnahmen soll befristet werden, wobei die Frist verlängert werden kann. Nach eineinhalbjähriger Verfahrensdauer kann aus länger zurückliegenden Verletzungshandlungen nicht ohne weiteres auf eine fortbestehende Wiederholungsgefahr geschlossen werden4.
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– Sonderfall: Drohung mit einer Rechtsgutsverletzung
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Gerichtliche Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt sind auch dann anzuordnen, wenn eine Person einer anderen mit einer Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit lediglich gedroht hat. Drohungen mit sonstigen Folgen reichen nicht aus. Auch die Drohung muss widerrechtlich erfolgt sein. – Sonderfall: Unzumutbare Belästigung
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Gleiches gilt, wenn ein Täter – widerrechtlich und vorsätzlich in die Wohnung einer anderen Person oder deren befriedetes Besitztum eindringt oder – eine andere Person dadurch unzumutbar belästigt, dass er ihr gegen den ausdrücklich erklärten Willen wiederholt nachstellt oder sie unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln verfolgt.
1 OLG Frankfurt v. 20.5.2010 – 5 UF 26/10, FamRZ 2010, 1812; AG Bad Iburg v. 14.12.2009 – 5 F 596/09, FamRZ 2010, 1350. 2 OLG Celle v. 24.8.2011 – 17 UF 3/11, FamRZ 2012, 456. 3 OLG Köln v. 28.7.2011 – 4 UF 103/11, juris. 4 OLG Celle v. 6.2.2009 – 15 UF 154/08, FamRZ 2009, 1751.
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Kap. 8 Rn. 15
Gewaltschutz
15 Die Vorschrift schützt zunächst die Privatwohnung, nicht die Geschäftsräume einer Person. Ob der Begriff des „befriedeten Besitztums“ ebenso weit auszulegen ist wie in der Strafvorschrift des § 123 StGB, ist fraglich. Dort ist befriedet gleichbedeutend mit „eingehegt“, dh. erkennbar in einen Schutzbereich einbezogen. Dies kann grundsätzlich auch einen weit vom Hause entfernt liegenden Hof oder umzäunte Äcker und Wiesen betreffen. Vom Gesetzgeber des GewSchG gemeint war sicherlich der Schutz des Grundstücks, auf dem sich das Haus bzw. die Wohnung des Opfers befindet. 16 Eine unzumutbare Belästigung liegt nicht vor, wenn die Handlung der Wahrnehmung berechtigter Interessen dient. Dies dient etwa dem Schutz polizeilicher Ermittlungsarbeit oder auch der Berufsausübung von Journalisten. Das AG Tempelhof-Kreuzberg hat eine wiederholte Übersendung von E-Mails des Vereins „Eltern gegen Diskriminierung des Kindes in Deutschland e.V.“ nicht als unzumutbare Belästigung qualifiziert, obwohl die betroffene Kindesmutter die Übersendung ausdrücklich abgelehnt hatte1. 17 Der Begriff des Nachstellens oder Verfolgens betrifft das sog. Stalking, das seit 2006 unter dem Titel „Nachstellungen“ in § 238 StGB unter Strafe gestellt worden ist. Stalking kann dadurch verwirklicht werden, dass der Täter wiederholt die räumliche Nähe einer anderen Person aufsucht oder mittels Fernkommunikationsmitteln Kontakt zu ihr aufnimmt. Dabei stellt ein zweimaliges Beobachten des Opfers mit einem Fernglas aus einer Entfernung von mehr als 500m kein wiederholtes Nachstellen i.S.v. § 1 Abs. 2 Nr. 2 GewSchG dar2. Auch beharrliches Handeln i.S.d. § 238 StGB setzt ein wiederholtes Tätigwerden voraus, das die Lebensgestaltung des Opfers schwerwiegend beeinträchtigt3. Ob auch die in § 238 StGB unter Strafe gestellte missbräuchliche Verwendung von personenbezogenen Daten zur Bestellungen von Waren oder Dienstleistungen oder zur Veranlassung der Kontaktaufnahme durch Dritte unter den Begriff des Nachstellens nach § 1 Abs. 2 Nr. 2b) GewSchG fällt, dürfte zweifelhaft sein.
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Wichtig: Problematisch ist die Frage der Beweislast, da § 1 Abs. 2 Nr. 2b GewSchG verlangt, dass die Belästigungen gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Opfers erfolgt sein müssen. Soweit ohne weiteres offensichtlich ist, dass Handlungen des Täters nicht erwünscht sein können, etwa bei objektiven Behinderungen oder Beleidigungen, spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass das Opfer diese Handlungen nicht wünscht und dies auch zu erkennen gegeben hat. Diese Vermutung ist ggf. vom Täter zu widerlegen. In allen anderen
1 AG Tempelhof-Kreuzberg v. 19.11.2009 – 168 F 15257/09, FamRZ 2010, 919. 2 OLG Koblenz v. 29.12.2009 – 13 WF 1002/09, FamRZ 2010, 1284. 3 BGH v. 19.11.2009 – 3 StR 244/09, FamRZ 2010, 289.
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Gewaltschutz
Rn. 18
Kap. 8
Fällen trägt das Opfer die Beweislast dafür, dass ausdrücklich erklärt worden ist, dass die Nachstellungen des Täters nicht erwünscht waren. b) Konkrete Maßnahmen nach § 1 GewSchG § 1 Abs. 1 GewSchG enthält einen Maßnahmenkatalog, der jedoch nicht abschließend ist. Erwähnt sind insbesondere das Verbot (bzw. die Anordnung der Unterlassung), – die Wohnung der verletzten Person zu betreten, – sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung der verletzten Person aufzuhalten, – vom Gericht zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich die verletzte Person regelmäßig aufhält, – Verbindung zur verletzten Person, auch unter Verwendung von Fernkommunikationsmittel, aufzunehmen, – ein Zusammentreffen mit der verletzten Person herbeizuführen. Antragsmuster: I.
Dem Antragsgegner wird untersagt, 1. die Antragstellerin zu bedrohen, zu belästigen, zu verletzen oder sonst körperlich zu misshandeln, 2. sich der Antragstellerin sowie der Wohnung der Antragstellerin (vollständige Anschrift) mehr als 20m zu nähern, 3. mit der Antragstellerin – auch unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln – Verbindung aufzunehmen, 4. ein Zusammentreffen mit der Antragstellerin herbeizuführen. Sollte es zu einem zufälligen Zusammentreffen kommen, hat der Antragsgegner sofort einen Abstand von 20m herzustellen.
II.
Die Unterlassungsanordnungen gelten bis zum … (konkretes Datum)
III. Dem Antragsgegner wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen das in Nr. I ausgesprochene Gebot/Verbot ein Ordnungsgeld bis zu 250 000 Euro und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft bis zu sechs Monaten angedroht. IV. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. V.
Die sofortige Wirksamkeit und die Zulässigkeit der Vollstreckung vor der Zustellung an den Antragsgegner wird angeordnet.
VI. Diese Anordnung wird gem. § 216a FamFG der zuständigen Polizeibehörde mitgeteilt1.
1 Nach OLG Hamm v. 8.8.2011 – 8 UF 111/11, juris.
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Kap. 8 Rn. 19
Gewaltschutz
3. Wohnungszuweisung nach dem GewSchG 19 Der Anspruch auf Überlassung einer gemeinsam genutzten Wohnung nach § 2 GewSchG ist vom Grundsatz her auf die gleiche Maßnahme gerichtet wie der Anspruch auf Zuweisung der Ehewohnung nach § 1568a BGB. Deshalb kann auf die in Kap. 7 Rn. 40, 42, 54 dargestellten Antragsmuster verwiesen werden. a) Allgemeine Voraussetzungen und Abgrenzung 20 Allerdings sind die Voraussetzungen für die Überlassung einer gemeinsam genutzten Wohnung nach dem Gewaltschutzgesetz enger gefasst als bei einem Anspruch nach § 1568a BGB. Erforderlich ist das Vorliegen einer Rechtsgutsverletzung nach § 1 Abs. 1 S. 1 GewSchG. 21 Auch die widerrechtliche Drohung mit einer Gewalttat nach § 1 Abs. 2 S. 1 GewSchG begründet einen Anspruch auf Überlassung der gemeinsam genutzten Wohnung, wenn dies erforderlich ist, um eine unbillige Härte zu vermeiden. Hierzu führt das Gesetz ausdrücklich aus, dass die unbillige Härte auch bei der Gefährdung des Wohles von im Haushalt lebenden Kindern gegeben sein kann. 22 Weitere Voraussetzung ist, dass der Täter mit der verletzten Person zum Zeitpunkt der Tat einen auf Dauer angelegten gemeinsamen Haushalt geführt hat. Höchstrichterliche Rechtsprechung dazu, ob und ggf. welche inneren Bindungen die Mitglieder dieses gemeinsamen Haushalts zueinander haben müssen, existiert, soweit ersichtlich, nicht. Die Gesetzesbegründung spricht von einer Schutzfunktion der Vorschrift für jede häusliche Gemeinschaft im sog. sozialen Nahbereich1. Bei Ehegatten und Lebenspartnern ist § 1361b BGB bzw. § 14 LPartG Spezialvorschrift, sofern wenigstens einer der Beteiligten Trennungswillen besitzt2. b) Befristung 23 Eine Befristung der Wohnungsüberlassung erfolgt nur dann, wenn der Täter – ggf. auch gemeinsam mit der verletzten Person – – Eigentümer des Grundstücks ist, auf dem sich die Wohnung befindet, oder an dem Grundstück ein Erbbaurecht oder ein Nießbrauchrecht besitzt, – an der Wohnung Wohnungseigentum, ein Wohnrecht oder ein dingliches Wohnrecht besitzt, – Mieter der Wohnung ist.
1 Ausführliche Darstellung bei Palandt/Brudermüller, § 2 GewSchG Rn. 2. 2 AA mit wenig überzeugender Begr. OLG Bamberg v. 16.2.2011 – 7 UF 37/11, FamRZ 211, 1419.
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Gewaltschutz
Rn. 27
Kap. 8
Hat der Täter eine der genannten Rechtspositionen allein oder zusammen 24 mit einem Dritten inne, beträgt die Frist höchstens sechs Monate. Eine einmalige Verlängerung um weitere sechs Monate kann erfolgen, wenn die verletzte Person sich innerhalb dieser Frist anderen angemessenen Wohnraum zu zumutbaren Bedingungen nicht beschaffen konnte. Eine Verlängerung der Frist ist nach § 2 Abs. 2 S. 3 GewSchG soll dann nicht möglich sein, wenn überwiegende Belange des Täters oder der dritten Person entgegenstehen. c) Wiederholungsgefahr Das Vorliegen einer vorsätzlichen Rechtsgutverletzung nach § 1 Abs. 1 25 S. 1 GewSchG indiziert ohne weiteres die Wiederholungsgefahr. Dementsprechend sieht Abs. 3 der Vorschrift den Ausschluss des Anspruchs auf Wohnungsüberlassung nach Abs. 1 lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen vor: – Wenn weitere Verletzungen nicht zu besorgen sind, es sei denn, dass der verletzten Person das weitere Zusammenleben mit dem Täter wegen der Schwere der Schwere der Tat nicht zuzumuten ist. Dies dürfte stets gegeben sein, wenn durch die Tat eine Lebensgefährdung des Opfers eingetreten war, – wenn die verletzte Person nicht innerhalb von drei Monaten nach der Tat die Überlassung der Wohnung schriftlich vom Täter verlangt hat oder – soweit der Überlassung der Wohnung an die verletzte Person besonders schwerwiegende Belange des Täters entgegenstehen. Denkbar wäre insoweit, dass ein behinderter Täter auf die für seine Bedürfnisse eingerichtete Wohnung angewiesen ist.
IV. Verfahrensrechtliche Besonderheiten 1. Zuständigkeit a) Sachliche Zuständigkeit § 210 FamFG definiert als „Gewaltschutzsachen“ die Verfahren nach den 26 §§ 1 und 2 GewSchG. Gewaltschutzsachen gehören nach § 111 Nr. 6 FamFG zu den Familiensachen. Damit ist nach §§ 23a, 23b GVG die sachliche Zuständigkeit der bei den Amtsgerichten gebildeten Familiengerichte gegeben. Dies gilt auch für Verfahren nach §§ 1, 2 GewSchG, an denen Personen beteiligt sind, die weder miteinander verheiratet sind noch verheiratet waren, also etwa Geschäftspartner, Parteien eines Mietverhältnisses, ein Stalker und sein Opfer etc. Da Gewaltschutzsachen zu den Familiensachen gehören, sind auf diese Verfahren gem. § 1 FamFG die Vorschriften des FamFG anwendbar.
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Kap. 8 Rn. 28
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b) Örtliche Zuständigkeit 28 § 211 FamFG begründet eine ausschließliche Zuständigkeit nach Wahl des Antragstellers. Dieser kann folgende Gerichte wählen, um das Verfahren anhängig zu machen: – Das Gericht in dessen Bezirk die Tat begangen wurde, – das Gericht in dessen Bezirk sich die gemeinsame Wohnung des Antragstellers und des Antragsgegners befindet oder – das Gericht, in dessen Bezirk der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. 29 Das Amtsgericht am Wohnort des Antragstellers kann also nicht zuständig werden, wenn Täter und Opfer keinen gemeinsamen Haushalt haben und die Tat in einem anderen Gerichtsbezirk begangen wurde! 2. Gerichtliches Verfahren und Durchführung von Entscheidungen nach dem GewSchG a) Wirksamkeit von Entscheidungen 30 Das Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz ist zügig zu führen. Bleibt ein Gericht innerhalb angemessener Zeit untätig, steht dem Betroffenen zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes die Untätigkeitsbeschwerde zu1! 31 Entscheidungen in Gewaltschutzsachen werden mit Rechtskraft wirksam. Dabei kann das Familiengericht die vorläufige Wirksamkeit anordnen.
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Praxistipp: Obwohl § 216 Abs. 1 S. 1 FamFG als Sollvorschrift ausgestaltet ist, empfiehlt es sich, die Anordnung der vorläufigen Wirksamkeit ausdrücklich zu beantragen.
b) Vollstreckung aa) Grundsätzliches 32 Die Vollstreckung von Maßnahmen nach § 1 GewSchG erfolgt nicht nach § 35 FamFG, sondern ausschließlich nach §§ 86 ff. FamFG, ggf. nach § 95 FamFG i.V.m. den Vorschriften der ZPO2. 33 § 96 Abs. 1 FamFG bestimmt bei Zuwiderhandlungen gegen eine Unterlassungsanordnung nach § 1 GewSchG ausdrücklich, dass der Berechtigte die Möglichkeit hat, den Gerichtsvollzieher zuzuziehen, der nach § 758 Abs. 3 und § 759 ZPO zu verfahren hat. Der Gerichtsvollzieher kann also 1 OLG Brandenburg v. 22.6.1.2009 – 10 WF 253/08, FamRZ 2009, 906. 2 OLG Zweibrücken v. 16.3.2010 – 6 WF 55/10, FamRZ 2010, 1369.
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Rn. 37
Kap. 8
geschlossene Haustüren, Zimmertüren und Behältnisse öffnen lassen und ist, wenn er auf Widerstand trifft, zur Anwendung von Gewalt befugt oder kann zu diesem Zweck die Unterstützung der Polizei anfordern. Der Gerichtsvollzieher hat in diesen Fällen jedoch zwei erwachsene Personen oder einen Gemeinde- oder Polizeibeamten als Zeugen zuzuziehen. bb) Vollstreckung vor Zustellung Mit der Anordnung der sofortigen Wirksamkeit kann das Gericht auch die Zulässigkeit der Vollstreckung vor der Zustellung an den Antragsgegner anordnen. Damit soll dem Antragsteller die Möglichkeit eingeräumt werden, aus der Entscheidung in einer Gewaltschutzsache zu vollstrecken, ohne eine Verhinderung der Vollstreckung durch den Täter befürchten zu müssen. Beispielsweise ist der Antragsteller in diesem Fall berechtigt, das Wohnungsschloss auszuwechseln, wenn eine Zuweisung der Wohnung nach § 2 GewSchG ergangen ist.
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Praxistipp: Es empfiehlt sich ebenfalls, in geeigneten Fällen ausdrücklich zu beantragen, dass die Vollstreckung einer Entscheidung vor Zustellung an den Antragsgegner erfolgen darf.
Antragsmuster: – Die vorstehende Entscheidung ist vorläufig wirksam./Die vorläufige Wirksamkeit wird angeordnet. – Eine Vollstreckung der vorstehenden Entscheidung ist vor der Zustellung an den Antragsgegner zulässig./Die Zulässigkeit der Vollstreckung vor Zustellung an den Antragsgegner wird angeordnet.
Wird eine Vollstreckung vor Zustellung der Entscheidung an den Antragsgegner für zulässig erklärt, tritt die Wirksamkeit der Entscheidung bereits mit der Übergabe an die Geschäftsstelle des Gerichts zur Bekanntmachung ein (§ 216 Abs. 2 S. 2 FamFG).
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c) Mitteilung an Polizeibehörden und andere öffentliche Stellen § 216a FamFG verpflichtet das Familiengericht, Anordnungen nach den 36 §§ 1 und 2 GewSchG unverzüglich der zuständigen Polizeibehörde sowie anderen öffentlichen Stellen mitzuteilen, die von der Durchführung der Anordnung betroffen sind. Das Gleiche gilt für die Änderung oder Aufhebung solcher Entscheidungen. Die Verfahrensbeteiligten sollen über die Mitteilung unterrichtet werden. Die Vorschrift betrifft insbesondere Näherungs- oder Kontaktverbote. Neben den örtlich zuständigen Polizeibehörden hat der Gesetzgeber insbeViethen
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Kap. 8 Rn. 38
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sondere an Schulen, Kindergärten und sonstige Kinderbetreuungseinrichtungen gedacht. Dabei war mit Sicherheit keine Beschränkung der Erklärungsempfänger auf Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft beabsichtigt. Die Vorschrift ist auch auf private Einrichtungen, für deren Aufgabenerfüllung die getroffenen Maßnahmen von Bedeutung sein können, zumindest entsprechend anwendbar. 3. Einstweilige Anordnungen a) Grundsätzliches 38 Das FamFG sieht in § 214 ausdrücklich den Erlass vorläufiger Regelungen nach § 1 oder § 2 GewSchG vor. Eine einstweilige Anordnung kann nur auf Antrag des Verletzten getroffen werden. Sie ist – anders als eine Entscheidung in der Hauptsache – auch ohne entsprechende Anordnung sofort wirksam1. 39 Auch der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach §§ 1, 2 GewSchG setzt – ähnlich den Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung – das Vorliegen eines Anordnungsgrundes und eines Anordnungsanspruchs voraus2. Dabei wird ein Anordnungsgrund, also ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigkeitwerden des Gerichts, grundsätzlich dann gesehen, wenn entweder bereits eine Tat nach § 1 GewSchG begangen wurde oder mit ihrer Begehung zu rechnen ist. Ist noch keine Tat begangen worden, müssen konkrete Umstände vorgetragen werden, aus denen zu schließen ist, dass mit einer Begehung zu rechnen ist. 40 Auch Maßnahmen nach §§ 1 und 2 GewSchG, die im Wege der einstweiliegen Anordnung angeordnet werden, sind grundsätzlich zu befristen3. Bei der Bestimmung der Frist ist zu berücksichtigen, ob der Täter schon wiederholt Rechtsgüter des Opfers verletzt oder das Opfer über einen längeren Zeittraum unzumutbar belästigt hat4. 41 Wird eine einstweilige Anordnung ohne mündliche Erörterung erlassen, erfolgen die Zustellung sowie die Vollstreckung automatisch durch den Gerichtsvollzieher unter Vermittlung der Geschäftsstelle des Familiengerichts.
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Wichtig: Auf Verlangen des Antragstellers darf die Zustellung an den Antragsgegner nicht vor der Vollstreckung erfolgen (§ 214 Abs. 2, 2. Halbs. FamFG). Auch diese Vorschrift bezweckt den Schutz des Antragstellers vor einer Verhinderung der erlassenen Maßnahmen durch den Antragsgegner.
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OLG Hamm v. 6.11.2011 – 8 WF 322/10, FamRZ 2011, 830. OLG Köln v. 26.7.2010 – 4 WF 128/10, FamRZ 2011, 132. OLG Saarbrücken v. 20.10.2010 – 6 UF 102/10, FamRZ 2011, 1087. OLG Saarbrücken v. 19.5.2010 – 6 UF 38/10, FamRZ 2010, 1810.
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Nach § 57 FamFG ist gegen einstweilige Anordnungen nach den §§ 1 und 2 42 GewSchG ausnahmsweise das Rechtsmittel der Beschwerde nach §§ 58 ff. FamFG gegeben, wenn die Entscheidung aufgrund einer mündlichen Verhandlung erfolgt ist. Die Beschwerdefrist beträgt nach § 63 Abs. 2 Nr. 1 FamFG zwei Wochen ab der schriftlichen Bekanntgabe des Beschlusses an die Beteiligten.
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Praxistipp: Während der Geltungsdauer einer einstweiligen Anordnung nach dem GewSchG, die sich auf eine Ehewohnung bezieht, kann der Gerichtsvollzieher gem. § 96 Abs. 2 FamFG den Täter mehrmals aus der Wohnung weisen, ohne dass eine erneute Verfügung des Gerichts erlassen werden muss. Auch eine erneute Zustellung des ursprünglichen Beschlusses ist während seiner Geltungsdauer nicht erforderlich.
b) Nebeneinander von einstweiligen Anordnungs- und Hauptsacheverfahren Streit herrscht über die Frage, ob ein Antragsteller Verfahrenskostenhilfe für ein Hauptsacheverfahren nach §§ 1, 2 GewSchG beantragten kann, wenn er gleichzeitig den Erlass einer einstweiligen Anordnung eingeleitet hat. Während einige Oberlandesgerichte dies grundsätzlich als mutwillig bezeichnen1 oder die beantragte Verfahrenskostenhilfe ablehnen, solange zu erwarten ist, dass die einstweilige Regelung zu einer nicht nur vorübergehenden Entspannung und Befriedung der Beteiligten führt2, wird dies von anderen Oberlandesgerichten kategorisch abgelehnt3.
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4. Besonderheiten bei Vergleichen Die Gerichte sind auch in Gewaltschutzsachen gehalten, die Beteiligten dazu anzuhalten, Verfahren durch Vergleiche zu beenden.
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Wichtig: Beim Vergleichsabschluss ist höchste Sorgfalt des Anwalts geboten, damit die verabredeten Maßnahmen tatsächlich geeignet sind, den Schutz des Opfers zu gewährleisten. Insbesondere ist auf einen vollstreckungsfähigen Inhalt des Vergleichs zu achten. Gerichtliche Vergleiche im Rahmen des Gewaltschutzverfahrens sollen einer gerichtlichen Abänderung nicht zugänglich sein4!
1 OLG Celle v. 10.5.2010 – 10 WF 147/10, FamRZ 2010, 1586. 2 OLG Zweibrücken v. 18.11.2009 – 2 WF 215/09, FamRZ 2010, 666 m. Anm. van Els, FamRZ 2010, 1756. 3 OLG Hamm v. 9.12.2009 – 10 WF 274/09, FamRZ 2010, 825 m. Anm. van Els, FamRZ 2010, 2093; OLG Stuttgart v. 25.1.2010 – 18 WF 5/10, FamRZ 2010, 1266. 4 OLG Rostock v. 6.11.2008 – 10 UF 122/08, FamRZ 2009, 997.
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45 Das Gericht kann jedoch auf eine Abänderungsklage hin nachträglich die Befristung einer vereinbarten Maßnahme beschließen. 46 Wird jedoch einem Beteiligten, der in einer Gewaltschutzsache vergleichsweise zugesagt hat, sich der Mutter seines minderjährigen Kindes nicht zu nähern, später durch gerichtliche Entscheidung ein Umgangsrecht zugesprochen, kann der Wegfall der Geschäftsgrundlage für den Vergleich mittels Vollstreckungsabwehrklage geltend gemacht werden1.
1 LG Essen v. 5.3.2009 – 13. 8/09, FamRZ 2009, 1695.
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Kapitel 9 Eheliches Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft Inhaltsübersicht I. Arbeitshinweise 1. Arbeitstechnik bei Trennung und Scheidung 2. Typische Problemfelder II. Einführung, vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten, Verfügungsbeschränkungen 1. Einführung a) Zugewinngemeinschaft . . . . b) Gütertrennung . . . . . . . . . . . . c) Wahl-Zugewinngemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten a) Ausschluss und Modifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Scheidungsfolgenvereinbarung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Form von Ehevertrag und Scheidungsfolgenvereinbarung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gestaltungsmöglichkeiten im gesetzlichen Güterstand durch Ehevertrag oder Scheidungsfolgenvereinbarung aa) Ausschluss des Zugewinnausgleichsanspruchs . . . . . . . . . . . . . bb) Anfangsvermögen . . . . . . cc) Endvermögen . . . . . . . . . . dd) Höhe des Zugewinns . . . ee) Ausgleichsanspruch . . . . e) Gestaltungsgrenzen. . . . . . . . f) Vermögensauseinandersetzung außerhalb der Zugewinngemeinschaft . . . . . . . . . 3. Verfügungsbeschränkung bei Gesamtvermögensgeschäften a) Gesamtvermögensgeschäfte b) Zweck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Teilungsversteigerung von Miteigentum der Ehegatten. d) Geltendmachung der Unwirksamkeit . . . . . . . . . . .
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III. Berechnungsgrundsätze, Anfangs- und Endvermögen 1. Grundsätze a) Mehrstufige Differenzberechnung . . . . . . . . . . . . . . . b) Indexierung aa) Berücksichtigung des Kaufkraftschwundes . . . . bb) Berechnungsmethode . . . cc) Früherer Index für die alten Bundesländer . . . . . dd) Indexierung in den neuen Bundesländern . . . . . . ee) Index seit dem Jahr 2003 (VPI). . . . . . . . . . . . . . c) Bilanzierung. . . . . . . . . . . . . . . 2. Stichtagsregelungen a) Bewertungszeitpunkt beim Anfangsvermögen. . . . . . . . . . b) Bewertungszeitpunkt beim Endvermögen aa) Grundsatz: Beendigung des Güterstands . . . . . . . . bb) Vorverlegung bei Ehescheidung . . . . . . . . . . cc) Vorverlegung bei vorzeitigem Zugewinnausgleich oder vorzeitiger Aufhebung . . . . . . . . . . . . . dd) Vorverlegung im Eheaufhebungsverfahren. . . . 3. Anfangsvermögen a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Negativer Wert . . . . . . . . . . . . c) Aufstockung des Anfangsvermögens (privilegierter Erwerb) aa) Sinn und Zweck . . . . . . . . bb) Durchführung der Aufstockung . . . . . . . . . . . cc) Erwerb von Todes wegen oder mit Rücksicht auf künftiges Erbrecht (1) Erwerb von Todes wegen . . . . . . . . . . . . . .
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(2) Erwerb mit Rücksicht auf künftiges Erbrecht . . . . . . . . . . . . (3) Erhalt einer Lebensversicherungssumme als „Erwerb von Todes wegen“? . . . . . . dd) Erwerb durch (gemischte) Schenkung (1) Schenkungsbegriff. . . (2) Gemischte Schenkungen . . . . . . . . . . . . . ee) Hinzurechnung bei Schenkungen/Zuwendungen unter Ehegatten? . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Schenkungen/Zuwendungen der Schwiegereltern . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Ausstattung . . . . . . . . . . . hh) Streitige Sonderfälle und Analogiefähigkeit . . . . . . 4. Endvermögen a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Illoyale Vermögensminderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unentgeltliche Zuwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verschwendung . . . . . . . . cc) Benachteiligungsabsicht . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Bewertung der dem Endvermögen hinzuzurechnenden Vermögensminderungen . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Keine Analogiefähigkeit ff) Zeitliche Grenze und gebilligte Vermögensminderungen (1) Zeitablauf . . . . . . . . . . (2) Vom anderen Ehegatten gebilligte Vermögensminderungen . . . . . . . . . . . . . c) Beweislast für das Endvermögen und illoyale Vermögensminderungen aa) Beweislast für das Endvermögen . . . . . . . . . . bb) Beweislast für illoyale Vermögensminderungen . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Vermögensbegriff, Verbindlichkeiten und einzelne Vermögensgegenstände 1. Vermögensbegriff . . . . . . . . . . . . 106 2. Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . 108 3. Einzelne Vermögensgegenstände des Anfangs- und Endvermögens a) Abfindungen . . . . . . . . . . . . . . 110 b) Anwartschaften . . . . . . . . . . . 112 c) Ehegatteninnengesellschaft . 113 d) Erwerbschancen, noch nicht fällige Rechte, Restitutionsansprüche aa) Erwerbschancen . . . . . . . . 118 bb) Noch nicht fällige Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . 121 cc) Restitutionsansprüche nach dem Vermögensgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 e) Freiberufliche Praxis . . . . . . . 123 aa) Architekturbüro . . . . . . . . 126 bb) Arztpraxis, Zahnarztpraxis, Tierarztpraxis . . . 127 cc) Rechtsanwaltskanzlei. . . 130 dd) Steuerberaterpraxis . . . . . 131 f) Gesamtschuldnerische Verbindlichkeiten. . . . . . . . . . 132 g) Grundstücke/Immobilien . . 139 h) Haushaltsgegenstände aa) Verhältnis zwischen Zugewinnausgleich und Überlassung von Haushaltsgegenständen . . . . . . 142 bb) Begriff der Haushaltsgegenstände . . . . . . . . . . . . 145 cc) Nach Trennung angeschaffte Haushaltsgegenstände . . . . . . . . . . . . 148 i) Kunstgegenstände, Antiquitäten und Sammlungen . . . . . 149 j) Lebensversicherungen und betriebliche Altersversorgung als Einmalkapitalleistung aa) Lebensversicherungen . . 152 bb) Anrechte aus betrieblicher Altersversorgung mit Kapitalwahlrecht . . . 154 k) Lotteriegewinn . . . . . . . . . . . . 155 l) Nießbrauch, Leibrente, Wohnrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 156 m) Schmerzensgeld/Schadenersatzansprüche . . . . . . . . . . . 160
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft n) Schmuck und Hobbyausrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . o) Schulden . . . . . . . . . . . . . . . . . p) Steuerschulden und Steuererstattungen aa) Steuerschulden . . . . . . . . bb) Steuererstattungen . . . . . q) Unterhaltsrückstände . . . . . . r) Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen . . . . . s) Versorgungsansprüche, Verträge mit Kapitalwahlrecht . t) Wertpapiere, Geldforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Auskunftsansprüche 1. Auskunftsansprüche über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung a) Auskunftsanspruch ab Endstichtag . . . . . . . . . . . . . . . b) Auskunftsanspruch ab dem Zeitpunkt der Trennung. . . . c) Zweck der Auskunftsansprüche zum Trennungszeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auskunftsansprüche über das Anfangsvermögen und das Endvermögen a) Auskunftsanspruch über das Anfangsvermögen . . . . . . b) Auskunftsanspruch über das Endvermögen . . . . . . . . . . 3. Umfang, Art, Form und Gegenstand der Auskunftsansprüche a) Umfang der Auskunftserteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zurückbehaltungsrecht . . . . c) Anspruch auf Belegvorlage . d) Vorlage eines Bestandsverzeichnisses. . . . . . . . . . . . . e) Ergänzung der Auskunft. . . . f) Anspruch auf Wertermittlung der Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Gerichtliche Geltendmachung und Vollstreckung . . . h) Beschwerdewert . . . . . . . . . . .
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VI. Zugewinnausgleichsforderung 1. Ermittlung des Zugewinns eines Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . 216 a) Ermittlung des Endvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . 217
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b) Ermittlung des Anfangsvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . 218 c) Ermittlung des Zugewinns. . 219 Ermittlung der Ausgleichsforderung und Kappungsgrenze a) Berechnung der Ausgleichsforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 b) Kappungsgrenzen, § 1378 Abs. 2 S. 1 und S. 2 BGB aa) Zweck der Vorschrift . . . 221 bb) Auswirkungen . . . . . . . . . 223 cc) Berücksichtigung illoyaler Vermögensminderungen, § 1378 Abs. 2 S. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . 226 dd) Zusammenfassung und Berechnungsbeispiele . . . 228 Anrechnung von Vorausempfängen a) Zweck der Vorschrift und Anwendungsbereich . . . . . . . 230 b) Begriff der Zuwendung nach § 1380 BGB . . . . . . . . . . . 233 c) Durchführung der Anrechnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 d) Wechselseitige Zuwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 e) Im Endvermögen nicht mehr vorhandene Gegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Gegenstand der Ausgleichsforderung und Ausnahme nach § 1383 BGB a) Grundsatz: Zahlungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 b) Ausnahme: Übertragung von Vermögensgegenständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Einzelheiten der Ausgleichsforderung a) Entstehung, Fälligkeit, Übertragbarkeit und Pfändung der Ausgleichsforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 b) Tod eines Ehegatten aa) Tod des Ausgleichsberechtigten . . . . . . . . . . . 249 bb) Tod des Ausgleichsverpflichteten . . . . . . . . . . 250 c) Verzug und Verzinsung . . . . . 254 d) Aufrechnung . . . . . . . . . . . . . . 257 e) Leistungsverweigerung . . . . . 258 f) Stundung . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
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6. Verjährung der Ausgleichsforderung a) Beginn der Verjährungsfrist . b) Hemmung der Verjährung . . 7. Sicherung des künftigen Zugewinnausgleichsanspruchs durch Arrest a) Sicherungsmittel vor Rechtshängigkeit . . . . . . . . . . b) Dinglicher Arrest ab Rechtshängigkeit . . . . . . . . . . c) Grund und Höhe des Arrests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Anspruch gegen Dritte, § 1390 BGB a) Inhalt der Vorschrift . . . . . . . b) Zweck der Vorschrift . . . . . .
267 269
270 271 273 274 278
9. Vorzeitiger Zugewinnausgleich und vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft a) Sinn und Zweck der §§ 1385–1388 BGB . . . . . . . . . 280 b) Vorzeitiger Zugewinnausgleich bei vorzeitiger Aufhebung der Zugewinngemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . 281 aa) § 1385 Nr. 1 BGB . . . . . . . 282 bb) § 1385 Nr. 2 BGB . . . . . . . 283 cc) § 1385 Nr. 3 BGB . . . . . . . 285 dd) § 1385 Nr. 4 BGB . . . . . . . 286 c) Vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft, § 1386 BGB. . . . . . . . . . . . . . . . 288 d) Berechnungszeitpunkt, Höhe der Ausgleichsforderung, Eintritt der Gütertrennung. . 289
Literaturverzeichnis: Arens, Zugewinnausgleich und Steuerschuldverhältnis – häufig übersehene Praxisprobleme und Gestaltungsmöglichkeiten, FamRZ 1999, 257; Battes, Echte Wertsteigerungen im Zugewinnausgleich – Ein Beitrag zur Reform des gesetzlichen Güterrechts, FamRZ 2007, 313; Battes, Echte Wertsteigerungen im Anfangsvermögen – immer Zugewinn? Ein neuer Vorschlag zur Reform des gesetzlichen Güterrechts, FamRZ 2009, 261; Benz, Hinweise zum Kanzleikauf, BRAK-Magazin, Ausgabe 5/2004, 9; Bergschneider, Zur Frage der Abgrenzung zwischen Zugewinn und Unterhalt, FamRZ 2004, 1353; Borth, Inhaltskontrolle von Eheverträgen – Neuere Rechtsprechung und offene Fragen, FamRB 2005, 177; Borth, Zuordnung einer betrieblichen Altersversorgung mit Kapitalleistung zum Güterrecht, FamRB 2005, 285; Braeuer, Kann der Zugewinn negativ sein? FamRZ 2010, 1614; Brudermüller, Die Neuregelungen im Recht des Zugewinnausgleichs ab 1.9.2009, FamRZ 2009, 1185; Brühler Schriften zum Familienrecht, Empfehlung des 14. Deutschen Familiengerichtstags, S. 102; Büte, Die Reform des Zugewinnausgleichsrechts, NJW 2009, 2776; Büttner, Schuldrechtsmodernisierung und Familienrecht, insbesondere Verjährung, Verwirkung und Verzug, FamRZ 2002, 361, 364; Deisenhofer, Ausgleich von Anrechten aus einem Rentenlebensversicherungsvertrag mit Kapitalwahlrecht, FamRZ 2003, 745; Feuersänger, Grundstücksübertragung beim Zugewinnausgleich, FamRZ 2003, 645, 647; Gerhardt/Schulz, Verbot der Doppelverwertung von Abfindungen beim Unterhalt und Zugewinn, FamRZ 2005, 145; Götz/Brudermüller, Wohnungszuweisung und Hausratsteilung – Aufhebung der HausratsVO und Neuregelung im BGB, NJW 2008, 3025, 3031; Gutdeutsch, Ein allgemeiner Verbraucherpreisindex für die Umrechnung des Anfangsvermögens im Zugewinnausgleich, FamRZ 2003, 1061; Gutdeutsch, Durchlaufender Verbraucherpreisindex in den neuen Bundesländern – Erwiderung auf den Beitrag von Kogel, FamRZ 2003, 1901; Hagelstein, Vorzeitiger Scheidungsantrag an das Verwaltungsgericht? – Kritische Stellungnahme zu dem Beitrag von Kogel, FamRZ 1999, 1252, FamRZ 2000, 341; Hartung, Umfang der Auskunftspflicht im Zugewinnausgleich, MDR 1998, 509; Hauß, Indexprobleme im Zugewinnausgleich, FamRB 2003, 310; Haußleiter, Zum Ausgleichsanspruch bei einer Ehegatteninnengesellschaft neben einem Anspruch auf Zugewinnausgleich, NJW 2006, 2741; Heinemann, Die Wahl-Zugewinngemeinschaft als neuer Güterstand, FamRB 2012, 129; Herr, Das Schmerzensgeld im Zugewinnausgleich, NJW 2008,
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Kap. 9
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zum Gesamtschuldnerausgleich unter Ehegatten, NJW 1989, 817; Liebelt, Die „Aufteilung“ der Einkommensteuererstattung zwischen getrenntlebenden oder geschiedenen Ehegatten – Zum internen Ausgleich unter zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Ehegatten, FamRZ 1993, 626; Maurer, Zur Qualifikation arbeitsrechtlicher Abfindungen – Unterhaltsrecht oder Güterrecht?, FamRZ 2005, 757; Münch, Die Bewertung von Gesellschaftsbeteiligungen im Zugewinnausgleich, FamRB 2007, 375; Münch, Zum Verhältnis zwischen dem Zugewinnausgleich und der Abwicklung einer Ehegatteninnengemeinschaft, MittBayNot 2006, 423; Muscheler, Wertänderungen des privilegierten Erwerbs in der Zugewinngemeinschaft, FamRZ 1998, 265; Olbrich, Unternehmensbewertung im Zugewinnausgleich, DB 2008, 1483; Peschel-Gutzeit, Auskunftsansprüche Pro und Kontra Weshalb die Auskunftsansprüche im Familien- und Erbrecht unzulänglich sind, AnwBl 2003, 476; Raube/Eitelberg, Die Bewertung von Kapitallebensversicherungen im Zugewinnausgleich, FamRZ 1997, 1322; Sasse, Vorzeitiger Zugewinnausgleich bei fortbestehender Zugewinngemeinschaft, BB 1998, 465; Schmitz, Zur Konkurrenz von Unterhalt und Zugewinnausgleich, FamRZ 2006, 1811; Schröder, Bewertungen im Zugewinnausgleich, 5. Aufl. 2011; Schröder, Eigentumsübertragung beim Zugewinnausgleich und § 23 EStG, FamRZ 2002, 1010; Schröder, Restitutionsansprüche und Zugewinnausgleich, FamRZ 2004, 785, FamRZ 2007, 1309; Schröder, Zur Übernahme eines Wohnrechts im Zusammenhang mit einer Zuwendung nach § 1374 Abs. 2 BGB, FamRZ 2007, 982; Schulz, Zur Doppelberücksichtigung von Vermögenspositionen beim Unterhalt und Zugewinn, FamRZ 2006, 1237; Schwab, Der Vermögensausgleich bei Trennung und Scheidung ein unbeackertes Reformfeld des Gesetzgebers?, Brühler Schriften zum Familienrecht, Elfter Deutscher Familiengerichtstags, S. 33; Schwab, Zugewinnausgleich und Wirtschaftskrise, FamRZ 2009, 1445; Soyka, Anm. zu BGH v. 28.9.2005, XII ZR 189/02, FuR 2006, 276; Volmer, Zur Frage der Annahme einer Ehegatteninnengesellschaft im Rahmen des Zugewinnausgleichs, FamRZ 2006, 844; Wever, Eheliches Güter- und Vermögensrecht, FamRB 2006, 166; Wever, Die Entwicklung der Rechtsprechung zur Vermögensauseinandersetzung der Ehegatten außerhalb des Güterrechts, FamRZ 2000, 993, FamRZ 2003, 565, FamRZ 2004, 1073, FamRZ 2005, 485, FamRZ 2006, 365, FamRZ 2007, 857, FamRZ 2008, 1485, FamRZ 2010, 237, FamRZ 2011, 413.
I. Arbeitshinweise 1. Arbeitstechnik bei Trennung und Scheidung 1. Güterstand erfragen: Zugewinngemeinschaft 2. Stichtage: – Tag, an dem der Güterstand eingetreten ist – Tag der Trennung – Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags – Tag der Beendigung des Güterstands 3. Anfangsvermögen bestimmen – Auskunftsanspruch – auch negatives Anfangsvermögen – Hinzurechnung bei privilegiertem Erwerb
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Rn. 2
Kap. 9
4. Endvermögen bestimmen – Auskunftsanspruch – auch negatives Endvermögen – Hinzurechnung bei illoyalen Vermögensminderungen 5. Zugewinn ermitteln – Scheingewinne durch Geldentwertung – Berücksichtigung von Zuwendungen unter Ehegatten 6. Begrenzung der Ausgleichsforderung, alternative Ausgleichsmöglichkeiten 2. Typische Problemfelder 1. Gemeinschaftliche Verbindlichkeiten, interne Haftungsquoten, Steuerschulden und Steuererstattungen 2. Miteigentumsverhältnisse 3. Bestimmung und Berücksichtigung von Haushaltsgegenständen 4. Privilegierte Zuwendungen untereinander und Zuwendungen Dritter (insbesondere Schwiegereltern) 5. Fällige, aber noch nicht erfüllte Unterhaltsverpflichtungen und Unterhaltsforderungen 6. Bewertungsmethoden 7. Illoyale Vermögensminderungen
II. Einführung, vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten, Verfügungsbeschränkungen 1. Einführung a) Zugewinngemeinschaft Ist der gesetzliche Güterstand der Zugewinngemeinschaft für die Eheleu- 1 te maßgebend, so wird bei Ende der Zugewinngemeinschaft der Zugewinn, den die Eheleute während der Dauer dieses Güterstands erzielen, ausgeglichen, § 1363 Abs. 2 S. 2 BGB. Beide Eheleute sollen bei Beendigung des Güterstands in gleicher Weise an den in der maßgeblichen Ehezeit erworbenen Vermögenswerten teilhaben. Beim Tod eines Ehegatten wird der Ausgleich des Zugewinns dadurch verwirklicht, dass sich der gesetzliche Erbteil des überlebenden Ehegatten, der Erbe oder Vermächtnisnehmer des verstorbenen Ehegatten ist, um ein Viertel erhöht, § 1371 Abs. 1 BGB. Dabei kommt es nicht darauf an, ob tatsächlich ein Zugewinn erzielt wurde, sog. erbrechtliche Lösung.
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Kap. 9 Rn. 3 3
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In allen anderen Fällen kommt es zunächst darauf an, ob während der Dauer des gesetzlichen Güterstands tatsächlich Zugewinne erzielt wurden. Dem Ehegatten, der den geringeren oder keinen Zugewinn erzielt hat, steht bei Ende der Zugewinngemeinschaft ein schuldrechtlicher Anspruch in Höhe der Hälfte des Werts des vom anderen Ehegatten erzielten „Überschusses“ zu. Die Ermittlung des Ausgleichsanspruchs ist in den §§ 1372 bis 1390 BGB gesetzlich näher ausgestaltet. Grundsätzlich wird der Ausgleich erst mit dem Ende der Ehe vollzogen. Ein vorzeitiger Zugewinnausgleich und die vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft sind in Ausnahmefällen nach §§ 1385 und 1386 BGB möglich. b) Gütertrennung
4
Bei der Gütertrennung nach § 1414 BGB ergeben sich keine güterrechtlichen Folgewirkungen für das während der Zeit dieses Güterstands erworbene Vermögen. Gütertrennung kann ausdrücklich durch Ehevertrag nach § 1408 BGB vereinbart werden. Gütertrennung tritt von Gesetzes wegen beim vorzeitigen Zugewinnausgleich (§ 1385 BGB) und bei der vorzeitigen Aufhebung der Zugewinngemeinschaft (§ 1386 BGB) gem. § 1388 BGB und bei Aufhebung der Gütergemeinschaft gem. §§ 1449, 1470 BGB ein.
5
Nicht selten werden aber bei Gütertrennung von einem Ehegatten vermögensrechtliche Ausgleichsansprüche gegen den anderen geltend gemacht, die ihrer Rechtsnatur nach in den allgemeinen Regeln des Zivilrechts begründet sind. Es handelt sich dabei um Familienstreitsachen nach §§ 112 Nr. 3 i.V.m. 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG. Zuständig für diese vermögensrechtlichen Streitigkeiten der Ehegatten sind die Familiengerichte, §§ 23a Abs. 1 Nr. 1, 23b Abs. 1 GVG, 111 Nr. 10 FamFG. Wegen der Einzelheiten wird auf Kap. 10 (Nebengüterrecht) verwiesen. c) Wahl-Zugewinngemeinschaft
5a Deutschland und Frankreich haben Anfang 2010 bilateral vereinbart, mit der Wahl-Zugewinngemeinschaft zu den bereits vorhandenen Wahlgüterständen jeweils einen weiteren Wahlgüterstand einzuführen1. In Deutschland wird neben der Gütertrennung und der Gütergemeinschaft also ein dritter optionaler Güterstand geschaffen. Das zugrunde liegende Abkommen tritt nach Austausch der Ratifikationsurkunden in Kraft (Art. 20 Abs. 2 dt-fr Abk.)2, ist aber in Frankreich noch nicht ratifiziert worden (Stand Mai 2012). 1 Abkommen vom 4.2.2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über den Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft. 2 Gesetz zu dem Abkommen vom 4.2.2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über den Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft v. 15.3.2012, BGBl. II, S. 178.
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Rn. 5e
Kap. 9
Der (Stand Mai 2012) noch nicht in Kraft getretene § 1519 BGB sieht die 5b Möglichkeit der ehevertraglichen Vereinbarung des Güterstandes der Wahl-Zugewinngemeinschaft vor und verweist hierzu auf die Vorschriften des deutsch-französischen Abkommens vom 4.2.2010. Das Abkommen stellt nach seinem Art. 1 den Wahlgüterstand Ehegatten zur Verfügung, deren Güterstand dem Sachrecht eines Vertragsstaates (bisher: Deutschland und Frankreich) unterliegt. Eine deutsch-französische Berührung ist also nicht erforderlich. Ein deutsches Ehepaar, das keinerlei Bezug zu Frankreich hat, oder auch ein in Deutschland lebendes ausländisches Ehepaar, das sich für die Anwendung des deutschen Güterrechts auf die Ehe entschieden hat (Art. 15 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB), kann sich also durch Ehevertrag für den deutsch-französischen Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft entscheiden.
5c
Wesentliches Merkmal der Wahl-Zugewinngemeinschaft, das vom deut- 5d schen gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft abweicht, ist zunächst die gegenständliche Beschränkung der Handlungsmöglichkeit eines Ehegatten bei Rechtsgeschäften über die Familienwohnung und Haushaltsgegenstände (Art. 5 dt-fr Abk.; Verfügungsbeschränkungen). Art. 6 dt-fr Abk. regelt die Schlüsselgewalt, wonach bei der Wahl-Zugewinngemeinschaft jeder Ehegatte Verträge zur Führung des Haushalts und für den Bedarf der Kinder allein schließen kann. Beide Ehegatten werden dadurch gesamtschuldnerisch verpflichtet. Analog § 1357 Abs. 1 S. 2 BGB wird der andere Partner mitberechtigt1. Vermögen, das ein Ehegatte als Schmerzensgeld erwirbt, wird nach Art. 8 Abs. 2 dt-fr Abk. seinem Anfangsvermögen zugerechnet, unterliegt also nicht dem Zugewinnausgleich. Für die Ausgleichsforderung ist eine Kappungsgrenze auf die Hälfte des positiven Endvermögens festgesetzt (Art. 14 S. 1 dt-fr Abk.); bei illoyalen Vermögensverfügungen erhöht sich diese Begrenzung um die Hälfte des dem Endvermögen fiktiv hinzuzurechnenden Betrages (Art. 14 S. 2 dt-fr Abk.). Beim Tod eines Ehegatten ist ein erbrechtlicher, pauschaler Ausgleich nicht vorgesehen, so dass sich das Erbrecht ausschließlich nach § 1931 Abs. 1 und Abs. 2 BGB bestimmt und sich der überlebende Ehegatte wegen der Zugewinnausgleichsforderung mit den Erben des Verstorbenen auseinandersetzen muss. In Deutschland ist der neue Wahlgüterstand weitgehend dem gesetzli- 5e chen Güterstand nachgebildet. Wesentliche Abweichungen (vgl. dazu Rn. 5d), die die Wahl-Zugewinngemeinschaft nach dem zukünftigen § 1519 BGB (i.V.m. den Vorschriften des dt-fr Abk. vom 4.2.2010) vom gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft vorsieht, können ohnehin durch ehevertragliche Modifikationen des deutschen gesetzlichen Güterstandes erreicht werden, zumal solche Modifikationen ebenso wie die Wahl-Zugewinngemeinschaft vor dem Notar vereinbart werden müssen, § 1410 BGB. Anders in Frankreich: Dort stellt die Errungenschafts1 Erman/Heinemann, Anh. § 1519 BGB Rn. 12.
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Kap. 9 Rn. 5f
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gemeinschaft (communauté réduite aux acquêts) den gesetzlichen Güterstand des code civil dar. 5f Inwieweit der neue Wahlgüterstand in Deutschland und Frankreich Verbreitung finden wird, bleibt abzuwarten. In Frankreich wird von der dortigen Zugewinngemeinschaft, die der code civil schon bisher als Wahlgüterstand zur Verfügung stellt (participation aux acquêts), kaum Gebrauch gemacht1. 5g Wegen der noch ungewissen Ratifizierung in Frankreich (Stand Mai 2012) und der damit verbundenen Ungewissheit über das Inkrafttreten des Abkommens wird bei der nachfolgenden Darstellung des gesetzlichen Güterstandes nicht gesondert auf die Wahl-Zugewinngemeinschaft eingegangen. Abweichungsoptionen zum gesetzlichen Güterstand in Deutschland wurden unter Rn. 5d zumindest angerissen. Wegen der konkreten Einzelheiten und zur Auslegung der Bestimmungen des dt-fr Abk., die durch ehevertragliche Vereinbarung Geltung erlangen, § 1519 BGB (noch nicht in Kraft, Stand Mai 2012), wird auf die hierzu bereits erschienene Literatur2 verwiesen, die diesen Wahlgüterstand und dessen zukünftige praktische Relevanz ganz überwiegend kritisch beurteilt. 2. Vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten a) Ausschluss und Modifikation 6
Durch Ehevertrag können die Eheleute den gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft vollständig ausschließen. Ergibt sich dabei aus dem Ehevertrag keine abweichende Vereinbarung, tritt nach § 1414 S. 1 BGB Gütertrennung ein. Dies gilt nach § 1414 S. 2 BGB auch dann, wenn der Ausgleich des Zugewinns ausgeschlossen oder die Gütergemeinschaft aufgehoben wird. Wollten die Eheleute vor dem 1.9.2009 den Versorgungsausgleich ausschließen, nicht aber das Ende des gesetzlichen Güterstands mit der Folge des Zugewinnausgleichs und dem Eintritt der Gütertrennung herbeiführen, so mussten sie dies bei der Regelung zum Ausschluss des Versorgungsausgleichs zumindest konkludent zum Ausdruck bringen.
Û
Wichtig: Der Notar bzw. der Rechtsanwalt hatte vor dem 1.9.2009 im Falle des Ausschlusses des Versorgungsausgleichs zu erforschen, ob der gesetzliche Güterstand beibehalten werden soll3. Durch die zum 1.9.2009 erfolgte Änderung des § 1414 S. 2 BGB ist dies nun nicht mehr notwendig.
1 Koch, 15. Jahresarbeitstagung Familienrecht 2012, 384, 395. 2 Klippstein, FPR 2010, 510; Heinemann, FamRB 2012, 129; Koch, 15. Jahresarbeitstagung Familienrecht 2012, 384; Erman/Heinemann, § 1519 BGB und Anh § 1519 BGB. 3 Den Notar traf insoweit eine besondere Belehrungspflicht.
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Rn. 9
Kap. 9
Den Ehegatten ist es selbstverständlich nicht verwehrt, die gesetzlichen Regelungen zur Zugewinngemeinschaft im Wege einer Vereinbarung zu ändern oder zu ergänzen. Die Bestimmungen des gesetzlichen Güterrechts sind weitestgehend1 dispositiv. Wer den gesetzlichen Güterstand vollständig ausschließen kann, kann ihn auch weitestgehend inhaltlich modifizieren.
7
Der Ausschluss bzw. die Einschränkung des Zugewinnausgleichs ist 8 grundsätzlich dann nicht zu beanstanden, wenn dem dadurch benachteiligten Ehegatten über die Regelung des Unterhalts und des Versorgungsausgleichs ein den ehelichen Lebensverhältnissen entsprechendes Auskommen gesichert ist. Nach den vom BGH im Jahr 2004 aufgestellten Kriterien, die den verfassungsgerichtlichen Vorgaben2 zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen und Scheidungsfolgenvereinbarungen genügen müssen, kann (vereinfacht gesagt) auf den Betreuungsunterhalt am wenigsten, auf den Zugewinnausgleich aber am ehesten verzichtet werden3. Wegen der Einzelheiten wird auf Kap. 15 ab Rn. 97 (Vereinbarungen zum Güterrecht) und ab Rn. 112 (ehevertragliche Gestaltungsmöglichkeiten im Güterrecht) verwiesen.
Û
Wichtig: Wird der gesetzliche Güterstand der Zugewinngemeinschaft nach Eheschließung (durch Ehevertrag) ausgeschlossen, darf der bis dahin aufgelaufene Zugewinn nicht unberücksichtigt bleiben. Ab diesem Zeitpunkt endet der gesetzliche Güterstand, so dass gem. § 1378 Abs. 3 S. 1 BGB die Ausgleichsforderung entsteht. Ggf. sollte eine Formulierung in den Ehevertrag aufgenommen werden, aus der klar wird, dass sich die Eheleute darüber einig sind, dass sich der Ausschluss auch auf die Vergangenheit bezieht bzw. ein Zugewinnausgleichsanspruch nicht besteht oder auf mögliche Ansprüche gegenseitig verzichtet und der Verzicht jeweils angenommen wird.
b) Scheidungsfolgenvereinbarung Gem. § 1378 Abs. 3 S. 2 BGB können nach Anhängigkeit des Scheidungsverfahrens konkrete Scheidungsfolgenvereinbarungen getroffen werden. Es handelt sich insoweit um güterrechtliche Regelungen, die in abstrakter Form auch Gegenstand eines Ehevertrags sein können, nun aber kon-
1 Zu den Grenzen, insbesondere der Sittenwidrigkeit vgl. nur Schwab, VII Rn. 369 ff. mwN; zusammenfassend zur neueren Rspr. betreffend den Ausschluss des Zugewinnausgleichs nach der grundlegenden Entscheidung des BGH v. 11.2.2004 – XII ZR 265/02, FamRZ 2004, 601: Koch, FamRZ 2004, 993 und FamRZ 2005, 845 sowie Borth, FamRB 2005, 177. 2 BVerfG v. 6.2.2001 – 1 BvR 12/92, FamRZ 2001, 343 und BVerfG v. 29.3.2001 – 1 BvR 1766/92, FamRZ 2001, 985. 3 BGH v. 11.2.2004 – XII ZR 265/02, FamRZ 2004, 601 = FamRB 2004, 105; dazu ausführlich Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 21 ff.
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Kap. 9 Rn. 10
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kret im Hinblick auf die durch Zustellung des Scheidungsantrags dokumentierte Scheidung beabsichtigt sind. Selbstverständlich kann auch während des Scheidungsverfahrens ein (abstrakter) Ehevertrag geschlossen werden.
Û
Praxistipp: Nach herrschender Meinung können (konkrete) Scheidungsfolgenvereinbarungen über den Wortlaut des § 1378 Abs. 3 S. 2 BGB hinaus auch schon vor Anhängigkeit des Scheidungsverfahrens geschlossen werden1.
c) Form von Ehevertrag und Scheidungsfolgenvereinbarung 10 Der Ehevertrag bedarf zu seiner Wirksamkeit der Form des § 1410 BGB, dh. der gleichzeitigen Anwesenheit beider Teile zur Niederschrift eines Notars. Regelungen der güterrechtlichen Verhältnisse erfolgen nach § 1408 Abs. 1 BGB durch Ehevertrag und unterliegen damit ebenfalls der besonderen Formvorschrift nach § 1410 BGB. Dies kann nicht nur nach Eingehung der Ehe, sondern, wie sich im Umkehrschluss aus § 1408 Abs. 1 letzter Halbs. BGB ergibt, auch schon vor Eheschließung erfolgen. 11 Die Scheidungsfolgenvereinbarung bedarf der Form des § 1378 Abs. 3 S. 2 BGB, also der notariellen Beurkundung oder der Protokollierung in einem Verfahren in Ehesachen vor dem Familiengericht. Die Formbedürftigkeit gilt auch für die Vereinbarung von Modalitäten des Zugewinnausgleichs wie für die Bewertung eines einzelnen Gegenstandes, die Festlegung auf einen Stichtag oder die Verteilung einzelner Vermögensgegenstände. Sogar eine Vereinbarung der Eheleute über die Verteilung von Haushaltsgegenständen, die im Alleineigentum eines Ehegatten stehen, ist formbedürftig2. Eine Vereinbarung, in der ein Ehegatte für den Fall der Scheidung auf Rechte in Bezug auf das im Alleineigentum des anderen stehende Familienheim verzichtet und zugleich der andere die Erstattung von Aufwendungen in die Immobilie zusichert, ist als Modifikation des Zugewinnausgleichs anzusehen und bedarf der notariellen Form3. Dies ergibt sich aus §§ 1408, 1410 BGB für den Ehevertrag und aus § 1378 Abs. 3 S. 2 BGB für die Scheidungsfolgenvereinbarung. Ist diese Form nicht eingehalten, sind die Vereinbarungen nach § 125 BGB nichtig. Dann muss die Ausgleichsberechnung den gesetzlichen Regeln folgen, die formwidrigen Vereinbarungen sind nicht zu berücksichtigen. 12 Bei der außergerichtlichen Korrespondenz über den Zugewinnausgleich noch vor Einleitung eines Ehescheidungsverfahrens muss also zumindest 1 BGH v. 16.12.1982 – IX ZR 90/81, FamRZ 1983, 157; Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1378 BGB Rn. 15 f. mwN. 2 OLG Düsseldorf v. 9.9.2004 – II-9 UF 119/03, FamRZ 2005, 273. 3 OLG Karlsruhe v. 19.1.2009 – 1 U175/08, FamRZ 2009, 1670 = FamRB 2009, 169.
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Rn. 14
Kap. 9
der Endstichtag notariell festgelegt werden, was allerdings in den wenigsten Fällen geschieht.
Û
Praxistipp: Mit Beendigung des Güterstands (zB durch Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses oder formwirksamen Ehevertrag) kann über die nunmehr entstandene und fällige Ausgleichsforderung frei verfügt werden. Eine Formbindung besteht nicht mehr. Die Parteien können dann also untereinander und auch mit Dritten formlose Vereinbarungen treffen. Zur Kostenersparnis kann es sich deshalb empfehlen, den Zugewinnausgleich erst nach Rechtskraft der Ehescheidung in Angriff zu nehmen.
d) Gestaltungsmöglichkeiten im gesetzlichen Güterstand durch Ehevertrag oder Scheidungsfolgenvereinbarung aa) Ausschluss des Zugewinnausgleichsanspruchs Der Zugewinnausgleichsanspruch kann ganz1, teilweise oder auch nur 13 für einen Ehegatten ausgeschlossen werden. Eine Beschränkung oder ein Ausschluss für den Fall der Scheidung, nicht aber des Todes (§ 1371 BGB), ist möglich. bb) Anfangsvermögen Die Parteien können beim Anfangsvermögen Bestimmungen über Be- 14 stand, Wert, Umfang etc. treffen. Gesetzliche Vorgaben, wie zB die Anrechnung bestimmter Erwerbsvorgänge nach § 1374 Abs. 2 BGB, können ausgeschlossen, beschränkt oder erweitert werden. Eine Vereinbarung über den konkreten Wert, die Regeln der Wertermittlung oder den Bewertungsstichtag ist möglich. Ehevertraglichen Bestimmungen beim Anfangsvermögen sind insoweit nur wenige Grenzen gesetzt.
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Praxistipp: Haben zwischen den Ehegatten oder durch Schwiegereltern bereits vor der Ehe Vermögensverschiebungen untereinander stattgefunden, sollte daran gedacht werden, dass diese Positionen in einem Ehevertrag dem Zugewinnausgleich unterstellt werden2, oder aber es sollten bereits bei Zuwendung klare Vereinbarungen getroffen werden, wie im Fall des Scheiterns der Beziehung bzw. der Ehe (bei späterer Eheschließung) eine Rückabwicklung erfolgt. Dem Laien wird sonst nicht bewusst sein, dass diese Vermögenswerte das Anfangsvermögen des Empfängers erhöhen.
1 BGH v. 26.3.1997 – XII ZR 250/95, FamRZ 1997, 800. 2 Zu dieser Problematik: Kogel, FamRB 2007, 273; ferner Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 850 ff. und Haußleiter/Schulz, 5, Rn. 337 ff. und 7, Rn. 1 ff. (Auseinandersetzung mit Schwiegereltern).
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Kap. 9 Rn. 14a 14a
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Im Jahr 2010 hat der BGH bei den Zuwendungen von Schwiegereltern einen grundlegenden Paradigmenwechsel vorgenommen1. Nunmehr haben Eltern, die um der Ehe ihres Kindes Willen Zuwendungen an das (künftige) Schwiegerkind vorgenommen haben, ein unmittelbares Rückforderungsrecht. Diese Übertragungen sind nicht mehr wie bisher als ehebezogene Zuwendungen, sondern als Schenkungen zu qualifizieren. Auf derartige Schenkungen sind die Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage anwendbar. Angesichts der Schwierigkeiten, wie und mit welchem Wert solche Rückforderungsansprüche bzw. die sich daraus ergebenden Verpflichtungen in das Anfangs- und Endvermögen des Schwiegerkindes beim Zugewinn eingestellt werden, bietet sich eine klare Regelung bereits zum Zeitpunkt der Zuwendung an. Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Rn. 74 ff. und in Kap. 10, Rn. 23 ff. cc) Endvermögen
15 Auch beim Endvermögen können, wie beim Anfangsvermögen, bestimmte Erträge und Vermögensgegenstände ausgenommen werden. Insbesondere betrieblich gebundene Vermögensteile, das ganze Betriebsvermögen oder der Gewerbebetrieb eines Ehegatten können zum Schutz der wirtschaftlichen Existenzgrundlage aus dem Zugewinnausgleich herausgenommen werden2. Dazu sollte dieses Vermögen weder beim Anfangs- noch beim Endvermögen angesetzt werden. 16 Inwieweit von der Hinzurechnungsbestimmung des § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB abgewichen werden kann, ist streitig. Richtigerweise wird man die Hinzurechnungstatbestände nach § 1375 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 (Vermögensverschwendung) und Nr. 3 (Benachteiligungsabsicht) BGB für die Zukunft nicht ausschließen können3. dd) Höhe des Zugewinns 17 Die Höhe des Zugewinns, eine Höchstgrenze oder eine von den gesetzlichen Vorschriften abweichende Berechnungsart kann vereinbart werden. ee) Ausgleichsanspruch 18 Der Ausgleichsanspruch selbst kann im Hinblick auf Fälligkeit, Höhe und Modalitäten abweichend geregelt werden. Trotz fortbestehender Zugewinngemeinschaft können die Ehegatten einen vorzeitigen oder in ge-
1 BGH v. 3.2.2010 – XII ZR 189/06, FamRZ 2010, 958, dazu: Kogel, FamRB 2010, 309 und BGH v. 21.7.2010 – XII ZR 180/09, FamRZ 2010, 1626 = FamRB 2010, 325 und Haußleiter/Schulz, 7, Rn. 5 ff. sowie BGH v. 20.7.2011 – XII ZR 149/09, FamRZ 2012, 273 m. Anm. Wever = FamRB 2012, 69. 2 BGH v. 26.3.1997 – XII ZR 250/95, FamRZ 1997, 800. 3 MüKo/Koch, § 1375 BGB Rn. 36.
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Rn. 21
Kap. 9
wissen Zeitabständen fälligen Ausgleichsanspruch vereinbaren1. § 1380 BGB kann bezüglich der bereits getätigten Zuwendungen abgeändert werden. e) Gestaltungsgrenzen Für die Zukunft können die Einrede des § 1381 BGB, die Auskunfts- 19 pflicht nach § 1379 BGB sowie die Möglichkeit des vorzeitigen Zugewinnausgleichs und die vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft nach §§ 1385, 1386 BGB vertraglich nicht ausgeschlossen werden. Die Bestimmungen des § 1378 Abs. 3 Sätze 2 und 3 BGB, sowie die oben bereits genannten Nr. 2 und Nr. 3 des § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB sind ebenfalls zwingend. Ob die Umrechnung des Geldschwundes (Indexierung) ausgeschlossen 20 werden kann, ist streitig2. Berücksichtigt man aber, dass die Ehegatten – unstreitig – die Höhe des Ausgleichsanspruchs vereinbaren können, so spricht nichts dagegen, einzelne Komponenten, zu denen der Ausschluss oder die Modifizierung der Indexierung gehört, vertraglich frei zu regeln. Bei Scheidungsfolgenvereinbarungen ergibt sich aus § 1378 Abs. 3 S. 3 21 BGB eine weitere Einschränkung. Danach dürfen (unzweifelhaft) vor Beendigung des Güterstands keine schuldrechtlichen Vereinbarungen oder Verfügungen über den Ausgleichsanspruch zwischen einem Ehegatten und einem Dritten getroffen werden, andernfalls führt dies zur Nichtigkeit nach § 134 BGB. Ehegatten sollen in der kritischen Phase der Scheidung nicht unbedacht über mögliche Zahlungsansprüche gegenüber Dritten verfügen können, sonst könnten diese Dritten ein besonderes Interesse an der Ehescheidung entwickeln3. Allerdings lässt der BGH Verpflichtungen zu Verfügungen oder Verfügungen über den Ausgleichsanspruch unter Ehegatten zu, soweit die Form des § 1378 Abs. 3 S. 2 BGB gewahrt wird4.
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Wichtig: § 1378 Abs. 3 S. 3 BGB ist nach der Rechtsprechung des BGH also einschränkend dahin auszulegen, dass Ehegatten auch vor der Anhängigkeit des Scheidungsverfahrens eine Vereinbarung über den Zugewinnausgleich für eine beabsichtigte Scheidung treffen können, sofern sie die Form des § 1378 Abs. 3 S. 2 BGB einhalten. Die Gegenmeinung verlangt dafür die strengere Form des Ehevertrags nach § 1410 BGB
1 Arens, FamRZ 1999, 257 ff.; Sasse, BB 1998, 465 ff. mit zahlreichen w.N. 2 Dafür Schwab, VII Rn. 375. 3 BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 170/01, FamRZ 2004, 1353 mit krit. Anm. Koch, FamRZ 2004, 1354 = FamRB 2004, 383. 4 BGH v. 16.12.1982 – IX ZR 52/81, FamRZ 1983, 160 und noch weitergehend BGH v. 16.12.1982 – IX ZR 90/81, FamRZ 1983, 157; zum Meinungsstand Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1378 BGB Rn. 13 ff. mwN.
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Kap. 9 Rn. 22
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
(„gleichzeitige Anwesenheit beider Teile zur Niederschrift eines Notars“), was sich in der Praxis kaum auswirken dürfte1.
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Praxistipp: Leben die Eheleute getrennt und ist absehbar, dass es zur Ehescheidung kommen wird, kann schon vorweg in der Form eines Ehevertrags, § 1408 Abs. 1 BGB, die Gütertrennung vereinbart und der dadurch ausgelöste Zugewinnausgleich geregelt werden. Dadurch kann das spätere Ehescheidungsverfahren erheblich entlastet werden.
f) Vermögensauseinandersetzung außerhalb der Zugewinngemeinschaft 22 Im Güterstand der Zugewinngemeinschaft werden das Vermögen des Mannes und das Vermögen der Frau bei Eheschließung und auch Vermögen, das ein Ehegatte nach Eheschließung erwirbt, nicht gemeinschaftliches Vermögen, § 1363 Abs. 2 S. 1 BGB. Endet der gesetzliche Güterstand nicht durch Tod eines Ehegatten, sondern zB durch Scheidung, erfolgt ein schuldrechtlicher Ausgleich, der grundsätzlich und grob vereinfacht die hälftige Teilung des während der Ehe erwirtschafteten Vermögenszuwachses vorsieht. 23 Die schematischen und oft starren Bestimmungen zur Durchführung des Zugewinnausgleichs sollen Rechtsklarheit bezwecken, erfüllen diesen Zweck in verschiedenen Konstellationen aber nicht immer. Die Rechtsprechung wendet die im Zugewinnausgleichsrecht möglichen Korrekturen (zB über § 1381 BGB oder einer Analogie zu § 1374 Abs. 2 BGB) nur behutsam an. Außerhalb der gesetzlichen Vorschriften zum Zugewinnausgleich werden daher verschiedene Lösungsansätze gesucht, um unangemessene Ergebnisse zu korrigieren2. 24 Die Bandbreite der Vermögensauseinandersetzung außerhalb der Zugewinngemeinschaft variiert von der Rückabwicklung ehebezogener (unbenannter) Zuwendungen über Ansprüche aus Ehegattenmitarbeit, Streitigkeiten um Bankkonten3 und Miteigentum, Steuerrückerstattungen und Steuerschulden4 bis zur Lösung der Frage, welcher Ehegatte im Innenverhältnis für die gemeinsamen Schulden aufkommen muss. Bei diesen Angelegenheiten (sonstige Familiensachen nach §§ 112 Nr. 3 i.V.m. 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG) handelt es sich um Familienstreitsachen, für die die Familiengerichte nach §§ 23a Abs. 1 Nr. 1, 23b Abs. 1 GVG zuständig sind.
1 Zutreffend Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1378 BGB Rn. 15. 2 Vgl. dazu umfassend Wever, FamRZ 2008, 1485, FamRZ 2007, 857, FamRZ 2006, 365, FamRZ 2005, 485, FamRZ 2004, 1073, FamRZ 2003, 565 und FamRZ 2000, 993. 3 OLG Brandenburg v. 7.9.2010 – 10 UF 15/10, FamRZ 2010, 114. 4 OLG Dresden v. 25.6.2010 – 24 UF 800/09, FamRZ 2011, 113 = FamRB 2011, 35.
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Wichtig: Weder der Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 BGB noch der Gesamtgläubigerausgleich nach § 430 BGB oder sonstige Forderungen oder Verbindlichkeiten der Ehegatten untereinander werden durch den Zugewinnausgleich verdrängt1. Die Ausgleichsformen stehen nebeneinander. Die wechselseitigen Forderungen oder Verpflichtungen müssen daher in die Ausgleichsbilanz des Zugewinns eingestellt werden2.
3. Verfügungsbeschränkung bei Gesamtvermögensgeschäften a) Gesamtvermögensgeschäfte Nach § 1364 BGB verwaltet im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft jeder Ehegatte sein Vermögen grundsätzlich selbständig. Ausnahmen gelten jedoch gem. §§ 1365 bis 1368 BGB bei bestimmten Rechtsgeschäften.
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Verpflichtet sich ein Ehegatte zu einer Verfügung über sein Vermögen im Ganzen oder über einzelne Objekte3, die im Wesentlichen sein ganzes Vermögen ausmachen4, so ist dieses Rechtsgeschäft nur wirksam, wenn der andere Ehegatte eingewilligt hat, seine Zustimmung durch das Familiengericht ersetzt wird oder der andere Ehegatte das Rechtsgeschäft (nachträglich) genehmigt. Die Einzelheiten ergeben sich aus den §§ 1365 bis 1368 BGB.
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Ob das beabsichtigte Rechtsgeschäft ein Gesamtvermögensgeschäft i.S.v. § 1365 Abs. 1 BGB und damit zustimmungspflichtig ist, ist anhand eines Wertvergleichs zwischen dem objektiven Verkehrswert des Geschäftsgegenstandes und dem des sonstigen, nicht betroffenen Vermögens zu beurteilen, wobei jeweils vorhandene Lasten in Abzug zu bringen sind5. Aus Gründen der Rechtssicherheit ist die Abgrenzung zwischen zustimmungspflichtigen und zustimmungsfreien Verfügungen anhand fester Prozentsätze vorzunehmen. Keine Zustimmungspflicht besteht danach, wenn dem verfügenden Ehegatten bei einem kleinen Vermögen mindes-
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1 BGH v. 12.11.2008 – XII ZR 134/04, FamRZ 2009, 193 = FamRB 2009, 65; BGH v. 27.4.1988 – IVb ZR 55/87, FamRZ 1988, 920 und BGH v. 13.7.1988 – IVb ZR 96/87, FamRZ 1988, 1031; dazu auch Johannsen/Henrich/Jaeger, vor § 1372 BGB Rn. 18. 2 BGH v. 12.11.2008 – XII ZR 134/04, FamRZ 2009, 193 = FamRB 2009, 65. 3 In der Praxis ist dies häufig ein Grundstück, das das nahezu gesamte Vermögen eines Ehegatten ausmacht. 4 Vgl. dazu näher OLG Köln v. 26.5.2004 – 16 Wx 80/04, FamRB 2005, 1 = NJW-RR 2005, 4; OLG Hamm v. 27.1.2004 – 15 W 9/03, FamRZ 2004, 1648; OLG München v. 14.1.2004 – 16 UF 1348/03, FamRZ 2005, 272. 5 BGH v. 7.10.2011 – V ZR 78/11, FamRZ 2012, 116 = FamRB 2012, 34; OLG Celle v. 24.6.2009 – 4 U 23/09, FamRZ 2010, 562.
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tens 15 % des Gesamtvermögens verbleiben bzw. wenn dieser bei einem größeren Vermögen ein Mindestrestvermögen von 10 % behält1. b) Zweck 28 Nach allgemeiner Meinung soll durch die Verfügungsbeschränkung nach § 1365 BGB die wirtschaftliche Existenzgrundlage der Familie erhalten werden (primärer Normzweck). Daneben soll aber auch die (zukünftige) Zugewinnausgleichsforderung gesichert werden. § 1365 BGB geht also über den Zeitraum der „intakten Ehe“ weit hinaus und kann sogar dann Bedeutung erhalten, wenn die Ehe bereits rechtskräftig geschieden ist, über Zugewinnausgleichsansprüche aber noch gestritten wird. Zwar spielt der primäre Normzweck im Auseinandersetzungsstadium der Ehe keine Rolle mehr, dann greift aber gerade der zweite Normzweck ein, mit dem zur Sicherung der Zugewinnausgleichsforderung Vermögensverschiebungen des anderen (bzw. früheren) Ehegatten verhindert werden sollen2. 29 Dem früheren Ehegatten kann es sogar Jahre nach der Scheidung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Zugewinnausgleichsverfahrens verwehrt sein, das zum Ausgleich benötigte Vermögen zu minimieren, sofern § 1365 BGB (analog) eingreift3. Andererseits kann ein zunächst wegen fehlender Zustimmung des anderen Ehegatten nach § 1366 BGB schwebend unwirksames Rechtsgeschäft „geheilt“ werden (Konvaleszenz), wenn der Schutzzweck des Zustimmungserfordernisses entfallen ist. Die mit der Verfügungsbeschränkung bezweckte Sicherung des Zugewinnausgleichsanspruchs entfällt, wenn mögliche Ansprüche zwischenzeitlich unstreitig verjährt sind4. c) Teilungsversteigerung von Miteigentum der Ehegatten 30 Ein Ehegatte ist im Fall der einseitigen Einleitung eines auf Veräußerung zielenden Versteigerungsverfahrens genauso schutzwürdig wie im Fall der eigenmächtigen Veräußerung des Grundstücks durch den Ehepartner selbst. Der Ehegatte kann auf diesem Wege oftmals die vom anderen Ehegatten gewünschte Teilungsversteigerung verhindern, zumindest aber verzögern. 31 Betreibt ein Ehegatte die Teilungsversteigerung eines Grundstücks nach § 180 ZVG und macht der Grundstücksanteil sein (nahezu) ganzes Ver1 BGH v. 7.10.2011 – V ZR 78/11, FamRZ 2012, 116 = FamRB 2012, 34; OLG Celle v. 24.6.2009 – 4 U 23/09, FamRZ 2010, 562 unter Bezugnahme auf BGH v. 25.6.1980 – IVb ZR 516/80, FamRZ 1980, 765. 2 BGH v. 14.6.2007 – V ZB 102/06, FamRZ 2007, 1634 = FamRB 2007, 259; OLG Köln v. 26.5.2004 – 16 Wx 80/04, FamRB 2005, 1; OLG Celle v. 25.6.2003 – 15 UF 30/03, FamRZ 2004, 625, ablehnend dazu Janke, FamRZ 2004, 627. 3 OLG Köln v. 22.5.2000 – 26 WF 69/00, FamRZ 2001, 176. 4 OLG Celle v. 20.10.2000 – 15 UF 81/00, FamRZ 2001, 1613.
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Rn. 34
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mögen aus, erfordert bereits der Antrag des Ehegatten analog § 1365 BGB die Zustimmung des anderen1. Würde man erst die Zustimmungspflichtigkeit des Zuschlags annehmen2, käme es vielfach zu unnötigen Versteigerungsverfahren. Zwar setzt sich das am Grundstück bestehende Miteigentum nach Ertei- 32 lung des Zuschlags am Versteigerungserlös fort, dies hindert die Anwendung des § 1365 BGB aber gerade nicht3. Für die Anwendung des § 1365 BGB genügt es schon, wenn reine Vermögensumschichtungen eines Ehegatten erfolgen, die sein (nahezu) gesamtes Vermögen ausmachen, da die Vorschrift nicht auf eine wirtschaftliche Einbuße abstellt4. Im Vollstreckungsverfahren ist die Verfügungsbeschränkung im Rahmen 33 der Drittwiderspruchsklage5 nach §§ 120 Abs. 1 FamFG, 771 ZPO oder durch Erinnerung6 nach §§ 120 Abs. 1 FamFG, 766 ZPO geltend zu machen. Geht ein Ehegatte gegen den anderen auf diesem Wege vor, so handelt es sich um eine Familiensache, für die nach §§ 23a Abs. 1 Nr. 1, 23b Abs. 1 GVG, 111 Nr. 9, 261 Abs. 2 FamFG das Familiengericht zuständig ist.
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Wichtig: Einem Gläubiger eines Ehegatten ist die Zwangsversteigerung in dessen Miteigentumsanteil auch dann ohne weiteres möglich, wenn dieser Anteil nahezu das gesamte Vermögen des Schuldner-Ehegatten darstellt. Normadressaten des § 1365 BGB sind nur die Eheleute selbst, nicht deren Gläubiger. Dies gilt nicht nur dann, wenn der Gläubiger direkt in den – regelmäßig nicht verkehrsfähigen – Miteigentumsanteil vollstreckt, sondern auch dann, wenn der Gläubiger den Anspruch eines Ehegatten auf Aufhebung der Miteigentümergemeinschaft pfändet7.
d) Geltendmachung der Unwirksamkeit Verfügt ein Ehegatte ohne die erforderliche Zustimmung des anderen über sein (nahezu) ganzes Vermögen, so gibt § 1368 BGB dem anderen Ehegatten das Recht, die sich aus der Unwirksamkeit der Verfügung ergebenden Rechte gegen den Dritten im eigenen Namen gerichtlich geltend zu machen. Es handelt sich um einen Fall der gesetzlichen Verfahrensstandschaft. Allerdings kann der übergangene Ehegatte damit nicht in jedem Fall erreichen, dass das weggegebene Vermögen wieder zurückfließt. Der Dritte kann nämlich gegenüber dem Rückzahlungsanspruch 1 BGH v. 14.6.2007 – V ZB 102/06, FamRZ 2007, 1634 = FamRB 2007, 259. 2 OLG Frankfurt v. 3.6.1997 – 26 W 23/97, FamRZ 1997, 1490. 3 So aber OLG Stuttgart v. 18.7.2007 – 15 UF 169/07, FamRZ 2007, 1830; dagegen Kogel, FamRZ 2008, 621 und FamRB 2008, 78 und Koch, FamRZ 2008, 1381. 4 Koch, FamRZ 2008, 1381 und Palandt/Brudermüller, § 1365 BGB Rn. 5. 5 OLG Köln v. 22.5.2000 – 26 WF 69/00, FamRZ 2001, 176. 6 BGH v. 14.6.2007 – V ZB 102/06, FamRZ 2007, 1634 = FamRB 2007, 259. 7 OLG Karlsruhe v. 4.9.2003 – 16 WF 109/03, FamRZ 2004, 629.
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aus § 1368 BGB mit einer eigenen Forderung, die ihm gegen den verfügenden Ehegatten zusteht, aufrechnen1.
III. Berechnungsgrundsätze, Anfangs- und Endvermögen 1. Grundsätze a) Mehrstufige Differenzberechnung 35 Um den Zugewinn des jeweiligen Ehegatten zu ermitteln, müssen das Anfangs- und das Endvermögen bestimmt werden. Die Berechnungen erfolgen dabei jeweils nach denselben Grundsätzen. Der Zugewinn ist im Wege einer mehrfachen Differenzberechnung zu bestimmen. Bei jedem Ehegatten muss zunächst das Anfangsvermögen als Differenz zwischen Aktiva und Passiva zum Anfangsstichtag bestimmt werden. Danach muss bei jedem Ehegatten das Endvermögen als Differenz zwischen Aktiva und Passiva zum Endstichtag bestimmt werden. Die Differenz zwischen Anfangs- und Endvermögen des jeweiligen Ehegatten wiederum bildet seinen Zugewinn. 36 Im Falle der Ehescheidung ist auf die Ermittlung des Anfangsvermögens besondere Sorgfalt zu verwenden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass jeder beim Anfangsvermögen zu berücksichtigende positive Vermögenswert den Zugewinn eines Ehegatten reduziert und jeder beim Endvermögen zu berücksichtigende positive Vermögenswert seinen Zugewinn erhöht.
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Praxistipp: Heiratswilligen oder frisch verheirateten Ehepaaren ist deshalb dringend eine Aufstellung des von ihnen in die Ehe eingebrachten Vermögens, aber auch der Schulden zu empfehlen.
37 Bei den Verbindlichkeiten verhält es sich umgekehrt. Nach § 1374 Abs. 3 BGB sind beim Anfangsvermögen Verbindlichkeiten über die Höhe des Vermögens hinaus abzuziehen. Bei der Berechnung des Zugewinnausgleichs wird also auch ein negatives Anfangsvermögen berücksichtigt, denn die Schuldentilgung während der Ehezeit stellt einen wirtschaftlichen Gewinn für den bei Eintritt des Güterstands verschuldeten Ehegatten dar, der güterrechtlich auszugleichen ist2. Auch kann das Endvermögen negativ sein, § 1374 Abs. 3 BGB.
1 BGH v. 2.2.2000 – XII ZR 25/98, FamRZ 2000, 744, entgegen der Vorinstanz OLG Karlsruhe v. 30.12.1997 – 16 UF 69/94, FamRZ 1999, 298. 2 § 1374 Abs. 3 BGB gilt seit dem 1.9.2009. Zuvor wurde die Tilgung von Schulden während der Ehe unberücksichtigt gelassen, soweit ein Ehegatte mit Schulden in die Ehe gegangen ist, vgl. dazu Koch, FamRZ 2008, 1124; Hoppenz, FamRZ 2008, 1889; BR-Drucks. 635/08 und BT-Drucks. 16/10798 samt ergänzender BTDrucks. 16/13027.
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Wichtig: Aus dem Wortlaut des § 1373 BGB („Zugewinn ist der Betrag, um den das Endvermögen eines Ehegatten das Anfangsvermögen übersteigt“) ergibt sich aber auch, dass der Zugewinn selbst keine negative Größe sein kann1. Einen Verlustausgleich will auch das zum 1. September 2009 geänderte Zugewinnausgleichsrecht nicht erreichen. Einen negativen Zugewinn gibt es weiterhin nicht2. Übersteigt das Anfangsvermögen eines Ehegatten sein Endvermögen, so ist sein Zugewinn gleich null. Damit soll sichergestellt werden, dass der Ausgleichsschuldner zur Erfüllung der Ausgleichsforderung grundsätzlich keine Verbindlichkeiten eingehen muss. Ein Ausnahmefall ist jedoch gegeben, wenn der Ausgleichsschuldner sein Vermögen in den Fällen des § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB illoyal verwendet hat. Er muss dann zur Erfüllung der Ausgleichsforderung Verbindlichkeiten aufnehmen, § 1378 Abs. 2 S. 2 BGB.
b) Indexierung aa) Berücksichtigung des Kaufkraftschwundes Bei Bewertung des Anfangsvermögens für den jeweiligen Ehegatten muss der Kaufkraftschwund von DM und Euro berücksichtigt werden. Durch die Geldentwertung eingetretene, nur nominelle Wertsteigerungen des Anfangsvermögens und der Vermögensgegenstände, die dem Anfangsoder dem Endvermögen zuzurechnen sind, können nicht zu einem Anspruch auf Zugewinnausgleich führen. Es ist daher eine Indexierung durchzuführen, damit der reale Zugewinn ermittelt wird und ein scheinbarer Zugewinn unberücksichtigt bleibt.
38
bb) Berechnungsmethode Der gesamte Wert des Anfangsvermögens zum Anfangsstichtag ist mit 39 dem Index am Endstichtag zu multiplizieren und durch den Index am Anfangsstichtag zu dividieren3. Ergebnis ist das sog. bereinigte Anfangsvermögen. Bei privilegiertem Erwerb nach § 1374 Abs. 2 BGB oder illoyalen Ver- 40 mögensminderungen nach § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB hat eine separate Umrechnung, nämlich bezogen auf den jeweiligen Zeitpunkt des Erwerbs bzw. der Vermögensminderung zu erfolgen. 1 Kritisch zur Frage, ob ein negativer Zugewinn tatsächlich nicht möglich ist: Braeuer, FamRZ 2010, 1614; Kogel, FamRZ 2010, 2036 mwN und Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 193 ff. 2 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 10/09, FamRZ 2011, 25; kritisch hierzu und weitergehend: Kogel, FamRB 2011, 54. 3 BGH v. 14.11.1973 – IV ZR 147/72, FamRZ 1974, 83 und BGH v. 18.10.1989 – IVb ZR 82/88, FamRZ 1990, 256; zur Berechnung vgl. auch Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 55 ff.; Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 144 ff.
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41 Dabei zieht die Rechtsprechung jeweils die für den Anfangs- und Endzeitpunkt festgestellten durchschnittlichen Jahreszahlen heran1. In der Literatur wird die Verwendung der Indexzahlen des jeweils einschlägigen Monats befürwortet, da diese Zahlen ohne Aufwand zu ermitteln sind und zu einem genaueren Ergebnis führen2. cc) Früherer Index für die alten Bundesländer 42 Zur Umrechnung des Anfangsvermögens auf die Kaufkraftverhältnisse zum Endstichtag wurde für Ehen in den alten Bundesländern bis zum Jahr 1995 von der Literatur der „Preisindex für die Lebenshaltung aller privater Haushalte in langjähriger Übersicht“ (Basisjahr 1995 = 100) herangezogen3. Der BGH hat in seiner Grundsatzentscheidung den „Preisindex für die Lebenshaltung von Vier-Personen-Haushalten von Arbeitern und Angestellten mit mittleren Einkommen“ zugrunde gelegt4. dd) Indexierung in den neuen Bundesländern 43 Für Ehen der DDR, die mit Wirkung v. 3.10.1990 gem. Art. 234 § 4 EGBGB in den Güterstand der Zugewinngemeinschaft überführt wurden, erscheint die Heranziehung eines Preisindexes für die Lebenshaltung in den alten Bundesländern in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung unangemessen. Der höhere Wertverfall im Gebiet der ehemaligen DDR war daher mit einem besonderen Lebenshaltungskostenindex zu berücksichtigen. Mit dem Basisjahr 1991 berechnete das Statistische Bundesamt drei Preisindizes für die Lebenshaltung privater Haushalte (Gesamtdeutschland, früheres Bundesgebiet und neue Bundesländer mit Berlin-Ost). ee) Index seit dem Jahr 2003 (VPI) 44 Seit dem Jahr 2003 wird vom Statistischen Bundesamt nur noch der „einheitliche Verbraucherpreisindex“ (VPI, seit 29.2.2008 = Basisjahr 2005, zuvor = Basisjahr 2000) geführt. Die von 2000 bis 2002 veröffentlichten Werte der älteren Indizes wurden für ungültig erklärt. Die Indexierung ist daher grundsätzlich nur noch auf Basis des VPI – unabhängig, ob neue oder alte Bundesländer – möglich. Beim Anfangsvermögen kann dabei aber zur Umrechnung zunächst ein früherer Index herangezogen werden5. 1 OLG Brandenburg v. 6.5.2008 – 10 UF 197/07, FamRZ 2009, 231; OLG Frankfurt v. 16.9.2008 – 3 UF 393/05 und BGH v. 14.11.1973 – IV ZR 147/72, FamRZ 1974, 83. Der Rspr. folgend: Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1376 BGB Rn. 25 und Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 58 ff.; Palandt/Brudermüller, § 1376 BGB Rn. 30 f. (dort ist auch jeweils die Tabelle zum Jahresverbraucherpreisindex abgedruckt). 2 Schwab, VII Rn. 169; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 58; Gutdeutsch, FamRZ 2003, 1061 und Hauß, FamRB 2003, 310. 3 Vgl. Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1376 BGB Rn. 27; Kogel, FamRZ 2003, 1901. 4 BGH v. 14.11.1973 – IV ZR 147/72, FamRZ 1974, 83. 5 Ein Berechnungsbeispiel mit Auswirkungen (insbesondere für das Gebiet der ehemaligen DDR) zeigt Kogel, FamRZ 2003, 1901, auf.
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Um dies zu vereinfachen, wird vorgeschlagen, die verschiedenen Indizes mathematisch zu verketten und durch einen „verketteten Index“ für die alten1 und (nach entsprechender Kritik2) auch für die neuen3 Bundesländer zur Verfügung zu stellen.
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Praxistipp: Gerade in den neuen Bundesländern sollten Berechnungen und Umrechnungen mit den verschiedenen Indizes und ein Vergleich der Ergebnisse erfolgen. Hier können sich betragsmäßig erhebliche Unterschiede ergeben4. Der Rechtsanwalt kann dabei zwar die für seinen Mandanten günstigste Berechnungsmethode zugrunde legen, sollte jedoch hilfsweise – ggf. durch entsprechende Antragstellung – das schlechtere Ergebnis nicht aus den Augen verlieren.
c) Bilanzierung Viele Eheleute neigen zur separaten Aufteilung einzelner Vermögens- 45 gegenstände des Endvermögens nach dem „Halbteilungsgrundsatz“, ohne alle beiderseitigen Vermögenswerte insgesamt einander gegenüberzustellen (zu bilanzieren) oder gar ohne das Anfangsvermögen zu berücksichtigen. Es ist aber falsch, selbst solche Vermögensgegenstände, die sowohl im Anfangs- als auch im Endvermögen vorhanden sind, aus der Ausgleichsberechnung („Ausgleichsbilanz“) herauszunehmen. Ebenso falsch ist es, bei gleichartigen Vermögenswerten, wie etwa beiderseitigen Sparguthaben, bereits vorab den isoliert errechneten Ausgleichsbetrag in die restliche Vermögensbilanz einzustellen. Die Ausgleichsbilanz muss vielmehr sämtliche Forderungen und Verpflichtungen, auch und gerade der Ehegatten untereinander5, enthalten. Eine Neutralisierung ist nicht vorzunehmen, die Indexierung darf nicht vergessen werden. Andernfalls können sich Verfälschungen des Zugewinns ergeben. Dies zeigt sich schon an den folgenden, stark vereinfachten Beispielen: Beispiel 1: Bei Beginn der sechsjährigen Ehe war die Frau Eigentümerin eines Grundstücks im Wert von 100 000 Euro. Auch zum Endzeitpunkt war die Frau unverändert Eigentümerin des Grundstücks, das bis dahin keine Wertsteigerung, aber auch keinen Wertverlust erfahren hat, so dass es mit 100 000 Euro anzusetzen ist. Daneben verfügte sie zum Anfangsstichtag über sonstiges Vermögen iHv. 15 000 Euro und zum Endstichtag iHv. 28 000 Euro.
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Gutdeutsch, FamRZ 2003, 1061. Kogel, FamRZ 2003, 1901. Gutdeutsch, FamRZ 2003, 1904. Vgl. dazu das Berechnungsbeispiel von Kogel, FamRZ 2003, 1902, der für die neuen Bundesländer Unterschiede von 20 % aufzeigt. 5 BGH v. 12.11.2008 – XII ZR 134/04, FamRZ 2009, 193 = FamRB 2009, 65, zusammenfassend mit verschiedenen Fallgestaltungen auch Koch, FamRZ 2011, 1261.
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Wird das Grundstück nun aus „Vereinfachungsgründen“ aus der Zugewinnberechnung herausgenommen, weil es ständig vorhanden war und berücksichtigt man beim restlichen Vermögen einen Inflationsausgleich (aus Vereinfachungsgründen) von 20 %, hätte die Ehefrau einen Zugewinn von 10 000 Euro (Endvermögen 28 000 Euro abzüglich indexiertes Anfangsvermögen 18 000 Euro) erzielt. Richtigerweise muss das Grundstück aber sowohl im Anfangs- als auch im Endvermögen neben dem sonstigen Vermögen unter Beachtung des Inflationsausgleichs (20 %, s. oben) berücksichtigt werden. Dann ergibt sich, dass die Ehefrau während der Ehezeit einen Vermögensverlust von 10 000 Euro (Endvermögen 128 000 Euro abzüglich indexiertes Anfangsvermögen 138 000 Euro) erlitten hat. Ihr Zugewinn ist also null. Beispiel 2: Bei Beginn der sechsjährigen Ehe verfügte die Frau über Vermögen iHv. 25 000 Euro. Zum Endzeitpunkt war ihr einziger Vermögenswert ein Sparbuch über 30 000 Euro. Der Ehemann verfügte über kein Anfangsvermögen. Zum Endzeitpunkt war er Eigentümer einer Eigentumswohnung im Wert von 100 000 Euro und Inhaber eines Sparbuches über 45 000 Euro. Werden die jeweiligen Sparbuchguthaben nun aus „Vereinfachungsgründen“ aus der Zugewinnberechnung zunächst herausgenommen, weil am Ende der isolierte Ausgleichsanspruch der Ehefrau von 7500 Euro aus den Sparbuchguthaben hinzu addiert werden soll, hätte die Ehefrau gegen den Ehemann einen Ausgleichsanspruch von 57 500 Euro (Zugewinn Ehefrau 0 Euro, Zugewinn Ehemann 100 000 Euro, Zugewinnausgleichsanspruch Ehefrau 50 000 Euro plus 7500 Euro aus den Sparbüchern). Richtigerweise müssen aber alle Vermögensbestandteile sowohl im Anfangs- als auch im Endvermögen unter Beachtung des Inflationsausgleichs (20 % s.o.) berücksichtigt werden. Dann ergibt sich, dass die Ehefrau während der Ehezeit keinen Zugewinn erzielt hat (Endvermögen 30 000 Euro abzüglich Anfangsvermögen 30 000 Euro), der Zugewinn des Ehemanns aber 145 000 Euro betrug. Der Ehefrau steht somit richtigerweise ein Zugewinnausgleichsanspruch iHv. 72 500 Euro zu. Beispiel 3: Beide Ehegatten verfügten über kein Anfangsvermögen. Zum Stichtag für das Endvermögen verfügt der Ehemann über Geldanlagen iHv. insgesamt 30 000 Euro, die Ehefrau hat kein Vermögen. Während der Trennungszeit sind Unterhaltsansprüche der Ehefrau iHv. 25 000 Euro aufgelaufen. Wird die Unterhaltsverpflichtung bzw. Unterhaltsforderung nun aus „Vereinfachungsgründen“ aus der Ausgleichsbilanz herausgenommen, weil es sich auf beiden Seiten um einen gleichartigen Rechnungsposten der Ehegatten untereinander handelt, der sich am Ende „neutralisiert“ und weil Unterhaltsansprüche vermeintlich keine Auswirkungen auf den Zugewinnausgleich haben, stünde der Ehefrau ein Zugewinnausgleichsanspruch in Höhe der Hälfte der Geldanlagen des Mannes, also iHv. 15 000 Euro zu. Richtigerweise müssen aber am Stichtag1 fällige und noch nicht erfüllte (Unterhalts)Forderungen dem Aktivvermögen des (Unterhalts)Berechtigten zugerechnet und als Passivposten dem Endvermögen des (Unterhalts)Verpflichteten abgezogen werden. Auch hier gilt, dass alle Vermögensbestandteile sowohl im Anfangs- als auch im Endvermögen berücksichtigt werden müssen. Dann ergibt sich, dass die 1 Der BGH hat die starre Regelung des Stichtagprinzips in der Entscheidung v. 27.8.2003 – XII ZR 300/01, FamRZ 2003, 1544 = FamRB 2003, 346 betont und darauf hingewiesen, dass nur bei grob unbilligen Ergebnissen eine Korrektur über § 1381 BGB möglich ist.
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Kap. 9
Ehefrau einen Zugewinn von 25 000 Euro, nämlich in Höhe der Unterhaltsforderung, erzielt hat und der Zugewinn des Ehemanns nur 5000 Euro betrug (30 000 Euro abzüglich Unterhaltsverpflichtung 25 000 Euro). Dem Ehemann (!) steht also ein Zugewinnausgleichsanspruch iHv. 10 000 Euro zu1.
2. Stichtagsregelungen a) Bewertungszeitpunkt beim Anfangsvermögen Nach § 1374 Abs. 1 BGB ist als Zeitpunkt für die Bestimmung des An- 46 fangsvermögens auf den Eintritt des Güterstands abzustellen. Dabei wird nach § 1376 Abs. 1 BGB bei der Berechnung des Anfangsvermögens der Wert zugrunde gelegt, den das bei Eintritt des Güterstands vorhandene Vermögen in diesem Zeitpunkt hatte, wobei auch ein negatives Anfangsvermögen gem. § 1374 Abs. 3 BGB zu berücksichtigen ist. Ist dem Anfangsvermögen späterer (privilegierter) Erwerb (§ 1374 Abs. 2 BGB) hinzuzurechnen, ist für die Bewertung der Zeitpunkt des Erwerbs maßgebend2. Für Aktiva und Passiva ist auf denselben Bewertungszeitpunkt abzustellen, § 1376 Abs. 3 BGB. Haben die Ehegatten durch Ehevertrag nichts anderes vereinbart, tritt der 47 gesetzliche Güterstand der Zugewinngemeinschaft mit dem Tag der Eheschließung ein. Hatten die Ehegatten zunächst einen anderen Güterstand vereinbart, ist auf den Tag abzustellen, an dem mit Ehevertrag der Übergang zur Zugewinngemeinschaft vereinbart wurde, soweit der Ehevertrag keine andere ausdrückliche Bestimmung enthält. Wurde die Ehe vor dem 1.7.1958 geschlossen und wurde der Güterstand nicht wirksam ausgeschlossen, so ist als Bewertungszeitpunkt der 1.7.1958 heranzuziehen. Näheres ergibt sich aus Art. 8 Nr. 3 und Nr. 4 GleichberG.
48
Für Ehen, die in der DDR geschlossen wurden und für die der dortige ge- 49 setzliche Güterstand der „Eigentums- und Vermögensgemeinschaft“ galt, ist mit dem Einigungsstichtag 3.10.1990 der gesetzliche Güterstand des BGB, die Zugewinngemeinschaft, eingetreten3, Art. 234 § 4 EGBGB. Die
1 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 10/09, FamRZ 2011, 25 = FamRB 2011, 33: Ein am Bewertungsstichtag bestehender Unterhaltsrückstand ist als Passivposten im Endvermögen des Unterhaltsschuldners anzusetzen. Zu diesem auf den ersten Blick paradoxen Ergebnis: Kogel, FamRZ 2011, 779; OLG Celle v. 13.12.1990 – 12 UF 139/90, FamRZ 1991, 944; auch BGH v. 11.12.2002 – XII ZR 27/00, FamRZ 2003, 432 = FamRB 2003, 173 m. Anm. v. Schröder, FamRZ 2003, 434 und Kogel, FamRZ 2004, 1614 sowie Gerhardt/Schulz, FamRZ 2005, 145. 2 Dabei ist der dingliche Erwerb maßgebend, BGH v. 7.9.2005 – XII ZR 209/02, FamRZ 2005, 1974 = FamRB 2006, 1; OLG Bamberg v. 20.7.1989 – 2 UF 202/88, FamRZ 1990, 408. 3 Vgl. dazu Schwab, VII, Rn. 426 ff.; Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 1043 ff.
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Kap. 9 Rn. 50
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Bewertung eines Grundstücks erfolgt dabei nach den wirtschaftlichen Verhältnissen der DDR zum Zeitpunkt der Eheschließung1. b) Bewertungszeitpunkt beim Endvermögen aa) Grundsatz: Beendigung des Güterstands 50 Nach § 1375 Abs. 1 S. 1 BGB ist als Zeitpunkt für die Bestimmung des Endvermögens auf die Beendigung des Güterstands abzustellen. Dabei wird nach § 1376 Abs. 2 BGB bei der Berechnung des Endvermögens der Wert zugrunde gelegt, den das bei Beendigung des Güterstands vorhandene Vermögen in diesem Zeitpunkt hatte. Ist dem Endvermögen eine Vermögensminderung gem. § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB hinzuzurechnen, ist für die Bewertung der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Vermögensminderung eingetreten ist. Für Aktiva und Passiva ist auch beim Endvermögen auf denselben Bewertungszeitpunkt abzustellen, § 1376 Abs. 3 BGB. 51 Endet der gesetzliche Güterstand durch Tod eines Ehegatten, § 1371 Abs. 2 BGB, ist auf den Todestag abzustellen. Bei Aufhebung des gesetzlichen Güterstands durch Ehevertrag nach § 1408 Abs. 1 BGB ist auf den Tag abzustellen, an dem mit Ehevertrag die Aufhebung der Zugewinngemeinschaft vereinbart wurde, soweit der Ehevertrag keine andere ausdrückliche Bestimmung enthält. bb) Vorverlegung bei Ehescheidung 52 In einigen Fällen wird der Bewertungsstichtag durch das Gesetz vorverlegt. Dazu zählt gerade der wichtigste Fall der Ehescheidung. Wird die Ehe geschieden, so tritt für die Berechnung des Zugewinns und für die Höhe der Ausgleichsforderung an die Stelle der Beendigung des Güterstands der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags, § 1384 BGB, also der Tag der Zustellung des Scheidungsantrags, §§ 124, 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. §§ 253, 261 Abs. 1 ZPO. 53 Um zu verhindern, dass ein Ehegatte sein Vermögen zum Nachteil des anderen verringert, wenn das Scheidungsverfahren bereits eingeleitet ist, ist nach § 1384 BGB der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags maßgebend. Daneben besteht kein Grund, den anderen Ehegatten ab diesem Zeitpunkt weiter am Zugewinn zu beteiligen. Angesichts des Wortlauts des § 1384 BGB (Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags) kommt es nicht schon auf den Zeitpunkt der Antragseinreichung bei Gericht2 an.
1 AG Berlin-Tempelhof-Kreuzberg v. 14.11.2003 – 176 F 6596/97, FamRZ 2005, 107 entgegen AG Stuttgart v. 27.1.1999 – 27 F 47/94, FamRZ 1999, 1065. Anders aber Schwab, VII Rn. 437. 2 Vgl. dazu Schwab, VII Rn. 177 mwN.
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Rn. 54
Kap. 9
Wichtig: Durch Stellung des Scheidungsantrags kann maßgeblich auf das Endvermögen Einfluss genommen werden. Liegt es im Interesse des Mandanten, den Stichtag auf einen möglichst frühen Zeitpunkt zu verlegen, zB weil in absehbarer Zeit mit einer Vermögensmehrung zu rechnen ist oder aber Vermögensverschiebungen des anderen Ehegatten zu befürchten sind, sollte der Scheidungsantrag bald gestellt werden. Dies gilt auch dann, wenn das Trennungsjahr noch nicht abgelaufen ist und der Antrag deshalb (zunächst) unzulässig ist, aber damit zu rechnen ist, dass er jedenfalls in der letzten mündlichen Verhandlung oder sogar erst in der Beschwerdeverhandlung zulässig wird.
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Praxistipp: Soll der Stichtag schnellstmöglich herbeigeführt werden, insbesondere um Manipulationen des anderen Ehegatten zuvorzukommen, sollte daran gedacht werden, den Scheidungsantrag beim Verwaltungsgericht oder beim Sozialgericht einzureichen1. Denn im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren wird die Rechtshängigkeit des Antrags bereits durch den Eingang beim Verwaltungs- oder Sozialgericht herbeigeführt, §§ 81 Abs. 1, 90 Abs. 1 VwGO bzw. § 94 SozGG2. Auf die Zustellung an den Antragsgegner kommt es für die Rechtshängigkeit in diesen Prozessordnungen nicht an. Verweist dann das zweifellos unzuständige Verwaltungs- oder Sozialgericht das Verfahren an das ausschließlich zuständige Familiengericht, so bleiben die Wirkungen der Rechtshängigkeit gem. § 17b Abs. 1 S. 2 GVG bestehen.
Auf die Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags ist grundsätzlich auch 54 dann abzustellen, wenn das Scheidungsverfahren längere Zeit ruht. Nach der Rechtsprechung wird sogar bei einer Ruhensdauer von neun Jahren auf den Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrags abgestellt3. Nur in Ausnahmefällen, wenn die Ehegatten zB während des Ruhenszeitraums wieder zusammengelebt und gemeinsam gewirtschaftet haben, kann der Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Verfahrens als maßgeblicher Stichtag erwogen werden4.
1 Kogel, FamRB 2009, 164; Kogel, FamRZ 1999, 1252 und Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 270 ff. 2 Dagegen Hagelstein, FamRZ 2000, 341, der diesen Weg als rechtsmissbräuchliches Erschleichen eines Stichtages ansieht. 3 OLG Hamm v. 4.3.1992 – 5 UF 378/91, FamRZ 1992, 1180; vgl. auch OLG Hamm v. 25.10.1979 – 7 UF 39/79, NJW 1980, 1637. 4 OLG Bremen v. 29.10.1997 – 4 WF 75/97, FamRZ 1998, 1516; ähnlich auch OLG Hamm v. 4.3.1992 – 5 UF 378/91, FamRZ 1992, 1180. Einen Ausnahmefall behandelt auch die Entscheidung des AG Mölln v. 14.4.2000 – 1 F 20/00, FamRZ 2001, 291: Hier glaubten die Parteien fälschlicherweise zunächst, dass ein im Jahr 1992 gestellter Scheidungsantrag wirksam zurückgenommen worden sei und stellten nach zwischenzeitlicher Versöhnung im Jahr 1998 erneut Scheidungsantrag.
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Kap. 9 Rn. 55
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55 Wird der Scheidungsantrag rechtskräftig abgewiesen oder wirksam zurückgenommen und später ein weiterer Scheidungsantrag gestellt, der zum Erfolg führt, so ist die Rechtshängigkeit des neuen Scheidungsantrags maßgebend. Sind mehrere Anträge gestellt, kommt es auf die Rechtshängigkeit desjenigen an, der letztlich zum Erfolg führt1.
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Praxistipp: Wird für den Mandanten der Scheidungsantrag eingereicht und gewinnt der andere Ehegatte danach bis zur Rechtskraft des Beschlusses an Vermögen dazu, besteht keine Möglichkeit der Teilhabe über den Zugewinnausgleich mehr. Überlegenswert ist dann die Rücknahme des Scheidungsantrags. Allerdings wird der andere Ehegatte zuvor uU Widerantrag gestellt haben, damit der für ihn günstige frühe Stichtag in jedem Fall gilt. Auch hat der andere Ehegatte die Möglichkeit, der Rücknahme nicht zuzustimmen, sollte bereits mündlich verhandelt worden sein.
56 Stirbt ein Ehegatte während eines rechtshängigen Scheidungsverfahrens, in dem die Ehe voraussichtlich geschieden worden wäre, ist auch beim Zugewinnausgleichsverfahren nach § 1371 Abs. 2 BGB der Rechtshängigkeitszeitpunkt entsprechend § 1384 BGB maßgebend2. Auf den Zeitpunkt des Todes kommt es in diesem Fall gerade nicht an. cc) Vorverlegung bei vorzeitigem Zugewinnausgleich oder vorzeitiger Aufhebung 57 Wird im Fall des § 1385 BGB auf vorzeitigen Zugewinnausgleich bei vorzeitiger Aufhebung der Zugewinngemeingemeinschaft und im Fall des § 1386 BGB auf vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft erkannt, so ist nach § 1387 BGB für die Berechnung des Zugewinns und für die Höhe der Ausgleichsforderung der Zeitpunkt der Zustellung des entsprechenden Antrags maßgeblich. Wird während des laufenden Scheidungsverfahrens Antrag auf vorzeitigen Zugewinn eingereicht, ist der Berechnungszeitpunkt nach § 1384 BGB maßgebend3. dd) Vorverlegung im Eheaufhebungsverfahren 58 Nach § 1318 Abs. 3 BGB i.V.m. § 1384 BGB ist im Verfahren der Aufhebung der Ehe auf die Rechtshängigkeit des Aufhebungsantrags als Stichtag abzustellen.
1 Schwab, VII Rn. 177. 2 BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 23/01, FamRZ 2004, 527 = FamRB 2004, 141 und FamRB 2004, 142; BGH v. 14.1.1987 – IVb ZR 46/85, FamRZ 1987, 353 mwN; Schwab, VII Rn. 177. 3 OLG Hamm v. 2.4.1982 – 5 WF 147/82, FamRZ 1982, 609.
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Rn. 61
Kap. 9
3. Anfangsvermögen a) Begriff Das Anfangsvermögen ist die Differenz des Werts der Aktiva und Passiva 59 des Ehegatten zum maßgeblichen Bewertungszeitpunkt. Es wird der Wert zugrunde gelegt, den das bei Eintritt des Güterstands vorhandene Vermögen des Ehegatten zu diesem Zeitpunkt hatte, § 1376 Abs. 1 BGB. Aus § 1374 Abs. 3 BGB ergibt sich, dass das Anfangsvermögen auch negativ sein kann. Sind dem Anfangsvermögen spätere Erwerbsvorgänge hinzuzurechnen 60 (vgl. § 1374 Abs. 2 BGB), ist für deren Bewertung nicht der Eintritt des Güterstands, sondern der Zeitpunkt des (dinglichen) Erwerbs maßgebend. Auch der privilegierte Erwerb kann negativ sein, wenn mit ihm also Belastungen verbunden sind, die die Aktiva übersteigen, wie etwa im Fall, in dem ein Ehegatte einen überschuldeten Nachlass annimmt1. b) Negativer Wert Nach § 1374 Abs. 3 BGB sind beim Anfangsvermögen Verbindlichkeiten über die Höhe des Vermögens hinaus abzuziehen. Bei der Berechnung des Zugewinnausgleichs wird also auch ein negatives Anfangsvermögen berücksichtigt, denn die Schuldentilgung während der Ehezeit stellt einen wirtschaftlichen Gewinn für den bei Eintritt des Güterstands verschuldeten Ehegatten dar, der güterrechtlich auszugleichen ist2. Beispiel: Der Ehemann hatte bei Eintritt in den Güterstand Schulden von 30 000 Euro. Zum Endstichtag verfügte er über ein (positives) Vermögen von 120 000 Euro. Er hat also einen Zugewinn von 150 000 Euro erzielt. Die Ehefrau verfügte zum Anfangsstichtag über ein (indexiertes) Vermögen von 20 000 Euro, ihr Endvermögen belief sich auf 80 000 Euro, sie hat also einen Zugewinn von 60 000 Euro erzielt. Der Ehefrau steht damit ein Zugewinnausgleichsanspruch gegen den Mann iHv. 45 000 Euro zu. Wäre das negative Anfangsvermögen des Ehemannes nicht zu berücksichtigen – wie dies bis zum 31.8.2009 nach dem nunmehr aufgehobenen § 1374 Abs. 1 letzter Halbs. BGB („die Verbindlichkeiten können nur bis zur Höhe des Vermögens abgezogen werden“) angeordnet war –, hätte der Ehefrau ein Zugewinnausgleichsanspruch iHv. lediglich 30 000 Euro zugestanden, an der Schuldentilgung des Ehemannes zwischen Anfangs- und Endstichtag von 30 000 Euro, die ja einen tatsächlichen Wertzuwachs darstellt, wäre sie also nicht beteiligt worden. 1 Koch, FamRZ 2008, 1124 (1125). 2 Mit der Einführung des § 1374 Abs. 3 BGB, der seit dem 1.9.2009 gilt, und der Streichung der früheren Regelung in § 1374 Abs. 1 BGB, wonach die Verbindlichkeiten nur bis zur Höhe des Vermögens abgezogen werden konnten, ist der Gesetzgeber einer jahrzehntelangen Forderung in der Literatur nachgekommen, die es als grob ungerecht empfand, die Tilgung von Schulden während der Ehe unberücksichtigt zu lassen, wenn ein Ehegatte mit Schulden in die Ehe gegangen ist, vgl. dazu Koch, FamRZ 2008, 1124; Hoppenz, FamRZ 2008, 1889; BRDrucks. 635/08 und BT-Drucks. 16/10798 samt ergänzender BT-Drucks. 16/13027.
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Kap. 9 Rn. 62
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c) Aufstockung des Anfangsvermögens (privilegierter Erwerb) aa) Sinn und Zweck 62 § 1374 Abs. 2 BGB regelt ausdrücklich vier Fälle (Erwerb von Todes wegen, mit Rücksicht auf ein künftiges Erbrecht, durch Schenkung oder als Ausstattung), in denen der Ehegatte nach Eintritt des Güterstands Vermögen erwirbt, das dem Anfangsvermögen nach Abzug der Verbindlichkeiten hinzuzurechnen ist. Dadurch soll erreicht werden, dass der andere Ehegatte an Zuwendungen nicht partizipiert, die weder ehebezogen sind noch in der Ehe erarbeitet wurden, die vielmehr allein auf persönlichen Beziehungen des begünstigten Ehegatten zu einem Dritten beruhen. 63 Soweit derartige Zuwendungen den Umständen nach zu den Einkünften des Empfängers zu rechnen sind, werden sie allerdings nicht dem Anfangsvermögen hinzugerechnet, § 1374 Abs. 2 letzter Halbs. BGB. Dazu zählen regelmäßige und auch einmalige Zuwendungen, die zur Bestreitung der Lebensbedürfnisse und damit zum Verbrauch, nicht aber zur Vermögensbildung bestimmt sind1, zB für Konsumzwecke oder einmalige Gelegenheiten wie Reisen oder Ausbildung2. Um dies zu bestimmen, sind je nach Einzelfall der Anlass der Zuwendung, die Willensrichtung des Schenkers und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschenkten zu berücksichtigen3.
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Wichtig: Auf den ersten Blick wird oft übersehen, dass der privilegierte Erwerb nach § 1374 Abs. 2 BGB den Zugewinn mittelbar beeinflusst. Der andere Ehegatte wird nämlich nur vom ursprünglichen Wert des „Stamms“ des privilegierten Vermögens ausgeschlossen; Wertsteigerungen, die sich zwischen dem Erwerbszeitpunkt und dem Endstichtag ergeben und nicht auf Geldentwertung beruhen, unterfallen dagegen dem Zugewinnausgleich4. Nur der ursprüngliche Wert des privilegiert erworbenen Gegenstands selbst wird (unter Berücksichtigung der Geldentwertung) bei der Zugewinnausgleichsberechnung nicht berücksichtigt5.
Beispiele: – Hat ein Ehegatte während der Ehezeit ein Grundstück geerbt und ergibt sich zwischen Erwerbszeitpunkt und dem Zeitpunkt der Beendigung des Güterstands eine Wertsteigerung, weil zB Agrarland zu Bauland wird, darf die Wert1 2 3 4
Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 42 ff. OLG Karlsruhe v. 8.3.2001 – 5 WF 14/01, FamRZ 2002, 236. BGH v. 1.7.1987 – IVb ZR 70/86, FamRZ 1987, 910. Vgl. nur BGH v. 14.3.1990 – XII ZR 62/89, FamRZ 1990, 603; ausführlich Muscheler, FamRZ 1998, 265. 5 Dagegen mit einem konkreten Reformvorschlag zu § 1376 Abs. 2 BGB: Battes, FamRZ 2009, 261. Zur Einbeziehung von nicht auf Geldentwertung beruhenden Wertsteigerungen von Gegenständen des Anfangsvermögens: Battes, FamRZ 2007, 313; kritisch dazu Hoppenz, FamRZ 2008, 1889 (1891).
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Rn. 66
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steigerung dem Anfangsvermögen nicht hinzugerechnet werden, sondern findet nur bei Bestimmung des Endvermögens Berücksichtigung. Die Wertsteigerung unterfällt also gerade dem Zugewinn. – Angesparte Mieteinnahmen, die eine geschenkte oder ererbte Immobilie erzielt und die bis zum Endstichtag noch im Vermögen des beschenkten oder bedachten Ehegatten vorhanden sind, werden dem Anfangsvermögen nicht hinzugerechnet, müssen also über den Zugewinn ausgeglichen werden. Gleiches gilt für angesparte Zinserträge und alle sonstigen Erträge, die das privilegiert erworbene Vermögen abwirft.
bb) Durchführung der Aufstockung Der Wert des Erwerbsvorgangs, der dem Anfangsvermögen hinzuzurechnen ist, ergibt sich nach Abzug aller Verbindlichkeiten, die mit dem Erwerbsvorgang im Zusammenhang stehen. Zu den Verbindlichkeiten zählen insbesondere dingliche Belastungen, Steuern, Nachlassverbindlichkeiten, Abwicklungskosten etc. Dabei gilt auch hier, dass Verbindlichkeiten über die Höhe des Vermögens hinaus abzuziehen sind, § 1374 Abs. 3 BGB.
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Beispiel: Der Ehemann hatte bei Eintritt in den Güterstand weder Schulden noch Vermögen. Während der Ehe nimmt er einen mit 50 000 Euro überschuldeten Nachlass an, sein Anfangsvermögen wird über § 1374 Abs. 2 und Abs. 3 BGB negativ. Sein Endvermögen beläuft sich auf 100 000 Euro. Er hat damit einen Zugewinn von 150 000 Euro erzielt. Die Ehefrau verfügte weder über Anfangs- noch Endvermögen. Der Ehefrau steht damit ein Zugewinnausgleichsanspruch von 75 000 Euro zu. Der für den Ehemann durch die Schuldentilgung erzielte wirtschaftliche Gewinn schlägt also auf den Zugewinn durch und ist mit der Ehefrau zu teilen. Nach der bis zum 31.8.2009 geltenden Regelung wäre das Anfangsvermögen des Ehemannes mit null anzusetzen gewesen, der Ehefrau hätte ein Zugewinnausgleichsanspruch von lediglich 50 000 Euro zugestanden, die Tilgungsleistung des Ehemanns wäre nicht berücksichtigt worden.
Maßgeblich für die Bewertung ist der Zeitpunkt des Erwerbs, danach er- 65 folgt eine Umrechnung auf die Verhältnisse zum Endstichtag (Indexierung1). Soweit mehrere Erwerbsvorgänge nach § 1374 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen sind, ist von jeweils gesonderten Bewertungszeitpunkten auszugehen. cc) Erwerb von Todes wegen oder mit Rücksicht auf künftiges Erbrecht (1) Erwerb von Todes wegen Durch den Zugewinnausgleich soll nicht die Beteiligung eines Ehegatten an den „Erbschaften“ (Erwerb von Vermögen von Todes wegen) des anderen herbeigeführt werden. Zum Vermögen, das ein Ehegatte nach Eintritt 1 Laut Klein, FuR 2010, 122, soll eine Indexierung des negativen Anfangsvermögens nicht vorzunehmen sein. Dagegen aber zutreffend Kogel, NJW 2010, 2025 und Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 62.
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Kap. 9 Rn. 67
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des Güterstands „von Todes wegen“ erwirbt, zählen neben der Erbschaft aufgrund gesetzlicher oder gewillkürter Erbfolge auch die Vorerbschaft, Vermächtnisse, Pflichtteilsansprüche, das aus einer Erbauseinandersetzung oder einem Erbschaftsstreit Erlangte sowie Abfindungen für einen Erbverzicht oder für eine Erbschaftsausschlagung. Beerbt ein Ehegatte den Gläubiger einer gegen ihn gerichteten Forderung („Konfusion“), liegt ein Erwerb von Todes wegen nach § 1374 Abs. 2 BGB vor1. Eine Vorerbschaft ist mit dem Nutzwert dem Anfangsvermögen hinzuzurechnen, den der Nachlass im Zeitpunkt des Erbfalles hat2. (2) Erwerb mit Rücksicht auf künftiges Erbrecht 67 Zuwendungen unter Lebenden, die im Vorgriff auf die erbrechtliche Lage erfolgen und insbesondere die Regelung der Vermögensverhältnisse nach dem Tod des Zuwendenden vorwegnehmen sollen3, sind dem Anfangsvermögen des Empfängers hinzuzurechnen. Beim Erwerb mit Rücksicht auf ein künftiges Erbrecht ist gerade typisch, dass der Erwerber eine Gegenleistung zu erbringen hat. Vollständige oder zumindest teilweise Unentgeltlichkeit ist nicht notwendig. Selbst wenn die vom Erwerber übernommenen Gegenleistungen den Wert der Zuwendung erreichen oder gar etwas überschreiten, kann es sich in Ausnahmefällen um einen „Erwerb mit Rücksicht auf ein künftiges Erbrecht“ handeln4. In der Praxis ist in solchen Fällen auf die konkreten Umstände des Einzelfalles abzustellen. Sogar dann, wenn dem Erwerb (aus steuerlichen Gründen oder zur Vermeidung von Pflichtteilsansprüchen) ein Kaufvertrag zugrunde liegt, kann § 1374 Abs. 2 BGB Anwendung finden5. 68 Räumt der Erwerber dem Zuwendenden einen Nießbrauch, ein Leibgedinge oder ein Wohnrecht ein und/oder verpflichtet sich gegenüber dem Übergeber zur Ausgleichszahlung an andere Erbberechtigte oder in sonstiger Weise (Übernahme von Belastungen, Pflegevereinbarung, Grabpflege, Beerdigungskosten etc.), so kann ein Fall des § 1374 Abs. 2 BGB gegeben sein. (3) Erhalt einer Lebensversicherungssumme als „Erwerb von Todes wegen“? 69 Erhält ein Ehegatte während des Güterstands Leistungen aus der Lebensversicherung eines verstorbenen Dritten, stellt dies keine Schenkung dar6. Der Zuwendende (Versicherer) hat als Gegenleistung die Prämien des Drit1 2 3 4 5 6
OLG Düsseldorf v. 7.10.1987 – 10 WF 212/87, FamRZ 1988, 287. Dazu Schwab, VII Rn. 48 mwN. BGH v. 27.6.1990 – XII ZR 95/89, FamRZ 1990, 1083. BGH v. 27.6.1990 – XII ZR 95/89, FamRZ 1990, 1083. BGH v. 1.2.1978 – IV ZR 142/76, FamRZ 1978, 334. Anders aber Schwab, VII Rn. 144, der hier – entgegen der Rspr. – eine Schenkung annimmt.
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Rn. 71
Kap. 9
ten erhalten. Es liegt auch kein Erwerb von Todes wegen vor, denn auf die Versicherungsleistung besteht ein Anspruch durch das Bezugsrecht, §§ 330 f. BGB. Im Ergebnis hat der BGH bei der Auszahlung einer Versicherungssumme nach dem Tod des Dritten in besonderen Konstellationen dennoch einen Fall des § 1374 Abs. 2 BGB angenommen und den Erwerb dem Anfangsvermögen des begünstigten Ehegatten zugeordnet, ohne eine Abgrenzung zwischen den beiden Varianten Erwerb „von Todes wegen“ oder „mit Rücksicht auf ein künftiges Erbrecht“ vorzunehmen1. Voraussetzung ist aber, dass zwischen dem bedachten Ehegatten und dem Zuwendenden eine besondere persönliche Beziehung und andererseits kein Zusammenhang mit der ehelichen Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft besteht. Der BGH sieht also nicht jede Auszahlung einer Lebensversicherung als Fall des § 1374 Abs. 2 BGB an, sondern begrenzt dies auf Ausnahmefälle. Zwischen dem Versicherten und dem Begünstigten muss eine enge, aber nicht notwendig verwandtschaftliche Beziehung bestehen.
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Wichtig: Werden Leistungen aus Lebensversicherungsverträgen gewährt, die aus wirtschaftlichen Gründen (zB Kreditsicherung, steuerliche Vorteile) abgeschlossen wurden, liegt ein Fall des § 1374 Abs. 2 BGB nicht vor. Der Tod des Versicherungsnehmers ist dort alleiniger äußerer Anlass für den Erwerbsvorgang. Eine enge persönliche Beziehung, die für die Tatbestandsmerkmale „Erwerb von Todes wegen oder mit Rücksicht auf ein künftiges Erbrecht“ gerade typisch ist, besteht hier nicht.
dd) Erwerb durch (gemischte) Schenkung (1) Schenkungsbegriff Im Rahmen des § 1374 Abs. 2 BGB ist der Schenkungsbegriff nach den 70 §§ 516 ff. BGB heranzuziehen2. Unentgeltliche Leistungen an einen Ehegatten werden dessen Anfangsvermögen hinzugerechnet. Unentgeltlichkeit liegt vor, wenn der Erwerb von einer ausgleichenden Gegenleistung des Erwerbers rechtlich nicht abhängig ist3. Im konkreten Einzelfall ist also immer zu prüfen, ob der Zuwendung eine wie auch immer geartete Leistung des begünstigten Ehegatten gegenübersteht. Leistungen des Arbeitgebers, auf die kein Anspruch besteht, stellen grundsätzlich keine Schenkung dar. Der begünstigte Ehegatte wird in diesem Falle regelmäßig für seine geleisteten und zukünftigen Dienste als Arbeitnehmer entlohnt, so dass Entgeltlichkeit gegeben ist4. 1 BGH v. 27.1.1988 – IVb ZR 13/87, FamRZ 1988, 593 und BGH v. 20.9.1995 – XII ZR 16/94, FamRZ 1995, 1562 mwN. 2 BGH v. 1.7.1987 – IVb ZR 70/86, FamRZ 1987, 910. 3 BGH v. 27.11.1991 – IV ZR 164/90, FamRZ 1992, 300 und BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 262/90, FamRZ 1992, 1160. 4 OLG München v. 7.12.1994 – 12 UF 1150/94, FamRZ 1995, 1069.
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Kap. 9 Rn. 72
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(2) Gemischte Schenkungen 72 Wird nur ein Teil der Leistung unentgeltlich zugewendet, für den anderen Teil aber eine Gegenleistung gewährt, liegt eine gemischte Schenkung vor. Entsprechend ist nur der unentgeltliche Teil, also die Differenz zwischen dem Verkehrswert und der Gegenleistung, dem Anfangsvermögen hinzuzurechnen1. Bleibt das Entgelt für die Leistung lediglich hinter dem Verkehrswert zurück, ohne dass nach dem Willen der Parteien ein Teil der Leistung unentgeltlich bleiben soll, so stellt dies noch keine gemischte Schenkung dar. ee) Hinzurechnung bei Schenkungen/Zuwendungen unter Ehegatten? 73 Im Rahmen des § 1374 Abs. 2 BGB stellt sich die Frage, ob auch Schenkungen der Ehegatten untereinander, die familienrechtlich regelmäßig als unbenannte oder ehebezogene Zuwendungen bezeichnet werden, dem Anfangsvermögen hinzuzurechnen sind. Dies wird aber unabhängig davon, ob es sich um unbenannte Zuwendungen oder echte (ausdrückliche) Schenkungen handelt, verneint2. Unentgeltliche Zuwendungen unter Ehegatten unterfallen auch dann nicht dem § 1374 Abs. 2 BGB, wenn sie mit Rücksicht auf ein künftiges Erbrecht erfolgt sind3. Dies gilt sowohl für Schenkungen wie für unbenannte Zuwendungen unter Ehegatten. Der Sinn der Norm ist dadurch gekennzeichnet, dass der Ehegatte des Erwerbers eines Vermögensgegenstands zu dessen privilegiertem (weil – auch – seinem Anfangsvermögen zuzurechnenden) Erwerb nichts beigetragen habe. Deshalb soll er auch an diesem Erwerb nicht über den Zugewinnausgleich partizipieren. Auf Zuwendungen, die ein Gatte dem anderen erbringe, trifft dieser Gedanke aber gerade nicht zu. 73a
Derartige Zuwendungen unterliegen also in vollem Umfang dem Zugewinnausgleich, können aber im Rahmen des § 1380 BGB zur Anrechnung kommen, vgl. dazu Rn. 235. ff) Schenkungen/Zuwendungen der Schwiegereltern
74 Zunächst hatte die Rechtsprechung die Ansicht vertreten, dass Zuwendungen, die ein Ehegatte während des Güterstands von seinen Schwiegereltern erhält und die der Ehegemeinschaft dienen sollen, keine Schenkungen darstellen. Nach der bis Ende Januar 2010 geltenden Rechtsprechung waren solche Zuwendungen nicht dem Anfangsvermögen nach § 1374
1 BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 262/90, FamRZ 1992, 1160; OLG Bamberg v. 20.7.1989 – 2 UF 202/88, FamRZ 1990, 408. 2 BGH v. 26.11.1981 – IX ZR 91/80, FamRZ 1982, 246 und BGH v. 20.5.1987 – IVb ZR 62/86, FamRZ 1987, 791; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 37; Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 125. 3 BGH v. 22.9.2010 – XII ZR 69/09, FamRZ 2010, 2057 = FamRB 2011, 1.
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Rn. 76
Kap. 9
Abs. 2 BGB hinzuzurechnen1, es handelte sich um Zuwendungen eigener Art. § 1374 Abs. 2 BGB fand keine Anwendung. Erstmals mit der Entscheidung v. 3.2.2010 hat der BGH2 diese Ansicht aufgegeben und in weiteren Entscheidungen3 fortgeführt. Schenkungen und Zuwendungen an das Schwiegerkind werden seither als Schenkungen nach § 516 BGB behandelt. Der BGH spricht von einer „ehebezogenen Schenkung“. Hierzu wird auch auf die Ausführungen in Kap. 10 unter Rn. 23 ff. verwiesen. Der Anspruch der Schwiegereltern ergibt sich damit über § 313 BGB, da sich die Schenkung der Schwiegereltern auf die Ehe des Kindes bezieht, diese also deren Geschäftsgrundlage bildet, die mit dem Scheitern der Ehe entfällt.
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75
Wichtig: Die Schenkung ist vom Schwiegerkind jedoch nicht in voller Höhe zurückzugeben, denn solange die Ehe bestand, wurde ihr Zweck erfüllt. Abschläge richten sich nach der Ehedauer und sind zu schätzen. Damit sich die Schenkung nicht einseitig zulasten des eigenen Kindes auswirkt, muss der Wert der Schenkung im Anfangsvermögen und im Endvermögen des begünstigten Schwiegerkindes in Ansatz gebracht werden. Dies geschieht im Anfangsvermögen und im Endvermögen durch Reduzierung des Werts der Schenkung in Höhe des Rückübertragungsanspruchs, mit dem das beschenkte Schwiegerkind belastet wird bzw. belastet sein könnte. Der Wert des von der Schenkung vorzunehmenden Abschlags kann also erst dann für das Anfangsvermögen ermittelt werden, wenn die Ehe gescheitert ist4.
Vor Änderung der Rechtsprechung waren solche Zuwendungen entspre- 76 chend den Grundsätzen der Rückabwicklung über die unbenannten Zuwendungen unter Ehegatten zu behandeln, und unterfielen somit dem Zugewinnausgleich. In diesen Altfällen, die von der Rechtsprechung bis zur Änderung ab Februar 2010 entschieden wurden, kamen die Zuwendungen dem Kind der zuwendenden Schwiegereltern auf diese Weise damit jedenfalls zur Hälfte zugute. Das eigene Kind partizipiert nach der neuen Rechtsprechung nun also nicht mehr über den Zugewinn zur Hälfte an der Schenkung/Zuwendung5. Die Schwiegereltern haben bei Schei1 Dazu die inzwischen überholte Rspr.: OLG Celle v. 27.3.2003 – 6 U 198/02, FamRZ 2003, 1657 = FamRB 2003, 278; BGH v. 12.4.1995 – XII ZR 58/94, FamRZ 1995, 1060 und BGH v. 28.10.1998 – XII ZR 255/96, FamRZ 1999, 365. 2 BGH v. 3.2.2010 – XII ZR 189/06, FamRZ 2010, 958, dazu: Kogel, FamRB 2010, 309 sowie Haußleiter/Schulz, 7, Rn. 5 ff. 3 BGH v. 21.7.2010 – XII ZR 180/09, FamRZ 2010, 1626 = FamRB 2010, 325 sowie BGH v. 20.7.2011 – XII ZR 149/09, FamRZ 2012, 273 m. Anm. Wever = FamRB 2012, 69. 4 Zutreffend weisen Haußleiter/Schulz, 7, Rn. 25 ff. darauf hin, dass damit der das Güterrecht beherrschende Grundsatz der Stichtagsbewertung durchbrochen wird. 5 Haußleiter/Schulz, 7, Rn. 19 ff.
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Kap. 9 Rn. 77
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tern der Ehe einen unmittelbaren Rückforderungsanspruch gegen das Schwiegerkind. 77 Verlangen nun, dh. auf Basis der seit Februar 2010 geltenden Rechtsprechung, die Schwiegereltern ihre Zuwendung vom Schwiegerkind zurück, so ist das Ergebnis des tatsächlich durchgeführten güterrechtlichen Ausgleichs zwischen den Eheleuten nach bisheriger Rechtsprechung („Altfälle“) ausnahmsweise in die Bewertung des Rückforderungsanspruchs der Schwiegereltern einzubeziehen. Es ist also zu berücksichtigen, dass die Hälfte der Zuwendung (auf Basis der bisherigen Rechtsprechung) bereits dem eigenen Kind zugeflossen ist. Daneben ist auch die Dauer der Ehe des Schwiegerkindes mit dem eigenen Kind zu würdigen, zumal in dieser Zeit der Zweck der Zuwendung (Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft des Kindes) erfüllt wurde1.
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Wichtig: Berufen sich die Schwiegereltern auf die seit dem 3.2.2010 geänderte Rechtsprechung des BGH und fordern beim Familiengericht2 einen Teilbetrag der Zuwendung vom Schwiegerkind zurück, obwohl die Ehe des Kindes bereits lange vorher gescheitert ist, ergeben sich Verjährungsprobleme. Richtig erscheint es, den Beginn der Verjährung des Anspruchs der Schwiegereltern für Altfälle auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung der Entscheidung des BGH v. 3.2.2010 festzusetzen3. Nach § 199 Abs. 1 BGB beginnt die Verjährung damit mit dem Schluss des Jahres 2010, so dass die dreijährige Verjährungsfrist nach § 195 BGB für diese „Altfälle“ zum 31.12.2013 abläuft. Sieht man den Ausgleichsanspruch als „Gegenleistung“ im Falle der Übertragung eines Grundstücks an, so gilt bei Grundstücksschenkungen der Schwiegereltern gegenüber dem Schwiegerkind die Verjährungsfrist von 10 Jahren nach § 196 BGB.
78–79
Einstweilen frei
1 Haußleiter/Schulz, 7, Rn. 15 f. nehmen an, dass bei einer zehnjährigen Ehe (bis zum Zeitpunkt der Trennung) das Schwiegerkind nicht mehr als die Hälfte des Werts der Zuwendung an die Schwiegereltern erstatten muss. In den sog. Altfällen führte dies dann dazu, dass kein Rückforderungsanspruch der Schwiegereltern mehr bei einer Ehedauer von mindestens 10 Jahren besteht, wenn zuvor nach der bisherigen Rspr. zwischen den Eheleuten der güterrechtliche Ausgleich der Zuwendung der Schwiegereltern bereits hälftig erfolgt ist. 2 Die Familiengerichte sind seit dem 1.9.2009 für das Verfahren über den Rückgewähranspruch der Schwiegereltern gegen das Schwiegerkind zuständig, denn es handelt sich dabei um Familienstreitsachen nach §§ 112 Nr. 3 i.V.m. 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG. 3 Die Entscheidung des BGH v. 3.2.2010 – XII ZR 189/06, FamRB 2010, 197 wurde in der FamRZ am 15.6.2010 (Heft 12 = FamRZ 2010, 958) veröffentlicht. So auch Haußleiter/Schulz, 7, Rn. 41 ff.
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Rn. 84
Kap. 9
gg) Ausstattung Der Begriff der Ausstattung ist in § 1624 Abs. 1 BGB definiert. Danach liegt eine Ausstattung vor, wenn dem Ehegatten von einem Elternteil eine Zuwendung „mit Rücksicht auf seine Verheiratung oder auf die Erlangung einer selbständigen Lebensstellung zur Begründung oder zur Erhaltung der Wirtschaft oder der Lebensstellung“ gemacht wird.
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Selbst wenn eine Verpflichtung zur Zuwendung nicht bestand, gilt die Ausstattung nach § 1624 Abs. 1 BGB nur dann als Schenkung, wenn die Zuwendung das den Umständen, insbesondere den Vermögensverhältnissen des Vaters oder der Mutter, entsprechende Maß übersteigt, also übermäßig erscheint.
81
Beispiele: – Überweisen die Eltern eines Ehegatten 50 000 Euro auf das gemeinsame Konto der Eheleute, so kann dies unter Bezugnahme auf § 2050 Abs. 1 BGB (Ausgleichspflicht der Abkömmlinge bei einer Ausstattung) als Ausstattung des Kindes angesehen werden. Eine Schenkung an das Kind und dessen Ehepartner liegt dann nicht vor1. Die Zurechnung hat somit zum Anfangsvermögen des Kindes nach § 1374 Abs. 2 BGB zu erfolgen. – Wird der gleiche Betrag einem Kind zur Existenzgründung zur Verfügung gestellt, ist er ebenfalls dem Anfangsvermögen hinzuzurechnen, weil er der Begründung einer eigenen wirtschaftlichen Existenz dient. Zuwendungen für eine teure Reise, die Kosten einer Kfz-Reparatur oder auch zu Weihnachten sind dagegen den Einkünften zuzurechnen und deshalb nicht privilegiert.
Aussteuergegenstände, die von den Eltern ihrem Kind anlässlich der Hochzeit oder sonst während der Ehezeit zugewendet werden, sind – selbst wenn sie als Haushaltsgegenstand anzusehen sind – dem Anfangsvermögen des Kindes hinzuzurechnen2.
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hh) Streitige Sonderfälle und Analogiefähigkeit Streitig ist, wie sonstige Leistungen, die in keinem Zusammenhang mit 83 der ehelichen Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft stehen und die ein Ehegatte während des Güterstands erhält, behandelt werden. So beruhen Schmerzensgelder und Abfindungen für Schadenersatz- oder Witwenrenten, die an einen Ehegatten geleistet werden, oder ein Lotteriegewinn schon ihrer Art nach nicht auf einer gemeinsamen Lebensleistung der Ehegatten. Die Rechtsprechung sieht in der Ausnahmevorschrift des § 1374 Abs. 2 84 BGB (Erwerb von Todes wegen, Erwerb mit Rücksicht auf ein künftiges Erbrecht, Schenkung oder Ausstattung) eine abgeschlossene Regelung,
1 AG Stuttgart v. 25.2.1998 – 23 F 1157/97, FamRZ 1999, 655. 2 OLG Celle v. 29.12.1998 – 19 UF 178/95, FamRZ 2000, 226.
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Kap. 9 Rn. 85
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die nicht analogiefähig ist1. Der Grund für die dort genannten Zuwendungen liegt in der persönlichen Beziehung zwischen dem Zuwendenden und dem bedachten Ehegatten2. Nach der Rechtsprechung kann eine Korrektur allenfalls über die Ausnahmevorschrift des § 1381 BGB erfolgen. Die Rechtsprechung zu dieser Vorschrift ist äußerst restriktiv3. Resultate, die auf der konsequenten Gesetzesanwendung beruhen, sind nicht grob unbillig. Auch wenn Ergebnisse im Einzelfall ungerecht erscheinen, müssen sie grundsätzlich hingenommen werden. Im Interesse der Rechtssicherheit muss das starre System des Zugewinnausgleichsrechts, selbst wenn es im Einzelfall zu unbilligen Ergebnissen führt, aufrechterhalten werden4. 85 In der Literatur wird dagegen die Analogiefähigkeit des § 1374 Abs. 2 BGB bejaht und die strenge Ansicht des BGH jedenfalls im Hinblick auf die Nichtberücksichtigung von Schmerzensgeldern als privilegierter Erwerb stark kritisiert5. Mit den zum 1.9.2009 in Kraft getretenen Neuregelungen zum Zugewinnausgleich, die gerade keine Erweiterung des § 1374 Abs. 2 BGB auf weitere „ehefremde“ Erwerbsvorgänge vorgesehen haben, obwohl eine entsprechende Erweiterung von der Literatur6 seit Jahren gefordert wurde, dürfte sich der Gesetzgeber für die Ansicht des BGH (Nichtberücksichtigung) entschieden haben. 4. Endvermögen a) Begriff 86 Endvermögen ist das Vermögen, das einem Ehegatten nach Abzug der Verbindlichkeiten bei der Beendigung des Güterstands gehört, § 1375 1 Erstmals BGH v. 22.12.1976 – IV ZR 11/76, FamRZ 1977, 124; vgl. auch BGH v. 27.5.1981 – IVb ZR 577/80, FamRZ 1981, 755 und BGH v. 29.10.1981 – IX ZR 94/80, FamRZ 1982, 148 (Schmerzensgeldansprüche); auch BGH v. 29.10.1981 – IX ZR 94/80, FamRZ 1982, 148 (Abfindung für Schadenersatzrente) und BGH v. 29.10.1981 – IX ZR 86/80, FamRZ 1982, 147 (Abfindung für Witwenrente); von diesen Grundsätzen abweichend BGH v. 14.12.1994 – XII ZR 108/93, FamRZ 1995, 289 (Heiratserstattung nach § 1304 RVO aF), ohne aber die bisherige Rspr. aufzugeben. 2 Muscheler, FamRZ 1998, 265. 3 Vgl. BGH v. 26.3.1980 – IV ZR 193/78, FamRZ 1980, 768 und BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 262/90, FamRZ 1992, 787. 4 BGH v. 11.12.2002 – XII ZR 27/00, FamRZ 2003, 432 = FamRB 2003, 173; vgl. dazu auch die Anm. von Schröder, FamRZ 2003, 434 und Kogel, FamRZ 2004, 1614. Grobe Unbilligkeit nach § 1381 BGB bejahte das OLG Stuttgart v. 29.3.2001 – 11 UF 331/00, FamRZ 2002, 99 bei einer Ausgleichsforderung, die sich aufgrund von Schmerzensgeldzahlungen nebst Abfindung für künftigen Verdienstausfall ergibt und der künftigen Absicherung des geschädigten Ausgleichspflichtigen dienen sollte, so dass der Ausgleichsanspruch gekürzt wurde. 5 Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1374 BGB Rn. 36; Herr, NJW 2008, 262; Haußleiter/ Schulz, 1, Rn. 50; Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 715; Schwab, VII Rn. 162 und Koch, FamRZ 2008, 1124 (1129); Hoppenz, FamRZ 2008, 1889 (1891). 6 Ausführlich Koch, in Schwab/Hahne, Familienrecht im Brennpunkt, 2004, 139.
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Rn. 87
Kap. 9
Abs. 1 BGB. Das Endvermögen ist die Differenz des Werts der Aktiva und Passiva des Ehegatten zum maßgeblichen Bewertungszeitpunkt. Die wertmäßige Ermittlung erfolgt nach denselben Grundsätzen wie beim Anfangsvermögen. Zum maßgeblichen Zeitpunkt („Beendigung des Güterstands“) für das Endvermögen s. Rn. 50 ff. Bei der Beendigung durch Ehescheidung ist nach § 1384 BGB der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags maßgebend. Nach § 1375 Abs. 1 S. 2 BGB sind Verbindlichkeiten über die Höhe des 87 Vermögens hinaus abzuziehen. Das Endvermögen kann also auch negativ sein. Durch diese seit dem 1.9.2009 geltende Regelung werden die Fälle erfasst, in denen ein bei Eheschließung verschuldeter Ehegatte wirtschaftlich einen Zugewinn erzielt hat, obwohl er auch am Endstichtag noch Schulden hat. Es wird also der Tilgungsgewinn erfasst, der in der Reduzierung der Verbindlichkeit liegt. Insbesondere kann dadurch, dh. durch die Berücksichtigung des negativen Endvermögens und damit der Schuldentilgung auch ein Ausgleichsanspruch gegen den anderen Ehegatten entfallen oder aber deutlich reduziert werden. Beispiel 1: Der Ehemann hatte bei Eheschließung 120 000 Euro Schulden und vermindert sie bis zum Endstichtag auf 70 000 Euro. Sein Zugewinn beträgt 50 000 Euro, sein Endvermögen bleibt aber im Minus (– 70 000 Euro). Hat die Ehefrau in der gleichen Zeit einen Zugewinn von 80 000 Euro erzielt, steht dem Ehemann damit ein Zugewinnausgleichsanspruch gegen die Ehefrau von 15 000 Euro zu. Die Schuldentilgung des Ehemannes wird also gegenüber der Ehefrau über die Berechnung des Ausgleichsanspruchs zur Hälfte berücksichtigt. Nach der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage1 konnte weder das Anfangsvermögen noch das Endvermögen des Ehemannes negativ sein, dieses war daher jeweils mit null anzusetzen. Da der Ehemann nach der früheren Rechtslage keinen Zugewinn erzielt hat, hatte er einen Zugewinnausgleichanspruch iHv. 40 000 Euro. Seine Schuldentilgung von 50 000 Euro, die gerade einen wirtschaftlichen Gewinn darstellt, fand also zugewinnausgleichsrechtlich keine Berücksichtigung. Beispiel 2: Der Ehemann hatte bei Eheschließung 100 000 Euro Schulden und vermindert sie bis zum Endstichtag auf 20 000 Euro. Sein Zugewinn beträgt 80 000 Euro, sein Endvermögen bleibt aber im Minus (– 20 000 Euro). Die Ehefrau hat in der gleichen Zeit einen Zugewinn von 60 000 Euro erzielt. Zwar hat der Ehemann damit einen um 20 000 Euro höheren Zugewinn erzielt, der gegenüber der Ehefrau mit 10 000 Euro auszugleichen wäre. Nach § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB (Begrenzung auf den Wert des Vermögens, das zum Endstichtag nach Abzug der Verbindlichkeiten vorhanden ist) besteht aber kein Ausgleichsanspruch der Ehefrau. Nach der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage war die Schuldentilgung des Ehemanns überhaupt nicht zu berücksichtigen, da weder sein Endvermögen noch sein Anfangsvermögen negativ sein konnten, sondern jeweils mit null anzusetzen waren. Auf die Bestimmung des § 1378 Abs. 2 BGB kam es also gar nicht an. Der Ehemann hatte keinen Zugewinn erzielt und damit nach alter Rechtslage einen
1 Zu den Übergangsregelungen, vgl. Kogel, FamRB 2009, 218 f.
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Kap. 9 Rn. 88
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Zugewinnausgleichanspruch iHv. 30 000 Euro gegen die Ehefrau. Seine Schuldentilgung von 80 000 Euro, die gerade einen wirtschaftlichen Gewinn darstellt, fand also zugewinnausgleichsrechtlich überhaupt keine Berücksichtigung. Nach den seit dem 1.9.2009 geltenden Reglungen partizipiert die Ehefrau in diesem Fallbeispiel zwar über den Ausgleichsanspruch nicht zur Hälfte (40 000 Euro) an der Schuldentilgung des Ehemanns, da ihr wegen § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB kein Ausgleichsanspruch zusteht. Sie ist aber in jedem Falle nicht zum Ausgleich gegenüber dem Ehemann verpflichtet, wie dies nach der früheren Rechtslage der Fall war. Auch wenn sie nach der jetzigen Rechtslage wegen § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB keinen Ausgleichsanspruch hat, so wird sie gegenüber der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage zumindest um 30 000 Euro besser gestellt. Beispiel 3: Der Ehemann hatte bei Eheschließung 100 000 Euro Schulden und vermindert diese bis zum Endstichtag auf 20 000 Euro. Sein Zugewinn beträgt 80 000 Euro, sein Endvermögen bleibt aber im Minus (– 20 000 Euro). Die Ehefrau verfügt weder über Anfangsvermögen noch über Endvermögen, hat also keinen Zugewinn erzielt. Zwar hat der Ehemann damit einen um 80 000 Euro höheren Zugewinn erzielt, der gegenüber der Ehefrau mit 40 000 Euro auszugleichen wäre. Nach § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB (Kappungsgrenze) besteht aber kein Ausgleichsanspruch der Ehefrau (ausgenommen die Fälle, auf die die §§ 1375 Abs. 2 S. 1, 1378 Abs. 2 S. 2 BGB Anwendung finden). Im Ergebnis hat sich hier gegenüber der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage nichts geändert. Denn sowohl nach den bis zum 31.8.2009 als auch nach den seit dem 1.9.2009 geltenden Vorschriften steht der Ehefrau kein Zugewinnausgleichsanspruch zu, obwohl der Ehemann seine Vermögenslage während der Ehezeit um 80 000 Euro verbessert hat.
b) Illoyale Vermögensminderungen 88 Voraussichtlich zugewinnausgleichspflichtige Ehegatten versuchen während der Trennungsphase häufig, ihr Vermögen durch „Manipulation“ zu vermindern und den Ausgleichsanspruch des anderen Ehegatten zu schmälern. Dem soll § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB entgegenwirken, der unter bestimmten Voraussetzungen eine Hinzurechnung nicht mehr vorhandener Vermögenswerte zum Endvermögen vorsieht. Der andere Ehegatte ist betragsmäßig so zu stellen, als ob die vermögensmindernde Handlung nicht erfolgt wäre.
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Wichtig: Bei der Hinzurechnung müssen die Passiva neben den Aktiva im Endvermögen berücksichtigt werden. Ergibt sich zB ein Endvermögen des Ehemannes von – 30 000 Euro und hat er während der Ehezeit 20 000 Euro verschwendet, so ist sein Endvermögen unter Berücksichtigung der Hinzurechnung mit – 10 000 Euro anzusetzen. Auch für die Hinzurechnung ist also der ggf. negative Wert des Endvermögens maßgeblich.
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Rn. 92
Kap. 9
aa) Unentgeltliche Zuwendungen Dem Endvermögen kann der Gesamtbetrag unentgeltlicher Zuwendun- 89 gen hinzugerechnet werden, die vom Ehegatten nach Eintritt des Güterstands bis zum Endstichtag vorgenommen wurden und die nicht einer „sittlichen Pflicht“ oder einer „auf den Anstand zu nehmenden Rücksicht“ entsprochen haben, § 1375 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Unentgeltlich ist jede Vermögensverfügung, bei der der durch sie bewirkten Verminderung des Vermögens keine Gegenleistung gegenübersteht1. Daneben müssen sich die Parteien über die Unentgeltlichkeit der gesamten Zuwendung oder eines Teils (gemischte Schenkung) einig sein. Jedenfalls bei einem groben Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung ist von einer gemischten Schenkung auszugehen. Von der Vorschrift werden also in erster Linie Schenkungen nach § 516 BGB erfasst. Aus § 1375 Abs. 3 BGB („wenn der andere Ehegatte mit der Zuwendung einverstanden gewesen ist“) ergibt sich jedoch, dass Schenkungen der Ehegatten untereinander nicht dazugehören. Ausstattungen und Vermögensübertragungen an Verwandte mit Rücksicht auf ein künftiges Erbrecht, Spenden und Stiftungen unterfallen dagegen der Kategorie der unentgeltlichen Zuwendungen, werden allerdings idR ebenfalls vom Einverständnis des Ehegatten gedeckt sein.
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Pflicht- und Anstandsschenkungen (vgl. dazu auch §§ 534, 814, 1641 BGB) 91 werden jedoch von der Hinzurechnung ausgenommen. Insoweit ist auf den konkreten Einzelfall, insbesondere die Vermögens- und Lebenssituation, persönliche Beziehungen und die soziale Stellung der Beteiligten, abzustellen. Da § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB eine Ausnahmevorschrift ist, dürfen diese Begriffe nicht zu eng ausgelegt werden. Sogar Schenkungen eines Mannes an die mit ihm in nichtehelicher Gemeinschaft lebende Frau können einer sittlichen Pflicht entsprechen2. Gerade Schenkungen und Ausstattungen der Ehegatten an Kinder oder nahe Angehörige und an karitative Einrichtungen oder zur Errichtung von Stiftungen sind daher – soweit sie sich in angemessenem Umfang halten und nicht zu einer gravierenden Verschlechterung der Position des anderen Ehegatten führen – zu den Pflichtund Anstandsschenkungen zu zählen. War der andere Ehegatte mit der Zuwendung einverstanden oder sind seither zehn Jahre vergangen, wird der Betrag nicht dem Endvermögen zugerechnet, § 1378 Abs. 3 BGB. bb) Verschwendung Verschwendet ein Ehegatte zwischen dem Anfangs- und Endstichtag Ver- 92 mögen, so ist der der Verschwendung entsprechende Betrag seinem Endvermögen nach § 1375 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB hinzuzurechnen. Auch der Begriff der Verschwendung ist eng auszulegen. Der Ehegatte muss unnütz und ziellos Geldbeträge verausgabt oder in einem Maße über andere Ver1 BGH v. 9.4.1986 – IVb ZR 14/85, FamRZ 1986, 565. 2 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 91.
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Kap. 9 Rn. 93
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mögensgegenstände verfügt haben, das in keiner Relation zu seinen Einkommens- oder Vermögensverhältnissen steht1. Die Vermögensminderung muss völlig unvernünftig gewesen sein. Dabei müssen neben der wirtschaftlichen Seite auch die psychischen Ursachen und die Motivation berücksichtigt werden2. Subjektive Gründe können unsinnigen Geldausgaben den Charakter einer Verschwendung nehmen3. Allein ein großzügiger Lebensstil oder das Leben über die üblichen Verhältnisse reicht dazu nicht aus4. Tritt jedoch ein plötzlicher Wandel des Lebensstils von einem bisher eher zurückhaltenden Konsumverhalten zu einem recht freizügigen und spendablen Ausgabeverhalten ein, so liegt die Annahme einer Verschwendung nahe5. cc) Benachteiligungsabsicht 93 Der in der Praxis häufigste Fall ist die Vermögensminderung in der Absicht, den anderen Ehegatten zu benachteiligen. Diese Vermögensminderung ist dem Endvermögen gem. § 1375 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB dann wieder zuzurechnen. Der Begriff „Handlungen“ ist i.S.d. Vorschrift weit zu verstehen und umfasst neben Tathandlungen (zB Zerstörungsakte) auch Rechtsgeschäfte (zB Eingehen von Verbindlichkeiten); es ist also gleichgültig, ob sich die Vermögenseinbuße aus einer Minderung des vorhandenen Vermögens oder aus einer Mehrung der Schulden (zB unvernünftige Aufnahme eines Darlehens) ergibt. Die Absicht, den anderen zu benachteiligen, muss das leitende Motiv, nicht aber notwendig der einzige Anlass des Handelns gewesen sein. dd) Bewertung der dem Endvermögen hinzuzurechnenden Vermögensminderungen 94 Eine dem Endvermögen hinzuzurechnende Vermögensminderung wird mit dem Wert zugrunde gelegt, den sie zum Zeitpunkt ihres Eintritts hatte, § 1376 Abs. 2 BGB. Dabei ist es unerheblich, wie sich das Vermögen entwickelt hätte (zB Zinsen einer Geldsumme oder Untergang eines verschenkten Gegenstandes), wäre die den anderen Ehegatten beeinträchtigende Handlung nicht erfolgt. Der nach § 1376 Abs. 2 BGB ermittelte 1 OLG Düsseldorf v. 8.4.1981 – 3 WF 44/81, FamRZ 1981, 806; OLG Karlsruhe v. 17.10.1985 – 2 UF 129/84, FamRZ 1986, 167; OLG Rostock v. 19.1.1999 – 8 WF 295/98, FamRZ 2000, 228. 2 OLG Schleswig v. 1.9.1986 – 15 UF 297/85, FamRZ 1986, 1208, was vom OLG Rostock v. 19.1.1999 – 8 WF 295/98, FamRZ 2000, 228, allerdings abgelehnt wird, wenn der Ehegatte – aus welchen Gründen auch immer – Bargeld verbrennt. 3 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 95 mit Beispielen aus der Rspr. Nach anderer Auffassung sind jedoch die Ursachen und Motive des Handelns unbeachtlich und es kommt nur darauf an, ob die Ausgabe objektiv unnütz und übermäßig ist, vgl. Schwab, VII Rn. 185. 4 BGH v. 19.4.2000 – XII ZR 62/98, FamRZ 2000, 948. 5 Vgl. Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 178.
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Rn. 97
Kap. 9
Wert ist zum Ausgleich des Kaufkraftschwunds entsprechend den Regeln für die Indexierung des Anfangsvermögens auf den Endstichtag hochzurechnen1. ee) Keine Analogiefähigkeit Die in § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB beschriebenen Fallgruppen des illoyalen Verhaltens eines Ehegatten nach Eintritt des Güterstands bis zum Endstichtag, also in den meisten Fällen dem Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags (§ 1384 BGB), sind abschließend2.
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ff) Zeitliche Grenze und gebilligte Vermögensminderungen (1) Zeitablauf Die Zurechnungen nach § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB sind zeitlich begrenzt: Ist 96 die Vermögensminderung mindestens zehn Jahre vor Beendigung des Güterstands eingetreten, so wird der entsprechende Betrag dem Endvermögen nicht hinzugerechnet, § 1375 Abs. 3 BGB. Im Falle der Scheidung ist nach § 1384 BGB auf mindestens zehn Jahre vor Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags abzustellen. Dabei ist die Rechtshängigkeit desjenigen Scheidungsantrags maßgebend, der das Scheidungsverfahren eingeleitet hat, auch wenn dieser Antrag zurückgenommen oder abgewiesen wurde und die Ehe auf den Gegenantrag geschieden wurde3. Als vermögensmindernder Akt ist bereits das Verpflichtungs- und nicht das Verfügungsgeschäft maßgebend, sofern das Verpflichtungsgeschäft (form)wirksam war4. (2) Vom anderen Ehegatten gebilligte Vermögensminderungen Ist der andere Ehegatte mit der unentgeltlichen Zuwendung oder der Ver- 97 schwendung – ausdrücklich oder stillschweigend – einverstanden, unterbleibt eine Hinzurechnung, § 1375 Abs. 3 BGB. Insbesondere dann, wenn der andere Ehegatte an der Verschwendung beteiligt war oder bei einer unentgeltlichen Zuwendung aus den Gesamtumständen seine Billigung zu entnehmen war, ist sein Einverständnis anzunehmen. Die bloße Duldung durch unterbliebenen Widerspruch oder reines Schweigen reichen dazu aber nicht aus. Zwar ist die Benachteiligungsabsicht nach § 1375 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB in § 1375 Abs. 3 BGB nicht aufgeführt, an ihr fehlt es aber denkbegrifflich schon, wenn der andere Ehegatte mit der Handlung einverstanden war. Auch dann hat eine Hinzurechnung zu unterbleiben. Eine Billigung kann allerdings nur deshalb, weil der andere Ehe1 Schwab, VII Rn. 180. 2 OLG Karlsruhe v. 17.10.1985 – 2 UF 129/84, FamRZ 1986, 167 mwN; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 87; Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1375 BGB Rn. 29. 3 BGH v. 22.5.1996 – XII ZR 14/95, FamRZ 1996, 1142. 4 Schwab, VII Rn. 188.
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Kap. 9 Rn. 98
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gatte nicht ernstlich oder nachdrücklich widersprochen hat (zB aus Furcht vor einem Ehestreit), nicht angenommen werden1. c) Beweislast für das Endvermögen und illoyale Vermögensminderungen aa) Beweislast für das Endvermögen 98 Die Darlegungs- und Beweislast für die Höhe des jeweiligen Endvermögens trägt der Anspruchsteller. Er muss also sämtliche anspruchsbegründenden Tatsachen, wie den Wert der einzelnen Gegenstände im jeweiligen Endvermögen und die Aktiva und Passiva beider Eheleute, sowie auch das Nichtvorhandensein von Passiva im Endvermögen des Gegners, darlegen und ggf. beweisen2. Die Beweisnot für die Führung des Negativbeweises über Verbindlichkeiten des Anspruchsgegners (Abwesenheit von Passiva) wird dadurch gelindert, dass es die Rechtsprechung genügen lässt, wenn der konkrete Sachvortrag des Gegners zu Verbindlichkeiten durch den Antragsteller widerlegt wird3. Dem Verfahrensgegner obliegt dann die sog. sekundäre Behauptungslast, wenn der darlegungspflichtige Beteiligte außerhalb des von ihm darzulegenden Geschehensablaufs steht und keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen besitzt, während der Gegner sie hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind4. 99 In der Praxis führen diese Regeln im Ergebnis dazu, dass jede Partei die Aktiva im Endvermögen des anderen Ehegatten sowie die Passiva im eigenen Endvermögen darlegt und beweist5. bb) Beweislast für illoyale Vermögensminderungen 100
Seit dem 1.9.2009 gilt die Beweislastregel in § 1375 Abs. 2 S. 2 BGB, die den Schutz vor illoyalen Vermögensminderungen ergänzt: Ist das Endvermögen eines Ehegatten, also im Falle der Ehescheidung das Vermögen bei Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags (§ 1384 BGB), geringer als das Vermögen, das er bei der Auskunft zum Trennungszeitpunkt angegeben hat, so muss der Ehegatte die Vermögensminderung nachvollziehbar darlegen und ggf. auch beweisen. Gelingt ihm das nicht, so wird vermutet, dass eine illoyale Vermögensminderung i.S. des Satzes 1 vorliegt, und der Differenzbetrag wird dem Endvermögen hinzugerechnet.
101
Die Beweislastregel in § 1375 Abs. 2 S. 2 BGB korrespondiert mit den Auskunftsansprüchen nach § 1379 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Abs. 2 BGB über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung, vgl. dazu auch Rn. 186 ff. 1 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 99. 2 BGH v. 1.10.1986 – IVb ZR 69/85, FamRZ 1986, 1196; OLG Hamm v. 11.4.1996 – 4 UF 454/95, FamRZ 1997, 87; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 100 ff. 3 BGH v. 26.4.1989 – IVb ZR 48/88, FamRZ 1989, 954; OLG Hamm v. 11.4.1996 – 4 UF 454/95, FamRZ 1997, 87. 4 BGH v. 18.2.2009 – XII ZR 163/07, FamRZ 2009, 849 = FamRB 2009, 209. 5 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 101.
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Rn. 104
Kap. 9
Wichtig: Um sich die Möglichkeiten des erleichterten Nachweises der illoyalen Vermögensminderungen offen zu halten, hat der Rechtsanwalt eines Ehegatten den anderen Ehegatten zur Auskunftserteilung über dessen Vermögen zum Trennungszeitpunkt unverzüglich nach der Trennung bzw. unverzüglich nach Mandatsübernahme eines getrenntlebenden Ehegatten aufzufordern. Der Anspruch auf Auskunftserteilung zu einem solch frühen Zeitpunkt ergibt sich aus § 1379 Abs. 2 S. 1 BGB, bezieht sich aber nur auf den Trennungszeitpunkt, nicht auf den Anfangsstichtag. Im Gegensatz zu den Auskunftsansprüchen nach § 1379 Abs. 1 S. 1 BGB kommt es also nicht auf die Rechtshängigkeit des jeweiligen prozessualen Antrags an.
Ist ein Gegenstand, der in der Auskunft über das Vermögen zum Tren- 102 nungszeitpunkt noch vorhanden war, zum Endstichtag nicht mehr vorhanden oder hat sich das Guthaben in diesem Zeitraum erheblich verringert, so hat der Ehegatte darzulegen und notfalls auch zu beweisen, was mit diesem Gegenstand bzw. dem zuvor vorhandenen Guthaben bis zum Endstichtag geschehen ist. Kann der Ehegatte diesen Nachweis nicht führen, so wird der Wert des Guthabens bzw. des Gegenstandes dem Endvermögen des Ehegatten zugerechnet, § 1375 Abs. 2 S. 2 BGB.
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Wichtig: Damit sich der eigene Mandant nicht der schwer zu entkräftenden Behauptung der illoyalen Vermögensminderungen zwischen Trennung und Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens ausgesetzt sieht, hat der Rechtsanwalt ihn dazu anzuhalten, Ausgaben und Vermögensminderungen durch Belege und Bestätigungen zu dokumentieren.
Nach dem Willen des Gesetzgebers erfasst diese Beweislastregel jedoch 103 nicht jene Fallkonstellationen, bei denen die Auskunft über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung unvollständig oder unwahr ist1. Es werden also von der Beweislastregel nur solche Vermögensgegenstände erfasst, die der Ehegatte auch tatsächlich bei seiner Auskunft zum Zeitpunkt der Trennung angegeben hat und die er in seinem Vermögen zum Endstichtag dann nicht mehr aufführt. Hat der die Auskunft begehrende Ehegatte Zweifel an der Richtigkeit 104 und der Vollständigkeit der Angaben in der Auskunft über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung, so muss er dies substantiiert darlegen und gleichzeitig behaupten, dass bis zum Endstichtag eine illoyale Vermögensminderung des anderen Ehegatten vorliegt. Der andere Ehegatte muss sich dann nach den allgemeinen Darlegungs- und Beweislastregeln
1 BT-Drucks. 16/13027, S. 10; Brudermüller, FamRZ 2009, 1185 (1187).
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Kap. 9 Rn. 105
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erklären, andernfalls wird die behauptete Tatsache als zugestanden anzusehen sein1.
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Wichtig: Hat der Rechtsanwalt Zweifel an der Richtigkeit und der Vollständigkeit der Angaben des anderen Ehegatten in der Auskunft über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung, so sollten diese Zweifel nicht erst bei der Geltendmachung des Auskunftsanspruchs zum Endvermögen bzw. bei der Geltendmachung der Zugewinnausgleichsforderung angemeldet, sondern unverzüglich nach Erhalt der Auskunft über das Vermögen zum Trennungszeitpunkt gegenüber dem anderen Ehegatten dokumentiert werden.
Û
Praxistipp: Bei Vermögensminderungen, die zwischen dem Anfangsstichtag und dem Zeitpunkt der Trennung erfolgt sind, gilt zwar die Vermutung des § 1375 Abs. 2 S. 2 BGB nicht. Der Ehegatte, der sich auf illoyale Vermögensminderungen während des Zeitraums vor der Trennung beruft, muss daher Anhaltspunkte für ein Handeln i.S.d. § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB darlegen. Daran dürfen aber keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden. Ausreichend ist die Schilderung von Umständen, aus denen sich ein Verdacht illoyaler Vermögensminderungen ergibt2. Es liegt dann an dem anderen Ehegatten, diesen Verdacht zu entkräften.
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Für die Rückausnahme des § 1375 Abs. 3 BGB (Zehn-Jahres-Frist bzw. Einverständnis des anderen Ehegatten) ist der Ehegatte, der sich darauf beruft, der also sein Vermögen vermindert hat, beweispflichtig3.
1 Schon vor Einführung des Auskunftsanspruchs über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung nach § 1379 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Abs. 2 BGB und der damit seither einhergehenden Beweislastregel nach § 1375 Abs. 2 S. 2 BGB wurde beim Verdacht illoyaler Vermögensminderungen ein ergänzender Auskunftsanspruch aus § 242 BGB hergeleitet, der auf einzelne Sachverhalte beschränkt war, die den Verdacht einer illoyalen Vermögensminderung nahe legen. Voraussetzung für einen solchen Ausnahmefall war, dass vom Berechtigten konkrete Anhaltspunkte für ein Handeln nach § 1375 Abs. 2 BGB vorgetragen werden, BGH v. 9.2.2005 – XII ZR 93/03, FamRZ 2005, 689. Diese Grundsätze sind auch nach der nunmehrigen Gesetzeslage auf Sachverhalte zu übertragen, bei denen der Verdacht illoyaler Vermögensminderungen besteht, die schon vor der Trennung erfolgt sind und für den Fall, dass Zweifel an der Richtigkeit und der Vollständigkeit über die Vermögensangaben zum Trennungszeitpunkt substantiiert behauptet werden. 2 BGH v. 19.4.2000 – XII ZR 62/98, FamRZ 2000, 948; OLG Köln v. 21.12.1998 – 27 WF 133/98, FamRZ 1999, 1071; OLG Bremen v. 14.11.1997 – 4 UF 62/97, FamRZ 1999, 94; OLG Köln v. 15.3.2004 – 12 WF 16/04, FamRZ 2004, 1584. 3 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 104.
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Rn. 109
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IV. Vermögensbegriff, Verbindlichkeiten und einzelne Vermögensgegenstände 1. Vermögensbegriff In das Anfangs- und das Endvermögen ist zum jeweiligen Stichtag das gesamte vorhandene Vermögen des jeweiligen Ehegatten einzustellen. Eine Ausnahme bilden beim Endvermögen die Haushaltsgegenstände, die im gemeinsamen Eigentum beider Ehegatten stehen, vgl. Rn. 142 ff. Auch sind die beim Versorgungsausgleich zu berücksichtigenden Werte nicht in das Anfangsvermögen und Endvermögen einzustellen, vgl. § 2 Abs. 4 VersAusglG, dazu Rn. 179 ff.
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Als Vermögen werden alle am Stichtag vorhandenen geldwerten und 107 rechtlich geschützten Positionen1 oder die rechtlich geschützten Positionen mit wirtschaftlichem Wert2 angesehen. Dabei ist es gleichgültig, ob diese Vermögenspositionen vererbbar bzw. übertragbar sind. Es kommt ausschließlich auf die Bewertbarkeit nach wirtschaftlichen Maßstäben an3. 2. Verbindlichkeiten Vom Vermögen sind die Passiva, die Verbindlichkeiten, abzuziehen. Da- 108 runter werden alle Verpflichtungen verstanden, die zum jeweiligen Stichtag das Vermögen des Ehegatten mindern. Auch zum Stichtag entstandene, aber noch nicht fällige Verbindlichkeiten sind bei den Passiva zu berücksichtigen4. Ist kein Vermögen am Anfangs- oder am Endstichtag vorhanden, sind die 109 Verbindlichkeiten in Ansatz zu bringen: Aus § 1374 Abs. 3 BGB ergibt sich, dass das Anfangsvermögen auch negativ sein kann. Nach § 1375 Abs. 1 S. 2 BGB sind Verbindlichkeiten beim Endvermögen über die Höhe des Vermögens hinaus abzuziehen. Sowohl das Anfangsvermögen als auch das Endvermögen können also negativ sein.
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Wichtig: Zu einer vollen Berücksichtigung an dem in der Schuldenminimierung liegenden Zugewinn kommt es bei negativem Endvermögen aber nur dann, wenn der zum Endstichtag verschuldete Ehegatte ausgleichsberechtigt ist. Dann vermindert sich nämlich die Zugewinnausgleichsverpflichtung des anderen Ehegatten, der zum Endstichtag
1 BGH v. 27.10.1976 – IV ZR 136/75, FamRZ 1977, 41; BGH v. 3.10.1979 – IV ZR 103/78, FamRZ 1980, 39. 2 BGH v. 14.1.1981 – IVb ZR 525/80, FamRZ 1981, 239; BGH v. 15.1.1992 – XII ZR 247/90, FamRZ 1992, 411. 3 BGH v. 15.1.1992 – XII ZR 247/90, FamRZ 1992, 411. 4 BGH v. 23.10.1985 – VI ZR 138/84, FamRZ 1986, 37 (38).
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Kap. 9 Rn. 109
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über Aktivvermögen verfügt und den Ausgleich zu leisten hat, entsprechend. Ist aber der andere Ehegatte ausgleichsberechtigt, weil sein Zugewinn unter Berücksichtigung der Schuldentilgung des anderen Ehegatten geringer ist, bekommt er, solange das Endvermögen des anderen negativ ist, keinen Zugewinn. Denn § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB sieht eine grundsätzliche Begrenzung der Ausgleichsforderung auf das vorhandene Vermögen zum Zeitpunkt der Beendigung des Güterstands vor (Kappungsgrenze). Im Falle der Ehescheidung tritt dabei an die Stelle der Beendigung des Güterstands der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags, § 1384 BGB. Eine Ausnahme gilt für diese Kappungsgrenze bei illoyalen Vermögensverfügungen, §§ 1378 Abs. 2 S. 2 i.V.m. 1375 Abs. 2 S. 1 BGB: Dann kann es auch zur Ausgleichsverpflichtung des am Endstichtag (Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags) verschuldeten, während der Ehezeit illoyal verfügenden Ehegatten kommen. Beispiel 1: Verfügte die Ehefrau über kein Anfangsvermögen, zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags aber über ein Vermögen von 80 000 Euro, so hat sie einen Zugewinn von 80 000 Euro erzielt. Verfügte der Ehemann bei Heirat über Schulden von 150 000 Euro, die er zum Endstichtag bis auf 100 000 Euro reduzieren konnte, so hat der Ehemann einen Zugewinn von 50 000 Euro erzielt. Die ausgleichsverpflichtete Ehefrau hat an den Ehemann 15 000 Euro auszugleichen, hat aber zur Hälfte an der Schuldentilgung des Ehemannes partizipiert1. Beispiel 2: Verfügte der Ehemann – bei ansonsten unveränderten Werten – zum Endstichtag über Schulden, die er auf 50 000 Euro reduzieren konnte, so hat er einen Zugewinn von 100 000 Euro erzielt. Eigentlich wäre er nun gegenüber der Ehefrau zum Ausgleich von 10 000 Euro verpflichtet. Da er aber zum Endstichtag über kein positives Vermögen verfügt, greift die Kappungsgrenze des § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB. Die Ehefrau hat damit – trotz des höheren Zugewinns des Ehemanns – keinen Zugewinnausgleichsanspruch2. Beispiel 3: Verfügte die Ehefrau über kein Anfangsvermögen und hatte sie zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags ebenfalls kein Vermögen, hat sie keinen Zugewinn erzielt. Verfügte der Ehemann bei Heirat über Schulden von 150 000 Eu1 Nach der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage war die Berücksichtigung von negativem Anfangsvermögen und negativem Endvermögen nicht möglich. In diesem Falle wären sowohl das Anfangsvermögen als auch das Endvermögen des Ehemannes mit null anzusetzen gewesen, was zu einer Ausgleichsverpflichtung der Ehefrau von 40 000 Euro geführt hätte. Nach den seither geltenden Vorschriften vermindert sich aber die Zugewinnausgleichsverpflichtung der Ehefrau um die Hälfte der Schuldentilgung des Ehemanns. 2 Nach der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage wäre eine Ausgleichsverpflichtung der Ehefrau von 40 000 Euro gegeben. Selbst wenn die Ehefrau auch nach der jetzigen Rechtslage wegen der Kappungsgrenze keinen Zugewinn vom Ehemann verlangen kann und damit nicht vollständig von der Schuldentilgung des Ehemanns profitiert, wird sie dennoch wesentlich, um 40 000 Euro besser als vor dem 1.9.2009 gestellt.
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Rn. 111
Kap. 9
ro, die er zum Endstichtag bis auf 50 000 Euro reduzieren konnte, hat er einen Zugewinn von 100 000 Euro erzielt. Eigentlich wäre er nun gegenüber der Ehefrau zum Ausgleich von 50 000 Euro verpflichtet. Da er aber zum Endstichtag über kein positives Vermögen verfügt, greift die Kappungsgrenze des § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB. Die Ehefrau hat damit – trotz des erheblichen Zugewinns des Ehemanns – keinen Zugewinnausgleichsanspruch1. Beispiel 4: Hat der Ehemann – bei ansonsten unveränderten Werten wie im vorherigen Beispiel – während der Ehezeit aber Beträge von 60 000 Euro illoyal ausgegeben, so dass ein Fall des § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB vorliegt, greift § 1378 Abs. 2 S. 2 BGB: Die Begrenzung der Ausgleichsforderung erhöht sich um den dem Endvermögen zuzurechnenden Betrag. Der Ehemann ist daher so zu behandeln, wie wenn er über ein Endvermögen von 10 000 Euro (– 50 000 + 60 000) verfügen würde. Obwohl der Ehefrau ein Zugewinn von 50 000 Euro zustehen würde, greift wiederum die Kappungsgrenze nach § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB: Ihr Zugewinnausgleichsanspruch beläuft sich auf 10 000 Euro.
3. Einzelne Vermögensgegenstände des Anfangs- und Endvermögens a) Abfindungen Abfindungen aus der Auflösung eines Arbeitsverhältnisses sind grund- 110 sätzlich im Zugewinnausgleich zu berücksichtigen, soweit zum Stichtag zumindest eine entsprechende Anwartschaft vorhanden ist. Zu fragen ist dabei aber gerade, ob es sich nach der Zweckbestimmung der Abfindung um Vermögen und nicht um künftiges unterhaltsrechtliches Einkommen handelt. Es ist also das Zusammenspiel zwischen Unterhaltsforderungen und Zugewinnausgleich zu berücksichtigen2. Abfindungen mit Versorgungscharakter (zB Abfindung im Rahmen einer 111 Vorruhestandsregelung3) sind dem Zugewinn insoweit entzogen, als die in das Endvermögen einzubeziehenden Beträge durch Vereinbarung oder Beschluss den künftigen Unterhaltsbedarf decken sollen4. Haben die Parteien kraft – ggf. stillschweigender – Vereinbarung eine arbeitsrechtliche Abfindung des Unterhaltsverpflichteten in die Unterhaltsberechnung ein1 Hier ändert sich am Ergebnis im Vergleich zu der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage nichts. Danach wäre nämlich auch das Anfangsvermögen und das Endvermögen des Ehemanns mit null anzusetzen gewesen, er hätte also schon keinen Zugewinn erzielt. Auf die Kappungsgrenze des § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB wäre es nicht angekommen. 2 BGH v. 18.4.2012 – XII ZR 65/10, FamRZ 2012, 1040 m. Anm. Borth; BGH v. 11.12.2002 – XII ZR 27/00, FamRZ 2003, 432 = FamRB 2003, 173 m. Anm. v. Schröder, FamRZ 2003, 434 und Kogel, FamRZ 2004, 1614 sowie Gerhardt/ Schulz, FamRZ 2005, 145. Ausführlich hierzu Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 352 ff., der zur Vermeidung der Unwägbarkeiten, die über § 242 BGB gelöst werden sollen, Vereinbarungen zum Unterhalt und Zugewinnausgleich empfiehlt. 3 Vgl. dazu das Beispiel bei Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 353 ff. und Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 168 ff. 4 OLG München v. 15.12.2004 – 16 UF 1410/00, FamRZ 2005, 714.
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bezogen, steht dies einem zusätzlichen güterrechtlichen Ausgleich zugunsten des Unterhaltsberechtigten entgegen1. 111a Wird die Abfindung wegen der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses zur Aufstockung des unterhaltsrelevanten Einkommens des Unterhaltspflichtigen verwandt, also monatlich anteilig auf sein laufendes Einkommen und damit bedarfserhöhend umgelegt, weil der Unterhaltspflichtige beim Anschlussarbeitsverhältnis geringere Einkünfte erzielt oder arbeitslos geworden ist, so ist die Abfindung in Höhe des insgesamt umgelegten Betrages bei der Zugewinnausgleichsberechnung nicht zu berücksichtigen (Verbot der Doppelberücksichtigung beim Unterhalt und Zugewinnausgleich)2. b) Anwartschaften 112
Geschützte Anwartschaften3 oder vergleichbare Rechtsstellungen, die nach wirtschaftlichen Maßstäben bewertbar sind, sind in den Zugewinnausgleich einzubeziehen, sofern der Ehegatte durch sie in bestimmter und bewertbarer Wiese bereichert ist4, wenn also ein „gegenwärtiger Wert“ feststellbar ist5. Besteht ein Unterhaltsbezug (vgl. dazu auch die Ausführungen zum Begriff „Abfindung“, Rn. 110, 111a), so hat ein Ansatz zu unterbleiben. c) Ehegatteninnengesellschaft
113
Gemeinsame Tätigkeiten und/oder Investitionen, deren Zielsetzung die eheliche Lebensgemeinschaft übersteigen, insbesondere auch die Mitarbeit des einen Ehegatten im Betrieb des anderen, können bei Scheitern der Ehe zu einem Beteiligungsanspruch in Geld nach den Grundsätzen der Auflösung einer Innengesellschaft auch im gesetzlichen Güterstand führen6. Der Umstand, dass die Ehegatten im gesetzlichen Güterstand le1 BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 185/01, FamRZ 2004, 1352 = FamRB 2004, 314 m. Anm. v. Bergschneider, FamRZ 2004, 1353 und Kogel, FamRZ 2004, 1866; dazu auch Maurer, FamRZ 2005, 757 und Hoppenz, FamRZ 2006, 1242. 2 BGH v. 18.4.2012 – XII ZR 65/10, FamRZ 2012, 1040 m. Anm. Borth, der seine bisherige Rechtsprechung zur grundsätzlichen Nichtanrechnung von Abfindungen auf geringere Anschlusseinkommen, vgl. BGH v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, FamRZ 2003, 590, 591 = FamRB 2003, 207, aufgibt. 3 BGH v. 17.11.2010 – XII ZR 170/09, FamRZ 2011, 183 = FamRB 2011, 97 und FamRB 2011, 98 führt zu der Bewertung eines unverfallbaren Versorgungsanrechts aus (vor Inkrafttreten des § 2 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG war dieses im Zugewinnausgleich zu berücksichtigen). Schwierigkeiten bei der Bewertung ergaben sich dort, weil das Anrecht des Ausgleichspflichtigen zum Stichtag betragsmäßig weder feststand noch feststellbar war und es deshalb zum Endstichtag an einem ihm zurechenbaren Kapitalwert fehlte. Vgl. hierzu auch die Anm. von Schröder, FamRZ 2011, 361 und Kogel, FF 2011, 116. 4 BGH v. 9.6.1983 – IX ZR 41/82, FamRZ 1983, 882. 5 BGH v. 15.1.1992 – XII ZR 247/90, FamRZ 1992, 411; v. 15.11.2000 – XII ZR 197/98, FamRZ 2001, 278. 6 Dazu Schwab, VII Rn. 291 f.; Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 452 ff. und Haußleiter/Schulz, 5, Rn. 266 ff.
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Rn. 115
Kap. 9
ben, ist als gewichtiges Indiz gegen das Zustandekommen einer Innengesellschaft durch schlüssiges Verhalten anzusehen. Ausgeschlossen ist diese Möglichkeit indessen nicht. Zur Ehegatteninnengesellschaft vgl. auch Kap. 10 Rn. 117 ff. Allein aufgrund einer formnichtigen, dh. den Anforderungen des § 1410 114 BGB nicht genügenden (privatschriftlichen) Vereinbarung der Eheleute lässt sich ohne zusätzliche Anhaltspunkte eine Ehegatteninnengesellschaft nicht annehmen1. Wesentliche Voraussetzung für die Annahme einer durch schlüssiges Ver- 115 halten zustande gekommenen Ehegatteninnengesellschaft ist ein über die Verwirklichung der Ehegemeinschaft hinausgehender Zweck, wie er etwa vorliegt, wenn die Eheleute durch den Einsatz von Vermögenswerten und Arbeitsleistungen gemeinsam ein Unternehmen aufbauen oder gemeinsam eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausüben2. Das gilt auch dann, wenn das Betreiben des Geschäfts nur der Sicherung des Familienunterhalts dient3. Eine weitere Voraussetzung stellt das Erfordernis dar, dass die Tätigkeit des mitarbeitenden Ehegatten von ihrer Funktion her als gleichberechtigte Mitarbeit anzusehen ist, auch wenn dieser Gesichtspunkt bei einem Vermögenserwerb im Rahmen einer Ehegatteninnengesellschaft mit Rücksicht auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Beteiligungen nicht überbewertet werden darf, solange nur ein Ehegatte für die Gesellschaft einen nennenswerten und für den erstrebten Erfolg bedeutsamen Beitrag geleistet hat. Ausdrückliche Abreden gehen aber einem nur konkludent zum Ausdruck gekommenen Parteiwillen vor.
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Wichtig: Bei einer Ehegatteninnengesellschaft kommt ein Ausgleichsanspruch eines Ehegatten nicht erst dann in Betracht, wenn der Zugewinnausgleich nicht zu einem angemessenen Ergebnis führt4. Ein gesellschaftsrechtlicher Ausgleichsanspruch besteht vielmehr neben einem Anspruch auf Zugewinnausgleich5. Bei der Beendigung der Innengesellschaft findet keine gegenständliche Auseinandersetzung statt. Es besteht vielmehr ein Ausgleichsanspruch in Form eines schuldrechtlichen Anspruchs auf Zahlung des Auseinandersetzungsguthabens, der sich nach den §§ 738 ff. BGB sowie einzelnen Vorschriften der §§ 730 ff. BGB bestimmt.
1 2 3 4
OLG Karlsruhe v. 19.1.2009 – 1 U 175/08, FamRZ 2009, 1670 = FamRB 2009, 169. BGH v. 26.4.1995 – XII ZR 132/93, FamRZ 1995, 1062. BGH v. 14.3.1990 – XII ZR 98/88, FamRZ 1990, 973. So aber Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 472 ff., der die Konstruktion einer Ehegatteninnengesellschaft nur in bestimmten Sonderfällen für sinnvoll und gerechtfertigt hält und die Rspr. des BGH kritisiert. 5 BGH v. 28.9.2005 – XII ZR 189/02, FamRZ 2006, 607 = FamRB 2006, 165 im Anschluss an BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 161/01, FamRZ 2003, 1454 = FamRB 2004, 12; zu BGH v. 28.2.2005 vgl. auch Kogel, FamRZ 2006, 1799 und Haußleiter/ Schulz, 1, Rn. 306 f.
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Kap. 9 Rn. 116
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Der BGH hat die Rechtslage insoweit anders beurteilt als bei Ausgleichsansprüchen, die aus Wegfall der Geschäftsgrundlage eines familienrechtlichen Vertrags eigener Art und damit aus § 313 BGB hergeleitet werden, wie es insbesondere bei ehebezogenen Zuwendungen der Fall ist. Während dort die Unzumutbarkeit der bisherigen Vermögenszuordnung für den Anspruchsteller zu den anspruchsbegründenden Voraussetzungen gehört, also von ausschlaggebender Bedeutung ist, ob der betreffende Ehegatte nicht schon durch andere Ansprüche genügend abgesichert ist, besteht bei dem Ausgleichsanspruch nach den §§ 738 ff. BGB für Zumutbarkeitserwägungen kein Raum1. Dieser Anspruch setzt – ebenso wenig wie der auf Ausgleich nach § 426 BGB gerichtete – nicht voraus, dass die bisherige Vermögenszuordnung unter Berücksichtigung des Güterrechts zu einem untragbaren Ergebnis führt. Er besteht deshalb neben einem Anspruch auf Zugewinnausgleich. Die Frage, ob und ggf. inwieweit sich der Auseinandersetzungsanspruch wegen der Systematik des Zugewinnausgleichs auswirkt, ist insofern ohne Bedeutung2.
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Wird eine solche Ehegatteninnengesellschaft mit Ausgleichsansprüchen angenommen, die neben dem gesetzlichen Güterstand zu berücksichtigen sind, stellt sich die Frage, inwieweit sich der gesellschaftsrechtliche Anspruch in seiner Konkurrenz zum güterrechtlichen Anspruch auswirkt. Dabei empfiehlt sich für die Berücksichtigung beim Zugewinnausgleich eine zweistufige Berechnung, wonach in einem ersten Schritt die Innengesellschaft bewertet und in einem zweiten Schritt unter Berücksichtigung des schuldrechtlichen Anspruchs der Zugewinnausgleich vorgenommen wird3. d) Erwerbschancen, noch nicht fällige Rechte, Restitutionsansprüche aa) Erwerbschancen
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Bloße Erwerbschancen, die im Gegensatz zu Anwartschaften ohne rechtlich gesichertes Fundament sind, sind im Anfangs- oder im Endvermögen nicht zu berücksichtigen4. Davon abzugrenzen sind Erwerbschancen, die rechtlich geschützt, aber unsicher sind. Hier stellt sich die Problematik auf der Ebene der Bewertung, denn der wirtschaftliche Wert ist unter Berücksichtigung der verbleibenden Unsicherheiten zu schätzen. Als rechtliche Unsicherheit kann eine mögliche Anfechtbarkeit gelten oder der ungewisse Eintritt einer Bedingung. Tatsächlich unsicher ist ein Recht 1 BGH v. 28.9.2005 – XII ZR 189/02, FamRZ 2006, 607. Dazu ua.: Schulz, BGHReport 2006, 713; Wever, FamRB 2006, 166; Kogel, FamRZ 2006, 1799; Hoppenz, FamRZ 2006, 610; Volmer, FamRZ 2006, 844; Soyka, FuR 2006, 276; Münch, MittBayNot 2006, 423; Haußleiter, NJW 2006, 2741; Haußleiter/Schulz, 5, Rn. 307. 2 So ausdrücklich BGH v. 28.9.2005 – XII ZR 189/02, FamRZ 2006, 607 = FamRB 2006, 165. 3 Vgl. Haußleiter, NJW 2006, 2741 und Haußleiter/Schulz, 5, Rn. 308 ff., wo dies jeweils anhand von Berechnungsbeispielen erläutert wird. 4 BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 221/01, FamRZ 2004, 781 = FamRB 2004, 173.
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Rn. 122
Kap. 9
insbesondere dann, wenn beim Verpflichteten Liquiditätsschwierigkeiten bestehen. Umgekehrt gilt dies auch für Verbindlichkeiten, deren Bestehen ungewiss ist. Die einzelnen Vermögenswerte bzw. Verbindlichkeiten können dann 119 nicht mit ihrem vollen Wert veranschlagt werden, sondern sind unter Gewichtung der Unsicherheitsfaktoren mit einem Abschlag zu versehen, der zu schätzen ist. Nicht zu berücksichtigen sind demgegenüber noch in der Entwicklung begriffene Rechte, die noch nicht zur Anwartschaft erstarkt sind, und bloße Erwerbsaussichten, da sie nicht das Merkmal rechtlich geschützter Positionen mit wirtschaftlichem Wert erfüllen. Voraussetzung ist also, dass die Positionen zum Stichtag bereits entstanden sind; bloße Erwerbsaussichten sowie in der Entwicklung begriffene Rechte, die noch nicht zur Anwartschaft erstarkt sind, bleiben unberücksichtigt1.
120
bb) Noch nicht fällige Rechte Sind noch nicht fällige Rechte objektiv bewertbar, so sind sie in die Zuge- 121 winnausgleichsbilanz einzustellen (zB Anwartschaften aus Lebensversicherung, künftig fälliger Kaufpreisanspruch). Allerdings gilt dies nicht für Ansprüche bzw. Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen (zB künftige Mieteinnahmen für künftige Gebrauchsüberlassung); der Vermögensgegenstand selbst (zB Mietshaus) ist aber selbstverständlich zu berücksichtigen. cc) Restitutionsansprüche nach dem Vermögensgesetz Nicht berücksichtigt werden im Anfangsvermögen bei Eheschließungen 122 vor dem 29.9.1990 Rückübertragungs- und Restitutionsansprüche nach dem Vermögensgesetz für Grundstücke im Gebiet der DDR, denn hierfür bestand zuvor keine rechtlich geschützte Position von wirtschaftlichem Wert. Eine realisierbare Vermögensposition konnte erst erlangt werden als das Vermögensgesetz am 29.9.19902 in Kraft getreten ist. Erfolgt also keine Zurechnung zum Anfangsvermögen, sind wiedervereinigungsbedingte Wertsteigerungen des Ehegattenvermögens im Rahmen des Zugewinnausgleichs in vollem Umfang ausgleichspflichtig3. Auch kann keine Zurechnung über § 1374 Abs. 2 BGB erfolgen4.
1 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 156/04, FamRZ 2007, 877 = FamRB 2007, 193. 2 BGBl. II 885. 3 BGH v. 28.1.2004 – XII ZR 221/01, FamRZ 2004, 781 = FamRB 2004, 173; ablehnend Schröder, FamRZ 2004, 785; zustimmend Kogel, FF 2004, 221; dazu auch Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 595. 4 BGH v. 20.6.2007 – XII ZR 32/05, FamRZ 2007, 1307; dazu Schröder, FamRZ 2007, 1309 und Kogel, FamRB 2007, 289.
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Kap. 9 Rn. 123
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
e) Freiberufliche Praxis 123
Im Rahmen des Zugewinnausgleichs ist auch der Vermögenswert einer freiberuflichen Praxis zu berücksichtigen. Zur Vermeidung einer zweifachen Teilhabe hieran – zum einen durch den Zugewinnausgleich und zum anderen über den Ehegattenunterhalt – ist (neben dem Substanzwert) der good will dadurch zu ermitteln, dass von dem Ausgangswert nicht ein pauschal angesetzter kalkulatorischer Unternehmerlohn, sondern der nach den individuellen Verhältnissen konkret gerechtfertigte Unternehmerlohn in Abzug gebracht wird1.
Û
Wichtig: In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist inzwischen anerkannt, dass bei der stichtagsbezogenen Wertermittlung im Zugewinnausgleich latente Ertragsteuern wertmindernd ins Gewicht fallen. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Veräußerung tatsächlich nicht beabsichtigt ist2.
124
Bei der Bewertung einer freiberuflichen Praxis ist zu berücksichtigen, dass sich die Ertragsprognose idR nicht von der Person des derzeitigen Inhabers trennen lässt. Die Angehörigen eines freien Berufes erbringen persönliche Leistungen, bei denen sie üblicherweise nur für untergeordnete, nicht zum eigentlichen Berufsbild gehörende Tätigkeiten Hilfskräfte einsetzen. Die Erwartung künftigen Einkommens, das der individuellen Arbeitskraft des Inhabers zuzurechnen ist, kann für den Zugewinnausgleich aber nicht maßgebend sein, weil es insoweit nur auf das am Stichtag vorhandene Vermögen ankommt. Vielmehr ist auch insoweit nur der am Stichtag nachhaltig vorhandene Wert der Praxis oder des Praxisanteils zu erfassen, der sich in der bis dahin aufgebauten und zum maßgeblichen Zeitpunkt vorhandenen Nutzungsmöglichkeit niederschlägt3. Bewertungsobjekt können nur solche Ertragsmerkmale sein, die auf einen potentiellen Erwerber übertragbar sind4. Dabei kommt es ganz entscheidend auf die Eigenart der jeweiligen Praxis an.
125
Ausgangspunkt der höchstrichterlichen Entscheidungen zur Bewertung einer freiberuflichen Praxis im Rahmen des Zugewinnausgleichsverfahrens war die Praxis eines Vermessungsingenieurs5. Nach den Ausführungen des BGH bestehen keine Bedenken dagegen, bei der Ermittlung des Zugewinns auch den Firmenwert (good will) einer freiberuflichen Praxis 1 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 45/06, FamRZ 2008, 761 = FamRB 2008, 134; aus betriebswirtschaftlicher Sicht jedoch ablehnend: Olbrich, DB 2008, 1483. 2 BGH v. 2.2.2011 – XII ZR 185/08, FamRZ 2011, 1367 = FamRB 2011, 265 und BGH v. 9.2.2011 – XII ZR 40/09, FamRZ 2011, 622 = FamRB 2011, 133. Die von Hoppenz, FamRZ 2006, 449 vertretene Auffassung hat sich nicht durchgesetzt. 3 BGH v. 9.2.2011 – XII ZR 40/09, FamRZ 2011, 622 = FamRB 2011, 133. 4 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 45/06, FamRZ 2008, 761; vgl. auch AG Duisburg-Hamborn v. 22.4.2003 – 19 F 341/99, FamRZ 2003, 1186. 5 BGH v. 13.10.1976 – IV ZR 104/74, FamRZ 1977, 38.
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Rn. 128
Kap. 9
zu berücksichtigen1. Die Angehörigen freier Berufe führen zwar keine Firma; ihre Praxen können jedoch einen inneren Wert haben, der sich darin äußert, dass der Erwerber einer solchen Praxis bereit ist, für sie einen höheren Preis zu zahlen, als es dem reinen Sachwert der Praxiseinrichtung entspricht. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass der Inhaber der Praxis in vielen Fällen nicht beabsichtigt, diese zu veräußern und dadurch ihren inneren Wert zu realisieren. Im Einzelfall muss geprüft werden, ob und in welcher Höhe ein Firmenwert besteht, wobei es ua. auf die Art der Praxis, die besonderen örtlichen Verhältnisse, die Zusammensetzung der Klientel und die Dauer des Bestehens der Praxis ankommen kann. Einige Kammern haben Richtlinien zur Bewertung für den Praxiserwerb und die Praxisveräußerung herausgegeben, an denen eine Orientierung möglich ist. aa) Architekturbüro Bei der Wertermittlung des Endvermögens ist für ein Architekturbüro idR kein „good will“ in Ansatz zu bringen2. Im Vordergrund steht die künstlerische Leistung des Architekten, die er nur höchstpersönlich erbringen kann. Es ist daher grundsätzlich der Sachwert des Architekturbüros anzusetzen.
126
bb) Arztpraxis, Zahnarztpraxis, Tierarztpraxis Die Bewertung von Arztpraxen3, Zahnarztpraxen4 und Tierarztpraxen5 127 war bereits vielfach Gegenstand von Entscheidungen in Zugewinnausgleichsverfahren. Der Wert einer solchen Praxis setzt sich aus dem „Substanzwert“ (materieller Praxiswert) und dem „ideellen Wert“ (immaterieller Praxiswert) zusammen6. Der Substanzwert einer Praxis ist gesondert festzustellen. Basis für die Er- 128 mittlung sind das Anlageverzeichnis aus der Gewinn- und Verlustrechnung oder die Bilanz der jeweils zu bewertenden Arztpraxis und die darin aufgeführten Güter mit ihren Anschaffungs- und Herstellungskosten, zB Praxiseinrichtung einschließlich der medizinischtechnischen Geräte, 1 Ablehnend: Olbrich, DB 2008, 1483. 2 OLG München 13.3.1984 – 4 UF 195/83, FamRZ 1984, 1096; Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 496; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 186. 3 BGH v. 24.10.1990 – XII ZR 101/89, FamRZ 1991, 43; OLG Koblenz v. 11.1.1988 – 13 UF 1492/86, FamRZ 1988, 950; OLG Hamm, 10.10.1991 – 2 UF 5/90, FamRZ 1992, 679. 4 BGH v. 9.2.2011 – XII ZR 40/09, FamRZ 2011, 622 = FamRB 2011, 133; OLG Hamm v. 15.1.2009 – 1 UF 119/07, OLGReport 2009, 540. 5 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 45/06, FamRZ 2008, 761 = FamRB 2008, 134 und Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 187 ff. 6 Vgl. die Hinweise zur Bewertung von Arztpraxen, Deutsches Ärzteblatt 2008, Heft 51–52, im Internet abrufbar unter www.bundesaerztekammer.de/down loads/Arztpraxen.pdf.
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Kap. 9 Rn. 129
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EDV, Büroausstattung, Vorräte der Praxis (Sprechstundenbedarf) sowie ggf. Ein- und Umbauten. 129
Unter dem ideellen Wert (good will oder immaterieller Praxiswert) versteht man die Chance, eine eingeführte Arztpraxis mit ihrem Patientenoder Überweiserstamm wirtschaftlich erfolgreich fortzuführen. Dabei sind auch die Stellung der Arztpraxis als Organisationseinheit und als Teil einer gewachsenen Infrastruktur in der betreffenden Region sowie die Anzahl der Patienten und die Leistungsfähigkeit der Praxis einzubeziehen. Der ideelle Wert ist aufgrund einer mehrjährig entstandenen Vertrauensbeziehung zwischen Praxisinhaber und Patienten nachhaltig personengebunden. Er ist daher seinem Wesen nach etwas anderes als der Geschäftswert (Firmenwert) eines gewerblichen Unternehmens, der auf einer durch sachliche Maßnahmen und Aufwendungen besonders geförderten Leistungsfähigkeit des Betriebes beruht. cc) Rechtsanwaltskanzlei
130
Die Bewertung einer Rechtsanwaltspraxis1 bzw. Rechtsanwaltssozietät2 im Zugewinnausgleichsverfahren ist nicht selten Gegenstand von gerichtlichen Entscheidungen. Von der Bundesrechtsanwaltskammer erscheinen immer wieder aktualisierte Richtlinien zur Bewertung von Anwaltskanzleien. Der Bericht des BRAK-Ausschusses „Zur Bewertung von Anwaltskanzleien“3 ist dazu bestimmt, Entscheidungsmerkmale für die Bewertung einer Rechtsanwaltskanzlei aufzustellen4. dd) Steuerberaterpraxis
131
Mit der Bewertung von Steuerberaterpraxen im Zugewinnausgleichsverfahren hat sich die Rechtsprechung bereits mehrfach befasst5. In den aktuellen Hinweisen der Bundessteuerberaterkammer für die Ermittlung des Werts einer Steuerberaterpraxis (Stand: 30. Juni 2010) wird deutlicher als in den am 25. Januar 2007 beschlossenen Hinweisen auf die unterschiedlichen Bewertungsanlässe eingegangen und ausgeführt, dass die zu ermittelnden Werte in Abhängigkeit von dem mit der Bewertung verfolgten Zweck zu sehen seien. Anders als im Fall der konkret angestrebten 1 BGH v. 26.10.1972 – VII ZR 232/71, NJW 1973, 98; OLG Hamm v. 2.2.1983 – 6 UF 524/82, FamRZ 1983, 812; OLG Celle v. 24.11.1976 – 3 U 4/76, AnwBl. 1977, 216; OLG Frankfurt v. 18.11.1986 – 4 UF 296/85, FamRZ 1987, 485. 2 OLG Saarbrücken v. 28.6.1984 – 6 UF 181/82 GÜR, FamRZ 1984, 794. 3 BRAK-Mitteilungen, 2009, 268. Vgl. auch die Hinweise zum Kanzleikauf von Benz, BRAK-Magazin, Ausgabe 5/2004, 9. 4 Zur Bewertung einer Rechtsanwaltskanzlei mit Berechnungsbeispiel: Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 358 ff. 5 BGH v. 2.2.2011 – XII ZR 185/08, FamRZ 2011, 1367; AG Duisburg-Hamborn v. 22.4.2003 – 19 F 341/99, FamRZ 2003, 1186; OLG Düsseldorf v. 14.10.2003 – II-1 UF 115/03, FamRZ 2004, 1106; BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 84/97, FamRZ 1999, 361.
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Rn. 133
Kap. 9
Veräußerung gehe es bei der Wertermittlung für Zwecke des Zugewinnausgleichs dagegen nicht um eine Verhandlungslösung, sondern um die Ermittlung eines objektivierten/ausgleichenden Praxiswerts. Zur Objektivierbarkeit des Unternehmenswerts sollte daher das (modifizierte) Ertragswertverfahren zugrunde gelegt werden1, 2. f) Gesamtschuldnerische Verbindlichkeiten Vom Aktivvermögen sind sämtliche bis zum Endstichtag aufgelaufenen 132 Verbindlichkeiten abzuziehen. Dabei stellt sich nicht selten die Frage, wie Verbindlichkeiten, für die beide Ehegatten im Außenverhältnis als Gesamtschuldner haften, beim jeweiligen Endvermögen anzusetzen sind. Gesamtschuldnerausgleich und Zugewinnausgleich bestehen nebeneinander und verdrängen sich nicht. Maßgebend für die Höhe der jeweils anzusetzenden Verbindlichkeit ist hier nicht, dass beide Ehegatten im Außenverhältnis in voller Höhe haften. Die gesamtschuldnerischen Verbindlichkeiten sind daher nicht in voller Höhe vom Endvermögen beider Ehegatten abzuziehen. Stattdessen kommt es auf das interne Ausgleichsverhältnis nach § 426 BGB an3. Sogar dann, wenn nur ein Ehegatte Schuldner im Außenverhältnis ist, intern aber eine Ausgleichsvereinbarung besteht, ist deren Höhe für den Ansatz als Passivum zu berücksichtigen4. Ist im Rahmen des Zugewinnausgleichs eine Gesamtschuld der Ehegatten zu berücksichtigen, für die sie im Innenverhältnis anteilig haften, so kommt es für die Ermittlung des jeweiligen Endvermögens darauf an, ob die Ausgleichsforderung nach § 426 BGB realisierbar ist. Das ist auch dann der Fall, wenn ein Ehegatte erst aufgrund des Zugewinnausgleichs imstande ist, die interne Ausgleichsforderung zu erfüllen5. Ausgehend von § 426 Abs. 1 BGB haften beide Ehegatten im Innenver- 133 hältnis grundsätzlich zu gleichen Teilen. Im Endvermögen der Ehegatten werden die gesamtschuldnerischen Verbindlichkeiten je zur Hälfte als Passiva angesetzt6. Wurde davon abweichend ausdrücklich oder auch konkludent „ein anderes bestimmt“, ist vom Grundsatz der hälftigen Mithaftung im Innenverhältnis abzuweichen. Da die Ehegatten in den 1 BGH v. 2.2.2011 – XII ZR 185/08, FamRZ 2011, 1367 = FamRB 2011, 265. 2 Die jeweils aktuellen Hinweise der Bundessteuerberaterkammer für die Ermittlung des Werts einer Steuerberaterpraxis lassen sich über die Homepage der Bundessteuerberaterkammer (http://www.bstbk.de) abrufen. 3 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 10/09, FamRZ 2011, 25 m. Anm. Koch, FamRZ 2011, 28 und Anm. Braeuer FamRZ 2011, 453 = FamRB 2011, 33, und BGH v. 30.9.1987 – IVb ZR 94/86, FamRZ 1987, 1239; OLG Köln v. 19.8.1997 – 4 UF 36/97, FamRZ 1998, 1515; Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1375 BGB Rn. 20; Schwab, VII Rn. 119; Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 532 ff.; Haußleiter/Schulz, 5, Rn. 125 ff. 4 BGH v. 31.1.1991 – IX ZR 38/90, FamRZ 1991, 1162; OLG Koblenz v. 31.7.1997 – 11 UF 625/96, FamRZ 1998, 238. 5 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 10/09, FamRZ 2011, 25 = FamRB 2011, 33; dazu Koch, FamRZ 2011, 1261 und Kasenbacher, NJW-Spezial 2011, 132. 6 Schwab, VII Rn. 118; IX Rn. 84 ff.
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Kap. 9 Rn. 134
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seltensten Fällen den internen Ausgleich ausdrücklich regeln, muss untersucht werden, ob und inwieweit „ein anderes bestimmt“ ist. 134
Aus Inhalt und Zweck eines zwischen den Gesamtschuldnern bestehenden Rechtsverhältnisses, der Eigenart der tatsächlichen Verhältnisse oder aus der Natur der Sache, mithin aus der besonderen Gestaltung des tatsächlichen Geschehens, kann sich eine vom Grundsatz der hälftigen Haftung abweichende Bestimmung ergeben1.
135
Der BGH2 sieht die Gesamtschuldnerschaft von Ehegatten durch die eheliche Lebensgemeinschaft überlagert. Aus diesem besonderen Umstand können sich Abweichungen von der Regel des § 426 BGB ergeben. Beispiele: – Wird von den Ehegatten ein Kredit (zB zum Erwerb eines Eigenheims) aufgenommen, für den beide als Gesamtschuldner haften, und übernimmt nur ein Ehegatte die Zins- und Tilgungsleistungen, so ist davon auszugehen, dass im Innenverhältnis nur der leistende Teil haftet und keinen Ausgleichanspruch gegen den anderen Ehegatten hat. Insbesondere wenn ein Ehegatte mangels Einkommens oder Vermögens nicht leistungsfähig ist, wird dies der Fall sein. Im Ergebnis kann der Leistende die Schulden in voller Höhe von seinem Endvermögen abziehen. – Wird bei der Unterhaltsberechnung die volle Darlehensrate übereinstimmend allein vom Einkommen eines Ehegatten abgesetzt, ist auch darin eine anderweitige Bestimmung nach § 426 Abs. 1 S. 1 BGB zu sehen. – Erzielen beide Ehegatten Einkommen, besteht aber ein erhebliches Gefälle und übernimmt der Besserverdienende den alleinigen oder überwiegenden Teil der Rückführung, liegt eine Abweichung vom Grundsatz der hälftigen Haftung im Innenverhältnis vor. – Besteht zwar im Innenverhältnis ein Ausgleichsanspruch, ist dieser aber nicht realisierbar, muss die Gesamtschuld zu einer höheren Quote, ggf. in voller Höhe, im Endvermögen des solventen Ehegatten angesetzt werden. Andernfalls würde der „insolvente“ Ehegatte bei der Ausgleichsberechnung ungerechtfertigt berücksichtigt.
Û
Wichtig: Wird eine gesamtschuldnerische Verbindlichkeit in voller Höhe den Passiva des Endvermögens eines Ehegatten zugeordnet, ist darin die konkludente Erklärung zu sehen, dass dieser Ehegatte im Innenverhältnis die Schuld alleine trägt. Durch die Zugewinnausgleichsberechnung kann der Anspruch eines Ehegatten auf Gesamtschuldnerausgleich also verloren gehen3. Um dies zu vermeiden und sich diese Ansprüche zu erhalten, sollte der Ehegatte, der die Gesamtschuld in
1 Ständige Formulierung des BGH, vgl. BGH v. 13.4.2000 – IX ZR 372/98, FamRZ 2001, 1442 und BGH v. 20.3.2002 – XII ZR 176/00, FamRZ 2002, 739 = FamRB 2002, 225; krit. zur Standardformel des BGH: Johannsen/Henrich/Jaeger, Vor § 1372 BGB Rn. 14 und Schwab, IX Rn. 84. 2 BGH v. 3.11.1983 – IX ZR 104/82, FamRZ 1984, 29 und BGH v. 30.11.1994 – XII ZR 59/93, FamRZ 1995, 216; dazu auch Kotzur, NJW 1989, 817. 3 OLG Hamm v. 24.9.1996 – 29 W 104/96, FamRZ 1997, 363.
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Rn. 138
Kap. 9
voller Höhe von seinem Endvermögen absetzt, ausdrücklich erklären, dass damit keine anderweitige Bestimmung nach § 426 Abs. 1 S. 1 2. Halbs. BGB begründet wird. Entstehen in der Zeit zwischen dem Scheitern der Ehe (dabei ist auf den 136 Zeitpunkt der Trennung abzustellen) und dem Endstichtag Ausgleichsansprüche im Innenverhältnis der gesamtschuldnerisch verpflichteten Ehegatten, so sind diese in die Vermögensbilanz einzustellen. Dem zahlenden und somit ausgleichsberechtigten Ehegatten ist der Anspruch als Aktivum dem Endvermögen zuzurechnen, beim ausgleichsverpflichteten Ehegatten vermindert die Verpflichtung das Endvermögen.
Û
Wichtig: Die gesonderte Geltendmachung schuldrechtlicher, insbesondere vertraglicher Verpflichtungen zwischen Ehegatten wird regelmäßig nicht durch einen Vorrang des ehelichen Güterrechts ausgeschlossen1. Allerdings sind diese schuldrechtlichen Ansprüche der Ehegatten bei der Berechnung des Zugewinnausgleichs im jeweiligen Endvermögen des Gläubigers als Aktivposten und in dem des Schuldners als Passivposten zu berücksichtigen2, und zwar unabhängig davon, ob die Forderung bereits fällig ist oder nicht3.
Bei richtiger Handhabung der güterrechtlichen Vorschriften kann das Er- 137 gebnis des Zugewinnausgleichs durch die gesonderte Geltendmachung einzelner vertraglicher oder sonstiger schuldrechtlicher Ansprüche der Ehegatten gegeneinander regelmäßig nicht verfälscht werden. Dies bedeutet aber nicht, dass nach einem rechtskräftig oder durch bestandskräftigen Vergleich abgeschlossenen Zugewinnausgleichsverfahren, in dem eine vertragliche Forderung nicht berücksichtigt wurde, diese vertragliche Forderung nicht mehr geltend gemacht werden kann. Dies gilt sogar dann, wenn die vertragliche Forderung das Ergebnis des Zugewinnausgleichs nachträglich verfälschen würde. Dem Schuldner muss daher der Einwand eröffnet sein, dass der Zuge- 138 winnausgleich anders geregelt worden wäre, wenn die nachträglich geltend gemachte Forderung in der Zugewinnausgleichsbilanz bereits berücksichtigt worden wäre. Denn nur so kann der Schuldner vor einer doppelten Belastung mit dieser Forderung, nämlich einerseits durch Nichtberücksichtigung im Endvermögen der Parteien und andererseits durch ihre Geltendmachung gegen ihn, geschützt werden4. 1 BGH v. 10.7.1991 – XII ZR 114/89, FamRZ 1991, 1169. 2 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 156/04, FamRZ 2007, 877 = FamRB 2007, 193 und BGH v. 31.5.2006 – XII ZR 111/03, FamRZ 2006, 1178 = FamRB 2006, 302. 3 BGH v. 12.11.2008 – XII ZR 134/04, FamRZ 2009, 193 m. Anm. v. Hoppenz, FamRZ 2009, 196; dazu auch Kogel, FamRB 2009, 65. 4 So die Vorgaben des BGH in der Entscheidung v. 12.11.2008 – XII ZR 134/04, FamRZ 2009, 193 = FamRB 2009, 65. Wie diese angemessene Korrektur im Hinblick auf das hypothetische Ergebnis eines die zivilrechtliche Forderung zutref-
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Kap. 9 Rn. 139
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
g) Grundstücke/Immobilien 139
Bei Grundstücken/Immobilien stellt sich ähnlich wie bei Unternehmen, Unternehmensbeteiligungen oder freiberuflichen Praxen die Bewertungsproblematik1. Dabei kommt es auf den „vollen wirklichen Wert“ an2. Eine bestimmte Bewertungsmethode schreibt das Gesetz – abgesehen von dem Sonderfall des § 1376 Abs. 4 BGB – nicht vor. Insbesondere dann, wenn ein Ehegatte die gemeinsame Immobilie übernehmen möchte, ergeben sich üblicherweise Meinungsverschiedenheiten über den Wert einer Immobilie.
140
Zur Bestimmung des Werts kann auf die Verordnung über Grundsätze für die Ermittlung der Verkehrswerte von Grundstücken („Immobilienwertermittlungsverordnung3“) zurückgegriffen werden. Die ImmoWertV sieht in § 8 zur Ermittlung des Verkehrswerts verschiedene Verfahren vor: Das Vergleichswertverfahren, das Sachwertverfahren und das Ertragswertverfahren, wobei mehrere dieser Verfahren angewendet werden können, um dann einen Mittelwert zu bilden.
141
Das Vergleichswertverfahren (§ 15 ImmoWertV) wird üblicherweise zur Bewertung von unbebauten Grundstücken herangezogen. Bei Renditeobjekten wird grundsätzlich das Ertragswertverfahren (§ 17 ImmoWertV) angewendet. Bei Eigenheimen kommt dem Sachwertverfahren (§ 21 ImmoWertV) die größte Bedeutung zu4. Allerdings kann dies dann problematisch sein, wenn ein Ehegatte in der Immobilie verbleibt, denn dann ist die Immobilie ja gerade nicht zur Veräußerung bestimmt. Hier bietet sich dann ein Mischverfahren zwischen Sachwert, Ertragswert und Veräußerungswert zur Bewertung an, um den „wirklichen Wert“ zu bestimmen5. h) Haushaltsgegenstände aa) Verhältnis zwischen Zugewinnausgleich und Überlassung von Haushaltsgegenständen
142
Die Verteilung von Haushaltsgegenständen ist zum 1.9.2009 in § 1568b BGB neu geregelt worden. Dieser Verteilungsregelung unterliegen nur im gemeinsamen Eigentum der Eheleute stehende Haushaltsgegenstände. Im Alleineigentum eines Gatten stehende Haushaltsgegenstände sind
1 2 3 4 5
fend berücksichtigenden Zugewinnausgleichs rechtsdogmatisch zu begründen ist, lässt der BGH offen. Dazu auch Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 527. Näher dazu: Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 560 ff. und Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 242 ff. BVerfG v. 16.10.1984 – 1 BvL 17/80, FamRZ 1985, 256 und BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 62/84, FamRZ 1986, 37. Immobilienwertermittlungsverordnung v. 19.5.2010 (BGBl. I 2010, 639), die seit dem 1.7.2010 gilt. BGH v. 1.4.1992 – XII ZR 146/91, FamRZ 1992, 918. BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 62/84, FamRZ 1986, 37.
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Zimmermann
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Rn. 144
Kap. 9
dem güterrechtlichen Ausgleich vorbehalten. Alle zum Haushalt gehörenden Gegenstände (früher Hausrat genannt), die im gemeinsamen Eigentum der Ehegatten stehen, unterfallen dagegen nicht den Regelungen zum Zugewinnausgleich1. Steht ein Haushaltsgegenstand im Alleineigentum eines Ehegatten, wird 143 er beim Zugewinnausgleich berücksichtigt2. Haushaltsgegenstände, die im gemeinsamen Eigentum der Ehegatten stehen, unterliegen der Bestimmung des § 1568b BGB, sind beim Zugewinnausgleich also nicht zu berücksichtigen. § 1568b Abs. 3 BGB stellt eine Sonderregelung für die Verteilung der Haushaltsgegenstände dar. Ein Wertausgleich für Haushaltsgegenstände, die im Miteigentum der Ehegatten stehen, hat damit allein nach dieser Vorschrift zu erfolgen. Wird keine Ausgleichszahlung geltend gemacht, kann auch kein Wertausgleich im Rahmen des Zugewinnausgleichs verlangt werden3. Für Übergangsfälle zum neuen Recht hat der BGH4 klargestellt, dass die 143a Neuregelung der Verteilung von Haushaltsgegenständen (§ 1568b BGB) mangels Übergangsregelung auch für Altverfahren anwendbar ist und dass entsprechend der früheren Rechtslage bei Übertragung von Alleineigentum auf Billigkeitskriterien abzustellen ist. Diese Grundsätze gelten auch dann uneingeschränkt fort, wenn die Hausratsteilung nach altem Recht bereits durchgeführt worden ist5. Bei Haushaltsgegenständen ist die Vermutung des § 1568b Abs. 2 BGB zu 144 berücksichtigen, wonach Haushaltsgegenstände, die während der Ehe für den gemeinsamen Haushalt angeschafft wurden, als gemeinsames Eigentum der Ehegatten gelten, es sei denn, das Alleineigentum eines Ehegatten steht fest. Eine Widerlegung der gemeinsamen Eigentumsvermutung für während der Ehezeit für den gemeinsamen Haushalt angeschaffte Gegenstände wird nur in seltenen Fällen gelingen, so dass für die während der gemeinsamen Ehezeit angeschafften Haushaltsgegenstände die Regelungen zum Zugewinnausgleich ganz überwiegend nicht gelten. Alleineigentum eines Ehegatten an Haushaltsgegenständen wird man aber umgekehrt bei in die Ehe eingebrachter Aussteuer und nach Trennung (und vor dem Endstichtag) für den eigenen Haushalt angeschaffter Haushaltsgegenstände annehmen müssen, so dass diese Gegenstände vom Zugewinnausgleich erfasst werden.
1 Schon nach der früheren HausratsVO war so zu verfahren, vgl. nur BGH v. 1.12.1983 – IX ZR 41/83, FamRZ 1984, 144. 2 BGH v. 11.5.2011 – XII ZR 33/09, FamRZ 2011, 1039 = FamRB 2011, 233. 3 Götz/Brudermüller, NJW 2008, 3025 (3031) überzeugend gegen die Begr. in BRDrucks. 635/08, 49. 4 BGH v. 17.11.2010 – XII ZR 170/09, FamRZ 2011, 183 = FamRB 2011, 97 und FamRB 2011, 98; BGH v. 11.5.2011 – XII ZR 33/09, FamRZ 2011, 1039 = FamRB 2011, 233. 5 BGH v. 11.5.2011 – XII ZR 33/09, FamRZ 2011, 1039 = FamRB 2011, 233.
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Kap. 9 Rn. 145
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
bb) Begriff der Haushaltsgegenstände 145
Haushaltsgegenstände sind diejenigen beweglichen Gegenstände, die nach den Vermögens- und Lebensverhältnissen der Ehegatten für die Wohnung, den Haushalt und das Zusammenleben der Familie bestimmt sind1. Maßgeblich kommt es darauf an, zu welchem Zweck der jeweilige Gegenstand tatsächlich genutzt wird (konkludente Widmung). So fallen zB Bücher, die der Unterhaltung oder der Allgemeinbildung dienen, unter den Begriff des Haushaltsgegenstands, nicht jedoch die Fachliteratur eines Ehegatten.
146
Gegenstände, die als Kapitalanlage dienen (zB Erwerb wertvoller Kunstwerke zu Spekulationszwecken) oder überwiegend dem Beruf oder Gewerbe eines Ehegatten zugeordnet sind, fallen nicht unter den Begriff des Haushaltsgegenstands.
147
In der anwaltlichen Praxis dürfte die Einordnung eines Pkw2 als häufigster Fall vorkommen: Wird ein Pkw von den Ehegatten gemeinschaftlich und überwiegend zum Zwecke der Haushaltsführung (zB Fahrten zum Einkaufen) oder der privaten Lebensführung (zB Urlaubs- und Wochenendfahrten) genutzt, ist er als Haushaltsgegenstand zu behandeln3. Umgekehrt gilt dies nicht, wenn der Pkw hauptsächlich dem beruflichen Bereich eines Ehegatten dient und nur für familiäre Zwecke mitverwendet wird4. Wegen der Einzelheiten wird auf Kap. 7 (Ehewohnung und Haushaltsgegenstände) verwiesen. cc) Nach Trennung angeschaffte Haushaltsgegenstände
148
Oft kommt es vor, dass ein Ehegatte nach der Trennung und vor dem maßgeblichen Stichtag Haushaltsgegenstände mit Mitteln anschafft, die dem Zugewinnausgleich unterfallen. Mit der pauschalen Begründung, Haushaltsgegenstände würden beim Zugewinnausgleich nicht berücksichtigt, kann der Wert dieser Haushaltsgegenstände beim Endvermögen aber nicht außer Betracht gelassen werden: Es sind nur solche Haushaltsgegenstände, die nach § 1568b Abs. 1 BGB verteilt werden können, die also im gemeinsamen Eigentum der Ehegatten stehen, vom Zugewinnausgleich auszunehmen. Dazu gehören solche Haushaltsgegenstände nicht, die gerade für das Getrenntleben der Ehegatten bestimmt sind, also die erst nach der Trennung angeschafften Haushaltsgegenstände. Auch diese 1 Zum Begriff der Haushaltsgegenstände vgl. Schwab, VII Rn. 31 sowie Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 129 ff. und BGH v. 1.12.1983 – IX ZR 41/83, FamRZ 1984, 144 (146) (dort noch zum Begriff „Hausrat“). 2 Allgemein zum Familien-Pkw in der Vermögensauseinandersetzung der Eheleute: Kogel, FamRB 2007, 215. 3 BGH v. 2.3.1983 – IVb ARZ 1/83, FamRZ 1983, 794; BGH v. 24.10.1990 – XII ZR 101/89, FamRZ 1991, 43 (49); KG v. 17.1.2003 – 13 UF 439/02, FamRZ 2003, 1927 m. Anm. Wever jeweils noch zur HausratsVO. 4 OLG Hamm v. 11.7.1989 – 7 UF 140/89, FamRZ 1990, 54 (55).
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Rn. 152
Kap. 9
Sachen unterliegen dem Zugewinnausgleich, soweit sie einem Ehegatten am maßgebenden Stichtag gehörten1. i) Kunstgegenstände, Antiquitäten und Sammlungen Bei Kunstgegenständen und Antiquitäten muss auf die Grenzziehung zu 149 den Haushaltsgegenständen nach § 1568b BGB geachtet werden, vgl. dazu Rn. 145 f. Dabei ist auf die konkreten Umstände des Einzelfalles abzustellen. In Fällen gehobener Lebensweise können wertvolle Kunstobjekte oder Antiquitäten, die in erster Linie der Verschönerung des Hauses dienen, als Haushaltsgegenstände nach § 1568b BGB angesehen werden. Dienen solche Gegenstände aber ausschließlich der Kapitalanlage, so sind sie jedenfalls nicht nach § 1568b BGB zu behandeln2, selbst wenn diese Gegenstände in der Ehewohnung zur Schau gestellt wurden. Nicht der Ausstattung und Verschönerung der Wohnung oder des Hauses 150 dienen aber Sammlungen (Münzen, Briefmarken etc.). Sie werden in erster Linie deshalb angeschafft worden sein, um individuelle Bedürfnisse und persönliche Interessen eines Ehegatten zu befriedigen3, so dass sie nicht zu den Haushaltsgegenständen zählen und beim Zugewinnausgleich zu berücksichtigen sind. Die Bewertung von Kunstgegenständen, Antiquitäten und Sammlungen 151 kann sehr schwierig sein, zumal der Anschaffungswert und der mögliche Erlös bei einem Verkauf oder einer Versteigerung weit auseinanderliegen können. Da oft kein Markt für bestimmte Kunstgegenstände existiert, wird vorgeschlagen, dass ein Mittelwert zwischen den tatsächlichen (ggf. indexierten) Anschaffungskosten und dem möglichen Verkaufswert zum Endstichtag gebildet wird4. Dies erscheint jedenfalls dann zur Wertbestimmung geeignet, wenn tatsächlich keine Verkaufsabsicht besteht, der Kunstgegenstand also auf Dauer im Vermögen des Ehegatten bleiben soll. j) Lebensversicherungen und betriebliche Altersversorgung als Einmalkapitalleistung aa) Lebensversicherungen Kapitalversicherungen, die auf eine einmalige Kapitalleistung gerichtet 152 sind, unterliegen grundsätzlich nicht dem Versorgungsausgleich, hier finden also im Umkehrschluss zu § 2 Abs. 4 VersAusglG die güterrechtlichen Vorschriften Anwendung, vgl. Rn. 180. Dies gilt jedoch nicht für ein Anrecht i.S. des Betriebsrentengesetzes oder des Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetzes. Dieses Anrecht ist unabhängig von der Leis1 2 3 4
BGH v. 1.12.1983 – IX ZR 41/83, FamRZ 1984, 144 (147) (zur HausratsVO). BGH v. 14.3.1984 – IVb ARZ 59/83, FamRZ 1984, 575 (zur HausratsVO). OLG Düsseldorf v. 1.7.1986 – 9 UF 145/85, FamRZ 1986, 1134. Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 291.
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Kap. 9 Rn. 153
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tungsform (Kapitalzusage/Kapitalversicherung) ausschließlich beim Versorgungsausgleich zu berücksichtigen, § 2 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG. 153
Kapitallebensversicherungen, die nicht unter § 2 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG fallen, sind beim Endvermögen grundsätzlich nicht nur mit dem Rückkaufswert samt möglichen Gewinnanteilen zu berücksichtigen. Dies wäre nur der Fall, wenn die Lebensversicherung tatsächlich kurz nach dem Endstichtag aufgelöst wird. Stattdessen ist der Zeitwert anzusetzen, der sich aus dem geschäftsplanmäßigen Deckungskapital inklusive gutgeschriebener Gewinnanteile zzgl. eines zum Endstichtag erreichten Anwartschaftsbarwerts des Schlussgewinnanteils zusammensetzt. Dieser Ansatz entspricht auch der Empfehlung der deutschen Aktuarvereinigung e.V.1. Erfahrungsgemäß stellen die Lebensversicherer eine entsprechende Bescheinigung nach diesen Vorgaben zum Endstichtag ohne weiteres aus. bb) Anrechte aus betrieblicher Altersversorgung mit Kapitalwahlrecht
154
Wie bereits aufgezeigt, unterliegt eine als betriebliche Altersversorgung begründete Anwartschaft, die auf eine Kapitalleistung gerichtet ist, seit dem 1.9.2009 gem. § 2 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG dem Versorgungsausgleich. Zuvor, dh. beim Endstichtag vor dem 1.9.2009, war sie beim Zugewinnausgleich zu berücksichtigen2; vgl. dazu auch die Ausführungen zu den Versorgungsansprüchen unter Rn. 183. Dies galt in den Altfällen auch dann, wenn der Arbeitgeber sich das Recht vorbehalten hatte, das Anrecht zu verrenten, diese Befugnis aber bis zum Ende der Ehezeit nicht ausgeübt hatte3. k) Lotteriegewinn
155
Lotteriegewinne fallen nach nahezu einhelliger Auffassung in die Zugewinnausgleichsberechnung4. l) Nießbrauch, Leibrente, Wohnrecht
156
Ist ein Grundstück, das zum Anfangsvermögen gehört bzw. nach § 1374 Abs. 2 BGB dem Anfangsvermögen hinzugerechnet wird, mit einem Nießbrauch, einer Leibrente oder einem Wohnrecht belastet, so erfährt es wegen der abnehmenden Lebenserwartung des Berechtigten während des Güterstands eine Wertsteigerung durch das Absinken der Belastung. Wie
1 Raube/Eitelberg, FamRZ 1997, 1322 und Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 647. 2 BGH v. 15.1.1992 – XII ZR 247/90, FamRZ 1992, 411 und BGH v. 17.11.2010 – XII ZR 170/09, FamRZ 2011, 183 = FamRB 2011, 97 und FamRB 2011, 98. 3 BGH v. 5.2.2003 – XII ZB 53/98, FamRZ 2003, 664 und BGH v. 8.6.2005 – XII ZB 177/03, FamRZ 2005, 1463, kritisch dazu Borth, FamRB 2005, 285. 4 BGH v. 22.12.1976 – IV ZR 11/76, FamRZ 1977, 124; Schwab, VII Rn. 164; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 329 und Rn. 50.
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Rn. 159
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diese Wertsteigerung zugewinnausgleichsrechtlich zu berücksichtigen ist, ist streitig1: Schon nach der früheren Rechtsprechung des BGH unterlag die Wertstei- 157 gerung, die privilegiertes Vermögen nach § 1374 Abs. 2 BGB während des Güterstands durch das allmähliche Absinken des Werts eines vom Zuwendenden angeordneten oder ihm vorbehaltenen, lebenslangen Nießbrauchs erfährt, nicht dem Zugewinnausgleich. Nach der Begründung der früheren Rechtsprechung hatte der begünstigte Ehegatte die Zuwendung von vornherein mit der sicheren Aussicht erworben, dass die auflösend bedingte Belastung durch das Nießbrauchsrecht künftig wegfällt. Soweit sich diese Aussicht während der Ehe durch das Absinken des Nießbrauchwerts teilweise verwirklicht hat, handelt es sich gleichermaßen um einen nach § 1374 Abs. 2 BGB privilegierten Vermögenserwerb. Dieser Wertzuwachs war nach der bisherigen Rechtsprechung deshalb vom Ausgleich auszunehmen. Einer wortgetreuen Anwendung des § 1374 Abs. 2 BGB würde es entsprechen, im Anfangs- und im Endvermögen des Zuwendungsempfängers die sich unter Berücksichtigung der Nießbrauchsbelastung jeweils ergebenden Werte des betreffenden Vermögens anzusetzen, dem Anfangsvermögen aber den Wertzuwachs hinzuzurechnen, der sich durch das zwischenzeitliche Absinken des Nießbrauchswerts ergeben hat. Nach der früheren Auffassung des BGH führte dies zu keinem anderen Ergebnis, als wenn beim End- und beim Anfangsvermögen der Nießbrauch ganz unberücksichtigt bleibt. Dies sollte unabhängig davon gelten, ob der Nießbraucher vor der Beendigung des Güterstands verstorben ist oder ob der Nießbrauch zu diesem Zeitpunkt fortbesteht. Für die Belastung mit einem dem Nießbrauch ähnlichen Wohnrecht sollte dies in gleicher Weise gelten2.
158
Diese Auffassung hat der BGH3 seit dem Jahr 2005 geändert. Dem Erfor- 159 dernis, der Berechnung des Anfangsvermögens den Wert zugrunde zu legen, den hinzuzurechnendes Vermögen im Zeitpunkt des Erwerbs hatte, kann nach der neueren Rechtsprechung dadurch Rechnung getragen werden, dass ein Wohnrecht bzw. Nießbrauch als Grundstücksbelastung für den Anfangsvermögensstichtag und – falls fortbestehend – auch für den Endvermögensstichtag bewertet wird. Darüber hinaus ist der fortlaufende Wertzuwachs der Zuwendung aufgrund des abnehmenden Werts auch für den dazwischen liegenden Zeitraum bzw. die Zeit zwischen dem Erwerb und dem Erlöschen des Wohnrechts zu bewerten, um den gleitenden 1 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 317 ff.; Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 667 ff. 2 BGH v. 14.3.1990 – XII ZR 62/89, FamRZ 1990, 603; BGH v. 30.5.1990 – XII ZR 75/89, FamRZ 1990, 1217; BGH v. 27.6.1990 – XII ZR 95/89, FamRZ 1990, 1083. 3 BGH v. 7.9.2005 – XII ZR 209/02, FamRZ 2005, 1974 = FamRB 2006, 1; BGH v. 22.11.2006 – XII ZR 8/05, FamRZ 2007, 978 = FamRB 2007, 194, dazu auch Jost, JR 2008, 332 und Schröder, FamRZ 2007, 982.
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Kap. 9 Rn. 160
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Erwerbsvorgang zu erfassen und durch entsprechende Hinzurechnung zum Anfangsvermögen vom Ausgleich auszunehmen. Dem steht nach der nunmehrigen Rechtsprechung nicht entgegen, dass der Wertzuwachs durch den gleitenden Vermögenserwerb nicht linear verläuft und sich idR ohne sachverständige Hilfe nicht ermitteln lassen dürfte. Um diese besondere Wertsteigerung aus dem Zugewinn herauszunehmen, muss die Grundstücksbelastung jeweils getrennt für den Anfangsstichtag und für den Endstichtag bewertet und die Differenz – als gleitend eingetretener privilegierter Erwerb – zum Anfangsvermögen gerechnet werden1. m) Schmerzensgeld/Schadenersatzansprüche 160
Da Schadenersatzansprüche einen Ausgleich für das durch den Schaden geminderte Vermögen darstellen, sind sie grundsätzlich zu berücksichtigen. Dies gilt für Vermögensschäden uneingeschränkt.
161
Umstritten ist die Einbeziehung von Schmerzensgeld in die Zugewinnausgleichsberechnung. Während in der Literatur der Ausschluss von Schmerzensgeldansprüchen bei der Zugewinnausgleichsberechnung befürwortet wird2, da kein Bezug zur ehelichen Lebensgemeinschaft besteht, hält der BGH3 unverändert an seiner Auffassung fest, dass Schmerzensgeldansprüche und Schmerzensgelder in die Zugewinnausgleichsberechnung einzubeziehen sind. Er beruft sich dabei auf die Nichtanalogiefähigkeit des § 1374 Abs. 2 BGB.
162
Mit den zum 1.9.2009 in Kraft getretenen Neuregelungen zum Zugewinnausgleich, die gerade keine Erweiterung des § 1374 Abs. 2 BGB auf Erwerbsvorgänge vorgesehen haben, die nichts mit gemeinsamer Wertschöpfung zu tun haben, also „ehefremd“ oder zumindest „eheneutral“ sind, obwohl eine entsprechende Erweiterung von Teilen der Literatur4 vehement gefordert worden war, dürfte sich der Gesetzgeber für die Ansicht des BGH (Berücksichtigung des Schmerzensgeldes beim Zugewinnausgleich und keine analoge Anwendung von § 1374 Abs. 2 BGB5) entschieden haben. n) Schmuck und Hobbyausrüstung
163
Schmuck, der – wie in den meisten Fällen – ausschließlich von einem Ehegatten persönlich genutzt wird, ist in die Zugewinnausgleichsberechnung mit seinem Veräußerungswert einzustellen6. 1 Koch, FamRZ 2008, 1381 mit Berechnungsbeispiel. 2 Herr, NJW 2008, 262; Schwab, VII Rn. 59; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 52, 368 und 558; Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 712 ff. und Koch, FamRZ 2008, 1124 (1129). 3 BGH v. 27.5.1981 – IVb ZR 577/80, FamRZ 1981, 755. 4 Ausführlich Koch, in Schwab/Hahne, Familienrecht im Brennpunkt, 2004, 139. 5 Hoppenz, FamRZ 2008, 1889 (1891) hatte sich insoweit für eine Generalklausel ausgesprochen. 6 Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 716; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 369.
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Rn. 168
Kap. 9
Eine Hobbyausrüstung, zB die Fotoausrüstung oder Golfausrüstung, die ausschließlich von einem Ehegatten genutzt wird, ist mit ihrem Verkehrswert bei der Berechnung zu berücksichtigen. Handelt es sich dagegen um gemeinschaftlich genutzte Gegenstände, wie zB den Fotoapparat der Familie, wird dies in den meisten Fällen als Haushaltsgegenstand zu qualifizieren sein. Sogar eine Segelyacht kann, wenn sie von beiden Ehegatten gemeinschaftlich genutzt wird und die Eheleute darüber hinaus sehr vermögend sind, als Haushaltsgegenstand anzusehen sein1.
164
o) Schulden Schulden sind mit dem Nennbetrag beim Anfangs- bzw. Endvermögen in 165 Abzug zu bringen (vgl. dazu auch die allgemeinen Ausführungen zu den Verbindlichkeiten unter Rn. 108 ff.). Abzustellen ist nicht auf den Fälligkeits-, sondern auf den Entstehenszeitpunkt2. Auf den Grund der Schulden kommt es nicht an. So zählen zu den abzugsfähigen Schulden neben Darlehensverpflichtungen insbesondere Mietrückstände, Kontenüberziehungen, Anwaltshonorare, aufgelaufene Unterhaltsschulden, aber auch Ausgleichsverpflichtungen gegenüber dem anderen Ehegatten3, insbesondere innerhalb der Gesamtschuldnerschaft (vgl. dazu die Ausführungen zu den gesamtschuldnerischen Verbindlichkeiten unter Rn. 132 ff.).
166
Ausnahme bilden die Verpflichtungen aus Dauerschuldverhältnissen, die 167 künftig fällig werdende Leistungen begründen (zB laufende Miete, laufender Unterhalt); hier sind nur die zum Stichtag fälligen Verpflichtungen einschließlich der Rückstände zu berücksichtigen4. Am Stichtag noch nicht fällige Schulden, die erst zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt und ohne laufende Zinsen zurückbezahlt werden müssen, sind daher mit einem abgezinsten Betrag in das Vermögen einzustellen5. p) Steuerschulden und Steuererstattungen aa) Steuerschulden Die bis zum Stichtag entstandenen Steuerschulden sind vom Endvermögen abzuziehen, auch wenn sie noch nicht fällig sind6. Einkommen1 LG Ravensburg v. 31.3.1995 – 3 O 2221/94, FamRZ 1995, 1585 (zur HausratsVO). 2 BGH v. 23.10.1985 – VI ZR 138/84, FamRZ 1986, 37 (38) und BGH v. 24.10.1990 – XII ZR 101/89, FamRZ 1991, 43. 3 BGH v. 12.11.2008 – XII ZR 134/04, FamRZ 2009, 193 = FamRB 2009, 65. 4 BGH v. 27.8.2003 – XII ZR 300/01, FamRZ 2003, 1544 = FamRB 2003, 346. 5 BGH v. 17.7.2002 – XII ZR 218/00, FamRZ 2003, 153 = FamRB 2003, 1, m. Anm. v. Bergschneider, FamRZ 2003, 154. Ein Berechnungsbeispiel zur Abzinsung findet sich bei Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 400 f. Schwab, VII Rn. 72 ff. spricht sich gegen eine Abzinsung aus. 6 BGH v. 24.10.1990 – XII ZR 101/89, FamRZ 1991, 43; OLG Dresden v. 25.6.2010 – 24 UF 800/09, FamRZ 2011, 113 = FamRB 2011, 35; Haußleiter/Schulz, 6, Rn. 22 ff.
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Kap. 9 Rn. 169
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und Kirchensteuer sowie Solidaritätszuschlag entstehen nach dem EStG bereits mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem das betroffene Einkommen erzielt wurde. Dabei kann die Anwendung des Stichtagprinzips1 gerade bei Selbständigen zu Ungerechtigkeiten führen, deren Korrektur allenfalls über den – nur in seltenen Fällen einschlägigen – § 1381 BGB erreicht werden kann2. Insbesondere für Freiberufler und Selbständige entstehen vor Ablauf des Kalenderjahres, nämlich am 10. März, 10. Juni, 10. September und 10. Dezember die Verpflichtungen zu Steuervorauszahlungen nach § 37 Abs. 1 EStG. Diese sind nur dann in die Ausgleichsbilanz einzustellen, wenn sie nicht fristgerecht bezahlt wurden. 169
Nach § 26b EStG zusammen veranlagte Ehegatten haben gem. § 44 Abs. 1 AO als Gesamtschuldner für die festgesetzten Steuern aufzukommen. Leistet ein Ehegatte die Zahlung, sind beide Ehegatten von ihrer Steuerschuld befreit worden, da nach § 44 Abs. 1 AO die Erfüllung durch einen Gesamtschuldner auch für die übrigen Schuldner wirkt. Da der Gesamtschuldnerausgleich nicht durch die Vorschriften über den Zugewinnausgleich verdrängt wird, bestehen beide Ausgleichsformen vielmehr nebeneinander3. Eine richtige Berechnung der beiderseitigen Endvermögen und damit des Zugewinnausgleichs ist erst möglich, wenn hinsichtlich der jeweiligen Verbindlichkeiten die Beteiligungsquote der Ehegatten im Innenverhältnis feststeht.
170
Da im Verhältnis zueinander jeder Ehegatte für die auf seine Einkünfte entfallende Steuer selbst aufzukommen hat, steht ihm ein Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungen zu, wenn er die Steuerschuld des anderen begleicht. Bei der Aufteilung der Steuerschuld zusammen veranlagter Ehegatten ist deshalb die Höhe der beiderseitigen der Schuld zugrunde liegenden Einkünfte zu berücksichtigen. Die Steuerschuld und die sich hieraus ergebenden Erstattungs- bzw. Nachzahlungsansprüche sind unter entsprechender Heranziehung des § 270 AO auf der Grundlage fiktiver getrennter Veranlagungen der Ehegatten zu ermitteln. Diese Vorgehensweise kommt für sich zu einem einkommensteuerkonformen Ergebnis, weil sie die konkrete steuerrechtliche Situation der Ehegatten berücksichtigt4.
1 BGH v. 24.10.1990 – XII ZR 101/89, FamRZ 1991, 43 und BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 62/84, FamRZ 1986, 37. 2 Dazu Schwab, VII Rn. 57. 3 BGH v. 12.11.2008 – XII ZR 134/04, FamRZ 2009, 193 = FamRB 2009, 65 und BGH v. 31.5.2006 – XII ZR 111/03, FamRZ 2006, 1178 = FamRB 2006, 302. 4 BGH v. 31.5.2006 – XII ZR 111/03, FamRZ 2006, 1178 = FamRB 2006, 302; Haußleiter/Schulz, 6, Rn. 7 ff.; Schwab, VII Rn. 125; Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 718 ff.; zum ganzen Problemkreis vgl. Arens, FamRZ 1999, 257 ff.
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Rn. 172
Kap. 9
Wichtig: Bei Einkommensteuerschulden lassen sich für den Ansatz im Endvermögen folgende Grundsätze aufstellen: – Erzielt ein Ehegatte im Veranlagungszeitraum kein steuerpflichtiges Einkommen, so ist er zum internen Steuerausgleich nicht verpflichtet. Die gesamte Steuerschuld ist im Endvermögen des anderen Ehegatten anzusetzen. – Erzielen beide Ehegatten steuerpflichtiges Einkommen, bietet sich die entsprechende Anwendung des § 748 BGB an1. Die interne Ausgleichsquote (und entsprechend der Ansatz im Endvermögen) ist nach dem Verhältnis der jeweiligen Steuerschuld zu bestimmen, die sich (fiktiv) bei getrennter Veranlagung der Ehegatten ergeben würde. Dies gilt selbstverständlich dann nicht, wenn die Ehegatten einen anderen Ausgleichsmodus vereinbart haben.
bb) Steuererstattungen Steuererstattungsforderungen, die zum Endstichtag entstanden sind, sind dem Endvermögen hinzuzurechnen2. Besonderheiten gelten auch hier, wenn die Eheleute gemeinsam veranlagt wurden. Trotz Zusammenveranlagung sind die Ehegatten nicht Gesamtgläubiger des Erstattungsanspruchs. Gläubiger im Außenverhältnis ist derjenige Ehegatte, der die überzahlte Steuer bezahlt hat3.
171
Im Innenverhältnis ist zu bestimmen, ob und ggf. in welcher Höhe ein 172 Anspruch auf Beteiligung an der Steuererstattung besteht. Bringt nur ein Ehegatte den Unterhalt für die übrigen Familienangehörigen auf, steht ihm die Einkommensteuererstattung in voller Höhe zu und ist seinem Endvermögen entsprechend hinzuzurechnen4. Ansonsten ist derjenige Ehegatte, für den infolge der Zusammenveranlagung eine geringere Steuerlast als bei getrennter Veranlagung entsteht, dem anderen (insoweit benachteiligten) Ehegatten zum internen Steuerausgleich verpflichtet5. Die jeweilige Quote bestimmt sich auch hier entsprechend § 748 BGB. Die (fiktiven) Steuerbeträge müssen für den Fall der getrennten Veranlagung errechnet und dann in Relation zueinander gesetzt werden, um die „gerechte“ Verteilungsquote zu ermitteln6. 1 OLG Düsseldorf v. 25.9.1997 – 5 U 161/96, FamRZ 1998, 1235; Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1375 BGB Rn. 18 und 20 und vor 1372 BGB Rn. 20; aA offenbar BGH v. 15.11.1989 – IVb ZR 100/88, FamRZ 1990, 374. 2 OLG Dresden v. 25.6.2010 – 24 UF 800/09, FamRZ 2011, 113 = FamRB 2011, 35. 3 Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1375 BGB Rn. 16 und Schwab, VII Rn. 127 jeweils unter Verweis auf BFH, BStBl. II, 1983, 162. 4 BGH v. 13.10.1976 – IV ZR 104/74, FamRZ 1977, 38. 5 BGH v. 13.10.1976 – IV ZR 104/74, FamRZ 1977, 38. 6 Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1375 BGB Rn. 16; zum ganzen Problemkreis Liebelt, FamRZ 1993, 626 ff.
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Kap. 9 Rn. 173
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q) Unterhaltsrückstände 173
Künftig fällige, wiederkehrende Leistungen, insbesondere zukünftige Unterhaltsansprüche, sind weder beim Anfangs- noch beim Endvermögen einzustellen. Dies gilt auch für künftig fällige, wiederkehrende Leistungen nach dem BVG.
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Ansprüche, die am jeweiligen Stichtag bereits fällig gewesen sind, also insbesondere auch rückständiger Unterhalt, sind zum jeweiligen Stichtag beim Unterhaltsverpflichteten als Passiva und beim Berechtigten als Aktiva einzustellen. Denn auch bezüglich der Unterhaltsverpflichtungen gilt, dass sie als Verbindlichkeiten das Endvermögen mindern1. Als Dauerschuldverhältnis ist die Unterhaltspflicht nicht als einheitliche, sondern als eine sich ständig erneuernde, erst beim Vorhandensein bestimmter Voraussetzungen zur Entstehung gelangende Verbindlichkeit aufzufassen. Diese Verbindlichkeit entsteht mit jeder Zeiteinheit, in der ihre Voraussetzungen vorliegen, von neuem2.
175
Im Rahmen der Berechnung des Endvermögens sind beim Unterhaltsberechtigten die wiederkehrenden Unterhaltsansprüche nicht zu berücksichtigen, soweit sie künftige Leistungen vorwegnehmen. Umgekehrt mindern Unterhaltsverpflichtungen des Verpflichteten sein Endvermögen nur insoweit, als sie am Stichtag bereits fällig sind. Das „starre“ Stichtagsprinzip ist auch hier konsequent einzuhalten3.
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Dies führt zu Ergebnis, dass zum Stichtag fällige, aber noch nicht erfüllte Unterhaltsverpflichtungen das Endvermögen des Unterhaltspflichtigen schmälern und die Unterhaltsforderungen des Berechtigten folglich dessen Endvermögen zuzurechnen sind. In diesem Zusammenhang ist auch auf die in der familienrechtlichen Literatur geführte Diskussion zum Verbot der Doppelberücksichtigung von Unterhalt und Zugewinnausgleich hinzuweisen4, die durch die Entscheidung des BGH v. 11.12.20025 ausgelöst wurde. 1 BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 10/09, FamRZ 2011, 25 = FamRB 2011, 33: Ein am Bewertungsstichtag bestehender Unterhaltsrückstand ist als Passivposten im Endvermögen des Unterhaltsschuldners anzusetzen. Zu diesem auf den ersten Blick paradoxen Ergebnis Kogel, FamRZ 2011, 779; OLG Celle v. 13.12.1990 – 12 UF 139/90, FamRZ 1991, 944; auch BGH v. 11.12.2002 – XII ZR 27/00, FamRZ 2003, 432 = FamRB 2003, 173 m. Anm. v. Schröder, FamRZ 2003, 434 und Kogel, FamRZ 2004, 1614 sowie Gerhardt/Schulz, FamRZ 2005, 145. 2 BGH v. 27.8.2003 – XII ZR 300/01, FamRZ 2003, 1544 = FamRB 2003, 346. 3 BGH v. 27.8.2003 – XII ZR 300/01, FamRZ 2003, 1544 = FamRB 2003, 346 und BGH v. 6.10.2010 – XII ZR 10/09, FamRZ 2011, 25 = FamRB 2011, 33. 4 Vgl. dazu Schulz, FamRZ 2006, 1237; Hoppenz, FamRZ 2006, 1242 und Schmitz, FamRZ 2006, 1811. Unzutreffend aber die Entscheidung des OLG Oldenburg v. 8.2.2006 – 4 UF 92/05, FamRZ 2006, 1031 = FamRB 2006, 262, dazu Hoppenz, FamRZ 2006, 1033, die vom BGH am 6.2.2008 – XII ZR 45/06, FamRZ 2008, 761 = FamRB 2008, 134, aufgehoben wurde. S. auch jüngst BGH v. 18.4.2012 – XII ZR 65/10, FamRZ 2012, 1040 m. Anm. Borth. 5 BGH v. 11.12.2002 – XII ZR 27/00, FamRZ 2003, 432 = FamRB 2003, 173.
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Rn. 177
Kap. 9
Beispiel: Die Ehefrau verfügte über kein Anfangsvermögen, der Ehemann hatte am Anfangsstichtag ein Vermögen von 50 000 Euro. Zum Stichtag für das Endvermögen verfügt der Ehemann über Geldanlagen iHv. insgesamt 80 000 Euro, die Ehefrau hat kein Vermögen. Während der Trennungszeit sind Unterhaltsansprüche der Ehefrau iHv. 25 000 Euro aufgelaufen. Die am Stichtag fälligen und noch nicht erfüllten Unterhaltsforderungen sind dem Aktivvermögen des Berechtigten zuzurechnen und als Passivposten vom Endvermögen des Verpflichteten abzuziehen. Die Ehefrau hat einen Zugewinn von 25 000 Euro (Unterhaltsforderung) erzielt. Der Zugewinn des Ehemanns beträgt 5000 Euro. Dem Ehemann steht ein Zugewinnausgleichsanspruch iHv. 10 000 Euro zu1. Die Ehefrau „finanziert“ also uU über den Zugewinnausgleich ihren eigenen Unterhalt2.
r) Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen3 sind mit ihrem Wert 177 zum jeweiligen Stichtag anzusetzen. Das Unternehmen ist einheitlich mit sämtlichen Aktiva und Passiva zu bewerten und es ist „sachverhaltsspezifisch“4, also einzelfallbezogen vorzugehen5. Dabei ist dann aber nicht der volle Betrag in das Endvermögen einzustellen, sondern der um die latente Steuerlast geminderte Betrag6. Problematisch und für den Juristen ohne Sachverständige wohl nicht durchführbar ist die Bewertung des Unternehmens7. Jedenfalls muss der Rechtsanwalt die Bewertungsgrundsätze des Sachverständigen nachvollziehen und kontrollieren können. 1 Zur Begr. dieses auf den ersten Blick paradoxen Ergebnisses OLG Celle v. 13.12.1990 – 12 UF 139/90, FamRZ 1991, 944; so auch BGH v. 11.12.2002 – XII ZR 27/00, FamRZ 2003, 432 = FamRB 2003, 173, m. Anm. v. Schröder, FamRZ 2003, 434 und Kogel, FamRZ 2004, 1614 sowie BGH v. 21.4.2004 – XII ZR 185/01, FamRZ 2004, 1352 = FamRB 2004, 314. 2 Um ungerechte Ergebnisse zu vermeiden, wird in der Literatur eine Korrektur über § 242 BGB oder § 1381 BGB analog vertreten: Kogel, MDR 1997, 1000 ff. und Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 514 ff. Der BGH hat jedoch die starre Regelung des Stichtagprinzips in der Entscheidung v. 27.8.2003 – XII ZR 300/01, FamRZ 2003, 1544 = FamRB 2003, 346 betont und darauf hingewiesen, dass nur bei grob unbilligen Ergebnissen eine Korrektur über § 1381 BGB möglich ist; vgl. dazu auch Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 384 ff. 3 Zur Bewertung von Unternehmensbeteiligungen im Zugewinnausgleich: Münch, FamRB 2007, 375 (378 ff.) und Schwab, VII Rn. 113 ff. 4 BGH v. 7.5.1986 – IVb ZR 42/85, FamRZ 1986, 776. 5 Zu denkbaren Ansätzen, die jedoch von Fall zu Fall verschieden sind und zu den verschiedenen Berechnungs- und Bewertungsmethoden: Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 774 ff.; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 388 ff. und Rn. 94 ff. sowie Schwab, VII Rn. 96 ff. Zur gesamten Thematik: Schröder, Bewertungen im Zugewinnausgleich, 5. Aufl. 2011. 6 BGH v. 2.2.2011 – XII ZR 185/08, FamRZ 2011, 1367 = FamRB 2011, 265; BGH v. 9.2.2011 – XII ZR 40/09, FamRZ 2011, 622 = FamRB 2011, 133 und BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 45/06, FamRZ 2008, 761 = FamRB 2008, 134; aus betriebswirtschaftlicher Sicht jedoch ablehnend: Olbrich, DB 2008, 1483. 7 BGH v. 24.9.1984 – II ZR 256/83, NJW 1985, 192.
Zimmermann
1069
Kap. 9 Rn. 178 178
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
Zu den freiberuflichen Praxen (insbesondere Architekturbüro, Arztpraxis, Zahnarztpraxis, Tierarztpraxis, Rechtsanwaltskanzlei und Steuerberaterpraxis) vgl. die Ausführungen unter Rn. 123 ff. s) Versorgungsansprüche, Verträge mit Kapitalwahlrecht
179
Findet über Versorgungsanwartschaften oder Versorgungsaussichten der Versorgungsausgleich statt, so finden die güterrechtlichen Vorschriften keine Anwendung, § 2 Abs. 4 VersAusglG. Diese Anwartschaften und Aussichten dürfen bei der Bestimmung des Zugewinns weder im Anfangs- noch im Endvermögen angesetzt werden. Ein güterrechtlicher Ausgleich für Anrechte i.S. des VersAusglG findet also nicht statt.
180
Bei der – auf den ersten Blick – klaren Abgrenzung nach § 2 Abs. 4 VersAusglG ist Vorsicht geboten. So unterfallen zwar Lebensversicherungen, deren Leistungen in Rentenform erfolgen, nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG dem Versorgungsausgleich. Dies gilt aber grundsätzlich nicht für Kapitallebensversicherungen. Diese fließen grundsätzlich in die Zugewinnausgleichsberechnung ein. Allerdings ist ein Anrecht i.S. des Betriebsrentengesetzes oder des Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetzes unabhängig von der Leistungsform, also auch im Falle der Kapitalzusage oder Kapitalversicherung, ausschließlich beim Versorgungsausgleich zu berücksichtigen, § 2 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich, wenn dem Versicherungsnehmer ein Wahlrecht zusteht, wonach er die Möglichkeit hat, eine Rentenversicherung durch eine einmalige Summe abfinden oder umgekehrt eine Kapitalversicherung verrenten zu lassen1.
181
Für die Einordnung in den Zugewinn- oder den Versorgungsausgleich ist die Leistungsform zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags maßgebend2. Unbeachtlich ist, ob es im konkreten Fall überhaupt zu einem Versorgungsausgleich kommt bzw. kommen wird. Haben die Ehegatten zB den Versorgungsausgleich ausgeschlossen, daneben aber den gesetzlichen Güterstand beibehalten, so unterfallen die Anwartschaften oder Aussichten, über die eigentlich der Versorgungsausgleich stattfände, dennoch nicht dem Zugewinnausgleich.
182
Im Gesetzentwurf zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs wird die Nichteinbeziehung von privaten Kapitallebensversicherungen in den Versorgungsausgleich begründet3. Anders als Leistungen der betrieblichen Altersversorgung oder aus einem zertifizierten Altersvorsorgevertrag haben diese strukturell nicht immer Vorsorgecharakter, sondern dienen teilweise der Finanzierung größerer Anschaffungen und damit nicht 1 Schwab, VII Rn. 26; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 301 ff. 2 BGH v. 9.11.1983 – IVb ZB 887/80, FamRZ 1984, 156; BGH v. 5.2.2003 – XII ZB 53/98, FamRZ 2003, 664 = FamRB 2003, 178; weiterführend: BGH v. 8.6.2005 – XII ZB 177/03, FamRZ 2005, 1463 = FamRB 2005, 285. 3 BT-Drucks. 16/10144, S. 47.
1070
Zimmermann
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
Rn. 183
Kap. 9
nur der Vorsorge, sondern auch dem Konsum. Zudem kann die ausgleichspflichtige Person über das angesparte Kapital in der Anwartschaftsphase verfügen, zB durch eine vorzeitige Kündigung. Dies ist bei Anrechten der betrieblichen Altersversorgung regelmäßig nicht möglich. Daher bleibt es auch seit dem 1.9.2009 dabei1, dass nur diejenigen privaten Lebensversicherungen in den Versorgungsausgleich einzubeziehen sind, die auf eine Rentenleistung gerichtet sind. Dies gilt auch für Verträge mit Kapitalwahlrecht, solange das Wahlrecht nicht ausgeübt ist. Es sei denn, es handelt sich um ein Anrecht i.S. des Betriebsrentengesetzes oder des Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetzes. Denn dieses Anrecht ist unabhängig von der Leistungsform (Kapital oder Rente) immer beim Versorgungsausgleich zu berücksichtigen, § 2 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG. Sofern das Anrecht nicht dem Versorgungsausgleich unterliegt, findet wie nach bisherigem Recht ein güterrechtlicher Ausgleich statt, wenn dieser nicht wirksam ausgeschlossen wurde.
Û
Praxistipp: Für den Rechtsanwalt bedeutet dies, dass er für seinen Mandanten, dem ein Wahlrecht bei der Lebensversicherung zusteht, vor Einreichung des Scheidungsantrags prüfen muss, welche Variante die günstigere ist, damit ggf. noch rechtzeitig das Wahlrecht ausgeübt und die Form der Versicherung geändert werden kann. Ist der Versorgungsausgleich ausgeschlossen und findet der Zugewinnausgleich statt, sollte in jedem Fall die Rentenform beibehalten bzw. gewählt werden, da der andere Ehegatte dann nicht daran partizipiert. Ist der Versorgungsausgleich nicht ausgeschlossen und wird der Zugewinn des Mandanten selbst unter Berücksichtigung der Lebensversicherung wegen hoher Verbindlichkeiten oder eines negativen Anfangsvermögens des Mandanten null oder sehr gering sein, empfiehlt sich die Beibehaltung bzw. Wahl der Kapitallebensversicherung.
Wird das Kapitalwahlrecht erst nach Rechtshängigkeit des Scheidungs- 183 antrags ausgeübt, die Versicherungsleistung also erst nach dem Endstichtag in eine Kapitalleistung umgewandelt, so kann die Versicherung nach dem BGH2 gleichwohl nicht mehr dem Versorgungsausgleich unterworfen werden3, da eine einmalige Kapitalleistung nach dem Regelungsmechanismus des VersAusglG nicht ausgeglichen werden kann. Auch an diese Möglichkeit muss der Rechtsanwalt denken. Die Auswirkungen dürften aber für den Zugewinnausgleich eher geringer sein: Der Wert des Kapitals der Lebensversicherung kann nämlich dennoch beim Zugewinn1 Bis zum 31.8.2009 galt nach § 1587 Abs. 3 BGB: „Für Anwartschaften oder Aussichten, über die der Versorgungsausgleich stattfindet, gelten ausschließlich die nachstehenden Vorschriften; die güterrechtlichen Vorschriften finden keine Anwendung.“ 2 BGH v. 5.2.2003 – XII ZB 53/98, FamRZ 2003, 664 = FamRB 2003, 178; weiterführend: BGH v. 8.6.2005 – XII ZB 177/03, FamRZ 2005, 1463; dazu auch Borth, FamRB 2005, 285. 3 Ablehnend Deisenhofer, FamRZ 2003, 745.
Zimmermann
1071
Kap. 9 Rn. 184
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
ausgleich im Endvermögen des wählenden Ehegatten angesetzt werden, da es sich an der (zum Endstichtag vorhandenen) vermögensrechtlichen Position der Wahlmöglichkeit als Anrecht fortsetzt. Wenn aber über den Zugewinnausgleich bereits rechtskräftig entschieden wurde oder eine wirksame Vereinbarung vorliegt, bevor der Ehegatte die Kapitalleistung wählt, sind Manipulationsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen. t) Wertpapiere, Geldforderungen 184
Bei Wertpapieren ist der amtliche Tageskurs der nächstgelegenen Börse zum Stichtag anzusetzen1. Dies gilt auch dann, wenn sich der Wert (kurz) nach dem Stichtag erheblich vermindert, wie zB nach einem „Börsencrash“ oder erheblichen Wertverfall bestimmter Aktien angesichts einer Finanzkrise, oder aber danach erheblich gesteigert hat2.
185
Die Bewertung von Geldforderungen richtet sich nach dem Nennbetrag, es sei denn, die Realisierung ist aus tatsächlichen Gründen (Liquidität des Schuldners) oder aus rechtlichen Gründen (Anfechtbarkeit des Rechtsgeschäfts) unsicher bzw. wird erst nach dem Stichtag fällig; dann sind entsprechende Abschläge vorzunehmen3.
V. Auskunftsansprüche 1. Auskunftsansprüche über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung a) Auskunftsanspruch ab Endstichtag 186
Ab dem Endstichtag, also ab Beendigung des Güterstands (zB durch notariell beurkundete Scheidungsfolgenvereinbarung) oder ab Rechtshängigkeit des Antrags auf Ehescheidung, des Antrags auf Aufhebung der Ehe, des Antrags auf vorzeitigen Zugewinnausgleich bei vorzeitiger Aufhebung der Zugewinngemeingemeinschaft oder des Antrags auf vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft kann jeder Ehegatte von dem anderen Ehegatten nach § 1379 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB Auskunft über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung verlangen.
187
Der Auskunftsanspruch nach § 1379 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB kann also – im Gegensatz zum Auskunftsanspruch nach § 1379 Abs. 2 S. 1 BGB – erst mit dem Eintritt des Endstichtags geltend gemacht werden.
188
Der Trennungszeitpunkt, auf den sich die Auskunft bezieht, ist anzunehmen, sobald die Ehegatten nach § 1567 BGB getrennt voneinander leben.
1 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 407 und 172; Schwab, VII Rn. 116. 2 Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 376. 3 BGH v. 24.10.1990 – XII ZR 101/89, FamRZ 1991, 43; Schwab, VII Rn. 53 f.
1072
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Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
Û
Rn. 191
Kap. 9
Wichtig: Der Zeitpunkt des Getrenntlebens erlangt seit dem 1.9.2009 damit auch für das gesetzliche Güterrecht besondere Bedeutung, denn bezogen auf den Trennungszeitpunkt wurden bis dahin nicht gegebene Auskunftsansprüche eingeführt. Der Rechtsanwalt wird daher zu Beginn des Mandatsverhältnisses ganz genau dokumentieren müssen, seit welchem Tag die Eheleute getrennt voneinander leben, oder aber den trennungswilligen Mandanten darauf hinweisen müssen, dass der Tag, ab dem die Trennung vollzogen wird, genau festgehalten wird, um späteren Schwierigkeiten vorzubeugen. Denn oft wissen die Mandanten nicht mehr, seit wann genau sie getrennt voneinander leben, sondern geben nur einen ungefähren Zeitraum an („kurz nach Weihnachten“ oder „im Anschluss an den Sommerurlaub“ usw.). Da hier rein stichtagsbezogene Auskunftsansprüche gegeben sind, reicht es also – anders als beim Scheidungsantrag, für den in den überwiegenden Fällen allein der Ablauf des Trennungsjahres zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung von Bedeutung ist – nicht aus, auf den ungefähren Trennungszeitpunkt bezogene Auskünfte geltend zu machen.
b) Auskunftsanspruch ab dem Zeitpunkt der Trennung Vor dem Endstichtag, nämlich bereits ab dem Zeitpunkt der Trennung, kann jeder Ehegatte von dem anderen Ehegatten Auskunft über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung verlangen, § 1379 Abs. 2 S. 1 BGB. Die Trennung ist anzunehmen, wenn die Ehegatten nach § 1567 BGB getrennt voneinander leben.
189
Beim Anspruch auf Auskunftserteilung nach § 1379 Abs. 2 S. 1 BGB, der 190 sich ausschließlich auf den Trennungszeitpunkt bezieht, kommt es im Gegensatz zu den Auskunftsansprüchen nach § 1379 Abs. 1 S. 1 BGB also nicht auf die Rechtshängigkeit des jeweiligen prozessualen Antrags an1. c) Zweck der Auskunftsansprüche zum Trennungszeitpunkt Diese beiden erweiterten, auf den Trennungszeitpunkt bezogenen Aus- 191 kunftsansprüche wurden zum 1.9.2009 eingeführt und sollen Vermögensminderungen zwischen der Trennung der Ehegatten und der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags vermeiden2 oder zumindest leichter aufdecken. Die Auskunftsansprüche nach §§ 1379 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 1379 Abs. 2 BGB korrespondieren mit der Beweislastregel in § 1375 1 Nach Schwab, VII Rn. 322, darf aus dem doppelten Anspruchsgrund über das Vermögen zum Trennungsstichtag nicht gefolgert werden, dass ein Ehegatte, der nach § 1379 Abs. 2 BGB Auskunft verlangt und zureichend erhalten hat, nach Erhebung des Scheidungsantrags ein weiteres Mal Auskunft über das Trennungsvermögen (nunmehr nach § 1379 Abs. 1 BGB) verlangen dürfte. 2 BT-Drucks. 16/13027, S. 11.
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1073
Kap. 9 Rn. 192
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
Abs. 2 S. 2 BGB, sollen also den Schutz vor illoyalen Vermögensminderungen zwischen dem Zeitpunkt der Trennung und dem Endstichtag ergänzen. 192
Ist das Endvermögen eines Ehegatten, im Falle der Ehescheidung das Vermögen bei Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags (§ 1384 BGB), geringer als das Vermögen, das er bei der Auskunft zum Trennungszeitpunkt angibt, so muss der Ehegatte die Vermögensminderung nachvollziehbar darlegen und ggf. auch beweisen. Gelingt ihm das nicht, so wird vermutet, dass eine illoyale Vermögensminderung i.S.d. § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB vorliegt und der Differenzbetrag wird dem Endvermögen hinzugerechnet, vgl. dazu auch Rn. 100 ff. 2. Auskunftsansprüche über das Anfangsvermögen und das Endvermögen a) Auskunftsanspruch über das Anfangsvermögen
193
Seit dem 1.9.2009 besteht gegenüber dem anderen Ehegatten ein Auskunftsanspruch gem. § 1379 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BGB über das Vermögen zum Anfangsstichtag1, der ab Beendigung des Güterstands, ab Rechtshängigkeit des Antrags auf Ehescheidung, des Antrags auf Aufhebung der Ehe, des Antrags auf vorzeitigen Zugewinnausgleich bei vorzeitiger Aufhebung der Zugewinngemeingemeinschaft oder des Antrags auf vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft geltend gemacht werden kann. Der Anspruch entsteht also mit Rechtshängigkeit des jeweiligen prozessualen Antrags.
Û
Wichtig: Der Auskunftsanspruch umfasst nach seinem Wortlaut alle für die Berechnung des Anfangsvermögens maßgeblichen Informationen. Er schließt damit auch Auskünfte über Vermögensbestandteile ein, die nach § 1374 Abs. 2 BGB dem Anfangsvermögen hinzuzurechnen sind.
194
Nach § 1377 Abs. 3 BGB besteht die gesetzliche Vermutung, dass das Endvermögen eines Ehegatten seinen Zugewinn darstellt, soweit kein Verzeichnis über den Bestand und den Wert des einem Ehegatten gehörenden Anfangsvermögens besteht. Das Anfangsvermögen ist in diesen Fällen also mit null anzusetzen. Der Ehegatte, der sich auf ein (positives) Anfangsvermögen beruft, muss also das zum Zeitpunkt der Eheschließung vorhandene Vermögen nachweisen.
195
In den seltensten Fällen wird daher ein Ehegatte für sich ein negatives Anfangsvermögen einräumen, zumal er sich auf die gesetzliche Vermutung des § 1377 Abs. 3 BGB berufen kann. Der Auskunftsanspruch 1 Nach dem bis zum 31.8.2009 geltenden Recht bestand der Auskunftsanspruch nur für das Endvermögen und umfasste nicht die Vorlage von Belegen zu den erteilten Auskünften.
1074
Zimmermann
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
Rn. 197
Kap. 9
über das Anfangsvermögen dient damit den Interessen des Ehegatten, der beim anderen Ehegatten ein negatives Anfangsvermögen vermutet1. Trifft diesen Ehegatten die Darlegungs- und Beweislast für das negative Anfangsvermögen, so muss ihm ein Anspruch auf Information über die dafür maßgeblichen Tatsachen gewährt werden. Beispiel: Der Ehemann hatte bei Eheschließung 30 000 Euro Schulden, was der Ehefrau aber nicht bekannt ist. Er erzielte im Lauf der Ehezeit einen Vermögenszuwachs von 50 000 Euro. Das Endvermögen des Ehemanns, also 20 000 Euro, ist der Ehefrau bekannt. Die Ehefrau war bei Eheschließung schuldenfrei und verfügt über ein Endvermögen von 40 000 Euro, was beiden Ehegatten bekannt ist. Unter Berücksichtigung des § 1377 Abs. 3 BGB, auf den sich der Ehemann als gesetzliche Vermutungsregel berufen kann, würde man von einem Zugewinn des Ehemanns von 20 000 Euro ausgehen, so dass die Ehefrau iHv. 10 000 Euro ausgleichsverpflichtet wäre. Bei Berücksichtigung der Schulden des Ehemanns im Anfangsvermögen von 30 000 Euro ist jedoch der Ehemann iHv. 5000 Euro gegenüber der Ehefrau ausgleichsverpflichtet, denn sein Zugewinn beträgt (wegen des negativen Anfangsvermögens) 50 000 Euro. Die Ehefrau hat deshalb ein Interesse daran, die Vermutung des § 1377 Abs. 3 BGB zu widerlegen und von den Schulden des Ehemanns bei Eheschließung zu erfahren. Damit ihr das gelingt, steht ihr der Auskunftsanspruch über das Anfangsvermögen nach § 1378 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BGB zu.
Nebenbei wird beim Auskunftsanspruch über das Anfangsvermögen da- 196 mit auch der bis zum 31.8.2009 geführte Streit über die Kostenfolgen vermieden, wenn positives Anfangsvermögen nach Eintritt des Endstichtags, aber vor Rechtshängigkeit des Zugewinnausgleichsanspruchs nicht angegeben wurde, dann aber erst im Laufe des späteren Prozesses offenbart wird2; denn die Einführung einer Auskunftspflicht (auf Verlangen und ab dem Endstichtag) macht das Verschweigen von Aktivvermögen idR nunmehr schadensersatzpflichtig3. b) Auskunftsanspruch über das Endvermögen § 1379 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BGB gibt den Ehegatten daneben einen gegensei- 197 tigen Auskunftsanspruch über das Vermögen zum Endstichtag, der ab Beendigung des Güterstands, ab Rechtshängigkeit des Antrags auf Ehescheidung, des Antrags auf Aufhebung der Ehe, des Antrags auf vorzeitigen Zugewinnausgleich bei vorzeitiger Aufhebung der Zugewinngemeinschaft oder des Antrags auf vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemein1 Die seit dem 1.9.2009 gesetzlich geregelte Auskunftspflicht über Anfangsvermögen ist Folge der ebenfalls zum 1.9.2009 erfolgten Einführung eines negativen Anfangsvermögens, § 1374 Abs. 3 BGB. 2 Vgl. im Hinblick auf die bis zum 31.8.2009 geltende Rechtslage (grundsätzlich kein Auskunftsanspruch über das Anfangsvermögen): OLG Schleswig v. 17.12.1982 – 8 WF 323/81, FamRZ 1983, 1126; zustimmend und ausführlich zu diesem Problemkreis vgl. Peschel-Gutzeit, AnwBl. 2003, 476 (482 ff.); dagegen aber OLG Karlsruhe v. 29.8.1986 – 2 WF 124/86, FamRZ 1986, 1105. 3 Hoppenz, FamRZ 2008, 1889 (1893).
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Kap. 9 Rn. 198
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
schaft geltend gemacht werden kann. Der Anspruch entsteht also mit Rechtshängigkeit des jeweiligen prozessualen Antrags. 198
Der (vermeintlich) ausgleichsberechtigte Ehegatte, der für die Höhe seiner Forderung und damit auch für das Endvermögen des anderen Ehegatten beweispflichtig ist, soll dadurch seine Ausgleichsforderung berechnen können. Nur in Ausnahmefällen, wenn das Fehlen jeglicher Ausgleichspflicht offenkundig ist, kann die Auskunft verweigert werden1.
Û
Wichtig: Auch dieser Auskunftsanspruch umfasst nach seinem Wortlaut alle für die Berechnung des Endvermögens maßgeblichen Informationen. Er schließt damit auch Auskünfte über Vermögensbestandteile ein, die nach § 1375 Abs. 2 BGB dem Endvermögen hinzuzurechnen sind (illoyale Vermögensminderungen).
199
Bis zum 31.8.2009 gab es einen gesetzlichen Auskunftsanspruch im Hinblick auf illoyale Vermögensminderungen nach § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB, die dem Endvermögen hinzuzurechnen sind, nicht. Um der Unkenntnis und dem Prozessrisiko des Ausgleichsberechtigten vorzubeugen, wurde nach früherer Rechtslage beim Verdacht illoyaler Vermögensminderungen ein § 1379 Abs. 1 aF BGB ergänzender Auskunftsanspruch aus § 242 BGB hergeleitet2. Dies galt jedoch nur für die Fälle, in denen der Berechtigte entschuldbar über Bestehen und Umfang des Zugewinns des anderen Ehegatten im Ungewissen und auf Auskunft angewiesen war3. Voraussetzung war, dass vom Berechtigten konkrete Anhaltspunkte für ein Handeln nach § 1375 Abs. 2 BGB vorgetragen wurden4.
200
Ergänzt wird der seit dem 1.9.2009 geltende Auskunftsanspruch über das Vermögen, das für die Berechnung des Anfangs- und Endvermögens maßgeblich ist, also auch Vermögenszurechnungen nach §§ 1374 Abs. 2 und 1375 Abs. 2 BGB umfasst, durch die Beweislastregelung in § 1375 Abs. 2 S. 2 BGB, die jedoch nur für den Zeitraum zwischen dem Tag der Trennung und dem Endstichtag gilt, dazu Rn. 100 ff.
Û
Praxistipp: Weigert sich ein Ehegatte ohne ausreichenden Grund beharrlich oder hat er sich ohne ausreichenden Grund bis zur Erhebung der Klage auf Auskunft beharrlich geweigert, den anderen Ehegatten über den Bestand seines Vermögens zu unterrichten, kann gem. § 1385 Nr. 4
1 OLG Koblenz v. 6.7.2004 – 11 UF 742/03, FamRZ 2005, 902; OLG Hamm v. 23.3.1998 – 8 WF 389/97, FamRZ 1998, 1300. 2 BGH v. 9.2.2005 – XII ZR 93/02, FamRZ 2005, 689 = FamRB 2005, 161. 3 BGH v. 19.4.2000 – XII ZR 62/98, FamRZ 2000, 948 und BGH v. 29.10.1981 – IX ZR 92/80, FamRZ 1982, 27; dazu auch OLG Köln v. 6.1.1997 – 26 WF 157/96, FamRZ 1997, 1336 und KG v. 26.8.1997 – 18 UF 9074/96, FamRZ 1998, 1514. 4 BGH v. 9.2.2005 – XII ZR 93/02, FamRZ 2005, 689 = FamRB 2005, 161; OLG Köln v. 15.3.2004 – 12 WF 16/04, FamRZ 2004, 1584.
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Zimmermann
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
Rn. 204
Kap. 9
BGB Antrag auf vorzeitigen Zugewinnausgleich oder nach § 1386 BGB Antrag auf vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft eingereicht werden. 3. Umfang, Art, Form und Gegenstand der Auskunftsansprüche a) Umfang der Auskunftserteilung Nur der Bestand am Stichtag, nicht aber die Wertberechnung selbst, ist Gegenstand des Auskunftsanspruchs1. Alle kennzeichnenden und wertbildenden Faktoren jedes einzelnen Gegenstandes (zB Pkw, Grundstück, Lebensversicherung) oder jeder Sachgesamtheit (zB Unternehmen, Praxis, Sammlung) müssen dabei so bestimmt angegeben sein, dass der andere Ehegatte die Vermögenswerte ungefähr selbst bestimmen kann2.
201
Der Auskunftspflichtige ist nur insoweit zur Ermittlung und Angabe der Vermögenswerte verpflichtet, als er dazu selbst imstande ist; ihm ist dagegen nicht die Pflicht auferlegt, die Vermögensgegenstände, insbesondere Grundeigentum, begutachten zu lassen3. Das schließt allerdings nicht aus, dass der Verpflichtete zu Einzelfragen Auskünfte einholen und Hilfskräfte einschalten muss, um den Wert der Vermögensgegenstände zuverlässig zu ermitteln. Dadurch anfallende Auslagen gehören zu den Kosten der Wertermittlung, die der Verpflichtete zu tragen hat.
202
b) Zurückbehaltungsrecht Ein Zurückbehaltungsrecht eines Ehegatten, bis der andere seine Auskunft erteilt hat, besteht nicht4.
203
c) Anspruch auf Belegvorlage Seit dem 1.9.2009 besteht gegenüber dem anderen Ehegatten neben den 204 Auskunftsansprüchen nach § 1379 Abs. 1 S. 1 oder Abs. 2 S. 1 BGB ein damit korrespondierender Anspruch auf Belegvorlage nach § 1379 Abs. 1 S. 2 BGB bzw. § 1379 Abs. 2 S. 2 BGB. Die im Unterhaltsrecht seit langem bestehende Pflicht zur Vorlage von Belegen (§ 1605 Abs. 1 S. 2 BGB i.V.m. § 1580 BGB) wurde auf das Zugewinnausgleichsrecht erstreckt5. 1 BGH v. 19.10.1988 – IVb ZR 27/88, FamRZ 1989, 157; OLG München v. 15.2.1995 – 12 WF 524/95, FamRZ 1995, 737. 2 BGH v. 24.7.2002 – XII ZB 31/02, FamRZ 2003, 597; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 476. 3 BGH v. 28.1.2009 – XII ZB 121/08, FamRZ 2009, 595 = FamRB 2009, 169 und BGH v. 14.2.2007 – XII ZB 150/05, FamRZ 2007, 711. 4 Schwab, VII Rn. 346 mwN; OLG Stuttgart v. 22.12.1983 – 16 UF 315/83, FamRZ 1984, 273. 5 Damit wurde eine Forderung aus der gerichtlichen Praxis aufgegriffen: Empfehlung des 14. Deutschen Familiengerichtstags unter B. III. 1b, Brühler Schriften zum Familienrecht, S. 97, 102.
Zimmermann
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Kap. 9 Rn. 205 205
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
Mögliche Schwierigkeiten können sich bei langen Ehen ergeben, zumal nach einer dreißigjährigen Ehe Kontoauszüge, Kaufbelege, aber auch Darlehensverträge, die zum Nachweis des Anfangsvermögen vorzulegen sind, meist nicht mehr vorhanden sein dürften. Laut der Gesetzesbegründung soll die Pflicht zur Vorlage von Belegen daher nur in dem Umfang bestehen, in dem solche Belege noch vorhanden sind1.
Û
Praxistipp: Bei Unternehmen, Praxen, Sozietäten, Beteiligungen etc. sollten aussagekräftige Unterlagen wie Jahresabschlüsse, betriebswirtschaftliche Auswertungen; Gesellschaftsverträge, Gewinnbeteiligungen etc. verlangt werden.
d) Vorlage eines Bestandsverzeichnisses 206
Der Auskunftsverpflichtete hat nach § 260 BGB ein schriftliches, geordnetes, übersichtliches und nachprüfbares Bestandsverzeichnis über die Vermögenswerte (Aktiva und Passiva) zum jeweiligen Stichtag2 vorzulegen. Dies ergibt sich aus § 1379 Abs. 1 S. 3 BGB. Nur ein einheitliches Bestandsverzeichnis kann Gegenstand der eidesstattlichen Versicherung gem. § 260 Abs. 2 BGB sein3. Darin sind die zum Endvermögen gehörenden Gegenstände nach Anzahl, Art und wertbildenden Merkmalen hinreichend zu spezifizieren4.
207
Streitig war, ob die Schriftform des Bestandsverzeichnisses nur dann gewahrt ist, wenn der Auskunftsverpflichtete persönlich unterzeichnet5. Ein vom Anwalt des Verpflichteten unterzeichneter Schriftsatz, der die Gesamtauskunft enthält, soll diesem Erfordernis nicht genügen6. Zwischenzeitlich hat der BGH7 über die Problematik entschieden: Zwar ist eine eigene Auskunft des Schuldners erforderlich, die jedoch nicht die gesetzliche Schriftform erfüllen muss und daher auch durch einen Boten, zB einen Rechtsanwalt, an den Gläubiger übermittelt werden darf. Aller1 Vgl. BT-Drucks. 16/10798, S. 26: „Sind Belege nicht mehr vorhanden, wäre die Erfüllung der Belegpflicht für den verpflichteten Ehegatten unmöglich und deshalb nicht zu erfüllen.“ 2 Dazu Hartung, MDR 1998, 509 und OLG Hamm v. 20.10.1980 – 6 UF 269/79, FamRZ 1981, 482. 3 Einzelangaben, die über mehrere Schriftsätze des Prozessbevollmächtigten verteilt sind, reichen nicht aus, OLG Hamm v. 1.3.2000 – 6 UF 51/99, FamRZ 2001, 763. 4 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 471 ff. 5 Für das persönliche Unterzeichnen: OLG Hamm v. 1.3.2000 – 6 UF 51/99, FamRZ 2001, 763 und OLG München v. 15.2.1995 – 12 WF 524/95, FamRZ 1995, 737; dagegen: OLG Naumburg v. 4.12.2006 – 4 UF 29/06, FamRZ 2007, 1813; OLG Zweibrücken v. 18.8.2000 – 2 UF 43/00, FamRZ 2001, 763 und OLG Nürnberg v. 8.9.1999 – 7 UF 2427/99, FuR 2000, 294. 6 Haußleiter/Schulz noch in der 4. Aufl. (1, Rn. 473), die diese Ansicht aber in der 5. Aufl. relativieren: 5. Aufl., 1, Rn. 474 f. 7 BGH v. 28.11.2007 – XII ZB 225/05, FamRZ 2008, 600 = FamRB 2008, 97.
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Rn. 211
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dings bedarf es dabei der Feststellung, dass die Erklärung auch tatsächlich vom Auskunftspflichtigen herrührt und keine solche der Hilfsperson ist. Damit wird auch vermieden, dass der Auskunftspflichtige sich im Rahmen der Abgabe der Versicherung an Eides statt auf seine fehlende Urheberschaft berufen kann. Als zum Einwand der Erfüllung seiner Leistungspflicht gehörend, ist der Schuldner für seine Urheberschaft in Bezug auf die erteilte Auskunft darlegungs- und erforderlichenfalls auch beweispflichtig.
Û
Praxistipp: Um formellen Einwänden vorzubeugen, sollte der Anwalt des Auskunftsverpflichteten ausdrücklich klarstellen, dass die im Bestandsverzeichnis enthaltenen Auskünfte von seinem Mandanten stammen.
e) Ergänzung der Auskunft Ein Anspruch auf Ergänzung der erteilten Auskunft besteht grundsätzlich 208 nicht1. Zweifel sind im Verfahren über die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung nach § 260 Abs. 2 BGB oder im Rechtsstreit über die Ausgleichsforderung zu klären2. f) Anspruch auf Wertermittlung der Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten Neben dem allgemeinen Auskunftsanspruch nach § 1379 Abs. 1 S. 1 BGB 209 kann der Berechtigte nach § 1379 Abs. 1 S. 3 BGB verlangen, dass er bei Aufnahme des Bestandsverzeichnisses zugezogen und der Wert der Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten vom Schuldner ermittelt wird. Die Kosten der Wertermittlung trägt der Auskunftspflichtige3. Ist er zur Wertermittlung selbst nicht imstande, muss er entsprechende Auskünfte bei geeigneten Personen (zB Makler) oder Stellen (zB Verwaltung, Berufsverbände, TÜV, ADAC) einholen, um den Wert seiner Vermögensgegenstände möglichst zuverlässig zu ermitteln4.
210
Allerdings hat der Auskunftsschuldner keine Pflicht, ein Sachverständi- 211 gengutachten in Auftrag zu geben. Er hat aber die Begutachtung zu dul-
1 BGH v. 8.6.1988 – IVa ZR 57/87, NJW 1988, 2729; zu den Ausnahmen Hartung, MDR 1998, 509 und Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 488. 2 OLG Köln v. 6.1.1997 – 26 WF 157/96, FamRZ 1997, 1336. 3 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 483 und 484: Der Auskunftsberechtigte kann aber jederzeit eine Begutachtung durch einen Sachverständigen seines Vertrauens auf eigene Kosten vornehmen lassen. 4 BGH v. 28.1.2009 – XII ZB 121/08, FamRZ 2009, 595 = FamRB 2009, 169; OLG Karlsruhe v. 22.9.1994 – 16 UF 33/94, FamRZ 1995, 736.
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Kap. 9 Rn. 212
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den und zu unterstützen. Holt der Berechtigte ein Sachverständigengutachten ein, hat er die Sachverständigenkosten allein zu tragen1.
Û
Praxistipp: Die Kosten eines solchen Privatgutachtens sind im späteren Ausgleichsprozess erstattungsfähig, wenn der Berechtigte nur mit Hilfe des Privatgutachtens in der Lage war, die vom Auskunftspflichtigen vorgelegte Vermögensaufstellung nachzuvollziehen. Die Kostentragungsregel des Auskunftsverfahrens deckt sich also nicht mit dem Kostenfestsetzungsverfahren im Ausgleichsprozess, da die Gutachterkosten als notwendige Kosten der Prozessvorbereitung nach §§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. 91 Abs. 1 S. 1 ZPO oder im Scheidungsverbund nach § 150 Abs. 4 FamFG ersetzt verlangt werden können2.
g) Gerichtliche Geltendmachung und Vollstreckung 212
Wird der Auskunftsanspruch gerichtlich geltend gemacht, was im Wege des Stufenantrags nach §§ 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. 254 ZPO sachdienlich ist, muss zwischen der Auskunft über den Bestand des Vermögens zum jeweiligen Stichtag nach § 1379 Abs. 1 S. 1 BGB bzw. nach § 1379 Abs. 2 S. 1 BGB und der Belegvorlage nach § 1379 Abs. 1 S. 2 BGB samt Pflicht des Schuldners zur Wertermittlung nach § 1379 Abs. 1 S. 3 BGB unterschieden werden. Die Ansprüche müssen gesondert, ggf. nebeneinander, geltend gemacht werden.
Û
Wichtig: Nur im Wege des Stufenantrags kann der Auskunftsanspruch im Scheidungsverbund geltend gemacht werden. Ein isolierter Auskunftsantrag ist keine Folgesache nach § 137 Abs. 2 FamFG, da er nicht auf die Regelung der Scheidungsfolgen, sondern nur auf deren Vorbereitung abzielt3. Anderes gilt nur, wenn ein isolierter Auskunftsantrag als Widerantrag gegen einen im Verbund geltend gemachten Zugewinnausgleichsanspruch erhoben wird4.
213
Der Antrag muss auf den richtigen Stichtag gerichtet sein und die verlangten Auskünfte und die zur Wertermittlung erforderlichen Belege ge-
1 BGH v. 4.10.1990 – XII ZB 37/90, FamRZ 1991, 316; OLG Karlsruhe v. 22.9.1994 – 16 UF 33/94, FamRZ 1995, 736 und OLG Karlsruhe v. 12.2.1981 – 16 UF 218/80, FamRZ 1981, 458, differenzierend Schwab, VII Rn. 341 und Fn. 68 mwN. 2 OLG Frankfurt v. 4.8.1999 – 3 WF 192/99, FamRZ 2000, 1513, dazu auch Koch, FamRZ 2003, 197 (203). 3 BGH v. 19.3.1997 – XII ZR 277/95, FamRZ 1997, 811, daran anschließend KG v. 18.2.2000 – 3 UF 6680/99, FamRZ 2000, 1292. 4 OLG Brandenburg v. 3.7.2006 – 9 UF 38/06, FamRZ 2007, 410 = FamRB 2007, 172; OLG Zweibrücken v. 16.1.1996 – 5 UF 16/95, FamRZ 1996, 749.
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Rn. 217
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nau bezeichnen, damit der angestrebte Titel über einen vollstreckungsfähigen Inhalt verfügt. Neben der Bestimmtheit des Antrags ist auch auf die Trennung der Ansprüche zu achten, um später die richtigen Vollstreckungsmaßnahmen einleiten zu können. Der Auskunftsanspruch ist nach §§ 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. 888 ZPO (Zwangsgeld, ersatzweise Zwangshaft), der Wertermittlungsanspruch nach §§ 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. 887 ZPO (Ersatzvornahme) und der Anspruch auf Vorlage von Unterlagen über §§ 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. 883 ZPO (Wegnahme durch Gerichtsvollzieher) zu vollstrecken.
214
h) Beschwerdewert Wird ein Ehegatte zur Auskunftserteilung verurteilt und möchte er dage- 215 gen ein Rechtsmittel einlegen, bemisst sich der Beschwerdewert nach dem Zeit- und Kostenaufwand, der für die ordnungsgemäße Erteilung der Auskunft erforderlich ist1. Dieser Wert liegt regelmäßig nicht über 600 Euro, so dass eine Beschwerde in vielen Fällen schon am Zulässigkeitserfordernis des § 61 Abs. 1 FamFG scheitert2. Das Interesse, mit der Zurückhaltung der Informationen die Durchsetzung des Ausgleichsanspruchs des anderen Ehegatten zu verhindern oder zu erschweren, wodurch regelmäßig ein Wert erreicht würde der über 600 Euro liegt, ist nicht relevant3.
VI. Zugewinnausgleichsforderung 1. Ermittlung des Zugewinns eines Ehegatten Nach Auskunftserteilung und Ermittlung des jeweiligen Anfangs- und Endvermögens muss der Zugewinn des jeweiligen Ehegatten ermittelt werden.
216
a) Ermittlung des Endvermögens Zunächst ist das Endvermögen nach § 1375 Abs. 1 BGB durch Abzug der zum Endstichtag ermittelten Passiva von den zum Endstichtag ermittelten Aktiva unter Hinzurechnung möglicher (indexierter) illoyaler Vermögensminderungen nach § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB zu bestimmen. Dieser Betrag kann ausweislich § 1375 Abs. 1 S. 2 BGB negativ sein.
1 BGH v. 28.1.2009 – XII ZB 121/08, FamRZ 2009, 595 = FamRB 2009, 169; BGH v. 27.4.2007 – XII ZB 10/07, FamRZ 2007, 1090 und BGH v. 14.2.2007 – XII ZB 150/05, FamRZ 2007, 711. 2 Vgl. aber auch BGH v. 22.4.2009 – XII ZB 49/07, FamRZ 2009, 1211 = FamRB 2009, 233. 3 Koch, FamRZ 2008, 1386 mit Berechnungsbeispiel.
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Kap. 9 Rn. 218
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b) Ermittlung des Anfangsvermögens 218
Sodann ist das Anfangsvermögen durch Abzug der (indexierten) Passiva von den (indexierten) Aktiva zu bestimmen. Dieser Betrag kann ausweislich § 1374 Abs. 3 BGB negativ sein. c) Ermittlung des Zugewinns
219
Stehen Endvermögen und Anfangsvermögen eines Ehegatten fest, kann sein Zugewinn einfach ermittelt werden: Zugewinn ist der Betrag, um den das Endvermögen eines Ehegatten das Anfangsvermögen übersteigt, § 1373 BGB (Endvermögen minus Anfangsvermögen).
Û
Wichtig: Zwar können das Anfangsvermögen und das Endvermögen seit dem 1.9.2009 negativ sein. Der Zugewinn kann aber in der Ausgleichsbilanz nie zu einer negativen Größe werden („übersteigt“), beträgt also mindestens null1.
Beispiel 1: Die Ehefrau hatte bei Eheschließung 120 000 Euro Schulden und vermindert sie bis zum Endstichtag auf 70 000 Euro. Sie hat also einen Zugewinn von 50 000 Euro erzielt, obwohl ihr Endvermögen weiter negativ ist (– 70 000 Euro). Nach der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage konnte weder das Anfangsvermögen noch das Endvermögen negativ sein; diese waren daher jeweils mit null anzusetzen. Die Ehefrau hätte nach der früheren Rechtslage keinen Zugewinn erzielt. Beispiel 2: Der Ehemann hatte bei Eheschließung 20 000 Euro Schulden, die bis zum Endstichtag auf 50 000 Euro anwachsen. Sein Endvermögen (– 50 000 Euro) übersteigt mithin nicht das Anfangsvermögen (– 20 000 Euro), er hat also keinen Zugewinn erzielt. Gegenüber der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage ändert sich am Ergebnis nichts: Bis zum 31.8.2009 konnten weder sein Endvermögen noch sein Anfangsvermögen negativ sein, sondern waren jeweils mit null anzusetzen, so dass das Anfangsvermögen das Endvermögen ebenfalls nicht übersteigt. Beispiel 3: Der Ehemann hatte bei Eheschließung 20 000 Euro Schulden, die sich bis zum Endstichtag auf 30 000 Euro erhöht haben. Kurz nach der Trennung hat er nämlich grundlos und in Benachteiligungsabsicht ein Darlehen iHv. 30 000 Euro aufgenommen und außerdem 10 000 Euro verschwendet.
1 Zu den Konsequenzen, die sich bei Anerkennung eines negativen Zugewinns ergeben würden, vgl. Hoppenz, FamRZ 2008, 1889 (1890). Kritisch zur Frage, ob ein negativer Zugewinn tatsächlich nicht möglich ist Braeuer, FamRZ 2010, 1614; Kogel, FamRZ 2010, 2036 mwN und Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 193 ff.
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Rn. 222
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Nach § 1375 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und Nr. 3 BGB werden die Beträge von 30 000 Euro und 10 000 Euro als illoyale Vermögensminderungen dem Endvermögen hinzugerechnet, so dass sich ein positives Endvermögen von 10 000 Euro ergibt. Dieses Endvermögen übersteigt das Anfangsvermögen um 30 000 Euro, so dass sich ein Zugewinn in dieser Höhe ergibt. Beispiel 4: Der Ehemann hatte bei Eheschließung 20 000 Euro Schulden, während der Ehezeit erbt er von seiner Mutter 40 000 Euro, sein Endvermögen beläuft sich auf 30 000 Euro. Nach § 1374 Abs. 2 BGB wird der geerbte Betrag von 40 000 Euro dem Anfangsvermögen hinzugerechnet, so dass sich sein Anfangsvermögen auf 20 000 Euro beläuft. Das Endvermögen übersteigt dieses Anfangsvermögen um 10 000 Euro, so dass sich ein Zugewinn von 10 000 Euro ergibt.
2. Ermittlung der Ausgleichsforderung und Kappungsgrenze a) Berechnung der Ausgleichsforderung Der jeweilige Zugewinn der Ehegatten, der nicht weniger als null betragen kann, ist zu vergleichen. Übersteigt der Zugewinn des einen Ehegatten den Zugewinn des anderen, so steht die Hälfte des Überschusses dem anderen Ehegatten als Ausgleichsforderung zu, § 1378 Abs. 1 BGB.
220
b) Kappungsgrenzen, § 1378 Abs. 2 S. 1 und S. 2 BGB aa) Zweck der Vorschrift Die Höhe der Ausgleichsforderung wird durch den Wert des Vermögens 221 begrenzt, das nach Abzug der Verbindlichkeiten bei Beendigung des Güterstands vorhanden ist, § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB. Höchstgrenze („Kappungsgrenze“) für den errechneten Ausgleichsanspruch ist also das Nettovermögen des loyalen Ausgleichspflichtigen (Vermögen abzüglich Verbindlichkeiten), das zum Zeitpunkt der Beendigung des Güterstands noch vorhanden ist. Im Falle der Ehescheidung kommt es damit nach § 1384 BGB auf die Höhe des Vermögens zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags an. Die Bestimmung diente ursprünglich dem Schutz von Drittgläubigern 222 des Ausgleichspflichtigen1. Nach den Gesetzesmaterialen zu den seit dem 1.9.2009 geltenden Vorschriften steht der Drittgläubigerschutz nicht mehr im Vordergrund, vielmehr soll der (loyale) Ausgleichspflichtige davor geschützt werden, sich zum Zwecke der Erfüllung des Ausgleichsanspruchs verschulden zu müssen2.
1 BGH v. 18.5.1988 – IVb ZR 6/88, FamRZ 1988, 925; OLG Hamm v. 23.6.1986 – 10 UF 96/86, FamRZ 1986, 1106. 2 BT-Drucks. 16/10798, S. 24.
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Kap. 9 Rn. 223
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bb) Auswirkungen 223
§ 1378 Abs. 2 S. 1 BGB wurde mit der zum 1.9.2009 in Kraft getretenen Reform des Zugewinnausgleichsrechts nicht verändert. Die Zugewinnausgleichsschuld ist – wie nach früherer Rechtslage – auf den Wert des Vermögens bei Beendigung des Güterstands begrenzt. Dennoch erlangt diese Vorschrift aufgrund der zum 1.9.2009 vorgenommenen Änderung des § 1384 BGB bei Beendigung des Güterstands durch Ehescheidung eine völlig andere Bedeutung als zuvor:
224
Wird die Ehe geschieden, tritt für die Berechnung des Zugewinns und für die Höhe der Ausgleichsforderung an die Stelle der Beendigung des Güterstands der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags, § 1384 BGB. Die Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags ist also nicht nur für die Berechnung des Zugewinns, wie nach dem bis zum 31.8.2009 geltenden § 1384 BGB, sondern auch für die Höhe der Ausgleichsforderung der maßgebende Zeitpunkt. Manipulationen, die zwischen der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags und der Rechtskraft der Ehescheidung erfolgen und durch den Ausgleichsschuldner nach der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage nahezu sanktionslos vorgenommen werden konnten1, verlieren damit jedes rechtliche Gewicht.
225
Die Höhe der Ausgleichsforderung wird nur durch das bei Ende des Güterstands (oder dem nach § 1384 BGB maßgeblichen Stichtag) vorhandene Vermögen begrenzt, § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB (Kappungsgrenze). Damit muss der Ausgleichsschuldner in Fällen, in denen er in erheblichem Umfang bei Beginn des Güterstands vorhandene Schulden getilgt hat, notfalls sein gesamtes nach der Schuldentilgung erworbenes Vermögen an den Ausgleichsgläubiger abführen. Damit soll sichergestellt werden, dass der Ausgleichsschuldner zur Erfüllung der Ausgleichsforderung grundsätzlich keine Verbindlichkeiten eingehen muss2, § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB. cc) Berücksichtigung illoyaler Vermögensminderungen, § 1378 Abs. 2 S. 2 BGB
226
Hat der Ausgleichsschuldner sein Vermögen nach § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB illoyal vermindert, so greift § 1378 Abs. 2 S. 2 BGB: Die sich nach § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB ergebende Begrenzung der Ausgleichsforderung (Kappungsgrenze) erhöht sich in den Fällen des § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB um den dem Endvermögen hinzuzurechnenden Betrag.
1 Zur Problematik der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage Kogel, FamRB 2003, 124; Schwab, VII Rn. 192 mwN; Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1378 BGB Rn. 4 mwN; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 432 ff.; Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 957 ff. 2 BT-Drucks. 16/10798 und BT-Drucks. 16/13027, S. 11; Brudermüller, FamRZ 2009, 1185 (1188).
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Rn. 229
Kap. 9
Der Ausgleichsschuldner muss dann zur Erfüllung der Ausgleichsforde- 227 rung Verbindlichkeiten aufnehmen, und zwar in Höhe des illoyal verwendeten Betrags. Im Ergebnis soll der illoyale Ehegatte so behandelt werden, als habe er sein Vermögen nicht vermindert. Von dem Grundsatz ausgehend, dass das gesamte vorhandene Vermögen einzusetzen ist, wird der Betrag der illoyalen Vermögensminderung in voller Höhe hinzugerechnet. Die Kappungsgrenze wird um den illoyal verminderten Betrag erhöht1. dd) Zusammenfassung und Berechnungsbeispiele Zusammenfassend ist zum Schutz vor Vermögensmanipulationen festzustellen, dass illoyale Vermögensminderungen bis zur Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags das Endvermögen nach § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB erhöhen. Außerdem erhöht sich dann auch die Kappungsgrenze des § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB um den Wert der illoyalen Vermögensminderung (§ 1378 Abs. 2 S. 2 BGB).
Û
228
Wichtig: Handlungen nach Rechtshängigkeit, die das Vermögen des Ausgleichsschuldners – unabhängig davon, ob illoyal oder berechtigt – negativ beeinträchtigen, beeinflussen die Ausgleichsforderung nicht mehr, da für die Berechnung der Höhe der Ausgleichsforderung (und damit gerade auch für die Kappungsgrenze) bei Ehescheidung an die Stelle der Beendigung des Güterstands der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags tritt. Von Bedeutung kann dies insbesondere in volatilen Zeiten sein2.
Flankiert wird der Schutz vor Vermögensmanipulationen für den Zeit- 229 raum zwischen der Trennung der Eheleute und der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags durch die in § 1379 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB und in § 1379 Abs. 2 S. 1 BGB geregelten Auskunftsansprüche über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung (vgl. dazu Rn. 186 ff.), die wiederum durch die Beweislastregel des § 1375 Abs. 2 S. 2 BGB (vgl. dazu Rn. 100 ff.) ergänzt werden. Beispiel 1: Der Ehemann hatte bei Eheschließung 100 000 Euro Schulden und vermindert sie bis zum Endstichtag auf 20 000 Euro. Sein Zugewinn beträgt 80 000 Euro, sein Endvermögen bleibt aber im Minus (– 20 000 Euro). Die Ehefrau hat in der gleichen Zeit einen Zugewinn von 60 000 Euro erzielt. Zwar hat der Ehemann damit einen um 20 000 Euro höheren Zugewinn erzielt, der gegenüber der Ehefrau mit 10 000 Euro auszugleichen wäre. Nach § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB (Begrenzung auf den Wert des Vermögens, das zum Endstichtag nach Abzug der Verbindlichkeiten vorhanden ist) besteht aber kein Ausgleichsanspruch der Ehefrau. 1 BT-Drucks. 16/13027, S. 11. 2 Dazu Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 434 f. und 563 ff.; Schwab, VII Rn. 196 und Schwab, FamRZ 2009, 1445.
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Kap. 9 Rn. 229
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Beispiel 2: Der Ehemann hatte zu Beginn der Ehe ein Vermögen von 10 000 Euro; zum Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrags verfügte er über ein Vermögen von 30 000 Euro. Die Ehefrau war sowohl bei Eheschließung als auch zum Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrags schuldenfrei, hatte aber jeweils auch kein Vermögen. Nach der Eheschließung hat der Ehemann das iHv. 50 000 Euro überschuldete Erbe seiner Mutter angenommen. Die ererbten Schulden werden nach § 1374 Abs. 2 BGB als negatives Anfangsvermögen berücksichtigt1, so dass das Anfangsvermögen – 40 000 Euro beträgt. Der Ehemann hat damit einen Zugewinn von 70 000 Euro (Endvermögen: 30 000 Euro, Anfangsvermögen: – 40 000 Euro) erzielt, die Ehefrau hat keinen Zugewinn erzielt. Nach § 1378 Abs. 1 BGB stünde der Ehefrau damit ein Ausgleichsanspruch von 35 000 Euro zu. Wegen der Kappungsgrenze nach § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB steht der Ehefrau jedoch „nur“ ein Ausgleichsanspruch iHv. 30 000 Euro zu. Die Ehefrau erhält also das gesamte2 Endvermögen des Ehemannes. Exkurs: Hätte der Ehemann das überschuldete Erbe seiner Mutter nicht angenommen, würde er über ein Anfangsvermögen von 10 000 Euro und ein Endvermögen von 80 000 Euro verfügen. Der Zugewinnausgleichsanspruch der Ehefrau beliefe sich dann auf 35 000 Euro, dem Ehemann verblieben von seinem Endvermögen also noch 45 000 Euro. Beispiel 3: Die Ehefrau verfügte zu Beginn der Ehe über ein negatives Vermögen von 30 000; Euro zum Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrags verfügte sie über ein positives Vermögen von 25 000 Euro, das im Wesentlichen aus einem Wertpapierdepot bestand. Nach Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags, aber vor Rechtskraft der Ehescheidung, vermindert sich das Guthaben im Wertpapierdepot aufgrund einer weltweiten Finanzkrise auf 2500 Euro. Zum Zeitpunkt der Rechtskraft der Ehescheidung beläuft sich das Gesamtvermögen der Ehefrau nur noch auf 3000 Euro. Der Ehemann war sowohl bei Eheschließung als auch zum Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrags schuldenfrei, hatte aber jeweils auch kein Vermögen. Der Zugewinn der Ehefrau beläuft sich, bezogen auf den Berechnungsstichtag, auf 55 000 Euro. Nach § 1378 Abs. 1 BGB stünde dem Ehemann damit ein Ausgleichsanspruch von 27 500 Euro zu. Wegen der Kappungsgrenze nach § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB steht ihm jedoch „nur“ ein Ausgleichsanspruch iHv. 25 000 Euro zu, da nach § 1384 BGB für die Höhe der Ausgleichsforderung an die Stelle der in § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB vorgesehenen „Beendigung des Güterstands“ bei Ehescheidung der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags tritt. 1 Koch, FamRZ 2008, 1124 (1125). 2 Nach der ursprünglich beabsichtigten Änderung des § 1378 Abs. 2 BGB sollte die Höhe der Ausgleichsforderung durch den hälftigen Wert des Vermögens des ausgleichspflichtigen Ehegatten begrenzt werden, das nach Abzug der Verbindlichkeiten bei Beendigung des Güterstands (im Falle der Scheidung: Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags) vorhanden ist, BT-Drucks. 16/10798. In diesem Falle würde der Ehefrau nach dem obigen Berechnungsbeispiel ein Zugewinnausgleichsanspruch von lediglich 15 000 Euro zustehen. Der Ehemann könnte also die zweite Hälfte seines Endvermögens behalten. Davon wurde jedoch abgesehen, vgl. BT-Drucks. 16/13027 (Begr. auf S. 10 f.), so dass der Wortlaut des § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB doch nicht geändert wurde; dazu auch Brudermüller, FamRZ 2009, 1185 (1187); Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 967; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 429 und Schwab, VII Rn. 193.
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Rn. 229
Kap. 9
Obwohl die Ehefrau zum Zeitpunkt der „Beendigung des Güterstands“ (Rechtskraft der Ehescheidung) nur noch über einen Bruchteil (3000 Euro) der von ihr zu leistenden Ausgleichsverpflichtung (27 500 Euro) verfügt und obwohl sie keine illoyalen Vermögensminderungen vorgenommen hat, muss sie sich angesichts des klaren Wortlauts der §§ 1378 Abs. 2 S. 1, 1384 BGB iHv. 24 500 Euro verschulden. Unberücksichtigt bleiben bei dieser Fallkonstellation also die Interessen der loyalen Ausgleichsschuldnerin, obwohl die Zugewinngemeinschaft bis zur Rechtskraft der Ehescheidung weiter besteht. Ihr wird die Belastung mit einer Ausgleichsverpflichtung zugemutet, deren Erfüllung ihr zwar zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags ohne die Eingehung von Verbindlichkeiten möglich gewesen wäre, auch wenn sie ihr damals noch vorhandenes Vermögen hätte vollständig einsetzen müssen. Ihren Vermögensverhältnissen im Augenblick des Entstehens und der Fälligkeit der Ausgleichsforderung nach § 1378 Abs. 3 S. 1 BGB (Rechtskraft der Ehescheidung; auf das Entstehen der Ausgleichsforderung bezieht sich § 1384 BGB gerade nicht) widerspricht dies jedoch eklatant: Sie muss sich nun zur Erfüllung der Ausgleichsverpflichtung verschulden1. Ob ein solcher Fall, der erst seit dem 1.9.2009 denkbar ist, über § 1381 BGB (Leistungsverweigerung wegen grober Unbilligkeit) abgemildert werden kann, erscheint zweifelhaft, zumal die obergerichtliche Rechtsprechung2 und der BGH3 mit der Anwendung der Billigkeitsklausel sehr zurückhaltend sind und das Ergebnis jedenfalls dem strengen Stichtagsprinzip, das die Rechtsprechung immer wieder betont, entspricht. Beispiel 4: Der Ehemann hatte bei Eheschließung 40 000 Euro Schulden, zum Zeitpunkt der Trennung verfügte er ausweislich einer kurz nach der Trennung erteilten Auskunft über ein positives Vermögen von 20 000 Euro, am Tag der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags hatte er sich iHv. 30 000 Euro verschuldet und verfügte daneben über kein weiteres Vermögen. Einen Nachweis darüber, was er mit dem am Trennungstag noch vorhandenen Vermögen gemacht hat, konnte er nicht führen, er gab lediglich an, dass er wegen seiner neuen Lebensgefährtin, die er kurz nach der Trennung kennen gelernt hatte und die einen sehr hohen Lebensstandard pflegt, sehr viel Geld ausgegeben hat und sich bis zur Zustellung des Scheidungsantrags erheblich verschulden musste. Die Ehefrau hatte am Tag der Eheschließung kein Vermögen, zum Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrags verfügte sie über ein Vermögen von 5000 Euro. Stellt man beim Vermögen des Ehemanns allein auf die grundsätzlich relevanten Stichtage ab, so beläuft sich sein Anfangsvermögen auf – 40 000 Euro und sein Endvermögen (Tag der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags) auf – 30 000 Euro. Er hätte damit einen Zugewinn von 10 000 Euro erzielt. Allerdings greift nun zunächst die Beweislastverteilung des § 1375 Abs. 2 S. 2 BGB: Da das Vermögen zum Endstichtag (–30 000 Euro) geringer ist als das zum Tren1 Für diesen Fall trifft die Aussage in der Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 16/13027, S. 11, gerade nicht zu. Dort wurde ausgeführt: „Es ist aber sicher gestellt, dass der Ausgleichsschuldner zur Erfüllung der Ausgleichsforderung grundsätzlich keine Verbindlichkeiten eingehen muss. Dies ist nur der Fall, wenn der Ausgleichsschuldner sein Vermögen in den Fällen des § 1375 Abs. 2 BGB illoyal verwendet hat.“ Im vorliegenden Fall hat die Ehefrau keine illoyalen Vermögensminderungen vorgenommen, dennoch muss sie den Ausgleichsbetrag bei Fälligkeit (Rechtskraft der Ehescheidung) durch Schulden finanzieren. 2 OLG Düsseldorf v. 28.1.2009 – 8 UF 55/05, FamRZ 2009, 1068, OLG Brandenburg v. 12.8.2008 – 9 UF 79/08, FamRZ 2009, 231. 3 BGH v. 6.2.2002 – XII ZR 213/00, FamRZ 2002, 606 = FamRB 2002, 290 und BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 262/90, FamRZ 1992, 787.
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Kap. 9 Rn. 230
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
nungszeitpunkt angegebene Vermögen (20 000 Euro), hat der Ehemann darzulegen und zu beweisen, dass die Vermögensminderung von insgesamt 50 000 Euro nicht auf Handlungen i.S.d. § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB zurückzuführen ist. Diesen Beweis kann er nicht führen, so dass von illoyalen Vermögensminderungen nach § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB iHv. 50 000 Euro auszugehen ist, die dem Endvermögen (Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags) von – 30 000 Euro hinzugerechnet werden, so dass der Ehemann so zu behandeln ist, als ob er über ein Endvermögen von 20 000 Euro verfügt. Der Zugewinn des Ehemanns beläuft sich damit auf 60 000 Euro (getilgte Schulden von 40 000 Euro zzgl. fiktives Endvermögen von 20 000 Euro). Der Zugewinn der Ehefrau beläuft sich auf 5000 Euro. Der rechnerische Ausgleichsanspruch der Ehefrau beträgt 27 500 Euro. Der Ehemann kann sich nun aber nicht auf die Kappungsgrenze des § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB berufen, wonach sich sein Endvermögen (Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags) auf – 30 000 Euro belief und er deshalb keinen Ausgleich schuldet, denn es gilt § 1378 Abs. 2 S. 2 BGB, wonach sich die Kappungsgrenze bei illoyalen Vermögensminderungen um den Wert des dem Endvermögen hinzuzurechnenden Betrags erhöht. Der illoyal verwendete Betrag von 50 000 Euro ist also dem Vermögen des Ehemanns zum Endstichtag (– 30 000 Euro) zur Bestimmung der Kappungsgrenze hinzuzurechnen, § 1378 Abs. 2 S. 2 BGB. Dann beläuft sich das Endvermögen des Ehemanns auf 20 000 Euro. Da der Ehemann einen rechnerischen Zugewinnausgleich von 27 500 Euro schuldet, greift die Kappungsgrenze. Ergebnis: Der Zugewinnausgleichsanspruch der Ehefrau beläuft sich auf nicht mehr als 20 000 Euro. Hätte der Ehemann das Vermögen im Umfang von 50 000 Euro nicht illoyal vermindert, stünde der Ehefrau ebenfalls ein Ausgleichsanspruch von 20 000 Euro zu. Es kämen weder § 1375 Abs. 2 S. 1 BGB noch § 1378 Abs. 2 S. 2 BGB zur Anwendung, sondern es müsste lediglich auf die Kappungsgrenze nach § 1378 Abs. 2 S. 1 BGB abgestellt werden.
3. Anrechnung von Vorausempfängen a) Zweck der Vorschrift und Anwendungsbereich 230
§ 1380 Abs. 1 S. 1 BGB bestimmt, dass auf die Ausgleichsforderung des Berechtigten angerechnet wird, was diesem vom anderen Ehegatten durch Rechtsgeschäft unter Lebenden mit der Bestimmung zugewendet wurde, dass es auf die Ausgleichsforderung angerechnet werden soll.
231
Ein gerechter Ausgleich der Zuwendung wird im Rahmen des Zugewinnausgleichs dadurch erreicht, dass der begünstigte Ehegatte die Zuwendung nicht gem. § 1374 Abs. 2 BGB als privilegierten Erwerb seinem Anfangsvermögen zurechnen kann, denn § 1374 Abs. 2 BGB gilt nicht für Zuwendungen zwischen Ehegatten, vgl. Rn. 73. Die Zuwendungen zwischen Ehegatten erhöhen daher den Zugewinn des Begünstigten, soweit ihr Wert bei Ende des Güterstands noch vorhanden ist.
232
Sinn der Norm ist es, den Empfänger im Falle des Zugewinnausgleichs wirtschaftlich nicht besser zu stellen, als er stehen würde, wenn die Zuwendung nicht erfolgt und somit im Vermögen des (ausgleichspflichtigen) Zuwendenden noch vorhanden gewesen wäre. Freiwillige Zuwen1088
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Rn. 234
Kap. 9
dungen der Ehegatten untereinander sollen also bei der Errechnung der Ausgleichsforderung neutralisiert werden.
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Wichtig: § 1380 BGB findet nur dann Anwendung, wenn der Ausgleichspflichtige die Zuwendung getätigt hat. Ist der Zuwendende ausgleichsberechtigt, greift § 1380 BGB nicht ein1. Der klare Gesetzeswortlaut, der eine Forderung des Empfängers voraussetzt, lässt eine andere Auslegung oder eine Analogie nicht zu. Gleiches gilt auch dann, wenn der Zuwendende mehr vorausgeleistet hat, als seiner Ausgleichspflicht entspricht, so dass sich zu seinen Gunsten ein Ausgleichsanspruch ergibt. Hier findet die ganz gewöhnliche Ausgleichsberechnung ohne Anwendung von § 1380 BGB oder § 1374 Abs. 2 BGB statt2.
b) Begriff der Zuwendung nach § 1380 BGB Als Zuwendungen i.S. dieser Vorschrift gelten nur solche, auf die der 233 Empfänger keinen Anspruch hatte. Es handelt sich also um freiwillige Leistungen ohne Gegenleistung3. Die Ehegatten müssen sich beim Rechtsgeschäft darüber einig gewesen sein, dass der Zuwendung keine Gegenleistung gegenübersteht, ausgenommen die spätere Anrechnung auf die mögliche Zugewinnausgleichsforderung. Äußert der Zuwendende seinen Willen zur Anrechnung nicht ausdrücklich i.S.d. § 1380 Abs. 1 S. 1 BGB, so ist nach § 1380 Abs. 1 S. 2 BGB im Zweifel anzunehmen, dass Zuwendungen angerechnet werden sollen, wenn ihr Wert den Wert von Gelegenheitsgeschenken übersteigt, die nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten üblich sind. Grundsätzlich ist also davon auszugehen, dass diese Zuwendungen als vorweggenommener Zugewinnausgleich zu betrachten sind4. Andernfalls wäre es unbillig, Zuwendungen des genannten Umfangs beim Zugewinnausgleich nicht zu berücksichtigen, weil das Ende des Güterstands zum Zeitpunkt der Zuwendung überhaupt nicht berücksichtigt wurde. Der Zuwendungsempfänger, der auch Ausgleichsberechtigter ist, wäre sonst doppelt begünstigt. 1 BGH v. 26.11.1981 – IX ZR 91/80, FamRZ 1982, 246; BGH v. 22.4.1982 – IX ZR 35/81, FamRZ 1982, 778. 2 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 514; Schwab, VII Rn. 201 ff., der auch darstellt, wie zu verfahren ist, wenn zweifelhaft ist, ob die Zuwendung überhöht war. In diesem Falle ist nach Schwab, VII Rn. 220; Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 989 ff. und Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 526 f., eine Doppelberechnung vorzunehmen. 3 BGH v. 24.2.1983 – IX ZR 42/82, FamRZ 1983, 351; BGH v. 20.12.2000 – XII ZR 237/98, FamRZ 2001, 413. 4 Dazu Schwab, VII Rn. 204 (Auslegungsregel); Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1380 BGB Rn. 1 (gesetzliche Wertung) und Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 518 (gesetzliche Wertung) jeweils mwN.
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Kap. 9 Rn. 235 235
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Zwar gilt der Kernsatz, unbenannte Zuwendungen seien nicht unentgeltlich, weil sie ja gerade einen ehebezogenen Hintergrund haben. Es besteht aber Einigkeit in Rechtsprechung1 und im Schrifttum2, dass die „unbenannten Zuwendungen“ von § 1380 BGB erfasst werden. Gerade wenn ein Ehegatte die Zuwendung für die familiäre Leistung des anderen tätigt, geschieht dies im Zweifel unter Anrechnung auf eine künftige Ausgleichsforderung des anderen. c) Durchführung der Anrechnung
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Praxistipp: Bevor die nicht ganz unkomplizierten Rechenschritte zur Anrechnung nach § 1380 BGB erfolgen, sollte geprüft werden, ob der Wert der Zuwendung der Höhe nach im Endvermögen des Empfängers noch vorhanden ist. Dann kann nämlich auf die Anwendung dieser Vorschrift verzichtet werden3.
236
Ist das Endvermögen aber geringer als der Wert der Zuwendung, wird die Zuwendung als Vorausempfang nach § 1380 BGB wie folgt angerechnet: § 1380 Abs. 2 S. 1 BGB regelt, wie der in Abs. 1 genannte Zweck (keine doppelte Begünstigung des ausgleichsberechtigten Zuwendungsempfängers) rechnerisch erreicht werden soll. Danach ist der Wert der Zuwendung bei der Berechnung der Ausgleichsforderung dem Zugewinn des Ehegatten (fiktiv) hinzuzurechnen, der die Zuwendung gemacht hat. Damit Wertsteigerungen des zugewendeten Gegenstandes, die zwischen dem Zeitpunkt der Zuwendung und dem Endvermögensstichtag eintreten, nicht (fiktiv) den Zugewinn des Zuwendenden, sondern allenfalls den Zugewinn des Empfängers erhöhen, bestimmt § 1380 Abs. 2 S. 2 BGB, dass sich der Wert des zugewendeten Gegenstandes nach dem Zeitpunkt der Zuwendung bestimmt. „Echte“, also nicht inflationsbedingte Wertsteigerungen fallen somit in den Zugewinnausgleich.
237
Wie die Zuwendung im Vermögen des Empfängers zu behandeln ist, regelt § 1380 Abs. 2 BGB jedoch nicht. Dies ergibt sich aber aus dem Gedanken des Abs. 1, wonach der Wert der Zuwendung aus dem Vermögen des Empfängers herausgerechnet werden muss. Es sind vier Rechenschritte4 vorzunehmen: Zunächst (a) ist der Zugewinn des (ausgleichspflichtigen) Zuwendenden um den Wert des zugewendeten Gegenstandes zum Zeitpunkt der Zuwendung zu erhöhen, § 1380 Abs. 2 BGB. Dann ist (b) im Endvermögen des (ausgleichsberechtigten) Empfängers der Wert der Zuwendung (zum Zeitpunkt der Zuwendung) herauszurechnen, Gedanke 1 BGH v. 24.2.1983 – IX ZR 42/82, FamRZ 1983, 351; BGH v. 20.12.2000 – XII ZR 237/98, FamRZ 2001, 413. 2 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 515; Schwab, VII Rn. 207 mwN. 3 OLG Zweibrücken v. 2.5.2006 – 2 U 6/05, FamRZ 2007, 142; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 514. 4 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 520 ff.
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des § 1380 Abs. 1 BGB1. Nunmehr ist (c) die fiktive Ausgleichsforderung zu berechnen. Von der ermittelten fiktiven Ausgleichsforderung des Empfängers ist (d) der Wert der Zuwendung (zum Zeitpunkt der Zuwendung) abzuziehen, § 1380 Abs. 1 BGB. Berechnungsbeispiel2: Der Ehemann verfügte über ein indexiertes Anfangsvermögen von 60 000 Euro und ein Endvermögen von 100 000 Euro. Er hat an die Ehefrau, die über kein Anfangsvermögen verfügte, während der Ehezeit eine Zuwendung im Wert von (indexiert) 10 000 Euro gemacht, für die die Anrechnungsvermutung gilt. Das Endvermögen der Ehefrau beträgt 20 000 Euro: (a) Der Zugewinn des Ehemanns von 40 000 Euro wird um den Wert der Zuwendung von 10 000 Euro, somit auf 50 000 Euro erhöht. (b) Das Endvermögen der Ehefrau von 20 000 Euro wird um die Zuwendung des Ehemannes von 10 000 Euro vermindert („bereinigt“), beträgt also 10 000 Euro. Ihr Zugewinn beläuft sich auf diese Höhe. (c) Die Differenz des beiderseits erzielten Zugewinns beläuft sich damit auf 40 000 Euro, der rechnerische (fiktive) Zugewinnausgleichsanspruch der Ehefrau auf 20 000 Euro. (d) Vom fiktiven Ausgleichsanspruch wird der Wert der bereits erhaltenen Zuwendung abgezogen, so dass die Ehefrau im Ergebnis nur einen Anspruch iHv. 10 000 Euro hat.
d) Wechselseitige Zuwendungen Sind während der Ehezeit wechselseitige Zuwendungen erfolgt, so ist der 238 Differenzbetrag maßgebend, wobei die jeweiligen Werte zunächst auf den Zuwendungszeitpunkt zu indexieren sind3. Hat der Mann der Frau zB eine Zuwendung von indexiert 20 000 Euro und die Frau dem Mann eine Zuwendung von indexiert 10 000 Euro gemacht, so ist der Differenzbetrag für die Berechnung nach § 1380 BGB maßgebend und beträgt also 10 000 Euro, so dass obiges Beispiel auch hier herangezogen werden kann. e) Im Endvermögen nicht mehr vorhandene Gegenstände Streit besteht darüber, wie zu verfahren ist, wenn der zugewendete Ge- 239 genstand im Endvermögen des Empfängers nicht mehr oder nur noch mit vermindertem Wert vorhanden ist4. Es stellt sich also die Frage, wer das Risiko des Untergangs bzw. der Verschlechterung des zugewendeten Gegenstandes trägt5. 1 BGH v. 26.11.1981 – IX ZR 91/80, FamRZ 1982, 246. 2 Ausführliche Beispiele mit Variationen finden sich bei Schwab, VII Rn. 214 ff. und Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 970 ff. 3 Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 982 ff.; Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 529. 4 Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 974 ff. zeigt dies an verschiedenen Berechnungsvarianten auf. 5 Vgl. dazu Schwab, VII Rn. 211 und Rn. 229, für den das weitere Schicksal der Zuwendung unerheblich ist und der auf das reale Endvermögen, „so wie es am
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Kap. 9 Rn. 240
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Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich dazu noch nicht geäußert. Stellt man auf die wirtschaftliche Schicksalsgemeinschaft der Ehegatten zwischen den Stichtagen ab und berücksichtigt man, dass die Ehegatten über den Zugewinnausgleich Anteil an der eigenen Vermögensentwicklung und derjenigen des anderen Ehegatten haben, so wird man gerade unter Berücksichtigung des in der Rechtsprechung immer wieder betonten schematischen und starren Regelungssystems des Zugewinnausgleichs die für § 1380 BGB übliche Berechnung nicht deshalb ändern, weil sich der zugewendete Gegenstand oder das Surrogat nicht oder nicht mehr mit dem vollen Wert im Endvermögen des Empfängers befindet. Ausgangspunkt ist daher das reale Endvermögen, so wie es sich am Endstichtag darstellt. Der Zuwendende ist daher im Ergebnis mit diesem Risiko zu belasten1.
241
Schließlich ist zu berücksichtigen, dass sich die besondere Problematik in den Fällen, bei denen der zugewendete Gegenstand nicht mehr oder nur noch mit vermindertem Wert vorhanden war, gerade deshalb ergab, weil nach der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage weder das Anfangsvermögen noch das Endvermögen negativ sein konnten. Seit den zum 1.9.2009 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen werden von dieser besonderen Konstellation deshalb nur noch Fälle des rechnerisch negativen Zugewinns erfasst; der Anwendungsbereich des § 1380 BGB wird damit noch weiter eingeengt2. 4. Gegenstand der Ausgleichsforderung und Ausnahme nach § 1383 BGB a) Grundsatz: Zahlungsanspruch
242
Geschuldeter Gegenstand der Ausgleichsforderung ist Geld, § 1378 Abs. 1 BGB. Dem ausgleichsberechtigten Ehegatten wächst also kein dingliches Teilhaberecht an den Endvermögensgegenständen des Verpflichteten zu. Der Verpflichtete hat auch kein Wahlrecht, den (Geld)Anspruch durch Sachleistungen zu erfüllen.
Stichtag vorgefunden wird“, abstellt, so dass die Berechnung dem üblichen Schema folgt und der Zuwendende mit dem Risiko belastet ist. Dagegen Johannsen/ Henrich/Jaeger, § 1380 BGB Rn. 14 f. und Rn. 3, die das Risiko des weiteren Schicksals des zugewendeten Gegenstands dem Empfänger aufbürden und deshalb die üblichen Rechenschritte modifizieren. Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 976 und Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 522 ff. stellen an Rechenbeispielen dar, dass zum Ausgleich des Geldwertschwundes eine Hochrechnung vorzunehmen ist, die wiederum zu anderen Ergebnissen führen kann. 1 Zutreffend Schwab, VII Rn. 211 aE, dagegen: Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1380 BGB Rn. 15. 2 Hoppenz, FamRZ 2008, 1889 (1891). Ähnlich auch die Ausführungen bei Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 980 f., der dabei aber einen negativen Zugewinn anerkennen will.
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Rn. 245
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b) Ausnahme: Übertragung von Vermögensgegenständen Nur im eng begrenzten Ausnahmefall des § 1383 BGB1 („grobe Unbilligkeit für den Gläubiger und Zumutbarkeit für den Schuldner“) kann der Ausgleichsberechtigte die Übertragung bestimmter Gegenstände aus dem Vermögen des Verpflichteten unter Anrechnung auf die Ausgleichsforderung verlangen.
243
Zur Vermeidung von Spekulationssteuer könnte für den Ausgleichs- 244 schuldner die Verurteilung zur Übertragung eines Vermögensgegenstandes an den Ausgleichsberechtigten nach § 1383 BGB interessant sein2. Dabei ist es allerdings streitig, ob es sich bei der Verurteilung zur Eigentumsübertragung nach § 1383 BGB um ein privates Veräußerungsgeschäft i.S.d. § 23 Abs. 1 Nr. 1 EStG handelt. Nur wenn kein privates Veräußerungsgeschäft3 angenommen wird, fällt keine Spekulationssteuer beim Ausgleichspflichtigen an, wenn zwischen Erwerb und Veräußerung des zu übertragenden Gegenstandes noch keine zehn Jahre verstrichen sind.
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Wichtig: Durch Vereinbarung kann selbstverständlich bestimmt werden, dass statt der Geldzahlung ein (teilweiser) Ausgleich in Sachwerten erfolgt, zB durch Übertragung eines Miteigentumsanteils an einer Immobilie an den ausgleichsberechtigten Ehegatten, der bereits Miteigentümer ist. Sollte sich eine einvernehmliche Regelung nicht erzielen lassen und sollte der ausgleichsberechtigte Ehegatte mit den gemeinsamen minderjährigen Kindern in der Immobilie wohnen, die er zum Alleineigentum erhalten will, bietet es sich an, den Antrag nach § 1383 BGB zu stellen.
5. Einzelheiten der Ausgleichsforderung a) Entstehung, Fälligkeit, Übertragbarkeit und Pfändung der Ausgleichsforderung Die Ausgleichsforderung entsteht mit der Beendigung des Güterstands 245 und wird zugleich fällig. Im Falle der Ehescheidung entsteht die Ausgleichsforderung also mit Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses. Erst ab diesem Zeitpunkt ist die Zugewinnausgleichsforderung übertragbar und
1 In der Praxis spielt diese Vorschrift kaum eine Rolle, wie die hierzu kaum vorhandene Rspr. zeigt; vgl. dazu allenfalls LG Frankfurt/O. v. 28.9.2007 – 19 T 270/07, FamRZ 2008, 293 (Prüfung der Vorschrift im Rahmen eines Teilungsversteigerungsverfahrens); OLG Hamm v. 23.5.1978 – 15 W 30/77, FamRZ 1978, 687. 2 Schröder, FamRZ 2002, 1010 und Haußleiter/Schulz, 6, Rn. 37 f. 3 Feuersänger, FamRZ 2003, 645 (647) nimmt ein privates Veräußerungsgeschäft an, so dass der Anfall von Spekulationssteuer in Betracht kommt; Schröder, FamRZ 2002, 1010 und Haußleiter/Schulz, 6, Rn. 38 gehen nicht von einem privaten Veräußerungsgeschäft aus.
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Kap. 9 Rn. 246
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
vererblich, § 1378 Abs. 3 S. 1 BGB. Daran ändert bei der Ehescheidung auch der zum 1.9.2009 geänderte Wortlaut des § 1384 BGB nichts: Nur für die Berechnung des Zugewinns und die Höhe der Ausgleichsforderung, nicht aber für das Entstehen, tritt nach § 1384 BGB an die Stelle der Beendigung des Güterstands der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags. 246
Im Falle der Ehescheidung ist es dem – vermeintlich – ausgleichsberechtigten Ehegatten aber durch das (prozessuale) Verbundprinzip erlaubt, den noch nicht entstandenen Zugewinnausgleichsanspruch im Ehescheidungsverbundverfahren gerichtlich einzufordern, §§ 137 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 4; 261 i.V.m. 142 Abs. 1 FamFG. Dabei stellt § 148 FamFG klar, dass vor der Rechtskraft des Scheidungsausspruchs die Entscheidungen in Folgesachen nicht wirksam werden.
247
Bei Antrag auf vorzeitigen Ausgleich des Zugewinns bei vorzeitiger Aufhebung der Zugewinngemeinschaft nach § 1385 BGB oder bei vorzeitiger Aufhebung der Zugewinngemeinschaft nach § 1386 BGB entsteht die Forderung mit der Rechtskraft des Beschlusses, mit dem auf vorzeitigen Ausgleich des Zugewinns oder auf vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft erkannt wird, § 1388 BGB, sofern nicht die Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses zuvor eintritt1.
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§ 851 Abs. 1 ZPO bestimmt, dass die Pfändbarkeit einer Forderung von deren Übertragbarkeit, vorliegend wegen § 1378 Abs. 3 S. 1 BGB also von der Beendigung des Güterstands (Rechtskraft der Ehescheidung), abhängt. § 852 Abs. 2 ZPO, der für die Pfändung des Anspruchs auf Zugewinnausgleich auf die Rechtshängigkeit abstellt, tritt insoweit hinter § 851 Abs. 1 ZPO zurück2. b) Tod eines Ehegatten aa) Tod des Ausgleichsberechtigten
249
Wurde der Güterstand vor dem Tod des Berechtigten (zB durch rechtskräftigen Scheidungsbeschluss oder Ehevertrag) beendet, geht der Zugewinnausgleichsanspruch auf seine Erben über.
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Wichtig: Ist begründeter Scheidungsantrag gestellt, stirbt der ausgleichsberechtigte Ehegatte aber vor Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses, kann der Ausgleichsanspruch nicht auf seine Erben übergehen. Dies gilt auch dann, wenn für den Zugewinnausgleich zu Lebzeiten bereits Stufenantrag eingereicht, die Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses
1 BGH v. 23.10.1985 – IVb ZR 62/84, FamRZ 1986, 37 aE. 2 Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1378 BGB Rn. 8, da es nicht „Sinn des Verbundprinzips“ ist, den Anspruch eher pfändbar zu machen.
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Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
Rn. 253
Kap. 9
beim Ableben des Antragstellers aber noch nicht eingetreten war1. Eine Vorverlegung auf den maßgeblichen Stichtag für das Endvermögen, entsprechend §§ 1384 oder 1387 BGB, ist nicht möglich2. bb) Tod des Ausgleichsverpflichteten Endet der Güterstand durch Tod des ausgleichspflichtigen Ehegatten und wird der ausgleichsberechtigte überlebende Ehegatte nicht Erbe und steht ihm auch kein Vermächtnis zu, § 1371 Abs. 2 BGB, entsteht die Ausgleichsforderung mit dem Todesfall.
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Schlägt der überlebende Ehegatte, der zum Erben oder Vermächtnisneh- 251 mer berufen ist, die Erbschaft oder das Vermächtnis aus, § 1371 Abs. 3 und Abs. 2 BGB, entsteht die Ausgleichsforderung ebenfalls mit dem Todesfall, da die Ausschlagung auf diesen Zeitpunkt zurückwirkt, vgl. §§ 1953 Abs. 1, 2180 Abs. 3 BGB. Der Anspruch richtet sich gegen die Erben des Verpflichteten.
252
Tritt der Tod nach Rechtskraft der Scheidung ein, ist § 1371 BGB nicht 253 mehr anzuwenden. Dem Berechtigten steht der mit Rechtskraft der Scheidung entstandene Zugewinnausgleichsanspruch gegen die Erben des Verpflichteten zu.
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Wichtig: Überschneidungen ergeben sich, wenn ein Ehegatte verstirbt, während ein Scheidungsverfahren (mit Aussicht auf Erfolg) anhängig ist. In diesem Fall wird der Güterstand zwar durch den Tod des Ehegatten beendet, gleichwohl ist, falls es zum güterrechtlichen Ausgleich nach § 1371 Abs. 2 BGB kommt, für die Berechnung des Zugewinns nicht der Zeitpunkt des Todes des Ehegatten, sondern der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags maßgebend – vorausgesetzt, das Scheidungsverfahren hätte zum Erfolg geführt, wenn die Ehe nicht schon zuvor durch den Tod aufgelöst worden wäre. Stichtag für das Endvermögen ist also nicht der Todeszeitpunkt, sondern entsprechend § 1384 BGB der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags3.
1 BGH v. 8.3.1995 – XII ZR 54/94, FamRZ 1995, 597; Schwab, VII Rn. 273. 2 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 436; Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1378 BGB Rn. 8; Schwab, VII Rn. 258. 3 BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 23/01, FamRZ 2004, 527 = FamRB 2004, 141 und FamRB 2004, 142, für den Fall der Enterbung durch Testament; BGH v. 14.1.1987 – IVb ZR 46/85, FamRZ 1987, 353 mwN für den Fall des § 1933 BGB sowie Schwab, VII Rn. 274. Der BGH betont in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2003 erneut, dass das System des Zugewinnausgleichs einheitlich und generell zu beurteilen ist und schließt differenzierte Betrachtungsweisen aus.
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Kap. 9 Rn. 254
Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
c) Verzug und Verzinsung 254
Wurde der Zugewinn als Folgesache im Verbund geltend gemacht, können Prozesszinsen nach § 291 S. 1 BGB ab dem Tag der Rechtskraft der Ehescheidung1 gefordert werden, denn es kommt nach § 1378 Abs. 3 S. 1 BGB nicht auf die Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags, sondern auf den Tag der Beendigung des Güterstands an. Entsprechend hat die Antragstellung im Ehescheidungsverbundverfahren zu erfolgen (Verzinsung „ab Rechtskraft der Ehescheidung“).
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Bei außergerichtlicher Geltendmachung können ab Beendigung des Güterstands, also im Falle der Scheidung ab Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses (bzw. nach § 1388 BGB), Verzugszinsen (§§ 280 Abs. 2, 288 BGB) verlangt werden. Dazu muss der Schuldner aber zunächst in Verzug gesetzt werden.
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Wichtig: Vor Rechtskraft der Ehescheidung erfolgte Mahnungen und Zahlungsaufforderungen sind wirkungslos2, denn die Ausgleichsforderung wird erst mit Beendigung des Güterstands nach § 271 Abs. 1 BGB fällig.
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Wird der Zugewinnausgleichsanspruch nach Rechtskraft der Ehescheidung gerichtlich geltend gemacht, können ab Rechtshängigkeit wahlweise auch Prozesszinsen nach § 291 S. 1 BGB verlangt werden. d) Aufrechnung
257
Ab dem Zeitpunkt der Fälligkeit, also im Falle der Ehescheidung mit Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses, kann der Ausgleichsberechtigte ein Zurückbehaltungsrecht3 oder die Aufrechnung gegenüber einer Forderung des Ausgleichsverpflichteten geltend machen4.
1 Schwab, VII Rn. 259; Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1378 BGB Rn. 10 weisen zutreffend darauf hin, dass nicht auf den „Tag nach dem Eintritt der Rechtskraft der Scheidung“, sondern sofort „ab Rechtskraft“ abzustellen ist, wenn Rechtshängigkeit der Ausgleichsforderung zuvor (wie im Verbundverfahren) eingetreten war. 2 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 438. 3 Zu den Anforderungen für die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts vgl. BGH v. 17.11.1999 – XII ZR 281/97, FamRZ 2000, 355 und Schwab, VII Rn. 271. 4 Zur Aufrechnungsmöglichkeit vgl. BGH v. 21.11.2001 – XII ZR 162/99, FamRZ 2002, 318 = FamRB 2002, 129; OLG Karlsruhe 28.2.2002 – 16 UF 177/01, FamRZ 2002, 1032 und Schwab, VII Rn. 272. Ausführlich zur Frage, mit welchen Forderungen und in welcher prozessualen Situation gegen eine Zugewinnausgleichsforderung aufgerechnet werden kann: Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 995 ff.
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Rn. 260
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e) Leistungsverweigerung Gem. § 1381 Abs. 1 BGB kann der Ausgleichspflichtige die Erfüllung der 258 Ausgleichsforderung verweigern, soweit der Ausgleich des Zugewinns nach den Umständen grob unbillig wäre. § 1381 Abs. 2 BGB führt dazu als Beispielsfall der groben Unbilligkeit die „schuldhafte Nichterfüllung der wirtschaftlichen Verpflichtungen“ auf. Die Vorschrift dient der Einzelfallgerechtigkeit1 und stellt ein Korrektiv gegenüber dem schematischen, starren und pauschalierenden Berechnungssystem dar, das der Rechtssicherheit und Praktikabilität der Ermittlung der Zugewinnausgleichsforderung dienen soll2. Die Einrede muss nicht notwendig den gesamten Zugewinnausgleichsanspruch umfassen, so dass auch die Verweigerung eines Teils ein unbilliges Ergebnis vermeiden kann.
Û
Wichtig: Auf das gesetzliche Korrektiv kann sich nur der Ausgleichspflichtige berufen. Eine Härteklausel, die dem Ausgleichsberechtigten zu einem höheren Ausgleichsanspruch aus Billigkeitsgründen verhelfen könnte, ist nicht vorhanden. Insoweit ist auf den allgemeinen Grundsatz des § 242 BGB zurückzugreifen3.
Allerdings verlangt das Merkmal der „groben Unbilligkeit“ hohe Anfor- 259 derungen, so dass nur starke Abweichungen von der Einzelfallgerechtigkeit, nicht aber vermeintliche Ungerechtigkeiten, die allein aufgrund der schematischen Durchführung des Zugewinnausgleichs entstehen, korrigiert werden4. Zur groben Unbilligkeit müssen ausweislich des Gesetzeswortlauts weitere „Umstände des Falles“ hinzutreten. Schon deshalb ist eine zielgenaue Bestimmung, wann eine Korrektur vorzunehmen ist, nicht möglich. Die Rechtsprechung behilft sich mit der Umschreibung „Fälle, in denen die volle Leistung der Ausgleichsforderung dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise widersprechen würde“5. Wie das gesetzliche Beispiel des § 1381 Abs. 2 BGB zeigt, liegt der Hauptanwendungsfall des Leistungsverweigerungsrechts im vorwerfbaren, schuldhaften Fehlverhalten des Ausgleichsberechtigten6. Davon abwei1 BGH v. 6.2.2002 – XII ZR 213/00, FamRZ 2002, 606 = FamRB 2002, 290. 2 Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1381 BGB Rn. 1 f. mwN. 3 Das OLG Frankfurt v. 13.7.2000 – 6 UF 21/00, FamRZ 2001, 158, hat der Ehefrau einen auf Treu und Glauben gestützten Ausgleichsanspruch zugebilligt und den gesetzlich errechneten Zugewinn erhöht, weil diese neben Haushalt und Kindererziehung im Betrieb des Mannes voll mitarbeitete, beim Bau des Familienheims mithalf, ihr ererbtes Vermögen darin investierte und dann das Haus nur kurz mitbewohnte. 4 Kritisch zur restriktiven Linie der Rspr. Schwab, VII Rn. 238 und 247 ff. 5 BGH v. 26.3.1980 – IV ZR 193/78, FamRZ 1980, 768 und BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 262/90, FamRZ 1992, 787. Dagegen Schwab, VII Rn. 238. 6 BGH v. 9.7.1980 – IVb ZR 531/80, FamRZ 1980, 877; BGH v. 26.3.1980 – IV ZR 193/78, FamRZ 1980, 768 und BGH v. 18.3.1992 – XII ZR 262/90, FamRZ 1992, 787.
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chend ist aber auch denkbar, dass beim Ausgleichsverpflichteten, der sein Endvermögen erst nach der Trennung während einer ungewöhnlich langen Trennungszeit erwirtschaftet hat, die Einrede durchgreift1. 261
Eine durchgehende Dogmatik hat sich zur groben Unbilligkeit nach § 1381 BGB bisher nicht gebildet2. Die ehelichen Untreue, eine lange Trennung bis zur Einreichung des Scheidungsantrags, aber auch eine kurze Ehe oder persönliches oder wirtschaftliches Fehlverhalten des Ausgleichsgläubigers sind klassische Fälle, bei denen die Unbilligkeitsklausel nach § 1381 BGB zu prüfen ist. Ob die Einrede dann eingreift, richtet sich nach dem jeweiligen Einzelfall, wobei die Rechtsprechung sehr zurückhaltend ist3.
262
Entsteht ein Schmerzensgeldanspruch erst Jahre nach der Trennung, so ist das Leistungsverweigerungsrecht anzuerkennen4. Ebenso wurde in der obergerichtlichen Rechtsprechung die grobe Unbilligkeit nach § 1381 BGB bei der Berücksichtigung von unfallbedingten Schmerzensgeldzahlungen nebst Abfindung für künftigen Verdienstausfall bejaht, wenn die Gesamtzahlung auch der künftigen Absicherung des geschädigten Ausgleichspflichtigen dienen sollte5. Hat der ausgleichsberechtigte Ehemann während der Ehe mehrere Frauen vergewaltigt und ist deswegen inhaftiert, haben sich seine Straftaten über die moralische Verwerflichkeit seines Verhaltens hinaus auch in finanzieller Hinsicht erheblich ausgewirkt, so ist ein Fall des § 1381 BGB gegeben6. Die Art der denkbaren Fallgruppen und die in der Rechtsprechung behandelten Sachverhalte sind so vielschichtig, dass an dieser Stelle eine auch nur annähernd vollständige Übersicht nicht möglich ist7. Jedenfalls ist aber angesichts der hohen Anforderungen für die „grobe Unbilligkeit nach den Umständen des Falles“ i.S.d. § 1381 BGB und der restriktiven Rechtsprechung nur in seltenen Einzelfällen vom Durchgreifen der Einrede auszugehen.
262a Aufgrund der seit dem 1.9.2009 geltenden Vorschriften, mit denen der maßgebliche Zeitpunkt für die Bestimmung der Höhe der Ausgleichsfor1 BGH v. 6.2.2002 – XII ZR 213/00, FamRZ 2002, 606 = FamRB 2002, 290; vgl. auch den ähnlichen Fall des OLG Celle v. 7.4.1992 – 18 UF 245/91, FamRZ 1992, 1300. 2 Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 942 ff. und Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 537 ff. bilden verschiedene Fallgruppen und versuchen dabei den Begriff der groben Unbilligkeit näher zu konkretisieren. 3 Vgl. dazu Schwab, Brühler Schriften zum 11. DFGT, Bd. 9, S. 47, der von einem „gezähmten Tiger“ spricht. 4 AG Hersbruck v. 23.1.2002 – 1 F 1082/01, FamRZ 2002, 1476 m. Anm. v. Bergschneider. 5 OLG Stuttgart v. 29.3.2001 – 11 UF 331/00, FamRZ 2002, 99. Der Ausgleichsanspruch wurde dort aufgrund der besonderen Umstände (psychische Betroffenheit des Berechtigten durch Unfallereignis; 28-jährige Ehedauer; Kindererziehung durch den Berechtigten) nur gekürzt. 6 OLG Hamburg v. 29.4.2011 – 12 UF 32/10, FamRZ 2012, 550 = FamRB 2012, 70. 7 Eine umfangreiche Übersicht mit zahlreichen Hinweisen auf Rspr. und Literatur findet sich bei Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1381 BGB Rn. 6–18.
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Rn. 265
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derung auf die Rechtshängigkeit der Scheidung nach §§ 1378 Abs. 2 S. 1, 1384 BGB vorverlagert wurde (vgl. o. Rn. 228), könnte daran gedacht werden, bei Fällen, in denen zwischen der Rechtshängigkeit und der Rechtskraft der Ehescheidung ein unverschuldeter Vermögensverfall des Ausgleichsverpflichteten erfolgt, über § 1381 BGB eine Billigkeitskorrektur vorzunehmen1. Dies ist jedoch abzulehnen2. Umgekehrt müsste sonst daran gedacht werden, dem Ausgleichsberechtigten einen höheren Anspruch zuzubilligen, wenn der Schuldner nach Rechtshängigkeit und vor Rechtskraft der Scheidung ohne sein Zutun einen Vermögenszuwachs (zB durch börsenbedingte Wertsteigerungen seiner Aktien) erzielt.
Û
Wichtig: Beim Leistungsverweigerungsrecht nach § 1381 BGB handelt es sich um eine Einrede, die spätestens bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung des Zugewinnausgleichsverfahrens geltend gemacht werden muss. Geschieht dies nicht, ist Präklusion eingetreten. Auf Einrede des Schuldners hin, der die volle Darlegungs- und Beweislast trägt, müssen dem bloßen Berechnungsergebnis die konkreten Lebensumstände und Wirtschaftsverhältnisse beider Ehegatten gegenübergestellt werden.
f) Stundung § 1382 Abs. 1 BGB ist neben § 1381 BGB ein Billigkeitskorrektiv für den 263 Verpflichteten. Danach kann das Familiengericht auf Antrag eine Ausgleichsforderung stunden, soweit diese vom Schuldner nicht bestritten wird, wenn die sofortige Zahlung auch unter Berücksichtigung der Interessen des Gläubigers zur Unzeit erfolgen würde. Da die Ausgleichsforderung nach § 1378 Abs. 3 S. 1 BGB mit der Beendigung des Güterstands der Zugewinngemeinschaft entsteht, meist also mit der Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses, und gem. § 271 Abs. 1 BGB sofort fällig wird, können für den Verpflichteten wegen des Zeitpunkts der Erfüllung Härten entstehen. Diese können durch § 1382 BGB, der allein auf den Zeitpunkt der Fälligkeit abstellt, unter bestimmten Voraussetzungen abgemildert werden3.
264
Die Stundung muss vom Ausgleichsschuldner ausdrücklich beantragt werden. Dabei ist eine Abwägung zwischen den Interessen des Gläubigers und denjenigen des Schuldners vorzunehmen. Diese kann zugunsten des Schuldners ausfallen, wenn eine unwirtschaftliche Liquidierung eines
265
1 Vgl. Büte, NJW 2009, 2776; Schwab, FamRZ 2009, 1445 und Schwab, VII Rn. 253. 2 So auch Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1378 BGB Rn. 5. Ähnlich Haußleiter/ Schulz, 1, Rn. 563 ff., die aber bei einer existenziellen Notlage des Ausgleichsberechtigten in bestimmten Grenzen einen Rückgriff auf § 242 BGB zulassen wollen. 3 Schwab, VII Rn. 278 ff.
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Kap. 9 Rn. 266
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Vermögensgegenstandes1 (zB Immobilie) durch eine Stundung gem. § 1382 BGB vermieden werden kann. Durch die Stundung kann auch vermieden werden, dass der Geschäftsbetrieb des Schuldners, der die wirtschaftliche Grundlage der Unterhaltszahlungen bildet, nicht gefährdet wird2. 266
Die gestundete Ausgleichsforderung ist zu verzinsen, § 1382 Abs. 2 BGB. Das Familiengericht entscheidet über die Höhe und Fälligkeit der Zinsen nach billigem Ermessen, § 1382 Abs. 4 BGB. Das Familiengericht kann auf Antrag anordnen, dass der Schuldner für die gestundete Forderung Sicherheit zu leisten hat, § 1382 Abs. 3 BGB.
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Wichtig: Ist die Ausgleichsforderung bestritten und wird sie gerichtlich geltend gemacht, so kann der Ausgleichsschuldner den (hilfsweisen) Stundungsantrag ausweislich des Wortlauts des § 1382 Abs. 5 BGB nur in diesem Verfahren stellen. War aber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Zugewinnausgleich die Notwendigkeit einer Stundung noch nicht absehbar und haben sich die dafür erforderlichen Voraussetzungen erst nach dem Urteil ergeben, kann der Stundungsantrag unter den Voraussetzungen des § 1382 Abs. 6 BGB zugelassen werden3.
6. Verjährung der Ausgleichsforderung a) Beginn der Verjährungsfrist 267
Mit Wirkung zum 1.1.2010 ist die spezielle Verjährungsvorschrift des § 1378 Abs. 4 BGB, wonach die Ausgleichsforderung grundsätzlich in drei Jahren verjährte, weggefallen. Fristbeginn war nach der damaligen Rechtslage der Zeitpunkt, in dem der Ehegatte erfuhr, dass der Güterstand beendet ist. Die Verjährung der Zugewinnausgleichsforderung war nach bisherigem Recht spätestens jedoch 30 Jahre nach Beendigung des Güterstands eingetreten. Im Falle der Ehescheidung war dies dann der Fall, wenn der Ausgleichsberechtigte von der Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses erfährt4, wobei positive Kenntnis erforderlich ist5. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB, wonach grob fahrlässige Unkenntnis des Gläubigers für den Beginn der Verjährung genügt, gilt nicht6.
1 BGH v. 1.4.1992 – XII ZR 146/91, FamRZ 1992, 918. 2 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 573. 3 Schwab, VII Rn. 285; OLG Naumburg v. 29.4.2002 – 14 WF 57/02, FamRZ 2003, 375. 4 BGH v. 9.1.2008 – XII ZR 33/06, FamRZ 2008, 675 = FamRB 2008, 135; OLG Naumburg v. 20.4.2000 – 8 UF 268/99, FamRZ 2001, 831. 5 Kogel, FamRB 2008, 188. 6 Zur früheren Rechtslage Schwab, VII Rn. 264.
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Rn. 269
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Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Änderung des Erb- und Verjäh- 267a rungsrechts v. 24.9.2009 (BGBl. I, S. 3142) mit Wirkung ab dem 1.1.2010 die Verjährungsfrage dahingehend geklärt, dass die Vorschrift des § 197 Abs. 1 Nr. 2 BGB, wonach familienrechtliche Ansprüche in 30 Jahren verjähren, aufgehoben wird. Diese Ansprüche werden seither der allgemeinen Verjährungsfrist nach § 195 BGB unterstellt. Gleichzeitig wurde auch die in § 1378 Abs. 4 BGB aufgeführte Sonderregel für den Zugewinn ersatzlos gestrichen. Zugewinnausgleichsansprüche verjähren daher in drei Jahren, § 195 BGB.
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Wichtig: Zwar beträgt die Verjährungsfrist wie bisher grundsätzlich drei Jahre. Allerdings beginnt diese Frist nun nicht schon mit Kenntnis der Beendigung des Güterstands, sondern nach § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Ausgleichsberechtigte von den den Anspruch begründenden Umständen (und der Person des Schuldners) Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste. In Abweichung zur bisherigen Verjährungsregelung beträgt die Höchstdauer nicht mehr 30 Jahre, sondern zehn Jahre ab Entstehung des Anspruchs, § 199 Abs. 4 BGB.
Die Übergangsvorschrift ist in Art. 229 § 23 EGBGB geregelt. Danach 268 sind die Vorschriften des BGB über die Verjährung in der seit dem 1.1.2010 geltenden Fassung auf die an diesem Tag bestehenden und nicht verjährten Ansprüche anzuwenden, wobei die Verjährungsfrist nicht vor dem 1.1.2010 beginnt. Allerdings richten sich der Beginn der Verjährung und die Verjährungsfrist nach den Vorschriften des BGB in der vor dem 1.1.2010 geltenden Fassung (also § 1378 Abs. 4 BGB), wenn bei Anwendung dieser Vorschriften die Verjährung früher vollendet wird als bei Anwendung der „neuen“ Vorschriften. b) Hemmung der Verjährung Für Hemmung und Neubeginn der Verjährung sind sowohl für den bisheri- 269 gen § 1378 Abs. 4 BGB als auch die „neuen“ Verjährungsregelungen die bereits seit dem 1.1.2002 geltenden Vorschriften maßgebend1. Ein bloßer Auskunftsantrag nach § 1379 BGB hemmt dabei die Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs nicht2. Dagegen wird die Verjährung des geltend gemachten, noch unbezifferten Zugewinnausgleichsanspruchs durch den Stufenantrag gem. § 254 ZPO gehemmt3. Gleiches gilt nach § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB für ein Gesuch auf Verfahrenskostenhilfe.
1 Vgl. dazu Büttner, FamRZ 2002, 361 (364); Koch, FamRZ 2003, 197 (205). 2 OLG Celle v. 3.3.2995 – 15 UF 222/94, FamRZ 1996, 678. 3 Schwab, VII Rn. 267 mwN.
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Kap. 9 Rn. 270
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Wichtig: Der Anspruch auf Zugewinnausgleich ist teilbar1. Bei einer Teilklage wird die Verjährung immer nur bezüglich des eingeklagten Teils des Ausgleichsbetrags gehemmt und erstreckt sich nicht auf den nicht eingeklagten Restanspruch2. Die Hemmung reicht also nur so weit, wie sich die Rechtskraftwirkung erstreckt.
7. Sicherung des künftigen Zugewinnausgleichsanspruchs durch Arrest a) Sicherungsmittel vor Rechtshängigkeit 270
Vor Einleitung des Scheidungsverfahrens, des Verfahrens auf vorzeitigen Zugewinnausgleich oder auf vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft besteht keine Möglichkeit, die künftige Ausgleichsforderung zu sichern. b) Dinglicher Arrest ab Rechtshängigkeit
271
Bis zum 31.8.2009 bestand nach Einleitung des Scheidungsverfahrens oder des (früheren) Verfahrens auf vorzeitigen Ausgleich des Zugewinns die Möglichkeit, nach § 1389 BGB Sicherheitsleistung zu verlangen, wenn wegen des Verhaltens des anderen Ehegatten zu besorgen war, dass die Rechte auf den künftigen Ausgleich des Zugewinns erheblich gefährdet wurden. Aufgrund der Existenz dieser Vorschrift war vor dem 1.9.2009 streitig, ob eine direkte Sicherung des künftigen Zugewinnausgleichsanspruchs im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes durch Arrest nach § 916 ZPO während eines Verfahrens (also vor Rechtskraft der Ehescheidung bzw. des vorzeitigen Zugewinnausgleichs) möglich ist, oder aber diese Sicherungsmöglichkeit durch den spezielleren § 1389 BGB verdrängt wird3.
272
Um diesen Streit zu lösen, hat sich der Gesetzgeber dafür entschieden, § 1389 BGB zum 1.9.2009 ersatzlos aufzuheben4. Damit ist sichergestellt, dass der dingliche Arrest als Sicherungsmittel ab Einleitung des Scheidungsverfahrens, des Verfahrens auf vorzeitigen Zugewinnausgleich oder auf vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft zulässig ist. c) Grund und Höhe des Arrests
273
Entsprechend den allgemeinen Vorschriften (§§ 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. 916 ff. ZPO) bedarf es eines Arrestgrundes, der zB schon vorliegen kann, 1 BGH v. 8.5.1996 – XII ZR 8/95, FamRZ 1996, 853; BGH v. 15.6.1994 – XII ZR 128/93, FamRZ 1994, 1095. 2 BGH v. 9.1.2008 – XII ZR 33/06, FamRZ 2008, 675; Kogel, FamRB 2008, 188 und Kogel, Strategien beim Zugewinnausgleich, Rn. 925 ff. 3 OLG Karlsruhe v. 29.8.2006 – 5 UF 173/06, FamRZ 2007, 408 und OLG München v. 30.5.2006 – 12 UF 1118/06, FamRZ 2007, 1101 sowie OLG Karlsruhe v. 17.7.2006 – 18 WF 140/06, FamRZ 2007, 410 = FamRB 2007, 322; Koch FamRZ 2009, 1191 (1195). 4 BT-Drucks. 16/10798, S. 31.
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Rn. 276
Kap. 9
wenn der Ausgleichsschuldner beabsichtigt, erhebliche Vermögenswerte zu veräußern1. Daneben bedarf es des schlüssigen Vortrags des Zugewinnausgleichsanspruchs (Arrestanspruchs) und der Glaubhaftmachung der Höhe des Anspruchs. Dabei kann selbstverständlich zur Schlüssigkeit und zur Höhe des Anspruchs auf den im Scheidungsverbund anhängigen Zugewinnausgleichsantrag verwiesen werden, wobei der Antrag auf Anordnung eines dinglichen Arrests nicht im Scheidungsverfahren, sondern in einem gesonderten Verfahren beim Familiengericht geltend gemacht werden muss. 8. Anspruch gegen Dritte, § 1390 BGB a) Inhalt der Vorschrift Nach dem zum 1.9.2009 geänderten § 1390 Abs. 1 BGB kann der aus- 274 gleichsberechtigte Ehegatte von einem Dritten Ersatz des Werts einer unentgeltlichen Zuwendung des ausgleichspflichtigen Ehegatten an den Dritten verlangen, wenn der ausgleichspflichtige Ehegatte die unentgeltliche Zuwendung an den Dritten in der Absicht getätigt hat, den ausgleichsberechtigten Ehegatten zu benachteiligen und die Höhe der Ausgleichsforderung den Wert des nach Abzug der Verbindlichkeiten bei Beendigung des Güterstands vorhandenen Vermögens des ausgleichspflichtigen Ehegatten übersteigt. § 1390 Abs. 1 BGB greift also, wenn die Ausgleichsforderung das gesamte Endvermögen des „illoyalen“ Ehegatten übersteigt. Der ausgleichsberechtigte Ehegatte kann sich dann sofort auch an den Dritten werden, wenn die Ausgleichsforderung beim (früheren) Ehegatten nicht zu realisieren ist. Allerdings haftet der Dritte nur in der Höhe des Ausfallrisikos, also soweit die Höhe der Ausgleichsforderung den Wert des nach Abzug der Verbindlichkeiten am Ende vorhandenen Vermögens des Ausgleichspflichtigen übersteigt2. Der Ersatz des Werts des Erlangten erfolgt nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung. Dabei handelt es sich um eine Rechtsfolgenverweisung auf die §§ 818 und 819 BGB. Die Haftung entfällt also, wenn der Dritte nicht mehr bereichert ist (§ 818 Abs. 3 BGB); ist ihm die Absicht der Benachteiligung bekannt, so haftet er verschärft, § 819 Abs. 1 BGB3.
275
Der Dritte kann die Zahlung durch Herausgabe des Erlangten abwenden. Der „illoyale“ Ehegatte und der begünstigte Dritte haften als Gesamtschuldner. Obwohl der Anspruch auf Zahlung von Zugewinnausgleich und der Anspruch auf Herausgabe des Werts gegen den Dritten unterschiedliche Gegenstände betreffen, ist dennoch eine Gesamtschuldner-
276
1 OLG Karlsruhe v. 17.10.1996 – 2 UF 140/96, FamRZ 1997, 622; OLG Naumburg v. 30.1.2008 – 8 WF 4/68, FamRZ 2008, 2002. 2 Zutreffend Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 605 und 608 sowie Schwab, VII Rn. 283. 3 Haußleiter/Schulz, 1, Rn. 607.
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Kap. 9 Rn. 277
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schaft möglich, weil es sich bei beiden Ansprüchen um besonders eng verwandte Ansprüche handelt, denn beide Schuldner haben gemeinsam die Schädigung des Gläubigers zu verantworten1. 277
Inhaltlich wurde der Anspruch aus § 1390 BGB gegenüber der bis zum 31.8.2009 geltenden Rechtslage umgestaltet: Richtete sich der Anspruch bis dahin primär auf Herausgabe des Erlangten mit Abwendungsbefugnis durch Geldzahlung, ist dies nun umgekehrt, denn der Anspruch geht zunächst auf den Wert des Erlangten, ist also primär eine Geldforderung, die der Dritte allerdings durch Herausgabe des Erlangten abwenden kann. b) Zweck der Vorschrift
278
§ 1390 BGB ergänzt den Schutz des augleichsberechtigten Ehegatten bei illoyalen Vermögensminderungen des Ausgleichsschuldners und knüpft an § 1375 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB an. Zwar steht dem augleichsberechtigten Ehegatten nach § 1378 Abs. 2 S. 2 BGB eine Ausgleichsforderung gegenüber dem anderen „illoyalen“ Ehegatten zu, die dessen Endvermögen übersteigen kann. Die Realisierung dieser Forderung hängt aber von der ungewissen zukünftigen Vermögensentwicklung beim ausgleichsverpflichteten Ehegatten ab. Deshalb stehen dem anspruchsberechtigten Ehegatten auch Ansprüche gegen den begünstigten Dritten zu.
279
Wurde der Ausgleichsberechtigte durch andere Rechtshandlungen des anderen Ehegatten als unentgeltliche Zuwendungen an den Dritten benachteiligt und war die Absicht, den Ehegatten zu benachteiligen, dem Dritten bekannt, so besteht der entsprechende Anspruch gegen den Dritten nach § 1390 Abs. 2 BGB. 9. Vorzeitiger Zugewinnausgleich und vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft a) Sinn und Zweck der §§ 1385–1388 BGB
280
Um den Schutz des ausgleichsberechtigten Ehegatten vor Vermögensminderungen des anderen Ehegatten vor Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags besser zu gewährleisten, wurden zum 1.9.2009 die §§ 1385, 1386, 1387 und 1388 BGB neu gefasst2. Der ausgleichsberechtigte Ehegatte soll damit frühzeitig und effektiv vor Vermögensminderungen geschützt werden, die im Ergebnis seine Ausgleichsforderung beeinträchtigen können.
1 So die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 16/10798, S. 32 unter Hinweis auf BGH v. 1.2.1965 – GSZ 1/64, BGHZ 43, 227, krit. Schwab, VII Rn. 311. 2 Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich überwiegend an der Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 16/10798.
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Rn. 283
Kap. 9
b) Vorzeitiger Zugewinnausgleich bei vorzeitiger Aufhebung der Zugewinngemeinschaft Der ausgleichsberechtigte Ehegatte kann nach § 1385 BGB einen vorzei- 281 tigen Anspruch auf Zahlung des Zugewinnausgleichs geltend machen. Dies kann allerdings nur zusammen mit dem Anspruch auf Aufhebung der Zugewinngemeinschaft erfolgen. Der Anspruchsinhaber kann damit gleichzeitig Leistung und Rechtsgestaltung verlangen. Es besteht also die Möglichkeit der sofortigen Erhebung einer Leistungsklage, mit der gleichzeitig auch die Aufhebung der Zugewinngemeinschaft eingeleitet wird, wenn einer der in § 1385 Nr. 1 bis 4 BGB genannten Tatbestände eingreift.
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Wichtig: Mit Erhebung der Klage nach § 1385 BGB wird auch erreicht, dass der Ehegatte seinen künftigen Zugewinnausgleichsanspruch im Wege des vorläufigen Rechtschutzes durch Arrest nach §§ 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. 916 ZPO (vgl. dazu Rn. 272) direkt sichern kann.
aa) § 1385 Nr. 1 BGB Leben die Ehegatten seit mindestens drei Jahren voneinander getrennt, kann vorzeitiger Zugewinnausgleich bei vorzeitiger Aufhebung der Zugewinngemeinschaft verlangt werden.
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bb) § 1385 Nr. 2 BGB Nach § 1385 Nr. 2 BGB reicht es aus, wenn die Vornahme einer der in 283 § 1365 BGB oder § 1375 Abs. 2 BGB bezeichneten Handlungen zu befürchten ist. Es müssen Anhaltspunkte vorliegen, aus denen sich ergibt, dass der Vermögensverlust durch eine entsprechende Handlung bevorsteht. In der Gesetzesbegründung1 wurden dabei folgende Beispiele aufgeführt: Beispiel 1: Der Ehemann hat sein Vermögen in Aktien und Festgeldkonten angelegt. Mit der Trennung beginnt er, die Aktien zu veräußern und die Festgeldkonten aufzulösen. Das Geld transferiert er auf sein Girokonto. Einen wirtschaftlichen Grund dafür gibt es nicht. Die Ehefrau befürchtet deshalb, der Ehemann habe diese Vermögenswerte nur jederzeit verfügbar gemacht, um sie leichter verschwinden zu lassen und dadurch sein Vermögen zum Nachteil seiner Ehefrau zu vermindern. Beispiel 2: Die Ehefrau ist Alleineigentümerin einer vermieteten Eigentumswohnung. Diese Eigentumswohnung stellt als Kapitalanlage einen erheblichen Teil ihres Vermögens dar. Unmittelbar nach der Trennung inseriert die Ehefrau die Wohnung zum Verkauf, obwohl dies wirtschaftlich nicht sinnvoll ist. Der Ehemann befürch-
1 BT-Drucks. 16/10798, S. 29.
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Kap. 9 Rn. 284
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tet nun, dass der Verkauf nur dazu dienen soll, den Erlös beiseite zu schaffen, um ihm keinen Zugewinn ausgleichen zu müssen. Beispiel 3: Die Ehegatten haben während ihrer Ehe in einfachen Vermögensverhältnissen gelebt. Unmittelbar nach der Trennung bucht der Ehemann für sich und seine Freundin eine Luxuskreuzfahrt. Die ausgleichsberechtigte Ehefrau befürchtet nun, dass mit der Bezahlung dieser Kreuzfahrt das ersparte kleine Vermögen des Ehemannes aufgebraucht wird.
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Daneben muss durch die entsprechende Handlung die Gefährdung der Erfüllung der Ausgleichsforderung zu besorgen sein. Das ist der Fall, wenn der ausgleichspflichtige Ehegatte aufgrund der Vermögensminderungen seine Schulden einschließlich der Ausgleichsforderung nicht mehr begleichen kann. cc) § 1385 Nr. 3 BGB
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Ein Anspruch auf vorzeitigen Ausgleich des Zugewinns besteht auch, wenn der andere Ehegatte längere Zeit hindurch die wirtschaftlichen Verpflichtungen, die sich aus dem ehelichen Verhältnis ergeben, schuldhaft nicht erfüllt hat und anzunehmen ist, dass er sie auch in Zukunft nicht erfüllen wird. dd) § 1385 Nr. 4 BGB
286
Damit der ausgleichsberechtigte Ehegatte seine Leistungsklage beziffern kann, stehen ihm nach § 1379 BGB Auskunftsansprüche zu. Weigert sich der Ehegatte ohne ausreichenden Grund beharrlich, den anderen Ehegatten über den Bestand seines Vermögens zu unterrichten und erteilt er nur Auskunft, weil er der bevorstehenden Verurteilung nach Erhebung der Auskunftsklage entgehen möchte oder dazu durch ein entsprechendes Urteil verpflichtet worden ist, steht dem anderen Ehegatten auch hier Möglichkeit einer Leistungsklage zu, § 1385 Nr. 4 BGB1.
287
Ohne diese Regelung hätte der zur Auskunft verpflichtete Ehegatte die Möglichkeit, die Voraussetzungen einer bereits erhobenen Klage auf vorzeitigen Zugewinnausgleich nachträglich entfallen zu lassen. Wenn er nach beharrlicher Weigerung doch noch Auskunft erteilt, wäre die Voraussetzung „beharrliche Weigerung“ für die Zahlungsklage entfallen. c) Vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft, § 1386 BGB
288
§ 1386 BGB sieht für beide Ehegatten einen Anspruch auf vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft vor. Die in § 1385 BGB genannten Voraussetzungen gelten dabei entsprechend. Der Anspruch aus § 1386 BGB 1 Dazu OLG Frankfurt v. 1.7.2009 – 2 UF 16/09, FamRZ 2010, 563 in einem vergleichbaren Fall, allerdings noch zur früheren Rechtslage.
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Ehel. Güterrecht; Gütertrennung und Zugewinngemeinschaft
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Kap. 9
ist auf die Beendigung der Zugewinngemeinschaft und nicht auf Zahlung der Ausgleichsforderung gerichtet. Damit kann auch der ausgleichspflichtige Ehegatte das vorzeitige Ende der Zugewinngemeinschaft erreichen, was für ihn sinnvoll sein kann, wenn er den anderen Ehegatten von der Teilhabe an seinem künftigen Vermögen ausschließen will. Auch kann die Vorschrift für einen Ehegatten sinnvoll sein, der nicht weiß, ob er überhaupt ausgleichsberechtigt ist oder die Ansprüche zukünftig überhaupt geltend machen will, sich aber schnell aus der Zugewinngemeinschaft lösen möchte. d) Berechnungszeitpunkt, Höhe der Ausgleichsforderung, Eintritt der Gütertrennung Nach § 1387 BGB wird der Stichtag für die Berechnung der Ausgleichsfor- 289 derung und für die Höhe der Ausgleichsforderung in den Fällen der §§ 1385 und 1386 BGB anstelle der Beendigung des Güterstands auf den Zeitpunkt vorverlegt, „in dem die entsprechenden Klagen“ erhoben sind. Die Vorschrift entspricht also § 1384 BGB und wirkt sich ebenfalls auf die Bestimmung des Endstichtags und die Kappungsgrenze nach § 1378 Abs. 2 BGB aus. § 1388 BGB (Eintritt der Gütertrennung) nimmt auf die Ausgestaltung des § 1385 BGB als Leistungs- und Gestaltungsanspruch und des § 1386 BGB als Gestaltungsanspruch Bezug. In beiden Fällen tritt mit dem rechtskräftigen Urteil Gütertrennung ein.
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Kapitel 10 Nebengüterrecht Inhaltsübersicht I. Arbeitshinweise II. Typische Problemfelder III. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ausgleichsansprüche der Ehegatten 1. Zuwendungen a) Definition . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung zur Schenkung 2. Rückgewähr von Zuwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schenkungen . . . . . . . . . . . . . b) Zuwendungen. . . . . . . . . . . . . c) Wegfall der Geschäftsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zuwendungen in der Verlobungszeit . . . . . . . . . . . . . . 4. Zuwendungen/Schenkungen an Schwiegerkinder oder Schwiegereltern . . . . . . . . . . . . . 5. Verjährung und steuerliche Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ausgleich von Arbeitsleistungen, Dienstleistungen und Mitwirkung an der Vermögensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertragliche Regelung. . . . . . b) Fehlende vertragliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zugewinngemeinschaft . bb) Ehegatteninnengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bereicherungsrechtliche Ansprüche. . . . . . . . . . . . . dd) Kein Ausgleich über Rückgewähr von Zuwendungen . . . . . . . . . ee) Familienrechtlicher Ausgleichsanspruch . . . .
I. Arbeitshinweise 1. Ehebedingte Zuwendungen Welcher Güterstand gilt? Zugewinngemeinschaft 1108
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1 7.
8 11
8.
12 13 15 18 21 23 33
39 41 45 46 47 48 49 50
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ff) Höhe der Ausgleichsforderung . . . . . . . . . . . . . . gg) Fristen zur Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . . Konten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einzelkonten . . . . . . . . . . . . . . b) Gemeinschaftskonten . . . . . . c) Depotkonten . . . . . . . . . . . . . . Kredite a) Freistellungsanspruch . . . . . . b) Anspruch gem. § 426 BGB . . c) Schuldenregelung . . . . . . . . . . d) Befreiung von Mitverpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Nichtigkeit der Mitverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Haftungsbegrenzung . . . . . . . Steuererstattungen von Eheleuten aus gemeinsamer Veranlagung . . . . . . . . . . . . . . . . . Pkw und Pkw-Kredite einschließlich Schadenfreiheitsrabatt. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54 55 57 58 67 70 73 78 82 83 85 89 90 98
V. Neuregelung der Immobiliennutzung 1. Immobilien im Eigentum der Eheleute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Gemietete Immobilien a) In der Zeit der Trennung . . . . 108 b) Aus Anlass der Scheidung . . 111 VI. Ehegatteninnengesellschaft . . . 117 1. Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Auseinandersetzungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 VII. Schadensersatzansprüche zwischen Ehegatten . . . . . . . . . . 132 VIII. Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . 138
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Nebengüterrecht
Das Ergebnis der Zugewinnberechnung ist zumutbar: Prüfungsende Das Ergebnis ist unzumutbar – Kann die Zuwendung zurückgefordert werden? – Wer hat wann zugewendet? – Schwiegereltern – Verlobter – Ehepartner Gütertrennung Schenkung oder Zuwendung? Schenkung: – Schenkung der Schwiegereltern – Rückforderung über „groben Undank“ Zuwendung: – Wer hat wann zugewendet? – Verlobter? – Ehepartner? 2. Arbeits- und Dienstleistung Umfang? Normal: kein Ausgleich Überobligatorisch: – Tätigkeit untergeordnet: Evtl. ungerechtfertigte Bereicherung – Tätigkeit gleichgeordnet: Ehegatteninnengesellschaft? (s. Nr. 7) 3. Konten – Welche Konten werden für wen geführt? – Vollmacht des Ehepartners? – Widerruf der Vollmacht? – Haftungsbeschränkungserklärung? 4. Kredite – Kreditaufnahme wofür? – Wer hat über Mittelverwendung entschieden? – Warum Haftung des Ehegatten? – Anspruch auf Freistellung? 5. Eigentumsverhältnis am Familienwohnhaus? – Wer geht? – Wer bleibt? – Wer zahlt Kredit/Nutzungsentschädigung?
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6. Mietwohnung – Wer ist Mieter? – Gemeinsame Kündigung? – Antrag nach §§ 1361b, 1568a BGB – Mietrückstände/Kaution? 7. Ehegatteninnengesellschaft Güterstand? Zugewinngemeinschaft: Ergebnis der Berechnung unzumutbar? Gütertrennung: – Vermögenserwerb über den Zweck der Ehe hinaus? – Mitwirkungsanteil der Ehegatten – Stichtag ermitteln – Bewertung des Gesellschaftsvermögens – Ermittlung des Auseinandersetzungsguthabens
II. Typische Problemfelder 1. Abgrenzung Schenkung – ehebedingte Zuwendung (Rn. 8–11) 2. Rückgewähr der Zuwendung bei Zugewinngemeinschaft (Rn. 16), bei Gütertrennung (Rn. 18), in der Verlobungszeit (Rn. 21), Schenkungen von Schwiegereltern (Rn. 23) 3. Ausgleich von Arbeits- und Dienstleistungen (Rn. 39) 4. Konten (Rn. 57), Widerruf der Kontovollmacht (Rn. 65), Verfügungen in der Trennungszeit (Rn. 66), Depotkonten (Rn. 70) 5. Kredite (Rn. 73), Mittelverwendung (Rn. 76), Haftungsbefreiung (Rn. 83), Sittenwidrigkeit der Mitverpflichtung (Rn. 85), Haftungsbegrenzung (Rn. 89) 6. Steuererstattungen (Rn. 90), Steuervorauszahlungen (Rn. 92) 7. Der Familien-Pkw (Rn. 98), Schadensfreiheitsrabatt (Rn. 100) 8. Das eigene Haus (Rn. 101), die Mietwohnung (Rn. 108), Beendigung des Mietverhältnisses (Rn. 111–116) 9. Ehegatteninnengesellschaft (Rn. 117), Entstehung (Rn. 121), Beendigung (Rn. 129) 10. Schadensersatzansprüche (Rn. 132), Prozessbetrug, Sachbeschädigung (Rn. 133), Störung des Umgangsrechts (Rn. 136) 11. Verfahrensrecht nach FamFG (Rn. 138), örtliche Zuständigkeit (Rn. 147), Altfälle (Rn. 149)
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Rn. 3
Kap. 10
III. Einführung Das kodifizierte eheliche Güterrecht stellt nur ein beschränktes Instru- 1 mentarium für die vermögensrechtliche Auseinandersetzung der Eheleute zur Verfügung. Weite Bereiche der vermögensrechtlichen Auseinandersetzung bleiben ungeregelt, und es besteht deshalb hier erhöhter Beratungsund Handlungsbedarf. Gerade der ungeregelte Bereich, für den sich im Schrifttum immer häufiger der Begriff des „Nebengüterrechts“ findet, beinhaltet ein großes Potential an Haftungsrisiko für den beratenden Anwalt und muss deshalb mit großer Sorgfalt bearbeitet werden. Das Nebengüterrecht ist gerade keine juristische „Nebensache“, sondern bedarf bei der Bearbeitung besonderer Aufmerksamkeit. Zu den hohen Anforderungen gehört es, durch Befragung des Mandanten alle wirtschaftlich relevanten Fakten zusammenzutragen, zeitlich und sachlich einzuordnen, rechtlich zu bewerten, um dann die vermögensrechtlichen Auswirkungen zu prüfen. Dabei muss aber auch über die (in diesem Bereich oft hohen) Prozessrisiken belehrt werden1. So hat zB die oft leichtfertig vereinbarte Rückverlegung des Trennungszeitpunkts aus vermögensrechtlicher Sicht erhebliche Auswirkungen, so im Bereich des Gesamtschuldnerinnenausgleichs. Eine Rückverlegung des Trennungszeitpunkts sollte deshalb, wenn überhaupt, nur nach sorgfältiger Prüfung der möglichen Ansprüche der eigenen Mandantschft vereinbart werden. Dieses Kapitel befasst sich mit einer Reihe von vermögensrechtlichen Ansprüchen der in Trennung und Scheidung begriffenen Eheleute. Naturgemäß diktiert hier häufig die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit das erzielbare Ergebnis. Gleichwohl muss in jedem Einzelfall jeder mögliche Anspruch sorgfältig und umfassend geprüft werden, um die Frage beantworten zu können, ob der Anspruch geltend gemacht wird, ob er in die Verhandlungen mit einbezogen wird oder ob man ihn unberücksichtigt lässt.
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Die güterrechtlichen Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs sind 3 stichtagsbezogen und bilanzierend und geben deshalb kein Instrumentarium zur gegenständlichen Trennung und Aufteilung der ehelichen Vermögenswerte. Von § 1380 BGB und § 1383 BGB abgesehen, gibt das Gesetz keine Regeln vor, wie der oft zufälligen oder an Haftungskriterien orientierten Aufteilung der ehelichen Güter begegnet werden soll oder kann. Die Verteilung der Vermögenswerte wird am Ende einer Ehe oft als „nicht richtig“ empfunden, ohne dass die Schwelle zur Unbilligkeit im Rechtssinne schon erreicht wäre. Die Beteiligten sind dann häufig auf Verhandlungen und beiderseitigen guten Willen angewiesen, um die Vermögensverteilung am Ende der Ehe gerechter zu gestalten2. 1 Insoweit lehrreich LG Düsseldorf v. 6.10.2003 – 2b O 279/02, FamRZ 2004, 1035. 2 Zu außergerichtlichen Verteilungsstrategien s. auch Stieghorst, ZFE 2003, 233 ff.
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Leben die Eheleute im Güterstand der Zugewinngemeinschaft, sollte zunächst und als erster Schritt der Ausgleich im Bereich des Nebengüterrechts erfolgen, damit eine entsprechende Forderung oder Verbindlichkeit in die nachfolgende Zugewinnbilanz eingestellt werden kann. In einem weiteren Schritt ist die Frage zu klären, woher die Mittel für den Erwerb der ehelichen Güter stammen. Danach ist der Frage nachzugehen, ob die Eigentumsverhältnisse der Mittelherkunft adäquat sind oder warum uU davon abgewichen wurde. Erst dann kann in einem weiteren Schritt geklärt werden, welche über den Zugewinnausgleich hinaus bestehenden Ansprüche für den einzelnen Ehegatten gegeben sind. Nur so kann die Frage beantwortet werden, ob und in welcher Höhe durchsetzbare Ansprüche bestehen oder ob nur der Verhandlungsweg den jeweiligen Ehegatten wirtschaftlich weiterbringt. Im Falle der Gütertrennung ist sofort der Frage nach Mittelherkunft und der Mittelverwendung nachzugehen.
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§ 1408 BGB erweckt die juristische Illusion der Vertragsfreiheit für die Eheleute. Nach der grundlegenden Entscheidung des BVerfG v. 6.2.20011 hat sich die juristische Sicht dieses Komplexes erheblich verändert. Wie unterschiedlich ein Sachverhalt zur Gestaltungsfreiheit bei Eheverträgen beurteilt werden kann, haben die nachfolgende Entscheidung des Oberlandesgerichts München2 einerseits und die klarstellende Entscheidung des BGH v. 11.2.20043 andererseits deutlich gemacht. Der BGH hat in seinen nachfolgenden Entscheidungen4 in erfreulicher Deutlichkeit herausgestellt, dass Eheverträge nach wie vor möglich sind, dass sie den Parteien auch Gestaltungsmöglichkeiten lassen und dass nur in bestimmten Bereichen die Regelungsmöglichkeiten der Eheleute eingeschränkt sind. Durch die gestufte Prüfungsregel des BGH, – was können die Parteien bei Vertragsschluss wirksam vereinbaren und – auf welche Vereinbarung kann sich eine Vertragspartei im Falle der Scheidung noch berufen, ist gleichwohl ein erhebliches Unsicherheitspotential in diesen Bereich gebracht worden.
6
Es mag also sein, dass im Vertrag etwas wirksam vereinbart werden konnte, durch eine Veränderung der äußeren Umstände es aber den Parteien verwehrt ist, sich auf die entsprechende Regelung zu berufen. So war der vom BVerfG entschiedene Fall auf einen Vertrag aus dem Jahre 1977 bezogen! Damit hat jeder Ehepartner ganz praktisch die Möglichkeit, durch eine Veränderung der Lebensführung der Eheleute eine Situation zu schaffen, in der der Vertrag über weite Strecken leerläuft. Für das Unterhaltsrecht hat der BGH nur darauf abgestellt, wie die Eheleute fak1 2 3 4
BVerfG v. 6.2.2001 – 1 BvR 12/92, FamRZ 2001, 343. OLG München v. 1.10.2002 – 4 UF 7/02, FamRZ 2003, 35 = FamRB 2003, 5. BGH v. 11.2.2004 – XII ZR 265/02, FamRZ 2004, 601 = FamRB 2004, 105. BGH v. 6.10.2004 – XII ZB 110/99, FamRZ 2005, 26 = FamRB 2005, 8; BGH v. 6.10.2004 – XII ZB 57/03, FamRZ 2005, 185 = FamRB 2005, 38; BGH v. 12.1.2005 – XII ZR 238/03, FamRZ 2005, 691 = FamRB 2005, 126.
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tisch ihre Ehe geführt haben, ob beide Ehegatten damit einverstanden waren, soll keine Rolle spielen1. Eheverträge sind also sehr sorgfältig zu untersuchen und unter dem Gesichtspunkt der wirksamen Vereinbarung einerseits und des Fortbestandes der Regelung andererseits zu prüfen. Dabei ist der Anwalt nach Abschluss dieser Prüfung gehalten, sich um die sonstigen vermögensrechtlichen Ansprüche zu kümmern, um eventuell schiefe wirtschaftliche Ergebnisse ausgleichen zu können. Neben den einzelnen, teils schwierigen Rechtsfragen, ob und in welchem Umfang ein Anspruch besteht, gab es früher ebenso schwierige Fragen der prozessualen Behandlung dieser Ansprüche. Welche Ansprüche zu welcher Zeit vor welchem Gericht durchzusetzen sind, bedurfte früher einer genauen Untersuchung. Hier hat das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) die lange erhoffte Entlastung gebracht. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1.9.2009 ist juristische Literatur in nicht unerheblichem Umfang Makulatur geworden.
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IV. Ausgleichsansprüche der Ehegatten 1. Zuwendungen a) Definition Überlässt ein Ehegatte dem anderen Ehegatten Vermögenswerte, ohne ei- 8 ne Gegenleistung zu erhalten, kann es sich um eine Schenkung oder um eine Zuwendung handeln. Seit der Entscheidung des BGH im 82. Band2 ist die unbenannte Zuwendung als eine vermögenswerte Leistung zwischen den Ehegatten definiert, für die der Bestand der ehelichen Lebensgemeinschaft die Geschäftsgrundlage darstellt. Für die Beteiligten liegt dabei dem Geschäft die Vorstellung zugrunde, dass die eheliche Lebensgemeinschaft Bestand haben werde und die dem Ehegatten gewährte Leistung um der Ehe willen und als Beitrag zu ihrer Verwirklichung oder Ausgestaltung gewährt wird. Der häufigste Fall einer ehebedingten Zuwendung ist in der Praxis die 9 Übertragung eines halben Miteigentumsanteils oder des gesamten Eigentums an dem Familienheim auf den jeweils anderen Ehegatten. Dies geschieht in aller Regel in der Erwartung, dass das Haus zukünftig der Familie als Wohnstatt dienen wird und soll. Die Übertragung kann aber auch erfolgen, um das Vermögen aus haftungsrechtlichen Gründen so zu verteilen, dass es vor einem möglichen Zugriff der Gläubiger geschützt ist.
1 BGH v. 16.2.2011 – XII ZR 108/09, FamRZ 2011, 628 = FamRB 2011, 136. 2 BGH v. 27.1.1988 – IVb ZR 82/86, FamRZ 1988, 482; BGH v. 17.2.1993 – XII ZR 232/91, FamRZ 1993, 1047; BGH v. 1.7.1987 – IVb ZR 70/86, FamRZ 1987, 910.
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10 Weitere typische Fälle ehebedingter Zuwendung sind zB die Übergabe von Geld zur Einzahlung auf den Bausparvertrag des Partners1, die Mitfinanzierung oder Alleinfinanzierung zur Einrichtung einer Arztpraxis2 oder die Zurverfügungstellung von Geld zum Erwerb eines Grundstücks zu Alleineigentum3. Nicht unter den Begriff der ehebedingten Zuwendung fallen Arbeitsleistungen eines Ehegatten zugunsten des anderen4, da es hier auf Seiten des Leistenden an einer Vermögenseinbuße fehlt. b) Abgrenzung zur Schenkung 11 Im Gegensatz zur ehebedingten Zuwendung kann von einer Schenkung im Sinne von § 516 BGB nur noch dann gesprochen werden, wenn die Vermögensmehrung beim Ehegatten völlig losgelöst und unabhängig vom Fortbestand der Ehe gesehen werden kann. Von einer echten Schenkung im Rechtssinne kann deshalb nur dann ausgegegangen werden, wenn es sich um Zuwendungen von Einzelgegenständen handelt, die üblicherweise und traditionell zwischen Ehegatten ausgetauscht werden (also Schmuck zu Fest- und Feiertagen oder zum Geburtstag, ebenso Gegenstände zur Ausübung eines Hobbys, zB Golfausrüstung, Ski-Ausrüstung oder Ähnliches) sowie uU hochwertige Kleidung. Selbst wenn in einer notariellen Urkunde der Begriff „Schenkung“ verwendet wurde, ist auch dies bestenfalls nur ein Indiz. Der Unterschied zwischen einer Schenkung und einer unbenannten Zuwendung hat auch nach Auffassung der Gerichte erst in den letzten Jahren Eingang in den notariellen Sprachgebrauch gefunden5. 2. Rückgewähr von Zuwendungen 12 Scheitert die Ehe, erhebt sich die Frage der Rückgewähr von Zuwendungen und der Rückabwicklung von Schenkungen. a) Schenkungen 13 Hat eine Schenkung vorgelegen, regelt § 530 BGB die Möglichkeit des Schenkungswiderrufs. Voraussetzung dafür ist, dass der Beschenkte sich durch eine schwere Verfehlung gegenüber dem Schenker oder einem nahen Angehörigen des Schenkers des groben Undanks schuldig gemacht hat. Schwere Verfehlungen können einzelne oder auch eine Mehrheit von Handlungen sein, die sich objektiv gegen den Schenker oder dessen Angehörigen richten und subjektiv eine tadelnswerte, auf Undankbarkeit deutende Gesinnung offenbaren6. Ehewidriges Verhalten allein reicht nicht 1 2 3 4 5 6
BGH v. 5.10.1988 – IVb ZR 52/87, FamRZ 1989, 147. BGH v. 5.7.1974 – IV ZR 203/72, NJW 1974, 2045. BGH v. 27.1.1988 – IVb ZR 82/86, FamRZ 1988, 482. BGH v. 13.7.1994 – XII ZR 1/93, FamRZ 1994, 1167. OLG Karlsruhe v. 23.11.2000 – 9 U 43/00, FamRZ 2001, 1075 (1076). BGH v. 27.9.1991 – V ZR 55/90, NJW 1992, 183; BGH v. 19.1.1999 – X ZR 60/97, FamRZ 1999, 705 = FamRZ 1999, 1421.
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aus, es müssen besondere Umstände hinzutreten1. Aus der Verfehlung muss grober Undank gegenüber dem Schenker abzuleiten sein. Der Widerruf erfolgt durch Erklärung gegenüber dem Beschenkten, der 14 dann die Herausgabe des Geschenks nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung zu erfüllen hat. In diesem Zusammenhang ist auch § 532 BGB zu berücksichtigen; danach ist der Widerruf ausgeschlossen, wenn der Schenker dem Beschenkten verziehen hat oder seit dem Zeitpunkt, in welchem der Widerrufsberechtigte vom Eintritt der Voraussetzungen seines Rechts Kenntnis erlangt hat, ein Jahr verstrichen ist. Gerade unter Eheleuten kann die Verzeihung eine wesentliche Rolle spielen. Es handelt sich bei der Verzeihung um einen tatsächlichen Vorgang, der entsprechend § 2337 BGB zu werten ist. Danach liegt Verzeihung vor, wenn der Schenker zum Ausdruck gebracht hat, dass er die Kränkung als solche nicht mehr empfindet und der Vorfall im Verhältnis zwischen Schenker und Beschenktem keine Rolle mehr spielen soll. b) Zuwendungen Bei der Rückgewähr von unbenannten Zuwendungen fehlt es an einer ge- 15 setzlichen Regelung. Die Rückforderung von unbenannten Zuwendungen auf der Grundlage von § 812 BGB als ungerechtfertigte Bereicherung scheitert daran, dass die Zuwendung nicht rechtsgrundlos erfolgt ist. Die Zuwendung wurde gerade wegen und auf der Grundlage der ehelichen Lebensgemeinschaft erbracht. Zweckbestimmung bedeutet im Bereicherungsrecht mehr als eine Geschäftsgrundlage2. Leben die Ehegatten im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemein- 16 schaft, sind die Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage grundsätzlich nicht anwendbar. Die Vorschriften über den Zugewinnausgleich gehen als leges speciales vor und sind auch nicht nach § 313 BGB in ihrem Ergebnis zu korrigieren. § 380 BGB in Verbindung mit dem Umstand, dass § 1374 Abs. 2 BGB auf Zuwendungen unter Ehegatten nicht anwendbar ist3, stellt damit sicher, dass während der Ehe gemachte Zuwendungen beim Zugewinnausgleich nicht dem Empfänger wertmäßig vorab verbleiben, sondern Berücksichtigung finden. Nur in extremen Ausnahmefällen kann über § 242 BGB eine Korrektur des Ergebnisses versucht werden. Ein solcher Versuch ist aber nur dann erfolgreich, wenn die Durchführung des Zugewinnausgleichs zu „schlechthin unangemes-
1 BGH v. 19.1.1999 – X ZR 60/97, FamRZ 1999, 705 m. Anm. Wever, FamRZ 1999, 1421; BGH v. 24.3.1983 – IX ZR 62/82, FamRZ 1983, 569; BGH v. 23.5.1984 – IVa ZR 229/82, FamRZ 1984, 760 m. Anm. Seutemann, FamRZ 1984, 1083. 2 BGH v. 2.10.1991 – XII ZR 145/90, FamRZ 1992, 160 (161). 3 BGH v. 26.11.1981 – IX ZR 91/80, FamRZ 1982, 246; BGH v. 20.5.1987 – IVb ZR 62/86, FamRZ 1987, 791.
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senen und untragbaren Ergebnissen“ führt1. Die Mutter von drei Kindern hat ihr gesamtes Erbe in den Hausbau des Ehemannes, der Alleineigentümer ist, eingebracht. Kurz nach Fertigstellung der Immobilie trennen sich die Eheleute. Der Zugewinnausgleich erbrachte für die Frau keinen Zahlungsanspruch. Dies sei schlechterdings unerträglich, entschied das Oberlandesgericht München und sprach der Ehefrau wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage für die unbenannte Zuwendung einen entsprechenden Ausgleich zu2, erhält der Zuwendende über den Zugewinnausgleich wertmäßig die Hälfte oder einen geringeren Anteil zurück, so gilt dieses Ergebnis für ihn im Zweifel nicht als untragbar3. Etwas anderes kann selbst dann nicht gelten, wenn der Zuwendungsempfänger beim Zugewinn nicht ausgleichspflichtig ist, weil zB sein Anfangsvermögen das Endvermögen übersteigt. 17 Hat der Ehemann der Ehefrau im Wege der ehebedingten Zuwendung einen größeren Geldbetrag aus seinem Erbe überlassen, damit sie im Rahmen einer Hofübernahme die weichenden Erben (Geschwister) auszahlen kann, steht dem Zuwendenden selbst dann kein Rückforderungsanspruch zu, wenn er im Zugewinnausgleich nichts erhält, da der Hof keinen Wertzuwachs erfahren hat4. c) Wegfall der Geschäftsgrundlage 18 § 313 BGB hilft uU aber dann weiter, wenn die Eheleute im Güterstand der Gütertrennung gelebt haben. Hier ist in einer Gesamtwürdigung zu prüfen, ob die Beibehaltung der Güterverteilung unter dem Gesichtspunkt der Gütertrennung zu einem Ergebnis führt, das aus der Sicht des Zuwendenden als schlechthin unzumutbar einzuschätzen ist. 19 Erforderlich ist dabei eine Gesamtwürdigung der Verhältnisse der Eheleute unter Berücksichtigung von Dauer der Ehe, Alter der Beteiligten, Art und Umfang der erbrachten Leistungen, Höhe der beim Empfänger noch vorhandenen Vermögensmehrung und hinter der Vermögensübertragung stehender Lebensplanung der beteiligten Eheleute5. Kommt man danach zu dem Ergebnis, dass die Vermögensverteilung in der ursprünglichen Form nicht aufrechterhalten bleiben darf, führt dies nur zu einem Zahlungsanspruch in Geld und nur in ganz seltenen Ausnahmefällen zu einem Anspruch auf Rückübertragung des zugewendeten Vermögensgegenstandes6. 1 BGH v. 28.11.2001 – XII ZR 173/99, FamRZ 2003, 230; BGH v. 10.7.1991 – XII ZR 114/89, FamRZ 1991, 1169 (1171). 2 OLG München v. 5.11.1998 – 12 UF 1017/98, FamRZ 1999, 1662. 3 BGH v. 10.7.1991 – XII ZR 114/89, FamRZ 1991, 1169 (1171). 4 LG Augsburg v. 22.7.2003 – 1 O 1967/03, mit Bestätigung durch OLG München v. 20.9.2003 – 24 W 233/03, FamRZ 2004, 1378. 5 BGH v. 30.6.1999 – XII ZR 230/96, FamRZ 1999, 1583. 6 BGH v. 24.11.1993 – XII ZR 130/92, FamRZ 1994, 503; BGH v. 28.10.1998 – XII ZR 255/96, FamRZ 1999, 365 (366).
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Rn. 23
Kap. 10
Der Kläger hat bei Geltendmachung von Ansprüchen nach § 313 BGB die 20 Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Geschäftsgrundlage entfallen ist. Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass Zuwendungen von Ehegatten im Zweifel die Erwartung zugrunde lag, die Ehe als Lebensgemeinschaft werde Bestand haben. 3. Zuwendungen in der Verlobungszeit Leben die Eheleute im Güterstand der Zugewinngemeinschaft und hat 21 ein Ehegatte dem anderen schon vor der Ehe Zuwendungen erbracht (zB als Verlobungsgeschenk), gehört der zugewendete Gegenstand in der Zugewinnbilanz sowohl ins End- als auch ins Anfangsvermögen. Das führt, lässt man einmal Wertsteigerungen unberücksichtigt, dazu, dass der zugewendete Gegenstand keine Ausgleichspflicht auslöst. Diese Konstellation lässt sich nur dann befriedigend lösen, wenn alternativ betrachtet wird, welcher Zugewinnausgleichsanspruch entstehen würde, wenn die Zuwendung erst nach der Heirat der Eheleute erfolgt wäre. Hier ist dann unter Billigkeitsgesichtspunkten zu prüfen, ob das bei regulärer Zugewinnberechnung erzielte Ergebnis als „schlechthin unangemessen“ einzuschätzen ist. Es sind dann Korrekturen über § 242 BGB vorzunehmen1. Das Oberlandesgericht Celle geht mit seiner Entscheidung einen ähn- 22 lichen Weg, um die Rückgewähr einer Zuwendung an die Verlobte sachgerecht zu lösen. Kurz vor der Eheschließung hatte der Mann ein Darlehen aufgenommen und den Darlehensbetrag dazu verwendet, mit seiner Verlobten eine Immobilie im Miteigentum zu erwerben. Der nach Scheitern der Ehe aus § 313 BGB abgeleitete Ausgleichsanspruch ist nach Auffassung des Gerichts auf den Betrag nach oben begrenzt, den der Mann im Zugewinnausgleich erhalten hätte, wenn die Zuwendung erst nach der Eheschließung erfolgt wäre. Auf diesem Wege wollte man vermeiden, dass der Ausgleichsanspruch über § 313 höher wäre als der Zugewinnausgleichsanspruch2. 4. Zuwendungen/Schenkungen an Schwiegerkinder oder Schwiegereltern Wenn Schwiegereltern ihren Schwiegerkindern Zuwendungen zukommen lassen und die Leistung für den Empfänger nicht als einseitig begünstigende und frei disponible Bereicherung anzusehen ist (also als Schenkung gem. § 516 BGB), hat der BGH bisher die Grundsätze über die ehebedingte Zuwendung auch bei Zuwendungen zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern angewendet.
1 BGH v. 2.10.1991 – XII ZR 145/90, FamRZ 1992, 160 (162). 2 OLG Celle v. 26.5.2005 – 4 U 67/05, FamRZ 2006, 206.
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Kap. 10 Rn. 24
Nebengüterrecht
24 Mit den Entscheidungen v. 3.2.2010 und 21.7.2010 hat der BGH diese Rechtsprechung aufgegeben und wertet nunmehr Zuwendungen zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern als Schenkungen i.S. der §§ 516 ff. BGB. Danach führen Schenkungen der Schwiegereltern „zu einer dauerhaften Vermögensminderung, wie sie § 516 Abs. 1 BGB voraussetzt. Insoweit unterscheidet sich die Situation von der Vermögenslage, die durch Zuwendungen unter Ehegatten entsteht, grundlegend. Dort ist eine Schenkung regelmäßig deshalb zu verneinen, weil der zuwendende Ehegatte die Vorstellung hat, der zugewendete Gegenstand werde ihm letztlich nicht verloren gehen, sondern der ehelichen Lebensgemeinschaft und damit auch ihm selbst zugute kommen. Demgegenüber übertragen Schwiegereltern den zuzuwendenden Gegenstand regelmäßig im Bewußtsein auf das Schwiegerkind, künftig an dem Gegenstand nicht mehr selbst zu partizipieren. Die Zuwendung aus ihrem Vermögen hat also eine dauerhafte Verminderung desselben zur Folge“1. 25 Die Schenkung der Schwiegereltern ist in der Zugewinnbilanz beim Schwiegerkind im End- und Anfangsvermögen zu bilanzieren, weil es jetzt auch beim Schwiegerkind als privilegiertes Vermögen gilt und damit eine doppelte Inanspruchnahme – im Zugewinn und durch Rückforderung der Schenker – vermieden wird. Allerdings ist der Wert des Geschenks im Anfangs- und Endvermögen um einen eventuellen Rückgewähranspruch der Schwiegereltern zu reduzieren. Wie dieser zu bemessen ist, wird vom BGH nur angedeutet: Das Anfangsvermögen wird erst ermittelt, wenn feststeht, dass die Ehe gescheitert ist. Dann kann auch ermittelt werden, wie lange das eigene Kind in den Genuss der Schenkung an den Ehepartner gekommen ist, was wiederum die Höhe des Rückgewähranspruchs beeinflusst. Dabei ist offen, ob der Betrachtungszeitraum auf die Lebenserwartung der Eheleute oder der Schwiegereltern abzustellen ist. 26 Durch die rechtliche Einordnung als Schenkung ist deren Rückabwicklung zunächst über die entsprechenden Vorschriften des Schenkungsrechts wegen Nichterfüllung einer Auflage, wegen Verarmung und wegen groben Undanks des Beschenkten gem. §§ 527, 528, 530 BGB möglich. (vgl. insoweit Rn. 13 und 14) 27 Darüber hinaus wendet der BGH aber auch § 313 BG an, weil „das allgemeine Rechtsinstitut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage anwendbar ist, soweit der Sachverhalt außerhalb des Bereichs der speziellen Herausgabeansprüche des Schenkers liegt“2, was bei Scheitern der Ehe der Fall sein soll. 28 Der BGH lässt ferner auch eine Rückforderung über § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB zu, da der Zweck im Sinne dieser Vorschrift darin bestehen
1 BGH v. 21.7.2010 – XII ZR 180/09, FamRZ 2010, 1626 (1627) = FamRB 2010, 325. 2 BGH v. 3.2.2010 – XII ZR 189/06, FamRZ 2010, 958 (960).
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Rn. 32
Kap. 10
kann, dass die Schenkung dem eigenen Kind möglichst dauerhaft zugute kommen soll, indem die Ehe möglichst lange dauert1. Dieser Rechtsprechungswandel ist nicht ohne begründete Kritik geblie- 29 ben2. Der Rückforderungsanspruch kann nur von den Schwiegereltern geltend gemacht werden. Ist der Anspruch vererblich, wenn die Schwiegereltern vor dem Zerbrechen der Ehe verstorben sind? Verliert der Ehegatte dann den Rückgewähranspruch oder kann er sich den Anspruch vorsorglich abtreten lassen? Verliert das eigene Kind jeden Anspruch, weil das Einstellen der Schenkung in das Anfangs- und Endvermögen des Schwiegerkindes diese Position neutralisiert? Diese Fragen sind derzeit noch völlig offen, und man wird abwarten müssen, welche Lösungen von der Rechtsprechung entwickelt werden. Ob nach wie vor eine Zuwendung/Schenkung an ein Schwiegerkind und 30 das eigene Kind auch für beide eine ehebezogene Zuwendung/Schenkung sein kann, ist ebenfalls ungeklärt. Dies war bisher dann der Fall, wenn auch das eigene Kind nicht frei über die Zuwendung verfügen durfte, sondern beiden Eheleuten die Zuwendung mit einer bestimmten Verwendungsauflage zufloss. Im entschiedenen Fall sollten die Eheleute mit dem Geld ein gemeinsames Wohnhaus errichten3. Da die Eheleute die mit der Schenkung verbundene Auflage im Zweifel erfüllt haben werden, können die Schenker hier wohl nur über § 313 BGB die Schenkung zurückfordern. Vorstellbar ist aber auch die Konstellation, dass das eigene Kind und/oder 31 das Schwiegerkind eine Zuwendung an die Schwiegereltern vornehmen, indem sie in das im Eigentum der Schwiegereltern stehende Haus investieren, um sich dort eine Wohnung auszubauen, in der sie als Eheleute leben wollen. Scheitert die Ehe, muss eine Regelung zu den Investitionen gefunden werden. Das Oberlandesgericht Frankfurt4 gewährt einen Ausgleich über § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 BGB. Die Ehewohnung wird von den Schwiegereltern aufgrund eines Leihvertrags ermöglicht, der Leihvertrag ist Rechtsgrund für die Investitionen. Der Leihvertrag soll aber nicht schon bei Scheitern der Ehe, sondern erst beim Auszug beider Ehegatten beendet sein. Gleiches gilt, wenn das eigene Kind im Haus verbleibt, aber nun Miete an seine Eltern zahlt. Lebt das Kind weiterhin unentgeltlich im Haus, besteht der Leihvertrag fort und sind Ansprüche ausgeschlossen5. Die Grundsätze über die Zuwendungen an Eheleute sollten nicht nur bei Schwiegerelternzuwendungen, sondern auch dann, wenn es sich um eine 1 BGH v. 21.7.2010 – XII ZR 180/09, FamRZ 2010, 1626 (1628) = FamRB 2010, 325. 2 Wever, Anm. zu BGH v. 3.2.2010 – XII ZR 189/06, FamRZ 2010, 1047. 3 OLG Nürnberg v. 2.6.2005 – 11 UF 14/05, FamRZ 2006, 38 = FamRB 2005, 319. 4 OLG Frankfurt v. 3.11.2006 – 25 U 30/06, FamRZ 2007, 641. 5 OLG Düsseldorf v. 7.1.2010 – I-24 U 108/09, FamRZ 2010, 1849 (1851).
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Kap. 10 Rn. 33
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Zuwendung der Großmutter eines Ehegatten an dessen Ehepartner handelt, Gültigkeit haben1. Man wird sicher nicht fehlgehen, wenn man auch insoweit nunmehr von einer Schenkung ausgeht und die oben erläuterten Grundsätze der Rückforderung auch für die Großeltern gelten lässt. 5. Verjährung und steuerliche Behandlung 33 Der Zeitpunkt zur Geltendmachung von Ausgleichsansprüchen ist vom BGH nicht ausdrücklich festgelegt worden2. Frühestens nach Scheitern der Ehe können diese Ansprüche geltend gemacht werden. Es kann eigentlich keinem Zweifel unterliegen, dass jedenfalls beim Güterstand der Zugewinngemeinschaft das Scheitern der Ehe erst mit rechtskräftigem Scheidungsurteil feststeht. Auch dann ist erst erkennbar, welchen Ausgleich der Ehegatte im Rahmen des Zugewinnausgleichsverfahrens erhält, und erst jetzt kann geprüft werden, ob dieses Ergebnis uU unbillig oder unzumutbar ist. 34 Wurde zwischen den Eheleuten wirksam Gütertrennung vereinbart, steht von vornherein fest, dass der zuwendende Ehegatte keinen Ausgleichsanspruch aus güterrechtlichen Gesichtspunkten erhalten wird. Hier ist dann die Geltendmachung des Ausgleichsanspruchs schon mit Scheitern der Ehe, also bei endgültiger Trennung oder Zustellung des Scheidungsantrags vorstellbar. 35 Ansprüche auf Ausgleichsforderungen bezüglich ehebedingter Zuwendungen unterliegen den allgemeinen Verjährungsfristen gem. §§ 195–199 BGB. 36 Auf ehebedingte Zuwendungen gestützte Ausgleichsansprüche haben zwar ihre Grundlage in § 313 BGB und damit in einer Norm des Schuldrechts, sie sind gleichwohl als besondere familienrechtliche Ansprüche zu erfassen. Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts vom 2.7.2009 mit Wirkung ab dem 1.1.2010 die Verjährungsfrage dahingehend geklärt, dass die Vorschrift des § 197 Abs. 1 Nr. 2 BGB gestrichen wurde. Familienrechtliche Ansprüche unterliegen nun insgesamt der dreijährigen Verjährung nach § 195 BGB bei Kenntnis und der zehnjährigen Verjährung entsprechend § 199 BGB ohne Rücksicht auf die Kenntnis des Anspruchs3. Allerdings muss kein Berechtigter übereilt Antrag zur Durchsetzung seiner Ansprüche einreichen, denn nach § 207 BGB sind diese familienrechtlichen Ansprüche gehemmt, solange die zugrunde liegende familiäre Binnengemeinschaft und deren Rechtsverhältnisse bestehen. Bestand die Zuwendung in der Über-
1 BGH v. 7.9.2005 – XII ZR 316/02, FamRZ 2006, 391 = FamRB 2006, 133. 2 BGH v. 13.7.1994 – XII ZR 1/93, FamRZ 1994, 1167. 3 BT-Drucks. 16/8954, S. 11.
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Rn. 41
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tragung eines Grundstücks, gewährt § 196 BGB eine Verjährungsfrist von 10 Jahren. Da der Lauf der Verjährungsfrist gem. § 199 Abs. 1 BGB auf den Schluss des Jahres abstellt, in dem der Anspruch entstanden ist, ist zu prüfen, wann der Rückgewähranspruch der Schwiegereltern entsteht. Das ist der Fall bei Scheitern der Ehe. Nach wohl inzwischen ständiger Rechtsprechung des BGH ist das Scheitern der Ehe mit der endgültigen Trennung der Eheleute gegeben und nicht erst mit Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses1. Die dreijährige Verjährungsfrist gem. § 195 BGB gilt auch für die Ansprü- 37 che aus § 812 BGB2. Bei Rückabwicklung über die schenkungsrechtlichen Vorschriften ist die Sondervorschrift des § 532 BGB zu beachten, die einen Widerruf nur für ein Jahr ab Kenntnis der Voraussetzungen zulässt. Schenkungssteuerrechtlich bereiten die ehebedingten Zuwendungen un- 38 ter Ehegatten dann kein Problem, wenn es sich um die Zuwendung von Eigentum oder Miteigentum an einer im Inland gelegenen und zu eigenen Wohnzwecken genutzten Wohnung oder eines Hauses handelt. Hier trifft § 13 Abs. 1 Nr. 4a ErbStG eine eindeutige Regelung und gewährt eine Steuerbefreiung. Von diesem Sondertatbestand abgesehen sind ehebedingte Zuwendungen steuerrechtlich Schenkungen und damit schenkungssteuerpflichtig, wobei der hohe Freibetrag der Eheleute zu berücksichtigen ist. 6. Ausgleich von Arbeitsleistungen, Dienstleistungen und Mitwirkung an der Vermögensbildung Mit Inkrafttreten des 1. EheRG im Jahre 1977 wurde der seinerzeitige 39 § 1356 Abs. 2 BGB, der noch eine Mitarbeitspflicht im Beruf und im Geschäft des anderen Ehegatten im Rahmen der Üblichkeit vorsah, aufgehoben. Eine Verpflichtung des Ehegatten zur Mitarbeit kann sich heute nur noch aus der Pflicht zur ehelichen Lebensgemeinschaft (§ 1353 Abs. 1 BGB) oder aus der Verpflichtung, zum Unterhalt der Familie beizutragen (§ 1360 BGB), ergeben. Diese Verpflichtung zur Arbeitsleistung ist aber deutlich geringer als nach § 1356 Abs. 2 aF BGB. Dennoch ist es heute zunehmend üblich, dass ein Ehegatte im Unterneh- 40 men oder in der freiberuflichen Praxis des Ehepartners mitarbeitet. a) Vertragliche Regelung IdR werden heute Arbeitsverträge abgeschlossen, um die steuerlichen Vorteile der Ehegattenmitarbeit nutzen zu können. Die Aufwendungen 1 BGH v. 20.7.2011 – XII ZR 149/09, FamRZ 2012, 273 m. Anm. Wever, 276; BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 156/04, FamRZ 2007, 877. 2 Palandt/Sprau, § 812 BGB Rn. 69.
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Kap. 10 Rn. 42
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für den mitarbeitenden Ehegatten können dann gem. § 4 Abs. 4 und 5 EStG einschließlich der freiwilligen Sozialleistungen als Betriebsausgaben abgezogen werden, und sogar die Aufwendungen für eine betriebliche Altersversorgung können durch Rückstellungen nach § 6a EStG oder als Betriebsausgabe berücksichtigt werden. 42 Die Finanzämter prüfen diese Art von Arbeitsverhältnissen sehr genau, bevor sie ihnen die steuerliche Anerkennung gewähren. Notwendig ist zum einen, dass der Arbeitslohn tatsächlich gezahlt wird, und zwar auf ein Konto des mitarbeitenden Ehegatten, zum anderen müssen die vereinbarten Arbeitsleistungen auch tatsächlich erbracht werden. 43 An dieser Stelle sei noch einmal warnend darauf hingewiesen, dass insbesondere nach Trennung der Eheleute Ehegatten-Arbeitsverhältnisse sehr kritisch betrachtet werden.
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Wichtig: Häufig schlagen die Beteiligten vor, Vereinbarungen dahingehend zu treffen, dass zwar der Lohn an den Ehegatten weitergezahlt wird, dieser aber seine Arbeitsleistung nicht mehr zu erbringen braucht. Auf diesem Weg soll der Versuch unternommen werden, über den Freibetrag des § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG von derzeit 13 805 Euro hinaus Unterhaltszahlungen als vermeintlichen Lohnaufwand steuerlich nutzbar zu machen. Fällt dies bei einer steuerlichen Prüfung auf, wird die Lohnzahlung an den Ehegatten nicht mehr als Betriebsausgabe anerkannt werden.
44 Gerade wegen der steuerlichen Anerkennung wird idR die Arbeitsleistung des Ehegatten im Arbeitsvertrag ausreichend und angemessen entlohnt, so dass weitergehende Ansprüche in aller Regel gar nicht entstehen können. b) Fehlende vertragliche Regelung 45 Erbringt jedoch der Ehegatte Arbeitsleistungen, für die keine vertragliche Regelung gegeben ist, so zB beim Ausbau des Familienwohnhauses oder bei Arbeitsleistungen auf dem Grundstück des anderen Ehegatten, entstehen bei Scheitern der Ehe schwierige Ausgleichsansprüche bezüglich der investierten Arbeit. aa) Zugewinngemeinschaft 46 Leben die Ehegatten im Güterstand der Zugewinngemeinschaft, kann man sich darauf zurückziehen, die durch die Arbeitsleistung verursachte Wertsteigerung nur und ausschließlich über einen Zugewinnausgleichsanspruch abzuwickeln. Problematisch wird es wiederum, wenn die Arbeitsleistung vor der Eheschließung erbracht worden ist. Im ländlichen Bereich geschah es in der Vergangenheit häufig und geschieht es auch 1122
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Rn. 51
Kap. 10
noch, dass die Ehegatten gemeinsam das spätere Wohnhaus vor der Eheschließung errichten, um dann nach der Hochzeit dort einzuziehen. Hier ist dann die vom Ehegatten erbrachte Arbeitsleistung beim anderen Ehegatten schon im Anfangsvermögen enthalten und wird eben nicht ausgeglichen. Eine Lösung bieten die Ausführungen zu Rn. 52. bb) Ehegatteninnengesellschaft Ansprüche aus einer Ehegatteninnengesellschaft1 bestehen nicht, weil 47 die Arbeitsleistung idR nur der Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft dienen soll und keinen darüber hinausgehenden Zweck erfüllt. cc) Bereicherungsrechtliche Ansprüche Bereicherungsrechtliche Ansprüche scheiden ebenfalls aus, weil weder 48 ein Fall des § 812 Abs. 1 S. 2, 1. Alt. BGB, noch der 2. Alt. gegeben ist. § 812 Abs. 1 S. 2, 1. Alt. BGB, scheidet aus, weil der Fortbestand der Ehe nicht als Rechtsgrund für die während der ehelichen Lebensgemeinschaft erbrachten Leistungen angesehen werden kann. Die 2. Alt. scheidet aus, weil Zuwendungen unter den Ehegatten ihren Grund in der gemeinsamen Lebensführung haben und in einer noch intakten Ehe nicht mit der Zweckbestimmung erfolgen, den Fortbestand der Ehe zu erreichen. Im Bereicherungsrecht ist die Zweckbestimmung mehr als eine bloße Geschäftsgrundlage2. dd) Kein Ausgleich über Rückgewähr von Zuwendungen Ein Ausgleichsanspruch nach den Grundsätzen über die Rückgewähr von Zuwendungen scheidet ebenfalls aus. Eine „Zuwendung“ ist nach dem BGH nur in der Übertragung von Vermögenssubstanz, nicht durch das Zurverfügungstellen von Arbeitskraft gegeben3. Im letzteren Fall fehlt es an der Vermögensminderung beim Leistenden.
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ee) Familienrechtlicher Ausgleichsanspruch Gleichwohl können Arbeitsleistungen während der Ehe nach deren 50 Scheitern zu einem familienrechtlichen Ausgleichsanspruch führen, da sie ebenso eine geldwerte Leistung darstellen wie die Übertragung von Sachvermögen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Arbeitsleistung über die im Rahmen der Unterhaltspflicht oder der ehelichen Lebensgemeinschaft geschuldete Beitragsleistung weit hinausgeht. 1 BGH v. 20.12.1952 – II ZR 44/52, BGHZ 8, 249. 2 BGH v. 2.10.1991 – XII ZR 145/90, FamRZ 1992, 160 (161). 3 BGH v. 8.7.1982 – IX ZR 99/80, FamRZ 1982, 910.
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Kap. 10 Rn. 52
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52 Bei erheblichen und damit überobligatorischen Arbeitsleistungen des Ehegatten ist idR davon auszugehen, dass diese nur nach einer stillschweigenden vertraglichen Übereinkunft der Ehegatten zur Ausgestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft erbracht werden und darin ihre Geschäftsgrundlage haben1. Voraussetzung für die Annahme eines entsprechenden familienrechtlichen Vertrags ist allerdings, dass die überobligatorische Arbeitsleistung von einer gewissen Dauer, Regelmäßigkeit und erheblichem Umfang ist. Nur gelegentliche oder kurzzeitige Aushilfen reichen dafür nicht aus. Nicht entscheidend ist die Frage, von welcher Qualität die geleistete Arbeit ist. Auch untergeordnete Tätigkeiten stehen der Annahme eines solchen familienrechtlichen Vertrags nicht entgegen. Im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft ist ein solcher Ausgleichsanspruch nur ausnahmsweise vorstellbar2. 53 Im Güterstand der Gütertrennung führt die Anwendung der Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage wie bei den ehebedingten Zuwendungen zu einem Ausgleichsanspruch, sofern im Rahmen der familienvertraglichen Vereinbarungen keine andere Regelung vorgesehen ist. ff) Höhe der Ausgleichsforderung 54 Bei der Bemessung der Ausgleichsforderung ist zu berücksichtigen, welche Arbeitskosten durch die Mitarbeit des Ehegatten erspart wurden. Die Höhe der ersparten Arbeitskosten begrenzt den Ausgleichsanspruch nach oben. Ferner kann der Ausgleich nur unter Berücksichtigung des Betrags ermittelt werden, um den das Vermögen des anderen Ehegatten zum Zeitpunkt des Wegfalls der Geschäftsgrundlage noch vermehrt war3. Durch den Ausgleichsanspruch soll der Ehegatte in angemessener Form an dem gemeinsam Erarbeiteten beteiligt werden, der Ausgleichsanspruch dient nicht der nachträglichen Entlohnung der Mitarbeit. gg) Fristen zur Geltendmachung 55 Die Geltendmachung eines derartigen Ausgleichsanspruchs ist an keine Ausschlussfrist gebunden4, und er ist auch nicht durch ehewidriges Verhalten verwirkt5. Es gibt keinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass derjenige, der die Geschäftsgrundlage eines Vertrags zerstört, deswegen die von ihm erbrachte vermögensrechtliche Leistung verwirkt6.
1 2 3 4 5 6
BGH v. 13.7.1994 – XII ZR 1/93, FamRZ 1994, 1168. BGH v. 21.12.1983 – IVb ZB 29/82, FamRZ 1984, 369. BGH v. 8.7.1982 – IX ZR 99/80, FamRZ 1982, 910. BGH v. 2.10.1991 – XII ZR 132/90, FamRZ 1992, 293. BGH v. 2.10.1991 – XII ZR 145/90, FamRZ 1992, 160. BGH v. 2.10.1991 – XII ZR 145/90, FamRZ 1992, 160.
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Rn. 61
Kap. 10
Auch wenn die Arbeitsleistung durch einen Familienangehörigen (Vater 56 oder Mutter) erbracht wurde, steht dieser Anspruch dem Ehegatten direkt zu und ist ihm wie bei einer Ausstattung gem. § 1624 BGB analog in seinem wirtschaftlichen Wert zuzurechnen. 7. Konten Die Verwaltung der Konten von Eheleuten hängt häufig davon ab, wel- 57 cher der Ehegatten die Zeit und das Interesse hat, sich um diesen Bereich der gemeinschaftlichen Wirtschaftsführung zu kümmern. Früher war dies häufig der Hausfrau vorbehalten, da sie die Banköffnungszeiten überhaupt nur einhalten und nutzen konnte. Im Zeitalter des zunehmenden Online-Banking wird auch hier eine Veränderung in den ehelichen Lebensgewohnheiten eintreten. a) Einzelkonten In der Einverdiener-Ehe werden die Bankkonten häufig auf den Namen 58 desjenigen Ehegatten laufen, der durch seine Berufstätigkeit den Lebensunterhalt sicherstellt. Auf sein Konto überweist der Arbeitgeber den Lohn, von diesem Konto werden die laufenden Überweisungen getätigt. Der haushaltführende Ehegatte hat idR eine Vollmacht, um über das 59 Konto verfügen zu können. Im Außenverhältnis gegenüber der Bank ist diese Vollmacht in aller Regel unbeschränkt und lediglich durch die Vorgaben der Kontobedingungen uU eingeschränkt. Im Innenverhältnis zwischen den Eheleuten dient die Vollmacht der 60 Sicherung der Haushaltsführung. Nur in diesem Rahmen ist der Ehegatte berechtigt, Verfügungen über das Konto vorzunehmen und Beträge vom Konto abzuheben oder zu überweisen. Dabei bestimmt der Lebenszuschnitt der Eheleute auch den finanziellen Rahmen, innerhalb dessen sich der haushaltführende Ehegatte mit seinen Kontoverfügungen bewegen kann. Sparen die Ehegatten vom Arbeitseinkommen des berufstätigen Partners einen bestimmten Anteil und legen sie dieses Sparguthaben auf einem Konto an, welches nur auf den Namen des haushaltführenden Ehegatten lautet, so ist gleichwohl davon auszugehen, dass diese Gelder beiden Ehegatten zugutekommen sollten. Es ist dann von einer konkludenten Bruchteilsgemeinschaft und im Zweifel gem. § 742 BGB davon auszugehen, dass jedem ein gleich hoher Anteil zusteht1. Allerdings soll bei der Vermutung einer stillschweigenden Vereinbarung der Eheleute über eine Bruchteilsberechtigung Zurückhaltung geboten sein. Allein der Um1 BGH v. 11.9.2002 – XII ZR 9/01, FamRZ 2002, 1696 = FamRB 2003, 38; so auch ausführlich noch einmal OLG Brandenburg v. 7.9.2010 – 10 UF 15/10, FamRZ 2011, 114 (117).
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Kap. 10 Rn. 62
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stand, dass einem Ehegatten Kontovollmacht erteilt wurde, soll dazu nicht ausreichen1. 62 Diese Rechtsprechung des BGH wird aber nicht nur auf die Frage von Kontenvermögen angewendet, sondern auch auf ähnliche Konstellationen. In einem vom Oberlandesgericht Bremen entschiedenen Fall2 hatten die Eheleute gemeinsam ein Haus erworben. Dafür hatten sie gemeinsam einen Kredit aufgenommen. Die Hypothekendarlehen waren tilgungsfrei gestellt. Gleichzeitig wurde eine Lebensversicherung abgeschlossen, mit der die Darlehen abgelöst werden sollten. Zunächst war die Ehefrau Versicherungsnehmerin, auf Betreiben der finanzierenden Bank wurde aber der Ehemann als Versicherungsnehmer eingetragen. Die nach der Scheidung erfolgte Veräußerung des Hauses deckte die Verbindlichkeiten vollständig ab. Die Lebensversicherung ließ sich der Ehemann auszahlen. Die Ehefrau verlangte die hälftige Teilung des Guthabens. Das Oberlandesgericht sah einen Anspruch deswegen als gegeben an, weil es sich bei der Lebensversicherung nicht um eine ehebedingte Zuwendung handele, sondern um eine stillschweigend vereinbarte Bruchteilsgemeinschaft gem. §§ 741 ff. BGB. Die stillschweigende Vereinbarung schloss das Oberlandesgericht hier aus der gemeinsamen Zweckverfolgung der Parteien. In der ursprünglichen Planung hätte das Versicherungsguthaben beiden Eheleuten zugutekommen sollen. Der Kapitalertrag der Versicherung sollte für den gemeinsamen Zweck der Schuldentilgung eingesetzt werden. Die aus der Gemeinschaft herrührenden Ansprüche sollen auch unabhängig vom Zugewinnausgleichsverfahren durchgesetzt werden können. Es bestehe hier kein Vorrang der güterrechtlichen Abwicklung. 63 Problematisch sind die Fälle des Missbrauchs der Vollmacht durch den haushaltführenden Ehegatten. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen der Zeit vor und nach der Trennung. 64 Missbraucht der haushaltführende Ehegatte die Vollmacht vor der Trennung, um für sich Geldbeträge auf die Seite zu bringen, löst dies uU Erstattungsansprüche aus. Bestreitet der Kontoinhaber die Berechtigung der Kontoverfügung, ist es Aufgabe des verfügenden Ehegatten nachzuweisen, dass die von ihm getroffenen Verfügungen dem Willen des Kontoinhabers entsprachen und mit dessen Billigung durchgeführt worden sind. 65 Nach der Trennung wird man ohne weiteres von einer Ausgleichspflicht des Verfügenden ausgehen können. Hier kann nicht unterstellt werden, dass der Kontoinhaber selbst bei Fortbestehen der Vollmacht noch Abhebungen zulassen will. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn der verfügende Ehegatte auf diesem Wege seinen Unterhaltsanspruch realisiert und der Kontoinhaber dies über längere Zeit stillschweigend duldet. 1 OLG Karlsruhe v. 28.3.2002 – 2 UF 50/01, FamRZ 2003, 607 = FamRB 2003, 278. 2 OLG Bremen v. 23.9.2008 – 4 W 6/08, FamRZ 2009, 279 m. Anm. Floeth = FamRB 2009, 1.
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Rn. 68
Kap. 10
Wichtig: In der Trennungssituation ist der Kontoinhaber unbedingt darauf hinzuweisen, dass er schon aus Gründen des Selbstschutzes die Vollmacht des haushaltführenden Ehegatten widerruft und den Zugriff auf das ihm gehörende Konto damit unmöglich macht. Der in der Erstberatung tätige Anwalt tut gut daran, diesen Hinweis auch in seiner schriftlichen Zusammenfassung der Erstberatung zu dokumentieren.
Von den grundsätzlichen Absprachen der Eheleute bei Erteilung der Voll- 66 macht sind auch nicht Aufwendungen für den trennungsbedingten Mehrbedarf gedeckt. Sofern die Abhebungen nur dazu dienen, die Trennung vorzubereiten, führt dies in jedem Falle zu Ausgleichsansprüchen1. Der BGH hat entschieden, dass die dem Ehegatten erteilte Vollmacht nicht ausdrücklich nach der Trennung widerrufen werden muss, sondern schon durch die Trennung die Geschäftsgrundlage für die Bevollmächtigung entfallen ist und die Vollmacht, wenn sie denn nicht ganz entfällt, doch zumindest dahingehend modifiziert ist, dass nur noch in einem sehr engen Rahmen Verfügungen vorstellbar und zulässig sind2. b) Gemeinschaftskonten Richten die Parteien Gemeinschaftskonten ein, kann dies in der Form 67 der Und- oder der Oder-Konten geschehen. Wird ein Oder-Konto eingerichtet, sind die Ehegatten jeder allein berechtigt, Verfügungen auf dem Konto vorzunehmen. Ein Ehegatte kann nicht allein gegenüber der Bank die Umwandlungserklärung abgeben, wonach aus dem Oder-Konto ein Und-Konto werden soll. Für eine solche Erklärung müssen die Eheleute eine ausdrückliche Vereinbarung treffen3. Bei einem Oder-Konto sind die Eheleute Gesamtgläubiger gem. § 428 BGB in einer modifizierten Gesamtgläubigerschaft, bei der die Bank nicht nach ihrer Wahl an einen der Gläubiger leisten darf, sondern an den Gläubiger leisten muss, der Zahlung verlangt4. Dies hat auch Auswirkungen im Falle der Pfändung durch einen Drittgläubiger5. Für das Innenverhältnis zwischen den Gläubigern gilt § 430 BGB, wonach jedem Gläubiger grundsätzlich die Hälfte zusteht. Etwas anderes soll und kann nur gelten, wenn die Parteien intern eine ab- 68 weichende Regelung getroffen haben. Dabei spielt es keine Rolle, welcher Ehegatte das Guthaben auf das Konto eingezahlt hat. Während intakter Ehe ist durchaus vorstellbar, dass der haushaltführende Ehegatte das gesamte Einkommen des Partners für Familienzwecke verwendet und des1 2 3 4 5
Wever, FamRZ 1993, 912 (913). BGH v. 5.4.1989 – IVb ZR 104/87, FamRZ 1989, 834. BGH v. 30.10.1990 – XI ZR 352/89, NJW 1991, 420 (str.). OLG Dresden v. 21.2.2001 – 18 U 1948/00, FamRZ 2003, 1943. OLG Dresden v. 21.2.2001 – 18 U 1948/00, FamRZ 2003, 1943.
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Kap. 10 Rn. 69
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halb mehr als die Hälfte vom Konto abhebt. Haben sich die Eheleute getrennt, kann diese „anderweitige Bestimmung“ im Sinne von § 430 BGB ohne weiteres entfallen. Es ist dann zu prüfen, warum der eine Ehegatte mehr als die Hälfte vom Konto entnehmen durfte. Kann er eine diesbezügliche Vereinbarung der Parteien nicht beweisen, hat er den Mehrbetrag auszukehren. 69 Begründen die Eheleute ein Und-Konto, können sie nur gemeinschaftlich über dieses Konto verfügen. Das Und-Konto hat eine Sicherungsfunktion, die idR bei Auseinandersetzungsguthaben angewendet wird. Missbrauch eines Und-Konto ist schon von seiner Art nicht vorstellbar.
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Praxistipp: Die EDV-Einführung bei den Banken hat dazu geführt, dass auf dem Kontoauszug häufig „Heinz und Elke …“ als Kontoinhaber auftauchen, obwohl es sich in aller Regel um ein Oder-Konto handelt. Hier kann nur über den Giro-Vertrag ermittelt werden, um welche Art von Konto es sich handelt. Auf die Bezeichnung als solche darf man nicht mehr vertrauen.
c) Depotkonten 70 Bei Depotkonten zur Verwahrung von Wertpapieren kommt es darauf an, ob es sich um eine Verwahrung gem. § 2 DepotG in der Form der Sonderverwahrung oder in der Form der Sammelverwahrung gem. § 3 DepotG handelt. 71 Der Normalfall ist die Sammelverwahrung. Hier ist der Depotinhaber nicht Alleineigentümer einzelner Wertpapiere, sondern Miteigentümer am gesamten verwahrten Bestand der Bank. 72 Auch bei Depotkonten gibt es die Möglichkeit des Und- oder Oder-Kontos. Die Einräumung der Mitberechtigung des Ehegatten führt idR nicht dazu, dass er Miteigentümer der ursprünglich nur einem Ehegatten gehörenden Wertpapiere werden soll. Beim Oder-Depot ist § 430 BGB nur für die Rechte aus dem Depot-Verwahrungsvertrag maßgeblich, nicht für die Eigentumslage an den verwahrten Wertpapieren. Für die Eigentumslage der im Depot verwahrten Wertpapiere stellen § 1006 BGB eine Vermutung und § 742 BGB eine schwach ausgeprägte Auslegungsregel für gleiche Anteile der Oder-Depotinhaber auf1. Im Zweifel ist bei dem OderDepot zu prüfen, mit welchem „Alt-Bestand“ das Konto zum Oder-Konto umgewandelt wurde. Der Alt-Bestand gehört im Zweifel dem jeweils einbringenden Ehegatten, und erst die gemeinsam später erworbenen Wertpapiere lassen den Schluss auf Erwerb der Wertpapiere in gemeinschaftlichem Eigentum zu.
1 BGH v. 25.2.1997 – XI ZR 321/95, FamRZ 1997, 607 (608).
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Rn. 76
Kap. 10
8. Kredite a) Freistellungsanspruch Schätzungen des im Jahre 2005 von der Bundesregierung vorgelegten zweiten Armuts- und Reichtumsbericht zufolge waren 2002 in Deutschland 3,13 Mio Haushalte überschuldet. Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht1 (Mai 2008) der Bundesregierung weist zwar nur noch eine Überschuldung von 1,6 Mio Haushalten auf, dies ist aber nicht auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation, sondern auf eine Veränderung der Datengrundlage und Auswertungsmethoden zurückzuführen. Außer Acht gelassen wurden bei der neueren Untersuchung zB Mietschulden, Schulden bei der öffentlichen Hand, bei Energiekonzernen oder bei Versandhäusern. Ein Haushalt ist überschuldet, wenn er aus seinem laufenden Einkommen (nach Auflösung der Reserven) den Zahlungsverpflichtungen nicht mehr vollständig nachkommen kann, selbst wenn die Lebenshaltung eingeschränkt wird. Im Jahre 2007 sind 105 000 Anträge auf Privatinsolvenz eingereicht worden2.
73
Im Hinblick auf diese wirtschaftliche Situation ist in vielen Ehen bei Trennung und Scheidung nicht die entscheidende Frage, wer Auto, Möbel oder sonstige Vermögenswerte übernimmt, sondern wer die dafür aufgenommenen Konsumentenkredite zahlt und bedient.
74
In diesem Zusammenhang darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass viele 75 kreditgebende Banken nur bereit sind, den Kredit zu bewilligen, sofern der Ehepartner den Kreditvertrag mit unterschreibt. Dies führt zu einer massiven Einbindung der von Anfang an nicht zahlungsfähigen Ehegatten in die Kreditverbindlichkeit. Kreditgeschäfte, Haustürgeschäfte, Verbraucherdarlehen und Ratenliefe- 76 rungsverträge können über § 1357 BGB zur Mitverpflichtung des Ehegatten führen. Voraussetzung ist, dass es sich um ein Rechtsgeschäft handelt, das seiner Art nach der Deckung des Lebensbedarfs dient, also einen Bezug zur familiären Konsumgemeinschaft aufweist3. Dazu gehören nach Auffassung des Oberlandesgerichts Brandenburg nicht sog. Grundlagengeschäfte wie die Anmietung und Kündigung einer Wohnung. Auch die Aufnahme eines Kredits von 15 000 Euro zur Anschaffung der gesamten Wohnungseinrichtung ist kein Schlüsselgewaltgeschäft4. Dagegen gehört die Versorgung mit Medien nach Auffassung des Gerichts zum grundsätzlichen Lebensbedarf einer Familie, auch der Abschluss eines Vertrags mit der GEZ. Der Abschluss eines Pay-TV-Vertrags wird wiederum als Luxus gewertet und stellt damit kein Schlüsselgewaltgeschäft dar. Das KG hält dagegen die Beauftragung eines Rechtsanwalts zur Erhaltung der Ehewoh1 www.bmas.de/…/lebenslagen_in_deutschland_der_3_armuts_und_reichtumsbe richt_der_bundesregierung.html. 2 Schufa Holding AG, www.schulden-kompass.de. 3 Palandt/Brudermüller, § 1357 BGB Rn. 11. 4 OLG Brandenburg v. 1.8.2006 – 9 W 8/06, FamRZ 2007, 558.
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Kap. 10 Rn. 77
Nebengüterrecht
nung für ein Schlüsselgewaltgeschäft, wenn der Vermieter die Zahlung von Mietrückständen und die Räumung verlangt1. 77 Wird für ein von den Ehegatten gemeinsam geführtes Oder-Konto ein Überziehungskredit nach § 493 BGB bewilligt, besteht auch hier die Möglichkeit, dass ein Ehegatte den anderen mit erheblichen Kreditverpflichtungen belastet. Kann nach dem Vorstehenden eine gemeinsame Verbindlichkeit der Eheleute festgestellt werden, richtet sich die Verpflichtung zur Rückführung der Verbindlichkeit nach § 421 BGB, jeder Ehegatte ist zur ganzen Leistung verpflichtet, bis zu deren Bewirkung bleiben beide als Schuldner dem Gläubiger zur Zahlung verpflichtet. b) Anspruch gem. § 426 BGB 78 Im Verhältnis der Gesamtschuldner untereinander regelt § 426 BGB die Ausgleichungspflicht. Soweit nichts anderes bestimmt ist, sind die Gesamtschuldner im Verhältnis zueinander zu gleichen Anteilen zur Rückführung verpflichtet. Ein anderes ist idR dann bestimmt, wenn während intakter Ehe bei der Alleinverdiener-Ehe der Ehemann einen wesentlich höheren Anteil an der Schuldenrückführung trägt als die Ehefrau. Hier liegt in der Aufteilung der ehelichen Bereiche schon die anderweitige Bestimmung. Die Hausfrau ist nicht verpflichtet, dem Ehemann den halben Betrag der während der intakten Ehe getilgten Schulden zu erstatten. 79 Etwas anderes gilt, wenn die Eheleute in Trennung leben. Jetzt ist der alleinverdienende Ehegatte nicht mehr gewillt, auch die Schulden seines getrenntlebenden Partners mit zu tragen. Die Grundlage der gemeinsamen Lebensführung ist entfallen, im Zweifel ist jetzt wieder der Halbteilungsgrundsatz nach § 426 Abs. 1 BGB anzuwenden. Hinsichtlich des Rückforderungsbegehrens des tilgenden Ehegatten kommt es nicht darauf an, ob der andere Ehegatte überhaupt in der Lage ist, Tilgungsleistungen zu erbringen oder den Anspruch des Ehepartners zu befriedigen. Der arme Gesamtschuldner hat keine Besserstellung gegenüber dem wohlhabenden und vermögenden Gesamtschuldner zu erwarten2. 80 Häufig geschieht die Rückforderung aber indirekt im Rahmen der Unterhaltsberechnung. Setzt der zahlungsfähige Gesamtschuldner bei der Unterhaltsberechnung die Kreditraten von seinem Einkommen ab und beteiligt so den anderen Ehegatten indirekt an der Rückführung des Kredits, so kann er nicht noch zusätzlich nach § 426 BGB einen Ausgleichsanspruch geltend machen. Durch die Einbringung der Kreditraten in die Unterhaltsberechnung ist von einer anderweitigen Bestimmung im Sinne von § 426 Abs. 1 BGB auszugehen3. Dies gilt selbst dann, wenn die Ver1 KG v. 28.11.2005 – 8 U 100/05, FamRB 2006, 165 = KGReport 2006, 257. 2 BGH v. 22.2.1971 – VII ZR 160/69, BGHZ 55, 349. 3 OLG Hamm v. 16.10.1998 – 5 UF 255/97, FamRZ 1999, 1501; OLG Celle v. 23.5.2000 – 3 W 2/00, FamRZ 2001, 1071; OLG München v. 14.7.1995 – 21 U 5880/94, FamRZ 1996, 291; OLG Bremen v. 21.8.2006 – 4 W 24/06, FamRZ 2007,
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Rn. 82
Kap. 10
kürzung des Unterhaltsanpruchs der Höhe nach nicht dem halben Schuldanteil entspricht; die restliche Ausgleichsforderung kann nicht über § 426 BGB geltend gemacht werden1.
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Wichtig: In diesem Zusammenhang darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass eine derartige indirekte Verrechnung auch noch Auswirkungen auf den Zugewinnausgleichsanspruch haben kann, da nämlich insoweit die Verbindlichkeiten nicht nur dem tilgenden Ehegatten zugerechnet werden dürfen, sondern je hälftig bei beiden Ehegatten in die Bilanz eingestellt werden müssen2.
Abweichend von § 426 Abs. 1 BGB ist bei Steuerschulden zu verfahren. 81 Hier hat eine Entscheidung des BGH dahingehend Klarheit geschaffen, den Aufteilungsmaßstab nach § 270 AO zu wählen und die Steuerschuld im Veranlagungszeitraum nach den jeweilig zu versteuernden Einkommen der Eheleute aufzuteilen. Das Finanzamt nimmt eine fiktive getrennte Veranlagung vor, wobei die Besteuerungsgrundlagen aus dem Zusammenveranlagungsbescheid unverändert übernommen werden3. Allerdings bietet § 274 AO die Möglichkeit, abweichend von der Regelung des § 270 AO, die rückständige Steuer nach einem von den Gesamtschuldnern gemeinschaftlich vorgeschlagenen Maßstab aufzuteilen, sofern die Tilgung sichergestellt ist. Der gemeinschaftliche Vorschlag ist schriftlich einzureichen oder zur Niederschrift zu erklären. Hier haben die Ehegatten also Gestaltungsmöglichkeiten, die sich uU weit vom Steuerrecht entfernen. c) Schuldenregelung Der Richter konnte nach altem Recht mit der Zuweisung eines Haus- 82 haltsgegenstands an einen Ehegatten auch gleich die für diesen Gegenstand eingegangenen Kredite regeln. Er durfte die Schuld im Innenverhältnis dem Ehegatten auferlegen, der den Gegenstand erhielt. Das Außenverhältnis wurde von dieser Regelung gem. § 10 HausratsVO aF nicht berührt. Mit der Neuordnung in § 1568b BGB ist diese Möglichkeit ersatzlos entfallen. Der Gesetzgeber sah zu einer solchen Regelung kein praktisches Bedürfnis mehr und vertrat im Übrigen die Auffassung, die Schulden würden sich spätestens im Zugewinnausgleich vermögensmindernd bei dem Ehegatten auswirken, der im Außenverhältnis Schuldner sei4. Diese Entscheidung des Gesetzgebers ist lebensfremd, denn seine Argumentation greift nur dann, wenn überhaupt ein Zugewinn entstan-
1 2 3 4
47 = FamRB 2007, 2; BGH v. 11.5.2005 – XII ZR 289/02, FamRZ 2005, 1236 = FamRB 2005, 251. OLG Koblenz v. 10.3.2010 – 1 U 392/09, FamRZ 2010, 1901. OLG Hamm v. 16.10.1998 – 5 UF 255/97, FamRZ 1999, 1501. BGH v. 31.3.2006 – XII ZR 111/03, FamRZ 2006, 1178. BT-Drucks. 16/10798, S. 37.
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Kap. 10 Rn. 83
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den ist. Das ist aber in Familien, die Haushaltsgegenstände auf Kredit kaufen, nur höchst selten der Fall. d) Befreiung von Mitverpflichtungen 83 Häufig gehen die Parteien während der Ehe Kreditverbindlichkeiten ein, die letztlich nur dem Interesse eines Ehegatten dienlich sind. Wie schon ausgeführt, haben die Banken häufig ein Interesse daran, aus Sicherungsgründen auch den anderen Ehegatten mit zu verpflichten. Scheitert die Ehe, hat der mithaftende Ehegatte Anspruch auf Befreiung von solchen Verbindlichkeiten nach den Regeln des Auftragsrechts, sofern nicht etwas anderes zwischen den Parteien vereinbart wurde1. Die vollzogene Trennung berechtigt den mithaftenden Ehegatten, den ihm quasi erteilten Auftrag zur Übernahme der Mithaft gem. § 671 Abs. 3 BGB zu kündigen. Als Rechtsfolge der Kündigung kann er den Ersatz seiner Aufwendungen gem. § 670 BGB und gem. § 257 BGB die Befreiung von den mitübernommenen Verbindlichkeiten verlangen. Wenn zur Erfüllung des Auftrages Verbindlichkeiten übernommen wurden, kann er von diesen Befreiung verlangen (§ 257 BGB). Offengelassen ist die Frage, wie die Freistellung zu erfolgen hat. Hier sind denkbar die befreiende Schuldübernahme durch einen Dritten, der Austausch von weiteren Sicherheiten oder die Erbringung der Leistung an den Drittgläubiger. 84 Allerdings gilt bei Ehegatten insofern eine Einschränkung, als der Freistellungsanspruch nicht ohne Rücksicht auf die Belange des anderen Ehegatten durchgesetzt werden darf. Dem verbleibenden Schuldner muss die Möglichkeit eingeräumt werden, im Rahmen eines vernünftigen, seinen Möglichkeiten entsprechenden Tilgungsplans die Verbindlichkeiten zurückzuführen2. e) Nichtigkeit der Mitverpflichtung 85 Liegen eine krasse finanzielle Überforderung des Bürgen oder Mithaftenden und ein persönliches Nähe-Verhältnis objektiv vor, wie das bei Eheleuten gegeben ist, kommt die Nichtigkeit der Mitverpflichtung wegen Sittenwidrigkeit in Betracht. In solchen Fällen ist es grundsätzlich Sache des Kreditgebers, die tatsächliche Vermutung zu widerlegen, dass der Sicherungsgeber sich nicht von einer realistischen Einschätzung des wirtschaftlichen Risikos, sondern von seiner emotionalen Bindung an den Hauptschuldner hat leiten lassen und der Kreditgeber diese Situation in sittlich anstößiger Weise ausgenutzt hat3.
1 BGH v. 5.4.1989 – IVb ZR 35/88, FamRZ 1989, 835. 2 BGH v. 5.4.1989 – IVb ZR 35/88, FamRZ 1989, 838. 3 BGH v. 13.11.2001 – XI ZR 82/01, FamRZ 2002, 316.
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Rn. 90
Kap. 10
Es ist immer von der Sittenwidrigkeit der Mitverpflichtung auszugehen, wenn von vornherein fest steht, dass der Ehegatte aufgrund seiner Vermögenslosigkeit nie die Verbindlichkeiten wird bezahlen können. Es ist also neben dem Anspruch auf Freistellung zu prüfen, ob überhaupt eine wirksame Mitverpflichtung vorgelegen hat.
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Allerdings muss der Umfang der Kreditverpflichtung den üblichen Kon- 87 sumentenkredit erheblich übersteigen, und es darf kein Interesse der Bank an einer zusätzlichen Sicherung erkennbar sein. Ein solches Interesse kann ua. darin liegen, dass der an und für sich einkommenslose Ehepartner von dem Hauptschuldner Vermögenswerte übertragen erhält, um sie dem Gläubigerzugriff zu entziehen1. Durch das Scheitern der Ehe ist die Geschäftsgrundlage des Sicherungs- 88 vertrags entfallen. Der Wegfall der Geschäftsgrundlage führt nicht automatisch zum Wegfall der vollständigen Sicherungsverpflichtung, es muss vielmehr festgestellt werden, dass die volle Weiterverpflichtung für den verpflichteten Ehegatten „unzumutbar“ und der Vertrag entsprechend anzupassen ist. f) Haftungsbegrenzung Besteht eine gemeinschaftliche Haftung der Ehegatten für ein Oder-Kon- 89 to und besteht ein Überziehungskredit, so sollte gerade zum Zeitpunkt der Trennung jeder Ehegatte die Haftung auf den zum Zeitpunkt der Trennung bestehenden Saldo beschränken.
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Praxistipp: Unter Rückgabe der Kontounterlagen und Verzicht auf weitere Verfügungen aus dem Konto kann verhindert werden, dass der andere Ehegatte im Zusammenhang mit der Trennung das Konto erheblich überzieht und damit seinen Partner mitverpflichtet. Es ist dabei darauf zu achten, dass die Bank eine entsprechende schriftliche Bestätigung des Saldos an den Ehegatten aushändigt, der die Begrenzung wünscht. Die Erklärung selbst muss jeweils wiederholt werden, wenn durch Geldzuflüsse auf dem Konto der Soll-Saldo gesenkt wird. Dies kann durch Steuererstattungen, Leistungen von Versicherungen oder Gehaltszahlungen geschehen. Hier ist es wichtig, den richtigen Zeitpunkt abzupassen und auch momentane Geldzuflüsse geschickt auszunutzen. UU muss dann tag- oder stundengenau eine neue Haftungsbeschränkungserklärung abgegeben werden.
9. Steuererstattungen von Eheleuten aus gemeinsamer Veranlagung Haben Eheleute gegenüber dem Finanzamt einen Anspruch auf Steuererstattung, sind sie nach allgemeiner Auffassung nicht Gesamtgläubiger 1 BGH v. 5.1.1995 – XI ZR 85/94, FamRZ 1995, 469.
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nach § 428 BGB, sondern Teilgläubiger1. Der BFH hat bei gemeinsamer Steuerveranlagung gem. § 37 Abs. 1 AO die Aufteilung in der Weise vorgenommen, dass er auf das Verhältnis der Lohnsteuerbeträge abgestellt hat, die im Veranlagungszeitraum von den Arbeitslöhnen der Ehegatten einbehalten worden sind. Dieser Aufteilungsmaßstab ist ohne weiteres auch auf den familienrechtlichen Ausgleichsanspruch anzuwenden, da er die unterschiedlichen Steuerklassen ausreichend berücksichtigt und die bei jedem einzelnen Ehegatten entstandenen Steuerleistungsmerkmale ausreichend einbezieht. Geht man von der Überlegung aus, dass im Innenverhältnis der Ehegatten grundsätzlich jeder Ehegatte für seine persönliche Steuerzahlung verantwortlich ist, muss auch miteinbezogen werden, von wem und in welchem Umfang Steuervorauszahlungen geleistet worden sind. Erstattungen auf diese Vorauszahlungen stehen dann dem leistenden Ehegatten allein zu. 91 Ein Hinweis an das Finanzamt im Zeitpunkt der Leistung einer Steuervorauszahlung, auf wessen Rechnung die Zahlung bewirkt werden soll, verhindert bei zusammen veranlagten Ehepaaren eine hälftige Steuererstattung. In dem vom BFH entschiedenen Fall hatte allein die Ehefrau Steuervorauszahlungen vom eigenbetrieblichen Konto geleistet. Da sie im Zeitpunkt der Vorauszahlung keine Angaben über die Verwendung gemacht hatte, wurde der auf ihren Mann entfallende hälftige Erstattungsbetrag mit seinen vorehelichen steuerlichen Schulden verrechnet.
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Wichtig: Unterbleibt der Hinweis, für wessen Rechnung gezahlt wird, darf das Finanzamt annehmen, dass mit der Zahlung eines Ehepartners auch die Steuerschuld des anderen beglichen werden soll. Damit sind bei einer Steuerüberzahlung auch beide Ehegatten erstattungsberechtigt. Der Rückzahlungsbetrag ist dann zwischen ihnen hälftig aufzuteilen. Unerheblich ist dabei, von wem und mit welchen Mitteln die Vorauszahlungen getätigt worden sind. Fehlen dem Finanzamt Anhaltspunkte für die Tilgungsabsicht, kann es davon ausgehen, dass die Zahlung auf Rechnung beider Ehegatten als Gesamtschuldner bewirkt wird2.
92 Andererseits können auch Vorauszahlungen während der Zeit des Zusammenlebens auf Steuerschulden für die Zeit nach der Trennung verrechnet werden, ohne dass dem Leistenden ein Erstattungsanspruch zustehen soll. Der BGH hat in einem derartigen Fall allein darauf abgestellt, dass der Ehegatte es aufgrund langjähriger Übung auch im Leistungszeitraum übernommen hatte, die Vorauszahlungen allein zu erbringen und insoweit auf eine Erstattung verzichtet hatte. Wenn diese Vorauszahlungen steuerrechtlich dann für einen Zeitraum auf die Steuerschuld der 1 BFH v. 22.3.2011 – VII R 42/10, FamRZ 2011, 1145 (Tz. 23) = FamRB 2011, 378; Palandt/Grüneberg, § 428 BGB Rn. 2. 2 BFH v. 15.11.2005 – VII R 16/05, FamRZ 2006, 333.
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Rn. 96
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Ehegatten verrechnet würden, in dem sie schon getrennt gelebt haben und steuerlich getrennt veranlagt wurden, so sei dies eine rein steuerrechtliche Folge, die keinen Erstattungsanspruch des ursprünglich leistenden Ehegatten gegen den aus der Verrechnung begünstigten Ehegatten rechtfertigen könne1. Vorauszahlungen eines Ehegatten aufgrund eines an beide Ehepartner ge- 93 richteten Vorauszahlungsbescheids dienen letztlich der Tilgung der zu erwartenden Steuerschuld beider Ehegatten, ohne Rücksicht darauf, welche Veranlagungsart (getrennt oder zusammen) später gewählt wird. Die Vorauszahlung ist auf die gesamte Steuerschuld der Ehegatten anzurechnen. Ein überschießender Vorauszahlungsanteil ist beiden Ehegatten je zur Hälfte zu erstatten. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Zahlende bei Zahlung dem Finanzamt deutlich mitteilt, dass seine Vorauszahlung nur auf seine zukünftige Steuerschuld erfolgt. Nur so ist eine Zurechnung nach Kopfanteilen zu vermeiden2. In diesem Zusammenhang ist eine Entscheidung des Oberlandesgerichts 94 Karlsruhe3 interessant, die sich mit der Frage beschäftigte, ob sich eine Ehefrau bei Mitunterzeichnung einer unrichtigen gemeinsamen Steuererklärung strafbar gemacht hat. Die Richter sahen keine strafbare Beteiligung an der Steuerhinterziehung als gegeben an, selbst wenn der Ehegatte Kenntnis von den falschen Angaben des anderen Ehepartners hatte. Die gemeinsame Steuererklärung beseitige nicht den Grundsatz der Individualbesteuerung, jeder Ehegatte sei auch in der gemeinsamen Erklärung für die zutreffenden Angaben seiner eigenen Einkünfte verantwortlich. Erst wenn der andere Ehegatte aktiv an der falschen Steuererklärung mitwirkt, also zB selbst die Bücher falsch führt oder sich an der Fertigung von falschen Belegen oder ähnlichem beteiligt, ist eine strafbare Teilnahme an der Steuerhinterziehung des Ehepartners gegeben. Auch der Gesichtspunkt des Eigeninteresses, so das Oberlandesgericht 95 Karlsruhe, sei für sich genommen kein Grund, von einer strafbaren Beteiligungshandlung auszugehen. Jeder Ehepartner sei daran interessiert, so wenig Steuer wie möglich zu zahlen und jeder habe ein Eigeninteresse, den angenommenen Lebensstil aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grunde könne dies für sich allein kein Grund sein, bei strafrechtlicher Würdigung von konkreten Feststellungen zum Tatbeitrag der Ehefrau abzusehen. Hier darf also mit dem Argument des Eigeninteresses nichts vermutet oder unterstellt werden. Ist also der Ehegatte in die beruflichen oder geschäftlichen Aktivitäten des Partners nicht eingebunden, kann er selbst dann die Steuererklärung mitunterschreiben, wenn er, aus welchen Gründen auch immer, weiß, dass die Angaben des Ehepartners falsch sind. 1 BGH v. 20.3.2002 – XII ZR 176/00, FamRZ 2002, 739 = FamRB 2002, 225. 2 BFH v. 22.3.2011 – VII R 42/10, FamRZ 2011, 1145 = FamRB 2011, 378. 3 OLG Karlsruhe v. 16.10.2007 – 3 Ws 308/07, NStZ 2008, 413 mwN zur Rspr.
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Kap. 10 Rn. 97
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97 In der Zeit von Trennung und Scheidung wird häufig die Frage eruiert, ob man dem Ehepartner schaden könne, indem man ihn bei der Staatsanwaltschaft oder dem Finanzamt wegen falscher Steuererklärung anzeigt. Insoweit ist sicher häufig von der Anzeige abgeraten worden, weil man die Gefahr der Tatbeteiligung gesehen hat und dem mitunterzeichnenden Ehegatten häufig klar machen musste, dass er sich uU selbst durch Abgabe der Erklärung strafbar gemacht haben könnte.
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Praxistipp: Im Hinblick auf das Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe ist die Gefahr einschätzbar geworden, und es eröffnen sich Möglichkeiten, den Partner unter Druck zu setzen. Dabei wird sicherlich häufig die Grenze zur Nötigung überschritten. Der Berater des entsprechenden Ehepartners sollte sich sehr zurückhalten, daran mitzuwirken. Mag auch die Beteiligung an der falschen Steuererklärung im Einzelfall nicht strafbar gewesen sein, so kann doch konkret die Beteiligung des Beraters an einer (strafbaren) Nötigung des gegnerischen Ehepartners gegeben sein.
10. Pkw und Pkw-Kredite einschließlich Schadenfreiheitsrabatt 98 Der in der Familie geführte Pkw ist häufig Anlass zu Streitigkeiten. Fraglich ist zunächst, ob der Pkw ein Haushaltsgegenstand ist oder nicht. Die Rechtsprechung neigt in neuerer Zeit dazu, den Pkw jedenfalls dann als Hausrat einzustufen, wenn der Familie nur ein Fahrzeug zur Verfügung steht, welches vom berufstätigen Ehegatten für Fahrten von und zum Arbeitsplatz genutzt wird und ansonsten familiär genutzt wird1. Dabei sollen die Fahrten zum Arbeitsplatz der Hausratszuordnung deswegen nicht entgegenstehen, weil auch die Fahrten zum Arbeitsplatz letztlich dem Unterhalt der Familie dienen und damit dem privaten Bereich zuzuordnen sind. 99 Diese Zuordnung zum Hausrat ist auch im Rahmen der Neuregelung von § 1568b BGB aufrechtzuerhalten, da der Gesetzgeber mit der Neuregelung Anspruchsgrundlagen für die Ehegatten schaffen wollte, ohne die bisherige Rechtspraxis außer Acht zu lassen2. Entfallen ist die (nach § 10 HausratsVO aF früher bestehende) Möglichkeit, eine Schuldenregelung im Zusammenhang mit der Zuweisung des Fahrzeugs an einen Ehegatten vorzunehmen. Die Neufassung von § 1568b BGB sieht diese Möglichkeit mangels praktischer Bedeutung nicht mehr vor3. Die Eigentumsvermutung für den Familien-Pkw ist auch aus § 1568b Abs. 2 BGB herzuleiten, so dass gemeinschaftliches Eigentum solange gilt, bis ein Ehegatte Al1 OLG Düsseldorf v. 23.10.2006 – II-2 UF 97/06, FamRZ 2007, 1325 = FamRB 2007, 97; OLG Naumburg v. 4.9.2003 – 8 UF 211/02, FamRZ 2004, 889 (890) = FamRB 2004, 281; Brudermüller, FamRZ 2006, 1160. 2 BT-Drucks. 16/10798, S. 33. 3 BT-Drucks. 16/10798, S. 37.
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Nebengüterrecht
Rn. 102
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leineigentum beweist1. Ordnet man das Fahrzeug nicht dem Hausrat zu, bleibt nur der Anspruch aus dem Eigentum gem. § 985 BGB. Hier besteht natürlich immer die Nachweisschwierigkeit, denn die Zulassung ist bekanntermaßen nur ein Indiz für das Eigentum, aber kein Nachweis. Auch die Frage, über wen das Fahrzeug versichert ist, hilft hier nicht weiter, da die Versicherung eines Fahrzeugs aus finanziellen Gründen dem Ehegatten zugeordnet wird, der den günstigsten Versicherungstarif erhalten kann. Häufig hilft nur die Eigentumsvermutung nach § 1006 BGB, die aber nicht immer zum richtigen wirtschaftlichen Ergebnis führt. Ein weiteres Problem besteht in diesem Zusammenhang hinsichtlich des 100 Schadenfreiheitsrabatts. Hat der eine Ehegatte regelmäßig ein Fahrzeug geführt, das über den anderen Ehegatten versichert war, will er bei Trennung verständlicherweise den Schadenfreiheitsrabatt auf sich überleiten. Ein solcher Anspruch kann dann unproblematisch durchgesetzt werden, wenn die Parteien eine entsprechende Vereinbarung getroffen haben2. Das Landesgericht Münster hat sogar eine Vereinbarung zwischen Ehegatten bestätigt, mit der der Schadenfreiheitsrabatt auf den gemeinsamen Sohn übertragen werden sollte. Fehlt es an einer Vereinbarung der Parteien, wird der Anspruch auch aus § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB abgeleitet. Danach ist jeder verpflichtet, auf die wirtschaftlichen Interessen des jeweils anderen Rücksicht zu nehmen, was eben auch die Übertragung des Schadenfreiheitsrabatts beinhaltet3. In der Übernahme der Versicherung kann aber auch ein Auftrag gesehen werden, so dass der Anspruch auf Rückübertragung des Schadenfreiheitsrabatts sich aus § 667 BGB herleiten lässt4.
V. Neuregelung der Immobiliennutzung 1. Immobilien im Eigentum der Eheleute Scheitert die Ehe, ist uU auch die Neuregelung der Benutzung von Im- 101 mobilien, die im Alleineigentum eines Ehegatten oder in gemeinsamem Eigentum der Ehegatten stehen, erforderlich. Häufig wird die Trennung zum Anlass genommen, faktische Verhältnisse zu schaffen, die darin bestehen, dass einer der Ehepartner die Ehewohnung verlässt und sich anderweitig eine Wohnmöglichkeit sucht. Hierbei ist zu unterscheiden, welcher Ehegatte auszieht und wer Eigentümer des jeweiligen Hauses oder der Wohnung ist. Ehegatten, die eine Immobilie im gemeinschaftlichen Eigentum haben, bilden eine Bruchteilsgemeinschaft gem. §§ 741 ff. BGB. Indem sie beschließen, gemeinsam in dem Haus zu wohnen, treffen sie eine Entschei1 2 3 4
Palandt/Brudermüller, § 1568b BGB Rn. 6. LG Münster v. 1.2.2005 – 3 S 121/04, FamRZ 2005, 1906. Palandt/Brudermüller, § 1353 BGB Rn. 11. LG Hechingen v. 24.10.2002 – 3 S 61/02, FamRZ 2003, 760 m. Anm. Wever.
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Kap. 10 Rn. 103
Nebengüterrecht
dung zur ordnungsmäßigen Verwaltung und Benutzung des gemeinschaftlichen Eigentums. 103
Zieht einer der Ehegatten aus, kann er eine neue Entscheidung zur Verwaltung und Benutzung gem. § 745 BGB verlangen. Eine solche Neuregelung muss er ausdrücklich verlangen1. Das Begehren sollte in jedem Falle schriftlich erfolgen. Eine solche schriftliche Klärung der wechselseitigen Positionen ist auch im Hinblick auf § 1361b Abs. 4 BGB angeraten, um uU die Sechsmonatsfrist und die von ihr ausgehende Vermutung widerlegen zu können, dem verbliebenen Ehegatten bleibe die Wohnung zur alleinigen Nutzung überlassen.
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Das ernstliche Verlangen einer Neuregelung kann auch darin bestehen, dass der weichende Ehegatte sofort und ausdrücklich eine Nutzungsentschädigung von dem Ehegatten verlangt, dem die eheliche Wohnung verblieben ist2. Die Neugestaltung durch Erhebung einer Zahlungsklage auf Nutzungsentschädigung ist selbstverständlich Familiensache nach § 200 FamFG3.
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Die Höhe der Nutzungsentschädigung ist unterschiedlich zu bewerten, je nachdem, ob die Eheleute noch im ersten Trennungsjahr leben, oder ob das Trennungsjahr schon abgelaufen ist. Ist das Trennungsjahr noch nicht abgelaufen, kann nicht die volle Nutzungsentschädigung verlangt werden, sondern nur eine anteilige Miete, die im Verhältnis zum Wohnraum steht, den der zurückbleibende Ehegatte tatsächlich nutzen würde, wenn er nicht in der Ehewohnung leben könnte. Der BGH hält eine ortsübliche Miete im Trennungsjahr für unangemessen, weil das endgültige Scheitern der Ehe noch nicht feststeht4.
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Der Ehegatte, der uU mit Kindern in der früheren Ehewohnung zurückgeblieben ist, würde nur eine kleinere Wohnung nutzen, wenn er und die Kinder sich einen eigenen Wohnraum suchen könnten. Die für diesen Wohnraum anfallende Miete ist als angemessene Nutzungsentschädigung zu berücksichtigen, der darüber hinausgehende Wohnvorteil ist als „totes Kapital“ auch unterhaltsrechtlich beim Wohnwert nicht zu berücksichtigen5.
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Ist hingegen das Trennungsjahr abgelaufen, schuldet der in der Ehewohnung verbliebene Ehegatte eine Nutzungsentschädigung entsprechend der ortsüblichen Miete für die von ihm tatsächlich genutzte Wohnung6. Ist der Ehegatte im Haus verblieben, der auch schon während der Ehezeit 1 2 3 4 5
BGH v. 4.2.1982 – IX ZR 88/80, FamRZ 1982, 355. BGH v. 4.2.1982 – IX ZR 88/80, FamRZ 1982, 355. Baumbach/Hartmann, § 200 FamFG Rn. 2. BGH v. 22.4.1998 – XII ZR 161/96, FamRZ 1998, 899. BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170. 6 BGH v. 13.4.1994 – XII ZR 3/93, FamRZ 1994, 822 (823); BGH v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06, FamRZ 2008, 963 = FamRB 2008, 168 und FamRB 2008, 170.
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Rn. 109
Kap. 10
die Verbindlichkeiten für die Eheimmobilie gezahlt hat, und zahlt er diese Verbindlichkeiten auch nach der Trennung weiter, schuldet er dann keine Nutzungsentschädigung an den anderen Ehegatten, wenn klar ist, dass auf den Gesamtschuldnerinnenausgleich gem. § 426 BGB verzichtet wird. Ist eine solche Erklärung einmal abgegeben, kann auch nicht später entweder der Schuldnerinnenausgleich oder die Nutzungsentschädigung geltend gemacht werden. Die Parteien müssen sich dann an der einmal getroffenen Regelung festhalten lassen1. 2. Gemietete Immobilien a) In der Zeit der Trennung Hat nur einer der Ehepartner die Ehewohnung oder das Haus gemietet, 108 glaubt er sich in seiner Entscheidung über den Fortbestand des Mietverhältnisses zunächst einmal frei. Kündigt der alleinige Mieter das Mietverhältnis, obwohl der andere Ehegatte wohnen bleiben möchte, gibt es dafür keine direkt aus dem Gesetz abzuleitende Lösung. Der Alleinmieter ist daran interessiert, sich aus der vertraglichen Verpflichtung zur Mietzinszahlung und der Haftung wegen aller Ansprüche bei Beendigung des Mietverhältnisses möglichst kurzfristig zu befreien. § 1361b Abs. 3 S. 1 BGB bietet nunmehr die Grundlage für eine gerichtliche Weisung an den Alleinmieter, sich jeglicher Maßnahme zu enthalten, die die Ausübung des Nutzungsrechts für den verbleibenden Ehegatten erschwert oder vereitelt. Das Familiengericht hat über § 200 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 49 ff. FamFG im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes oder eines Hauptsacheverfahrens alle die Anordnungen zu treffen, die dem bleibewilligen Ehegatten dies ermöglichen. Das Gericht kann zB dem Alleinmieter die Kündigung des Mietverhältnisses verbieten. Ein rechtsgestaltender Eingriff in das bestehende Mietverhältnis ist nach Wegfall der Regelungen der HausratsVO nicht mehr möglich. Sofern es der Billigkeit entspricht, kann dem in der Wohnung lebenden Ehegatten die Zahlung eines Nutzungsentgelts an den Alleinmieter auferlegt werden. Haben die Parteien das Mietverhältnis gemeinsam begründet, können sie 109 es auch nur gemeinsam beenden. Keiner der Eheleute ist berechtigt, das Mietverhältnis allein zu kündigen. Eine Einzelkündigung ist unwirksam. Der bloße Auszug eines mitverpflichteten Ehegatten beendet weder seine mietvertragliche Schuld noch seine Haftung für sonstige Ansprüche aus dem Mietverhältnis2. Allerdings kann in der Überlassung der Wohnung an den Ehegatten bei Auszug des mitmietenden Ehegatten auch eine anderweitige Bestimmung im Sinne von § 426 Abs. 1 S. 1 BGB gesehen werden. In diesem Fall müsste der in der Wohnung verbleibende Ehegatte im Innenverhältnis die Miete allein tragen. Es wird auch die Auffassung vertreten, dass für eine solche Einschätzung keine ausdrückliche Freistel1 BGH v. 13.1.1993 – XII ZR 212/90, FamRZ 1993, 676. 2 Palandt/Weidenkaff, § 535 BGB Rn. 7.
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Kap. 10 Rn. 110
Nebengüterrecht
lungsvereinbarung erforderlich ist, sondern sich aus den Umständen zweifelsfrei eine dahingehende konkludente Abrede ergibt. Dieses Ergebnis ist ohne weiteres zu akzeptieren, wenn die Parteien sich über die Frage einig waren, wer auszieht und wer in der Wohnung verbleibt. Die Rechtsprechung geht aber noch einen Schritt weiter und verpflichtet den gegen seinen Willen in der Wohnung zurückgebliebenen Ehegatten, sich innerhalb einer relativ kurzen Zeit entscheiden zu müssen, ob er auch ausziehen und das Mietverhältnis kündigen will oder ob er in der Wohnung bleiben möchte. Das Oberlandesgericht München hat eine Überlegungsfrist von zweieinhalb Monaten für ausreichend erachtet1. Bleibt der Ehegatte trotz zunächst anderer Überlegung doch über die Kündigungsfrist hinaus in der Wohnung, hat er für die Zahlungsverpflichtungen allein einzustehen. Der ausgezogene Mitmieter haftet dann nur noch hälftig für den Zeitraum bis zum Ablauf der Kündigungsfrist2. 110
Der in der Wohnung lebende Ehegatte, der im Innenverhältnis die Ansprüche aus dem Mietvertrag allein befriedigen muss, soll den anderen Ehegatten von allen Ansprüchen des Vermieters freistellen müssen. Diesen Freistellungsanspruch leitet das Oberlandesgericht Naumburg3 aus § 1361b Abs. 3 BGB her. Die Freistellung des mitmietenden Ehegatten von Mietzinsansprüchen des Vermieters sei rechtlich ein Minus gegenüber der Verpflichtung zur Zahlung einer Nutzungsentschädigung und deshalb unproblematisch aus der genannten Vorschrift abzuleiten. Zu beachten ist allerdings in diesem Zusammenhang, dass durch diese Freistellung keine Regelung gegenüber dem Vermieter getroffen wird. In diesem Fall wird von der Rechtsprechung die Frage geprüft, ob der ausgezogene Ehegatte einen Anspruch auf Mitwirkung zur Kündigung durch den verbleibenden Ehegatten hat. Das wird wohl nur für den Fall bejaht, dass der verbleibende Ehegatte wirtschaftlich zu einer tatsächlichen Freistellung nicht in der Lage ist. b) Aus Anlass der Scheidung
111
Anlässlich der Scheidung bietet § 1568a BGB die Rechtsgrundlage für eine Reihe von Regelungen des Familiengerichts, die der betroffene Ehegatte durch entsprechende Anträge initiieren muss. Für Anträge dieser Art müssen die Ehegatten die Zeitschranke des § 1568a Abs. 6 BGB beachten und ihre Anträge binnen Jahresfrist nach Rechtskraft der Endentscheidung in der Ehesache rechtshängig machen. Nutzen die Eheleute zB eine ihnen nicht gehörende Wohnung der Schwiegereltern, ohne dass ein Mietvertrag besteht, so kann das Gericht über § 1568a Abs. 5 BGB ein Mietverhältnis auch für den verbleibenden Ehegatten und für die Woh1 OLG München v. 14.7.1995 – 21 U 5880/94, FamRZ 1996, 291. 2 OLG Dresden v. 17.5.2002 – 20 W 631/02, FamRZ 2003, 158 = FamRB 2002, 370. 3 OLG Naumburg v. 14.11.2002 – 8 WF 211/02, FamRZ 2003, 1748 = FamRB 2003, 141.
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Rn. 114
Kap. 10
nungseigentümer verbindlich begründen. Dieses Mietverhältnis kann befristet sein, und die Miethöhe orientiert sich mangels Einigung an der ortsüblichen Vergleichsmiete. Eine Verpflichtung des weichenden Ehegatten besteht nicht mehr, auch eine „Nachhaftung“ ist nicht gegeben. Kommt der Mieter des durch das Gericht begründeten Mietvertrags in Zahlungsverzug, hat der Vermieter die Möglichkeit, das Mietverhältnis nach §§ 543, 569 BGB zu kündigen1. Haben die Parteien den ursprünglichen Mietvertrag gemeinsam abge- 112 schlossen oder war einer von ihnen alleiniger Mieter, bietet § 1568a Abs. 3 Nr. 1 BGB eine Lösung. Können sich die Parteien einigen, wer nach Rechtskraft der Scheidung die Wohnung allein übernehmen soll, reicht eine formlose Mitteilung an den Vermieter aus. Das Mietverhältnis geht allein auf den verbleibenden Ehegatten zu dem Zeitpunkt über, zu dem dem Vermieter diese Mitteilung zugeht. Die Mitteilung muss von beiden Ehegatten gemeinsam abgegeben werden, das Gesetz spricht in § 1568a Abs. 3 Nr. 1 BGB von der „Mitteilung der Ehegatten.“ Diese gemeinsame Mitteilung wird gem. § 130 Abs. 1 BGB mit dem Zugang beim Vermieter wirksam2. Nach § 1568a Abs. 3 S. 2 BGB steht dem Vermieter allerdings in diesem 113 Fall das besondere Kündigungsrecht gem. § 563 Abs. 4 BGB zu, da die Interessenlage dem Eintritt eines Ehegatten bei Tod des Mieters vergleichbar sei3. Dafür ist aber auch Voraussetzung, dass in der Person des verbleibenden Ehegatten ein „wichtiger Grund“ entsprechend § 553 Abs. 1 S. 2 BGB vorliegt4. Über das Vorliegen eines „wichtigen Grundes“ und damit über die Wirksamkeit der Überlassungserklärung und ihre Rechtsfolgen muss dann im Hinblick auf § 23 Abs. 1 Nr. 2a GVG vor dem Zivilgericht gestritten werden. Denkbar ist auch hier, eine Zuständigkeit des Familiengerichts gem. § 26 Abs. 1 Nr. 2 FamFG anzunehmen, wenn man den Streit als „aus der Ehe herrührend“ ansieht. Das wird die Zukunft zeigen. Ob durch den Übergang auf einen Ehegatten auch die Ansprüche des Ver- 114 mieters für die Vergangenheit gesichert sind, muss bezweifelt werden. Nach dem Gesetzeswortlaut setzt der verbleibende Ehegatte das Mietverhältnis „allein fort.“ Eine dem § 5 Abs. 1 S. 2 der früheren HausratsVO entsprechende Regelung für Sicherungsmaßnahmen fehlt. Es gibt für den ausscheidenden Ehegatten keine Nachhaftung, und die Nebenkostenabrechnung des letzten gemeinsamen Jahres in der Ehewohnung trägt der verbleibende Ehegatte allein.
1 2 3 4
BT-Drucks. 16/10798, S. 34. BT-Drucks. 16/10798, S. 34. BT-Drucks. 16/10798, S. 34. Palandt/Weidenkaff, § 563 BGB Rn. 23.
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Kap. 10 Rn. 115
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Hier hilft dem verbleibenden Ehegatten vielleicht der Ausgleichsanspruch nach § 426 BGB, wenn man gemeinsam gemietet hatte; war der weichende Ehegatte alleiniger Mieter, ist auch dieser Weg verschlossen.
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Zu Recht ist der fehlende Schutz des Vermieters durch geeignete Sicherungsmaßnahmen im Vorfeld kritisiert worden1, allerdings ohne erkennbare Reaktion des Gesetzgebers.
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Praxistipp: Das Gesetz spricht in § 1568a BGB zwar von Wohnungsüberlassung „anlässlich“ der Scheidung. Die Parteien haben hier aber Gestaltungsmöglichkeiten, gemeinsam das Mietverhältnis den Gegebenheiten und ihren Vorstellungen – uU auch gegen den Willen des Vermieters – anzupassen. Schließlich können die Ehegatten das Trennungsjahr gem. § 1567 Abs. 1 S. 2 BGB auch in der gemeinsamen Wohnung verbringen. Kann ein Ehegatte absehen, dass er die gemietete Ehewohnung verlassen wird, sollte er möglichst frühzeitig auf eine gemeinsame Mitteilung an den Vermieter dringen. Diese Mitteilung sollte per Einschreiben/Rückschein erfolgen, um einen urkundlichen Zugangsnachweis zu erhalten. Der verbleibende Ehegatte muss sich dabei Gedanken machen, wie hoch das Kündigungsrisiko für ihn nach § 563 Abs. 4 BGB ist. Die Frist zur Erklärung der Kündigung beträgt für den Vermieter nur einen Monat nach Zugang der Überlassungserklärung. Die Kündigung wird dann mit der gesetzlichen Kündigungsfrist, die sich wiederum nach der Dauer des Mietverhältnisses richtet, wirksam. Darüber hinaus muss der verbleibende Ehegatte unbedingt auf eine Regelung hinsichtlich der Altverbindlichkeiten aus dem Mietverhältnis achten.
VI. Ehegatteninnengesellschaft 117
Seit der Entscheidung des BGH v. 20.12.19522 steht fest, dass der vermögensrechtliche Ausgleich zwischen Ehegatten auch über das Konstrukt einer Ehegatteninnengesellschaft erfolgen kann. Mit einer Entscheidung von 19823 hat der BGH einen zweiten möglichen Weg der Vermögensauseinandersetzung in Form eines familienrechtlichen Vertrags sui generis geschaffen.
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Neben der ehebedingten Zuwendung sind damit alle drei Wege aufgezeigt, wie ein Vermögensausgleich zwischen den Ehegatten erfolgen kann, wenn die güterrechtlichen Vorschriften zu keiner angemessenen vermögensrechtlichen Ausgleichsform führen.
1 Götz/Brudermüller, NJW 2008, 3025. 2 BGH v. 20.12.1952 – II ZR 44/52, BGHZ 8, 249. 3 BGH v. 8.7.1982 – IX ZR 99/80, FamRZ 1982, 910.
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Û
Rn. 121
Kap. 10
Wichtig: Alle drei Wege beinhalten für den Berater nicht unerhebliche Risiken. Teilweise sind die einzelnen Erscheinungsformen der Ausgleichsansprüche nicht endgültig und sauber voneinander zu trennen, teilweise lässt sich erst in der Rückschau erkennen, welche rechtliche Form zur Anwendung gelangt. Gerade bei der Beratung von Ehegatten, die am Anfang ihrer Ehe stehen, und bei der Vereinbarung von Gütertrennung oder einer stark modifizierten Zugewinngemeinschaft besteht erheblicher Klärungsbedarf. Die Rechtsform der Gütertrennung läuft im Hinblick auf eine mögliche Ehegatteninnengesellschaft völlig leer und führt uU zu einem Ergebnis, das die Beteiligten weder gewollt noch in ihrer wirtschaftlichen Auswirkung auch nur annähernd erkannt haben. Wer hier als Berater nicht auf die möglichen Konsequenzen ausdrücklich und nachweislich hinweist, geht ein hohes Beratungsrisiko ein. Gerade Ehegatten, die Gütertrennung vereinbaren oder eine modifizierte Zugewinngemeinschaft mit Ausschluss des Zugewinns unter Lebenden, wollen ja ein bestimmtes vermögensrechtliches Ergebnis für ihre Ehe anstreben. Wenn sie über die Grundsätze der Ehegatteninnengesellschaft nicht informiert sind, können sie ihr zukünftiges Verhalten darauf nicht einstellen und gezielt daran mitwirken, das Entstehen einer solchen Gesellschaft zu verhindern. Auffallend ist, dass sich der BGH in seinen Entscheidungen immer nur in der Rückschau mit der Ehegatteninnengesellschaft befasst und dabei zu der Frage schweigt, wann genau eine Ehegatteninnengesellschaft entsteht (S. dazu näher Rn. 121 ff.).
Die obergerichtliche Rechtsprechung hat in den Jahren zwischen 1950 119 und 1970 häufig auf die Konstruktion der Ehegatteninnengesellschaft zurückgegriffen1. In den 80er- und 90er-Jahren, mit Aufkommen des familienrechtlichen 120 Vertrags eigener Art, trat der gesellschaftsrechtliche Ausgleichsanspruch zunehmend in den Hintergrund, um dann mit einer Entscheidung des BGH aus neuerer Zeit2 wieder stark aufzuleben. 1. Abgrenzung Ehebedingte Zuwendung, familienrechtlicher Vertrag eigener Art und Ehe- 121 gatteninnengesellschaft sind teilweise rechtlich nur sehr schwierig voneinander abzugrenzen und unterscheiden sich häufig nur im Umfang der in Rede stehenden Ansprüche. Ehegatteninnengesellschaft und familienrechtlicher Vertrag eigener Art ist gemeinsam, dass es sich um stillschweigend abgeschlossene Verträge handelt. Dabei kann sicherlich lange darüber diskutiert werden, in welchem Umfang Ehegatten miteinander „Verträge“ schließen oder sich darüber im Klaren sind, welche Art von Willens1 Haas, FamRZ 2002, 205 ff. 2 BGH v. 30.6.1999 – XII ZR 230/96, FamRZ 1999, 1580.
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Kap. 10 Rn. 122
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erklärungen in der Ehe vollzogene Handlungen und Absichtserklärungen darstellen können. Wichtig ist nach der Rechtsprechung des BGH, dass die Eheleute überhaupt ein Erklärungsbewusstsein haben1. Zur rechtstheoretischen Einschätzung von Willenserklärungen zwischen Eheleuten sind lesenswert die Ausführungen von Haas2. 122
Haben die Parteien keine ausdrückliche Regelung für die vermögensrechtliche Auseinandersetzung getroffen und liegt keine ehebedingte Zuwendung vor, ist zu prüfen, ob eine Ehegatteninnengesellschaft vorliegt.
123
Gehen die Arbeitsleistungen oder der Einsatz von Vermögen nicht über das Maß hinaus, das für die Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft erforderlich ist, soll also zB nur das Haus errichtet werden, das der Familie zukünftig als Familienheim dient, scheidet eine konkludent zustande gekommene Ehegatteninnengesellschaft von vornherein aus.
124
Auch die bloße Besorgung von Geldmitteln durch Bankkredit oder die Stellung von dinglichen Sicherheiten für einen Geschäftsbetrieb des anderen Ehegatten reichen für die Annahme einer solchen Gesellschaftsform nicht aus3. Darüber hinaus scheitert die Entstehung einer Ehegatteninnengesellschaft auch, wenn es sich bei der Arbeitsleistung nur um eine untergeordnete, letztlich über das normale Maß nicht hinausgehende Tätigkeit handelt und die Tätigkeit nicht zu einer Beteiligung an Gewinn und Verlust führt4. Dem BGH ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass von einer gleichberechtigten oder gleichgeordneten Zusammenarbeit oder Mitarbeit der Ehegatten auszugehen ist. Dabei müssen die Aufgabenstellungen nicht gleichwertig sein, sie können durchaus verschiedene Bereiche einer gemeinsamen Unternehmung abdecken. So zB, wenn ein Ehegatte ein Betriebsgebäude oder ein Grundstück zur Verfügung stellt und der andere aufgrund seiner Vorkenntnisse die kaufmännische oder technische Leitung übernimmt5. Wichtig ist, dass die Eheleute beiderseits Leistungen erbringen, die über den typischen Rahmen der ehelichen Lebensgemeinschaft und den damit verbundenen Zweck hinausgehen, dass also der Einsatz von Vermögen oder der Einsatz von Arbeit zum Erwerb von Vermögen führt, welches weit über den eigentlichen Ehezweck hinausgeht. § 1356 BGB verpflichtet nicht zur Mitarbeit im Betrieb des Ehepartners, sondern gibt beiden Ehegatten das Recht, erwerbstätig zu sein. Die Ehegatten haben also die Möglichkeit, den Umfang der wechselseitigen Arbeitsleistungen selbst zu definieren und festzulegen. Ein „übliches Maß“ gibt es nicht mehr, es ist von Ehe zu Ehe verschieden, was die Partner an Mitarbeit leisten wollen und können.
1 2 3 4 5
BGH v. 22.6.1956 – I ZR 198/54, BGHZ 21, 102, 106. Haas, FamRZ 2002, 205 ff. BGH v. 8.4.1987 – IVb ZR 43/86, FamRZ 1987, 907. Wever, Vermögensauseinandersetzung, S. 298. Wever, Vermögensauseinandersetzung, S. 298.
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Rn. 127
Kap. 10
In diesem Zusammenhang ist es ohne Bedeutung, dass die dinglichen Be- 125 züge von der gemeinschaftlichen Überlegung abweichen. Wenn einem der Ehegatten die Immobilien allein übertragen werden, kann dies durchaus haftungsrechtliche Gründe haben. Die Tatsache, dass nur einer der Ehegatten dinglich berechtigt ist, steht der Annahme einer Ehegatteninnengesellschaft keinesfalls entgegen. Die Ehegatteninnengesellschaft liegt immer dann nahe, wenn der Gesellschaftszweck deutlich über die Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft hinausgeht und so gesehen ein die „Ehe überschreitender Zweck“ verfolgt wird1. Investieren die Eheleute über Jahre hinweg in Immobilien, die ausschließlich aus Haftungsgründen im Alleineigentum der Ehefrau stehen, und hat der Ehemann sich mit der Verwaltung dieser Immobilien und ihrer Erträge befasst, so steht dem Ehemann bei Scheidung der Ehe aus dem Gesichtspunkt der Ehegatteninnengesellschaft ein Ausgleichsanspruch zu, da hier die Vermögensbildung als solche im Vordergrund steht2. In dem vom BGH entschiedenen Fall heirateten die Parteien beiderseits 126 ohne Anfangsvermögen. Die Ehefrau war nicht berufstätig, der Ehemann wurde während der Ehe arbeitsunfähig krank und bezog Renten- und Versorgungsleistungen. Während der Ehe wurden eine Reihe bebauter und unbebauter Grundstücke erworben, die alle im Alleineigentum der Ehefrau standen. Die Immobilien hatten zum Stichtag einen Gesamtwert von rund 1 800 000 DM. Der Ehemann zahlte in dieser Zeit rund 200 000 DM auf das Konto der Ehefrau bzw. für Handwerkerleistungen in den Häusern der Ehefrau. Während des Scheidungsverfahrens erhob der Ehemann gegen die Ehefrau Klage und machte Ausgleichsansprüche aus dem während der Ehe erworbenen Vermögen geltend. Er begründete dies damit, dass der Grunderwerb ausschließlich durch seine finanziellen Beiträge ermöglicht worden sei und lediglich zum Schutz vor seinen Gläubigern die Grundstücke ins Alleineigentum der Ehefrau übertragen worden seien. Während die Vorinstanzen die Ansprüche des Ehemannes nur unter dem Gesichtspunkt der ehebedingten Zuwendung geprüft haben, sah der BGH einen Anspruch nach den Regeln des Gesellschaftsrechts. Zur Abgrenzung einer ehebedingten Zuwendung einerseits und einer 127 Ehegatteninnengesellschaft andererseits kann auch die Frage herangezogen werden, ob sich die Ehegatten in den Dienst eines einzelnen Projekts gestellt oder über Jahre hinweg ein gemeinsames Ziel verfolgt und durch ihre jeweiligen Beiträge unterstützt haben. Der BGH stellt in diesem Zusammenhang besonders heraus, dass bei einer langjährigen Zusammenarbeit der Eheleute über Jahre hinweg mit unterschiedlichen Mitteln und Leistungen zum Erwerb eines Vermögens beigetragen wird und der Ehegatte, der zu diesem Vermögenserwerb beiträgt, bei der Prüfung der ehebedingten Zuwendung in Beweisschwierigkeiten kommt. Geht man hingegen von einer Ehegatteninnengesellschaft aus, kommt es auf den 1 BGH v. 30.6.1999 – XII ZR 230/96, FamRZ 1999, 1583. 2 BGH v. 30.6.1999 – XII ZR 230/96, FamRZ 1999, 1583.
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Kap. 10 Rn. 128
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einzelnen Beitrag und die einzelne Arbeitsleistung nicht mehr an, sondern im Rahmen der Auseinandersetzung der Gesellschaft ist das Gesamtergebnis zu betrachten. Hierin liegt für den beweispflichtigen Ehegatten eine deutliche Beweiserleichterung, da er nicht mehr jede einzelne Arbeitsleistung darlegen muss. 128
Eine Ehegatteninnengesellschaft kann auch schon dadurch entstehen, dass die Parteien vor der Heirat gemeinsame wirtschaftliche Aktivitäten entwickeln und ihre nachfolgende Ehe im Güterstand der Zugewinngemeinschaft führen1. Dabei war die Ehefrau nach außen hin allein unternehmerisch tätig und der Ehemann wegen erheblicher Schulden als Angestellter eingestuft. In einer Scheidungsfolgenvereinbarung führten die Eheleute Gütertrennung ein und verzichteten auf bisher entstandenen Zugewinn. Gleichwohl ging der BGH von einem Ausgleichsanspruch aus und stützte dies auf eine konkludent entstandene Innengesellschaft. Die Parteien hätten gemeinsam eine wirtschaftliche Unternehmung aufgebaut und die Ehefrau in Alleinunternehmerschaft belassen, um den verschuldeten Ehemann vor dem Zugriff der Gläubiger zu schützen. Der Ausgleichsanspruch aus der Innengesellschaft stehe gleichrangig neben dem Zugewinnausgleichanspruch und nur auf diesen habe der Ehemann in der Trennungsvereinbarung verzichtet. Dies rechtfertige sich auch daraus, dass die Innengesellschaft einen längeren Zeitraum umfasse als die Ehe. 2. Auseinandersetzungsansprüche
129
Die Auseinandersetzung der Ehegatteninnengesellschaft hat zunächst den getroffenen Vereinbarungen zu folgen. Fehlt es – wie häufig – an ausdrücklichen oder stillschweigenden Vereinbarungen der Ehegatten, ist auf die analoge Anwendung der §§ 730 ff. BGB zurückzugreifen. Dabei ist aber zu beachten, dass gedanklich von einer Vollbeendigung der Mitgliedschaft des Ehegatten auszugehen ist. Unter Berücksichtigung von § 738 BGB findet keine Auseinandersetzung statt, das geschaffene Vermögen verbleibt dem „verbleibenden Gesellschafter“ und der ausscheidende Ehegatte erhält ein Auseinandersetzungsguthaben. Die Höhe des Auseinandersetzungsguthabens ist im Zweifel nach § 722 BGB zu bestimmen. Danach ist, sofern die Gesellschafter nichts anderes vereinbart haben, jeder Gesellschafter mit einem gleichen Anteil an Gewinn und Verlust beteiligt. Zur Ermittlung des Ausgleichsanspruchs, der ein schuldrechtlicher Anspruch auf Zahlung des Auseinandersetzungsguthabens ist2, ist die Durchführung einer Bestandsaufnahme und eine Vermögensbewertung erforderlich. Einheitlicher Stichtag sowohl für die Bestandsaufnahme als auch die Vermögensbewertung ist dabei der Zeitpunkt der Auflösung der 1 BGH v. 28.9.2005 – XII ZR 189/02, FamRZ 2006, 607 = FamRB 2006, 165; vgl. dazu auch Vollmer, FamRZ 2006, 844, der Vorschläge zur Vertragsgestaltung in Scheidungsvereinbarungen und Eheverträgen macht. 2 BGH v. 20.12.1952 – II ZR 44/52, BGHZ 8, 249, 252.
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Rn. 131
Kap. 10
Gesellschaft. Im Gegensatz zu der im Schrifttum vertretenen Auffassung hat der BGH entschieden1, dass es auf den Zeitpunkt der Trennung ankommt. Nicht der Scheidungsantrag sei maßgeblich, sondern vielmehr das Ende der gemeinschaftlichen Arbeit. Dabei reicht jede tatsächliche Handlung, die erkennen lässt, dass einer der Eheleute nicht mehr an der gemeinsamen Zweckverfolgung festhalten will. Einer ausdrücklichen „Kündigungserklärung“ bedarf es nicht2. Mit der Einstellung der gemeinsamen Arbeit stehen sich die Ehegatten als Gläubiger und Schuldner gegenüber. Der ausgleichsberechtigte Ehegatte hat einen Ausgleichsanspruch, der in der vorstehend beschriebenen Weise zu ermitteln ist. Er kann keine Verwertung der im Eigentum des anderen Ehegatten stehenden Vermögensgegenstände verlangen3. Anders als beim Zugewinnausgleich ist hier also nicht auf den Stichtag des § 1384 BGB zurückzugreifen. Verlangt ein Gesellschafter mehr als den hälftigen Anteil entsprechend § 722 Abs. 1 BGB, so hat er diese Abweichung nach allgemeinen Grundsätzen des Beweisrechts darzulegen und zu beweisen.
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In den zitierten BGH-Entscheidungen war natürlich immer eine retro- 131 spektive Betrachtung der Ehesituation gegeben. Für den Berater stellt sich das Problem, dass er im Vorhinein dem Ehegatten einen Zeitpunkt benennen sollte, zu dem mit der Entstehung einer Ehegatteninnengesellschaft gerechnet werden muss.
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Wichtig: Anderenfalls besteht die Gefahr, dass im Laufe der Ehezeit „irgendwann“ ein Punkt erreicht ist, an dem sich eine Ehegatteninnengesellschaft bildet und die Parteien plötzlich eine Vermögensverteilung für den Fall der Scheidung gewärtigen müssen, die mit ihren ursprünglich getroffenen Vereinbarungen nicht mehr in Einklang steht. Gerade bei Freiberuflern und mittelständischen Unternehmern ist hier ein hohes Gefährdungspotential gegeben, wenn der Ehepartner aktiv in die betrieblichen Belange mit eingeschaltet wird. Folgt man dem Gedanken des BGH, dass es nicht um gleichwertige Arbeit, sondern um gleich geordnete Arbeit geht, dann kommt es ja schon durch die Zuweisung von bestimmten Arbeitsbereichen, in denen jeder Ehegatte allein Verantwortung trägt, zu einer Situation, die das Entstehen einer Ehegatteninnengesellschaft nahe legt, jedenfalls dann, wenn die Tätigkeit der Ehegatten sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Dabei legt die Vereinbarung des Güterstandes der Gütertrennung oder einer stark modifizierten Zugewinngemeinschaft den Verdacht geradezu nahe, dass eine Ehegatteninnengesellschaft gewollt ist. Wie auch in anderen Zusammenhängen hat der BGH betont, dass immer
1 BGH v. 30.6.1999 – XII ZR 230/96, FamRZ 1999, 1584. 2 OLG Hamm v. 20.11.2009 – I-33U 13/09, FamRZ 2010, 1737. 3 BGH v. 30.6.1999 – XII ZR 230/96, FamRZ 1999, 1585.
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Kap. 10 Rn. 132
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dann, wenn das eheliche Güterrecht Ausgleichsmöglichkeiten bietet, die Anwendung der Ehegatteninnengesellschaft oder des familienrechtlichen Vertrags eigener Art zu verneinen ist. Durch die Vereinbarung des Güterstandes der Gütertrennung oder der stark modifizierten Zugewinngemeinschaft erreichen die Ehegatten uU genau das Gegenteil dessen, was sie intendiert haben. Ob es dabei ausreicht, im Ehevertrag, mit dem der Güterstand der Gütertrennung vereinbart wird, die Annahme der Entstehung einer Ehegatteninnengesellschaft ausdrücklich auszuschließen1, erscheint zumindest fraglich. Sicherer ist es wohl, wenn ausdrückliche Abreden über den Vermögensausgleich hinsichtlich des Projektes der gemeinsamen Arbeit für den Fall der Scheidung getroffen werden2. Auf diese Gefahr muss der Berater hinweisen, will er sein eigenes Haftungsrisiko begrenzen.
VII. Schadensersatzansprüche zwischen Ehegatten 132
Grundsätzlich können auch zwischen Ehepartnern Ansprüche durch wechselseitig verursachte Schäden ausgelöst werden. Allerdings gilt zwischen Ehegatten die Haftungserleichterung des § 1359 BGB. Diese Vorschrift ist keine Anspruchsgrundlage, sondern verdeutlicht den Haftungsmaßstab, also den Grad der Fahrlässigkeit, den ein Ehegatte gegenüber dem anderen Ehegatten im Zusammenhang mit schadensbegründenden Normen zu vertreten hat. Dabei muss es sich um Rechtsgeschäfte handeln, die in engem Zusammenhang mit der Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft stehen. Stehen sich die Ehegatten „wie Fremde oder Dritte“ gegenüber, entfällt die Haftungserleichterung. Dies gilt auch, wenn es sich um Geschäfte der Ehegatten handelt, die sich auf die Auseinandersetzung nach Auflösung der Ehe beziehen. Zweifelhaft ist des Weiteren, ob das Haftungsprivileg auch bei Deliktsansprüchen gilt. Jedenfalls für Körperverletzung und Sachbeschädigung im häuslichen Bereich wird dies bejaht3. Bei Verletzungen durch Straßenverkehrsunfälle, die auf dem Verschulden des Ehepartners beruhen, soll die Haftungserleichterung wiederum nicht gelten4.
133
Hauptanwendungsfall der Schadensersatzansprüche zwischen Ehepartnern sind Ansprüche nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit entsprechenden Strafgesetzen. Gerade im Zusammenhang mit der Trennung werden häufig falsche Auskünfte gegeben, werden Belege vernichtet oder unterdrückt und auf diesem Wege versucht, das Ergebnis eines Prozesses zu beeinflussen. Prozessbetrug als versuchter oder vollendeter Betrug im Sinne von § 261 StGB dürfte sicherlich einer der häufigsten Anwendungs1 2 3 4
Langenfeld, Eheverträge S. 78. BGH v. 30.6.1999 – XII ZR 230/96, FamRZ 1999, 1580. OLG Stuttgart v. 15.9.1982 – 2 U 28/82, FamRZ 1983, 68. BGH v. 18.6.1973 – III ZR 207/71, BGHZ 61, 101; BGH v. 10.7.1974 – IV ZR 212/72, BGHZ 63, 51.
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Rn. 137
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fälle sein. Gleiches gilt für vorsätzliche Körperverletzungen im Zusammenhang mit Trennung und Scheidung. Auch Sachbeschädigungen beim Hausrat sind nicht selten. Alle diese Strafvorschriften gewähren im Zusammenhang mit § 823 134 Abs. 2 BGB Schadensersatzansprüche. Allerdings besteht gerade hinsichtlich der Betrugshandlungen im Unterhaltsprozess das Hauptproblem darin, diese Straftatbestände im Einzelnen nachzuweisen. Hier kann es hilfreich sein, die eigene, im Prozess unterlegene Partei darauf hinzuweisen, dass zwar im Moment der Nachweis eines entsprechenden Betruges nicht geführt werden kann, nach ein oder zwei Jahren uU aber eine völlig veränderte Sachlage besteht. Das ist zB der Fall, wenn sich der Ehepartner von seinem ursprünglichen Arbeitgeber im Streit getrennt hat oder wenn in der Trennungszeit bestehende Verhältnisse zu neuen Partnern kurzfristig wieder in die Brüche gehen. In derartigen Situation lassen sich mit gewissem zeitlichem Abstand uU Nachweise beschaffen und Zeugen finden. In diesem Zusammenhang muss die Verjährungsvorschrift des § 207 BGB im Blick gehalten werden. Danach ist die Verjährung von Ansprüchen zwischen Ehegatten so lange gehemmt, wie die Ehe besteht. Über § 208 BGB ist die Verjährung von Ansprüchen wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung so lange gehemmt, wie Täter und Opfer in häuslicher Gemeinschaft leben. Erst nach räumlicher Trennung setzt insoweit bei volljährigen Opfern der Lauf der Verjährungsfrist ein. Ein weiterer Schadensersatzanspruch kann sich aus § 826 BGB ergeben, wenn dem Ehepartner ein Kind untergeschoben wird1.
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Vorstellbar sind auch Schadensersatzansprüche bei Vereitelung oder 136 Störung des Umgangsrechts. Der BGH2 gewährt einen Schadensersatzanspruch für erfolglose Aufwendungen, die dem Umgangsberechtigten entstehen, weil der andere Elternteil den Umgang vereitelt. Das Oberlandesgericht Karlsruhe geht noch einen Schritt weiter und judiziert, dass das Umgangsrecht ein absolutes Recht im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB ist3. Das Gericht geht von der Überlegung aus, dass das Umgangsrecht nicht mehr Restbestandteil der Personensorge ist, sondern nach der Neuordnung des Gesetzes in § 1684 BGB ein dem Personensorgerecht gegenüberstehendes eigenständiges Recht darstellt und sich genauso wie das Personensorgerecht aus Art. 6 Abs. 2 GG begründet. Daraus leitet das Oberlandesgericht ab, dass jeder Elternteil grundsätzlich das Recht des jeweils anderen zu respektieren hat und bei dessen Verletzung zum Schadensersatz verpflichtet ist. Nicht selten verweigert ein Ehegatte für das Trennungsjahr die Zu- 137 stimmung zur gemeinsamen Veranlagung, weil er sich aufgrund der gewählten Steuerklasse (III/V) eine hohe Erstattung verspricht. Der BGH 1 OLG München v. 11.2.2000 – 12 UF 1529/99, FamRZ 2001, 251. 2 BGH v. 19.6.2002 – XII ZR 173/00, FamRZ 2002, 1099 = FamRB 2002, 295. 3 OLG Karlsruhe v. 21.12.2001 – 5 UF 78/01, FamRZ 2002, 1056.
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Kap. 10 Rn. 138
Nebengüterrecht
sieht hierin einen Verstoß gegen die vermögensrechtlichen Pflichten aus § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB, wenn die Eheleute während des Zusammenlebens und bei der Ermittlung von Trenunngsunterhalt diese wirtschaftlichen Eckdaten der Lebensführung oder Berechnung zugrunde gelegt haben1. Beim steuerlichen Verbrauch von Verlustvorträgen eines Ehegatten konstatiert der BGH, dass eine Zustimmung zur Zusammenveranlagung nur dann verlangt werden, kann, wenn der andere Ehegatte nicht mit zusätzlichen steuerlichen Belastungen rechnen muss oder er diese auch vom anderen Ehegatten erstattet erhält. Besteht keine Verpflichtung zur Erstattung, scheidet die Zusammenveranlagung aus2.
VIII. Verfahrensrecht 138
Die Aufhebung des 6. Buchs der ZPO (Verfahren in Familiensachen) ist lange gewünscht und diskutiert worden – nicht ohne Grund, wie die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des FamFG darlegt: „Signifikantes Beispiel ist das familiengerichtliche Verfahrensrecht, das in großen Teilen dem FGG unterliegt und durch eine schwer verständliche Hin- und Rückverweisung zwischen ZPO und FGG nicht nur dem betroffenen Bürger kaum zugänglich ist, sondern auch dem professionellen Rechtsanwender Probleme bereitet“3.
139
Diese Probleme hat das FamFG gründlich beseitigt und klare Vorgaben hinsichtlich des Verfahrens und der Zuständigkeit gemacht. Das „große Familiengericht“ ist (ua.) gem. § 266 FamFG zuständig für „sonstige Familiensachen.“ Diese beschreibt das Gesetz als „aus der Ehe herrührende Ansprüche“ (§ 266 Abs. 1 Nr. 2 FamFG) und als „Ansprüche zwischen miteinander verheirateten oder ehemals verheirateten Personen oder zwischen einer solchen und einem Elternteil im Zusammenhang mit Trennung oder Scheidung oder Aufhebung der Ehe“ (§ 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG). § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG hat erhebliche Bedeutung und soll Vorrang vor der Nr. 2 haben4. Nicht übersehen werden darf auch § 266 Abs. 1 Nr. 4 FamFG, wonach eine „sonstige Familiensache“ auch „aus dem Eltern-Kind-Verhältnis herrührende Ansprüche“ sein können. Dabei kommt es weder auf Minderjährigkeit noch auf Ehelichkeit an, und die Nr. 4 hat Vorrang vor Nr. 35. Einzelfälle:
140
„Aus der Ehe herrühren“ gem. § 266 Abs. 1 Nr. 2 FamFG soll der Anspruch auf Übertragung des Schadensfreiheitsrabbatts für ein Fahrzeug 1 BGH v. 23.5.2007 – XII ZR 250/04, FamRZ 2007, 1229 m. Anm. Engels = FamRB 2007, 302. 2 BGH v. 18.11.2009 – XII ZR 173/06, FamRZ 2010, 269 = FamRB 2010, 82. 3 Entwurf des FGG-RG, BT-Drucks. 16/6308, S. 1. 4 Baumbach/Hartmann, § 266 FamFG Rn. 12. 5 Baumbach/Hartmann, § 266 FamFG Rn. 13.
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Nebengüterrecht
Rn. 145
Kap. 10
der Eheleute. Das Amtsgericht Olpe leitet den Übertragungsanspruch aus § 1353 Abs. 1, § 242 BGB ab, wobei die Ansprüche aus § 1351 BGB den Kernbereich von § 266 Abs. 1 Nr. 2 FamFG ausmachten1. Nach wohl inzwischen überwiegender Meinung erfordert die Einordnung 141 einer Streitigkeit zwischen geschiedenen Eheleuten als sonstige Familiensache nach § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG nur einen inhaltlichen, nicht aber einen zeitlichen Zusammenhang mit der Ehe2. Nicht unter § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG fällt die Rückzahlungsklage der Schwiegereltern gegen Schwiegersohn und Tochter, weil das Darlehen wegen Zahlungsverzug gekündigt wurde. Dabei spielt keine Rolle, dass das Darlehen ursprünglich zur Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft gewährt wurde, wenn die Kündigung nur wegen des Zahlungsverzuges erfolgt ist3.
142
Auch eine sonstige Familiensache nach § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG ist der 143 Streit getrenntlebender Eheleute um das Recht zur Vornahme von notwendigen Sanierungsmaßnahmen an einem Gebäude, welches im Bruchteilseigentum der Eheleute steht4. Streitet das Mündel gegen seinen ehemaligen Vormund, sind diese An- 144 sprüche wie Ansprüche aus dem Eltern-Kind-Verhältnis zu behandeln und als sonstige Familiensache gem § 266 Abs. 1 Nr. 4 FamFG (ElternKind-Verhältnis) einzuordnen5. Mit diesen Regelungen sind alle vermögensrechtlichen Ansprüche außer- 145 halb des ehelichen Güterrechts erfasst. „In jedem Fall muss ein Zusammenhang mit Trennung, Scheidung oder Aufhebung der Ehe bestehen. Auf diese Weise soll insbesondere die vermögensrechtliche Auseinandersetzung zwischen den Ehegatten außerhalb des Güterrechts (sog. Nebengüterrecht) den Familiengerichten zugewiesen werden. Im Übrigen sind beispielhaft Verfahren wegen Auseinandersetzung einer Miteigentumsgemeinschaft oder Auflösung einer Innengesellschaft der Ehegatten, über Streitigkeiten wegen Gesamtschuldnerausgleich oder Rückgewähr von Zuwendungen oder über die Aufteilung von Steuerguthaben zu nennen“6.
1 AG Olpe v. 7.1.2010 – 22 F 6/10, FamRZ 2010, 919. 2 OLG Stuttgart v. 10.1.2011 – 13 W 69/10, FamRZ 2011, 1420 = FamRB 2011, 143; OLG Hamm v. 15.10.2010 – 4 WF 123/10, FamRB 2011, 143; OLG Hamm v. 10.2.2011 – II-2 WF 208/10, FamRZ 2011, 1421; LG Osnabrück v. 16.7.2010 – 2 O 1807/09, FamRZ 2011, 1090. 3 OLG Frankfurt v. 21.1.2011 – 19 W 67/10, FamRZ 2011, 1421 (1422). 4 LG Stralsund v. 21.12.2010 – 6 O 369/10, FamRZ 2011, 1673 (1674). 5 LG Koblenz v. 3.9.2010 – 12 T 103/10, FamRZ 2011, 1090. 6 Entwurf des FGG-RG, BT-Drucks. 16/6308, S. 263; Keidel/Giers, § 266 FamFG, Rn. 15.
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§ 266 Abs. 1 Nr. 5 FamFG erwähnt aus dem Umgangsrecht resultierende Ansprüche. Dazu soll nicht das Umgangsrecht selbst gehören, da dieses als Kindschaftssache gem. § 99 FamFG anzusehen ist. Vielmehr gehören hierher die Schadensersatzansprüche wegen Nichteinhaltung der Umgangsregelung1.
147
Örtlich zuständig ist gem. § 267 FamFG das Gericht der Ehesache, sofern eine solche anhängig ist. Ist das nicht der Fall, so gelten gem. § 267 Abs. 2 FamFG die Zuständigkeitsregeln der ZPO, wobei in den Vorschriften über den allgemeinen Gerichtsstand an die Stelle des Wohnsitzes der gewöhnliche Aufenthalt tritt. Wird eine Ehesache rechtshängig, ist ein Verfahren wegen einer sonstigen Familiensache vom Prozessgericht von Amts wegen gem. § 268 FamFG an das Gericht der Ehesache abzugeben.
148
Der Gesetzgeber hat hier also ohne Einschränkung alle die Ansprüche erfasst, bei denen die Zuständigkeit unterschiedlichen Gerichten zugewiesen war und die deshalb schon bei der Prüfung der Zuständigkeit früher erhebliche Schwierigkeiten bereiteten.
149
Beachtung finden muss aber die Übergangsvorschrift des Art. 111 FGGRG. Danach gilt das alte Recht für alle Altfälle weiter, und auch bei Abänderungs-, Verlängerungs- und Aufhebungsverfahren sind die alten Vorschriften anzuwenden, wenn die Verfahren vor dem 1.9.2009 eingeleitet oder ihre Einleitung vor dem Stichtag beantragt wurden.
1 BGH v. 19.6.2002 – XII ZR 173/00, NJW 2002, 2566 ff.
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Kapitel 11 Versorgungsausgleich Inhaltsübersicht I. Arbeitshinweise II. Problemfelder III. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
IV. Grundlagen des Versorgungsausgleichs 1. Ziel und Zweck des Versorgungsausgleichs . . . . . . . . . . . . . 8 2. Gründe und Ziele der Gesetzesänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3. Gang des Gesetzgebungsverfahrens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 4. Verhältnis des Versorgungsausgleichs zu Güterrecht und Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 V. Erste Schritte zur Durchführung des Versorgungsausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auszugleichende Anrechte . . . 2. Ermittlung des Ehezeitanteils . 3. Ausgleichswert und korrespondierender Kapitalwert . . . . . a) Ermittlung des Kapitalwerts b) Funktion des Kapitalwerts. . VI. Die auszugleichenden Anrechte und ihre Wertermittlung 1. Gesetzliche Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Versicherter Personenkreis . b) Ermittlung der Anrechte . . . aa) Zusammensetzung des Rentenanrechts . . . . . . . . (1) Beitragszeiten. . . . . . . (2) Sonstige Zeiten . . . . . bb) Umrechnung in Entgeltpunkte. . . . . . . . . . . . . cc) Nachentrichtung von Beiträgen . . . . . . . . . . . . . . dd) Weitere Faktoren zur Ermittlung der Rentenanwartschaft und ihre Relevanz im Versorgungsausgleich. . . . . . . . . c) Ermittlung des Ehezeitanteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ermittlung eines Kapitalwerts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20 21 27 36 37 40
43 46 48 50 51 52 58 60
61 64 68
e) Bezug einer laufenden Rente 69 f) Wartezeiten . . . . . . . . . . . . . . . 71 g) Anrechte im Beitrittsgebiet . 72 h) Steuerliche Behandlung von Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung . . . . . . . . 74 i) Alterssicherung für Landwirte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Beamtenversorgung und Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen . . . . . . . . . . 82 a) Erfasster Personenkreis . . . . . 84 b) Ermittlung der Versorgungsanwartschaft . . . . . . . . . . . . . . 90 aa) Ruhegehaltsfähige Dienstbezüge . . . . . . . . . . 92 bb) Dienstzeiten . . . . . . . . . . . 98 cc) Bestimmung des Ruhegehaltssatzes . . . . . . . . . . . 104 c) Ermittlung des Ehezeitanteils und des Kapitalwerts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 d) Bezug einer laufenden Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . 114 e) Sonderfälle aa) Vorzeitige Dienstunfähigkeit . . . . . . . . . . . . 115 bb) Teilzeitbeschäftigte und ohne Dienstbezüge beurlaubte Beamte . . . . . . . . 116 cc) Wahlbeamte, Beamte auf Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 118 dd) Ehezeitanteil bei mehreren Ehen . . . . . . . . . . . . . 119 f) Ruhens- und Anrechnungsbestimmungen . . . . . . . . . . . . 120 aa) Zusammentreffen zweier Beamtenversorgungen. . . . . . . . . . . 122 bb) Zusammentreffen mit sonstigen Versorgungsanrechten . . . . . . . . . . . . . . 125 g) Besteuerung von Beamtenpensionen . . . . . . . . . . . . . . . . 130a 3. Berufsständische Versorgung a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Die Ermittlung der Anrechte und ihres Ehezeitanteils . . 133
1153
Kap. 11
Versorgungsausgleich
c) Besteuerung der Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133a 4. Betriebliche Altersversorgung . 134 a) Durchführungswege und Träger der betrieblichen Altersversorgung . . . . . . . . . . 139 b) Unverfallbarkeit. . . . . . . . . . . 151 c) Untergang des Anspruchs durch Abfindung/Widerruf . 160 d) Wertermittlung und Ermittlung des Ehezeitanteils . . . . . 161 e) Probleme bei der Wertermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 168a aa) Richtiger Berechnungsweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 bb) Gesamtversorgung, limitierte Versorgung . . . 170 f) Besteuerung. . . . . . . . . . . . . . . 174 g) Zusatzversorgung des öffentlichen oder kirchlichen Dienstes . . . . . . . . . . . 175 aa) Unverfallbarkeit . . . . . . . 179 bb) Wertermittlung und Ermittlung des Ehezeitanteils . . . . . . . . . . . . . 180 cc) Besteuerung . . . . . . . . . . 185a 5. Private Alters- und Invaliditätsversorgungen . . . . . . . . . . . . 186 a) Arten und Einbeziehung in den Versorgungsausgleich . . 187 aa) Lebensversicherungen . . 188 bb) Berufsunfähigkeitsversicherung und Unfallversicherung. . . . . . . . . . . . . . 196 cc) Sonstige Formen privater Altersvorsorge . . . . 198 b) Ermittlung des Ehezeitanteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 c) Steuerliche Behandlung . . . . 205 VII. Durchführung des Versorgungsausgleichs . . . . . . . . . . . . . 1. Wertausgleich bei Scheidung . . a) Interne Teilung . . . . . . . . . . . . aa) Bestimmung des Ausgleichswerts . . . . . . . . . . . bb) Nähere Ausgestaltung und Befugnisse des Familiengerichts . . . . . . . cc) Besonderheiten (1) Berechnung bei teilweisem Ausgleich . . . (2) Betriebsrenten . . . . . . dd) Vollzug. . . . . . . . . . . . . . . . ee) Kosten der internen Teilung. . . . . . . . . . . . . . . .
1154
206 208 213 215 218 224 226 227 228
ff) Wirksamwerden und das Problem der Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 gg) Steuerliche Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 231 b) Saldierung . . . . . . . . . . . . . . . . 233 c) Externe Teilung. . . . . . . . . . . . 240 aa) Zulässigkeit externer Teilung . . . . . . . . . . . . . . . . 241 (1) Externe Teilung bei Vereinbarung. . . . . . . . 244 (2) Geringfügige Anrechte . . . . . . . . . . . 247 bb) Wahlrecht, Einverständnis und Angemessenheitskontrolle . . . . . . . . . . 248 cc) Durchführung der externen Teilung . . . . . . . . . 254 dd) Wirksamwerden und Wirkung der externen Teilung . . . . . . . . . . . . . . . . 256 ee) Externe Teilung bei Beamtenversorgung und sonstiger öffentlichrechtlicher Versorgung . . 263 ff) Steuerliche Auswirkungen der externen Teilung 265 d) Ausnahmen vom Wertausgleich bei Scheidung . . . . . . . 268 aa) Fehlende Ausgleichsreife . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 bb) Geringfügigkeit und geringe Ausgleichswerte . . 276 cc) Kurze Ehedauer . . . . . . . . 284 2. Ausgleich nach der Scheidung . 285 a) Schuldrechtliche Ausgleichszahlungen . . . . . . . . . . 289 aa) Ausgleichsanspruch bei Rentenleistungen. . . . . . . 292 bb) Ausgleichsanspruch bei Kapitalzahlungen . . . . . . . 298 b) Anspruch auf Abfindung . . . 306 c) Teilhabe an der Hinterbliebenenversorgung. . . . . . . . . . . 313 aa) Voraussetzungen . . . . . . . 314 bb) Einschränkungen zum Schutz des Versorgungsträgers . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 cc) Teilhabe bei nicht deutschen Versorgungsträgern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 d) Steuerliche Auswirkungen. . 321 VIII. Einfluss grober Unbilligkeit auf den Versorgungsausgleich, § 27 VersAusglG . . . . . . . . . . . . . 322
Kap. 11
Versorgungsausgleich 1. § 27 VersAusglG als lex specialis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriff der groben Unbilligkeit 3. Mögliche Rechtsfolgen . . . . . . . 4. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Sonderregelungen, insbesondere für Härtefälle . . . . . . . . . . . 1. Sonderregelungen wegen unbilliger Härten, §§ 32 ff. VersAusglG . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rentnerprivileg und Rentenkürzung im Unterhaltsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Regelung im Einzelnen (1) Grundvoraussetzung (2) Geringfügigkeitsgrenze. . . . . . . . . . . . . . (3) Beschränkung auf Höhe des Unterhalts. (4) Differenz bei Primärversorgungen . . . . . . . bb) Verfahren. . . . . . . . . . . . . . b) Beeinträchtigungen bei Renten wegen Invalidität . . . c) Tod der ausgleichsberechtigten Person, §§ 37 f. VersAusglG . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weitere Sonderfälle a) Tod der ausgleichsberechtigten Person im Versorgungsausgleich nach Scheidung . . b) Bezug einer laufenden privaten Rente wegen Invalidität . . . . . . . . . . . . . . . .
325 326 329 330 339 340 342 345 346 347 350 351 355 358
366 367
X. Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich . . . . . . . . . . . . . . 368 1. Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 393 2. Anlässe für Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich . . . . 396 a) Drohende Transferverluste, drohende Zersplitterung. . . . 397 b) Rentner, (drohende) Erwerbsunfähigkeit und Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . 397a c) Ausländische Versorgungsanrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . 397b d) Schwere Erkrankung . . . . . . 397c e) Unwirtschaftliche Folgen . 397d f) Freiberufliche Praxen, Immobilien . . . . . . . . . . . . . . 397e g) Anrechte von Landesbeamten . . . . . . . . . . . . . . . . . 397f
h) Phasenverschobene Ehe . . . 397g i) Fehlender Bedarf für einen Versorgungsausgleich . . . . 397h XI. Abänderung der Entscheidungen und Vereinbarungen . . . . . . 398 1. Versorgungsausgleich bei Scheidung a) Der Abänderung unterliegende Anrechte. . . . . . . . . . 403 b) Abänderungsvoraussetzungen aa) Nachträgliche rechtliche oder tatsächliche Veränderung . . . . . . . . . . . 406 bb) Wesentlichkeitsgrenze . . 410 cc) Auswirkung zugunsten eines Ehegatten . . . . . . . . 412 c) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 2. Wertausgleich nach Scheidung 418 a) Der Abänderung unterliegende Entscheidungen. . . . . . 419 b) Abänderungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 c) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 3. Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich. . . . . . . . . . . . . . . 425 XII. Versorgungsausgleich bei Auslandsberührung . . . . . . . . . . 429 1. Versorgungsausgleich bei Scheidung von Nichtdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 2. Einbeziehung ausländischer Anrechte in den deutschen Versorgungsausgleich . . . . . . . . . 441 XIII. Anwendung des VersAusglG auf Lebenspartnerschaften (Art. 12 VAStrRefG) . . . . . . . . . . 448 XIV. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 1. Informationsbeschaffung und Auskunftsrechte . . . . . . . . . . . . . 472 a) Verfahrensrechtliche Auskunftspflichten . . . . . . . . . . . . 473 b) Auskunftsansprüche der Beteiligten untereinander . . . 479 2. Ergänzende Regelungen zum Verfahren a) Abfindungsverbot für Versorgungsträger . . . . . . . . . . 487 b) Schutz des Versorgungsträgers vor Doppelzahlungen . . 489 c) Tod eines Ehegatten . . . . . . . . 491 3. Tenorierung
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Kap. 11
Versorgungsausgleich
a) Wertausgleich bei Scheidung durch interne Teilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Versorgungsausgleich bei Scheidung, externe Teilung . c) Ausnahmen vom Versorgungsausgleich bei Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Tenor zum Wertausgleich nach der Scheidung . . . . . . . . e) Versorgungsausgleich bei Scheidung, Abänderungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . XV. Übergangsrecht . . . . . . . . . . . . . . 1. Laufende Verfahren . . . . . . . . . . 2. Abgetrennte und ausgesetzte Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfahren nach den §§ 4–10 VAHRG aF . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rentner- und Pensionärsprivileg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
498 500 505 507 513 532 533
5. Übergangsrecht für Abänderungsverfahren a) Totalrevision unter Anwendung neuen Rechts . . . 546 b) Besonderheiten . . . . . . . . . . 547 aa) Einzubeziehende Anrechte . . . . . . . . . . . . 548 bb) Wesentliche, nachträgliche Änderung . . . 549 c) Ausnahme von der Totalrevision: Ausgleich nach Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . 552 d) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . 554 6. Vorbehaltener schuldrechtlicher Versorgungsausgleich . 559 7. Übergangsrecht für Altfälle . 560
537
XVI. Schaubild zum Versorgungsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561
542
XVII. Schaubild zum Übergangsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562
545
Literaturverzeichnis: Bergner, Die reformbedürftige Strukturreform des Versorgungsausgleichs, ZRP 2008, 211; Bergner, Kommentar zum reformierten Versorgungsausgleich, 2009; Bergner, Praxishinweise zur Abänderung von „Altentscheidungen“ (§§ 51, 52 VersAusglG), FamFR 2011, 196; Bergner, Die Bewertung von beamtenversorgungsrechtlichen Kindererziehungszuschlägen im Versorgungsausgleich, FamFR 2011, 220; Bergner, Vermeidung von Nachteilen externer Teilung, FamFR 2011, 314; Bergner, Das Unterhaltsprivileg, FPR 2011, 483; Bieber/Stegmann, Versorgungsausgleich nach wie vor wichtig – Ergebnisse aus Daten der Rentenversicherung und einer Studie zum Alterseinkommen, FF 2010, 55; Borth, Die Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung und ihre Auswirkungen auf das Versorgungsausgleichsverfahren, FamRZ 2005, 1885; Borth, Rechtsprechungsübersicht zum Versorgungsausgleich, FamRZ 2008, 2069; Borth, Zulässigkeit einer offenen Beschlussfassung beim Ausgleich von Anrechten der betrieblichen Altersversorgung und privaten Rentenversicherung, FamRZ 2011, 337; Borth, Zuordnung von Zinsanteilen zwischen Ehezeitende und Rechtskraft der Entscheidung bei externer Teilung, FamRZ 2011, 1773; Borth, Die vergessene bzw. verheimlichte Versorgung im Versorgungsausgleich, FamRZ 2012, 337; Breuers, Steuerrechtliche Aspekte des neuen Versorgungsausgleichs, FPR 2011, 517; Cirullies, Sanktionsmöglichkeiten im Versorgungsausgleichsverfahren bei fehlender Mitwirkung der Beteiligten, FamRZ 2012, 157; Deutsche Rentenversicherung, Versorgungsausgleich in der gesetzlichen Rentenversicherung, 10. Aufl., 2011 (zit.: DRV-Komm.); Dünn/Strotmeyer, Der neue Versorgungsausgleich – Auwirkungen auf die gesetzliche Rentenversicherung, FPR 2011, 490; Eichenhofer, Der neue Versorgungsausgleich – eine Bilanz aus Sicht der Wissenschaft mit Blick über die Grenzen, BetrAV 2011, 217; Eichenhofer, Prinzipien des Versorgungsausgleichs, FamRZ 2011, 1630; Ellger, Zum Verfahren der Realteilung in der privaten Rentenversicherung, FamRZ 1986, 513; Glockner/Goering, Die Änderungen des Betriebsrentengesetzes und ihre Berücksichtigung im Versorgungsausgleich, FamRZ 2002, 282; Glockner/Hoenes/Weil, Der neue Versorgungsausgleich, 2009; Göhde, Abschaffung des Rentnerprivilegs und deren Übergangsregelung in § 268a II SGB VI durch die Strukturreform des Versorgungsausgleichs, FamFR 2010, 555; Götsche, Versorgungsausgleich und Güterrecht: Manipulation des Stichtagsvermögens?,
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Kap. 11
Versorgungsausgleich
FamRB 2011, 380; Götsche, Versorgungsausgleich: Tod eines Ehegatten, FamRB 2012, 56; Gutdeutsch/Hoenes/Norpoth, Die „Rentnerfalle“ – nur falsche Rechtsanwendung?, FamRZ 2012, 73; Gutdeutsch/Hoenes/Norpoth, Offene Tenorierung – nicht nur ein Problem fondsgebundener Anrechte, FamRZ 2012, 597; Hauß, Praktische Fragestellungen des neuen Versorgungsausgleichs, FamRB 2010, 251; Hauß, Ein Jahr neues Versorgungsausgleichsrecht im neuen Verfahrensrecht, FPR 2011, 26; Hauß, Plausibilitätskontrolle von Versorgungsbewertungen im Versorgungsausgleich, FamRB 2011, 156; Hauß, Die Rentnerscheidung im neuen Versorgungsausgleich, FPR 2011, 513; Hoffmann/Raulf/Gerlach, Berechnung des Ausgleichswerts von Lebensversicherungen, FamRZ 2011, 333; Jaeger, Halbteilungsgrundsatz bei externer Teilung von Direktzusagen im Versorgungsausgleich verletzt, FamRZ 2010, 1714; Jaeger, Berechnung des Ausgleichswerts von Lebensversicherungen, FamRZ 2011, 1348; Kemper, Versorgungsausgleich in der Praxis, 2011; Kemper, Die Regelungsbefugnisse bei Vereinbarungen der Ehegatten zum Versorgungsausgleich, ZFE 2011, 179; Kemper, Ausgleichsansprüche nach der Scheidung bei Tod des Ausgleichsverpflichteten, FPR 2011, 494; Kemper/Norpoth, Abgetretene, verpfändete und gepfändete Anrechte im Versorgungsausgleich, FamRB 2011, 284; Keuter, Angemessene Kosten interner Teilung im Versorgungsausgleich, FamRZ 2011, 1914; Marian, Ein Jahr Versorgungsausgleichskasse – eine erste Bestandsaufnahme, FamRZ 2011, 1265; Münch, Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich – Fokus Inhaltskontrolle, FPR 2011, 504; Orgis, Unisextarife beim neuen Versorgungsausgleich?, FPR 2011, 509; Rehme, Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs (VAStrRefG) v. 21.5.2008 – ein Entwurf ohne kontroverse fachöffentliche Diskussion, klares materielles Ausgleichsprinzip und umfassende Bilanzierung der Vor- und Nachteile seiner Umsetzung, FuR 2008, 370, 433, 474; Ruland, Die vorgesehene Strukturreform des Versorgungsausgleichs, NZS 2008, 225; Ruland, Die Durchführung des Wertausgleichs, FPR 2011, 479; Ruland, Das OLG Celle und die Fehler des Gesetzgebers – zur Gleichartigkeit i.S.d. § 18 I VersAusglG von Renten und Pensionen, FamFR 2012, 123; Ruland, Versorgungsausgleich, 3. Aufl. 2011; Voucko-Glockner/ Vogts, Einstweiliges Weitergelten des Pensionärsprivilegs in der Beamtenversorgung der Länder, FamRZ 2010, 950; Wick, Die Rechtsprechung zum neuen Versorgungsausgleich, Teil 1, FuR 2011, 363; Teil 2, FuR 2011, 436; Teil 3, FuR 2011, 555; Teil 4, FuR 2011, 605.
I. Arbeitshinweise 1. Bei kurzer Ehezeit: Klären, ob es für eine der Parteien Sinn macht, einen Antrag nach § 3 Abs. 3 VersAusglG zu stellen. 2. Vollständiges Erfassen der in den VA einzubeziehenden Anrechte beider Parteien. 3. Überprüfen, ob Ehezeitanteile und Ausgleichswerte zutreffend ermittelt/mitgeteilt sind; ggf. ergänzende Auskünfte verlangen. 4. Bei laufenden Renten aus kapitalgedeckten Anrechten: erforderliche Wertkorrektur des Ausgleichswerts? (s. Rn. 230, 487). 5. Überlegung, ob vom Grundsatz der Halbteilung aus Billigkeitsgründen abzuweichen ist (§ 27 VersAusglG). 6. Überlegung, ob – unter Berücksichtigung von 3. – eine Vereinbarung, ggf. unter Einbeziehung der Vermögensauseinandersetzung, in Betracht kommt. Norpoth
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7. Wenn nicht: Klären, ob Ausnahmen vom Wertausgleich bei Scheidung zu machen sind (Geringfügigkeit, fehlende Ausgleichsreife, Unbilligkeit). 8. Nach durchgeführtem Wertausgleich bei Scheidung: Prüfen, ob Anträge wg. Härtefallregelungen zu stellen sind (§§ 33 ff. VersAusglG) bzw. ob Ansprüche im Wertausgleich nach der Scheidung (§§ 20 ff. VersAusglG) geltend gemacht werden sollten. 9. Abschließend Hinweis an Mandantschaft, wenn Wertausgleich nach Scheidung vorbehalten worden ist. 10. Bei Altentscheidungen: Abänderung im Wege der Totalrevision nach neuem Recht (§ 51 VersAusglG) oder ergänzend Wertausgleich nach der Scheidung überprüfen.
II. Problemfelder 1. Betriebliche Altersversorgung: Unverfallbarkeit (Rn. 151 ff.), Maßgeblichkeit der Versorgungszusage (Rn. 149), Frage nach dem „Wie“ der Teilung (Rn. 139 ff.) 2. Bestimmung (Rn. 216 f.)
des
Ausgleichswerts
der
einbezogenen
Anrechte
3. Bei notwendiger wirtschaftlicher Gesamtbetrachtung: Vergleichbarkeit der Anrechte (Rn. 40 ff.) 4. Bei externer Teilung: Wahl einer Zielversorgung (Rn. 248 ff.), Wirkungen der externen Teilung (Rn. 256 ff.) 5. Wertausgleich nach Scheidung: einbezogene Anrechte (Rn. 285 ff.) 6. Härtefallregelungen: Begrenzung auf Anrechte der Primärversorgung (Rn. 341, 350, 356, 365) 7. Zeitpunkt des Wirkungseintritts: Verzinsung, offene Tenorierung, Rentnerfalle bei längerer Verfahrensdauer (Rn. 229 f., 261) 8. Bei privaten Versicherungen: Wertangabe einschließlich Schlussüberschüssen und Bewertungsreserven? (Rn. 199) 9. Bei Rentnern: Problem „Rentnerfalle“ (Rn. 230)
III. Einleitung 1
Der Versorgungsausgleich spielt in der anwaltlichen wie auch in der familienrichterlichen Praxis bislang eine untergeordnete Rolle. Das entspricht regelmäßig nicht seinem wirtschaftlichen Gewicht im Rahmen der Vermögensauseinandersetzung von Eheleuten/LebenspartnerInnen, hat aber handfeste Gründe:
2
Die Wirkungen des Versorgungsausgleichs werden im Scheidungsfall häufig erst mit mehrjähriger Verzögerung (Rentenbeginn) spürbar, was 1158
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Rn. 7
Kap. 11
ihn für Parteien wie Anwälte gegenüber den weiteren Gesichtspunkten der ehelichen Auseinandersetzung – Unterhalt, Zugewinnausgleich, Hausratsteilung, elterliche Sorge und Umgang – in den Hintergrund treten lässt. Der Versorgungsausgleich erweist sich rechtlich als komplexer „Mix“ 3 aus Familienrecht, Sozialversicherungsrecht, Beamtenversorgungsrecht, Versicherungsvertragsrecht, Arbeitsrecht und Steuerrecht. Das erfordert für eine vollständige Durchdringung ein hohes Maß an Einarbeitung, welches die mit dem Familienrecht betrauten Praktiker (Anwälte und Familiengerichte) neben der schier unübersehbaren Kasuistik des Unterhaltsrechts oft überfordert. In erheblichem Widerspruch zu dem Gewicht des Versorgungsausgleichs einerseits und dem zu bewältigenden Aufwand des damit befassten Rechtsanwalts stehen die Regelungen für die Festsetzung des Verfahrenswerts (im Wertausgleich bei Scheidung je Anrecht 10 % des Verfahrenswerts der Scheidung; sonst 20 %, § 50 FamGKG), welche gegenüber dem alten Recht zwar eine Verbesserung gebracht haben, nach wie vor aber eine untergeordnete Rolle des Versorgungsausgleichs suggerieren.
4
Für die Anwaltschaft wird durch das geltende Amtsermittlungsprinzip und die Mitwirkungspflichten der Versorgungsträger eine Scheinsicherheit erzeugt, wonach Fehler weitestgehend auch ohne anwaltliche Intervention ausgeschlossen zu werden scheinen. Diese Sicherheit erweist sich hingegen als trügerisch: Trotz der Amtsermittlung können ganze Versorgungsanrechte (zB Zusatzversorgungen, private Lebensversicherungen) ebenso unentdeckt und damit unberücksichtigt bleiben wie Fehler bei der Berechnung von Versorgungsanwartschaften durch die Versorgungsträger. Fehler des Gerichts entlasten den Anwalt im Rahmen der Anwaltshaftung aber nicht.
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Die anwaltlichen Haftungsrisiken sollten deshalb nicht unterschätzt 6 werden, insbesondere wenn man sich den wirtschaftlichen (Bar-)Wert der im Versorgungsausgleich zu treffenden Regelungen vor Augen führt: Anrechte auf eine lebenslange Rente erreichen schnell Kapitalwerte von mehreren 10 000 Euro. Da diese Kapitalwerte in den Auskünften der Versorgungsträger stets anzugeben sind, sind die Anwälte nach geltendem Recht besser vorgewarnt. Auch die mögliche Fehlbewertung etwa von betrieblichen Anrechten, die nach § 17 VersAusglG extern auszugleichen sind, kann 5-stellige Beträge erreichen (dazu s. Rn. 40 ff., 42, 168a). Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Strukturreform des Versor- 7 gungsausgleichs (VAStrRefG)1 das Versorgungsausgleichsverfahren in wesentlichen Punkten geändert. Das neue Recht sollte den Parteien, Anwälten und Gerichten in einem entscheidenden Punkt entgegenkommen: es sollte nämlich einfacher zu verstehen sein. Dieses Ziel konnte nur teil1 VAStrRefG v. 3.4.2009, BGBl. I, 700.
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weise erreicht werden; die Strukturreform hat im Gegenzug neue Probleme hervorgebracht, um deren Lösung derzeit gerungen wird. Die nachfolgende Darstellung hat zum Ziel, dem Praktiker einen Überblick über das jetzt geltende Recht zu verschaffen und ihm auch Eingriffs- und Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die dann Grundlage für strategische Überlegungen und Vereinbarungen im Zusammenhang mit dem Versorgungsausgleich sein können.
IV. Grundlagen des Versorgungsausgleichs 1. Ziel und Zweck des Versorgungsausgleichs 8
Der Versorgungsausgleich nimmt im Scheidungsfall eine Zwitterstellung ein: er vervollständigt die Regelungen zur Vermögensauseinandersetzung, indem er die Teilung des in der Ehe erwobenen Altersvorsorgevermögens regelt. Weil es sich bei den aus diesem Vermögen fließenden Leistungen aber idR um Renten handelt, sind die Auswirkungen eher unterhaltsrechtlicher Art. Mit seiner Regelung ist der Gesetzgeber einer aus dem Grundgesetz abgeleiteten Verpflichtung nachgekommen. Beide Ehegatten haben aus Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 2 GG grundsätzlich einen Anspruch auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten, was ihnen dementsprechend auch bei Trennung und Scheidung zu gleichen Teilen zuzuordnen ist; das gilt auch für erworbene Anrechte auf eine Alters- und Invaliditätsversorgung. Auch die jetzt geltenden Regelungen zum Versorgungsausgleich müssen sich deshalb daran messen lassen, ob sie den Halbteilungsgrundsatz wahren1. Die Verwirklichung des Halbteilungsgrundsatzes kann dabei grundsätzlich auf zwei verschiedenen Wegen gesucht werden: Bei der ausgleichenden Gerechtigkeit geht es darum, im Wege eines „clean break“ stichtagsbezogene Vermögenswerte zu verteilen. Bei der austeilenden Gerechtigkeit ist das Ziel, aus der durchgeführten Teilung später gleiche oder gleichwertige Rentenleistungen für beide Parteien zu generieren2. Die austeilende Gerechtigkeit ist deutlich schwerer zu vewirklichen als die ausgleichende Gerechtigkeit – sie erfordert die Möglichkeit des unbegrenzten Nachjustierens wegen zwischenzeitlicher Veränderungen. Der Gesetzgeber verfolgt bei der internen Teilung und im schuldrechtlichen Versorgungsausgleich das Ziel der austeilenden Gerechtigkeit. In der externen Teilung verwirklicht er das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit; dieses liegt idR auch zugrunde, wenn der Versorgungsausgleich bei Vereinbarungen in die allgemeine Vermögensauseinandersetzung einbezogen wird.
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Bei der Einführung des Versorgungsausgleichs durch das 1. EheRG v. 14.6.19763 waren es insbesondere die Ehefrauen, deren Altersabsicherung 1 BVerfG v. 2.5.2006 – 1 BvR 1275/97, FamRZ 2006, 1000 ff. 2 Hierzu grundlegend Eichenhofer, BetrAV 2011, 221; Eichenhofer, FamRZ 2011, 1630 ff. 3 BGBl. I, 1421.
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nach gescheiterter Hausfrauenehe mangelhaft war und denen der Gesetzgeber eine eigenständige soziale Sicherung für den Fall des Alters und der Invalidität verschaffen wollte1. Trotz eines mittlerweile deutlich gewandelten Rollenverständnisses in der Ehe profitieren auch heute noch überwiegend Frauen von der Durchführung des Versorgungsausgleichs, weil sie oft über geringere Einkünfte verfügen als Männer und in der Familiengründungsphase häufiger als diese bereit sind, eine erziehungsbedingte Berufspause einzulegen – nicht selten mit anhaltenden Nachteilen für Beruf und Einkommen2. 2. Gründe und Ziele der Gesetzesänderung Das bis zum 31.8.2009 geltende Versorgungsausgleichsrecht basierte auf 10 dem Prinzip des Einmalausgleichs in der gesetzlichen Rentenversicherung mithilfe der Saldierung und funktionierte in groben Zügen wie folgt: – Zunächst wurden alle in der Ehezeit erworbenen Versorgungen oder Versorgungsanwartschaften beider Eheleute ermittelt. – Sodann wurden sie erforderlichenfalls mit gesetzlichen Rentenanrechten vergleichbar gemacht und danach saldiert. – Der Ehegatte mit der höheren Versorgung oder den höheren Anwartschaften musste vom Überschuss die Hälfte an den anderen Ehegatten abgeben, und zwar idR und nach Möglichkeit durch Übertragung oder Begründung eines Anrechts in der gesetzlichen Rentenversicherung (öffentlich-rechtlicher Versorgungsausgleich). – Die Wirkungen traten mit der Scheidung ein, und die Versorgungsschicksale der Ehegatten wurden getrennt. – Für besondere Fälle, in denen ein öffentlich-rechtlicher Versorgungsausgleich nicht möglich war, existierte als Auffanglösung der schuldrechtliche Versorgungsausgleich, in dem ein Ehegatte nach Eintritt des Leistungsfalls aus einer laufenden Versorgung Leistungen an den anderen Ehegatten erbringen musste. Der schuldrechtliche Versorgungsausgleich war subsidiär, weil er regelmäßig erst viele Jahre nach der Scheidung durchgeführt werden konnte und dem Berechtigten nicht die gleiche Sicherheit wie der öffentlich-rechtliche Versorgungsausgleich bot3. – In Einzelfällen gab es eine Abänderungsmöglichkeit nach § 10a VAHRG aF in Form einer „Totalrevision“, wobei hinsichtlich sämtlicher in den VA einzubeziehender Anrechte die Bewertung neu überprüft wurde.
1 BT-Drucks. 7/650, 155; BT-Drucks. 7/4361, 18; Einzelheiten bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 1, 3. 2 Bieber/Stegmann, FF 2010, 56. 3 Einzelheiten bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 11.
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11 Die Methode der Saldierung mit anschließendem Ausgleich in der gesetzlichen Rentenversicherung erwies sich dabei zunehmend als die Achillesferse dieses Systems. Das Prinzip der Saldierung ist aus dem Zugewinnausgleich vertraut und wird auch bei der Berechnung des Ehegattenunterhaltsanspruchs angewandt. Im Versorgungsausgleich hielt es der Gesetzgeber allerdings letztlich nicht für zufriedenstellend durchführbar. Für eine solche Saldierung mussten nämlich die Anrechte unterschiedlicher Herkunft zunächst vergleichbar gemacht, also auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Dazu hatte der Gesetzgeber die gesetzliche Rentenversicherung und die Beamtenversorgung zum Maßstab genommen, an deren Wertentwicklung die übrigen Anrechte gemessen wurden. Er ging in einem ersten Schritt davon aus, dass keine andere Versorgung eine höhere Wertentwicklung erreichen konnte als Rentenversicherung und Beamtenversorgung. War die Wertentwicklung eines Anrechts sowohl im Anwartschaftsstadium (während der „Ansparphase“) als auch im Leistungsstadium (ab Rentenbezug) in gesicherter Weise nicht oder nur unerheblich geringer als die Wertentwicklung in der gesetzlichen Rentenversicherung und Beamtenversorgung, so wurde das Anrecht in beiden Phasen als volldynamisch angesehen. Andernfalls galt es entweder als statisch oder, wenn es zumindest in einer Phase mit der Entwicklung von Rentenversicherung oder Beamtenversorgung Schritt hielt, teildynamisch. Weitere Unterscheidungsmöglichkeiten gab es nicht. 12 Die nicht volldynamischen Anrechte wurden mit Hilfe der sog. BarwertVO, die für diesen Zweck auf der Grundlage von Sterbetafeln und Abzinsungstabellen Barwertfaktoren vorhielt, in einen Kapitalwert umgerechnet, aus welchem dann die bei Einzahlung in die gesetzliche Rentenversicherung folgende Rentenanwartschaft abgeleitet wurde. Diese Methode geriet in den letzten Jahren immer wieder in die Kritik: Nachdem die Steigerungszahlen in der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beamtenversorgung zu stagnieren begannen, lief die Umrechnung idR auf eine teils erhebliche Unterbewertung von Versorgungsanrechten -hinaus. Die BarwertVO beschäftigte aus diesem Grund mehrfach das BVerfG1. Zwar existierte mit dem Abänderungsverfahren nach § 10a VAHRG aF eine Korrekturmöglichkeit. Von dieser Möglichkeit wurde aber von den benachteiligten Parteien – wohl auch aus Unkenntnis – in einem so geringen Ausmaß Gebrauch gemacht, dass der Gesetzgeber Handlungsbedarf sah. 13 Ein weiteres ungelöstes Problem war, dass – bedingt durch ein unterschiedliches Leistungsspektrum – mit demselben Kapital Rentenanwartschaften von höchst unterschiedlichem Wert bei den unterschiedlichen 1 BVerfG v. 15.7.1998 – 1 BvR 1554/89, 1 BvR 963/94, 1 BvR 964/94, FamRZ 1999, 279; BVerfG v. 5.2.2002 – 1 BvR 105/95 ua., FamRZ 2002, 527 = FamRB 2002, 97; BVerfG v. 2.5.2006 – 1 BvR 1275/97 und 1351/95, FamRZ 2006, 1000 f., 102 ff. m. Anm. Borth/Glockner, FamRZ 2006, 1004.
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Versorgungsträgern begründet werden konnten. Die (zwangsweise) Überführung in die gesetzliche Rentenversicherung führte auch deshalb regelmäßig zu einer erheblichen Unterbewertung privater Rentenanwartschaften, weil die gesetzliche Rentenversicherung aus den geleisteten Beiträgen nicht nur Renten, sondern beispielsweise auch erhebliche Rehabilitationsleistungen finanziert. Der Gesetzgeber des VAStrRefG hält – im Gegensatz zu einigen Stimmen in der Literatur – die Idee, Versorgungsanrechte zwecks Saldierung auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und sodann in der gesetzlichen Rentenversicherung auszugleichen, für gescheitert, insbesondere vor dem Hintergrund eines sich ausweitenden Marktes an Altersvorsorgeprodukten. Sein Ziel war es, eine bereits zum Zeitpunkt der Scheidung vollkommene Halbteilung der erworbenen Anrechte/Anwartschaften zu erreichen, die einer Abänderung praktisch nicht mehr bedarf. Dafür hat er das Prinzip der Saldierung weitgehend aufgegeben.
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Zudem wollte der Gesetzgeber mit der Neuregelung den Versorgungsausgleich durch Vereinfachung anwenderfreundlicher gestalten, so dass ihn die Beteiligten – Parteien wie Anwälte, Familiengerichte und Versorgungsträger – wieder besser verstehen und auf dieser Grundlage auch in einem erweiterten Rahmen einvernehmliche Lösungen im Einzelfall finden können. Dem dient ua. die Zusammenfassung von Regelungen, die sich zuvor in verschiedenen Gesetzen befunden haben (BGB, VAHRG, VAÜG, BarwertVO), in einem einzigen Gesetz.
15
3. Gang des Gesetzgebungsverfahrens Im Jahr 2003 wurde zunächst eine „Kommission Strukturreform des Versorgungsausgleichs“ eingesetzt. Diese legte im Jahr 2004 ihren Abschlussbericht vor. Der Vorschlag lautete, Anrechte der primären Altersvorsorge (Beamtenversorgung, gesetzliche Rentenversicherung, berufsständische Versorgungswerke) und der sekundären Altersvorsorge (betriebliche und private Altersvorsorge) getrennt zu saldieren und durch Realteilung auszugleichen, ferner bei kurzer Ehedauer und bei geringfügigen Unterschieden den Versorgungsausgleich auszuschließen.
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Im Sommer 2007 legte das Bundesjustizministerium einen Diskussions- 17 entwurf vor, der in Abweichung vom Konzept der Kommission die Durchführung des Versorgungsausgleichs als Hin-und-Her-Ausgleich (Teilung jedes einzelnen Anrechts) vorschlug. Auf dieser Grundlage basiert ein RefE v. 12.2.2008, der sodann in einen Gesetzentwurf des Bundesrats v. 23.5.2008 (BR-Drucks. 343/08) und dem folgend in einen Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 20.8.2008 (BT-Drucks. 16/10144) mündete. Im Rechtsausschuss wurden hierzu nach Anhörung von Sachverständigen Änderungsvorschläge eingearbeitet (BT-Drucks. 16/11903). Mit diesen Änderungsvorschlägen ist das Gesetz am 12.2.2009 vom Bundestag ver-
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abschiedet (BR-Drucks. 128/09) und nach Zustimmung des Bundesrats im Bundesgesetzblatt verkündet worden (BGBl. I 2009, 700). 4. Verhältnis des Versorgungsausgleichs zu Güterrecht und Unterhalt 18 Der Versorgungsausgleich geht dem güterrechtlichen Ausgleich vor. Eine Doppelverwertung von Anrechten im Versorgungsausgleich und im güterrechtlichen Ausgleich scheidet aus, § 2 Abs. 4 VersAusglG (vgl. § 1587 Abs. 3 aF BGB). Mit Ausnahme der in § 2 Abs. 2 Nr. 3 benannten Anrechte unterfallen Anrechte, die auf einen Kapitalbetrag gerichtet sind, nicht dem Versorgungsausgleich und können damit güterrechtlich auszugleichen sein1. Zum Anwendungsbereich des VersAusglG s. näher unten Rn. 21 ff. 19 Bei der Unterhaltsberechnung sind Rentenleistungen, auch solche aus dem durchgeführten Versorgungsausgleich, bei jeder Partei so zu berücksichtigen, wie sie letztlich fließen. Sie prägen den Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen, auch dann, wenn eine Partei aus einem früher durchgeführten Versorgungsausgleich Renten bezieht. Ob eine verbleibende Differenz zu Unterhaltsansprüchen führt, ist allein Frage des Unterhaltsrechts. Nach Ansicht des BGH sind Rentenleistungen, die aus geleistetem Altersvorsorgeunterhalt (§ 1578 Abs. 3 BGB) resultieren, nicht bedarfsprägend, sondern auf einen ohne sie ermittelten Bedarf anzurechnen2; das erscheint zweifelhaft.
V. Erste Schritte zur Durchführung des Versorgungsausgleichs 20 Um einen Versorgungsausgleich durchzuführen, sind zunächst drei Schritte nötig. Die einzubeziehenden Anrechte müssen ermittelt, ihr Ehezeitanteil muss berechnet und dessen Ausgleichswert muss bestimmt werden. Hiervon ausgehend hat sich vor der Durchführung des Versorgungsausgleichs die Prüfung auf folgende Punkte zu erstrecken: – Sind alle Anrechte beider Parteien erfasst? – Gehen die erteilten Auskünfte von einer zutreffenden Ehezeit aus? – Sind in der Auskunft des Versorgungsträgers die wertbildenden Faktoren (Höhe und Dauer der Beitragszahlungen oder dem gleichstehende beitragsrelevante Faktoren; Leistungsspektrum; Absicherung der Leistungen) zutreffend und vollständig erfasst? – Sind die Regelungen zur Wertermittlung und zur Ermittlung des Ehezeitanteils (§§ 39–46 VersAusglG) zutreffend angewandt?
1 Einzelheiten bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 24 ff. 2 BGH v. 5.2.2003 – XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848 (852) = FamRB 2003, 205, FamRB 2003, 206 und FamRB 2003, 220; dazu s. Erman/Norpoth, § 1587 BGB Rn. 11 aE.
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– Unterliegt die Berechnung des Ausgleichswerts oder des korrespondierenden Kapitalwerts keinen Fehlern? 1. Auszugleichende Anrechte Was die reine Erfassung der in den Versorgungsausgleich einzubeziehenden Anrechte und die Ermittlung ihres Ehezeitanteils betrifft, ergeben sich durch die Reform nur wenige Veränderungen, so dass sich der Praktiker in diesem Bereich auch nach der Neuregelung weitgehend auf vertrautem Gelände bewegt.
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In den Versorgungsausgleich fallen – neben der „Positivliste“ des § 2 22 Abs. 1 VersAusglG, die nur Regelbeispielcharakter hat – Anrechte dann, wenn sie durch Arbeit oder Vermögen1 geschaffen oder aufrechterhalten worden sind, § 2 Abs. 2 Nr. 1 VersAusglG. Dies gilt nicht für Renten mit Entschädigungscharakter wie die Renten aus der gesetzlichen Unfallversicherung, private Schadenersatzrenten oder Leistungen des sozialen Entschädigungsrechts wie der Kriegsopferversorgung. Hingegen fällt eine Rente aus einer vom Versicherten selbst abgeschlossenen privaten Unfall- oder Berufsunfähigkeits(zusatz)versicherung dann in den Versorgungsausgleich, wenn während der Ehezeit der Versicherungsfall eingetreten ist und die daraufhin erbrachten Versicherungsleistungen auf in der Ehezeit geleisteten Beiträgen beruhen2. Ebenfalls nicht in den Versorgungsausgleich fallen Anrechte, die nicht durch eigene Leistung erworben werden, wie die Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung nach §§ 41 ff. SGB XII. Voraussetzung für die Einbeziehung eines Anrechts in den Versorgungs- 23 ausgleich ist ferner, dass es der Alters- oder Invaliditätssicherung dient (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG). Das ist selbst bei einem Anspruch auf monatliche Rentenleistungen dann nicht der Fall, wenn die Leistungen schon – unabhängig von der Erwerbs(un)fähigkeit – mit dem 43. Lebensjahr beginnen3. Bei einer Lebensversicherung kann der Sicherungszweck zweifelhaft sein, wenn sie auf das Leben eines Kindes abgeschlossen wird4. 1 Vermögen kann auch voreheliches Vermögen sein: BGH v. 30.3.2011 – XII ZB 54/09, FuR 2011, 475; BGH v. 18.1.2012 – XII ZB 213/11, FamRZ 2012, 434 m. krit. Anm. Bergschneider, FamRZ 2012, 435 f.; vgl. auch Wick, FuR 2011, 366 mwN. 2 Missverständlich insoweit BT-Drucks. 16/10144, 47, wonach wohl die aus der Haftpflichtversicherung eines Schädigers geleistete Unfallrente gemeint sein mag; vgl. BGH v. 7.10.1992 – XII ZB 132/90, FamRZ 1993, 299 ff.; OLG Brandenburg v. 21.10.2002 – 10 UF 77/02, FamRZ 2004, 27; OLG Koblenz v. 14.12.2000 – 15 UF 54/00, FamRZ 2001, 995 ff. 3 BGH v. 14.3.2007 – XII ZB 36/05, FamRZ 2007, 889 = FamRB 2007, 294; vgl. Borth, FamRZ 2008, 2069. 4 Vgl. OLG Zweibrücken v. 4.2.2011 – 2 UF 82/10, FamRZ 2011, 1228 = FamRB 2011, 170; dazu krit. Erman/Norpoth, § 46 VersAusglG Rn. 4. Näher dazu s. unten Rn. 187.
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24 Schließlich muss das Anrecht grundsätzlich auf eine Rente gerichtet sein (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG). Insoweit erweitert sich der Anwendungsbereich des neuen Versorgungsausgleichsrechts allerdings. Er ist jetzt auf Anrechte nach dem Betriebsrentengesetz und nach dem Altersvorsorge-Zertifizierungsgesetz (Riesterrenten) auch dann anwendbar, wenn als Leistung keine Rente, sondern eine einmalige Kapitalzahlung vorgesehen ist (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG1). Die Trennlinie zum Zugewinnausgleich verschiebt sich insoweit also. 25 Erfasst werden auch Anrechte bei ausländischen, zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Versorgungsträgern. Für diese Anrechte gelten allerdings hinsichtlich der Ausgleichsform Besonderheiten2. 26 Für die Erfassung von Anrechten ist der Grad der Verfestigung nicht wesentlich; es kommt nicht darauf an, dass eine hierfür erforderliche Wartezeit oder Unverfallbarkeitsvoraussetzung erfüllt ist, § 2 Abs. 3 VersAusglG (vgl. § 1587a Abs. 7 S. 1 aF BGB). Noch verfallbare oder nach Grund oder Höhe nicht bestimmbare Anrechte der betrieblichen Altersversorgung (oder „betriebsähnlichen“ Versorgung, etwa bei Gesellschafter-Geschäftsführern) werden allerdings nicht bei Scheidung ausgeglichen, sondern sind dem Ausgleich nach Scheidung vorbehalten (§ 19 Abs. 2 Nr. 1 VersAusglG). 26a
Nach Ansicht des BGH zum alten Recht3 sind auch Anrechte in den Versorgungsausgleich einzubeziehen, die zur Sicherung einer Forderung abgetreten sind. Der BGH geht nämlich davon aus, dass es regelmäßig nicht zur Verwertung der Sicherheit, sondern – nach anderweitiger Erfüllung der gesicherten Forderung – zu deren Rückübertragung kommt. Diese wirtschaftliche Betrachtungsweise berücksichtigt aber nicht, dass auch eine Sicherungsabtretung eine Abtretung ist; der Ausgleichspflichtige ist nach der Sicherungsabtretung nicht mehr Inhaber des Anrechts selbst, sondern allenfalls Inhaber eines bedingten Rückübertragungsanspruchs; dieser fällt aber nicht in den Versorgungsausgleich. Außerdem ergeben sich bei dem Versuch, das abgetretene Anrecht unabhängig von der gesicherten Forderung zu bewerten, große Probleme. Aus diesen Gründen sind Anrechte, die zum Stichtag Ehezeitende oder zum Zeitpunkt der Entscheidung abgetreten, verpfändet oder gepfändet sind, nicht in den Versorgungsausgleich einzubeziehen4.
1 Ob auch (betriebliche) Anrechte auf Sachleistungen wie Kohledeputate oder Wohnrechte in den Versorgungsausgleich fallen, ist str.; s. Wick, FuR 2011, 366; Erman/Norpoth, § 2 VersAusglG Rn. 9. 2 Vgl. § 19 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 VersAusglG. 3 BGH v. 6.4.2011 – XII ZB 8908, FamRZ 2011, 963 = FamRB 2011, 207. 4 S. hierzu ausführlich Kemper/Norpoth, FamRB 2011, 284 ff.; a.A. OLG Naumburg v. 8.8.2011 – 3 UF 116/11, FamFR 2012, 15 mwN; KG v. 6.2.2012 – 17 UF 272/11, FamRB 2012, 140 ff.
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Rn. 31
Kap. 11
2. Ermittlung des Ehezeitanteils Von den einzubeziehenden Anrechten unterfällt nur der Teil dem Versor- 27 gungsausgleich, der in der Ehezeit erworben worden ist. Ehezeit ist die Zeit vom ersten Tag des Monats der Eheschließung bis zum letzten Tag des Monats, welcher der Zustellung des Scheidungsantrags vorausgeht (§ 3 Abs. 1 VersAuslgG). Bei einer kurzen Ehezeit von bis zu zwei Jahren findet nach § 3 Abs. 3 VersAusglG ein Versorgungsausgleich nur auf Antrag statt. Maßgeblicher Bewertungszeitpunkt ist das Ende der Ehezeit. Nachträg- 28 liche rechtliche oder tatsächliche Veränderungen nach dem Ende der Ehezeit sind zu berücksichtigen, wenn sie sich auf den Ehezeitanteil auswirken (§ 5 Abs. 2 VersAusglG). Zu der Frage, welche Veränderungen berücksichtigungsfähig sind, hat sich eine nicht sehr übersichtliche Kasuistik entwickelt1. Der BGH hält allgemein wirkende Veränderungen grds. für beachtlich, individuelle dagegen nicht. Eine nach dem Ehezeitende erfolgte Beförderung eines Beamten2 ist nach h.M. nicht zu berücksichtigen, wohl aber beispielsweise eine rückwirkende Besoldungserhöhung. Die vorzeitige Inanspruchnahme einer Rente/Versorgung führt regelmäßig zu deren Absenkung; erfolgt sie nach dem Ehezeitende, ist sie nicht zu berücksichtigen3. Zur Berechnung des Ehezeitanteils eines Anrechts stellte das frühere 29 Recht (§ 1587a aF BGB) eine scheinbar verwirrende Vielzahl von Berechnungswegen zur Verfügung. Das geltende Recht schafft hier deutlich mehr Übersicht und stellt klar, dass in Abhängigkeit von der Art der Versorgung nicht mehr als zwei Berechnungswege möglich sind: Die unmittelbare Bewertung (§ 39 VersAusglG) hat Vorrang. Sie kommt 30 bei allen Anrechten zur Anwendung, deren Anwartschaftserwerb zeitabschnittweise zugeordnet werden kann. Hier werden zur Berechnung des Ehezeitanteils unmittelbar das in der Ehezeit erworbene Deckungskapital, die erworbenen Entgeltpunkte, Rentenbausteine, Beiträge oder die in die Ehezeit fallende Dauer der Zugehörigkeit zum Versorgungssystem herangezogen. Hauptanwendungsfall ist die gesetzliche Rentenversicherung, für die allerdings zusätzliche Sonderregelungen nach § 43 VersAusglG existieren. Die zeitratierliche Bewertung (§ 40 VersAusglG) kommt dort zur Anwendung, wo der Anwartschaftserwerb nicht zeitabschnittsweise zugeordnet werden kann. In diesen Fällen muss ein Zeitverhältnis ermittelt werden. 1 Vgl. Erman/Norpoth, § 5 VersAusglG Rn. 3 ff. 2 BGH v. 14.10.1998 – XII ZB 174/94, FamRZ 1999, 157 f.; vgl. Borth, FamRZ 2008, 2077 unter Ziff. 6 zum schuldrechtlichen Versorgungsausgleich alten Rechts mwN. 3 So jetzt ausdrücklich BGH v. 14.12.2011 – XII ZB 23/08, FamRZ 2012, 769 f., zum Versorgungsabschlag in der Beamtenversorgung; Einzelheiten: s. Rn. 61 ff. und 111.
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1167
31
Kap. 11 Rn. 32
Versorgungsausgleich
Gegenstand ist das bis zur maßgeblichen Altersgrenze maximal erreichbare Anrecht (bei Ansatz der zum Ehezeitende geltenden Bemessungsgrundlagen). Der Ehezeitanteil ist nach dem Anteil der in die Ehezeit fallenden anwartschaftsbegründenden Zeit zur Gesamtzeit zu errechnen. Als Hauptanwendungsfall gilt die Beamtenversorgung, für die in § 44 VersAusglG allerdings ebenfalls zusätzliche Sonderregelungen gelten. 32 Weitere Sonderregelungen für die Ermittlung des Ehezeitanteils gelten für Betriebsrenten nach dem BetrAVG, § 45 VersAusglG, und für Anrechte aus privaten Versicherungsverträgen (§ 46 VersAusglG). Die Einzelheiten werden zusammen mit den jeweiligen Anrechten dargestellt. 33 Denkbar sind auch Mischformen von Versorgungsanrechten, deren Ehezeitanteil teilweise durch unmittelbare Bewertung ermittelt werden kann, teilweise aber auch zeitratierlich zu ermitteln ist. Bekanntes Beispiel ist die Zusatzversorgung des öffentlichen/kirchlichen Dienstes, die zum 1.1.2002 von einem Gesamtversorgungsmodell auf ein Punktemodell umgestellt worden ist. Der Ehezeitanteil der Anrechte seit dem 1.1.2002 kann daher unmittelbar ermittelt werden, während der Ehezeitanteil der Startgutschrift für die bis zum 31.12.2001 erworbenen Anwartschaften zeitratierlich ermittelt werden muss1. 34 Für die zum Ehezeitende bereits laufenden Versorgungen stellt § 41 VersAusglG klar, dass ihr Ehezeitanteil nach denselben Berechnungsmethoden zu ermitteln ist wie bei den Anwartschaften auf eine Versorgung. 35 Schließlich enthält § 42 VersAusglG eine Generalklausel für Billigkeitserwägungen, wenn weder die unmittelbare noch die zeitratierliche Methode eine Bewertung des Ehezeitanteils ermöglicht, die dem Halbteilungsgrundsatz entspricht. Der Anwendungsbereich des § 42 VersAusglG geht damit weiter als derjenige der Vorgängervorschrift § 1578a Abs. 5 aF BGB, die nur dort angewandt werden konnte, wo eine Versorgung sich nach anderen als den gesetzlich geregelten Bewertungsmaßstäben richtete. Allerdings führt der Maßstab der Billigkeit nicht zur Beliebigkeit; auch bei einer Korrektur eines als unbillig empfundenen Ergebnisses sind versicherungsmathematische Grundsätze und – soweit es möglich ist – auch die Grundsätze der unmittelbaren und der zeitratierlichen Bewertung anzuwenden2.
1 Vgl. BGH v. 25.4.2007 – XII ZB 206/06, FamRZ 2007, 1084 ff.; Beispiel für Mischform in der berufsständischen Versorgung: BGH v. 18.5.2011 – XII ZB 127/08, FamRZ 2011, 1214 (1215) Tz. 11 (Rechtsanwaltsversorgung Rheinland-Pfalz) = FamRB 2011, 237. 2 BT-Drucks. 16/10144, 81. Näher zum Anwendungsbereich mit Fallgruppen Erman/Norpoth, § 42 VersAusglG Rn. 4 ff.
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Versorgungsausgleich
Rn. 39
Kap. 11
3. Ausgleichswert und korrespondierender Kapitalwert Die Versorgungsträger müssen auch einen Vorschlag zur Bestimmung des 36 Ausgleichswerts unterbreiten. Ausgleichswert ist der Wert der zu übertragenden Anwartschaft (§§ 5 Abs. 3, 10 Abs. 1 VersAusglG). Dies kann ein Rentenbetrag, ein Kapitalbetrag oder eine sonstige für das Anrecht maßgebliche Bezugsgröße (zB Entgeltpunkte in der GRV) sein. Handelt es sich bei dem Ausgleichswert nicht um einen Kapitalwert (etwa den Rückkaufswert einer Lebensversicherung, vgl. § 46 VersAusglG i.V.m. § 169 VVG), so muss der Versorgungsträger im Verfahren über den Versorgungsausgleich bei Scheidung zusätzlich einen diesem Ausgleichswert entsprechenden, korrespondierenden Kapitalwert ausweisen (§ 5 Abs. 3 i.V.m. § 47 VersAusglG). Dieser entspricht dem „Einkaufspreis“ des auszugleichenden Anrechts bei dem betroffenen Versorgungsträger, § 47 Abs. 2 VersAusglG. Für den Wertausgleich nach Scheidung (früher: schuldrechtlicher Versorgungsausgleich) spielt der Kapitalwert eines Anrechts dagegen regelmäßig keine Rolle; deshalb sieht § 5 Abs. 4 VersAusglG vor, dass in diesbezüglichen Verfahren grundsätzlich nur der Rentenwert zu berechnen ist. a) Ermittlung des Kapitalwerts Die Ermittlung des Kapitalwerts erfolgt, soweit das für ein Anrecht gel- 37 tende Rechtssystem Bewertungsregeln enthält, nach diesen Regeln. Solche Regeln hält für Anwartschaften auf Betriebsrenten § 4 Abs. 5 BetrAVG vor, der nur für Anwartschaften auf eine Zusatzversorgung des öffentlichen/kirchlichen Dienstes nicht anwendbar ist (§ 47 Abs. 4 VersAusglG); für die gesetzliche Rentenversicherung ergibt sich der Rechenweg für die Umrechnung einer Rente in einen Barwert aus § 187/§ 281a SGB VI. Nach diesem Rechenweg sind auch Anwartschaften von Beamten und Richtern umzurechnen (§ 47 Abs. 3 VersAusglG). In allen übrigen Fällen ist der Kapitalwert als Barwert nach versicherungsmathematischen Grundsätzen zu errechnen (§ 47 Abs. 5 VersAusglG). Der Kapitalwert einer privaten Rente ist der Betrag, der heute eingezahlt 38 werden muss, um die versprochenen Leistungen (nach Abzug der Kosten des Versorgungsträgers) unter Berücksichtigung einer garantierten Verzinsung erbringen zu können (s. § 169 VVG). Zugrunde liegt eine vorsichtig kalkulierte Wahrscheinlichkeitsberechnung für die Zeitpunkte, zu denen die versicherten Risiken (Tod, Invalidität) bei der versicherten Gruppe voraussichtlich eintreten werden. Der Gesetzgeber hat insbesondere die Träger der betrieblichen Altersver- 39 sorgung dazu ermutigt, bei der Anrechtsberechnung die Vorgaben des § 253 Abs. 2 HGB idF des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG, BGBl. I 2009, 1102) hinsichtlich des Rechnungszinses für Pensionsrückstellungen zu verwenden. Dieser nach Maßgabe einer Rechtsverordnung ermittelte und monatlich von der Deutschen Bundesbank bekannt geNorpoth
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Kap. 11 Rn. 40
Versorgungsausgleich
gebene Rechnungszins von derzeit rund 5 % entspricht aber nicht dem real zu erwartenden Zinsertrag einer Kapitalanlage; er wird bei der Berechnung von sonstigen Anrechten der Altersvorsorge deshalb auch nicht verwendet. Das kann zu ganz erheblichen Wertverzerrungen führen1. Die so ermittelten Kapitalwerte benötigen daher bei einem Wertvergleich oder bei einer externen Teilung ggf. einer Korrektur (näher dazu s. unten Rn. 42, 168a). b) Funktion des Kapitalwerts 40 Nach der ursprünglichen Konzeption des neuen Rechts sollte die Vergleichbarkeit von Anrechten, die das Hauptproblem des alten Rechts war, über diesen Kapitalwert herbeigeführt werden, soweit sie im neuen Recht noch erforderlich ist. Das ist dort der Fall, wo – im Ganzen oder in Teilen – eine Gesamtbewertung noch benötigt wird2, also dann, wenn – die Wirksamkeit eines vertraglichen Ausschlusses des Versorgungsausgleichs (§ 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 VersAusglG) vom Umfang des darin enthaltenen Verzichts einer Partei abhängt, – wegen der Einbeziehung von ausländischen Anrechten ein – teilweises – Absehen vom Wertausgleich bei Scheidung nach § 19 Abs. 3 VersAusglG in Betracht kommt, – ein Ausschluss des Versorgungsausgleichs nach § 27 VersAusglG zu erwägen ist, – ein Ehegatte nach Rechtskraft des Scheidungsurteils, aber vor Durchführung des Versorgungsausgleichs bei Scheidung stirbt (§ 31 Abs. 2 VersAusglG), – Anrechte gleicher Art nicht ausgeglichen werden sollen, weil die Differenz dieser beiderseitigen Anrechte gering ist (§ 18 Abs. 1 VersAusglG). 41 Ursprünglich sah der Gesetzentwurf für die letzte Fallgruppe sogar ein vollständiges Absehen vom Versorgungsausgleich vor, wenn die Unterschiede zwischen den beiderseitigen Anrechten auf Kapitalwertbasis gering waren3. Im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens kristallisierte sich dann aber die Erkenntnis heraus, dass auch der (korrespondierende) Kapitalwert eine solche Vergleichbarkeit von Anrechten unterschiedlicher Herkunft nicht – jedenfalls nicht vollständig – herstellen kann4. Er entspricht dem Einkaufspreis bei dem Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person. Unterschiedliche Versorgungsträger bieten aber für denselben Kapitalwert unterschiedliche Leistungen. Neben dem reinen 1 Vgl. Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 327 mwN Fn. 12; Bergner, FamFR 2011, 314 ff. mit Lösungsvorschlägen; s. dazu auch OLG Hamm v. 6.2.2012 – 12 UF 207/10, FamFR 2012, 184. 2 Die Aufzählung in § 47 Abs. 6 VersAusglG ist insoweit unvollständig. 3 So noch § 18 Abs. 1 VersAusglG in einer nicht Gesetz gewordenen Fassung: BTDrucks. 16/10144, 11, 62. 4 An diesem Versuch war ja bereits das alte Recht gescheitert.
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Versorgungsausgleich
Kap. 11
Rn. 42
Kapitalwert sollen für die Bewertung eines Anrechts nach § 47 Abs. 6 VersAusglG andere wertbildende Faktoren mit berücksichtigt werden: – Wird nur eine reine Altersversorgung gewährt oder erstreckt sich der Schutz des Anrechts auch auf Invaliditäts- und Hinterbliebenenversorgung? – Findet (in der Anwartschaftsphase und/oder in der Leistungsphase) ein Inflationsausgleich statt (Stichwort „Dynamisierung“)? – Welches Finanzierungsverfahren liegt zugrunde (zB sicheres Kapitaldeckungsverfahren, unsichere Umlage- oder Steuerfinanzierung)? – Ausgestaltung des Anrechts hinsichtlich weiterer wertbildender Faktoren (Insolvenzschutz, Teilkapitalisierungsrechte)1? Vor diesem Hintergrund wird im geltenden Recht die Funktion des Kapital- 42 werts als Hilfsgröße stärker in den Vordergrund gerückt. In seiner derzeitigen Gestalt taugt er nur eingeschränkt für den Vergleich von Anrechten2. In der gesetzlichen Rentenversicherung und Beamtenversorgung errechnet sich der Kapitalwert zB unabhängig vom Alter, was gerade bei den Anrechten jüngerer Personen (mangels Abzinsung auf das Ehezeitende) zu unverhältnismäßig hohen Kapitalwerten führen kann. Der gegenteilige Effekt kann bei betrieblichen Anrechten in den sog. internen Durchführungswegen (Direktzusage, Unterstützungskasse3) eintreten, wenn sie mit einem nicht marktentsprechenden, hohen Zinssatz abgezinst werden. Dies soll – mithilfe der von Hauß4 für die Plausibilitätskontrolle von Anrechtsbewertungen zur Verfügung gestellten Tabellen – folgendes Beispiel zeigen: Beispiel: In der Ehezeit, die zehn Jahre gedauert hat, hat Ehefrau E ein gesetzliches Anrecht und ein betriebliches Anrecht aus einer Direktzusage erworben. Die Ehezeit endet am 31.8.2010; zu diesem Zeitpunkt ist die E 40 Jahre alt. ges. Rentenanrecht (Ehezeitanteil in Entgeltpunkten = EP): Ausgleichswert: entspricht monatlicher Rente (9 EP × aktueller Rentenwert bei Ehezeitende 27,20 Euro): korrespondierender Kapitalwert: Umrechnungsfaktor zum Ehezeitende (dazu s. unten Rn. 68): daraus errechnet sich als Kapitalwert:
18 EP 9 EP 244,80 Euro 6368,597 57 317,373 Euro
Wert des Anrechts versicherungsmathematisch (mit Tabellen von Hauß): Barwertfaktor für 40-jährige Frau bei Rentenbeginn 67: Erhöhung um 23 % wegen Invaliditäts- und Hinterbliebenenschutz: Verminderung um Risiko des Vorversterbens (bis zum 67. Lebensjahr): ergibt Barwertfaktor: 1 2 3 4
23 28,29 0,909 25,71561
Vgl. BT-Drucks. 16/11903, 112. Lösungsvorschlag bei Erman/Norpoth, § 47 VersAusglG Rn. 15. Näher dazu s. unten Rn. 168a. Hauß, FamRB 2011, 156 ff.
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Kap. 11 Rn. 43
Versorgungsausgleich
Geschätzter marktgerechter Rechnungszins einer privaten Lebensversicherung (3,5 %, um 1 % vermindert wg. Anwartschafts- und Leistungsdynamik): Daraus folgender Abzinsungsfaktor: Rentenfaktor (= Barwertfaktor × Abzinsungsfaktor): Wert der Versorgung zum Berechnungszeitpunkt (= Rente × 12 Monate × Rentenfaktor): Betriebsrentenanrecht der Ehefrau, Direktzusage: Ehezeitanteil, Kapitalwert, (verfallbare Anrechtsdynamik von ca. 1 % ist unberücksichtigt geblieben): Ausgleichswert, Kapitalwert: Rentenbeginn 67, Rechnungszins = 5,25 % gemittelter Abzinsungsfaktor (0,268 – 0,236 = 0,032/2 = 0,016 + 0,236 =) realistischer Abzinsungfaktor bei Annahme eines Rechnungszinses von 3,5 %, ebenfalls ohne Anrechtsdynamik: ergibt bereinigten Kapitalwert (Ausgleichswert!):
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2,50 % 0,513 13,19 38 753,14 Euro
30 000 Euro 15 000 Euro 0,252 0,395 23 511,90 Euro
Wichtig: Über den Kapitalwert können gleichartige Anrechte verglichen werden; ansonsten ist der Kapitalwert von deutlich geringerer Aussagekraft. Um Anrechte möglichst zutreffend bewerten und vergleichen zu können, werden neben dem Kapitalwert Auskünfte zu den oben genannten wertbildenden Faktoren (ua. Zinssatz bei der Barwertberechnung, s. obigen Beispielsfall) benötigt. Außerdem muss das Berechnungsverfahren zu dem mitgeteilten Kapitalwert Aufschluss darüber geben, ob und in welcher Form diese wertbildenden Faktoren in die Berechnung bereits eingeflossen sind.
VI. Die auszugleichenden Anrechte und ihre Wertermittlung 1. Gesetzliche Rentenversicherung 43 Die gesetzliche Rentenversicherung ist im SGB VI geregelt. Sie ist die wichtigste Stütze der Altersvorsorge in der Bundesrepublik Deutschland. Das spiegelt sich in der Vielzahl von Fällen wider, die eine Rentenversicherungspflicht und daraus resultierend einen Anspruch auf eine Rente auslösen. In der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es nach der Organisationsreform v. 9.12.20041 nur noch den Unterschied zwischen allgemeiner und knappschaftlicher Rentenversicherung. Als zuständige, jeweils rechtlich selbständige Versorgungsträger existieren die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund (ehemals Bundesversicherungsanstalt für Angestellte = BfA), die ehemaligen Landesversicherungsanstalten (LVA) als regionale Versorgungsträger (jetzt zB DRV Westfalen) und die DRV Knappschaft Bahn See2.
1 BGBl. I, 3242. 2 Vgl. Borth, FamRZ 2005, 1885 ff.; Dünn/Strotmeyer, FPR 2011, 490 f.
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Versorgungsausgleich
Rn. 47
Kap. 11
Die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung werden durch die 44 Beiträge der Versicherten finanziert (§§ 157 ff. SGB VI), welche bis zur Beitragsbemessungsgrenze1 auf die sozialversicherungspflichtigen Einkünfte der Versicherten erhoben werden. Dabei gilt das Umlageverfahren (§ 153 SGB VI): Die Einnahmen des laufenden Jahres werden für die Renten des laufenden Jahres verwendet. Es existiert kein Kapitalstock, mit Ausnahme einer Nachhaltigkeitsrücklage. Weil die gesetzliche Rentenversicherung zudem versicherungsfremde Leistungen erbringt (zB Renten für Kindererziehungszeiten, denen keine Beitragszahlungen gegenüberstehen), ist sie zur Finanzierung auf Zuschüsse des Bundes (§ 213 SGB VI) angewiesen. Die gesetzliche Rentenversicherung erbringt Leistungen zur Rehabilitation (§§ 9 ff. SGBVI) und gewährt Renten in Form von Alters-, Hinterbliebenen- und Invaliditätsrenten (§§ 33 ff. SGB VI).
45
a) Versicherter Personenkreis Aus der Praxis ist bekannt, dass im Scheidungsverbund jedes Versor- 46 gungsausgleichsverfahren mit der Aufklärung möglicher Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung eingeleitet wird. Von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht ist ein derart großer Personenkreis (§§ 1 ff. SGB VI) betroffen, dass nahezu jeder einmal Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung erworben haben kann. Nicht nur abhängig Beschäftigte (Arbeiter, Angestellte), sondern auch viele Selbständige (zB eingetragene Handwerker, Selbständige, wenn sie im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber arbeiten und keinen Arbeitnehmer mehr als geringfügig beschäftigen) sind Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung. Erfasst sind aber auch besondere Personengruppen (zB Auszubildende, Künstler und Publizisten, Bezieher von Krankengeld, Arbeitslosengeld und sonstiger Sozialversicherungsleistungen, Seelotsen, Küstenschiffer und Küstenfischer, Privatlehrer, Personen, die Pflegeleistungen nach dem SGB XI erbringen).
Û
Praxistipp: An eine Anwartschaft auf eine gesetzliche Rentenversicherung ist deshalb immer zu denken, etwa auch bei Beamten/Richtern, weil sie vor ihrer Verbeamtung abhängig beschäftigt gewesen sein können.
Ausnahmen von der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung sind in den §§ 5 f. SGB VI geregelt. Wichtigste Ausnahmen sind Beamte/Richter auf Lebenszeit, Zeit oder auf Probe, Berufssoldaten oder 1 Im Jahr 2012 liegt die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung bei 67 200 Euro in den alten Bundesländern und bei 57 600 Euro in den neuen Bundesländern. Andere Beitragsbemessungsgrenzen gelten für die knappschaftliche Rentenversicherung sowie für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung.
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Kap. 11 Rn. 48
Versorgungsausgleich
Soldaten auf Zeit sowie Beamte auf Widerruf im Vorbereitungsdienst sowie Beschäftigte von Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, die Anspruch auf eine Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen oder entsprechenden kirchenrechtlichen Regelungen haben, geringfügig Beschäftigte und auf Antrag versicherungsfreie Personen, wenn der Arbeitgeber eine der Beamtenversorgung gleichende lebenslange Versorgung zugesichert hat, oder die sog. Freiberufler, wenn sie Mitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung sind, wie angestellte oder selbständige Ärzte, Rechtsanwälte und Architekten. b) Ermittlung der Anrechte 48 Zur Ermittlung der Anrechte in der gesetzlichen Rentenversicherung sind die vom Amtsgericht den Parteien übersandten Formulare, nämlich der Fragebogen V 10, der Kontenklärungsantrag und die Bruttoentgeltbescheinigung des Arbeitgebers für das Jahr des Ehezeitendes auszufüllen. Auf dieser Grundlage erteilt der Rentenversicherungsträger eine Auskunft über die insgesamt bis zum Ehezeitende erworbenen Anrechte und auf die nur in der Ehezeit erworbenen Anrechte, die folgende Abschnitte enthält: – Versicherungsverlauf – Entgeltpunkte für Beitragszeiten – Entgeltpunkte für beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten – Entgeltpunkte für den Versorgungsausgleich 49 Die Kontrolle dieser Auskunft beginnt damit, dass der Versicherungsverlauf auf Vollständigkeit geprüft wird. In ihm sind alle Zeiten aufgelistet, aus denen Anwartschaften auf eine Rente erwachsen. Größere Versicherungslücken geben Anlass zur Nachprüfung, zB ob Kindererziehungszeiten bereits erfasst worden sind. aa) Zusammensetzung des Rentenanrechts 50 Für die Höhe des jeweiligen Rentenanrechts sind nicht allein geleistete Beiträge, sondern zurückgelegte Zeiten von Bedeutung. Dabei geht es zwar auch, aber eben nicht allein darum, die gesetzlich vorgesehenen Wartezeiten (§§ 50 ff. SGB VI; dazu s. Rn. 66, 71) für die einzelnen Renten zu erfüllen. Die Rente wird aus Beitragszeiten, beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten errechnet. Die Terminologie ist reichhaltig und verwirrend; in der Sache geht es darum, dass auch Anwartschaften für Zeiten erworben werden, für die keine Beiträge entrichtet werden müssen. Die wichtigsten und bekanntesten Beispiele hierfür sind Ausbildungszeiten und Kindererziehungszeiten.
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Versorgungsausgleich
Rn. 54
Kap. 11
(1) Beitragszeiten Im „Normalfall“ einer abhängigen Beschäftigung bestimmt sich die Höhe 51 der zu leistenden Beiträge nach dem Bruttoeinkommen des Beschäftigten, welches bis zur Beitragsbemessungsgrenze herangezogen wird. Den Rentenversicherungsbeitrag (im Jahr 2012: 19,6 % des herangezogenen Bruttoeinkommens) leisten Arbeitgeber und Arbeitnehmer hälftig. In der Auskunft des Rentenversicherungsträgers werden die geleisteten Beiträge den Zeiten, für die sie geleistet worden sind, zugeordnet und dementsprechend chronologisch aufgelistet. Die zeitliche Zuordnung geleisteter Beiträge ist für die spätere Ermittlung von Entgeltpunkten von Bedeutung (dazu s. Rn. 58). (2) Sonstige Zeiten Die sonstigen Zeiten sind dadurch gekennzeichnet, dass sie aus sozial- 52 politischen Gründen aufgewertet werden, indem ihnen der Gegenwert von nicht gezahlten Beiträgen gutgeschrieben wird. Zur verwirrenden Terminologie in der gesetzlichen Rentenversicherung 53 gehört, dass auch die Kindererziehungszeiten als Beitragszeiten gelten, obwohl für sie keine Beiträge zu erbringen sind, sondern als gezahlt gelten (§§ 55, 56 Abs. 1 S. 1 SGB VI)1. Werden während Kindererziehungszeiten zusätzlich Beiträge, zB aus abhängiger Beschäftigung, geleistet, werden die Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten und die Entgeltpunkte aus der Beschäftigung bis zu einer Höchstgrenze zusammengerechnet2. Für ab 1992 geborene Kinder werden drei Jahre als Kindererziehungszeiten berücksichtigt, für Geburten davor nur 12 Monate (§§ 249 Abs. 1, 56 Abs. 1 SGB VI)3. Es werden idR nur Zeiten der Erziehung im Inland berücksichtigt; eine Ausnahme gilt für im Ausland Wohnende, die unmittelbar vor der Geburt oder während der Kindererziehung arbeiten und Pflichtbeitragszeiten in der deutschen Rentenversicherung zurücklegen (weitere Einzelheiten: § 56 Abs. 3 SGB VI). Für die Erziehung von Kindern ab dem 3. Lebensjahr bis zum 10. Lebensjahr (bei Pflege von pflegebedürftigen Kindern sogar bis zum 18. Lebensjahr) gibt es eine weitere privilegierte Phase nach § 57 SGB VI (sog. Berücksichtigungszeit), die nach Erwerb einer Anwartschaft von 25 Jahren mit rentenrechtlichen Zeiten durch die Zurechnung weiterer Entgeltpunkte nach § 70 Abs. 3a SGB VI aufgewertet werden kann und auch darüber hinaus bei der Rentenberechnung privilegiert ist (dazu s. Rn. 59).
1 Auf diese Weise können mit Hilfe von Kindererziehungszeiten die besonderen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI (sog. „3/5-Belegung“) erfüllt werden. 2 Vgl. hierzu Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 314. 3 Eingehend hierzu Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 313 f.
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1175
54
Kap. 11 Rn. 55
Versorgungsausgleich
55 Hinzu können sog. Anrechnungszeiten nach dem Katalog des § 58 SGB VI treten. Als Anrechnungszeiten werden Zeiten ohne Beitragszahlung rentenrechtlich aufgewertet, in denen eine beitragspflichtige Beschäftigung aus sozial anerkannten Gründen nicht ausgeübt werden kann: Krankheit, Rehabilitation, Arbeitslosigkeit oder Ausbildungssuche, Ausbildung (maximal drei Jahre, § 74 S. 3 SGB VI), Bezug einer Erwerbsminderungsrente. 56 Wer eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bezieht, erwirbt bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres Zurechnungszeiten nach § 59 SGB VI. 57 Wer während Anrechnungszeiten oder Zurechnungszeiten oder sog. Ersatzzeiten (§ 250 SGB VI) zugleich Beiträge aus einer Beschäftigung leistet, erwirbt hierdurch sog. beitragsgeminderte Zeiten, § 54 Abs. 3 SGB VI. bb) Umrechnung in Entgeltpunkte 58 Die geleisteten Beiträge aus Beitragszeiten werden in Entgeltpunkte umgerechnet, § 63 Abs. 2 SGB VI. Zweck der Umrechnung ist es, eine Dynamisierung (Inflationsausgleich) der Rente zu ermöglichen. Die Anzahl der Entgeltpunkte wird im Verhältnis zu dem für das Jahr des Erwerbs gültigen Einkommensrahmen ermittelt. Die Höhe der aktuellen Rente oder Anwartschaft ermittelt sich dagegen aus einer Multiplikation der erworbenen Entgeltpunkte (ua.) mit dem sog. aktuellen Rentenwert (§ 63 Abs. 7 SGB VI), welcher nach § 68 SGB VI jährlich neu zum 1. Juli ermittelt wird und (gebremst durch einen demographischen Faktor, § 68 Abs. 4 SGB VI) die jeweilige Einkommensentwicklung in die Rentenberechnung mit einbringt. So wird eine Aufwertung der früher geleisteten Beiträge erreicht, die wegen der Einkommensentwicklung der Folgejahre sonst zunehmend erheblich an Wertigkeit verlieren würden. 59 Die Bewertung der sonstigen Zeiten ohne oder mit verminderter Beitragszahlung(spflicht) erfolgt über die Zuordnung von Entgeltpunkten in Abhängigkeit von den in Beitragszeiten geleisteten Beiträgen in dem belegungsfähigen Gesamtzeitraum (sog. Beitragsdichtemodell, § 71 Abs. 1 SGB VI1). Dabei werden eine Grundbewertung nach näherer Maßgabe des § 72 SGB VI und eine Vergleichsbewertung nach § 73 SGB VI durchgeführt. Für diese Berechnung werden Berücksichtigungszeiten (s. Rn. 54) wie Kindererziehungszeiten (s. Rn. 53) behandelt, § 71 Abs. 3 Nr. 1 SGB VI. Wieviel Entgeltpunkte eine Person für beitragsfreie oder -geminderte Zeiten erwirbt, hängt also davon ab, wie lange sie im Übrigen beschäftigt war und wie hoch ihr Entgelt war. Im Verlaufe eines Arbeitslebens kann sich die Bewertung dieser Zeiten also ständig ändern. Fallen in die Ehe-
1 Dazu näher Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 315, 335 ff. mit Rechenbeispielen.
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Rn. 60
Kap. 11
zeit beitragsfreie oder -geminderte Zeiten, hängt ihre Bewertung nicht mehr davon ab, was nach dem Ehezeitende passiert ist1. cc) Nachentrichtung von Beiträgen Die Möglichkeit, Beiträge zur gesetzlichen Versicherung nachzuentrich- 60 ten, ist auf wenige Fälle beschränkt. Wichtigste Beispiele sind die Möglichkeit zur Nachzahlung für Ausbildungszeiten, die nicht (mehr) als Anrechnungszeiten berücksichtigt werden (§ 207 SGB VI), und zur Wiederauffüllung von Anwartschaften, die aufgrund einer vorangegangenen Ehescheidung im Versorgungsausgleich „verloren gegangen“ sind (§ 187 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI)2. Werden Beiträge während der Ehezeit nachentrichtet, so unterliegen die hieraus erworbenen Anrechte nach den Grundsätzen des In-Prinzips dem Versorgungsausgleich in der neuen Ehe3. Maßgeblich ist damit nicht, ob die Zeiten, für die sie nachentrichtet werden, innerhalb oder außerhalb der Ehezeit liegen. Hiervon soll nach Ansicht des BGH4 selbst dann nicht nach § 27 VersAusglG abzusehen sein, wenn die Nachentrichtung aus einem Vermögen bewirkt worden ist, das nicht in der Ehezeit erworben wurde und dessen Berücksichtigung sich in einem Zugewinnausgleichsverfahren nicht ausgewirkt hätte. Beispiel: M hat nach seiner ersten Scheidung, aber schon während der neuen Ehe mit F2 einen Betrag von 25 000 Euro zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 187 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt. Er hat – mit oder ohne Berücksichtigung der 25 000 Euro – angesichts eines hohen Anfangsvermögens in der Ehezeit der neuen Ehe keinen Zugewinn erzielt. Wenn danach also evident ist, dass der eingezahlte Betrag nicht auf in der Ehezeit geschaffenen Werten beruht, kann im Einzelfall die Berücksichtigung der hierdurch erworbenen Entgeltpunkte grob unbillig sein5. Nach Ansicht des BGH ist M aber nur seiner ehelichen Verantwortung nachgekommen, indem er zusätzliche Altersvorsorge betrieben hat.
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Wichtig: Weil es bei nachentrichteten Beiträgen auf den Zeitpunkt der Zahlung und nicht auf die Zuordnung der Beiträge zu den Zeiten, für die sie entrichtet sind, ankommt, ist die Frage nachentrichteter Beiträge stets anzusprechen und zu klären.
1 BGH v. 18.1.2012 – XII ZB 696/10, FamRZ 2012, 509 = FamRB 2012, 107; BGH v. 21.3.2012 – XII ZB 372/11, MDR 2012, 585; Ruland, Rn. 351, 1012. 2 Hierzu und zu anderen Fällen Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 291 ff. 3 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 294 unter Verweis auf BGH v. 20.6.2007 – XII ZB 126/04, FamRZ 2007, 1719 = FamRB 2007, 294. 4 BGH v. 18.1.2012 – XII ZB 213/11, FamRZ 2012, 434 m. krit. Anm. Bergschneider. 5 Ebenso bei Beitragsnachentrichtung in der Ehezeit, aber nach vollzogener Vermögensauseinandersetzung OLG Köln v. 30.11.1995 – 10 UF 13/95, FamRZ 1996, 1549. Zum Problem s. Erman/Norpoth, § 2 VersAusglG Rn. 14.
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Kap. 11 Rn. 61
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dd) Weitere Faktoren zur Ermittlung der Rentenanwartschaft und ihre Relevanz im Versorgungsausgleich 61 Zur Ermittlung der Rentenanwartschaft als Zahlbetrag ist eine Multiplikation erforderlich, deren Faktoren sich aus den errechneten Entgeltpunkten, dem aktuellen Rentenwert sowie aus einem Zugangsfaktor und einem Rentenartfaktor zusammensetzen. Während die Entgeltpunkte den Gegenwert der eingezahlten Beiträge oder der von der Rentenversicherung honorierten sonstigen Zeiten bilden und der aktuelle Rentenwert für die Dynamisierung sorgt, ist es Zweck des Zugangsfaktors, Zuund Abschläge zu erfassen, die abhängig vom Zeitpunkt des Rentenbezugs sind. Wer mit Erreichen der Regelaltersgrenze in Rente geht, für den hat der Zugangsfaktor den Wert 1. Wer vorzeitig in Rente geht, muss Abschläge hinnehmen, wer nach Erreichen der Regelaltersgrenze trotz erfüllter Wartezeit die Rente nicht sofort in Anspruch nimmt, kann seinen Rentenanspruch erhöhen (Einzelheiten: § 77 SGB VI). Der Rentenartfaktor (§ 67 SGB VI) speist Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Rentenarten in die Berechnung ein. Für die Altersrente und die Rente wegen voller Erwerbsminderung hat er stets den Wert 1; niedriger ist/wird der Wert bei Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung sowie Hinterbliebenenrenten. Für knappschaftliche Renten ist er bei einem maximalen Wert von 1,3333 durchweg höher (Einzelheiten: § 82 SGB VI). 62 Im Versorgungsausgleich werden allein die Entgeltpunkte geteilt. Eine Umrechnung in eine fiktive Rente zum Ehezeitende findet nicht (mehr) statt, weil die Entgeltpunkte der Teilungsgegenstand sind. Darin liegt eine Vereinfachung gegenüber dem alten Recht, wonach zunächst die Übertragung/Begründung einer Rentenanwartschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung und anschließend die Umrechnung der Anwartschaft in Entgeltpunkte vorgesehen war1. Diesen doppelten Zwischenschritt vermeidet das neue Recht – zumindest in der gesetzlichen Rentenversicherung2. 63 Damit hat der Gesetzgeber zugleich einen Streit um die Relevanz des Zugangsfaktors für den Versorgungsausgleich entschieden. Auch das alte Recht sah zwar in § 1587a Abs. 2 Nr. 2 aF BGB vor, dass die Rentenanwartschaft ohne den Zugangsfaktor, also als Vollrente, zu berücksichtigen war. Der BGH vertrat jedoch die Ansicht, dass der Zugangsfaktor zur Wahrung des Halbteilungsgrundsatzes in verfassungskonformer Auslegung des § 1587a Abs. 2 Nr. 2 aF BGB insoweit Bedeutung haben müsse, als er bereits vor Ehezeitende durch die vorzeitige Inanspruchnahme der Rente unwiederbringlich verringert worden war. Es müsse deswegen eine 1 Vgl. §§ 1587a Abs. 2 Nr. 2, 1587b Abs. 1 und 6 aF BGB. 2 BT-Drucks. 16/10144, 82. Die Idee, die Berechnung durch Teilung in der jeweils maßgeblichen Bezugsgröße zu vereinfachen, scheitert allerdings in allen Fällen, in denen Kosten interner Teilung zu berücksichtigen sind, wie etwa der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes. Dort werden jetzt durch Hin- und Rückrechnung zusätzliche Rechenschritte benötigt.
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Versorgungsausgleich
Rn. 65
Kap. 11
Rentenanwartschaft mit einer geringeren Höhe in den Versorgungsausgleich einbezogen werden1. Demgegenüber stellt der Gesetzgeber nunmehr klar, dass der Zugangsfaktor bei der Berechnung des Versorgungsausgleichs keine Relevanz (mehr) besitzt2. Auch auf den aktuellen Rentenwert kommt es – wie nach dem alten Recht – nicht an. Auch der BGH hat auf der Grundlage des neuen Rechts inzwischen seine zum alten Recht vertretene Ansicht aufgegeben3. Bedeutsam bleibt dagegen der Rentenartfaktor hinsichtlich der Anwartschaften in der knappschaftlichen Rentenversicherung: Entgeltpunkte aus Anrechten in der knappschaftlichen Rentenversicherung werden, wie sich aus § 120f Abs. 2 Nr. 2 SGB VI ergibt, gesondert ausgeglichen. Gleiches gilt auch für die sog. angleichungsdynamischen Anrechte, die in den neuen Bundesländern seit dem 1.2.1992 erworben wurden; für diese Anwartschaften gilt ein abweichender (derzeit noch niedrigerer) aktueller Rentenwert (§ 255a SGB VI), der bis zur vollständigen Einkommensangleichung eine stärke Dynamik aufweist als der aktuelle Rentenwert nach § 68 SGB VI. c) Ermittlung des Ehezeitanteils Der Ehezeitanteil in der gesetzlichen Rentenversicherung wird nach den 64 Grundsätzen der unmittelbaren Bewertung (§ 39 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 43 Abs. 1 VersAusglG) ermittelt. Weil die in der Ehezeit erworbenen Entgeltpunkte dieser unmittelbar zugeordnet werden können, sind zur Berechnung des Ehezeitanteils keine weiteren Rechenvorgänge erforderlich. Der Ehezeitanteil wird wiederum in Entgeltpunkten angegeben. Eine 65 Umrechnung in eine Rente erfolgt nicht (s.o.). Entgeltpunkte in der gesetzlichen Rentenversicherung werden aber getrennt ausgewiesen (und geteilt), wenn sie nach den folgenden Gegensatzpaaren nicht übereinstimmend kombiniert sind: – allgemeine oder knappschaftliche Rentenversicherung, – regeldynamische (alte Bundesländer) oder angleichungsdynamische Anrechte (neue Bundesländer).
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Praxistipp: Es können nach den obigen Kriterien in der Auskunft der gesetzlichen Rentenversicherung also bis zu vier Anrechte getrennt ausgewiesen werden. Dabei werden einzelne, auch werthaltige Anrechte erfahrungsgemäß leicht übersehen. Es empfiehlt sich daher dringlich, die Auskünfte der DRV sorgfältig zu lesen (einschließlich Rückseite von Seite 1)!
1 Vgl. zuletzt BGH v. 29.10.2008 – XII ZB 69/08, FamRZ 2009, 107 = FamRB 2009, 36; BGH v. 4.3.2009 – XII ZB 117/07, FamRZ 2009, 948 = FamRB 2009, 205, auch mN zur Kritik in der Literatur. 2 BT-Drucks. 16/10144, 81. 3 BGH v. 18.5.2011 – XII ZB 127/08, FamRB 2011, 237.
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Kap. 11 Rn. 66
Versorgungsausgleich
66 Nach § 43 Abs. 3 VersAusglG sind besondere Wartezeiten nur dann werterhöhend zu berücksichtigen, wenn sie erfüllt sind. Wichtigstes Beispiel ist die Erhöhung von Berücksichtigungszeiten wegen der Erziehung von Kindern ab dem 3. bis zum 10. Lebensjahr nach § 70 Abs. 3a SGB VI, die erst stattfindet, wenn 25 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten vorhanden sind. 67 Eine Sonderregelung enthält § 43 Abs. 2 VersAusglG für im Beitrittsgebiet bis zum 31.12.1991 erworbene Rentenansprüche. Für diese Renten sieht die gesetzliche Rentenversicherung teilweise aus Gründen des Besitzschutzes Auffüllbeträge (§ 315a SGB VI) und Zuschläge (§ 319a SGB VI) vor, die aber im Laufe der Jahre abzuschmelzen sind. Diese Zuschläge lassen sich nur der Gesamtzeit zuordnen. Ihr in den Versorgungsausgleich fallender Anteil bestimmt sich deshalb nach dem Verhältnis der insgesamt erworbenen Entgeltpunkte (Ost) zu den in die Ehezeit fallenden Entgeltpunkten (Ost). d) Ermittlung eines Kapitalwerts 68 Der Kapitalwert einer Rente(nanwartschaft) ist anhand der Entgeltpunkte leicht zu ermitteln. Das SGB VI hält in § 187 (bzw. in § 281a für das Beitrittsgebiet) einen Rechenweg zur Ermittlung des Betrags vor, den der Versicherte zur Wiederauffüllung im Versorgungsausgleich übertragener Rentenanwartschaften einzahlen kann. Dazu ist der Beitragssatz des Jahres zugrunde zu legen, in dem die Zahlung erbracht wird (2012: 19,6 %), ferner das für dieses Jahr ermittelte Durchschnittsentgelt. (2012: 32 446 Euro). Durch Zahlung des Beitragssatzes auf dieses Durchschnittsentgelt kann ein Entgeltpunkt erworben werden (§ 187 Abs. 3 SGB VI). Der Kapitalwert der ehezeitlichen Rentenanwartschaft errechnet sich für 2012 also nach der Formel: 32 446 Euro × 19,6 % (ergibt einen Umrechnungsfaktor von 6 359,416) × Entgeltpunkte der ehezeitlichen Rentenanwartschaft. e) Bezug einer laufenden Rente 69 Auch laufende Renten unterliegen dem Versorgungsausgleich. Für die Bewertung ihres Ehezeitanteils gilt nach § 43 Abs. 1, ggf. i.V.m. § 41 Abs. 1 VersAusglG ebenfalls die unmittelbare Bewertung, was bedeutet, dass auch hinsichtlich der laufenden Rente für den Versorgungsausgleich die in der Ehezeit erworbenen Entgeltpunkte maßgeblich sind. 70 Eine Besonderheit gilt für Renten wegen Erwerbsminderung, die zum Ende der Ehezeit bereits bezogen wurden. Wenn mit der Entziehung dieser Rente nicht mehr zu rechnen ist, ist die Besitzschutzregelung des § 88 Abs. 1 S. 2 SGB VI zu beachten, wonach bei einer späteren Umwandlung der Erwerbsunfähigkeitsrente in eine Regelaltersrente (§ 115 Abs. 3 SGB VI) mindestens die bisherigen persönlichen Entgeltpunkte zugrunde zu legen sind. Ist der Wert dieser Entgeltpunkte höher als der Wert der Ent1180
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Versorgungsausgleich
Rn. 72
Kap. 11
geltpunkte einer fiktiven Altersrente, so wirkt sich die Bestandsschutzregelung auch im Versorgungsausgleich dahin aus, dass die höheren Entgeltpunkte der Berechnung zugrunde zu legen sind1. f) Wartezeiten Für den Erwerb von Rentenansprüchen muss der Versicherte auch Warte- 71 zeiten erfüllen. Die allgemeine Wartezeit für eine Rente wegen Alters beträgt nach § 50 Abs. 1 S. 1 SGB VI 60 Monate. Diese Wartezeit kann nur mit Beitragszeiten2 erfüllt werden, zu denen auch Kindererziehungszeiten gehören (s. Rn. 53). Solche Beitragszeiten können auch durch den Versorgungsausgleich erworben werden (§ 52 SGB VI); ein Verlust von Wartezeiten durch den Versorgungsausgleich ist aber nicht möglich. Ist davon auszugehen, dass auch bei Durchführung des Versorgungsausgleichs der Berechtigte nicht die allgemeine Wartezeit von 60 Monaten erfüllen wird, kann er aus den übertragenen Anrechten keine Rente beanspruchen. Dies kann bei Beamten auf Lebenszeit vorkommen. In einem solchen Fall kann von der Teilung der gesetzlichen Rentenanwartschaft nach § 19 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG abzusehen sein. Durch den Hin-und-Her-Ausgleich kann eine Person als Ausgleichsberechtigte zugleich Wartezeiten erwerben und als Ausgleichspflichtige Anrechte abgeben. In diesem Fall soll sie nur bei einem positiven Saldo zwischen erworbenen und abgegebenen Anrechten Wartezeiten erwerben. Insoweit werden alle Entgeltpunkte (allgemein – knappschaftlich, West/Ost) gleich behandelt und der Saldo mit einem einheitlichen Faktor in Wartezeitmonate umgerechnet3. g) Anrechte im Beitrittsgebiet Für die im Beitrittsgebiet erworbenen, sog. angleichungsdynamischen 72 Anrechte sah das alte Recht im VAÜG ein kompliziertes Regelwerk vor, das vielfach zur längerfristigen Aussetzung des Versorgungsausgleichs geführt hat. Zugrunde lag der Gedanke, dass wegen der unterschiedlichen Rentendynamik der Ost- und Westanrechte eine Vergleichbarmachung zwecks Saldierung nicht möglich war. Das schadete solange nicht, wie beide Ehegatten ausschließlich angleichungsdynamische Anrechte erworben hatten oder wie der Ausgleichspflichtige in der Ehezeit sowohl höhere Westanrechte als auch höhere Ostanrechte erworben hatte, weil dann eine getrennte Saldierung erfolgen konnte (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 VAÜG aF). Wo aber eine Verrechnung von Ost- und Westanrechten notwendig gewesen wäre, musste der Versorgungsausgleich bis zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse (§ 2 Abs. 1 S. 2 VAÜG aF) ausgesetzt werden und wurde nur ausnahmsweise bei Vorliegen eines Rentenfalls gleichwohl
1 Vgl. eingehend Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 320 f., 342, 347 mwN zur Rspr. 2 Und mit Ersatzzeiten nach § 250 SGB VI, vgl. § 51 Abs. 4 SGB VI. 3 Einzelheiten bei Ruland, FPR 2011, 480; Dünn/Strotmeyer, FPR 2011, 492.
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Kap. 11 Rn. 73
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durchgeführt (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 VAÜG aF). Für letzteren Fall hielt das VAÜG Behelfsregelungen vor (§ 3 VAÜG aF)1. 73 Diese Regelungen sind nunmehr überflüssig geworden, weil nach dem geltenden Recht eine Saldierung nur noch ausnahmsweise erforderlich ist2. Wegen der unterschiedlichen Dynamik sind allerdings nach wie vor die im Beitrittsgebiet erworbenen Anrechte mit Entgeltpunkten (Ost) gesondert auszuweisen. Sie werden auch gesondert geteilt. h) Steuerliche Behandlung von Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung 74 Früher wurden Rentenversicherungsbeiträge im Zeitpunkt der Zahlung als Arbeitseinkommen hälftig versteuert: Der Beitrag des Arbeitnehmers zur gesetzlichen Rentenversicherung wurde nämlich aus seinem steuerpflichtigen Bruttoeinkommen gewonnen. Die spätere Rente wurde daher nur noch hinsichtlich ihres Ertragsanteils besteuert. Die unterschiedliche steuerliche Behandlung von Renten und Beamtenpensionen war Gegenstand einer Entscheidung des BVerfG3, welches einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG feststellte. Der Gesetzgeber hat deshalb die Besteuerung mit Wirkung ab 2005 durch das Alterseinkünftegesetz umgestellt4. Seitdem werden die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung schrittweise in eine nachgelagerte Besteuerung überführt. Dazu werden Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung schrittweise bis zu einem Höchstbetrag von 20 000 Euro (einschließlich Arbeitgeberanteil) von der Besteuerung befreit (§ 10 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 EStG), während im Gegenzug die Renten schrittweise einer vollen Besteuerung im Zeitpunkt der Zahlung unterzogen werden. Die vollständige nachgelagerte Besteuerung wird im Jahr 2040 erreicht (vgl. § 22 Nr. 1 S. 3 EStG). Auch die volle Besteuerung im Zeitpunkt der Rentenzahlung hängt freilich davon ab, dass Freibeträge überschritten werden, so dass eine Steuerlast in vielen Fällen möglicherweise überhaupt nicht entsteht5. Weil bei Durchführung des Versorgungsausgleichs von Bruttobeträgen ausgegangen wird, ist diskutiert worden, ob die unterschiedliche Besteuerung Anlass zur wertenden Korrektur des Versorgungsausgleichs wegen grober Unbilligkeit gibt (§ 1587c aF BGB; heute § 27 VersAusglG; dazu s. Rn. 325 ff., 333). i) Alterssicherung für Landwirte 75 Einen eigenständigen Teil der gesetzlichen Rentenversicherung stellt die Altersversorgung für Landwirte nach dem ALG dar. Sie ist nur als Teil1 Einzelheiten hierzu bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 351 ff., 358 ff. 2 Beispiele: OLG Brandenburg v. 14.1.2011 – 10 UF 174/10, FamRZ 2011, 1299 f.; AG Neustadt a. Rbge. v. 20.8.2010 – 34 F 158/09 VA, FamRB 2011, 238. 3 BVerfG v. 6.3.2002 – 2 BvL 17/99, FamRZ 2002, 809. 4 Vgl. hierzu grundlegend Breuers, FPR 2011, 517 ff. 5 Breuers, FPR 2011, 518.
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Rn. 79
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sicherung neben dem Altenteil konzipiert1. Träger sind die landwirtschaftlichen Alterskassen, die bei den jeweiligen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften errichtet sind (§ 49 ALG). Pflichtmitglieder der landwirtschaftlichen Alterskassen sind die landwirtschaftlichen Unternehmer der Land- und Forstwirtschaft einschließlich des Wein-, Obst-, Gemüse- und Gartenbaus sowie der Teichwirtschaft und Fischzucht (§ 1 Abs. 4 ALG), allerdings unter der Voraussetzung, dass der landwirtschaftliche Betrieb festgelegte Mindestgrößen erreicht (§ 1 Abs. 5 ALG; zB bei Imkern mindestens 100 Bienenvölker) und in Gewinnerzielungsabsicht betrieben wird (§ 1 Abs. 7 ALG). Auch die nicht getrenntlebenden Ehegatten sind seit dem 1.1.1995 als Landwirte aus eigener Beitragszahlung in den Versicherungsschutz integriert, sofern sie nicht erwerbsunfähig sind (§ 1 Abs. 3 ALG). Die Leistungen der landwirtschaftlichen Alterskassen werden über die laufenden Beiträge der Versicherten und über Bundeszuschüsse finanziert. Die Höhe der Beiträge hängt (ebenso wie später die Höhe der Leistungen) nicht vom Einkommen ab. Sie beträgt für den Landwirt (und ggf. seine Frau) monatlich 3,46 % des in der gesetzlichen Rentenversicherung auf das dort ermittelte Durchschnittseinkommen eines Kalenderjahres berechneten Beitragssatzes; für mitarbeitende Familienangehörige beträgt der Beitrag die Hälfte hiervon (§ 68 ALG)2. Die Renten berechnen sich nach folgender Formel (§ 23 Abs. 1 ALG): Steigerungszahl × Rentenartfaktor × allgemeiner Rentenwert. Die Steigerungszahl wird ermittelt, indem mit Beitragszeiten und Zu- 76 rechnungszeiten belegte Kalendermonate mit den Faktoren 0,0833, sonstige Zeiten mit dem Faktor 0,0417 multipliziert werden3. Sie ist die maßgebliche Bezugsgröße i.S.d. § 5 Abs. 1 VersAusglG. Der Rentenartfaktor ergibt sich aus § 23 Abs. 6 ALG; für die normale Al- 77 tersrente beträgt er 1,0. Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme regelt § 23 Abs. 8 ALG. Der allgemeine Rentenwert ist für 1995 festgelegt worden und steigt seitdem parallel zum aktuellen Rentenwert in der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 23 Abs. 4 ALG)4.
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Das ALG sieht für den Erwerb von Ansprüchen auf eine Altersrente längere Wartezeiten vor als die gesetzliche Rentenversicherung5. Der Erwerb von Wartezeiten durch den Versorgungsausgleich war bei einem Aus-
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1 Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 269. 2 Für 2012 ist der Beitrag durch Bekanntmachung v. 19.12.2011 (BGBl. 2011 I, S. 2799) auf monatlich 224 Euro in den alten Bundesländern und 191 Euro im Beitrittsgebiet festgesetzt worden. 3 Einzelheiten: § 23 Abs. 2 ALG. 4 Nähere Einzelheiten bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 489. 5 § 11 ALG: 15 Jahre Wartezeit für eine Regelaltersrente; für eine Erwerbsminderungsrente gilt nach § 13 ALG eine Wartezeit von fünf Jahren.
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Kap. 11 Rn. 80
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gleich von Anrechten nach dem ALG1 zudem so ungünstig geregelt, dass die Teilung derartiger Anwartschaften wohl in vielen Fällen dem ausgleichsberechtigten Ehegatten keinen Rentenanspruch verschafft haben würde. Nach § 17 Abs. 3 ALG nF ist der Erwerb von Wartezeiten im Versorgungsausgleich deutlich verbessert worden. Die einmal erworbenen Wartezeiten werden bei einer späteren Abänderung des Versorgungsausgleichs nicht mehr entzogen (§ 17 Abs. 3 S. 4 ALG i.V.m. § 52 Abs. 1 S. 3 und 4 SGB VI). 80 Die Ermittlung des Ehezeitanteils unterliegt grundsätzlich der unmittelbaren Bewertung. Eine Ausnahme regelt § 97 Abs. 13 ALG für Fälle, in denen ein Anwartschaftserwerb vor der im Jahr 1995 erfolgten Systemumstellung in der Altersversorgung für Landwirte mit zu berücksichtigen ist. Für diesen Fall soll der Ehezeitanteil der Rentenanwartschaft insgesamt zeitratierlich ermittelt werden2. Der korrespondierende Kapitalwert errechnet sich wie folgt: Summe der zu übertragenden Steigerungszahlen × 12-facher Monatsbeitrag (2012: 2688 Euro in den alten Bundesländern und 2292 Euro im Beitrittsgebiet)3. 81 Nicht in den Versorgungsausgleich fallen die Landabgabenrente (§§ 121 ff. ALG) und die Rente wegen der Aufgabe der landwirtschaftlichen Produktion nach § 8 Abs. 5, 7 des Gesetzes zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit4; beide Renten werden nicht mit Hilfe des Vermögens oder durch Arbeit begründet5. Die Besteuerung der Altersrenten für Landwirte erfolgt entsprechend der Besteuerung gesetzlicher Renten (s.o. Rn. 74). 2. Beamtenversorgung und Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen 82 Die Beamtenversorgung war bis zur Föderalismusreform einheitlich für Beamte und Richter im BeamtVG geregelt. Nunmehr haben die Länder hinsichtlich der Landesbeamten und -richter auch die Befugnis zur Regelung der Beamtenversorgung. Dies führt aber bislang nur zu geringfügigen Abweichungen von den zuvor einheitlich geltenden Regelungen des BeamtVG6. 83 Die Leistungen der Beamtenversorgung werden nicht aus Beiträgen, sondern aus (Steuer-)Mitteln der anstellenden juristischen Person (Bund, Land, Gemeinde, Körperschaft) finanziert. Erst seit Januar 2003 werden 1 Das ALG sah vor der Neuregelung bereits die Möglichkeit der Realteilung von Anrechten vor. 2 Vgl. auch Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 401 f. 3 Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 402. 4 IdF des Art. 12 AgrarsozialreformG v. 21.2.1989, BGBl. I, 233. 5 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 491 mwN. 6 Vgl. §§ 1–3 des saarländischen BeamtVG, wonach das BeamtVG fast unverändert übernommen wird.
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Rn. 87
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im Hinblick auf den demographischen Wandel Besoldungs- und Versorgungsanpassungen bei den Beamten des Bundes und der Länder zur Bildung einer Versorgungsrücklage nach § 14a BBesG gekürzt. Maßgeblich für die Höhe der Beamtenversorgung sind die Dienstzeit und die Höhe der ruhegehaltsfähigen Bezüge; letzteres ist idR das zuletzt vor dem Versorgungsfall bezogene Gehalt. a) Erfasster Personenkreis Versorgungsberechtigt sind die Beamten des Bundes, der Länder und der Gemeinden, ferner Richter, Berufssoldaten und in das Beamtenverhältnis berufene Hochschullehrer1.
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Auch sonst können Beschäftigte aus einem privaten Dienst- oder Arbeits- 85 verhältnis Anspruch auf eine Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen haben (vgl. zB § 5 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI2). Eine solche Versorgung liegt dann vor, wenn der Arbeitgeber die Leistungen selbst erbringt und nicht unter Zahlung von Beiträgen an andere delegiert: auch darf der Arbeitnehmer nicht am Aufbau der Versorgung durch Beitragszahlung beteiligt sein. Voraussetzung ist zudem, dass die Bemessungsgrundlagen denjenigen der Beamtenversorgung gleichen. Dazu muss die Versorgung zumindest nach dem letzten Arbeitsentgelt und der Beschäftigungsdauer ausgerichtet sein3. Ob der Träger der Versorgung öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich organisiert ist, ist nicht relevant. Sicheres Indiz, aber nicht Voraussetzung für das Vorliegen einer Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen ist die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI oder bei Privatlehrern und Erziehern die Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI auf Antrag des Arbeitgebers4. Handelt es sich bei dem Beamtenverhältnis nicht um ein solches auf Le- 86 benszeit, dann ist zu differenzieren5: Beamte und Richter auf Probe haben hinsichtlich der Versorgung zwar 87 noch keine gesicherte, aber bereits eine hinreichend verfestigte Rechtsposition. Ihre Versorgungsanwartschaft ist dem Versorgungsausgleich zugrunde zu legen6. 1 Die Anrechte von ehrenamtlichen Beamten auf einen Ehrensold fallen nicht in den Versorgungsausgleich: BGH v. 18.5.2011 – XII ZB 139/09, FamRZ 2011, 1287 = FamRB 2011, 272. 2 Dazu s. zuletzt BGH v. 1.6.2011 – XII ZB 186/08, FamRZ 2011, 1216 ff.; BGH v. 20.7.2011 – XII ZB 463/10, FamRZ 2011, 1558 ff. 3 BVerfG v. 14.6.1960 – 2 BvL 7/60, BVerfGE 11, 203, 213. 4 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 211; BGH v. 20.7.2011 – XII ZB 463/10, FamRZ 2011, 1558 (1559). 5 Vgl. hierzu eingehend Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 200 ff. 6 BGH v. 13.1.1982 – IVb ZB 544/81, FamRZ 1982, 362; Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 202, 20.
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Kap. 11 Rn. 88
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88 Beamte auf Widerruf im Vorbereitungsdienst und Zeitsoldaten erwerben keine (gesicherte) Versorgungsanwartschaft. Auszugleichen ist nur ein Anspruch auf Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung. 89 Beamte auf Zeit (regelmäßig: Kommunalbeamte) sind grundsätzlich nach § 66 BeamtVG den Beamten auf Lebenszeit gleichgestellt. Erfüllen sie aber nach Ablauf ihrer Amtszeit nicht die erforderliche Wartezeit, sind sie nach § 8 SGB VI in der gesetzlichen Rentenversicherung nachzuversichern. (Nur) in diesem Fall ist anstatt der Versorgungsanwartschaft das sich aus der Nachversicherung ergebende Anrecht in den Versorgungsausgleich einzubeziehen1. Maßgeblich für diese Frage ist und bleibt nach Ansicht des BGH der Status zum Ehezeitende (bei Berücksichtigung der Zeit bis zum vorgesehenen Ende der Amtszeit): so soll die Wiederwahl eines kommunalen Wahlbeamten nach dem Ehezeitende auch kein Abänderungsgrund sein2. Auch im Hochschulbereich werden idR zunächst Beamtenverhältnisse auf Zeit begründet. Wenn diese nicht zum Ende der Ehezeit in ein Beamtenverhältnis auf Lebenszeit umgewandelt worden sind, ist das Anrecht nach h.M. stets nur mit dem Wert des Anspruchs auf Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung zu bestimmen und zu teilen3. b) Ermittlung der Versorgungsanwartschaft 90 Grundlagen der Berechnung jeder Versorgungsanwartschaft sind die ihr zugrunde liegenden gesetzlichen Regelungen, bei beamtenähnlichen Versorgungen die jeweiligen Satzungen und einzelvertraglichen Regelungen. Maßgeblich für die Bestimmung des ehezeitbezogenen Werts der Versorgungsanwartschaft ist der Wert, der sich zum Ende der Ehezeit ergäbe, wenn zu diesem Zeitpunkt der Versorgungsfall eingetreten wäre (§ 40 Abs. 3 VersAusglG). 91 Die Versorgungsanwartschaften von Beamten und Richtern errechnen sich aus den ruhegehaltsfähigen Dienstbezügen und dem Ruhegehaltssatz.
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Praxistipp: Den Versorgungsträgern unterlaufen bei der Auskunft nicht selten Fehler, so dass die Auskünfte sorgfältig geprüft werden sollten4. Die Überprüfung sollte sich auf folgende Punkte erstrecken: – Sind die ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge zutreffend berechnet?
1 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 209 f. mwN. 2 BGH vom13.9.2006 – XII ZB 70/01, FamRZ 2007, 30 = FamRB 2007, 38; dazu kritisch Bergner, FamRZ 2007, 533 und Borth, FamRZ 2008, 2069 f. Vgl. dazu auch ausführlich Erman/Norpoth, § 5 VersAusglG Rn. 5. 3 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 214; vgl. dazu ausführlich Erman/Norpoth, § 44 VersAusglG Rn. 9 mwN. 4 HK-Familienrecht/Hauß, § 44 VersAusglG Rn. 43.
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Versorgungsausgleich
Rn. 95
Kap. 11
– Ist die Dienst- oder Lebensaltersstufe zum Ehezeitende richtig erfasst? – Sind die Dienstzeiten vollständig erfasst? – Sind Ruhensbeträge bei Zusammentreffen von Pensions- und Rentenansprüchen korrekt berechnet? – Ist das Pensionsalter bei bestimmten Berufsgruppen (Soldaten; Polizei) richtig berücksichtigt? – Ist eine Teilzeittätigkeit berücksichtigt? – Ist der richtige Ruhegehaltssatz in Ansatz gebracht? aa) Ruhegehaltsfähige Dienstbezüge Die ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge setzen sich aus mehreren Bestandteilen zusammen (vgl. zB § 5 BeamtVG), die aber im Versorgungsausgleich nicht sämtlich von Bedeutung sind:
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– Grundgehalt, – Familienzuschlag der Stufe 1, – sonstige Dienstbezüge, die im Besoldungsrecht als ruhegehaltsfähig bezeichnet sind, – bestimmte Leistungsbezüge für Professoren der Besoldungsgruppen W2 und W3 nach Maßgabe des § 33 Abs. 1 und 3 BBesG. Für den Versorgungsausgleich ist der Familienzuschlag nach § 40 Abs. 5 93 VersAusglG unbeachtlich; das Grundgehalt und die sonstigen ruhegehaltsfähigen Dienst- und Leistungsbezüge sind dagegen maßgeblich1. Zuschläge wegen Kindererziehungszeiten (vgl. §§ 50a, 50b, 50d BeamtVG) sind keine familienbezogenen Bestandteile i.S.d. § 40 Abs. 5 VersAusglG. Sie sind auszugleichen und – abweichend von der übrigen Beamtenversorgung – unmittelbar zu bewerten2 (s. auch Rn. 102). Die Höhe des Grundgehalts bestimmt sich nach der Besoldungsgruppe, 94 ggf. in Verbindung mit der Dienst- oder Lebensaltersstufe; maßgeblicher Zeitpunkt ist hierfür das Ehezeitende. Die Dienstbezüge nach einer Beförderung wirken sich nach § 5 Abs. 3 Be- 95 amtVG auf das Ruhegehalt nur dann aus, wenn jene mindestens drei Jahre vor Eintritt in den Ruhestand erfolgt ist. Diese Regelung hat das BVerfG insoweit für verfassungswidrig erklärt, als die Wartezeit von zuvor zwei auf drei Jahre verlängert worden ist3. Danach stellt sich die Fra1 Palandt/Brudermüller, § 44 VersAusglG Rn. 7; OLG Karlsruhe v. 18.6.2004 – 16 UF 235/03, FamRZ 2005, 1747 f. (allg. Stellenzulage); BGH v. 28.9.1994 – XII ZB 178/93, MDR 1995, 286 f. (Polizeizulage). 2 OLG Celle vom 13.5.2011 – 10 UF 65/11, FamRB 2011, 303; Bergner, FamFR 2011, 220. 3 BVerfG v. 20.3.2007 – 2 BvL 11/04, NVwZ 2007, 679 ff.
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Kap. 11 Rn. 96
Versorgungsausgleich
ge, ob eine Beförderung innerhalb eines 2-Jahres-Zeitraums vor dem Ehezeitende für die Bemessung des in den Versorgungsausgleich fallenden Anrechts maßgeblich ist. Diese Frage ist unter Hinweis auf § 5 Abs. 2 S. 2 VersAusglG (früher: § 1587a Abs. 7 S. 1 aF BGB) zu bejahen, soweit die Wartezeit von zwei Jahren bis zum Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze noch erfüllt werden kann1. 96 Der BGH hat allerdings entschieden, dass eine Stellenzulage als Strahlflugzeugführer und Kampfbeobachter nur dann im Versorgungsausgleich zu berücksichtigen ist, wenn sie im Zeitpunkt der Entscheidung bereits ruhegehaltsfähig ist (dafür ist im Regelfall eine mindestens fünfjährige zulagenfähige Verwendung erforderlich)2. Dass die erforderliche Verwendungszeit erfüllt werde, könne hier nicht als wahrscheinlich angenommen werden, weil Voraussetzung dafür während der gesamten Verwendungszeit eine hohe physische und psychische Belastbarkeit des Soldaten sei. In einem solchen Fall muss daher, wenn die Stellenzulage zu einem späteren Zeitpunkt ruhegehaltsfähig wird, ggf. ein Abänderungsverfahren nach den §§ 225, 226 FamFG durchgeführt werden. 97 Hat der Beamte Anspruch auf eine Sonderzuwendung („Weihnachtsgeld“), so ist auch diese in den Versorgungsausgleich einzubeziehen und mit 1/12 ihres jeweiligen Werts der monatlichen Versorgung hinzuzurechnen. Mögliche Unterschiede in der zukünftigen Entwicklung (Dynamik) dieser Sonderzuwendung und der übrigen Versorgung sind dabei unbeachtlich; maßgeblich ist der zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Bemessungsfaktor3. bb) Dienstzeiten 98 Regelungen zu den ruhegehaltsfähigen Dienstzeiten finden sich (für Bundesbeamte) in den §§ 6–12 BeamtVG. 99 Die regelmäßige Dienstzeit beginnt mit der Berufung in das Beamtenverhältnis, frühestens mit dem 17. Lebensjahr, und endet mit dem Eintritt in den Ruhestand. Hinzu treten Anrechnungszeiten. Zwingend anzurechnen sind Zeiten des Wehr- und Zivildienstes. Hat der Beamte vor der Berufung in das Beamtenverhältnis schon aufgrund eines Arbeitsvertrags im öffentlichen Dienst gearbeitet, sollen diese Zeiten (ab 17. Lebensjahr) ebenfalls angerechnet werden (§ 10 BeamtVG). Zeiten der Berufsausbildung können bis zu drei Jahren angerechnet werden (§ 12 BeamtVG), ebenso bestimmte berufliche Tätigkeiten (zB als Rechtsanwalt, Notar, im Dienst von anerkannten Religionsgesellschaften, als Entwicklungshelfer) nach § 11 BeamtVG. 1 Vgl. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 226. 2 BGH v. 14.7.1982 – IVb ZB 726/81, FamRZ 1982, 1003; BGH v. 9.7.1986 – IVb ZB 139/83, FamRZ 1986, 975. 3 ZB BGH v. 14.3.2007 – XII ZB 85/03, FamRZ 2007, 994 (995); BGH v. 2.7.2008 – XII ZB 80/06, FamRZ 2008, 1833 (1834) = FamRB 2008, 364.
1188
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 104
Kap. 11
Die Berücksichtigung von sog. Kann-Zeiten im Versorgungsausgleich ist in den Fällen umstritten, in denen eine Entscheidung der Dienstbehörde hierüber noch nicht getroffen ist. Nach der Rechtsprechung des BGH sind sie einzubeziehen, wenn ihre Anerkennung nur von einem Antrag des Beamten abhängt; steht sie allerdings im Ermessen der Dienstbehörde, muss zunächst das Familiengericht von Amts wegen aufklären, wie die Behörde ihr Ermessen auszuüben beabsichtigt1.
100
Auf diesem Wege kann es zur Berücksichtigung von Zeiten kommen, für die der Beamte auch Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung erworben hat. In einem derartigen Kollisionsfall wird die Beamtenversorgung nach § 55 BeamtVG gekürzt, was auch im Versorgungsausgleich zu berücksichtigen ist. Im Versorgungsausgleichsverfahren erbitten die Träger der Beamtenversorgung deshalb häufig vorab eine Übersendung der Auskunft der DRV über erworbene Anwartschaften des Beamten in der gesetzlichen Rentenversicherung, um Überschneidungen erkennen und die Kürzungen berechnen zu können (zu Ruhens- und Anrechnungsvorschriften vgl. Rn. 120 ff.).
101
Kindererziehungszeiten werden nicht der Dienstzeit hinzugerechnet. 102 Vielmehr werden sie in der Weise berücksichtigt, dass dem Ruhegehalt ein Betrag entsprechend dem Wert der Kindererziehungszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung zugeschlagen wird (Kindererziehungszuschlag nach § 50a BeamtVG). Dabei bemisst sich der Zuschlag wie in der gesetzlichen Rentenversicherung für nach dem 31.12.1991 geborene Kinder nach einer Erziehungszeit von 36 Monaten und für die davor geborenen Kinder nach einer Erziehungszeit von 12 Monaten (§ 50a Abs. 8 BeamtVG). Der Kindererziehungszuschlag ist – ebenso wie der Kindererziehungsergänzungszuschlag (§ 50b BeamtVG) – kein Familienzuschlag i.S.d. § 40 Abs. 5 VersAusglG und daher auszugleichen2 (dazu s. oben Rn. 93). Einen Sonderfall stellen auch Zurechnungszeiten nach § 13 BeamtVG dar3. Diese erwirbt ein Beamter, der vor Erreichen des 60. Lebensjahrs dienstunfähig wird, iHv. 2/3 der Zeit bis zum Erreichen des 60. Lebensjahrs. Diese werden zwar für die Berechnung der Versorgung wie Dienstzeiten behandelt. Bei der zeitlichen Zuordnung dieser Zeiten zur Berechnung des Ehezeitanteils gelten aber Besonderheiten (dazu s. Rn. 110).
103
cc) Bestimmung des Ruhegehaltssatzes Für die Bestimmung des Ruhegehaltssatzes ist das jeweilige Regelwerk 104 maßgeblich, nach dem die Versorgung beansprucht werden kann. Nach 1 Vgl. zuletzt instruktiv und mwN zur Rspr. BGH v. 20.7.2005 – XII ZB 21/99, FamRZ 2005, 1531 (1532) = FamRB 2005, 356; Einzelheiten bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 242 mwN. 2 Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 379, auch zur gesonderten Bewertung dieser Zeiten. 3 Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 385; Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 243.
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Kap. 11 Rn. 105
Versorgungsausgleich
§ 14 Abs. 1 BeamtVG idF des VersÄndG 2001 beträgt das Ruhegehalt für Bundesbeamte für jedes Jahr ruhegehaltsfähiger Dienstzeit 1,79375 % der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge, insgesamt maximal 71,75 %. Dieser Wert wird nach 40 Dienstjahren erreicht und erhöht sich danach nicht mehr. 105
Der maßgebliche Ruhegehaltssatz bestimmt sich also wie folgt: Anzahl Dienstjahre (einschließlich Anrechnungszeiten und Zurechnungszeiten; maximal 40) × 1,79375 = Ruhegehaltssatz.
106
Der Ruhegehaltssatz ist der Prozentsatz der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge, welchen der Beamte als Versorgung beanspruchen kann. Beispiel: Ruhegehaltsfähige Dienstbezüge: Dienstjahre einschließlich Anrechnungs- und Zurechnungszeiten: Ruhegehaltssatz also (35 × 1,79375), auf zwei Dezimalstellen gerundet: Ruhegehalt (Ruhegehaltsfähige Diensbezüge × Ruhegehaltssatz):
2500 Euro 35 62,87 % 1569,50 Euro
(Hinzu kommen ggf. eine Sonderzuwendung und ein Betrag für Kindererziehungszeiten.)
107
Vorher galt ein Ruhegehaltssatz von 1,875 % pro Dienstjahr, maximal 75 %. Übergangsregelungen galten für bestehende Versorgungsfälle und für solche Versorgungsfälle, die in einem Übergangszeitraum nach dem 31.12.2001 eintreten. Ihre Versorgung wurde im Zusammenhang mit den acht nachfolgenden Versorgungsanpassungen schrittweise auf 71,75 % abgeschmolzen (Einzelheiten: § 69e BeamtVG). Seit dem 1.1.2011 ist dieser Abschmelzungsprozess abgeschlossen1. Im Versorgungsausgleich bei Scheidung konnte auch in Übergangsfällen nur mit dem Ruhegehaltssatz von 71,75 % gerechnet werden. Der abzuschmelzende Teil der Versorgung fiel ggf. in den Versorgungsausgleich nach Scheidung (früher: schuldrechtlicher Versorgungsausgleich, §§ 19 Abs. 2 Nr. 2, 20 ff. VersAusglG). c) Ermittlung des Ehezeitanteils und des Kapitalwerts
108
Der Ehezeitanteil eines Anrechts auf eine Beamtenversorgung bestimmt sich nach § 40 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 44 Abs. 1 VersAusglG auf Grundlage einer zeitratierlichen Bewertung. Dabei wird die Gesamtzeit bis zum Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze ermittelt2. Der Ehezeitanteil der Versorgung(sanwartschaft) entspricht dem Zeitanteil an der maßgeblichen Gesamtzeit, welcher in die Ehezeit fällt.
1 S. Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 256. 2 Das gilt auch bei besonderen (vorgezogenen) Altersgrenzen; vgl. hierzu Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 249 mit Beispielen; BGH v. 25.1.2012 – XII ZB 371/11, FamRZ 2012, 944.
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Versorgungsausgleich
Rn. 111
Kap. 11
Berechnungsformel: Ehezeitdienstzeit/Gesamtdienstzeit × Ruhegehalt (einschließlich anteiliger Sonderzuwendung) = Ehezeitanteil. Nicht zeitratierlich, sondern unmittelbar zu bewerten ist der Kindererziehungszuschlag und der Ergänzungszuschlag nach den §§ 50a, 50b BeamtVG1 (s. dazu schon oben Rn. 93). Die Beamtenversorgung wird um einen Abzug für Pflegeleistungen gekürzt (vgl. § 50f BeamtVG, § 55f SVG), entsprechend dem Pflegeversicherungsbeitrag von Rentnern in der gesetzlichen Rentenversicherung. Ob dieser Abzug bei der Bewertung berücksichtigt werden muss, ist streitig; der BGH hat für die Vorgängerregelung (§ 4a BSZG aF) diese Frage bejaht, was die Vermutung rechtfertigt, dass er dies auch im geltenden Recht tun wird2. Kritisiert wird der Unterschied zu gesetzlichen Rentenanrechten, wo der Abzug nicht im Wertausgleich bei der Scheidung, sondern nur im Wertausgleich nach der Scheidung berücksichtigt wird (dort § 20 Abs. 1 S. 2 VersAusglG). Für die Berechnung des Ehezeitanteils ist die Gesamtdienstzeit nicht auf 109 einen Maximalzeitraum von 40 Jahren beschränkt. Vielmehr ist die tatsächlich geleistete Gesamtdienstzeit zum Maßstab zu nehmen. Zurechnungszeiten nach § 13 BeamtVG, die der Beamte bei Dienstunfähigkeit vor Erreichen des 60. Lebensjahres erwirbt (§ 13 BeamtVG), werden für die Bestimmung des Ehezeitanteils als bloße Berechnungsfaktoren behandelt. Sie verlängern also für die Berechnung des Versorgungsausgleichs nicht die (tatsächliche) Dienstzeit und sind deshalb nur für die Berechnung des Ruhegehaltssatzes, nicht aber für die Berechnung des Ehezeitanteils maßgeblich3.
110
Bei vorzeitigem Eintritt in den Ruhestand wird die Versorgung um 0,3 % 111 pro Monat, maximal 10,8 % gekürzt (§ 14 Abs. 3 BeamtVG); höchst streitig ist, ob sich ein vorzeitiger Eintritt in den Ruhestand vor oder nach Ende der Ehezeit auch auf den Versorgungsausgleich auswirkt. Das Oberlandesgericht Stuttgart hat sich bei einem Ruhestand vor Ehezeitende für eine solche Auswirkung ausgesprochen4. Dabei wird ein Gleichlauf mit der Situation bei vorzeitigem Rentenbezug in der gesetzlichen Rentenversicherung erwogen (s. oben Rn. 63). Nach § 41 Abs. 2 S. 2 VersAusglG sind, wenn – im Zeitpunkt der Entscheidung über den Versorgungsausgleich – aus dem zu teilenden Anrecht bereits eine laufende Versorgung bezogen wird, „die tatsächlichen Werte“ maßgeblich. Das spricht für die 1 Palandt/Brudermüller, § 44 VersAusglG Rn. 7 mwN. 2 ZB BGH v. 5.11.2008 – XII ZB 87/06, FamRZ 2009, 211 (213) = FamRB 2009, 108, FamRB 2009, 70 und FamRB 2009, 71. Kritisch dazu Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 378 mwN. Fn. 140, 141. 3 BGH v. 15.11.1995 – XII ZB 4/95, FamRZ 1996, 215 (216); Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 243 f. 4 OLG Stuttgart v. 23.1.2007 – 16 UF 266/06, FamRZ 2007, 1024 = FamRB 2008, 8; vgl. auch Borth, FamRZ 2008, 2071 mwN zur diesbezüglichen obergerichtlichen Rspr.; eingehend Erman/Norpoth, § 44 VersAusglG Rn. 23 mwN.
Norpoth
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Kap. 11 Rn. 112
Versorgungsausgleich
Berücksichtigung eines Abschlags nach § 14 Abs. 3 BeamtVG, sogar dann, wenn der ausgleichspflichtige Ehegatte/Lebenspartner erst nach dem Ehezeitende vorzeitig in den Ruhestand getreten ist1. Dazu muss man im Auge haben, dass sich der Abschlag als solcher zwar negativ auf die Bewertung des Ehezeitanteils und Ausgleichswerts auswirkt; weil jetzt aber auch mit dem tatsächlichen Dienstende statt mit der regulären Altersgrenze zu rechnen ist, kann sich im Gegenzug der Wert der (in die Ehezeit fallenden) Dienstjahre erhöhen (s.o. Rn. 104 f.). Der BGH vertritt hier keine klare Linie. Führt der vorzeitige Bezug der Versorgung nach dem Ehezeitende zu keinen Abschlägen, soll er für die Bewertung von Ehezeitanteil und Ausgleichswert maßgeblich sein2. Verringert ein Versorgungsabschlag das Anrecht, soll ein nach Ehezeitende erfolgter Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand dagegen nicht berücksichtigt werden3. Eine spätere Abänderung der Entscheidung über den Versorgungsausgleich wegen vorzeitigen Eintritts in den Ruhestand wird idR an dessen fehlendem Ehezeitbezug scheitern. 112
Nicht mit dem vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand zu verwechseln ist der Fall einer Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand. Eine solche Versetzung erfolgt insbesondere (aber nicht nur4) bei Dienstunfähigkeit. Diese markiert auch mit Wirkung für den Versorgungsausgleich das Ende der Dienstzeit, und zwar nicht nur, wenn sie in der Ehezeit eintritt, sondern auch, wenn sie nach dem Ehezeitende zur Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand führt5.
113
Vor der Bestimmung des Ehezeitanteils sind auch Ruhens- und Anrechnungsvorschriften bei Zusammentreffen mehrerer Beamtenversorgungen oder von Beamtenversorgungen mit Anwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu beachten, § 44 Abs. 2 und 3 VersAusglG. Dazu s. Rn. 122 ff., 125 ff. Der Kapitalwert des Anrechts bestimmt sich nach § 47 Abs. 3 VersAusglG wie bei der gesetzlichen Rentenversicherung. Das Anrecht muss dazu zunächst durch den zum Ehezeitende geltenden aktuellen Rentenwert geteilt und so in Entgeltpunkte umgerechnet werden. Danach wird der Kapitalwert nach der bei Rn. 68 beschriebenen Formel ermittelt6.
1 Str.: aA BGH v. 14.12.2011 – XII ZB 23/08, FamRZ 2012, 769 f.; ebenso OLG Koblenz v. 5.2.2007 – 13 UF 726/06, FamRZ 2007, 1248 = FamRB 2008, 7; Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 388; wie hier Palandt/Brudermüller, § 41 VersAusglG Rn. 4 mwN; Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 259; näher Erman/Norpoth, § 5 VersAusglG Rn. 5 ff.; § 41 VersAusglG Rn. 6. 2 BGH v. 14.3.2007 – XII ZB 142/06, FamRZ 2007, 891, Tz. 16 f. 3 BGH v. 14.12.2011 – XII ZB 23/08, FamRZ 2012, 769 f.; BGH v. 18.5.2011 – XII ZB 127/08, FamRZ 2011, 1214 ff. 4 Vgl. BGH v. 15.11.1995 – XII ZB 4/95, FamRZ 1996, 215 (216). 5 Einzelheiten und weitere Nachweise bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 251. 6 Einen anderen Berechnungsweg schlägt Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 395, vor; dieser führt aber zum selben Ergebnis.
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Versorgungsausgleich
Rn. 116
Kap. 11
d) Bezug einer laufenden Versorgung Ist der Ausgleichspflichtige zum Ehezeitende bereits Versorgungsempfän- 114 ger, bestimmt sich der Ehezeitanteil seiner Versorgung grundsätzlich gem. § 41 VersAusglG unter Berücksichtigung der tatsächlichen Versorgung, insbesondere auch der tatsächlichen Dienstzeit. Eine fiktive Hochrechnung zu einer möglicherweise noch nicht erreichten Altersgrenze scheidet aus. Das gilt auch bei vorzeitiger Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit. Diese ist auch dann maßgeblich, wenn sie erst nach dem Ehezeitende eintritt. Die einzige Ausnahme gilt, wenn der Beamte lediglich wegen vorübergehender Dienstunfähigkeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden ist. In einem solchen Fall kann die ruhegehaltsfähige Dienstzeit unter Aussparung der nicht ruhegehaltsfähigen Zeit des einstweiligen Ruhestandes bis zur Altersgrenze anzusetzen sein1. Weil die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand nicht befristet wird und nur durch eine erneute Berufung in das Beamtenverhältnis beendet werden kann (vgl. zB §§ 37, 39, 40 BBG), setzt dies aber voraus, dass die erneute Berufung in das Beamtenverhältnis feststeht oder zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Versorgungsausgleich bereits erfolgt ist. e) Sonderfälle aa) Vorzeitige Dienstunfähigkeit Die vorzeitige Dienstunfähigkeit kann, wie bereits ausgeführt (vgl. 115 Rn. 103, 110), zur Berücksichtigung von Zurechnungszeiten führen, während für den Ehezeitanteil nur das Verhältnis der in die Ehezeit fallenden tatsächlich geleisteten Dienstzeit zur insgesamt absolvierten tatsächlichen Dienstzeit zu ermitteln ist. Unfallbedingte Erhöhungen (bei Dienstunfällen, vgl. § 36 Abs. 3, 37 BeamtVG) waren nach altem Recht nicht auszugleichen (§ 1587a Abs. 2 Nr. 1 S. 4 aF BGB). Das neue Recht benennt diese Ausnahme nicht mehr. Nach h.M. bleiben unfallbedingte Erhöhungen aber auch im aktuellen Versorgungsausgleich irrelevant, und zwar wegen ihres Entschädigungscharakters2. bb) Teilzeitbeschäftigte und ohne Dienstbezüge beurlaubte Beamte Eine Teilzeitbeschäftigung wirkt sich bei Beamten auch auf die zu erwartende Versorgung verkürzend aus. Dabei werden nicht die ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge gekürzt, sondern die berücksichtigungsfähigen Dienstzeiten, in denen in Teilzeit gearbeitet wurde (vgl. § 6 Abs. 1 S. 3 BeamtVG). Im Versorgungsausgleich beruht die Berechnung hinsichtlich der Gesamt1 KG v. 15.5.1986 – 19 UF 2207/85, FamRZ 1986, 1005 f.; vgl. HK-Familienrecht/ Hauß, § 44 VersAusglG Rn. 33. 2 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 252; Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 379; Johannsen/Henrich/Holzwarth, § 44 VersAusglG Rn. 63; Erman/Norpoth, § 44 VersAusglG Rn. 22 aE.
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Kap. 11 Rn. 117
Versorgungsausgleich
zeit auf einer Prognose künftiger Arbeitszeit. Die möglichen Kürzungen durch Bewilligung von Teilzeitarbeit in der Zukunft können hierbei nur insoweit berücksichtigt werden, als eine Teilzeit bereits bewilligt worden ist. Weil sich auch Bewilligungen von Teilzeit nach dem Ehezeitende auswirken, sind sie in dem Umfang zu berücksichtigen, in dem sie zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Versorgungsausgleich bereits erfolgt sind1. 117
Zeiten der Beurlaubungen ohne Dienstbezüge bleiben bei der Ermittlung der Dienstzeit grundsätzlich unberücksichtigt (§ 6 Abs. 1 Nr. 5 BeamtVG). Hier gilt dasselbe wie bei teilzeitbeschäftigten Beamten: Reicht eine Beurlaubung ohne Dienstbezüge über das Ehezeitende hinaus, so ist der gesamte Beurlaubungszeitraum – aber nur, soweit die Beurlaubung reicht – aus der Gesamtdienstzeit bis zum Erreichen der Altersgrenze herauszurechnen2. cc) Wahlbeamte, Beamte auf Zeit
118
Die Versorgungsanwartschaften von Beamten auf Zeit (wenn sie nach Ablauf der Amtsperiode die maßgebliche Wartezeit erfüllt haben, s. Rn. 89) berechnen sich nicht nach einer Altersgrenze, sondern nach dem Ende der Amtsperiode (bei Wahlbeamten: Wahlperiode). Das gilt auch, wenn sich diese noch verlängern kann (bei Wahlbeamten durch Wiederwahl), es sei denn, die Verlängerung der Amts-/Wahlperiode ist nicht nur möglich, sondern sicher zu erwarten3. Maßgeblich hierfür ist der Zeitpunkt der Entscheidung über den Versorgungsausgleich. Kommt es später zu einer Verlängerung der Dienstzeit, ist eine Abänderung des Versorgungsausgleichs (bezogen auf die betroffene Versorgungsanwartschaft) denkbar (§§ 225, 226 FamFG; früher § 10a VAHRG aF)4. dd) Ehezeitanteil bei mehreren Ehen
119
Wird ein Beamter mehrfach geschieden und ist seine Versorgung aufgrund eines zuvor durchgeführten Versorgungsausgleichs gekürzt wor-
1 Vgl. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 253; wird nachträglich Teilzeit bewilligt oder verlängert, kann dies eine Abänderung der Entscheidung zum Versorgungsausgleich rechtfertigen: Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 253; HK-Familienrecht/Hauß, § 44 VersAusglG Rn. 14. 2 BGH v. 26.3.1986 – IVb ZB 37/83, FamRZ 1986, 658 (660); BGH v. 11.1.1995 – XII ZB 104/91, FamRZ 1995, 414 (415); Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 369 mwN Fn. 119. 3 BGH v. 18.9.1991 – XII ZB 41/89, MDR 1992, 268 = FamRZ 1992, 46 f. 4 Str.: nach Ansicht von Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 255 fehlt stets der Ehezeitbezug. Ablehnend auch BGH v. 13.9.2006 – XII ZB 70/01, FamRZ 2007, 30 für Wahlbeamte = FamRB 2007, 38; OLG Celle v. 12.1.2009 – 10 UF 86/08, FamRZ 2009, 1673 (1675). S. aber Borth, FamRZ 2008, 2069 f.; Bergner, FamRZ 2007, 533 ff. mwN.
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Rn. 123
Kap. 11
den, so ermittelt sich der Ehezeitanteil bei Scheidung einer späteren Ehe aus einem ungekürzten (§ 57 BeamtVG) Versorgungsanrecht1. f) Ruhens- und Anrechnungsbestimmungen Bevor der Ehezeitanteil eines Anrechts in der Beamtenversorgung ermittelt werden kann, ist zu prüfen, ob das Anrecht durch Ruhens- und Anrechnungsvorschriften (§§ 54–56 BeamtVG, 55, 55a SVG) beeinflusst wird. Diese Bestimmungen sollen eine Überversorgung von Beamten bei Zusammentreffen mehrerer Versorgungsansprüche vermeiden. Geregelt sind folgende Fälle:
120
– Zusammentreffen mehrerer beamtenrechtlicher Versorgungen (§ 54 Abs. 2 BeamtVG, 55 Abs. 2 SVG), – Zusammentreffen einer Beamtenversorgung mit einer gesetzlichen Rente und/oder einer Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes (§§ 55 Abs. 2 BeamtVG, 55a Abs. 2 SVG), – Zusammentreffen mit Versorgungen aus zwischen- oder überstaatlicher Verwendung (§§ 56 Abs. 1 BeamtVG, 55b SVG). Dass Ruhens- und Anrechnungsvorschriften auch im Versorgungsausgleich zu beachten sind, ergibt sich aus § 44 Abs. 2 und 3 VersAusglG (früher: § 1587 Abs. 6 aF BGB). Eine Ausnahme gilt dann, wenn nur eine der zusammentreffenden Versorgungen in der Ehezeit erworben wurde, weil dann der Ausgleichsberechtigte nicht an der die Kürzung verursachenden Versorgung partizipiert (§ 44 Abs. 3 S. 2 VersAusglG)2.
121
aa) Zusammentreffen zweier Beamtenversorgungen Verfügt der Ausgleichspflichtige über zwei Beamtenversorgungen, die er auch (anteilig) in der Ehezeit erworben hat, so wird nur die frühere der beiden Versorgungen gekürzt. Um die Kürzung zu errechnen, ist zunächst für jede Versorgung der volle Wert zu bestimmen. Eine Hochrechnung der Dienstzeit auf eine Altersgrenze findet (nur) bei einer Anwartschaft aus einem noch bestehenden Dienstverhältnis statt.
122
In einem zweiten Schritt wird zur Bestimmung der Höchstgrenze des § 54 123 Abs. 2 BeamtVG der Ruhegehaltssatz aus allen Dienstzeiten beider Versorgungen (ohne Doppelanrechnungen) mit den ruhegehaltsfähigen Dienstbezügen der früheren Versorgung multipliziert, wobei die jeweilige Endstufe der Besoldungsgruppe maßgeblich ist. Übersteigt die Summe der im ersten Schritt ermittelten Werte diese Höchstgrenze, so wird die frühere Versorgung um den entsprechenden Betrag gekürzt3. 1 Einzelheiten hierzu bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 262 mwN. 2 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 264. 3 Diese Kürzung kann verfassungsrechtlich bedenklich sein, weil sie den Beamten um die Vorteile einer nach dem Wechsel des Dienstherrn erreichten höheren Besoldungsstufe bringen kann; schließlich ist das Gehalt einer höheren Besol-
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Kap. 11 Rn. 124 124
Versorgungsausgleich
Anschließend werden die gekürzte und die ungekürzte Versorgung addiert. Aus der Gesamtsumme ist der Ehezeitanteil im Verhältnis der insgesamt berücksichtigten Dienstzeiten (ohne Doppelberücksichtigung) zu den in die Ehezeit fallenden Dienstzeiten zu errechnen1. bb) Zusammentreffen mit sonstigen Versorgungsanrechten
125
Treffen Beamtenversorgung und Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, aus einer Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes, einer berufsständischen Versorgungseinrichtung oder einer befreienden Lebensversicherung zusammen, dann bleiben hiervon die genannten Anrechte (weil sie auf geleisteten Beiträgen beruhen) in ihrem Bestand unberührt. Die Beamtenversorgung wird dagegen gekürzt, § 55 Abs. 1 und 2 BeamtVG. Weil die Systeme, nach denen in der gesetzlichen Rentenversicherung und in der Beamtenversorgung Anwartschaften erworben werden, miteinander unvereinbar sind, bereitet die Berücksichtigung im Versorgungsausgleich erhebliche Schwierigkeiten2. Der BGH3 verfährt wie folgt:
126
Die Kürzung der Beamtenversorgung ist nur insoweit für den Versorgungsausgleich relevant, als auch die konkurrierende Anwartschaft, welche die Kürzung verursacht hat, in der Ehezeit erworben worden ist.
127
In diesem Fall wird zunächst der Ehezeitanteil der ungekürzten Beamtenversorgung ermittelt. Von diesem wird der Kürzungsbetrag (wegen Rentenanwartschaft oder Anwartschaft auf Zusatzversorgung) insoweit abgezogen, wie er seinerseits in der Ehezeit erworben worden ist.
128
Die Berechnung des Kürzungsbetrags nach § 55 Abs. 1 und 2 BeamtVG selbst orientiert sich, wie beim Zusammentreffen zweier Beamtenversorgungen, an der vollen Beamtenversorgung; dazu ist die Endstufe der maßgeblichen Besoldungsgruppe zugrunde zu legen und die Dienstzeit bis zum Eintritt des Versorgungsfalls zu berechnen4. Weil der Kürzungsbetrag durch die insgesamt, also auch möglicherweise außerhalb der Ehezeit, erworbenen Rentenansprüche verursacht wird, ist sein Ehezeitanteil nach dem Verhältnis der in der Ehezeit erworbenen Entgeltpunkte zu den gesamten Entgeltpunkten der Rentenanwartschaft zu berechnen.
129
Entsprechend ist mit den sonstigen kollidierenden Anrechten zu verfahren. Bei Anrechten aus einer Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes gilt die Besonderheit, dass die Zusatzversorgung nach bisheriger An-
1 2 3 4
dungsstufe ohne Wechsel des Dienstherrn nach zwei Jahren ruhegehaltsfähig, vgl. BVerfG v. 20.3.2007 – 2 BvL 11/04, NVwZ 2007, 679 ff. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 265; Palandt/Brudermüller, § 44 VersAusglG Rn. 15. Vgl. dazu Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 273 ff. mit zahlreichen Nachweisen zum Streitstand in Literatur und Rspr. BGH v. 19.1.2000 – XII ZB 16/96, FamRZ 2000, 746 ff. Anschaulich mit Berechnungsbeispiel Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 393.
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Versorgungsausgleich
Rn. 132
Kap. 11
schauung im Anwartschaftsstadium eine wegen Verfallbarkeit nicht zu berücksichtigende Dynamik (Wertsteigerung) aufweist. Auf der Grundlage des alten Rechts wurde deshalb für die Frage, ob Höchstbeträge nach § 55 Abs. 1, 2 BeamtVG überschritten wurden, die Zusatzversorgung zunächst mit Hilfe der BarwertVO dynamisiert1. Nach dem geltenden Recht kann eine Dynamisierung nicht mehr unter Anwendung der BarwertVO erfolgen. Ob sie überhaupt noch erforderlich ist2 und wie sie ggf. durchzuführen ist, wird sich in der Praxis zeigen müssen3. Bei einem Zusammentreffen mit zwischenstaatlichen und überstaatli- 130 chen Versorgungsanrechten erfolgt die Kürzung nach § 56 Abs. 1, 2 BeamtVG. Auch insoweit ist von der ehezeitbezogenen Beamtenversorgung der ehezeitbezogene Anteil des Ruhensbetrags abzuziehen4. g) Besteuerung von Beamtenpensionen Beamtenpensionen werden wie Arbeitslohn versteuert. In der Übergangs- 130a zeit seit 2005 bis zur vollständigen Einführung der nachgelagerten Besteuerung gesetzlicher Renten gibt es einen Versorgungsfreibetrag, der bis 2040 schrittweise wieder abgeschmolzen wird5. 3. Berufsständische Versorgung a) Allgemeines Träger der berufsständischen Versorgung sind die Versorgungswerke, bei 131 denen es sich um öffentlich-rechtliche Körperschaften handelt. Diese existieren für alle kammerfähigen freien Berufe (Apotheker, Architekten, Ärzte, Rechtsanwälte, Notare, Steuerberater6); ihre Errichtung beruht auf Landesrecht. Die Mitgliedschaft (überwiegend Pflichtmitgliedschaft, teilweise mit Befreiungsmöglichkeit) ist in den jeweiligen Satzungen der Versorgungswerke geregelt. Angehörige der genannten freien Berufe können unter bestimmten Voraussetzungen auf Antrag von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit werden (Einzelheiten: § 6 SGB VI). Die Leistungen der Versorgungswerke werden durch die Beiträge der Mit- 132 glieder finanziert. Die Finanzierungsverfahren sind unterschiedlich: neben dem aus der gesetzlichen Rentenversicherung bekannten Umlageverfahren werden das offene Deckungsplanverfahren, ein modifiziertes Anwartschaftsdeckungsverfahren und ein Umlageverfahren mit Kapital1 2 3 4 5 6
Nachweise bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 268. Verneinend Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 268. Vgl. auch Erman/Norpoth, § 44 VersAusglG Rn. 29. Einzelheiten bei Palandt/Brudermüller, § 44 VersAusglG Rn. 17. Dazu s. im Einzelnen Breuers, FPR 2011, 518 f. Vgl. hierzu näher Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 261 ff.; Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 480 ff.
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Kap. 11 Rn. 133
Versorgungsausgleich
stock angewandt1. Aus der Art des verwendeten Finanzierungsverfahrens und aus den näheren (durch Satzung geregelten) Umständen der Dynamisierung (= Anpassung an die Inflation im Anwartschafts- und Leistungsstadium) können bei gleich hohen Anrechten unterschiedliche korrespondierende Kapitalwerte (§ 47 VersAusglG) resultieren. b) Die Ermittlung der Anrechte und ihres Ehezeitanteils 133
Die Ermittlung der einzelnen Anrechte bestimmt sich nach der jeweils zugrunde liegenden Satzung des Versorgungswerks. Für die Einbeziehung in den Versorgungsausgleich ist nicht erforderlich, dass die Anwartschaft bereits durch Erfüllung von Wartezeiten unverfallbar geworden ist, § 2 Abs. 3 VersAusglG. Für die Ermittlung des Ehezeitanteils bei berufsständischen Versorgungen hält das VersAusglG keine Sondervorschrift vor. Für die meisten berufsständischen Versorgungen war nach altem Recht (§ 1587a Abs. 2 Nr. 4b aF BGB) der Ehezeitanteil zeitratierlich zu bestimmen. Dies konnte sich, wie zB bei der Ärzteversorgung Westfalen-Lippe, daraus ergeben, dass ein Zuschlag auf die sich aus den erworbenen Steigerungszahlen ergebende Rente gezahlt wurde, der einer unmittelbaren Bewertung entsprechend § 39 VersAusglG nicht zugänglich war2. Gerade für diese Fälle sieht das Gesetz nunmehr vor, dass die unmittelbare Bewertung, soweit sie möglich ist, den Vorrang hat. Das hat zur Folge, dass diejenigen Bestandteile des Anrechts, die unmittelbar der Ehezeit zugeordnet werden können (zB über in der Ehezeit erworbene Steigerungszahlen), auch nach § 39 VersAusglG zu bewerten sind3. Treten Bestandteile hinzu, die sich undifferenziert auf die Gesamtzeit beziehen (zB Grundbeträge, Zuschläge4), sind sie dagegen nach § 40 VersAusglG zu bewerten. c) Besteuerung der Leistungen
133a Auch die Leistungen berufsständischer Versorgungswerke werden nachgelagert besteuert; die Beiträge hierzu können steuermindernd abgesetzt werden (§ 10 Abs. 2 Nr. 2b EStG)5. 4. Betriebliche Altersversorgung 134
Die Bedeutung der betrieblichen Altersversorgung als zweite Säule der Altersvorsorge hat in der Vergangenheit im selben Maß stetig zugenommen, in dem die Sicherheit der primären Altersvorsorge in Frage gestellt 1 Erman/Norpoth, § 39 VersAusglG Rn. 13 mwN. 2 BGH v. 20.9.1995 – XII ZB 15/94, FamRZ 1996, 95 (96); detaillierte Darstellung mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 483–486. 3 BT-Drucks. 16/10144, 79. 4 Glockner/Hoenes/Weil, § 7 Rn. 7 f. mit Beispiel; eingehend Kemper, VA, VI Rn. 51 ff. 5 Vgl. Breuers, FPR 2011, 519.
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Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 137
Kap. 11
worden ist. Das hat zu einer erheblichen Zunahme an Modellen betrieblicher Altersvorsorge geführt. Diese Entwicklung ist durch das Altersvermögensgesetz v. 26.6.20011 noch maßgeblich gefördert worden2. Betriebliche Altersversorgungen i.S.d. § 1 Abs. 1 BetrAVG sind alle Leis- 135 tungen der Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversorgung, die einem Arbeitnehmer3 aus Anlass seines Arbeitsverhältnisses zugesagt werden. Die möglichen Grundlagen für Ansprüche auf Betriebsrenten sind vertraglicher Natur unter Berücksichtigung arbeitsrechtlicher Besonderheiten4; das BetrAVG stellt lediglich einen rechtlichen Rahmen zur Verfügung. Die Mittel zur Finanzierung betrieblicher Altersversorgungen können sowohl vom Arbeitgeber als auch vom Arbeitnehmer (Entgeltumwandlung, vgl. § 1b BetrAVG) kommen. Als Leistungen nach dem BetrAVG können neben der in Geld zu leisten- 136 den Rente auch Einmalzahlungen in den Versorgungsausgleich fallen (§ 2 Nr. 3 VersAusglG); darin liegt eine Veränderung gegenüber dem früheren Recht (s.u. Rn. 138). Eine Besonderheit des Betriebsrentenrechts ist ferner, dass auch Sachleistungen Versorgungscharakter haben können, wenn deren Beginn oder Fortsetzung an die Voraussetzungen des Alters oder der Invalidität geknüpft sind, wie zB Kohledeputate oder ein Wohnrecht an einer Werkswohnung5. Diese Sachleistungen fallen aber nach herrschender Meinung nicht in den Versorgungsausgleich6. Zuweilen bereitet die Abgrenzung zwischen Leistungen nach dem BetrAVG und sonstigen Leistungen an den Arbeitnehmer Schwierigkeiten7. Maßgeblich für die Differenzierung ist der Versorgungscharakter der Leistungen nach dem BetrAVG. Diese werden idR (aber nicht nur) zeitlebens erbracht und sind an den Bezug der Altersrente oder der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gekoppelt. Übergangsgelder8, Gewinnbeteiligungen sowie Jubiläumsgaben oder Treueprämien, die nicht über das Erreichen der Altersgrenze oder bei Invalidität fortbezahlt werden, fallen deshalb grundsätzlich nicht in den Versorgungsausgleich. Die Möglichkeiten zur Gestaltung betrieblicher Anrechte sind vielfältig. Die spätere Versorgung kann als Gesamtversorgung zugesagt werden oder sich nach der Höhe des letzten (ruhegehaltsfähigen) Einkommens richten. Es können für Zeiten der Betriebszugehörigkeit feste Beträge verspro1 BGBl. I, 1310, 1327, dort Art. 9. Dazu grundlegend Glockner/Goering, FamRZ 2002, 282. 2 Einzelheiten hierzu bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 368. 3 Oder einer nach § 17 BetrAVG gleichgestellten Person (zB Versicherungs- oder Handelsvertreter). 4 Zu den diversen arbeitsrechtlichen Anspruchsgrundlagen vgl. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 373. 5 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 374. 6 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 79; Erman/Norpoth, § 2 VersAusglG Rn. 9 mwN. 7 Einzelheiten bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 375. 8 BGH v. 31.8.2000 – XII ZB 89/99, FamRZ 2001, 27 (28).
Norpoth
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137
Kap. 11 Rn. 138
Versorgungsausgleich
chen werden; alternativ können auch Beiträge in Abhängigkeit von der Einkommenshöhe in eine Direktversicherung oder Pensionskasse eingezahlt werden, nach deren näherer Vertragsausgestaltung sich dann die Höhe der Leistung richtet1. Auch Kombinationen verschiedener Varianten sind möglich. Vielfach liegen Mischformen vor, so dass der Ehezeitanteil teilweise unmittelbar, teilweise zeitratierlich zu berechnen ist. 138
Neu ist, dass Anrechte der betrieblichen Altersvorsorge selbst dann in den Versorgungsausgleich einzubeziehen sind, wenn sie statt auf eine Rentenleistung auf eine Kapitalzahlung (zB Direktversicherung in Form einer Kapitallebensversicherung) gerichtet sind. Nach altem Recht unterfielen diese Versorgungsanrechte dem Zugewinnausgleich. Das wurde als nachteilig angesehen, weil zum einen das auszugleichende Kapital aus der Anwartschaft gar nicht „flüssig“ war. Zum anderen konnte der Ausgleichspflichtige eine Rentenversicherung mit Kapitalwahlrecht – freilich nur in besonderen Konstellationen – sowohl dem Zugewinnausgleich als auch dem Versorgungsausgleich entziehen, indem er nach dem Stichtag für die Berechnung des Zugewinnausgleichs das Kapitalwahlrecht ausübte2. Das hat den Gesetzgeber bewogen, Anrechte der betrieblichen Altersversorgung unabhängig von der Leistungsart in den Versorgungsausgleich einzubeziehen3.
Û
Wichtig: Auskünfte zu Anrechten der betrieblichen Altersversorgung haben sich in der Vergangenheit als fehleranfällig erwiesen. Sie müssen daher besonders sorgfältig geprüft werden, weil die Entscheidung zum Versorgungsausgleich nach den §§ 225 FamFG, 32 VersAusglG nach Eintritt der Rechtskraft nicht mehr abänderbar ist. Es sollte immer geprüft werden, ob in die Wertberechnung auch Zusagen für den Fall der Invalidität/des Todes „eingepreist“ sind4. Bei der Berechnung von Anrechten aus Direktzusage und Unterstützungskasse besteht zudem ein Problem mit dem verwendeten Zinssatz (dazu s.u. Rn. 161 ff., 168a).
a) Durchführungswege und Träger der betrieblichen Altersversorgung 139
Nach dem BetrAVG gibt es fünf mögliche Durchführungswege der Altersversorgung, die auch miteinander kombiniert werden können5:
140
Bei der unmittelbaren Versorgungszusage durch den Arbeitgeber (§§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 BetrAVG) bestehen allein zwischen diesem und dem Ar1 S. näher Glockner/Hoenes/Weil, § 6 Rn. 105 ff.; DRV-Komm., § 2 VersAusglG Ziff. 2.6. 2 BGH v. 5.2.2003 – XII ZB 53/98, FamRZ 2003, 664 = FamRB 2003, 178. 3 BT-Drucks. 16/10144, 47 f. 4 Glockner/Hoenes/Weil, § 6 Rn. 133. 5 Einzelheiten bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 404 ff.; Erman/Norpoth, § 12 VersAusglG Rn. 7 ff.
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Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 144
Kap. 11
beitnehmer Rechtsbeziehungen (sog. Direktzusage). Häufig decken die Arbeitgeber die abgesicherten Risiken mit Rückdeckungsversicherungen ab. Direktversicherungen nach §§ 1 Abs. 2 Nr. 2, 1b Abs. 2 BetrAVG sind 141 Lebensversicherungen, die vom Arbeitgeber als Versicherungsnehmer auf das Leben des Arbeitnehmers abgeschlossen werden. Sie dienen dazu, eine erteilte Versorgungszusage des Arbeitgebers abzusichern. Eine bei Ausscheiden des Arbeitnehmers unverfallbare Versorgungsanwartschaft kann der Arbeitgeber unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 BetrAVG durch Abtretung der Ansprüche aus der Direktversicherung an den Arbeitnehmer ablösen, wenn keine Beitragsrückstände bestehen („versicherungsvertragliche Lösung“). Nach § 1b Abs. 2 BetrAVG darf der Arbeitgeber im Übrigen ein dem Arbeitnehmer eingeräumtes, grundsätzlich widerrufliches Bezugsrecht (§ 166 VVG) nicht mehr widerrufen, wenn die Unverfallbarkeitsvoraussetzungen erfüllt sind. Zu unterscheiden hiervon ist die sog. unechte Direktversicherung, bei welcher der Arbeitnehmer Versicherungsnehmer ist und der Arbeitgeber lediglich die Beiträge leistet1. Unechte Direktversicherungen gelten nicht als betriebliche Altersvorsorge; sie können gleichwohl als private Versicherungen des Arbeitnehmers in den Versorgungsausgleich fallen. Pensionskassen sind Aktiengesellschaften oder Versicherungsvereine auf 142 Gegenseitigkeit, die unter staatlicher Aufsicht stehen; sie gewähren dem Arbeitnehmer bzw. seinen Hinterbliebenen einen Rechtsanspruch (§ 1b Abs. 3 BetrAVG). Sonderformen sind die Versorgungsanstalten des öffentlichen Dienstes wie die VBL, bei denen es sich um juristische Personen des öffentlichen Rechts handelt. Auch insoweit ermöglicht § 2 Abs. 3 BetrAVG dem Arbeitgeber unter den dort genannten Voraussetzungen bei vorzeitigem Ausscheiden des Arbeitnehmers, sich durch Abtreten der Ansprüche gegen die Pensionskasse von Ansprüchen aus der Versorgungszusage zu befreien. Unterstützungskassen sind rechtsfähige eigenständige Versorgungsein- 143 richtungen, die von den Trägerunternehmen (ein oder mehrere Arbeitgeber) finanziert werden. Eine Beteiligung der Arbeitnehmer an der Finanzierung ist möglich. Sie gewähren dem Arbeitnehmer zwar keinen eigenen Rechtsanspruch auf Leistungen; nach der Rechtsprechung des BAG bedeutet dies aber nur, dass sie die Leistung bei Vorliegen sachlicher Gründe verweigern dürfen2. Bleibt die Leistung aus, haftet der Arbeitgeber. Die Unterstützungskassen sind in der Kapitalanlage frei. Der Pensionsfonds wurde als weiterer Durchführungsweg der betriebli- 144 chen Altersversorgung zum 1.1.2002 eingeführt. Er wird als AG oder als VVaG geführt und gewährt dem Arbeitnehmer einen Rechtsanspruch auf 1 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 407. 2 Vgl. dazu Erman/Norpoth, § 12 VersAusglG Rn. 11 mwN.
Norpoth
1201
Kap. 11 Rn. 145
Versorgungsausgleich
die zugesagten Leistungen. Im Vergleich zu den Pensionskassen verfügen Pensionsfonds über größere Spielräume in der Geldanlage. 145
Neben diesen Durchführungswegen existiert die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung des Arbeitnehmers in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 7 SGB VI, die in der Praxis kaum vorkommt1.
146
Die Frage, wer Träger der betrieblichen Altersversorgung i.S. des Versorgungsausgleichsrechts ist, hat der BGH für das alte Recht wie folgt beantwortet: Grundsätzlich ist Träger der betrieblichen Altersversorgung, wer die Versorgungszusage abgibt und im Versorgungsfall die zugesagten Leistungen gewährt2. Danach ist der Arbeitgeber Träger der Versorgung, wenn er eine Direktzusage erteilt oder Beiträge in eine Unterstützungskasse einzahlt. Erteilt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer dagegen eine mittelbare Versorgungszusage über einen selbständigen dritten Versorgungsträger (Pensionskasse, Pensionsfonds oder Direktversicherung), dann gewährt (regelmäßig) ein anderer die zugesagte Leistung als derjenige, der die Versorgungszusage erteilt. In diesen Fällen ist nach bisheriger Ansicht des BGH zum alten Recht allein der Dritte der in Anspruch zu nehmende und danach auch der in den Versorgungsausgleich einzubeziehende Versorgungsträger3. Von dieser Konzeption geht wohl auch der Gesetzgeber des VersAusglG stillschweigend aus; bislang wird die Frage im neuen Recht dem folgend praktisch nicht aufgeworfen. Im alten Recht ergaben sich regelmäßig keine Probleme, weil gerade die privaten betrieblichen Rentenanrechte nur Berechnungsposten im öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleich waren. Ob die Sichtweise im neuen Recht angebracht ist, erscheint dagegen im Hinblick auf die nunmehr regelmäßig erfolgende interne Teilung zweifelhaft. Es bleiben nämlich Fragen offen.
147
Zu beginnen ist mit § 12 VersAusglG, wonach der Ausgleichsberechtigte bei Teilung einer Betriebsrente die Stellung eines ausgeschiedenen Arbeitnehmers i.S. des Betriebsrentengesetzes erlangt. Der Arbeitgeber steht aber dem ausgeschiedenen Arbeitnehmer für die Erfüllung der zugesagten Leistungen auch dann ein, wenn die Durchführung nicht unmittelbar über ihn erfolgt (§ 1 Abs. 1 S. 3 BetrAVG); er bleibt also aus der Versorgungszusage verpflichtet. Gegenüber dem ausgeschiedenen Arbeitnehmer gewinnt er nur die Option, sich unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2, 3 und 3a BetrAVG durch Abtretung der Ansprüche aus dem Vertrag mit dem dritten Versorgungsträger von seinen Pflichten aus der Versorgungszusage zu befreien (sog. versicherungsrechtliche Lösung).
148
Außerdem ist der Arbeitgeber, wenn er Beiträge an einen rechtsfähigen Versorgungsträger leistet, der dem Arbeitnehmer einen eigenen Rechtsanspruch auf die Leistung einräumt, der (einzige) Vertragspartner dieses 1 Vgl. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 411. 2 ZB BGH v. 8.10.1986 – IVb ZB 120/83, FamRZ 1987, 52 (53); BGH v. 7.10.1992 – XII ZB 132/90, FamRZ 1993, 299 (300 f.). 3 BGH v. 8.10.1986 – IVb ZB 120/83, FamRZ 1987, 52 (53 f.).
1202
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 151
Kap. 11
Versorgungsträgers (sog. Deckungsverhältnis in einem Vertrag zugunsten Dritter, § 328 BGB). Er kann etwa im Fall einer Direktversicherung als Versicherungsnehmer diese kündigen, abtreten oder beleihen1. Die Versorgungszusage gegenüber dem Arbeitnehmer (Valutaverhältnis) bildet ihrerseits den Rechtsgrund für das bei dem dritten Versorgungsträger begründete Bezugsrecht des Arbeitnehmers. Es ist unklar, welche rechtlichen Auswirkungen ein nur auf das Bezugsrecht beschränkter Eingriff in dieses Dreiecksverhältnis für den Arbeitgeber, den Arbeitnehmer, den Ausgleichsberechtigten und den dritten Versorgungsträger genau haben soll. Maßgeblich für Inhalt und Umfang der Betriebsrentenanwartschaft bleibt schließlich stets die zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehende Versorgungsregelung, was insbesondere dann von Bedeutung ist, wenn die zugesagte Versorgung und das bei dem dritten Versorgungsträger bestehende Anrecht nicht inhaltsgleich sind2. Es kann also aus verschiedenen Gründen im Zeitpunkt der Entscheidung über den Versorgungsausgleich bei dem dritten Versorgungsträger ein Anrecht bestehen, welches nicht den Gegenwert der erteilten Versorgungszusage darstellt.
149
Diese Überlegungen sprechen dafür, (auch) bei einer mittelbaren Versor- 150 gungszusage das Anrecht des Arbeitnehmers in seiner Gesamtheit (Versorgungszusage des Arbeitgebers einerseits, Bezugsrecht bei dem dritten Versorgungsträger andererseits) zu teilen und nicht allein das abgespaltene Bezugsrecht. Der Arbeitgeber des Ausgleichspflichtigen ist nach der hier vertretenen Ansicht jedenfalls auch dann am Versorgungsausgleichsverfahren zu beteiligen, wenn er für diesen beispielsweise eine Direktversicherung abgeschlossen hat, weil in seine Rechte als Vertragspartner des dritten Versorgungsträgers eingegriffen wird. Teilt man, wie hier vorgeschlagen, sowohl die Ansprüche aus der Versorgungszusage als auch das Bezugsrecht, kann sich der Arbeitgeber gegenüber dem Ausgleichsberechtigten dann nach Maßgabe des § 2 Abs. 2, 3 und 3a BetrAVG von seinen Pflichten aus der Versorgungszusage befreien. b) Unverfallbarkeit Scheidet der Arbeitnehmer vor Erreichen der Anspruchsvoraussetzungen 151 einer Betriebsrente aus dem Betrieb aus, so stellt sich die Frage nach dem Schicksal seines Anrechts. Dieses kann ihm gänzlich verloren gehen; nach dem BetrAVG muss es ihm aber unter bestimmten Mindestvoraussetzungen erhalten bleiben. Liegen diese Voraussetzungen vor, spricht man von Unverfallbarkeit. Die Anrechte nach dem BetrAVG werden zwar unabhängig von der Frage der Verfallbarkeit in den Versorgungsausgleich einbezogen (§ 2 Abs. 3 VersAusglG). Die noch nicht unverfallbaren 1 Dazu instruktiv BGH v. 10.2.1993 – XII ZB 80/88, FamRZ 1993, 793 ff. 2 BGH v. 10.2.1993 – XII ZB 80/88, FamRZ 1993, 793 ff.; vgl. auch BGH v. 23.7.2003 – XII ZB 162/00, FamRZ 2003, 1648 ff. = FamRB 2003, 388.
Norpoth
1203
Kap. 11 Rn. 152
Versorgungsausgleich
Anrechte gelten jedoch nach § 19 Abs. 2 Nr. 1 VersAusglG nicht als ausgleichsreif und sind deshalb (wie nach dem alten Recht, allerdings nicht mehr abänderbar) dem Versorgungsausgleich nach der Scheidung (§§ 20 ff. VersAusglG) vorbehalten. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage der Unverfallbarkeit ist – wie nach dem alten Recht – der Zeitpunkt der Entscheidung über den Versorgungsausgleich (§ 19 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 5 Abs. 2 S. 2 VersAusglG1). 152
In dieser Hinsicht hat sich die Lage für den Ausgleichsberechtigten verschlechtert, weil eine nachträgliche Korrektur des Versorgungsausgleichs bei Scheidung nach Eintritt der Unverfallbarkeit des betrieblichen Anrechts (früher: § 10a VAHRG) nicht mehr möglich ist. Noch verfallbare Betriebsrentenanwartschaften werden unabänderlich in den schuldrechtlichen Versorgungsausgleich verwiesen.
153
Bei der Frage nach der Unverfallbarkeit ist zunächst zu klären, ob das betroffene Anrecht allein aus Arbeitgeberbeiträgen oder (ggf. teilweise) aus Arbeitnehmerbeiträgen angespart wird. Soweit betriebliche Anrechte auf Arbeitnehmerbeiträgen beruhen, sind sie immer sofort unverfallbar (§ 1b Abs. 5 BetrAVG). Der Schutz des Arbeitnehmers bei Entgeltumwandlung von der ersten Beitragszahlung an beruht schlicht darauf, dass der Arbeitnehmer – jedenfalls bei einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise – das Anrecht aus eigenen Mitteln erwirbt2. Bei Anrechten, die – zumindest auch – auf Arbeitgeberleistungen beruhen, ist zwischen der Unverfallbarkeit dem Grunde nach und der Unverfallbarkeit der Höhe nach zu unterscheiden.
154
Die Voraussetzungen für die Unverfallbarkeit einer betrieblichen Rentenanwartschaft bestimmen sich grundsätzlich nach der zugrunde liegenden (vertraglichen) Regelung. Das BetrAVG formuliert nur Mindestbedingungen. Diese sind durch das AVmG mit Wirkung zum 1.1.2001 und noch einmal durch das AltvFö/SGBIIIÄndG3 mit Wirkung zum 1.1.2009 geändert worden. Die Änderungen gelten aber nur für Versorgungszusagen, die nach dem 31.12.2000/31.12.2008 erteilt worden sind. Zu unterscheiden sind deshalb der Rechtszustand für bis zu diesen Stichtagen erteilte Zusagen und derjenige für die danach erteilten Versorgungszusagen.
Û
Wichtig: Soweit der Arbeitgeber im Versorgungsausgleichsverfahren die Auskunft erteilt, das Anrecht des Arbeitnehmers sei noch nicht unverfallbar, ist eine sorgfältige Prüfung angeraten! Erfahrungsgemäß sind die Auskünfte zu diesem Punkt oft fehlerhaft. Weil die Unverfallbarkeitsvoraussetzungen auch erst im Zeitpunkt der Entscheidung vor-
1 BT-Drucks. 16/10144, 63. 2 Gleichwohl wird auch bei einer Entgeltumwandlung davon ausgegangen, dass die Beiträge vom Arbeitgeber stammen: Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 403. 3 Gesetz zur Förderung der zusätzlichen Altersvorsorge und zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch v. 10.12.2007, BGBl. I 2007, 2838.
1204
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 157
Kap. 11
liegen müssen, ist es stets unverzichtbar, den Zeitpunkt zu kennen, zu dem die Unverfallbarkeit eintritt. Liegen die gesetzlichen Voraussetzungen der Unverfallbarkeit nicht vor, ist zusätzlich die vertragliche Grundlage des Anrechts zu prüfen, weil diese zugunsten des Arbeitnehmers vom Gesetz abweichen kann. Voraussetzungen der Unverfallbarkeit für Versorgungszusagen1 dem Grunde nach aus der Zeit bis zum 31.12.2000 sind nach dem Übergangsrecht (§ 30f Abs. 1 BetrAVG aF) maximal,
155
– dass der Arbeitnehmer mindestens das 35. Lebensjahr vollendet hat und die Versorgungszusage für ihn mindestens 10 Jahre bestanden hat, oder – dass der Beginn der Betriebszugehörigkeit mindestens 12 Jahre zurückliegt und die Versorgungszusage mindestens drei Jahre bestanden hat, oder – dass der Arbeitnehmer das 30. Lebensjahr vollendet hat und die Versorgungszusage seit dem 1.1.2001 mindestens fünf Jahre bestanden hat. Für die ab dem 1.1.2001 erteilten Versorgungszusagen gelten dagegen nach §§ 1b, 30f Abs. 2 BetrAVG folgende maximale Unverfallbarkeitsvoraussetzungen: – dass der Arbeitnehmer das 30. Lebensjahr vollendet hat und die Versorgungszusage mindestens fünf Jahre bestanden hat, oder
156
– die Versorgungszusage zwar noch keine fünf Jahre bestanden hat, der Arbeitnehmer aber aufgrund einer Vorruhestandsregelung aus dem Betrieb ausscheidet, ohne die er die Unverfallbarkeitsvoraussetzungen und sonstigen Anspruchsvoraussetzungen hätte erfüllen können, oder – dass der Arbeitnehmer das 25. Lebensjahr vollendet hat und die Versorgungszusage seit dem 1.1.2009 mindestens fünf Jahre bestanden hat, oder – wenn die betriebliche Altersversorgung durch Entgeltumwandlung (§ 1a BetrAVG) erfolgt, ohne jede Frist (§ 1b Abs. 5 BetrAVG)! Im letzteren Fall kann der Arbeitnehmer beanspruchen, nach seinem 157 Ausscheiden aus dem Betrieb die Versicherung oder Versorgung mit eigenen Beiträgen fortzusetzen; das Recht des Arbeitgebers, die Versorgung zu verpfänden, abzutreten oder zu beleihen, ist ausgeschlossen. Bei einer Direktversicherung muss dem Arbeitnehmer mit Beginn der Entgeltumwandlung ein unwiderrufliches Bezugsrecht eingeräumt werden (s.o. Rn. 141).
1 Dasselbe gilt für Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung aufgrund betrieblicher Übung oder aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes, § 1b Abs. 1 S. 4 BetrAVG.
Norpoth
1205
Kap. 11 Rn. 158 158
Versorgungsausgleich
Ansprüche aus ab dem 1.1.2009 erteilten Versorgungszusagen sind nach § 1b BetrAVG unter folgenden Voraussetzungen unverfallbar: – dass der Arbeitnehmer das 25. Lebensjahr vollendet hat und die Versorgungszusage mindestens fünf Jahre bestanden hat, oder – die Versorgungszusage zwar noch keine fünf Jahre bestanden hat, der Arbeitnehmer aber aufgrund einer Vorruhestandsregelung aus dem Betrieb ausscheidet, ohne die er die Unverfallbarkeitsvoraussetzungen hätte erfüllen können, oder – wenn die betriebliche Altersversorgung durch Entgeltumwandlung erfolgt, ohne jede Frist (s. Rn. 157).
159
Voraussetzung für die Einbeziehung einer betrieblichen Anwartschaft ist auch die Unverfallbarkeit der Höhe nach. Diese regeln die §§ 2, 18 BetrAVG, wobei aber für den Versorgungsausgleich eine am Normzweck orientierte Bewertung erforderlich ist: Wenn das Anrecht dem Grunde nach unverfallbar ist, nicht aber seine Dynamik (zukünftige Anpassung an Inflationsausgleich), so ist letztere bei der Bewertung des Anrechts, insbesondere seines korrespondierenden Kapitalwerts1, auszuklammern2. c) Untergang des Anspruchs durch Abfindung/Widerruf
160
Für Anrechte auf eine Betriebsrente besteht in den Grenzen des § 3 BetrAVG die Möglichkeit der Abfindung3. Erfolgt eine solche Abfindung vor dem Ehezeitende, so fällt das Anrecht nicht in den Versorgungsausgleich. Wird ein Anrecht nach dem Ehezeitende, aber vor der Entscheidung über den Versorgungsausgleich abgefunden, erlischt es und kann bei dem Versorgungsträger nicht mehr geteilt werden4. Ist die ausgleichsberechtigte Person selbst rentenberechtigt, kann sie aus § 22 VersAusglG die Zahlung des Ausgleichswerts verlangen; andernfalls kommt ein Anspruch auf Abfindung gem. § 23 VersAusglG in Betracht (näher dazu s. Rn. 306 ff.). Scheiden diese Möglichkeiten (zB wegen Vermögenslosigkeit der ausgleichspflichtigen Person) aus, kann das Familiengericht stattdessen im Rahmen des § 27 VersAusglG reagieren, wobei die Folgen – anders als nach dem alten Recht – auch den per Saldo Ausgleichspflichtigen treffen können (dazu näher Rn. 323, 329). Entsprechendes gilt für die Fälle des Widerrufs von Versorgungszusagen wegen einer schwerwiegenden Treueverletzung des Arbeitnehmers5.
1 Dieser entspricht nach § 47 Abs. 3 VersAusglG dem Übertragungswert nach § 4 Abs. 5 BetrAVG. 2 Dazu ausführlich Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 448 ff. 3 Näheres hierzu bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 395 f. 4 Die Auszahlung nach dem Ehezeitende soll § 29 VersAusglG eigentlich verhindern. Zur Problematik s. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 396. 5 Einzelheiten hierzu bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 399 ff.
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Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 166
Kap. 11
d) Wertermittlung und Ermittlung des Ehezeitanteils Die Wertermittlung und die Ermittlung des Ehezeitanteils richten sich nach § 45 VersAusglG.
161
Vorrang vor § 45 VersAusglG hat § 41 VersAusglG, der für laufende Betriebsrenten die Anwendung der §§ 39 f. VersAusglG regelt1.
162
Maßgeblich für die Bewertung von Anwartschaften sind die Regelungen 163 des BetrAVG, und zwar hinsichtlich des Rentenbetrags § 2 BetrAVG und hinsichtlich des Kapitalwerts § 4 Abs. 5 BetrAVG2. Dabei gilt, dass stets das Ausscheiden des Arbeitnehmers zum Ehezeitende zu fingieren ist, wenn die Mitgliedschaft zum Betriebsrentensystem zu diesem Zeitpunkt fortbesteht (§ 45 Abs. 1 S. 2 VersAusglG). Auch insoweit erfolgt eine Anlehnung an die Bewertungsvorschriften des BetrAVG (§ 4a BetrAVG). Daraus folgt ua., dass eine Dynamik nach § 2 Abs. 5 BetrAVG nicht als unverfallbar betrachtet werden kann. Dies kann zu einer Aufspaltung der Anwartschaft in einen bei Scheidung auszugleichenden und einen nach Scheidung (schuldrechtlich) auszugleichenden Teil führen3. Die Ermittlung des Ehezeitanteils erfolgt nach § 45 Abs. 2 VersAusglG vorrangig nach der unmittelbaren Methode (§ 39 VersAusglG) und nur, wo das nicht möglich ist, nach der zeitratierlichen Methode (näher s.u. Rn. 169 ff.).
164
Maßgeblich für den Anfangszeitpunkt ist bei der zeitratierlichen Metho- 165 de nicht der Beginn der Versorgungszusage oder der Mitgliedschaft in einer Versorgungseinrichtung, sondern der Beginn der Betriebszugehörigkeit. In Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Vereinbarung können auch sog. Vordienstzeiten (anerkannte Zeiten der Zugehörigkeit zu einem anderen Betrieb) Einfluss auf die Berechnung der Betriebszugehörigkeit, der Unverfallbarkeit und der Höhe des Anrechts nehmen4. Der Endzeitpunkt ist grundsätzlich mit dem Ehezeitende gleichzusetzen, § 45 Abs. 2 S. 3 VersAusglG. Beispiel: A ist – zum Ehezeitende – seit 20 Jahren verheiratet und seit 25 Jahren bei B beschäftigt. Vor 15 Jahren hat ihm der B eine Betriebsrente zugesagt. Deren Wert beträgt zum Ehezeitende monatlich 500 Euro. Diese 500 Euro sind auf die gesamte Zeit der Betriebszugehörigkeit bis zum Ende der Ehezeit zu verteilen, hier also auf 25 Jahre. Ein Anteil von 20/25, also 400 Euro, fällt hiervon in die Ehezeit.
1 BT-Drucks. 16/10144, 83. 2 Hiervon verspricht sich der Gesetzgeber eine Erleichterung für die betrieblichen Versorgungsträger, welche die Bewertung vornehmen müssen; BT-Drucks. 16/10144, 83. 3 Vgl. hierzu ausführlich Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 448 ff. mit Beispielsfällen. 4 Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 284.
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Kap. 11 Rn. 167
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Bei einer endgehaltbezogenen Direktzusage hindert diese Regelung nach Vorstellung des Gesetzgebers aber nicht eine Berechnung, die einen Quotienten zwischen der in die Ehezeit fallenden Betriebszugehörigkeit und der Gesamtbetriebszugehörigkeit bis zum Erreichen einer Regelaltersgrenze vorsieht1. Abwandlung: Im obigen Beispielsfall muss der A bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze noch weitere 10 Jahre arbeiten. Seine Rente würde dann, bezogen auf sein jetziges Gehalt (§ 40 Abs. 3 VersAusglG, § 2 Abs. 5 BetrAVG), monatlich 600 Euro betragen. Dann beträgt die Gesamtbetriebszugehörigkeit 35 Jahre, wovon 20 Jahre in die Ehezeit fallen. Demnach beträgt der Ehezeitanteil 20/35 = 4/7, also 342,86 Euro.
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Die kleinste Einheit zur Berechnung des Ehezeitanteils ist der Kalendermonat2.
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Wichtig: Wegen der Fehleranfälligkeit von Auskünften zu betrieblichen Anrechten sollte die jeweilige Versorgungszusage/Satzung oder sonstige Grundlage zur Berechnung des Werts und des Ehezeitanteils angefordert werden; ohne diese Grundlagen ist eine Kontrolle der Auskunft praktisch nicht möglich.
e) Probleme bei der Wertermittlung 168a Probleme bei der Wertermittlung betrieblicher Anrechte können sich daraus ergeben, dass der Ausgleichswert als (korrespondierender) Kapitalwert mit einem nicht marktgerechten Zinssatz (aus § 253 Abs. 2 HGB) abgezinst wird; dies kann (nur) bei der externen Teilung oder einer vereinbarten Verrechnung auf Kapitalwertbasis den ausgleichsberechtigten Ehegatten benachteiligen und eine Wertkorrektur nach § 42 VersAusglG erforderlich machen3 (s. dazu auch Rn. 247). Hierzu s.o. Rn. 39, 42. Bei der Bewertung ist jedenfalls auch die prognostizierte Rentensteigerung im Leistungsstadium zu berücksichtigen, wenn sie unverfallbar ist4. aa) Richtiger Berechnungsweg 169
Auch die Berechnung betrieblicher Anrechte erfolgt vorrangig nach der unmittelbaren Methode; die zeitratierliche Berechnung ist nur der Ausnahmefall; dies macht § 45 Abs. 2 VersAusglG noch einmal deutlich. Bei der Wahl der Berechnungsmethode können sich Schwierigkeiten ergeben, die aus dem Dualismus zwischen der zugrunde liegenden Versorgungszusage einerseits und der Abwicklung über dritte Versorgungsträger resultieren. Maßgeblich ist immer die Versorgungszusage; von ihrer Aus1 2 3 4
Ausführlich und mit Berechnungsbeispiel BT-Drucks. 16/10144, 83 f. Vgl. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 428. OLG Hamm v. 6.2.2012 – 12 UF 207/10, FamFR 2012, 184. Vgl. OLG München v. 20.9.2011 – 16 UF 171/11, FamRB 2012, 4.
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Versorgungsausgleich
Rn. 171
Kap. 11
gestaltung hängt ab, ob eine unmittelbare oder zeitratierliche Bewertung möglich/richtig ist. Wenn in der Ehezeit in Teilzeit gearbeitet wurde, kann die zeitratierliche Methode für den Ausgleichspflichtigen zu ungerechten Ergebnissen führen. Liegt bei der Direktversicherung eine inhaltsgleiche beitragsorientierte Leistungszusage zugrunde, ist das Anrecht unmittelbar aufgrund des während der Ehezeit eingezahlten Deckungskapitals zu bewerten1. Die unmittelbare Bewertung ist auch dann maßgeblich, wenn und soweit die Beiträge zur betrieblichen Altersvorsorge auf einer Entgeltumwandlung oder Eigenbeiträgen des Arbeitnehmers beruhen2. Zu den Bewertungsproblemen bei fondsgebundenen Anrechten s.u. Rn. 230, 261. Ansonsten gilt, dass beitragsorientierte Zusagen regelmäßig eine unmittelbare Bewertung ermöglichen, während endgehaltsabhängige Zusagen oft eine zeitratierliche Bewertung erzwingen3. bb) Gesamtversorgung, limitierte Versorgung Die Gesamtversorgung stellt einen Sonderfall der betrieblichen Alters- 170 versorgung dar. Dabei wird eine am letzten – ruhegehaltsfähigen – Einkommen orientierte (Gesamt)Versorgung zugesichert, auf die allerdings andere Leistungen, insbesondere eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, angerechnet werden. Das macht die Berechnung des in den Versorgungsausgleich einzubeziehenden Anteils anspruchsvoll4. Der Ehezeitanteil an Gesamtversorgungen wurde nach der Rechtsprechung des BGH zum alten Recht nach der sog. VBL-Methode ermittelt, die wie folgt funktioniert: (1) In einem ersten Schritt wird die erreichbare Gesamtversorgung, bezogen auf das vorgesehene Lebensalter, fiktiv errechnet; (2) In einem zweiten Schritt wird der Ehezeitanteil zeitratierlich ermittelt, und zwar im Verhältnis: in die Ehezeit fallende Betriebszugehörigkeit/Gesamtbetriebszugehörigkeit; (3) Auf den so errechneten Anteil der Versorgung werden die in der Ehezeit erworbenen anrechenbaren sonstigen Versorgungsanwartschaften (insbesondere Rentenanwartschaften) angerechnet, soweit die Versorgungszusage dies vorsieht. Wurden auch Rentenanwartschaften, die außerhalb (vor) der Betriebszugehörigkeit und außerhalb der Ehezeit erworben worden sind, auf die Gesamtversorgung angerechnet, rechnete der BGH wie folgt: (4) Es werden die gesamten vor der Ehezeit erworbenen (zB gesetzlichen) Rentenanwartschaften ermittelt; 1 So zB OLG Karlsruhe v. 8.4.2005 – 2 (20) UF 57/01, FamRZ 2005, 1752 f.; Glockner/Hoenes/Weil, Rn. 163. 2 OLG Celle v. 24.10.2006 – 10 UF 154/06, FamRZ 2007, 563 = FamRB 2007, 134. 3 Detailliert und mit zahlreichen Beispielen hierzu Glockner/Hoenes/Weil, Rn. 108–171; Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 417 f. 4 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 438 ff. mit Rechenbeispielen.
Norpoth
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171
Kap. 11 Rn. 172
Versorgungsausgleich
(5) Hiervon wird ein Anteil von der oben errechneten Gesamtversorgungsanwartschaft abgezogen, welcher dem unter (2) ermittelten Verhältnis entspricht. 172
Der Gesetzgeber hat diese Methode für die normalen betrieblichen Anrechte allerdings abgeschafft, weil auch die Anrechte aus Gesamtversorgungen nach dem Berechnungsvorschriften des BetrAVG zu berechnen sind1. Anwendbar ist sie nur noch für vor dem 1.1.2002 berentete Personen mit Anspruch auf eine öffentlich-rechtliche Zusatzversorgung (s.u. Rn. 185). Nach der (wegen der BGH-Rechtsprechung lange nicht mehr verwendeten) Betriebsrenten- oder Hochrechnungsmethode muss das anzurechnende (oft gesetzliche) Rentenanrecht in einem Näherungsverfahren auf den Wert hochgerechnet werden, den es bei Erreichen der Altersgrenze haben wird. So wird festgestellt, ob die Grenze erreicht wird, welche zu einer Anrechnung der Rente auf die Gesamtversorgung führt2.
173
Ähnliche Probleme bieten die sog. limitierten Versorgungen, die zur Aufstockung von Renten zugesagt werden, dabei aber ebenfalls auf einen Höchstsatz begrenzt sind, den sie – zusammen mit der gesetzlichen Rente – nicht übersteigen dürfen3. Übersteigt die Versorgung zusammen mit der Rente den Höchstsatz, wird sie gekürzt. Zur Berechnung der Kürzung des Ehezeitanteils ist auch hier die Betriebsrentenmethode anzuwenden. f) Besteuerung
174
Die Rentenleistungen aus Direktzusagen und von Unterstützungskassen werden (erst) in dem Zeitpunkt, in dem sie erbracht werden, als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit besteuert; dies gilt auch, soweit sie infolge einer Teilung an die ausgleichsberechtigte Person fließen (§ 19 Abs. 1 Nr. 2 EStG). Entsprechendes (nachgelagerte Besteuerung) regelt § 22 Nr. 5 EStG für Leistungen aus Pensionsfonds, Pensionskassen und Direktversicherungen, soweit die Leistungen auf steuerlich begünstigten Beiträgen beruhen. Bei Leistungen aus nicht steuerlich geförderten Beiträgen scheidet eine volle Besteuerung wegen des Verbots der Doppelbesteuerung4 aus. Hier kann es darauf ankommen, ob die zugrunde liegenden Verträge bis Ende 2004 oder danach abgeschlossen worden sind. Die Renten werden grundsätzlich mit dem Ertragsanteil besteuert; bei Verträgen ab 2005, welche die Voraussetzungen der sog. „Rürup-Rente“ (§ 10 Abs. 1 Nr. 2b EStG) erfüllen, werden die Leistungen dagegen wie gesetzliche Renten besteuert5. 1 Das haben zunächst einige Literaten der „ersten Stunde“ übersehen; vgl. Erman/ Norpoth, § 45 VersAusglG Rn. 13 ff., 19. 2 OLG Koblenz v. 20.10.1988 – 11 UF 1306/87, FamRZ 1989, 292 mwN. 3 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 439 mit Berechnungsbeispiel. 4 Wenn schon die Beiträge aus versteuertem Einkommen stammen, dürfen nicht auch noch die Rentenleistungen versteuert werden; nur der (Zins-)Ertrag aus der Geldanlage darf dann noch versteuert werden. 5 Einzelheiten bei Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 1253.
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Versorgungsausgleich
Rn. 179
Kap. 11
g) Zusatzversorgung des öffentlichen oder kirchlichen Dienstes Die Zusatzversorgung des öffentlichen oder kirchlichen Dienstes ist zwar ebenfalls Teil der betrieblichen Altersversorgung. Für sie gelten jedoch besondere Regeln (§ 18 BetrAVG). Da es sich um eine Pflichtversicherung handelt, die alle Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes (mit Ausnahme der Beamten) erfasst1, sind deren Angaben zur betrieblichen Altersversorgung stets leicht auf (Un)Vollständigkeit zu überprüfen.
175
Die wichtigsten Träger der Zusatzversorgung sind die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) sowie kommunale und kirchliche Zusatzversorgungseinrichtungen (Einzelheiten: § 18 Abs. 1 BetrAVG). Sie sind als rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts organisiert.
176
Die Leistungen der Zusatzversorgung werden über Umlagen finanziert 177 (zB § 64 VBL-Satzung); diese werden zum großen Teil von den Arbeitgebern, zu einem kleinen Teil auch von den Arbeitnehmern erbracht. Das Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Zusatzversorgungskasse ist privatrechtlicher Natur. Bei einem Wechsel von einem zum anderen öffentlichen Arbeitgeber sichern Überleitungsabkommen die Übernahme erworbener Anrechte in die Zusatzversorgung bei dem neuen Arbeitgeber oder die wechselseitige Berücksichtigung von Wartezeiten. Als Versorgungsträger wurden schon nach dem alten Recht (allein) die 178 Zusatzversorgungskassen behandelt. Weil es sich dabei um juristische Personen des öffentlichen Rechts handelt, wurden die dort bestehenden Anrechte des Ausgleichspflichtigen extern geteilt, indem zulasten der Versorgungsanwartschaft des Pflichtigen bei der Zusatzversorgungskasse Rentenanwartschaften für den Berechtigten in der gesetzlichen Rentenversicherung begründet wurden (sog. analoges Quasisplitting, § 1 Abs. 3 VAHRG aF). Insoweit können die oben beschriebenen Probleme, die sich aus dem Dreiecksverhältnis zwischen Arbeitgeber, Versorgungsträger und Arbeitnehmer ergeben (vgl. Rn. 146–150), nicht auftreten, weil der Arbeitnehmer nach Eintritt der Unverfallbarkeit kraft Gesetzes einen Anspruch auf die Leistungen der Zusatzversorgungskasse erwirbt, den der Arbeitgeber nicht mehr entwerten kann (§ 18 Abs. 2 BetrAVG). aa) Unverfallbarkeit Die einzige Unverfallbarkeitsvoraussetzung für Anrechte auf eine Zusatzversorgung des öffentlichen/kirchlichen Dienstes ist die Erfüllung einer Wartezeit von 60 Monaten (fünf Jahren). Eine Differenzierung der Unverfallbarkeit nach Grund und Höhe – wie bei den sonstigen Betriebsrentenanrechten – entfällt nach der Umstellung auf das Punktemodell. Weil die Zusatzversorgung damit entweder ganz oder gar nicht unverfallbar ist, ist sie – anders als z.B. endgehaltsbezogene, betriebliche Renten-
1 Einzelheiten bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 452 ff.
Norpoth
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179
Kap. 11 Rn. 180
Versorgungsausgleich
anrechte – demnach auch entweder ganz im Versorgungsausgleich bei Scheidung oder im Versorgungsausgleich nach Scheidung zu teilen. bb) Wertermittlung und Ermittlung des Ehezeitanteils 180
Bei der Zusatzversorgung des öffentlichen und kirchlichen Dienstes übernahmen die Versorgungskassen schon vor der Srukturreform – anders als die privaten Träger der betrieblichen Altersversorgung – regelmäßig mit der Wertmitteilung bereits die Ermittlung des Ehezeitanteils. Fehler treten hierbei erfahrungsgemäß selten auf.
181
Die Sondervorschrift für die Bewertung betrieblicher Anrechte, § 45 VersAusglG, ist nach ihrem Abs. 3 auf Zusatzversorgungsanwartschaften nicht anzuwenden. Denn die Bewertungsvorschriften der §§ 2, 4 Abs. 5 BetrAVG passen nicht für die überwiegend umlagefinanzierte Zusatzversorgung1. Deswegen gelten hierfür allgemein die §§ 39–41 VersAusglG.
182
Probleme bereitet die zum 1.1.2002 vorgenommene Systemumstellung von einem Gesamtversorgungssystem auf ein Punktemodell. Denjenigen, die bis zum 31.12.2001 bereits Anrechte auf eine Zusatzversorgung erworben hatten, ist eine Startgutschrift in Höhe des Werts der bislang erworbenen Anwartschaften übertragen worden. Ab 2002 werden die künftigen Leistungen, ähnlich wie in der gesetzlichen Rentenversicherung, durch die Gutschrift von Versorgungspunkten ermittelt2.
183
Das System für die Ermittlung der Startgutschrift hat der IV. Zivilsenat des BGH mit Urteil v. 14.11.20073 wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) für verfassungswidrig erklärt, soweit rentenferne Versicherte betroffen sind4. Bis zur Umsetzung der inzwischen gefundenen Neuregelung (voraussichtlich Mitte 2012) können die Zusatzversorgungsanrechte der hiervon Betroffenen (= Inhaber einer Startgutschrift) also gar nicht ermittelt werden; die Versorgungsausgleichsverfahren müssen also insoweit ausgesetzt werden5. Nicht betroffen sind die Anwartschaften von rentennahen Versicherten, die am 1.1.2002 das 55. Lebensjahr vollendet hatten. Ebenso wenig sind die erst nach dem 31.12.2001 geschlossenen Ehen betroffen, weil dann in die Ehezeit keine Anwartschaften aus der Startgutschrift entfallen. Schließlich sind auch die Zusatzversorgungsanrechte derjenigen nicht betroffen, die zum 1 2 3 4 5
BT-Drucks. 16/10144, 84. S. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 454 ff. BGH v. 14.11.2007 – IV ZR 74/06, FamRZ 2008, 395 ff. = FamRB 2008, 35. Näher dazu Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 459. Str.; Nachweise zur Rspr. bei Erman/Norpoth, § 19 VersAusglG Rn. 15 aE und OLG Stuttgart v. 18.7.2011 – 11 UF 147/09 VA, FamRZ 2011, 1734. Nach dem alten Recht war der gesamte Versorgungsausgleich von der Aussetzung betroffen; vgl. nur BGH v. 5.11.2008 – XII ZB 87/06, FamRZ 2009, 211 = FamRB 2009, 108, FamRB 2009, 70 und FamRB 2009, 71; BGH v. 5.11.2008 – XII ZB 181/05, FamRZ 2009, 296.
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Versorgungsausgleich
Rn. 186
Kap. 11
1.1.2002 bereits eine Zusatzversorgungsrente bezogen haben. Deren Anrechte werden nämlich noch aufgrund der früheren Bestimmungen ermittelt1. Im Übrigen gilt, dass der Ehezeitanteil für die seit dem 1.1.2002 erworbe- 184 nen Anwartschaften nach § 39 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG auf Grundlage der Versorgungspunkte unmittelbar ermittelt werden kann. Für die vor dem 1.1.2002 erworbenen Anwartschaften kommt dagegen nur eine zeitratierliche Ermittlung des Ehezeitanteils in Betracht. Das kann eine getrennte Berechnung der Ehezeitanteile für die Zeit bis zum 31.12.2001 und für die Zeit danach erfordern2. Liegt auch der Rentenbeginn vor dem 1.1.2002, dann ist der Ehezeitanteil nach der – ggf. zu modifizierenden – VBL-Methode (vgl. Rn. 171) zu berechnen3.
185
cc) Besteuerung Renten aus der Zusatzversorgung werden insoweit voll besteuert, als sie 185a auf steuerlich geförderten Beiträgen beruhen (§ 22 Nr. 5 S. 1 EStG); soweit sie auf vom Arbeitgeber oder Arbeitnehmer versteuerten Beiträgen beruhen, wird nur der Ertragsanteil besteuert (§§ 22 Nr. 5 S. 2a i.V.m. § 22 Nr. 1 S. 3a, bb EStG)4. 5. Private Alters- und Invaliditätsversorgungen Private Vorsorge gilt für abhängig Beschäftigte wie für Selbständige als 186 weiterer wichtiger Baustein der Alters- und Invaliditätsvorsorge. Der Gesetzgeber hat – parallel zu der Absenkung des Rentenniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung – die Möglichkeiten privater Altersvorsorge durch steuerliche Förderung verbessert5. Die Formen sind vielfältig. Die Versicherer sind in der Verwendung der Beiträge der Versicherungsnehmer nicht völlig frei, sondern unterliegen der Versicherungsaufsicht nach dem VAG. Gesetzliche Grundlagen der Versicherungsverträge finden sich im VVG, die nähere Ausgestaltung wird durch Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) vorgenommen. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Behandlung fondsgebundener Anrechte wegen ihrer Wertschwankungen im Versorgungsausgleich.
1 Vgl. hierzu Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 468, 767 f. 2 Vgl. BGH v. 25.4.2007 – XII ZB 206/06, FamRZ 2007, 1084 noch auf der Grundlage des alten Rechts. 3 BGH v. 6.7.2005 – XII ZB 226/01, FamRZ 2005, 1458 ff. = FamRB 2005, 323; BGH v. 20.7.2005 – XII ZB 211/00, FamRZ 2005, 1664 ff. = FamRB 2006, 8. 4 S. Breuers, FPR 2011, 519; Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 1253. 5 Vgl. §§ 10a, 82 EStG.
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Kap. 11 Rn. 187
Versorgungsausgleich
a) Arten und Einbeziehung in den Versorgungsausgleich 187
Neben verschiedenen Spielarten von Lebensversicherungen können auch private Unfallversicherungen und Berufsunfähigkeits(zusatz)versicherungen im Einzelfall in den Versorgungsausgleich einzubeziehen sein. Ein wesentliches Kriterium für die Einbeziehung in den Versorgungsausgleich ist, ob die Versicherungsleistung sicher erfolgt oder zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags noch vom Eintritt eines ungewissen Ereignisses abhängt. Letzteres gilt für alle (reinen) Risikoversicherungen (Risikolebensversicherung, Berufsunfähigkeitsversicherung, Unfallversicherung). Sie werden deshalb grundsätzlich nicht in den Versorgungsausgleich einbezogen. Ausnahmen gelten bei der Berufsunfähigkeits- und der privaten Unfallversicherung, wenn der Versicherungsfall zum Ehezeitende bereits eingetreten ist und Leistungen bezogen werden (§ 28 VersAusglG). Bei Lebensversicherungsverträgen kann die vertragliche Konstruktion Zuordnungsschwierigkeiten bereiten. Sie werden zwischen einem Versicherungsnehmer und einem Versicherer geschlossen. Sie können auf das Leben des Versicherungsnehmers oder einer anderen Person (versicherte Person) geschlossen werden (§ 150 Abs. 1 VVG). Im Versicherungsvertrag kann schließlich auch eine dritte Person zum Bezugsberechtigten bestimmt werden, und zwar wahlweise widerruflich oder unwiderruflich (§ 159 VVG). Ist das Bezugsrecht widerruflich eingeräumt, erwirbt die bezugsberechtigte Person den Leistungsanspruch erst mit Eintritt des Versicherungsfalls (§ 159 Abs. 2 VVG). Daraus folgt, dass ausgleichspflichtige Person eines Lebensversicherungsvertrags entweder der Versicherungsnehmer ist oder eine andere Person, wenn dieser ein unwiderrufliches Bezugsrecht (§ 159 Abs. 3 VVG) eingeräumt ist oder bei einem widerruflichen Bezugsrecht der Versicherungsfall eingetreten ist. Ist einem der Ehegatten/Lebenspartner ein unwiderrufliches Bezugsrecht von einem Dritten eingeräumt worden, fällt dieses nur dann in den Versorgungsausgleich, wenn es durch Arbeit oder Vermögen eines der Ehegatten erworben worden ist (Bsp.: Direktversicherung im Rahmen betrieblicher Altersvorsorge). Wer die versicherte Person ist, ist dagegen nicht von Belang1. aa) Lebensversicherungen
188
Private Lebensversicherungen kommen in drei Grundformen vor: als Kapitallebensversicherung, Leibrentenversicherung und als Risikolebensversicherung. Insbesondere das zwischen den ersten beiden Leistungsarten häufig vereinbarte Wahlrecht bereitet Schwierigkeiten.
1 Str.: aA OLG Zweibrücken v. 4.2.2011 – 2 UF 82/10, FamRZ 2011, 1228 = FamRB 2011, 170; Palandt/Brudermüller, § 46 VersAusglG Rn. 3 mwN zum Streitstand.
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Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 190
Kap. 11
Bei der Kapitallebensversicherung ist mit Erreichen eines bestimmten Al- 189 ters (oft: Rentenalter) eine einmalige Kapitalleistung vorgesehen. Finanziert wird die Leistung aus einem Deckungskapital, für das der Versicherungsnehmer zuvor Beiträge geleistet hat. Diese Versicherungen fielen nach altem Recht nicht in den Versorgungsausgleich, sondern wurden ausschließlich im Zugewinnausgleich berücksichtigt. Dabei bleibt es auch nach dem neuen Recht, allerdings mit einer wichtigen Ausnahme: Anrechte nach dem AltZertG (die allerdings auch nur eine teilweise Kapitalauszahlung zulassen) werden unabhängig von der konkreten Auszahlungsform in den Versorgungsausgleich einbezogen. Bei diesen Verträgen unterfallen also auch Anwartschaften auf einmalige Kapitalzahlungen dem Versorgungsausgleich (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG). Grund für eine weitergehende Einbeziehung von Kapitallebensversicherungen sieht der Gesetzgeber dagegen nicht. Diese haben nämlich nicht immer Vorsorgecharakter, sondern dienen häufig der Finanzierung größerer Anschaffungen, sind beispielsweise in eine Immobilienfinanzierung eingebunden. Zudem sind sie – anders als betriebliche Anrechte – für den Ausgleichspflichtigen auch in der Ansparphase aufgrund einer Kündigungsmöglichkeit leichter verfügbar. Insoweit verbleibt es dabei, dass Kapitallebensversicherungen – mit der genannten Ausnahme – nicht in den Versorgungsausgleich fallen, sondern (ggf.) güterrechtlich auszugleichen sind1.
Û
Praxistipps: Wenn eine Kapitallebensversicherung nicht in den Versorgungsausgleich fällt, zugleich aber auch im Güterrecht nicht ausgeglichen wird (etwa bei Gütertrennung), kann die Durchführung des Versorgungsausgleichs (teilweise) unbillig i.S.d. § 27 VersAusglG sein. Daran ist bei Auftauchen von Kapitallebensversicherungen immer zu denken. Sind Kapitallebensversicherungen zur Sicherung eines Darlehens abgetreten, fallen sie nicht in den Versorgungsausgleich, sondern (ggf.) in den Zugewinnausgleich (str.; s.o. Rn. 26).
Die Leibrentenversicherung sieht im Gegensatz zur Kapitallebens- 190 versicherung die Leistung einer – meist lebenslangen – Rente ab einem vertraglich festgelegten Zeitpunkt vor. Sie wird – wie die Kapitallebensversicherung – aus einem Deckungskapital finanziert, welches der Versicherer zuvor aus den Beiträgen des Versicherungsnehmers gebildet hat. Sie fällt in den Versorgungsausgleich, wenn sie tatsächlich der Altersoder Invaliditätsvorsorge dient (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG). Daran kann es im Einzelfall fehlen, wenn der Rentenbeginn weit vor dem Eintritt in das Rentenalter liegt; in einem solchen Fall kann ein Renditecharakter an die Stelle des Vorsorgecharakters treten2.
1 BT-Drucks. 16/10144, 48. 2 BGH v. 14.3.2007 – XII ZB 36/05, FamRZ 2007, 889 f. = FamRB 2007, 294; BGH v. 23.2.2005 – XII ZB 198/01, FamRZ 2005, 696 (698) = FamRB 2005, 229.
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Kap. 11 Rn. 191
Versorgungsausgleich
191
Weder die Kapitallebensversicherung noch die Leibrentenversicherung treten idR in reiner Form auf; vielmehr sind sie üblicherweise mit einem Wahlrecht ausgestattet. Der Versicherungsnehmer hat die Option, statt des versprochenen Kapitals eine Rente zu beanspruchen und umgekehrt. Weil die Art der zu beanspruchenden Leistung im Regelfall über die Einbeziehung der Versicherung in den Versorgungsausgleich entscheidet, stellen sich Fragen nach Wirkungen und Missbrauch des Wahlrechts1. Nach der Rechtsprechung des BGH zum alten Recht gelten folgende Grundsätze:
192
Die Kapitallebensversicherung mit Rentenwahlrecht unterfällt nur dann dem Versorgungsausgleich, wenn zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags das Rentenwahlrecht ausgeübt ist2. Unabhängig hiervon fallen Anrechte nach dem AltZertG sowie im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge gebildete Anrechte nach dem jetzt geltenden Recht stets in den Versorgungsausgleich.
193
Die Rentenversicherung mit Kapitalwahlrecht unterfällt ihrerseits auch nur dann dem Versorgungsausgleich, wenn das Wahlrecht bis zur Entscheidung über den Versorgungsausgleich nicht ausgeübt worden ist. Der BGH hat argumentiert, dass nur solche Rentenanrechte in den Versorgungsausgleich einzubeziehen seien, die im Zeitpunkt der Entscheidung über den Versorgungsausgleich noch nicht erloschen sind; der Versorgungsausgleich sei in seiner Ausformung durch das (damals) geltende Recht auf den Ausgleich von Rentenanrechten zugeschnitten und stelle für den Ausgleich von Kapitalforderungen keine geeigneten Ausgleichsmechanismen zur Verfügung3.
194
Diese Argumentation ist durch das neue Recht eigentlich erledigt. Denn nunmehr werden im Versorgungsausgleich auch anderweitige Anrechte aus Kapitallebensversicherungen geteilt. Danach ist es jetzt möglich, über die Einbeziehung der Rentenversicherung mit Kapitalwahlrecht den Zustand ab Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags entscheiden zu lassen4. Trotzdem hat der BGH sich auch im neuen Recht gegen die Berücksichtigung von Lebensversicherungen nach ausgeübtem Kapitalwahlrecht ausgesprochen, selbst wenn die Option erst zwischen Ehezeitende und dem Zeitpunkt der Entscheidung ausgeübt worden ist5.
195
Die Risikolebensversicherung ist, wie oben (Rn. 187) dargelegt, im Versorgungsausgleich nicht zu berücksichtigen. Sie stellt auch keine Form 1 Vgl. dazu auch Götsche, FamRB 2011, 380. 2 BGH v. 15.1.1992 – XII ZR 247/90, FamRZ 1992, 411 (412); BGH v. 13.1.1993 – XII ZB 75/89, FamRZ 1993, 684 (685). 3 BGH v. 5.2.2003 – XII ZB 53/98, FamRZ 2003, 664 (665) = FamRB 2003, 178; zur Kritik vgl. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 48 mwN. 4 Wie hier Johannsen/Henrich/Jaeger, § 1575 BGB Rn. 9; Erman/Norpoth, § 2 VersAusglG Rn. 11; aA zB Johannsen/Henrich/Hahne, § 2 VersAusglG Rn. 14. 5 BGH v. 5.10.2011 – XII ZB 555/10, FamRZ 2011, 1931 = FamRB 2011, 367.
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Versorgungsausgleich
Rn. 198
Kap. 11
der Altersvorsorge dar und fällt aus diesem Grund nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG aus dem Anwendungsbereich des Versorgungsausgleichs heraus. bb) Berufsunfähigkeitsversicherung und Unfallversicherung Private Berufsunfähigkeitsversicherungen werden isoliert, oft aber auch 196 in Kombination mit privaten Lebensversicherungen als Berufsunfähigkeitszusatzversicherungen angeboten. Es handelt sich, wie oben (Rn. 187) dargelegt, um Risikoversicherungen. Aus den Beiträgen der bei dem Versicherungsunternehmen gegen dasselbe Risiko Versicherten wird nur für diejenigen, bei denen sich das versicherte Risiko verwirklicht, ein Deckungskapital für die dann zukünftig zu leistenden Rentenbeträge gebildet. Aus diesem Grund – und deshalb, weil vor Eintritt des Versicherungsfalls die Leistung als solche völlig ungewiss ist – können Berufsunfähigkeitsrenten nur dann in den Versorgungsausgleich einbezogen werden, wenn der Versicherungsfall bereits in der Ehezeit eingetreten ist (§ 28 VersAusglG). Dasselbe gilt für Unfallversicherungen; diese können auch nur dann in den Versorgungsausgleich einbezogen werden, wenn sie ausnahmsweise nicht auf eine Kapitalleistung, sondern auf eine Rente lauten. Dass Unfallrenten der gesetzlichen Unfallversicherung nicht in den Versorgungsausgleich einbezogen werden, beruht auf deren Entschädigungscharakter und auf dem Umstand, dass die Beiträge für die gesetzliche Unfallversicherung von Arbeitgebern getragen werden. Beides hindert die Einbeziehung privater Unfall- oder Berufsunfähigkeitsrenten in den Versorgungsausgleich nicht1.
197
cc) Sonstige Formen privater Altersvorsorge Durch das Altersvermögensgesetz2 und das Altersvermögensergänzungs- 198 gesetz3 werden weitere Produkte der Altersvorsorge gefördert, die auch von Banken oder Fonds herausgegeben werden. Es handelt sich um Anteile an thesaurierenden oder ausschüttenden Investmentfonds. An deren Einbeziehung in den Versorgungsausgleich nach altem Recht bestanden Zweifel, soweit es sich nicht um Versicherungsprodukte i.S.d. § 1 Abs. 4 VAG handelt. Diese Zweifel sind nach dem jetzt geltenden Recht ausgeräumt, da die betroffenen Anrechte nach der Definition des § 2 VersAusglG auszugleichen sind. 1 Vgl. OLG Karlsruhe v. 10.4.1996 – 16 UF 308/94, FamRZ 1996, 1554 f.; Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 661 f. 2 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens v. 26.6.2001, BGBl. I, 1310 ff. 3 Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens v. 21.3.2001, BGBl. I, 403 ff.
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Kap. 11 Rn. 199
Versorgungsausgleich
b) Ermittlung des Ehezeitanteils 199
Für die Ermittlung des Ehezeitanteils gilt die Sonderregelung des § 46 VersAusglG. Danach ist für Anrechte aus Versicherungsverträgen der in die Ehezeit fallende Rückkaufswert maßgeblich, der für ab 2008 abgeschlossene Versicherungsverträge nach § 169 Abs. 3 S. 1 VVG, für die davor abgeschlossenen Verträge nach § 176 VVG in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung1 zu ermitteln ist. Der Rückkaufswert besteht aus dem zum Ehezeitende (§ 3 Abs. 1 VersAusglG) gebildeten Deckungskapital einschließlich bereits zugeteilter Überschussanteile (§ 153 VVG) sowie eines vertraglich festgelegten Anteils an den Schlussüberschüssen und etwaigen Bewertungsreserven (§ 169 Abs. 7 VVG), welches um das zum Ehezeitbeginn bereits vorhandene Deckungskapital zu bereinigen ist. Schwierigkeiten bei der Wertbestimmung bestehen hier deshalb, weil hinsichtlich der Schlussüberschüsse und Bewertungsreserven der Stichtagswert ab dem Ehezeitende noch nach oben oder unten veränderlich sein kann. Das liegt daran, dass zum Ehezeitende eine tatsächliche Vertragsbeendigung nicht stattfindet. Deswegen wird bei interner Teilung von einigen Gerichten der Wert nur als vorläufig und nicht bewertungsrelevant angesehen2. Richtig ist, dass der Anteil an den Schlussüberschüssen und Bewertungsreserven wegen seiner eigenständigen und vom Deckungskapital unabhängigen Entwicklung getrennt anzugeben ist3. Bei der internen Teilung stellt allerdings § 11 Abs. 1 VersAusglG bereits einen Gleichlauf der geteilten Versorgungsanrechte sicher. Ob Anteile an Schlussüberschüssen und Bewertungsreserven den Wert des Anrechts nicht beeinflussen, ist aber sehr zweifelhaft4. Bei externer Teilung stellt sich, wie bei den fondsgebundenen Versicherungen, die Frage nach einer offenen Tenorierung (näher dazu unten Rn. 261). Stornokosten dürfen nicht abgezogen werden (§ 46 S. 2 VersAusglG), weil die Versicherung ja nicht storniert, sondern geteilt werden soll5.
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Praxistipp: Einige Versicherer geben aus Unsicherheit die Werte der Beteiligung an Schlussüberschüssen und Bewertungsreserven gar nicht an. Weil die Schlussgewinne aber idR 15–20 % des Anrechtswerts ausmachen, kann das zu einer erheblichen Unterbewertung führen6; deswegen sollten die Anwälte die Angaben zu privaten Lebensversicherungen immer auf Vollständigkeit prüfen!
1 Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 2 EGVVG. 2 ZB OLG München v. 29.12.2010 – 12 UF 1235/10, FamRZ 2011. 978; dem folgend OLG Celle v. 30.8.2011 – 10 UF 127/11, FamRB 2011, 369; KG v. 25.3.2011 – 13 UF 229/10, FamRZ 2011, 1733. 3 Vgl. OLG München v. 14.10.2010 – 12 UF 605710, OLG München v. 14.10.2010 – 12 UF 605/10, FamRZ 2011, 377. 4 Jaeger, FamRZ 2011, 1348. 5 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 516. 6 Jaeger, FamRZ 2011, 1348.
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Rn. 204
Kap. 11
Wird zum Ehezeitende aus einer Leibrentenversicherung bereits eine 200 Rente gezahlt, kann kein Deckungskapital mehr unter Anwendung des § 169 VVG gebildet werden, weil laufende Renten nicht rückkaufsfähig sind. Hier muss der verbleibende Wert versicherungsmathematisch unter Berücksichtigung der Leistungszusage und der statistischen Lebenserwartung des Ausgleichspflichtigen ermittelt werden1. Die Ermittlung eines Rückkaufswerts ist auch bei den sog. „Rürup-Ren- 201 ten“ i.S.d. § 10 Abs. 1 Nr. 2b EStG nicht möglich, weil diese Renten nicht kapitalisierbar sein dürfen. In diesem Fall ist der Wert unmittelbar nach § 39 VersAusglG zu ermitteln2. Auch bei fondsgebundenen Lebensversicherungen bereitet die Bestim- 202 mung eines Rückkaufswerts Schwierigkeiten. Nach geltendem Recht hält § 169 Abs. 4 VVG die Möglichkeit zur Bestimmung eines Zeitwerts nach anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik vor. Diesem sind die in der Ehezeit zugeteilten Überschüsse nach § 169 Abs. 7 VVG hinzuzurechnen. Die Bewertungsprobleme treten zumindest bei interner Teilung in den Hintergrund, weil bei Fondsanteilen nicht ein Wert, sondern ein nach § 39 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG ermittelbarer ehezeitlicher Anteilsbestand zu teilen ist3. Das führt zu einer gleichmäßigen Risikoverteilung auf beide Parteien. Entsprechendes gilt für Altverträge, die noch nach § 176 VVG aF zu berechnen sind4. Bei externer Teilung stellt sich wegen der möglichen Wertschwankungen die Frage nach einer offenen Tenorierung (näher dazu unten Rn. 261). Soweit Verträge nach dem AltZertG nicht von Versicherern, sondern et- 203 wa von Banken/Sparkassen angeboten werden, existieren für die Bewertung keine speziellen Regeln. Es handelt sich in diesen Fällen nicht um Versicherungen, sondern um Banksparpläne, die nach den allgemeinen Regeln unmittelbar zu bewerten sind. Wenn bei einer Berufsunfähigkeits(zusatz)versicherung während der Ehe- 204 zeit der Versicherungsfall eingetreten ist, ist die Rente unter den Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 VersAusglG5 nach § 28 Abs. 2 VersAusglG insgesamt in den Versorgungsausgleich einzubeziehen, weil die tatsächliche Rentenleistung auf dem letzten (und in der Ehezeit) gezahlten Versicherungsbeitrag beruht6. Der Ausgleichswert ist hier ausnahmsweise nur als Rente zu ermitteln, weil der Ausgleich zwar bei Scheidung, aber nach 1 Erman/Norpoth, § 41 VersAusglG Rn. 9 mwN. 2 BT-Drucks. 16/10144, 85. 3 Vgl. OLG München v. 14.10.2010 – 12 UF 605/10; Hoffmann/Raulf/Gerlach, FamRZ 2011, 335 f. 4 Jaeger, FamRZ 2011, 1348. 5 Auch der Berechtigte muss eine Invaliditätsrente beziehen oder die Voraussetzungen dafür erfüllen. Zur Begr. vgl. BT-Drucks. 16/10144, 70. 6 BT-Drucks. 16/10144, 70; BGH v. 20.7.2005 – XII ZB 289/03, FamRZ 2005, 1530 f. = FamRB 2005, 323.
Norpoth
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Kap. 11 Rn. 205
Versorgungsausgleich
den Regeln für den Versorgungsausgleich nach Scheidung erfolgt (§ 28 Abs. 3 i.V.m. §§ 20–22 VersAusglG)1. c) Steuerliche Behandlung 205
Beiträge zu privaten Lebensversicherungen, die bis zum 31.12.2004 abgeschlossen worden sind und für die bis zum diesem Zeitpunkt ein Versicherungsbeitrag entrichtet wurde, werden weiter bis zu bestimmten Höchstgrenzen (mind. 1500 Euro, bis 2010 max. 6136 Euro jährlich bei Zusammenveranlagung) vom zu versteuernden Einkommen abgezogen (§ 10 Abs. 1 Nr. 3b, Abs. 4, 4a EStG); trotzdem werden die daraus resultierenden Leistungen weiter nur mit dem Ertragsanteil besteuert2. Weitergehend können Aufwendungen für Altersvorsorge i.S.d. § 10 Abs. 1 Nr. 2b EStG (mit der Folge, dass die späteren Rentenleistungen nachgelagert besteuert werden) abzusetzen sein; auch hier gelten – unter Mitberücksichtigung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung – Höchstgrenzen (Einzelheiten: § 10 Abs. 2 und 3 EStG). Durch weitere Steuervergünstigungen und Zulagen gefördert werden die sog. Riesterrenten (§ 10a EStG).
VII. Durchführung des Versorgungsausgleichs 206
Der Gesetzgeber hat für die Durchführung des Versorgungsausgleichs keine neuen Instrumentarien erfunden. Er hat allerdings das System von der Saldierung auf einen Hin-und-Her-Ausgleich umgestellt und neue Begriffe eingeführt.
207
Es wird unterschieden zwischen dem Wertausgleich bei Scheidung (tritt an die Stelle des früheren öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleichs), der Priorität genießt, und dem Wertausgleich nach der Scheidung (schuldrechtlicher Versorgungsausgleich), dem (jedenfalls) die in § 19 VersAusglG aufgezählten Anrechte unterfallen. Für einen ersten Überblick s. Schaubild unter Rn. 561. 1. Wertausgleich bei Scheidung
208
Innerhalb des Wertausgleichs bei Scheidung gibt es die beiden Instrumente der internen Teilung (Teilung des Anrechts bei demselben Versorgungsträger, § 10 VersAusglG) und der externen Teilung (Begründung eines Anrechts bei einem anderen Versorgungsträger, § 14 VersAusglG). Nach der Rangfolgenregelung des § 9 VersAusglG hat die interne Teilung den Vor-
1 Das schützt die ausgleichsberechtigte Person, die ggf. die versicherungsrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen für die Rente nicht erfüllt. Dann würde die interne Teilung des Anrechts ins Leere laufen; BT-Drucks. 16/10144, 70 f. 2 Breuers, FPR 2011, 519.
1220
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 215
Kap. 11
rang; lediglich in Ausnahmefällen kommt die externe Teilung in Betracht. Als Folge der internen Teilung kommt die bislang übliche Saldierung, bei 209 welcher die Hälfte eines Wertunterschiedes auszugleichen war, weiterhin in Betracht. Sie findet nach § 10 Abs. 2 VersAusglG aber nur noch in den Fällen statt, in denen beide Parteien gleichartige Anrechte bei demselben Versorgungsträger haben, sowie dann, wenn die Parteien zwar gleichartige Anrechte bei unterschiedlichen Versorgungsträgern haben, zwischen diesen aber Verrechnungsvereinbarungen bestehen. Eine Saldierung wird außerdem nicht durch das Familiengericht vorgenommen. Sie ist vielmehr Sache der Versorgungsträger (§ 10 Abs. 2 VersAusglG).
210
Ausnahmsweise ist die externe Teilung nach den §§ 14 ff. VersAusglG 211 durchzuführen, wenn hierüber zwischen der ausgleichsberechtigten Person und dem Versorgungsträger Einigkeit besteht oder der Versorgungsträger bei einer geringen Höhe des auszugleichenden Anrechts eine solche externe Teilung verlangt. Bei fehlender Ausgleichsreife (§ 19 VersAusglG) kommt ein Wertaus- 212 gleich bei Scheidung nicht in Betracht. Diese Anrechte bleiben einem Wertausgleich nach Scheidung – entsprechend dem bisherigen schuldrechtlichen Versorgungsausgleich – vorbehalten (§§ 20–26 VersAusglG). a) Interne Teilung Mit der internen Teilung nach § 10 Abs. 1 VersAusglG wird durch rich- 213 terlichen Gestaltungsakt zulasten des Anrechts der ausgleichspflichtigen Partei ein Rechtsverhältnis zwischen der ausgleichsberechtigten Partei und dem Versorgungsträger, bei dem das Anrecht besteht, geschaffen. Dass jedes Anrecht hälftig zu teilen ist, ergibt sich aus § 1 Abs. 1 VersAusglG. Die interne Teilung nach § 10 Abs. 1 VersAusglG entspricht der früheren 214 Realteilung (§ 1 Abs. 2 VAHRG aF). Fälle der Realteilung nach altem Recht waren aber selten, weil nur wenige Versorgungsträger die Möglichkeit einer Realteilung der bei ihnen bestehenden Anrechte eröffneten bzw. diese an bestimmte Voraussetzungen knüpften. aa) Bestimmung des Ausgleichswerts Nach § 10 Abs. 1 VersAusglG überträgt das Familiengericht für den Aus- 215 gleichsberechtigten ein Anrecht in Höhe des Ausgleichswerts. Die Versorgungsträger müssen in ihrer Auskunft dem Familiengericht einen Vorschlag für die Bestimmung des Ausgleichswerts unterbreiten, § 5 Abs. 3 VersAusglG. Bei dem Ausgleichswert kann es sich um einen Kapitalwert, Norpoth
1221
Kap. 11 Rn. 216
Versorgungsausgleich
um eine Rente oder um eine für das jeweilige Versorgungssystem maßgebliche Bezugsgröße (zB Entgeltpunkte in der gesetzlichen Rentenversicherung) handeln. Dass der Ausgleichswert vom Versorgungsträger in der maßgeblichen Bezugsgröße angegeben und vom Familiengericht auch in dieser Bezugsgröße übertragen werden soll, sollte das Verfahren für die Versorgungsträger vereinfachen, indem Umrechnungsschritte erspart werden sollten. Nützen tut dies allerdings wohl nur der gesetzlichen Rentenversicherung. In der öffentlich-rechtlichen Zusatzversorgung etwa werden die Versorgungspunkte erst mit den biometrischen Daten (Alter, Geschlecht) des Ausgleichspflichtigen in einen Kapitalwert umgerechnet. Dieser wird um anteilige Teilungskosten (§ 13 VersAusglG) gekürzt und anschließend mit den biometrischen Daten des Ausgleichsberechtigten wieder in Versorgungspunkte umgerechnet1. Ist der Ausgleichswert kein Kapitalwert, so ist der Versorgungsträger allerdings zusätzlich verpflichtet, den der Rente entsprechenden korrespondierenden Kapitalwert (§ 47 VersAusglG) mitzuteilen. Dieser dient nur als Hilfsgröße für eine gerechte Halbteilung (ausführlich hierzu Rn. 36 ff.). Der Ausgleichswert wird für den Stichtag „Ehezeitende“ bestimmt. Ggf. müssen Ausgleichswerte für Teile des Anrechts, deren Wertentwicklung unterschiedlich verläuft, getrennt angegeben werden. Zu den Problemen mit der Weiterentwicklung des Ausgleichswerts nach dem Ehezeitende s. Rn. 230. 216
Das Gesetz lässt offen, in welcher Weise der Halbteilungsgrundsatz bei der internen Teilung im Einzelfall zu verwirklichen ist. Das Problem besteht darin, dass wegen der (meistens) unterschiedlichen Lebenserwartung der Parteien, bedingt durch unterschiedliches Alter und Geschlecht, ggf. auch Gesundheitszustand, Anrechte auf dieselbe Rentenleistung idR unterschiedlich viel wert sind2. Nur in der Beamtenversorgung und in der (umlagefinanzierten) gesetzlichen Rentenversicherung3 sowie teilweise in der berufsständischen Versorgung lässt sich eine Halbteilung problemlos durchführen. Das liegt daran, dass bei diesen Versorgungen hinsichtlich des Erwerbs der Anwartschaften die Unterschiede nach Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand nivelliert werden. Handelt es sich dagegen um eine kapitalgedeckte Altersvorsorge, führt eine Halbteilung des Deckungskapitals4 regelmäßig zu unterschiedlich hohen Rentenansprüchen. Entsprechendes gilt, wenn für die berechtigte Partei aus dem Deckungskapital des auszugleichenden Rechts ein Betrag zur Begründung einer Rentenanwartschaft in Höhe der Hälfte der ursprünglichen Rente entnommen wird. Der zu entnehmende Teil des Deckungskapitals wird in aller Regel mehr oder weniger als die Hälfte betragen, so dass unter1 Unbedenklich ist dieses Verfahren nicht, wird aber von der obergerichtlichen Rspr. bislang gebilligt: vgl. Erman/Norpoth, § 11 VersAusglG Rn. 1 mwN. 2 Sog. „Individualprinzip“ in der privaten Lebensversicherung; vgl. Ellger, FamRZ 1986, 513; kritisch deshalb Bergner, ZRP 2008, 211 (212), der eine Verfehlung des Halbteilungsprinzips durch das neue Recht befürchtet. 3 Dasselbe gilt idR auch für die berufsständischen Versorgungswerke. 4 So OLG Karlsruhe v. 8.4.2005 – 2(20) UF 57/01, FamRZ 2005, 1752 f. unter Berufung auf BGH v. 21.9.1988 – IV b ZB 70/85, FamRZ 1988, 1254 (1255).
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Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 219
Kap. 11
schiedlich hohe Rentenanwartschaften beider Ehegatten/Lebenspartner auch hier die Folge sind1. Die Zielsetzung, gleich hohe Rentenansprüche hervorzubringen, erzwingt in aller Regel eine ungleiche Verteilung des Deckungskapitals, bei welcher dem Ausgleichspflichtigen entweder mehr oder weniger als die Hälfte des ursprünglichen Anrechts verbleiben kann. Bei Einführung der Realteilung hat der Gesetzgeber alle drei Wege für gangbar erachtet2. Hiervon ist auch für das jetzt geltende Recht auszugehen, wie einer knappen Äußerung in der Gesetzesbegründung3 zu entnehmen ist. In der Praxis hat sich erwiesen, dass private Versorgungsträger idR eine Halbteilung des Deckungskapitals vornehmen.
Û
Praxistipp: Seit der Entscheidung des EuGH v. 1.3.20114 wird diskutiert, ob bei der Berechnung des Ausgleichswerts – bzw. der aus ihm folgenden Leistungen – Geschlechtsunterschiede berücksichtigt werden dürfen5; die Träger der öffentlich-rechtlichen Zusatzversorgung arbeiten grundsätzlich mit sog. „Unisex-Tarifen“, verwenden aber die geschlechtsbedingten Unterschiede in der Lebenserwartung bei der Berechnung des Ausgleichswerts6. Allerdings treten hierdurch in der Praxis regelmäßig nur geringfügige Bewertungsunterschiede auf.
Wie das Gesetz vorgibt, obliegt die Wahl der Methode zur Bestimmung des Ausgleichswerts dem jeweiligen Versorgungsträger. Das Gericht hat nur einen Prüfauftrag. Ist der Ausgleichswert nach der vom Versorgungsträger gewählten Methode korrekt errechnet, legt ihn das Familiengericht nach § 10 Abs. 1 VersAusglG der Teilung zugrunde.
217
bb) Nähere Ausgestaltung und Befugnisse des Familiengerichts Hinsichtlich der näheren Ausgestaltung des für den Berechtigten geschaffenen Anrechts durch untergesetzliche Regelungen (zB Versorgungsordnungen, Satzungen, vertragliche Vereinbarungen) macht § 11 VersAusglG konkrete Vorgaben. Das trifft insbesondere die berufsständischen Versorgungswerke sowie betriebliche und private Versorgungsträger.
218
Fehlen Regelungen für den Fall der internen Teilung des auszugleichenden Anrechts, dann sind nach § 11 Abs. 2 VersAusglG die Regelungen für das Anrecht der ausgleichspflichtigen Person auf das Anrecht der ausgleichsberechtigten Person entsprechend anzuwenden.
219
1 2 3 4 5 6
Ellger, FamRZ 1986, 513 (515) mit Beispiel. BT-Drucks. 9/2296, 11. BT-Drucks. 16/10144, 51. EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09, FamRZ 2011, 1127 m. Anm. Borth. Vgl. Wick, FuR 2011, 556 mwN. Von den OLG bislang gebilligt: Nachweise bei Erman/Norpoth, § 11 VersAusglG Rn. 1; dazu kritisch Orgis, FPR 2011, 509 ff.
Norpoth
1223
Kap. 11 Rn. 220
Versorgungsausgleich
220
Existieren dagegen Regelungen, so müssen sie die gleichwertige Teilhabe der Ehegatten sicherstellen. Das Anrecht des Ausgleichsberechtigten muss demjenigen des Ausgleichspflichtigen im Hinblick auf Eigenständigkeit und Sicherung, Wertentwicklung und Risikoschutz entsprechen (§ 11 Abs. 1 S. 2 Nr. 1–3 VersAusglG)1. Der Versorgungsträger kann allerdings die für den Ausgleichspflichtigen bestehende Invaliditätssicherung und Hinterbliebenenversorgung für den Ausgleichsberechtigten ausschließen. Er muss dann aber zum Ausgleich die Altersversorgung erhöhen (§ 11 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 VersAusglG)2.
221
Regelungen, die den Vorgaben des § 11 Abs. 1 VersAusglG nicht entsprechen, verstoßen gegen ein gesetzliches Verbot i.S.d. § 134 BGB und sind deswegen nichtig3. In diesem Fall greift § 11 Abs. 2 VersAusglG als Auffangtatbestand, wonach dann auf das Anrecht des Ausgleichsberechtigten die für das Anrecht des Ausgleichspflichtigen geltenden Regelungen entsprechend anzuwenden sind.
222
Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Familiengerichte die Bestimmungen im Zweifelsfall aufgrund der erteilten Auskünfte zu überprüfen haben4. Dieser Ansicht hat sich der BGH angeschlossen5; die überprüfte Teilungsordnung ist danach, wenn sie nach Ansicht des erkennenden Gerichts den gesetzlichen Anforderungen genügt, auch in den Tenor der Entscheidung zur internen Teilung aufzunehmen6.
223
§ 11 VersAusglG gilt nicht für die nähere Ausgestaltung des für den Berechtigten geschaffenen Anrechts durch gesetzliche Regelungen, wie bei der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beamtenversorgung. Wegen der Ranggleichheit können durch einfaches Gesetz insoweit keine Vorgaben gemacht werden. Die gesetzlichen Regelungen müssen sich vielmehr unmittelbar an den verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine angemessene Teilhabe orientieren7.
1 Einzelheiten: BT-Drucks. 16/10144, 56 f. 2 Hauß, FamRB 2011, 156 (157), schlägt für den Ausschluss der Hinterbliebenenversorgung einen Zuschlag von 16 % und für den Ausschluss der Invaliditätssicherung entweder einen Pauschalzuschlag von 7 % oder einen gestaffelten Zuschlag nach seiner Tabelle 3 vor. Vgl. OLG Celle v. 13.9.2010 – 10 UF 198/10, FamRZ 2011, 379 = FamRB 2010, 332, gebilligt durch BGH v. 26.1.2011 – XII ZB 504/10, FamRZ 2011, 547 = FamRB 2011, 106: 9 % Kompensationszuschlag für Ausschluss Hinterbliebenen- und Invaliditätsvorsorge im Einzelfall. Dazu s. auch Wick, FuR 2011, 556. 3 BT-Drucks. 16/10144, 58. 4 BT-Drucks. 16/10144, 56. 5 BGH v. 26.1.2011 – XII ZB 504/10, FamRZ 2011, 547 = FamRB 2011, 106. 6 Dazu s. näher Erman/Norpoth, § 11 VersAusglG Rn. 8. 7 BT-Drucks. 16/10144, 56.
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Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 226
Kap. 11
cc) Besonderheiten (1) Berechnung bei teilweisem Ausgleich Besonderheiten können sich für die Ermittlung von Werten dann ergeben, 224 wenn in der Ehezeit erworbene Anrechte nur teilweise ausgeglichen werden, sei es aufgrund einer Parteivereinbarung, sei es, weil die Durchführung des Versorgungsausgleichs für einen bestimmten Zeitabschnitt als grob unbillig i.S.d. § 27 VersAusglG anzusehen ist. Der herauszukürzende Teil bestimmt sich nach den Besonderheiten des jeweiligen Anrechts, ist also für gesetzliche Rentenanrechte nach der unmittelbaren Bewertung zu ermitteln (§§ 39, 43 VersAusglG). Bestimmt sich der Wert eines Anrechts nach dem Zeit-Zeit-Verhältnis, sind zunächst die in der gesamten Ehezeit erworbenen Anwartschaften zu ermitteln. Diese müssen anschließend um die während des ausgeschlossenen Zeitraums erworbenen Anwartschaften bereinigt werden1. Kürzt man das in der gesamten Ehezeit erworbene Anrecht nach einem 225 reinen Zeit-Zeit-Verhältnis um den ausgeschlossenen Zeitraum, kann dies freilich fehlerhaft sein; einzubeziehen sind nämlich nur diejenigen Zeiten, die auch für den Erwerb des Anrechts maßgeblich waren. Beispiel: M und F haben im Juni 1995 geheiratet. Als sie sich sich im Juni 2003 trennen, ist M bereits 64 Jahre alt. Sie vereinbaren in einem Ehevertrag, dass die nach Juni 2003 erworbenen Anwartschaften nicht in den Versorgungsausgleich einbezogen werden sollen. Im März 2004 wird M pensioniert. Im April 2010 wird der Scheidungsantrag der F rechtshängig. Die Ehezeit beginnt danach am 1.6.1995 und endet am 31.3.2010. Die Pension des M beruht nur auf Anwartschaften, die er bis März 2004 erworben hat. Deswegen darf sie aufgrund der Vereinbarung nicht nach einem Verhältnis der Zeit bis zum vereinbarten Stichtag (Juni 1995 bis Juni 2003 einerseits und Juni 1995 bis März 2010 andererseits) gekürzt werden. Vielmehr ist die ehezeitliche Anwartschaft nur insoweit zu kürzen, als M sie noch nach dem vereinbarten Stichtag erworben hat.
(2) Betriebsrenten Handelt es sich bei dem auszugleichenden Recht um eine Betriebsrente 226 nach dem BetrAVG, sieht § 12 VersAusglG vor, dass der Ausgleichsberechtigte die Stellung eines ausgeschiedenen Arbeitnehmers i.S.d. BetrAVG erhält. Die so hergestellte versorgungsrechtliche Beziehung zum Versorgungsträger2 bewirkt, dass die Anpassungsregelungen des § 16 BetrAVG für laufende Leistungen und der Insolvenzschutz nach §§ 7 ff. BetrAVG, das Recht zur Fortsetzung der Versorgung mit eigenen Beiträgen nach § 1b Abs. 5 S. 1 Nr. 2 BetrAVG und das Recht zur Mitnahme nach 1 Einzelheiten bei BGH v. 18.7.2001 – XII ZB 106/96, FamRZ 2001, 1444 (145 f.) = FamRB 2002, 10; BGH v. 26.11.2003 – XII ZB 75/02, FamRZ 2004, 256 (257) = FamRB 2004, 78 und FamRB 2004, 80. 2 Nach der hier vertretenen Ansicht wird auch eine Rechtsbeziehung zum Arbeitgeber des Ausgleichspflichtigen hergestellt; s. Rn. 146 ff.
Norpoth
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Kap. 11 Rn. 227
Versorgungsausgleich
§ 4 Abs. 3 BetrAVG auch dem Ausgleichsberechtigten zusteht1. Bei Streitigkeiten hierüber zwischen dem Versorgungsträger und dem Ausgleichsberechtigten sind nach § 3 ArbGG die Arbeitsgerichte zuständig.
Û
Praxistipp: Höchst umstritten ist, ob die Dynamik (Wertsteigerung) in der Anwartschaftsphase (Bsp.: endgehaltsbezogene Anrechte), an der ausgeschiedene Arbeitnehmer grundsätzlich nicht partizipieren, trotzdem für die ausgleichsberechtigte Person gelten muss, solange die ausgleichspflichtige Person im Betrieb verbleibt2. Vom Wegfall dieser Dynamik würde sonst allein der Versorgungsträger profitieren. In geeigneten Fällen sollte hierzu eine höchstrichterliche Entscheidung angestrebt werden.
dd) Vollzug 227
Einzelheiten des Vollzugs einer internen Teilung bestimmen sich nach den Vorschriften für die jeweiligen Versorgungssysteme (§ 10 Abs. 3 VersAusglG). Das entspricht dem für den Fall der Realteilung früher geltenden § 1 Abs. 2 S. 2 VAHRG aF sowie den für den öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleich geltenden Bestimmungen des § 1587b Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2 aF BGB. ee) Kosten der internen Teilung
228
Die Kosten der internen Teilung darf der Versorgungsträger nach § 13 VersAusglG in angemessenem Umfang hälftig auf die Eheleute umlegen, indem er sie zB dem Deckungskapital des auszugleichenden Anrechts belastet3. Das betrifft nur die Kosten des organisatorischen Mehraufwands, der aus der Teilung selbst resultiert (Einrichten und Führen eines Bestandskontos für den Ausgleichsberechtigten), nicht auch die Kosten aus der Ermittlung des Ehezeitanteils. Der Gesetzgeber hat in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung zur Realteilung nach § 1 Abs. 2 VAHRG aF4 angenommen, dass die Versorgungsträger die Kosten pauschal mit bis zu 3 % des Deckungskapitals bemessen dürfen5. Insoweit sind zwar Überlegungen angestellt worden, die Kosten näher zu konkretisieren, weil eine Pauschale gerade bei besonders werthaltigen Rechten zu einer übermäßigen Kostenquote führen würde6. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass es für kleine Anrechte Mindestbeträge und für werthaltige Anrechte Höchstgrenzen für die Kosten geben muss, wollte die Entwicklung 1 BT-Drucks. 16/10144, 58. 2 Nachweise zum Streitstand bei Wick, FuR 2011, 556, Fn. 12 und 13. 3 Bergner, ZRP 2008, 211 (212), sieht in den entstehenden Kosten und ihrer Verteilung eine Verfehlung der angestrebten Halbteilung. 4 OLG Frankfurt v. 21.9.1996 – 3 UF 61/95, FamRZ 1998, 626 (628). 5 BT-Drucks. 16/10144, 58. 6 So die Stellungnahme des Bundesrates in BT-Drucks. 16/10144, 118.
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Versorgungsausgleich
Rn. 230
Kap. 11
dieser Grenzen aber der Praxis überlassen1. Die Praxis tendiert dahin, pauschalierte Kosten bis 500 Euro ohne nähere Darlegung unbeanstandet zu lassen, darüber hinausgehende Kosten aber genauer zu hinterfragen und einer konkreten Angemessenheitsprüfung zu unterziehen2; das hat der BGH gebilligt3. Für die Kosten interner Teilung kann es keine allgemeinverbindliche Obergrenze geben, weil die Kosten interner Teilung gerade in der betrieblichen Altersversorgung zwangsläufig sehr unterschiedlich und gerade bei Direktzusagen auch hoch ausfallen können4. Ein unbegrenzter prozentualer Ansatz von Teilungskosten ist aber in der Regel unangemessen5. Ein Stuttgarter Autohersteller hat die Höchstgrenze bei 3000 Euro gesetzt6; auch derartig hohe Höchstgrenzen werden teilweise kritisch gesehen7; ihre Notwendigkeit muss nach der Rechtsprechung des BGH jedenfalls konkret dargelegt werden. In der gesetzlichen Rentenversicherung, in der Alterssicherung der Landwirte und in der Beamtenversorgung werden Kosten der internen Teilung nicht erhoben8.
Û
Praxistipp: Die in Ansatz gebrachten Kosten interner Teilung sind stets zu überprüfen; liegen sie im Einzelfall jenseits von insgesamt 500 Euro, muss der Versorgungsträger seine Kostenkalkulation offenlegen. Bei professionell geführten Versorgungsträgern liegen die Kosten erfahrungsgemäß deutlich niedriger als etwa bei vom Arbeitgeber selbst verwalteten Direktzusagen.
ff) Wirksamwerden und das Problem der Verfahrensdauer Die Entscheidung zum Versorgungsausgleich und damit auch die Ent- 229 scheidung zur internen Teilung wird mit Rechtskraft wirksam, § 224 Abs. 1 FamFG, im Scheidungsverbund aber nicht vor Rechtskraft des Scheidungsausspruchs (§ 148 FamFG). Ab diesem Zeitpunkt erwirbt der Ausgleichsberechtigte Anrechte aus der geteilten Versorgung9. Ein weiterer Vollzugsakt ist nicht erforderlich, weil der Versorgungsträger, bei dem das Anrecht des Ausgleichsberechtigten begründet wird, über alle anrechtsbegründenden Beiträge verfügt. Wenn es nach der erteilten Auskunft bis zur Entscheidung zu längeren 230 Verzögerungen kommt, kann sich die Frage nach den Auswirkungen auf 1 2 3 4 5 6
BT-Drucks. 16/10144, 126 f. OLG Celle v. 12.4.2011 – 15 UF 308/10, FamRZ 2011, 1946 = FamRB 2011, 272. BGH v. 1.2.2012 – XII ZB 172/11, FamRZ 2012, 610 ff. Tz. 52. BGH v. 1.2.2012 – XII ZB 172/11, FamRZ 2012, 610 ff. Tz. 53 ff. BGH v. 1.2.2012 – XII ZB 172/11, FamRZ 2012, 610 ff. Tz. 50. OLG Bremen v. 11.3.2011 – 4 UF 1/11, FamRZ 2011, 1296; OLG Stuttgart v. 13.12.2010 – 15 UF 238/10, FamRZ 2011, 897 f. 7 Z.B. OLG Nürnberg v. 6.5.2011 – 11 UF 165/11, FamRZ 2011, 1947 = FuR 2011, 535, 537 f.; Wick, FuR 2011, 437 mwN. zur Rechtsprechung. 8 Ruland, FPR 2011, 480. 9 Vgl. dazu auch BSG v. 22.4.2008 – B 5a R 72/07 R, FamRZ 2008, 1845.
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Kap. 11 Rn. 230
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das zu übertragende Recht stellen. Für die Bestimmung des Ausgleichswerts wird das Ehezeitende als maßgeblicher Zeitpunkt festgelegt. Dieser ändert sich also nicht. Nach dem Ehezeitende wird sich das auszugleichende Anrecht in aller Regel verändern. Es kann Wertzuwächse wegen einer Verzinsung des Deckungskapitals erfahren, sich aber auch auf andere Weise nach oben oder unten entwickeln (Bsp.: fondsgebundene Versorgungen, Schlussüberschüsse und Bewertungsreserven bei Versicherungen). Gerade bei interner Teilung stellt dies aber kein Problem dar. Weil die interne Teilung die gleichwertige Teilhabe der Ehegatten an den in der Ehezeit erworbenen Anrechten sicherstellen muss (§ 11 Abs. 1 VersAusglG), ist davon auszugehen, dass das übertragene Anrecht ab dem Ende der Ehezeit die gleiche Entwicklung nehmen muss wie das dem Pflichtigen verbliebene Anrecht. Das gilt auch für fondsgebundene Versorgungen1. Fragen und eventuelle Streitigkeiten hierüber sind nicht im Versorgungsausgleich, sondern nachgelagert im Verhältnis zwischen dem Ausgleichsberechtigten und dem Versorgungsträger zu klären. Nur bei bereits laufenden Versorgungen aus kapitalgedeckten Anrechten stellt sich ein Problem, das unter dem Begriff „Rentnerfalle“ diskutiert wird2. Bezieht die ausgleichspflichtige Person ab dem Ehezeitende bereits laufende Rentenleistungen in ungekürzter Höhe, steht der ausgleichsberechtigten Person aber ein auf das Ehezeitende berechneter Ausgleichswert zu, der erst bei Wirksamwerden der Entscheidung zum Versorgungsausgleich mit leistungsbegründender Wirkung übertragen wird, wird der ausgleichspflichtigen Person nach durchgeführtem Wertausgleich zwangsläufig weniger als die Hälfte ihrer Versorgung verbleiben. Das erscheint auf ersten Blick gerecht, weil ja die ausgleichspflichtige Person zunächst allein die Rente bezieht3, führt aber offensichtlich dann zu Verwerfungen, wenn die ausgleichspflichtige Person aus ihren Renteneinkünften laufend Unterhalt an die ausgleichsberechtigte Person zahlt. Zunächst wurde nur diskutiert, dass unbillige Ergebnisse zu korrigieren sind (§ 27 VersAusglG)4. Zwischenzeitlich wird auch die Ansicht vertreten, dass sich die laufenden Leistungen auch auf den Ausgleichswert mindernd auswirken5. Bei den umlage- oder steuerfinanzierten Versorgungen (zB gesetzliche Rentenversicherung, Beamtenversorgung) tritt dieses Problem nicht auf. Hier werden Stammrechte (zB Entgeltpunkte) übertragen, aus denen bis zur Wirksamkeit der Entscheidung allein der Ausgleichspflichtige, danach der Ausgleichsberechtigte Leistungen erhält; der Wert des Stammrechts bleibt immer gleich.
1 2 3 4 5
Dazu s. näher Erman/Norpoth, § 10 VersAusglG Rn. 4; § 46 Rn. 9 mwN. Hauß, FamRB 2010, 252; Hauß, FPR 2011, 29; Hauß, FPR 2011, 513. Hauß, FPR 2011, 513. Vgl. Hauß, FPR 2011, 514; Erman/Norpoth, § 10 VersAusglG Rn. 4. Vgl. Borth, FamRZ 2011, 1773 (1776); Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 580–582; Gutdeutsch/Hoenes/Norpoth, FamRZ 2012, 73 ff. In diese Richtung könnte auch der BGH tendieren: BGH v. 7.9.2011 – XII ZB 546/10, FamRZ 2011, 1785 ff., Tz. 25 = FamRB 2011, 331.
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Û
Rn. 235
Kap. 11
Praxistipp: Bei ausgleichspflichtigen Rentnern (aus kapitalgedeckten Anrechten) vorrangig auf eine Anpassung des Ausgleichswerts durch die Rentenzahlungen seit Ehezeitende dringen; hilfsweise immer an die mögliche Anwendung des § 27 VersAusglG denken und ggf. aktiv einfordern; das Familiengericht wird dies ohne Hinweis idR nicht von Amts wegen aufklären!
gg) Steuerliche Auswirkungen Die steuerlichen Auswirkungen der internen Teilung regelt § 3 Nr. 55a 231 EStG (Art. 10 VA-StrRefG). Die interne Teilung ist sowohl für die ausgleichspflichtige als auch für die ausgleichsberechtigte Person steuerlich neutral. Sie ändert auch nicht die Besteuerungsgrundlagen des geteilten Rechts. Dieses wird also, wenn es der nachgelagerten Besteuerung unterliegt, im Leistungsfall auch bei dem Ausgleichsberechtigten nach den Grundsätzen besteuert, die für das bei dem Ausgleichspflichtigen verbliebene Anrecht gelten1. Auch die Teilung von privaten Rentenversicherungen ist als solche steu- 232 erlich neutral2. Weil dabei aber Anrechte des Ausgleichsberechtigten zu einem späteren Zeitpunkt begründet werden als für den Ausgleichspflichtigen und sich dies steuerlich auswirken kann (Steuerbefreiung für Beiträge zu Lebensversicherungsverträgen, die bis zum 31.12.2004 abgeschlossen worden sind), verlegt § 52 Abs. 36 S. 12 EStG bei interner Teilung den Zeitpunkt für die Begründung des abgespaltenen Anrechts für das Steuerrecht fiktiv auf den Zeitpunkt des Abschlusses des zu teilenden Versicherungsvertrags vor. Dies sichert die steuerliche Gleichbehandlung3. b) Saldierung Eine Saldierung, wie aus dem bisherigen Recht vertraut, findet zum einen dort statt, wo für beide Ehegatten Anrechte gleicher Art bei demselben Versorgungsträger auszugleichen sind. Hierdurch soll der bürokratische Aufwand durch einen Hin-und-Her-Ausgleich verringert werden.
233
Auch dort, wo zwischen einzelnen Versorgungsträgern entsprechende 234 Verrechnungsabreden bestehen, ist eine Saldierung möglich (§ 10 Abs. 2 S. 2 VersAusglG). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollen die Versorgungsträger von dieser Möglichkeit reichlich Gebrauch machen4. Anrechte gleicher Art müssen nicht wertidentisch sein, sondern sich nur 235 in Struktur (Leistungsspektrum, Finanzierungsart) und Wertentwicklung 1 2 3 4
BT-Drucks. 16/10144, 109; Breuers, FPR 2011, 517. BT-Drucks. 16/10144, 110 f. BT-Drucks. 16/10144, 110 f. BT-Drucks. 16/10144, 56.
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1229
Kap. 11 Rn. 236
Versorgungsausgleich
(Anpassung von Anwartschaften und laufenden Versorgungen) entsprechen1. 236
Anrechte in der gesetzlichen Rentenversicherung gelten unabhängig davon, ob sie bei unterschiedlichen Trägern bestehen, als bei demselben Versorgungsträger erworbene Anrechte (§ 120f Abs. 1 SGB VI). Beispiel: M verfügt über ehezeitliche gesetzliche Rentenanwartschaften iHv. monatlich 28 Entgeltpunkten (EP) bei der DRV Bund, F über ehezeitliche gesetzliche Rentenanwartschaften iHv. 10 EP bei der DRV Westfalen. In diesem Fall teilt zwar das Familiengericht beide bestehenden Anrechte intern und überträgt vom Konto des M 14 EP für die F sowie vom Konto der F 5 EP für den M. Anschließend sorgen aber die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung wie bisher für eine Saldierung, so dass vom Versicherungskonto des M Anwartschaften iHv. 9 EP (Differenz der Ausgleichswerte) auf das Versicherungskonto der F übertragen werden.
237
Es bleibt allerdings dabei, dass Ost- und West-Anrechte nicht miteinander verrechnet werden können. Ebenso können Anrechte der allgemeinen Rentenversicherung nicht mit Anrechten der knappschaftlichen Rentenversicherung verrechnet werden (§ 120f Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGB VI).
238
Nicht das Familiengericht, sondern die Versorgungsträger selbst nehmen im Rahmen des Vollzugs der internen Teilung (§ 10 Abs. 2 VersAusgl) die Saldierung vor. Begründet wird dies mit Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten: Zum einen werde so eine Fehlerquelle für das Familiengericht beseitigt. Nach der Entscheidung des Gerichts müsse außerdem der Versorgungsträger die Versorgungskonten ohnehin bearbeiten, so dass insoweit kein zusätzlicher Aufwand anfalle. Schließlich sind die Versorgungsträger über zwischen ihnen bestehende Verrechnungsabkommen besser informiert; dem Familiengericht wird entsprechender Aufklärungsaufwand erspart2.
239
Die Folge ist, dass für Streitigkeiten zwischen den Parteien und den Versorgungsträgern über das Ob und Wie einer vorgenommenen Saldierung jedenfalls nicht die Familiengerichte zuständig sind. Vielmehr ist bei öffentlich-rechtlichen Versorgungsträgern der Verwaltungsrechtsweg oder der Weg zur Sozialgerichtsbarkeit, bei privatrechtlich organisierten Versorgungsträgern der allgemeine Zivilrechtsweg, bei betrieblichen Anwartschaften der Weg zur Arbeitsgerichtsbarkeit eröffnet. c) Externe Teilung
240
Externe Teilung eines Anrechts bedeutet, dass für den ausgleichsberechtigten Ehegatten ein Anrecht nicht bei dem Versorgungsträger übertragen wird, bei dem auch das auszugleichende Recht besteht, sondern bei einem anderen Versorgungsträger begründet wird. Der Ausgleichsberech1 BT-Drucks. 16/10144, 56. 2 BT-Drucks. 16/10144, 56.
1230
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Rn. 244
Kap. 11
tigte kann wählen, ob eine für ihn (anderswo) bestehende Versorgung ausgebaut oder eine neue Versorgung begründet werden soll (§ 15 Abs. 1 VersAusglG). Auch die externe Teilung erfolgt durch richterlichen Gestaltungsakt, der ein Rechtsverhältnis zwischen dem Ausgleichsberechtigten und dem anderen Versorgungsträger entweder begründet oder ausbaut (s. aber zu den Wirkungen Rn. 256 ff.). Den Versorgungsträger des Ausgleichspflichtigen trifft in diesem Fall die Verpflichtung, die vom Gericht festgesetzte Zahlung an den anderen Versorgungsträger zu erbringen. aa) Zulässigkeit externer Teilung Die externe Teilung ist nur in folgenden abschließend aufgezählten Fällen möglich:
241
– Es liegt eine Vereinbarung zwischen dem betroffenen Versorgungsträger und der ausgleichsberechtigten Person vor (§ 14 Abs. 2 Nr. 1 VersAusglG); – der Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person verlangt eine externe Teilung, und der Ausgleichswert überschreitet die gesetzlichen Höchstgrenzen nicht (als Rente 2 %, als Kapitalwert 240 % der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV bzw. bei einer betrieblichen Anwartschaft aus einer Direktzusage oder Unterstützungskasse, nicht mehr als die Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung; dazu s. näher Rn. 247). Einen Sonderfall der externen Teilung regelt schließlich § 16 VersAusglG. Ist ein Anrecht zu teilen, das bei der Beamtenversorgung (eines Bundeslandes) besteht und für das eine interne Teilung gesetzlich (noch) nicht vorgesehen ist, wird das Anrecht extern in der gesetzlichen Rentenversicherung geteilt (dazu s. Rn. 263 f.).
242
Voraussetzung der externen Teilung ist in allen Fällen (ausgenommen 243 § 16 VersAusglG), dass ein Anrecht noch durch Beitragszahlung begründet werden kann (§ 14 Abs. 5 VersAusglG). Damit sind insbesondere, aber nicht abschließend, diejenigen Fälle gemeint, in denen der ausgleichsberechtigte Ehegatte bereits die Regelaltersgrenze erreicht hat, so dass Anrechte in der gesetzlichen Rentenversicherung durch Beitragszahlung nicht mehr begründet werden können. In derartigen Fällen verbleibt es bei dem internen Ausgleich, § 9 Abs. 2 und 3 VersAusglG. (1) Externe Teilung bei Vereinbarung Keine Einwände bestehen gegen eine externe Teilung, wenn die hiervon 244 Betroffenen – ausgleichsberechtigte Person und abgebender Versorgungsträger – sich darüber geeinigt haben, § 14 Abs. 2 Nr. 1 VersAusglG. Eine solche Einigung ist nicht auf Bagatellfälle beschränkt. Sie bewirkt zugleich die Chance und das Risiko, dass sich die gewählte Zielversorgung Norpoth
1231
Kap. 11 Rn. 245
Versorgungsausgleich
(§ 15 VersAusglG) abweichend von der geteilten Versorgung entwickelt. Dieses Risiko einzugehen, gesteht das Gesetz der ausgleichsberechtigten Person grundsätzlich zu (zu den Einschränkungen sogleich Rn. 251 ff.). Die ausgleichspflichtige Person muss einer solchen Vereinbarung nicht zustimmen; sie muss ggf. nur der Wahl des Zielversorgungsträgers zustimmen (dazu s.u. Rn. 250). 245
Die Vereinbarungen zwischen dem Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person einerseits und der ausgleichsberechtigten Person andererseits sind nicht an die Form des § 7 VersAusglG gebunden, sondern grundsätzlich formfrei möglich. Lediglich aus der Verpflichtung, dem Familiengericht die Vereinbarung nachzuweisen, folgt, dass die Schriftform hierfür der sicherste und bequemste Weg ist.
246
Die einverständliche externe Teilung bietet für den Ausgleichsberechtigten den Vorteil, dass er eine drohende Vielfalt an Altersversorgungen verringern kann, indem er die für ihn auszugleichenden Anrechte durch Aufstockung einer bestehenden Altersversorgung konzentriert. Er muss sich aber darüber im Klaren sein, dass sich bei dem Wechsel von einem Versorgungstyp in den anderen die zu erwartende Rente deutlich verändern kann, dass er beispielsweise dann, wenn er die gesetzliche Rentenversicherung als Zielversorgung wählt, trotz bestehender Dynamik mit einer deutlich niedrigeren Rente rechnen muss als bei einem privaten Versorgungsträger. Gerade in der Auswahl des Versorgungsträgers liegt andererseits wegen der unterschiedlichen abgesicherten Risiken eine Chance: bestehen beim Ausgleichsberechtigten etwa Risikofaktoren (Rauchen, Bluthochdruck, Gefäßkrankheiten, überstandene Krebserkrankung), die den Eintritt einer Erwerbsunfähigkeit als überdurchschnittlich wahrscheinlich erscheinen lassen, kann gerade die Aufstockung gesetzlicher Rentenanwartschaften für ihn die günstigste und sinnvollste Alternative sein.
Û
Praxistipp: Eine einverständlich durchgeführte externe Teilung kann auch für den beratenden Rechtsanwalt Haftungsrisiken bergen, wenn sich die Zielversorgung deutlich schlechter entwickelt als das auszugleichende Anrecht. Der Anwalt sollte deshalb deutlich machen, dass er für die Dynamik der Zielversorgung keine Gewähr übernimmt.
(2) Geringfügige Anrechte 247
In den Fällen geringfügiger Anrechte hat der Gesetzgeber dem betroffenen Versorgungsträger zum Schutz vor unverhältnismäßigem bürokratischem Aufwand einen Anspruch auf eine externe Teilung eingeräumt. Die – veränderliche – Geringfügigkeitsgrenze liegt für eine Rente bei 2 % der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV (2012: 2625 Euro); das sind 52,50 Euro im Jahr 2012. Bei einem Kapitalwert liegt die Grenze bei 240 % der monatlichen Bezugsgröße, das sind im Jahr 2012 dementspre1232
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Versorgungsausgleich
Rn. 248
Kap. 11
chend 6 300 Euro. Die monatliche Bezugsgröße i.S.d. § 18 SGB IV ist das durchschnittliche Arbeitsentgelt aller Versicherten der gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten ohne Auszubildende im vorvergangenen Kalenderjahr, aufgerundet auf den nächsthöheren durch 420 teilbaren Betrag. Sie wird in § 2 der Sozialversicherungs-Rechengrößenverordnung jährlich neu festgelegt1. Ein erheblich größerer Wert, nämlich die jährliche Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung (2012: 67 200 Euro2), gilt nach § 17 VersAusglG bei betrieblichen Anrechten aus einer Direktzusage des Arbeitgebers bzw. bei Anrechten, die über eine Unterstützungskasse abgesichert sind. In diesen Fällen muss der Arbeitgeber selbst die Ansprüche der Ausgleichsberechtigten verwalten; dessen soll er sich in weitergehendem Umfang durch Verlangen nach externer Teilung entledigen können als die Versorgungsträger in sonstigen Fällen3. Problematisch wird diese Sonderregelung in Kombination mit den nicht marktgerechten Abzinsungssätzen, welche die betrieblichen Arbeitgeber bei der Berechnung der Ausgleichswerte als Kapitalwert verwenden (s.o. Rn. 39 und Berechnungsbeispiel Rn. 42; s. auch Rn. 168a). Betriebliche Arbeitgeber könnten sich hier ihrer Versorgungszusagen durch verhältnismäßig geringe Zahlungen entledigen und tun dies in der Praxis auch; den Schaden hat die ausgleichsberechtigte Person, die nur geringe Anrechte erwirbt4.
Û
Praxistipp: Jedenfalls dann, wenn die Anwendung des § 17 VersAusglG in Rede steht, muss die ausgleichsberechtigte Person auf der Hut sein und auf mögliche Fehlberechnungen zu ihrem Nachteil hinweisen; der BGH sieht hier zwar offenbar Anlass, von Amts wegen (§ 26 FamFG) in die Prüfung einzusteigen, erkennt das Problem aber nicht als offensichtlich an5. Dabei geht es hier um erhebliche Differenzbeträge, die schnell im 5-stelligen Bereich liegen6!
bb) Wahlrecht, Einverständnis und Angemessenheitskontrolle Die Auswahl der Zielversorgung ist in beiden Fällen grundsätzlich Sache des Ausgleichsberechtigten, der nach § 15 Abs. 1 VersAusglG ein Wahlrecht hat. Für die Wahrnehmung des Wahlrechts muss er nicht anwaltlich vertreten sein (§ 114 Abs. 4 Nr. 7 FamFG). Macht er hiervon keinen Gebrauch, obwohl im Übrigen die Voraussetzungen für eine externe Tei1 Sozialversicherungs-Rechengrößenverordnung 2012 v. 2.12.2011, BGBl. I 2011, 2421). 2 § 3 Sozialversicherungs-Rechengrößenverordnung 2012. 3 BT-Drucks. 16/10144, 61; kritisch dazu Bergner, ZRP 2008, 211 (212). 4 Vgl. auch Bergner, FamFR 2011, 314 ff. mit Überlegungen zur Vermeidung von Nachteilen. 5 BGH v. 7.9.2011 – XII ZB 546/10, FamRZ 2011, 1785 unter II 2c ff. = FamRB 2011, 331; s. jetzt aber OLG Hamm v. 6.2.2012 – 12 UF 207/10, FamFR 2012, 184. 6 Vgl. Jaeger, FamRZ 2010, 1714 ff.
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1233
248
Kap. 11 Rn. 249
Versorgungsausgleich
lung vorliegen, dann wird für ihn grundsätzlich ein Anrecht in der gesetzlichen Rentenversicherung begründet, § 15 Abs. 5 S. 1 VersAusglG. Bei betrieblichen Anrechten wird ein Anrecht bei der Versorgungsausgleichskasse begründet, § 15 Abs. 5 S. 2 VersAusglG; die Versorgungsausgleichskasse ist extra zu diesem Zweck als Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit vom Gesetzgeber errichtet worden1. 249
Der Versorgungsträger, bei dem die Zielversorgung begründet oder ausgebaut werden soll, muss damit einverstanden sein, was dem Gericht nach § 222 FamFG nachzuweisen ist2 (Ausnahme: Fälle des § 15 Abs. 5 VersAusglG – man spricht insoweit von Auffangversorgungsträgern).
250
Auch der Ausgleichspflichtige muss mit der Auswahl der Zielversorgung einverstanden sein, wenn die externe Teilung insoweit für ihn zu steuerpflichtigen Einnahmen oder zu einer schädlichen Verwendung gewährter staatlicher Zulagen führt, § 15 Abs. 3 VersAusglG. Das ist der Fall, wenn der Ausgleichsberechtigte als Zielversorgung eine Versorgung wählt, die weder zur betrieblichen Altersvorsorge noch zur sonst geförderten Altersvorsorge zählt (§ 15 Abs. 4 VersAusglG; Einzelheiten: Rn. 265–267). Auch für die Einverständniserklärung des Ausgleichspflichtigen ist anwaltliche Vertretung nicht erforderlich, § 114 Abs. 4 Nr. 7 FamFG.
251
Bedingung für die externe Teilung durch Begründung oder Ausbau des ausgewählten Anrechts ist, dass die Zielversorgung eine angemessene Versorgung gewährleistet. Als angemessen gelten Anrechte in der gesetzlichen Rentenversicherung, betriebliche Anrechte bei Pensionskassen, Pensionsfonds oder Direktversicherungen sowie Anrechte aus einem nach § 5 AltZertG zertifizierten Vertrag („Riesterrenten“; § 15 Abs. 4 VersAusglG). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll dies der Regelfall der externen Teilung sein. Denkbar sind Fälle, in denen eine betriebliche Altersvorsorge als Zielversorgung ausgebaut oder bei bereits im Ruhestand befindlichen Ausgleichsberechtigten eine Zusatzrente gegen Einmalzahlung begründet werden soll.
252
Die Angemessenheitskontrolle hinsichtlich der Zielversorgung, die bei den eben genannten Anrechten i.S.d. § 15 Abs. 4 VersAusglG entfällt, wird durch das Familiengericht vorgenommen3. Die Folgen eines negativen Prüfungsergebnisses sind allerdings nicht ausdrücklich geregelt. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass in diesem Fall entweder die Vereinbarung über die externe Teilung nach § 139 BGB insgesamt unwirksam ist; alternativ kann § 15 Abs. 5 VersAusglG anzuwenden sein, wonach, 1 Dazu s. Marian, FamRZ 2011, 1265. 2 BT-Drucks. 16/10144, 60. Die gesetzliche Rentenversicherung als potentieller Zielversorgungsträger hat grundsätzliche Zustimmung signalisiert: Dünn/Strotmeyer, FPR 2011, 492. 3 BT-Drucks. 16/10144, 60. Einen Beispielsfall zu der auch nach altem Recht möglichen externen Teilung bietet BGH v. 28.5.2008 – XII ZB 134/07, FamRB 2008, 268 = MDR 2008, 1037 f.
1234
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Versorgungsausgleich
Rn. 255
Kap. 11
wenn der Ausgleichsberechtigte von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch macht, ein Anrecht bei einem Auffangversorgungsträger zu begründen ist1. Das Familiengericht muss ein negatives Ergebnis der Angemessenheitskontrolle mit den Betroffenen (Parteien, Versorgungsträger) erörtern und ihnen Nachbesserungen ermöglichen (§ 28 Abs. 1 FamFG). Zu den nach altem Recht möglichen Verwerfungen wegen unterschiedli- 253 cher Dynamik zwischen auszugleichendem Recht und Zielversorgung2 könnte es kommen, wenn die externe Teilung auf Grundlage einer Rente anstatt des Kapitalwerts durchgeführt würde. Nach geltendem Recht stellt sich aber nur noch die Frage einer Fehlbewertung des auszugleichenden Anrechts, weil für dieses stets ein Ausgleichswert in Form eines Kapitalbetrags zu bilden ist, den der abgebende Versorgungsträger an den Träger der Zielversorgung zu leisten hat. Eine besondere Dynamik des auszugleichenden Anrechts ist dabei zu berücksichtigen und erhöht diesen Kapitalwert.
Û
Praxistipp: Im Rahmen der Angemessenheitskontrolle bietet sich die einfache Möglichkeit, das Angebot des Zielversorgungsträgers mit dem Angebot der Versorgungsausgleichskasse zu vergleichen; diese bietet auf ihrer Internetseite3 eine Online-Berechnung an. Hinter dem Angebot der Versorgungsausgleichskasse sollte das Angebot des Zielversorgungsträgers allenfalls unwesentlich zurückbleiben.
cc) Durchführung der externen Teilung Für die Durchführung der externen Teilung bestimmt § 14 Abs. 4 Vers- 254 AusglG, dass der Versorgungsträger des Ausgleichspflichtigen an die Zielversorgung des Ausgleichsberechtigten den Ausgleichswert als Kapitalbetrag zu zahlen hat. Dem entspricht § 222 Abs. 3 FamFG, wonach das Gericht bei externer Teilung den zu zahlenden Betrag als Kapitalbetrag festsetzt (zum Einfluss der Wertentwicklung nach dem Ehezeitende auf die Tenorierung s.u. Rn. 256). Eine Ausnahme hiervon gilt bei der externen Teilung von Ansprüchen aus einer Beamtenversorgung (dazu s. Rn. 263 f.). Werden Anrechte in der gesetzlichen Rentenversicherung begründet, 255 werden diese zum einen in Entgeltpunkte umgerechnet (§ 76 Abs. 4 SGB VI4). Es geht aber auch um die Anrechnung der für den Rentenbezug erforderlichen Wartezeiten. Deren Erwerb im Versorgungsausgleich regelt § 52 SGB VI. Danach werden für jeden im Versorgungsausgleich erworbe1 BT-Drucks. 16/10144, 59. 2 Beispiel: BGH v. 28.5.2008 – XII ZB 134/07, FamRB 2008, 268 = MDR 2008, 1037. 3 www.vausk.de. 4 § 76 Abs. 4 S. 2 nF SGB VI regelt die Umrechnung von Kapitalbeträgen aus externer Teilung in Entgeltpunkte.
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Kap. 11 Rn. 256
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nen Entgeltpunkt 32 Monate an Wartezeiten erworben, in der knappschaftlichen Rentenversicherung sogar 42 Monate. Eine Anpassung der Vorschrift stellt sicher, dass die Anzahl der Wartezeitmonate durch einen Hin-und-Her-Ausgleich innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung nur zugunsten des per Saldo Ausgleichsberechtigten und auch nur hinsichtlich des Zuwachses erhöht wird. dd) Wirksamwerden und Wirkung der externen Teilung 256
Die externe Teilung wird mit der Rechtskraft der Entscheidung zum Versorgungsausgleich (§ 224 Abs. 1 FamFG) wirksam1. Unklar ist, ob der Anrechtserwerb der ausgleichsberechtigten Person zudem noch von der Zahlung des abgebenden Versorgungsträgers an den Zielversorgungsträger abhängt. Die gesetzlichen Regelungen hierzu sind dünn2.
257–259 Einstweilen frei 260
Nur in der gesetzlichen Rentenversicherung ist die Lage eindeutig: Der Versorgungsausgleich ist nach § 52 Abs. 1 S. 3 SGB VI durchgeführt, wenn die Entscheidung des Familiengerichts wirksam ist. Zu diesem Zeitpunkt bestimmt § 101 Abs. 3 SGB VI, dass eine laufende Rente zugunsten oder zulasten des Rentners geändert wird. Daraus folgt, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung die Wirkung auch bei externer Teilung mit dem Wirksamwerden sofort eintritt3. Dies gilt auch im Fall des § 16 VersAusglG, wenn zulasten einer Beamtenversorgung oder sonstigen Versorgung aus einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung begründet werden4. Flankiert wird dies durch Regelungen zu den Wirkungen des an die gesetzliche Rentenversicherung zu zahlenden Kapitals. Für dessen Umrechnung friert § 76 Abs. 4 S. 2 SGB VI nämlich die Berechnungsgrundlage des zu zahlenden Betrags und der sich aus ihm ergebenden Entgeltpunkte auf den Zeitpunkt des Ehezeitendes ein. Eine Ausnahme sieht § 120g SGB VI nur für den Fall vor, dass die gesetzliche Rentenversicherung als Auffangversorgungsträger nach § 15 Abs. 5 S. 1 VersAusglG herangezogen wird, weil der Berechtigte nicht selbst einen Versorgungsträger benannt hat. In diesem Ausnahmefall erwirbt der Berechtigte das Anrecht in der gesetzlichen Rentenversicherung erst mit Zahlungseingang des vom Gericht festgesetzten Kapitalbetrags. Für alle anderen Fälle fehlt es an einer gesetzlichen Regelung. Nach wohl h.M. erwirbt die ausgleichsberechtigte Person sofort das Anrecht bei der Zielversorgung5. Unproblematisch ist das nicht: Der Träger der Ziel1 2 3 4
Im Scheidungsverbund ist § 148 FamFG zu beachten, s. Rn. 520. Übersicht bei Erman/Norpoth, § 14 VersAusglG Rn. 11 ff. S. auch BT-Drucks. 16/10144, 102 zu § 120g SGB VI. Dies war im alten Recht selbstverständlich, vgl. BSG v. 22.4.2008 – B 5a R 72/07 R, FamRZ 2008, 1845 ff. 5 Nachweise zum Streitstand bei Erman/Norpoth, § 14 VersAusglG Rn. 15.
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Versorgungsausgleich
Rn. 261
Kap. 11
versorgung muss folgerichtig nämlich auch dann an den Ausgleichsberechtigten leisten, wenn der Träger der abgebenden Versorgung den Kapitalbetrag (zB wegen Insolvenz) nicht zahlt1. Muss der abgebende Versorgungsträger zudem den Ausgleichswert ab dem Ehezeitende verzinsen2, ist auch unklar, in welcher Höhe die Zahlung bei dem Ziel- oder Auffangversorgungsträger letztlich ankommt; die Höhe der Einzahlung ist aber grundsätzlich maßgeblich für die Höhe der zu erbringenden Gegenleistung. Der Zielversorgungsträger wird seinerseits auf einen vollstreckbaren Anspruch gegen den abgebenden Versorgungsträger verwiesen. Fraglich ist, ob sich die Wertentwicklung des auszugleichenden Anrechts 261 zwischen Ehezeitende und Wirksamwerden der Entscheidung auf das zu übertragende Kapital auswirkt. Das Gesetz geht von einem festzusetzenden Kapitalbetrag aus, der zu übertragen ist (§ 222 Abs. 3 FamFG i.V.m. § 14 Abs. 4 VersAusglG); danach scheint die Wertentwicklung nach dem Ehezeitende irrelevant zu sein. Hier können sich gerade bei langer Verfahrensdauer und erheblicher Wertveränderung erhebliche Probleme ergeben. Unklar ist beispielsweise, ob sich Wertveränderungen zugunsten/zulasten des Versorgungsträgers oder der ausgleichspflichtigen Person auswirken; im letzteren Fall kommt eine Verletzung des Halbteilungsgrundsatzes in Frage. Ist für das auszugleichende Anrecht eine feste Verzinsung vorgesehen, muss der abgebende Versorgungsträger den Ausgleichswert ab Ehezeitende entsprechend verzinsen, was das Familiengericht auch in seiner Entscheidung tenorieren muss3. Mit dieser aus dem Halbteilungsgrundsatz entwickelten Lösung werden aber die möglichen erheblichen Wertschwankungen fondsgebundener Anrechte sowie bei Bewertungsreserven privater Versicherungen nicht erfasst. Die Problematik ist in der Praxis noch nicht gelöst; diskutiert wird, ob das Familiengericht in diesen Fällen nicht einen festen Kapitalbetrag, sondern lediglich eine Berechnungsgrundlage tenoriert, die eine Aktualisierung des zum Ehezeitende bestehenden Werts ermöglicht (sog. offene Tenorierung)4. Wie bei der „Rentnerfalle“ (s.o. Rn. 230) stellt sich die Frage, welche Veränderungen zwischen Ehezeitende und Wirksamwerden der Entscheidung bewertungsrelevant sind. Der BGH5 hat jetzt die Ansicht vertreten, Wertverringerungen nach dem Ehezeitende seien i.S.d. § 5 Abs. 2 S. 2 VersAusglG relevant. Für Wertsteigerungen gelte dies aber nicht, weil auch der Ausgleichsberechtigte bei seinem Zielversorgungsträger rückwirkend ab dem Ehezeitende eine Wertsteigerung des zu begründenden Anrechts erhalte. 1 Zur Problematik s. ausf. und mwN Erman/Norpoth, § 14 VersAusglG Rn. 11 ff. sowie schon in der 1. Auflage Norpoth, Kap. H, Rn. 256 ff. 2 Dazu s. BGH v. 7.9.2011 – XII ZB 546/10, FamRZ 2011, 1785 ff. = FamRB 2011, 331 sowie unten Rn. 261. 3 BGH v. 7.9.2011 – XII ZB 546/10, FamRZ 2011, 1785 ff. = FamRB 2011, 331. 4 Dazu s. ausführlich Hoffmann/Raulf/Gerlach, FamRZ 2011, 333 ff.; Borth, FamRZ 2011, 337 ff.; Jaeger, FamRZ 2011, 1348 ff.; Gutdeutsch/Hoenes/Norpoth, FamRZ 2012, 597 ff. 5 BGH v. 29.2.2012 – XII ZB 609/10, FamRZ 2012, 694 ff., Tz. 23 ff.
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Kap. 11 Rn. 262
Versorgungsausgleich
Diese Ansicht erscheint höchst bedenklich. Auch von den angemessenen Zielversorgungsträgern i.S.d. § 15 Abs. 4 VersAusglG dürfte mit Ausnahme der gesetzlichen Rentenversicherung keiner eine Wertsteigerung rückwirkend ab Ehezeitende (und eben möglicherweise weit vor Erhalt des benötigten Kapitals) zusagen; die Prämisse des BGH stimmt also nicht. Als Alternativlösung kommt in Betracht, bei besonders wertinstabilen Anrechten wie fondsgebundenen Versorgungen eine externe Teilung für undurchführbar zu erklären und diese nur intern zu teilen1. Mögliche Begründung: Die externe Teilung setzt voraus, dass der Ausgleichswert in einer dem Halbteilungsgrundsatz entsprechenden Weise festgesetzt werden kann. Wo das nicht möglich ist, scheidet eine externe Teilung aus. Sie soll ja sowieso nur ausnahmsweise durchgeführt werden, und bei interner Teilung stellen sich die dargestellten Probleme nicht. 262
Û
Praxistipp: Damit Wertverringerungen fondsgebundener Anrechte nach dem Ehezeitende berücksichtigt werden können, muss das Familiengericht dies wissen. Nach Ansicht des BGH2 haben die Beteiligten die Aufgabe, das Familiengericht zu informieren. Daran ist immer zu denken!
ee) Externe Teilung bei Beamtenversorgung und sonstiger öffentlich-rechtlicher Versorgung 263
Einen Sonderfall der externen Teilung regelt § 16 VersAusglG für die Beamtenversorgung und die sonstige Versorgung aus einem öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnis. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll, wenn ein Anspruch auf eine Versorgung besteht, stets eine interne Teilung erfolgen. Aber der Bund konnte dies nur für die Soldaten sowie für die Beamten und Richter des Bundes selbst regeln3; er hat keine Regelungsbefugnisse für die Versorgung der Beamten und Richter der Länder mehr4. Bislang hat nur Nordrhein-Westfalen für die Landtagsabgeordneten die gesetzlichen Voraussetzungen für einen internen Ausgleich in der Beamtenversorgung geschaffen5; für diesen Fall musste also eine Ersatzregelung her. § 16 Abs. 1 VersAusglG bestimmt – entsprechend dem bisherigen Recht –, dass die Anwartschaft auf eine Beamtenversorgung extern durch Begründung von Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung auszugleichen ist. Für diesen Fall unterstellt der Gesetzgeber, wie nach dem alten Recht, die Gleichwertigkeit der Anwart1 Gutdeutsch/Hoenes/Norpoth, FamRZ 2012, 597, 600. 2 BGH v. 29.2.2012 – XII ZB 609/10, FamRZ 2012, 694 ff., Tz. 30. 3 Dies hat er auch mit dem BVersTG getan, s. Art. 5 VAStrRefG; darauf verweist § 55e SVG. 4 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 28.8.2006, BGBl. I, 2034. 5 Vgl. Dünn/Strotmeyer, FPR 2011, 491 unter Verweis auf Art. 1 Nr. 17 des Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und des Fraktionsgesetzes v. 5.7.2011 – GVNRW 2011, 336.
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Versorgungsausgleich
Rn. 266
Kap. 11
schaften. Dies hat zur Folge, dass der Betrag nicht als Kapitalwert, sondern als Rentenbetrag zu bestimmen und in Entgeltpunkte umzurechnen ist (§ 16 Abs. 1, 3 VersAusglG, § 222 Abs. 4 FamFG)1. Soweit § 16 Abs. 3 S. 2 VersAusglG regelt, dass im Beitrittsgebiet erworbene Anrechte in Entgeltpunkte (Ost) umzurechnen sind, lag dem ersichtlich die Vorstellung zugrunde, dass auch die Beamtenanrechte in den neuen Bundesländern angleichungsdynamisch sind. Dieser Zustand ist jedoch seit dem 1.1.2010 für die Beamten in den neuen Bundesländern beendet; sie beziehen seitdem keine abgesenkte Besoldung/Versorgung mehr2. Deswegen rechnen mehrere Oberlandesgerichte inzwischen auch im Beitrittsgebiet erworbene Anrechte in „normale“ Entgeltpunkte um3; dem hat sich der BGH angeschlossen4. Ebenfalls extern über die gesetzliche Rentenversicherung zu teilen sind 264 (wie nach altem Recht) die Anrechte aus einem Beamtenverhältnis auf Widerruf und die Anrechte der Zeitsoldaten (§ 16 Abs. 2 VersAusglG). Bei diesen Personengruppen ist im Zeitpunkt der Entscheidung zum Versorgungsausgleich noch unklar, ob ihnen die Versorgungsansprüche verbleiben oder ob sie nach einem Ausscheiden infolge Zeitablaufs oder Widerrufs in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 8 SGB VI nachzuversichern sind. Die Vorschrift ist entsprechend auf Beamtenverhältnisse i.S.d. §§ 66, 67 BeamtVG anzuwenden, bei denen bis zum Ende der Amtszeit die Wartezeit für einen Anspruch auf Beamtenversorgung nicht mehr erfüllt werden kann5. ff) Steuerliche Auswirkungen der externen Teilung Wie bei der internen Teilung regelt § 3 Nr. 55b S. 1 EStG, dass grundsätz- 265 lich die Durchführung der externen Teilung steuerlich neutral ist. Die Steuerfreistellung ist nicht endgültig; es wird nur der Besteuerungszeitpunkt durch die externe Teilung nicht verschoben, was insbesondere bei Anrechten von Bedeutung ist, deren Erlösanteile der nachgelagerten Besteuerung unterliegen. Hiervon gibt es jedoch Ausnahmen. Problematisch sind die Fälle, in de- 266 nen aus einem der nachgelagerten Besteuerung unterliegenden Anrecht in ein nicht der nachgelagerten Besteuerung unterliegendes (oder dorthin zu überführendes) Anrecht (zB nicht zertifizierbare Kapitallebensversicherung) oder in ein betriebliches Anrecht aus den sog. internen Durchführungswegen (Direktzusage, Unterstützungskasse) geteilt werden soll. Ein derartiger Teilungsvorgang bewirkt, dass die ausgleichspflichtige Per1 BT-Drucks. 16/10144, 96. 2 Rehbein, Juris-PR FamR 6/2011 Anm. 7. 3 OLG Rostock v. 19.5.2011 – 10 UF 174/10, FamRZ 2011, 1593; OLG Dresden v. 24.9.2010 – 23 UF 607/10, FamRZ 2011, 813; aA wohl OLG Brandenburg v. 7.6.2010 – 9 UF 28/10, FamRZ 2011, 38. 4 BGH v. 28.3.2012 – XII ZB 593/11, Tz. 6, FamRZ 2012, 941. 5 BT-Drucks. 16/10144, 61.
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Kap. 11 Rn. 267
Versorgungsausgleich
son den Ausgleichswert versteuern muss1. In diesem Fall bedarf die Durchführung der externen Teilung auch ihrer Zustimmung. Dagegen ist die Ergänzung betrieblicher Anrechte aus den sog. externen Durchführungswegen (Pensionsfonds, Pensionskasse, Direktversicherung) sowie die Begründung/Ergänzung von Anrechten i.S.d. AltZertG steuerlich neutral (s. auch § 15 Abs. 4 VersAusglG).
Û
Praxistipp: Verfügt der Ausgleichsberechtigte über einen hohen, die ausgleichspflichtige Person dagegen über einen niedrigen persönlichen Steuersatz, kann es trotzdem sinnvoll sein, in ein nicht gefördertes, der vorgelagerten Besteuerung unterliegendes Anrecht extern zu teilen. Ihre Zustimmung hierzu muss die ausgleichspflichtige Person aber nur gegen Erstattung der entstehenden steuerlichen Nachteile geben2.
267
Zu beachten sind zudem mögliche weitere negative Wirkungen beim Ausgleichspflichtigen. Verträge im Rahmen der geförderten Altersvorsorge werden durch staatliche Zulagen und Steuerermäßigungen bezuschusst. Die bestimmungswidrige Verwendung dieses geförderten Altersvorsorgevermögens bewirkt die Verpflichtung (des Ausgleichspflichtigen), die gewährten Zulagen und Ermäßigungen zurückzuzahlen. § 93 Abs. 1a EStG bestimmt deshalb, dass eine schädliche Verwendung dann nicht vorliegt, wenn die externe Teilung in einen seinerseits zertifizierten Altersvorsorgevertrag, eine nach § 82 Abs. 2 EStG begünstigte betriebliche Altersversorgung (das sind die in § 15 Abs. 4 VersausglG genannten Versorgungen, s.o.) oder die in § 15 Abs. 5 VersAusglG genannten Auffangversorgungsträger erfolgt. Dann geht die gewährte steuerliche Förderung mit allen Rechten und Pflichten auf den Ausgleichsberechtigten über, soweit das während der Ehezeit gebildete geförderte Altersvorsorgevermögen auf ihn übertragen worden ist. Dazu erhalten beide Parteien einen Feststellungsbescheid.
Û
Praxistipp: Grundsätzlich ist also bei externer Teilung eine der in § 93 Abs. 1a EStG oder § 15 Abs. 4 VersAusglG genannten Anlageformen zu suchen; andernfalls droht ein Wertverlust durch die Pflicht zur Rückzahlung der auf das geteilte Anrecht entfallenden Zulagen und Ermäßigungen.
d) Ausnahmen vom Wertausgleich bei Scheidung 268
Vom Wertausgleich bei Scheidung gibt es Ausnahmen. Abgesehen von dem Fall, dass die Parteien eine entsprechende Vereinbarung getroffen haben (dazu s. Rn. 368 ff. und Kap. 15 Rn. 123 ff.), oder dass die Durchführung nach § 27 VersAusglG grob unbillig wäre (dazu s. Rn. 322 ff.), findet 1 Breuers, FPR 2011, 518. 2 Breuers, FPR 2011, 518.
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Versorgungsausgleich
Rn. 271
Kap. 11
ein Versorgungsausgleich bei Scheidung in folgenden Situationen nicht – oder nicht vollständig – statt: – Ein oder mehrere Anrechte sind nicht ausgleichsreif i.S.d. § 19 VersAusglG; – die Differenz beiderseitiger gleichartiger Anwartschaften ist geringfügig i.S.d. § 18 Abs. 1 VersAusglG; – der Ausgleichswert eines oder mehrerer Anrechte ist geringfügig i.S.d. § 18 Abs. 2 VersAusglG; – die Ehe der Parteien war von kurzer Dauer i.S.d. § 3 Abs. 3 VersAusglG, und die Durchführung des Versorgungsausgleichs wird nicht beantragt. Während in den Fällen fehlender Ausgleichsreife ein Wertausgleich nach der Scheidung vorbehalten bleibt, gilt in den übrigen Fällen, dass ein Versorgungsausgleich (ggf. anrechtsbezogen) überhaupt nicht stattfindet. aa) Fehlende Ausgleichsreife Ein Versorgungsausgleich bei Scheidung findet hinsichtlich solcher An- 269 rechte nicht statt, die nicht ausgleichsreif sind. Den Begriff der Ausgleichsreife definiert der Gesetzgeber nicht; er listet in § 19 Abs. 2 VersAusglG enumerativ diejenigen Fälle auf, in denen ein Anrecht nicht als ausgleichsreif gilt. Hier finden sich unterschiedliche Fallgruppen, in denen auch nach altem Recht ein öffentlich-rechtlicher Versorgungsausgleich (noch) nicht stattfand oder erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bestimmung der Ausgleichsreife ist zu- 270 nächst das Ehezeitende. Veränderungen, die nach dem Ehezeitende, aber noch vor der zu treffenden Entscheidung eintreten, sind jedoch noch zu berücksichtigen, § 19 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 5 Abs. 2 VersAusglG, so dass letztlich der Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblich ist. Nicht ausgleichsreif sind nach § 19 Abs. 2 Nr. 1 VersAusglG Anrechte, 271 die nach Grund oder Höhe noch nicht hinreichend verfestigt sind. Wichtigster Fall sind betriebliche Rentenanwartschaften, die noch verfallbar sind. Entsprechende Verfallbarkeitsbestimmungen können aber auch für sonstige Anrechte vertraglich geregelt sein. Diese Anrechte werden nicht in den Wertausgleich bei Scheidung einbezogen. In Betracht kommt eine Verfallbarkeit des ganzen Anrechts dem Grunde nach. Möglich ist aber auch, dass bei betrieblichen Anwartschaften nur eine Dynamik im Anwartschaftsstadium nach § 2 Abs. 5 BetrAVG noch verfallbar ist. In diesem Fall wird die betriebliche Anwartschaft nur teilweise, nämlich hinsichtlich der Dynamik, nicht „bei Scheidung“ ausgeglichen.
Û
Praxistipp: Der Anwendungsbereich dieser Fallgruppe wird kontrovers diskutiert. Während einige Gerichte beispielsweise auch die vorübergeNorpoth
1241
Kap. 11 Rn. 272
Versorgungsausgleich
hend nicht aufklärbaren Anrechte auf eine Zusatzversorgung im öffentlichen/kirchlichen Dienst hierunter fassen wollten, hat sich die wohl h.M. für eine enge Auslegung ausgesprochen, wonach neben verfallbaren betrieblichen Anrechten nur verfallbare Anrechte aus Beschäftigung solcher Personen fallen sollen, die nicht in den Anwendungsbereich des BetrAVG fallen (zB Gesellschafter-Geschäftsführer)1. Zu diskutieren wird sein, ob auch solche Anrechte hierunter fallen, deren Wert starken Schwankungen unterworfen ist (fondsgebundene Anrechte, Anrechte aus privaten Versicherungen wegen der Beteiligung an Bewertungsreserven2). 272
Auch Anrechte, die auf eine abzuschmelzende Leistung gerichtet sind, sind nicht ausgleichsreif, § 19 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG. Als bekanntes Beispiel sind hier die Abflachungsbeträge in der Beamtenversorgung zu nennen, die bis 2011 durch die Absenkung des Höchstruhegehaltssatzes durch das Versorgungsänderungsgesetz von 75 % bis auf 71,75 % in der Übergangszeit entstanden waren und die auch schon nach altem Recht nicht im öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleich berücksichtigt werden konnten3. Für die gesetzliche Rentenversicherung enthält § 120h SGB VI einen Katalog von Ansprüchen auf eine abzuschmelzende Leistung. Es handelt sich um Übergangsregelungen im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung, die das alte Rentenversicherungssystem der DDR betrafen.
273
Ebenfalls ein Fall fehlender Ausgleichsreife ist nach § 19 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG gegeben, wenn ein Ausgleich für den Ausgleichsberechtigten unwirtschaftlich wäre. Ein Beispiel hierfür ergab sich bislang in den Fällen des § 16 VersAusglG, wenn der Ausgleichsberechtigte selbst verbeamtet ist und aus der Begründung eines Anrechts in der gesetzlichen Rentenversicherung keinen Nutzen hat, weil er nicht die Wartezeit von fünf Jahren für den Bezug einer Regelaltersrente erfüllen kann. Insoweit besteht aber jetzt die Möglichkeit, durch Nachentrichtung von Beiträgen in der gesetzlichen Rentenversicherung die Wartezeit zu erfüllen4. In Betracht kommen zudem Fälle, in denen der Ausgleichsberechtigte wegen der Anrechnung einer Unfallrente auf die gesetzliche Rente (§ 93 SGB VI) oder einer gesetzlichen Rente auf ein Anrecht der betrieblichen Gesamtversorgung von der Teilung nicht profitiert.
274
Einen weiteren Fall fehlender Ausgleichsreife regelt schließlich § 19 Abs. 2 Nr. 4 VersAusglG: Vom Versorgungsausgleich bei Scheidung müssen sämtliche ausländischen Versorgungsanwartschaften zwangsläufig ausgenommen werden. Denn die Regelungsbefugnis des deutschen Gesetzgebers erfasst sie nicht. 1 S. dazu näher Erman/Norpoth, § 19 VersAusglG Rn. 4, 15 mwN. 2 Dagegen Gutdeutsch/Hoenes/Norpoth, FamRZ 2012, 597, weil eine interne Teilung trotz der Wertschwankungen möglich ist. 3 BGH v. 14.3.2007 – XII ZB 85/03, FamRZ 2007, 994 m. Anm. Borth. 4 §§ 7, 282 Abs. 2 SGB VI; vgl. Ruland, FPR 2011, 482.
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Versorgungsausgleich
Rn. 276
Kap. 11
Dies enthebt allerdings das Familiengericht nicht der – regelmäßig mit besonderen Schwierigkeiten behafteten – Aufklärung dieser Anrechte. Denn von deren Umfang hängt maßgeblich ab, ob und inwieweit nach § 19 Abs. 3 VersAusglG von einem Versorgungsausgleich bei Scheidung wegen Unbilligkeit abzusehen ist (sog. Ausgleichssperre1). Maßgeblich hierfür ist, ob die von einer Partei erworbenen ausländischen Anrechte einen vergleichbar hohen Wert haben wie die von der anderen Partei im Inland erworbenen Anrechte. Dann ist die Durchführung des Versorgungsausgleichs bei Scheidung (ggf. teilweise) unbillig, weil im Wesentlichen nur die Anrechte einer Partei geteilt werden, während die Teilung der ausländischen Anrechte dem Wertausgleich nach Scheidung vorbehalten bliebe. Bei fehlender Ausgleichsreife findet zwar kein Wertausgleich bei Scheidung statt. Die betroffenen Anrechte bleiben aber dem Wertausgleich nach Scheidung vorbehalten, wie sich aus § 19 Abs. 4 VersAusglG ergibt.
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275
Praxistipps: Insbesondere in den Regelungen des § 19 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VersAusglG liegen Haftungsrisiken für Anwälte verborgen. Ein trotz Unwirtschaftlichkeit durchgeführter Versorgungsausgleich schadet dem Ausgleichspflichtigen; er kann aber auch den Ausgleichsberechtigten benachteiligen, weil er mögliche spätere Unterhaltsansprüche aus der Rente des Ausgleichspflichtigen ebenso beeinträchtigt wie einen Anspruch auf Wertausgleich nach Scheidung nach den §§ 20 ff. VersAusglG. Bei Einbeziehung ausländischer Anrechte einer Partei ist es eine wichtige Aufgabe des Rechtsanwalts der Gegenseite, auf eine mögliche Unbilligkeit nach § 19 Abs. 3 VersAusglG hinzuweisen. Von der Ausgleichssperre des § 19 Abs. 3 VersAusglG sollte andererseits nur insoweit Gebrauch gemacht werden, als der Wert eines ausländischen Anrechts dies auch rechtfertigt2. Stirbt nämlich der andere Ehegatte, findet weder ein schuldrechtlicher Versorgungsausgleich mehr statt, noch besteht ein Anspruch auf Teilhabe an der Hinterbliebenenversorgung3.
bb) Geringfügigkeit und geringe Ausgleichswerte Die Regelung zum Absehen vom Wertausgleich bei Geringfügigkeit (§ 18 276 VersAusglG) hat sich in der Rechtsprechung zum neuen Versorgungs-
1 Instruktive Bsp. bei OLG Düsseldorf v. 26.1.2011 – II-5 UF 129/10, FamRZ 2011, 1734; OLG Saarbrücken v. 17.5.2011 – 6 UF 60/11, FamRZ 2011, 1735 f. = FamRBint 2011, 71 m. Anm. Borth. 2 Vgl. hierzu auch OLG Saarbrücken v. 17.5.2011 – 6 UF 60/11, FamRZ 2011, 1735 = FamRBint 2011, 71 m. Anm. Borth; OLG Celle v. 4.5.2011 – 10 UF 147/10, FuR 2011, 575 (576). 3 Vgl. Erman/Norpoth, § 25 VersAusglG Rn. 12.
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Versorgungsausgleich
ausgleich schnell zum Dauerbrenner entwickelt1. Die Mehrheit in Rechtsprechung und Literatur hat sich für eine enge Auslegung dieser Ausnahmevorschrift ausgesprochen, weil bei ihrer Anwendung der Halbteilungsgrundsatz verletzt werde. Dem hat sich der BGH in seinen ersten Entscheidungen zu § 18 VersAusglG2 angeschlossen (näher dazu s.u. Rn. 282). 277
Nach § 18 Abs. 1 VersAusglG soll ein Versorgungsausgleich insoweit nicht stattfinden, als die Differenz zwischen den beiderseitigen gleichartigen Ausgleichswerten gering ist. Die Vorschrift sollte ursprünglich einen ganz anderen Anwendungsbereich haben. Vorgesehen war, dass ein Versorgungsausgleich insgesamt nicht durchgeführt werden sollte, wenn sich bei Vergleich der Kapitalwerte nur eine geringe Differenz ergab. Nachdem sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass die Kapitalwerte allein eine Vergleichbarkeit von Anrechten unterschiedlicher Art gerade nicht gewährleisten können, wurde folgerichtig der Vergleich auf Anrechte gleicher Art bezogen, deren Kapitalwerte auch nach gleichen Berechnungsgrundlagen ermittelt werden3. Anrechte gleicher Art sind nach der Definition des Gesetzgebers: „… solche Anrechte, die sich in Struktur und Wertentwicklung entsprechen, so dass ein Saldenausgleich nach Verrechnung im Wesentlichen zu demselben wirtschaftlichen Ergebnis führt wie ein Hin- und Her-Ausgleich. Eine Wertidentität ist nicht erforderlich, ausreichend ist eine strukturelle Übereinstimmung in den wesentlichen Fragen (zB Leistungsspektrum, Finanzierungsart, Anpassung von Anwartschaften und laufenden Versorgungen)“4.
Im Streit ist, ob gesetzliche Rentenanrechte stets gleichartig sind, egal, ob es sich um Ost- oder West-Anrechte oder Anrechte aus der allgemeinen oder knappschaftlichen Rentenversicherung handelt. Diese dürfen nach § 10 Abs. 2 VersAusglG zwar nicht miteinander verrechnet werden, gleichwohl können sie i.S.d. § 18 Abs. 1 VersAusglG gleichartig sein5. Der BGH lehnt dies aber ab6, so dass West- und Ost-Anrechte ebenso wie Anrechte aus der allgemeinen und der knappschaftlichen Rentenversicherung nicht als gleichartig zu gelten haben. 278
Im Einzelfall kann auch jetzt das Ergebnis sein, dass ein Versorgungsausgleich aufgrund des § 18 Abs. 1 VersAusglG insgesamt nicht durchgeführt 1 Umfassende Darstellung der aufgeworfenen Probleme bei Erman/Norpoth, § 18 VersAusglG. 2 BGH v. 30.11.2011 – XII ZB 79/11, FamRZ 2012, 189 m. Anm. Borth = FamRB 2012, 38; BGH v. 30.11.2011 – XII ZB 344/10, FamRZ 2012, 189 (192) = FamRB 2012, 38; BGH v. 18.1.2012 – XII ZB 501/11, FamRZ 2012, 513. 3 Durch die Änderung wird der Anwendungsbereich des § 18 Abs. 1 flexibilisiert und erweitert (BT-Drucks. 16/11903, 107). 4 BT-Drucks. 16/10144, 56. Ob gesetzliche Rentenanrechte und Beamtenversorgungen gleichartig sind, ist umstritten; ablehnend OLG Celle v. 11.1.2012 – 10 UF 194/11, FamRB 2012, 108; bejahend Ruland, FamFR 2012, 123. 5 Vgl. hierzu Erman/Norpoth, § 18 VersAusglG Rn. 3. 6 BGH v. 30.11.2011 – XII ZB 344/10, Tz. 19 ff., FamRZ 2012, 192; BGH v. 18.1.2012 – XII ZB 501/11, Tz. 13, FamRZ 2012, 513.
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Rn. 282
Kap. 11
wird; die Regelung läuft aber auch dann nicht ins Leere, wenn nur einzelne gegenseitige Anrechte gleicher Art (Bsp.: gesetzliche Rentenanrechte oder Lebensversicherungen beider Parteien) vergleichbare Werte aufweisen1. Auch einzelne Anrechte einer Partei können bei Geringfügigkeit von der 279 Durchführung des Versorgungsausgleichs ausgenommen werden, wenn ihr Ausgleichswert gering ist, § 18 Abs. 2 VersAusglG. Wenn zwei gleichartige Anrechte mit sehr unterschiedlichen Ausgleichswerten in eine Prüfung nach § 18 Abs. 1 VersAusglG einbezogen waren, ohne dass eine geringe Differenz festzustellen war, stellt sich die Frage, ob dieselben Anrechte auch noch einzeln auf Geringwertigkeit nach § 18 Abs. 2 VersAusglG überprüft werden können. Nach Ansicht des BGH, der sich insoweit gegen die ganz h.M. stellt, ist das ausgeschlossen2. Die Entscheidung darüber, ob der Versorgungsausgleich hinsichtlich ein- 280 zelner Anrechte, einzelner Gruppen von Anrechten oder sogar insgesamt nicht stattfindet, erfordert auch, aber keineswegs ausschließlich3, einen Überblick über die beiderseitigen Versorgungen. Für den Wertvergleich dient bei gleichartigen Anrechten auch der jeweilige Kapitalwert/korrespondierende Kapitalwert, allerdings nur als Hilfsgröße. Über die Gleichwertigkeit von Anrechten kann er nur zuverlässig Auskunft geben, wenn er für diese Anrechte nach derselben Methode errechnet worden ist4. Zur Mitteilung des (korrespondierenden) Kapitalwerts und seiner Berechnungsgrundlagen sind die Versorgungsträger nach § 5 Abs. 3 i.V.m. § 47 VersAusglG verpflichtet. § 18 Abs. 3 VersAusglG enthält die Legaldefinition eines geringen Werts 281 bzw. Wertunterschiedes: Ist maßgebliche Bezugsgröße ein Rentenbetrag, darf er nicht mehr als 1 % betragen. In allen anderen Fällen ist der (korrespondierende) Kapitalwert maßgeblich, der nicht mehr als 120 % der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV betragen darf. Die Wertgrenzen betragen im Jahr 2012 bei einer Rente 26,25 Euro und bei einem Kapital 3150 Euro (dazu s. Rn. 247). In der gesetzlichen Rentenversicherung sind Entgeltpunkte die maßgebliche Bezugsgröße, so dass hier der korrespondierende Kapitalwert für die Bewertung entscheidend ist5. Durch die Formulierung „soll … nicht ausgleichen“ in § 18 Abs. 1 Vers- 282 AusglG wird dem Familiengericht ein Ermessensspielraum eingeräumt. 1 BT-Drucks. 16/11903, 106 ff., 107 mit Beispielsfall. 2 BGH v. 30.11.2011 – XII ZB 344/10, Tz. 27 ff., FamRZ 2012, 192 mwN zum Streitstand; BGH v. 18.1.2012 – XII ZB 501/11, Tz. 17 ff., FamRZ 2012, 513, 514. 3 BGH v. 30.11.2011 – XII ZB 344/10, Tz. 44, FamRZ 2012, 192. 4 Der BGH spricht sich im Beschl. v. 30.11.2011 – XII ZB 344/10, Tz. 44, FamRZ 2012, 192 m.E. zu weit gehend, ganz gegen einen Vergleich gesetzlicher Rentenanrechte auf Kapitalwertbasis aus, die nicht in den Gegensatzpaaren „West-Ost“ und „allgemein-knappschaftlich“ übereinstimmen. 5 BGH v. 30.11.2011 – XII ZB 344/10, Tz. 24 f., FamRZ 2012, 192.
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Kap. 11 Rn. 283
Versorgungsausgleich
Trotz geringer Werte/Wertunterschiede kann das Familiengericht den Ausgleich im Einzelfall für geboten halten und soll dann dazu auch in der Lage sein. Der Gesetzgeber erwähnt beispielhaft Anrechte mit einer offenkundig herausragenden Dynamik oder großzügigen Leistungsvoraussetzungen, deren Ausgleich sich für den Berechtigten lohnt, oder Situationen, in denen durch einen geringfügigen Versorgungsausgleich Wartezeiten für den Bezug einer Rente erfüllt werden können1. Der Ausschluss einzelner Anrechte vom Versorgungsausgleich wegen Geringfügigkeit soll außerdem nicht dazu führen, dass ein Ehegatte mit wenigen werthaltigen Anrechten ausgleichspflichtig wird, während der andere Ehegatte eine Vielzahl von geringfügigen Anrechten erworben hat, die nicht ausgeglichen werden. Durch die Rechtsprechung des BGH wird das Ermessen deutlich eingeschränkt, weil das Absehen vom Wertausgleich bei Geringfügigkeit mit dem Halbteilungsgrundsatz kollidiert. Wesentlich ist danach, ob die mit § 18 VersAusglG verfolgten gesetzgeberischen Zwecke (Vermeiden eines unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwandes und einer Anrechtzersplitterung) erreicht werden; wo das nicht der Fall ist, hat der Halbteilungsgrundsatz Vorrang2. Bei der externen Teilung von Anrechten kommt der Aspekt der Verwaltungsvereinfachung nie zum Tragen3; entscheidend ist danach in diesen Fällen nur, ob für einen der beteiligten Ehegatten durch die Teilung Kleinstanrechte begründet würden. Kleinstanrechte entstehen auch dort nicht, wo Anrechte zwar (wie in der gesetzlichen Rentenversicherung und vielfach auch in der betrieblichen Altersversorgung) getrennt ausgewiesen und geteilt werden müssen, in der Praxis aber in eine einheitliche Rentenzahlung münden4. Durch diese vom BGH gebilligte enge Auslegung verliert § 18 VersAusglG weitgehend an Bedeutung.
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Praxistipp: Ein vom Gesetzgeber nicht genannter Zweck des § 18 VersAusglG kann sein, die Kosten interner Teilung (§ 13 VersAusglG), die gerade bei kleinen Anrechten unverhältnismäßig hoch sein können, zu vermeiden. In geeigneten Fällen sollte daher ggf. erwogen werden, zur Vermeidung dieser Kosten durch Vereinbarungen gegenseitig Anrechte aus dem Wertausgleich auszunehmen.
283
Nach dem Willen des Gesetzgebers soll bei der Überprüfung der Geringfügigkeit ein übereinstimmendes Votum der Eheleute auch dann Beachtung finden, wenn diese nicht anwaltlich vertreten sind. Sprechen sich die Beteiligten für einen (teilweisen) Ausschluss des Versorgungsausgleichs wegen Geringfügigkeit aus, dann kann das Gericht dies berück-
1 BT-Drucks. 16/10144, 62. 2 BGH v. 30.11.2011 – XII ZB 344/10, Tz. 37 ff., 42, FamRZ 2012, 192; BGH v. 30.11.2011 – XII ZB 79/11, Tz. 19 f., FamRZ 2012, 189. 3 BGH v. 30.11.2011 – XII ZB 79/11, Tz. 22, FamRZ 2012, 192. 4 BGH v. 30.11.2011 – XII ZB 79/11, Tz. 23, FamRZ 2012, 192.
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Versorgungsausgleich
Rn. 285
Kap. 11
sichtigen, ohne dass eine an die formellen Voraussetzungen des § 7 VersAusglG gebundene Vereinbarung vorliegen muss1. cc) Kurze Ehedauer Nach § 3 Abs. 3 VersAusglG findet ein Versorgungsausgleich bei einer 284 Ehezeit von bis zu drei Jahren nur auf Antrag statt. Mit dieser Regelung will der Gesetzgeber einem praktischen Bedürfnis aller Beteiligten (Ehegatten, Versorgungsträger, Familiengerichte) nach Entlastung und Beschleunigung des Verfahrens in Fallkonstellationen entsprechen, in denen wegen der kurzen Ehedauer davon auszugehen ist, dass nur minimale Versorgungsanrechte mit daraus folgender geringer Wertdifferenz erworben worden sind. Das rechtfertigt sich auch deswegen, weil in einer kurzen Ehezeit regelmäßig keine nennenswerte Verflechtung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Eheleute stattfindet. Die Regelung hat ihre endgültige Fassung erst auf Initiative des Rechtsausschusses erhalten2. Die Möglichkeit, den Versorgungsausgleich auf Antrag durchzuführen, war ursprünglich nicht vorgesehen. Dies hätte aber Manipulationen ermöglicht: Auch bei kurzen Ehen können hohe Vermögenswerte erworben werden; diese hätte der Ausgleichspflichtige durch Begründung von Anwartschaften auf Altersvorsorge sowohl dem Zugewinnausgleich als auch – wegen der kurzen Ehezeit – dem Versorgungsausgleich entziehen können. Um dies zu verhindern, kann der dadurch benachteiligte Ehegatte die Durchführung des Versorgungsausgleichs auch bei Ehen von kurzer Dauer beantragen. Den Antrag kann auch eine nicht anwaltlich vertretere Partei stellen (§ 114 Abs. 2 Nr. 7 FamFG).
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Praxistipp: Während andere Folgesachen nur dann im Scheidungsverbund geregelt werden, wenn sie bis spätestens zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung in erster Instanz anhängig gemacht werden (§ 137 Abs. 2 FamFG), kann der Antrag auf Durchführung des Wertausgleichs bei Scheidung gem. § 3 Abs. 3 VersAusglG nach h.M. noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt werden, soweit (wie üblich) der Versorgungsausgleich im Zwangsverbund steht3.
2. Ausgleich nach der Scheidung Eines der Ziele des VAStrRefG war es, die Zahl derjenigen Verfahren zu verringern, in denen ein Versorgungsausgleich nicht direkt und abschlie1 BT-Drucks. 16/10144, 61. Zwar ist die Vorschrift im weiteren Verlauf noch erheblich verändert worden. Die Idee von der formell erleichterten Berücksichtigung des übereinstimmenden Parteiwillens ist dabei aber nicht fallen gelassen worden. Vgl. auch BGH v. 30.11.2011 – XII ZB 344/10, Tz. 43. 2 BT-Drucks. 16/11903, 11 (101 f.). 3 Vgl. Prütting/Helms, § 137 FamFG Rn. 54 mwN. Ausnahmen vom Zwangsverbund können bei Auslandsbezug bestehen, Art. 17 Abs. 3 EGBGB.
Norpoth
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Kap. 11 Rn. 286
Versorgungsausgleich
ßend im Zusammenhang mit der Scheidung geregelt werden kann. Nach altem Recht waren dies – abgesehen von den Abänderungsverfahren nach § 10a VAHRG – die Fälle des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs (§§ 1587f ff. aF BGB) und des sog. verlängerten schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs (§ 3a VAHRG aF). 286
Früher fand ein schuldrechtlicher Versorgungsausgleich in folgenden Fällen statt (vgl. § 1587f aF BGB): a) Der Ausgleichsberechtigte hatte bereits die Regelaltersgrenze erreicht, so dass für ihn die Begründung gesetzlicher Rentenanwartschaften ausschied (Nr. 1); b) ein vollständiger Versorgungsausgleich scheiterte an den Höchstbetragsgrenzen (Nr. 2: § 1587b Abs. 5 BGB i.V.m. § 76 SGB VI aF; § 3b Abs. 1 Nr. 1 VAHRG aF); c) der Ausgleichspflichtige hatte die Pflicht zur Zahlung von Beiträgen für den Ausgleichsberechtigten zur Begründung von Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht erfüllt; der Berechtigte hat inzwischen die Altersgrenze erreicht, so dass das Versäumnis nicht mehr nachzuholen war (Nr. 3; s. auch Nr. 1); d) eine betriebliche Anwartschaft war noch nicht unverfallbar (Nr. 4); e) das Familiengericht hat wegen Unwirtschaftlichkeit des öffentlichrechtlichen VA den schuldrechtlichen VA vorbehalten (Nr. 5); f) die Parteien hatten durch wirksame Vereinbarung den öffentlich-rechtlichen VA ausgeschlossen und den schuldrechtlichen VA vorbehalten (Nr. 5).
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Im neuen Recht scheitert ein Versorgungsausgleich bei Scheidung jetzt in den Fallkonstellationen a) und b) nicht mehr. Die Höchstbetragsgrenzen für den internen oder externen Versorgungsausgleich bei Scheidung sind entfallen. Und wenn die Begründung gesetzlicher Rentenanwartschaften durch externe Teilung wegen erreichter Altersgrenze ausscheidet, bleibt der interne Ausgleich bei Scheidung möglich. Ein Ausgleich nach der Scheidung findet gem. § 20 Abs. 1 VersAusglG hinsichtlich der „noch nicht ausgeglichenen“ Anrechte statt. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers geht es um folgende Fälle: – Ein oder mehrere Anrechte sind im Zeitpunkt der Entscheidung nicht ausgleichsreif i.S.d. § 19 VersAusglG (mit den Weiterungen nach § 19 Abs. 3 VersAusgl); – die Parteien haben dies vereinbart, § 6 Abs. 1 Nr. 3 VersAusglG.
287a Noch nicht gerichtlich geklärt sind diejenigen Fälle, in denen bei externer Teilung der Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person die Kapitalzahlung an den Zielversorgungsträger der ausgleichsberechtigten Person nicht vorgenommen hat und für die ausgleichsberechtigte Person nunmehr bei dem Zielversorgungsträger (zB wegen Erreichen der Altersgrenze) keine Versorgungsanrechte mehr begründet werden können (vgl. 1248
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 288
Kap. 11
§ 1587f Nr. 3 aF BGB). Jedenfalls dann, wenn die gesetzliche Rentenversicherung bei externer Teilung nicht Ziel-, sondern Auffangversorgungsträger ist (§ 15 Abs. 5 S. 1 VersAusglG), wird das Anrecht erst mit Eingang der Kapitalzahlung erworben. Erfolgt die Zahlung nicht rechtzeitig, also bis zur bindenden Bewilligung einer Vollrente wegen Alters (§ 187 Abs. 4 SGB VI), besteht auch in dieser Fallgruppe weiterhin Bedarf für einen Wertausgleich nach der Scheidung. Höchst streitig ist zudem, ob auch solche Anrechte schuldrechtlich aus- 287b geglichen werden können, die im Versorgungsausgleich bei Scheidung auszugleichen gewesen wären, aber vergessen worden sind1. Nach dem Wortlaut des § 20 Abs. 1 VersAusglG können auch diese Anrechte schuldrechtlich ausgeglichen werden. Fraglich ist, ob die Rechtskraft der Entscheidung zum Versorgungsausgleich bei Scheidung einem schuldrechtlichen Ausgleich derartiger Anrechte entgegensteht. Nach dem Gesetzeswortlaut ist zwar der Vorrang des Wertausgleichs bei Scheidung (§ 9 Abs. 1 VersAusglG), nicht aber eine Sperrwirkung gegenüber dem Wertausgleich nach Scheidung geregelt. Auch Ausführungen in den Entscheidungsgründen nach § 224 Abs. 3 zu den Anrechten, deren schuldrechtlicher Ausgleich vorbehalten ist, haben nach der Gesetzesbegründung keine konstitutive Wirkung, sondern nur eine Erinnerungsfunktion2. Es könnten aber systematische Erwägungen gegen die Einbeziehung vergessener Anrechte in den Wertausgleich nach Scheidung sprechen: nach § 225 FamFG ist eine Fehlerkorrektur bei der Entscheidung zum Wertausgleich bei Scheidung ohne Vorliegen von Abänderungsvoraussetzungen im Wesentlichen ausgeschlossen3. Die Einbeziehung vergessener Anrechte in den Wertausgleich nach Scheidung könnte als Umgehung dieser gesetzlichen Regelung anzusehen sein. Dagegen spricht, dass der schuldrechtliche Ausgleich vergessener Anrechte dem Halbteilungsgrundsatz besser gerecht wird; die Rechtskraftwirkung der Entscheidung zum Wertausgleich bei Scheidung mag sich darauf beschränken, dass der Ausgleich dort nicht schon stattgefunden hat. Die Regelungen zum Versorgungsausgleich nach Scheidung sind in drei Unterabschnitte unterteilt. Darin sind schuldrechtliche Ausgleichszahlungen, Abfindungen und die Teilhabe des Ausgleichsberechtigten an einer noch nicht ausgeglichenen Hinterbliebenenversorgung des Pflichtigen geregelt.
1 Der BGH (Beschl. v. 2.2.2011 – XII ZB 133/08, FamRZ 2011, 706 [709], Tz. 42 = FamRB 2011, 137) scheint gegen die Einbeziehung zu sein; ebenso Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 758 f.; aA OLG München v. 31.10.2011 – 12 UF 1755/11, FamRZ 2012, 380. Nachweise zum Streitstand bei Erman/Norpoth, § 20 VersAusglG Rn. 3. 2 BT-Drucks. 16/10144, 97. 3 Nach Ansicht von Borth, FamRZ 2012, 337 ff., kommt ggf. ein Wiederaufnahmeverfahren zum Wertausgleich bei Scheidung in Betracht. Bei bewusst verheimlichten Versorgungen bestehe ein Schadenersatzanspruch.
Norpoth
1249
288
Kap. 11 Rn. 289
Versorgungsausgleich
a) Schuldrechtliche Ausgleichszahlungen 289
An schuldrechtlichen Ausgleichszahlungen kommt die Teilhabe an Rentenzahlungen des Pflichtigen und an Kapitalzahlungen, welche der Pflichtige erhält, in Betracht. Die Anspruchsvoraussetzungen entsprechen im Wesentlichen denjenigen nach dem alten Recht.
290
Auszugleichen sind entsprechend dem Katalog des § 19 Abs. 2 VersAusglG: – betriebliche Anwartschaften, soweit sie bei der Entscheidung über den Versorgungsausgleich bei Scheidung noch nicht unverfallbar waren, – Ansprüche auf eine abzuschmelzende Leistung, – Anrechte, deren Ausgleich wegen Unwirtschaftlichkeit nicht bei Scheidung durchgeführt worden ist und – Anrechte bei ausländischen, zwischen- oder überstaatlichen Versorgungsträgern; – sonstige Anrechte, wenn sie im Hinblick auf die bestehenden Anrechte bei ausländischen, zwischen- oder überstaatlichen Versorgungsträgern nicht bei Scheidung ausgeglichen worden sind1.
291
Die noch verfallbaren betrieblichen Anwartschaften2 bleiben im Gegensatz zum früheren Recht dauerhaft dem Versorgungsausgleich nach der Scheidung vorbehalten. Nach dem alten Recht konnten sie, wenn sie unverfallbar geworden waren und zu einer wesentlichen Änderung des Versorgungsausgleichs geführt hätten, nach § 10a VAHRG aF ein Abänderungsverfahren mit Totalrevision des öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleichs auslösen. aa) Ausgleichsanspruch bei Rentenleistungen
292
Der Ausgleichsanspruch entspricht weitgehend dem alten Recht (§§ 1587g, i und k aF BGB) und hat folgende Voraussetzungen: – Der Ausgleichspflichtige bezieht eine laufende Rente (§ 20) aus einem noch nicht ausgeglichenen Anrecht; – die Rente – bzw. die Differenz gleichartiger Renten beider Parteien3 – ist nicht geringfügig i.S.d. § 18 VersAusglG; – der Ausgleichsberechtigte bezieht ebenfalls eine laufende Versorgung oder – hat die Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht oder
1 Zu möglichen Weiterungen s. Rn. 287a f. 2 Vgl. BT-Drucks. 16/10144, 65. 3 Vgl. OLG Celle v. 22.11.2010 – 10 UF 219/10, FamRZ 2011, 728 m. Anm. Borth.
1250
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 294
Kap. 11
– erfüllt die gesundheitlichen Voraussetzungen für eine laufende Versorgung wegen Invalidität1; – das auszugleichende Anrecht oder die Wertdifferenz gegenseitig auszugleichender Anrechte ist – bei Fälligkeit der Ausgleichsrente – nicht geringfügig (§ 20 Abs. 1 S. 3 mit § 18 VersAusglG)2. Liegen diese Voraussetzungen vor, so wird der Anspruch fällig (§ 20 293 Abs. 2 VersAusglG). Für die Vergangenheit kann außer bei Verzug und bei Rechtshängigkeit auch von dem Zeitpunkt an Erfüllung verlangt werden, zu dem der Ausgleichspflichtige zwecks Geltendmachung des Anspruchs zur Auskunft aufgefordert worden ist (§ 20 Abs. 3 VersAusglG i.V.m. § 1585b Abs. 2, 1613 BGB), nur ausnahmsweise aber für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr vor Rechtshängigkeit (§ 20 Abs. 3 VersAusglG i.V.m. § 1585b Abs. 3 BGB).
Û
Praxistipp: Wegen der Rückstände und bei längerer Verfahrensdauer auch wegen der laufenden Ansprüche kann es sinnvoll oder sogar geboten sein, eine einstweilige Anordnung zu beantragen3.
Neu ist, dass die Sozialversicherungsbeiträge und ihnen vergleichbare 294 Leistungen (insbesondere Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung), die (nur) der Ausgleichspflichtige aus dem bezogenen Anrecht leisten muss, vor der Bestimmung des Ausgleichswerts abgezogen werden, § 20 Abs. 1 S. 2 VersAusglG. Dies ist gerecht, war nach altem Recht aber bis zur jüngst erfolgten Änderung der BGH-Rechtsprechung nur in Härtefällen möglich4. Problematisch kann die Zuordnung von Krankenversicherungsbeiträgen zum Ausgleichswert sein, wenn die Jahresarbeitsentgeltgrenze des § 6 Abs. 7 SGB V überschritten wird5. Leistet der Ausgleichspflichtige auf die auszugleichende Rente Steuern, sind diese nicht abzuziehen. Denn nach der Teilung zahlt jede Person für den auf sie entfallenden Anteil der Rente selbst Steuern6.
1 Diese Voraussetzung kann problematisch sein, weil die unterschiedlichen Vorsorgesysteme teilweise mit unterschiedlichen Begriffen der Invalidität arbeiten; deshalb ist angeregt worden, den Begriff der Invalidität einheitlich zu definieren. 2 Dazu und zur Frage der Verrechnung gegenseitiger Anrechte s. näher OLG Celle v. 22.11.2010 – 10 UF 219/10, FamRZ 2011, 728 ff.; Erman/Norpoth, § 20 VersAusglG Rn. 8. Die Geringfügigkeitsgrenze liegt im Jahr 2012 bei 26,25 Euro für den Ausgleichswert einer Rente. Ist der Ausgleichsberechtigte auf das Anrecht angewiesen, kann dieses trotzdem auszugleichen sein; dazu s. oben Rn. 282. 3 Nach Ansicht von Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 754, ist hierfür § 246 FamFG analog anzuwenden. 4 S. jetzt BGH v. 2.2.2011 – XII ZB 133/08, FamRZ 2011, 706 ff. mwN zur aufgegebenen alten Rspr. = FamRB 2011, 137; BT-Drucks. 16/10144, 65. 5 Vgl. OLG Stuttgart v. 20.7.2011 – 11 UF 3/11, FamRZ 2011, 1870 ff. m. Anm. Borth. 6 Vgl. OLG Hamburg v. 16.11.2009 – 12 UF 70/09, FamRZ 2010, 1082.
Norpoth
1251
Kap. 11 Rn. 295
Versorgungsausgleich
295
Die Rente ist monatlich im Voraus zu entrichten und wird für den Monat, in dem der Ausgleichsberechtigte stirbt, noch in vollem Umfang geschuldet (§ 20 Abs. 3 VersAusglG i.V.m. § 1585 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB). Danach erlischt der Rentenanspruch, § 31 Abs. 3 VersAusglG.
296
Besteht ein Anspruch auf eine schuldrechtliche Ausgleichsrente, kann der Ausgleichsberechtigte vom -pflichtigen in Höhe dieses Rentenanspruchs auch die Abtretung des Versorgungsanspruchs gegen dessen Versorgungsträger verlangen, § 21 Abs. 1 VersAusglG. Der Abtretungsanspruch erstreckt sich nicht auf Rückstände (§ 21 Abs. 2 VersAusglG) und besteht auch bezüglich Versorgungsansprüchen, die sonst unübertragbar oder unpfändbar sind (§ 21 Abs. 3 VersAusglG)1.
297
Ab dem Monat, der auf den Tod des Ausgleichsberechtigten folgt, geht der abgetretene Anspruch wieder auf den Ausgleichspflichtigen über (§ 21 Abs. 4 VersAusglG; s. auch § 31 Abs. 3 VersAusglG). bb) Ausgleichsanspruch bei Kapitalzahlungen
298
Die Regelung zum Ausgleich von Kapitalzahlungen aus nicht ausgeglichenen Anrechten (§ 22 VersAusglG) beruht darauf, dass in den Versorgungsausgleich neuen Rechts auch Ansprüche auf Kapitalzahlungen nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG einbezogen werden.
299
Bezieht der Ausgleichspflichtige aus einem bei Scheidung nicht ausgeglichenen Anrecht statt einer Rente Kapitalzahlungen, so muss er dem Ausgleichsberechtigten hieraus einen Ausgleichswert bezahlen. Auch insoweit gilt das „Nettoprinzip“, wonach nur der um Sozialversicherungsbeiträge oder vergleichbare Aufwendungen reduzierte Kapitalbetrag auszugleichen ist (§ 22 S. 2 i.V.m. § 20 Abs. 1 S. 2 VersAusglG)2.
300
Die Voraussetzungen dieses Anspruchs richten sich aufgrund des Verweises in § 22 S. 2 VersAusglG („Im Übrigen“) nach den §§ 20 und 21 VersAusglG. § 22 S. 2 VersAusglG ist erst auf Empfehlung des Rechtsausschusses in das Gesetz aufgenommen worden3. Beispiel: E ist 20 Jahre älter als F. Im Versorgungsausgleich bei Scheidung ist ein noch verfallbares Anrecht des E auf eine Kapitalzahlung seines Arbeitgebers unterblieben. Als E 65 Jahre alt wird, erhält er 75 000 Euro ausbezahlt; der Ehezeitanteil beträgt 50 000 Euro. F, die 45 Jahre alt ist und noch im Erwerbsleben steht, fragt nach ihren Ansprüchen.
301
Die Fälligkeit des Ausgleichsanspruchs richtet sich nach § 20 Abs. 2 VersAusglG4. Im Beispielsfall kann F ihren Ausgleichsanspruch erst gel1 2 3 4
ZB § 2 Abs. 2 S. 4 BetrAVG i.V.m. § 851 ZPO. BT-Drucks. 16/11903, 109. BT-Drucks. 16/11903, 24 (109). BT-Drucks. 16/11903, 109.
1252
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 305
Kap. 11
tend machen, wenn sie selbst eine Rente wegen Invalidität oder Alters bezieht oder die Voraussetzungen für eine solche Rente erfüllen würde. Statt eines Ausgleichsanspruchs sollte sie im vorliegenden Fall erwägen, einen Anspruch auf Abfindung nach § 23 VersAusglG geltend zu machen1. Zur rückwirkenden Geltendmachung stellt sich die Frage nach einer An- 302 wendbarkeit des § 20 Abs. 3 VersAusglG i.V.m. § 1585b Abs. 2 und 3 BGB. Ursprünglich wollte der Gesetzgeber die rückwirkende Geltendmachung des Anspruchs auf Ausgleich bei Kapitalzahlungen uneingeschränkt zulassen2; begründet wurde dies damit, dass Kapitalzahlungen nicht der Bestreitung des unmittelbaren Lebensunterhalts dienen, die ausgleichspflichtige Person um die Ausgleichspflicht wisse, die ausgleichsberechtigte Person aber den Auszahlungszeitpunkt nicht kenne und daher schutzwürdig(er) sei. Weil der Rechtsausschuss hiergegen mit dem Änderungsvorschlag keine Argumente vorgebracht hat, ist davon auszugehen, dass der Verweis auf die §§ 20, 21 VersAusglG nicht den § 20 Abs. 3 VersAusglG erfasst. Der Wortlaut des § 22 VersAusglG lässt diese Auslegung zu und legt sie sogar nahe, weil danach die Auszahlung des Kapitalbetrags an die ausgleichspflichtige Person dem Verlangen der ausgleichsberechtigten Person nach Beteiligung vorausgeht. Der Ausgleichsanspruch kann also auch – bis zur Grenze der Verjährung/Verwirkung3 – rückwirkend geltend gemacht werden. Hat der Ausgleichspflichtige den erhaltenen Kapitalbetrag bereits ver- 303 braucht, kann dies den Ausgleichsanspruch wirtschaftlich entwerten; er wandelt sich aber nicht in einen Schadenersatzanspruch, weil es sich um einen Unterfall der Geldschuld (Geldwertschuld) handelt, deren Erfüllung nicht unmöglich werden kann4. Auch für den Anspruch auf Ausgleich einer Kapitalzahlung gilt die Ge- 304 ringfügigkeitsgrenze des § 18 Abs. 3 VersAusglG, wonach die Kapitalzahlung 120 Prozent der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV überschreiten muss (2011: 3066 Euro). Der Anspruch auf Abtretung von Versorgungsansprüchen nach § 21 Vers- 305 AusglG wird von dem Verweis in § 22 VersAusglG erfasst und besteht demnach auch bei Kapitalauszahlungen. Ist der Kapitalbetrag allerdings vom Versorgungsträger bereits ausbezahlt, geht der Abtretungsanspruch ins Leere, weil die Schuld des Versorgungsträgers durch Erfüllung erloschen ist (§ 362 Abs. 1 BGB). 1 Vgl. Borth, Versorungsausgleich, Rn. 781; zum Abfindungsanspruch s.u. Rn. 306 ff. 2 BT-Drucks. 16/10144, 66. 3 Der Anspruch verjährt in drei Jahren ab Kenntnis bzw. grob fahrlässiger Unkenntnis der Anspruchsvoraussetzungen (§§ 195, 199 BGB), spätestens in zehn Jahren (§ 199 Abs. 4 BGB). 4 Palandt/Grüneberg, § 245 BGB Rn. 13, 14, 16.
Norpoth
1253
Kap. 11 Rn. 306
Û
Versorgungsausgleich
Praxistipp: Aus diesem Grund, aber auch um dem Risiko des Verbrauchs eines ausbezahlten Kapitalbetrags vorzubeugen, sollte stets eine Abtretung des Auszahlungsanspruchs verlangt werden, wenn keine Abfindung (s. dazu Rn. 306 ff.) in Betracht kommt.
b) Anspruch auf Abfindung 306
Anstatt der Ausgleichsrente oder des Anteils an einem Anspruch auf Kapitalauszahlung kann der Ausgleichsberechtigte gegen den Ausgleichspflichtigen einen Anspruch auf Abfindung in Höhe des Zeitwerts des Ausgleichswerts verlangen, §§ 23 Abs. 1, 24 Abs. 1 VersAusglG. Dies war auch im alten Recht möglich (§ 1587l aF BGB).
307
Der Abfindungsanspruch setzt nicht voraus, dass die Bedingungen für einen Anspruch auf Beteiligung an einer schuldrechtlichen Ausgleichsrente bereits erfüllt sind. Denkbar ist ein Anspruch auf Abfindung sowohl in der Anwartschaftsphase als auch in der Leistungsphase, wenn der Ausgleichspflichtige eine noch nicht ausgeglichene Rente bezieht. Dies gilt auch dann noch, wenn der Ausgleichsberechtigte zunächst eine Ausgleichsrente nach § 20 VersAusglG geltend gemacht und erhalten hat. Das auszugleichende Anrecht muss allerdings unverfallbar sein, weil andernfalls auch der Abfindungsanspruch nach Grund und Höhe unklar ist1.
308
Voraussetzung für den Abfindungsanspruch ist, dass die Zahlung der Abfindung dem Ausgleichspflichtigen zumutbar ist. Dies ist vom Familiengericht positiv festzustellen und setzt die finanzielle Leistungsfähigkeit des Pflichtigen voraus. Ihm ist grundsätzlich zumutbar, für die Abfindung seinen Vermögensstamm anzugreifen; er muss allerdings weder diesen selbst weitgehend für die Abfindung auflösen noch wesentliche Teile des Zugewinns2. Kommt für den Ausgleichspflichtigen eine Einmalzahlung nicht in Betracht, kann eine Ratenzahlung zumutbar sein (§ 23 Abs. 3 VersAusglG). Für die Frage der Zumutbarkeit spielt auch eine Rolle, welches Interesse der Ausgleichsberechtigte an der Abfindung hat. Dieses Interesse kann – unter Berücksichtigung des möglichen Teilhabeanspruchs nach § 25 VersAusglG3 – geringer zu bewerten sein, wenn bei einer Rentenzahlung die laufenden Ansprüche gegen einen solventen inländischen Versorgungsträger nach § 21 VersAusglG abgetreten werden können.
1 Vgl. Erman/Norpoth, § 23 VersAusglG Rn. 2 mwN. 2 Grundlegend BGH v. 9.10.1996 – XII ZB 188/94, FamRZ 1997, 166 ff.; vgl. weiter BGH v. 6.7.2005 – XII ZB 29/00, FamRZ 2005, 1825 f.; OLG Hamm v. 1.9.1998 – 2 UF 60/98, FamRZ 1999, 929; OLG Hamm v. 4.8.2004 – 11 UF 131/03, FamRZ 2005, 988 f. 3 Vgl. BGH v. 9.10.1996 – XII ZB 188/94, FamRZ 1997, 166 (169).
1254
Norpoth
Versorgungsausgleich
Û
Rn. 312
Kap. 11
Praxistipp: Weil der Abfindungsanspruch auch der noch nicht rentenberechtigten ausgleichsberechtigten Person zusteht und damit sofort geltend gemacht werden kann, ist er immer dort zu erwägen, wo der Ausgleichspflichtige aus einem noch nicht ausgeglichenen Anrecht Kapitalzahlungen erhält oder abgefunden wird. Denn bei Erhalt von Kapitalzahlungen dürfte die Zumutbarkeit der Abfindung immer zu bejahen sein.
Der Abfindungsanspruch ist zweckgebunden und richtet sich auf Zahlung des zu bestimmenden Ausgleichsbetrags an einen Versorgungsträger, bei dem für den Ausgleichsberechtigten ein bestehendes Anrecht ausgebaut oder ein neues Anrecht begründet wird (§ 23 Abs. 2 VersAusglG).
309
Die Wahl der Zielversorgung obliegt dem Berechtigten. Wählt dieser kei- 310 ne Zielversorgung aus, dann ist wie bei der externen Teilung die Abfindung in die gesetzliche Rentenversicherung oder – bei betrieblichen Anrechten – in die Versorgungsausgleichskasse einzuzahlen (§§ 24 Abs. 2, 15 Abs. 5 VersAusglG). Maßgeblich ist der Zeitwert des Ausgleichswerts (§ 24 Abs. 1 Vers- 311 AusglG). Dieser errechnet sich in drei Schritten: – Berechnung des Ehezeitanteils nach den zum Stichtag Ehezeitende maßgeblichen Verhältnissen; – Ermittlung des Zeitwerts des Ehezeitanteils unter Berücksichtigung der bis zum Entscheidungszeitpunkt eingetretenen Veränderungen des Anrechts; – Ermittlung der zur Abfindung des Zeitwerts erforderlichen Beitragssumme1. Der maßgebliche Bewertungszeitpunkt für den Zeitwert ist der Zeit- 312 punkt der letzten mündlichen Verhandlung; im schriftlichen Verfahren muss ihn das Familiengericht (zeitnah zur Entscheidung) bestimmen2. Eine laufende Rente ist versicherungsmathematisch mit den biometrischen Daten der ausgleichsberechtigten Person in einen Barwert umzurechnen3. Bedenklich erscheint es auch hier, den Barwert mit dem von der Bundesbank auf Grundlage des § 253 Abs. 2 HGB bekannt gegebenen Zinssatz zu berechnen4, solange die ausgleichsberechtigte Person den Abfindungsbetrag nicht zu einem vergleichbaren Zinssatz anlegen kann. Ist der Ausgleichswert – oder nach Saldierung mit einem gleichartigen, eben-
1 Einzelheiten zu den Berechnungsschritten bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 793 ff. 2 BT-Drucks. 16/10144, 67; Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 793. 3 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 795 mwN. 4 So aber Ruland, Versorgungsausgleich, 3. Aufl., Rn. 743; Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 795. Zur Problematik s.o. Rn. 42, 168a, 247.
Norpoth
1255
Kap. 11 Rn. 313
Versorgungsausgleich
falls noch nicht ausgeglichenen Anrecht des Berechtigten die Differenz – gering i.S.d. § 18 VersAusglG, scheidet auch eine Abfindung aus. c) Teilhabe an der Hinterbliebenenversorgung 313
Verfügt die ausgleichspflichtige Person bei ihrem Tod über ein noch nicht ausgeglichenes Anrecht, welches auch eine Hinterbliebenenversorgung gewährt, erwirbt die ausgleichsberechtigte Person unter bestimmten Voraussetzungen einen eigenen Anspruch aus der Hinterbliebenenversorgung gegen den Versorgungsträger oder ggf. gegen den Witwer oder die Witwe der ausgleichspflichtigen Person. Die Regelung entspricht dem „verlängerten schuldrechtlichen Versorgungsausgleich“ nach § 3a VAHRG aF. Der Anspruch ist, wie nach dem alten Recht, im Streitfall beim Familiengericht geltend zu machen1. aa) Voraussetzungen
314
Zunächst muss einer der Ehegatten gestorben sein und bei seinem Tod über ein noch nicht (endgültig) ausgeglichenes Anrecht verfügt haben, welches eine Hinterbliebenenversorgung leistet. Für die ausgleichsberechtigte Person gelten dieselben persönlichen Anspruchsvoraussetzungen wie für die schuldrechtliche Ausgleichsrente: Sie muss also selbst eine Versorgung beziehen, die Anspruchsvoraussetzungen für eine Regelaltersrente oder die Voraussetzungen für eine Rente wegen Invalidität erfüllen (§ 25 Abs. 4 i.V.m. § 20 Abs. 2 VersAusglG). Auch zu dem Zeitpunkt, ab dem der Anspruch (rückwirkend) geltend gemacht werden kann, gelten dieselben Grundsätze wie bei der schuldrechtlichen Ausgleichsrente (Rn. 293).
315
Der Anspruch ist in folgenden Fällen ausgeschlossen: – wenn die Parteien durch Vertrag nach § 6 VersAusglG den Wertausgleich bei Scheidung ausgeschlossen und den Wertausgleich nach Scheidung vorbehalten haben (die Ansprüche hieraus erlöschen nämlich (auch) mit dem Tod des Ausgleichspflichtigen nach § 31 Abs. 3 VersAusglG); – wenn ein auf eine abzuschmelzende Leistung gerichtetes Anrecht nach § 19 Abs. 2 Nr. 2 VersAusglG nicht bei Scheidung ausgeglichen worden ist; – wenn der Versorgungsausgleich bei Scheidung bezüglich des nicht ausgeglichenen Anrechts wegen Unwirtschaftlichkeit nach § 19 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG ausgeschlossen worden ist (sozialversicherungsrechtliche Bestimmungen, nach denen die Übertragung oder Begründung von Anrechten zu keinen Versicherungsleistungen an den Berechtigten geführt hätte, sollen nicht über den Wertausgleich nach Scheidung umgangen werden); 1 Vgl. zB BGH v. 17.11.2004 – XII ZB 46/01, FamRZ 2005, 189 = FamRB 2005, 71.
1256
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 318
Kap. 11
– soweit ein Versorgungsausgleich bei Scheidung nach § 19 Abs. 3 VersAusglG nicht durchgeführt worden ist, weil eine der Parteien über ausländische Anrechte verfügt (hier beruht der fehlende Hin-und-HerAusgleich auf Gegenseitigkeit, der Ausgleichsberechtigte ist also durch die eigenen, nicht geteilten Anrechte hinreichend geschützt). bb) Einschränkungen zum Schutz des Versorgungsträgers Der Ausgleichsberechtigte wird durch den Erwerb des Anspruchs nicht 316 bessergestellt, als er stünde, wenn die Ehe nicht geschieden worden wäre (§ 25 Abs. 1 VersAusglG). Sieht die auszugleichende Hinterbliebenenversorgung ein Erlöschen des Anspruchs bei Wiederverheiratung vor, erlischt auch der Teilhabeanspruch, wenn der überlebende Ehegatte wieder geheiratet hat1. Der Anspruch auf Hinterbliebenenrente ist der Höhe nach einerseits auf 317 die hypothetische Hinterbliebenenversorgung, andererseits zusätzlich auf den Anspruch beschränkt, welchen die ausgleichsberechtigte Person bei einer Rentenzahlung nach § 20 Abs. 1 VersAusglG hätte verlangen können2. Auch soll es nicht zu Doppelzahlungen kommen: Ist die ausgleichsberechtigte Person aus dem Anrecht als Hinterbliebene noch originär anspruchsberechtigt (sog. „Geschiedenenwitwenrente“), dann ist die gewährte Hinterbliebenenrente auf den Anspruch anzurechnen (§ 25 Abs. 3 VersAusglG). War die verstorbene Person wieder verheiratet und bezieht die Witwe 318 oder der Witwer aus dem nicht ausgeglichenen Anrecht eine Hinterbliebenenversorgung, so ist diese um den Betrag zu kürzen, den der Versorgungsträger an die ausgleichsberechtigte Person zahlen muss (§ 25 Abs. 5 VersAusglG). Die ausgleichsberechtigte Person hat also Vorrang. Unklar, weil gesetzlich nicht geregelt, ist, ob nach dem Tod der ausgleichsberechtigten Person die Witwe oder der Witwer der ausgleichspflichtigen Person ihre Ansprüche wieder ungekürzt geltend machen können3.
Û
Praxistipp: Bei längerer Verfahrensdauer kann es sein, dass der Versorgungsträger zunächst an die Witwe/denWitwer weiter leistet und insoweit anschließend Rückabwicklung verlangt. Er hat in diesem Fall nicht i.S.d. § 30 Ab. 1 VersAusglG innerhalb einer bestehenden Leistungspflicht an die bisher berechtigte Person geleistet4, weil sich die Leis-
1 Vgl. BGH v. 17.11.2004 – XII ZB 46/01, FamRZ 2005, 189 ff. = FamRB 2005, 71; BGH v. 13.4.2011 – XII ZB 122/09, FamRZ 2011, 961. Näheres zu möglichen und ausgeschlossenen Einschränkungen der Hinterbliebenenversorgung für Geschiedene bei Kemper, FPR 2011, 495 f. 2 S. hierzu Kemper, FPR 2011, 496 mit Beispielsfall. 3 Dazu vgl. Kemper, FPR 2011, 498, mit Plädoyer für eine ungekürzte Versorgung. 4 So aber Kemper, FPR 2011, 498.
Norpoth
1257
Kap. 11 Rn. 319
Versorgungsausgleich
tungspflicht gegenüber der ausgleichsberechtigten Person direkt aus dem Gesetz ergibt, die Entscheidung des Familiengerichts also nicht rechtsgestaltend wirkt. Die Witwe/der Witwer tut in einem derartigen Verfahren also gut daran, sich auf die Rückforderung einzustellen. Die ausgleichsberechtigte Person behält ihren Anspruch auch hinsichtlich der Rückstände gegen den Versorgungsträger. cc) Teilhabe bei nicht deutschen Versorgungsträgern 319
Anrechte bei ausländischen, zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Versorgungsträgern unterliegen nicht der Regelungsmacht des deutschen Gesetzgebers. In diesen Fällen kann der ausgleichsberechtigte Ehegatte deshalb nur dann an einer Hinterbliebenenversorgung partizipieren, wenn der ausgleichspflichtige Ehegatte wieder verheiratet war und dessen Witwe oder Witwer eine solche Hinterbliebenenversorgung aus dem nicht ausgeglichenen Anrecht bezieht.
320
Der Anspruch richtet sich dann – ausschließlich – gegen die Witwe bzw. den Witwer. Es gelten ansonsten dieselben Anspruchsvoraussetzungen (Rn. 314 f.) und Einschränkungen (Rn. 316 ff.) wie für den Anspruch gegen den (deutschen) Versorgungsträger.
Û
Praxistipp: IdR dürften Ansprüche hinsichtlich ausländischer Anrechte gem. § 26 Abs. 2 i.V.m. § 25 Abs. 2 VersAusglG ausscheiden, weil dem Ausgleichsberechtigten insoweit wegen § 19 Abs. 3 VersAusglG im Wertausgleich bei der Scheidung eigene Anrechte ungekürzt verblieben sind. Im Streitfall sollte sich die in Anspruch genommene Person hierauf berufen.
d) Steuerliche Auswirkungen 321
Wenn der schuldrechtliche Wertausgleich nach Scheidung durch Zahlung einer Geldrente bewirkt wird, kann dies den Ausgleichspflichtigen steuerlich begünstigen, weil er die Rentenzahlung wie eine Unterhaltszahlung an den geschiedenen Ehegatten bis zu einer Grenze von jährlich 13 805 Euro von seinem steuerpflichtigen Einkommen absetzen kann, wenn die korrespondierenden Einnahmen des Ausgleichsberechtigten der Besteuerung unterliegen (§ 10 Abs. 1 Nr. 1b EStG). Entsprechendes gilt bei der Teilung von Kapitalzahlungen und bei Abfindungszahlungen. Der Ausgleichsberechtigte muss dann die Ausgleichsrente in demselben Maß, in dem sie beim Ausgleichspflichtigen steuerpflichtig gewesen wäre, versteuern (§ 22 Nr. 1c EStG). Diesen Steuernachteil muss ihm der Ausgleichspflichtige nicht ersetzen1. Das gilt auch für Kapitalzahlungen. Ob auch die Zahlung einer zweckgebundenen Abfindung den Ausgleichs1 OLG Hamburg v. 16.11.2009 – 12 UF 70/09, FamRZ 2010, 1082; Breuers, FPR 2011, 520.
1258
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 323
Kap. 11
pflichtigen entlasten kann, ist streitig. Gute Argumente sprechen hier dafür, dass der Ausgleichspflichtige diese Zahlung als Werbungskosten (§ 9 Abs. 1 S. 1 EStG) geltend machen kann1.
Û
Praxistipp: Steuerlich kann es vorteilhaft sein, bei dem Ausgleich von Kapitalzahlungen Ratenzahlungen zu vereinbaren, die auf mehrere Jahre verteilt sind.
VIII. Einfluss grober Unbilligkeit auf den Versorgungsausgleich, § 27 VersAusglG Wie im alten Recht (§§ 1587c und 1587h aF BGB, § 3a Abs. 6 VAHRG), 322 kann auch im geltenden Recht der Versorgungsausgleich – nunmehr allerdings bezogen auf die einzelnen auszugleichenden Anrechte – zu beschränken sein oder wegfallen, wenn seine Durchführung grob unbillig wäre. § 27 VersAusglG fasst die zitierten Härtefallregelungen des alten Rechts zusammen und vereinheitlicht sie. Während das alte Recht hierzu neben einem Auffangtatbestand (§ 1587c Nr. 1 aF BGB) Fallgruppen (§§ 1587c Nr. 2 und 3, 1587h Nr. 1–3 aF BGB) bildete, enthält § 27 VersAusglG nur noch eine Generalklausel, die im Wortlaut an den bisherigen Auffangtatbestand angelehnt ist. Wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt, sollte damit aber – jedenfalls auf der Tatbestandsseite – keine Rechtsänderung verbunden sein. Vielmehr soll auf die Rechtsprechung zu den ausdrücklich geregelten Härtefällen und den darüber hinaus gebildeten Fallgruppen zurückgegriffen werden können2. Für die Auslegung und Anwendung des § 27 VersAusglG bleiben deshalb die Fallgruppen und die Kasuistik, welche Rechtsprechung und Kommentierung zum alten Recht entwickelt haben, maßgeblich. Die Bandbreite der Reaktionsmöglichkeiten auf der Rechtsfolgenseite ist 323 allerdings breiter geworden; darin liegt durchaus eine nicht unerhebliche Rechtsänderung. Die Vorgängervorschrift des § 1587c BGB wurde noch als reine Schuldnerschutzvorschrift zugunsten des Ausgleichspflichtigen verstanden, die nur eine Herabsetzung des nach Saldierung der beiderseitigen Versorgungsanwartschaften geschuldeten Ausgleichs, nicht aber eine Erhöhung rechtfertigen konnte3. Von diesem Modell hat sich der Gesetzgeber auf der Grundlage der neuen, anrechtsbezogenen Ausgleichsformen, die auch Veränderungen zugunsten des Ausgleichsberechtigten zulassen, bewusst abgekehrt4. 1 Dazu ausführlich und bejahend Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 719 ff., 723, 795; aA Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 1260 mwN; Breuers, FPR 2011, 520, allerdings mit kritischem Hinweis auf eine drohende Doppelbesteuerung. 2 BT-Drucks. 16/10144, 69. 3 BGH v. 30.9.1992 – XII ZB 142/91, FamRZ 1993, 175 (176) mwN. 4 BT-Drucks. 16/10144, 69 f.
Norpoth
1259
Kap. 11 Rn. 324 324
Versorgungsausgleich
Für die Anwendung der Härteklausel des § 27 VersAusglG gilt, wie allgemein für das Versorgungsausgleichsverfahren, das Amtsermittlungsprinzip (§ 26 FamFG; vgl. § 12 FGG aF). Bei der tatrichterlichen Würdigung ist das Familiengericht grundsätzlich nicht an Vorstellungen der Ehegatten gebunden1. Allerdings wird auch von einer eingeschränkten Amtsaufklärungspflicht gesprochen, weil es den Parteien überlassen werden soll, die für die Härteklausel erheblichen Umstände vorzutragen2. Im Rechtsmittelverfahren gilt zudem das Verbot der Schlechterstellung des Rechtsmittelführers3.
Û
Wichtig: Trotz des Amtsermittlungsprinzips können Familiengerichte nicht hellsehen. Es ist deshalb unverzichtbar, dass die Rechtsanwälte auf Umstände aufmerksam machen, welche die Durchführung des Versorgungsausgleichs (teilweise) als grob unbillig erscheinen lassen4. Zu beachten sind die Rechtskraftwirkungen: Die unterbliebene Geltendmachung der groben Unbilligkeit kann auch in einem Abänderungsverfahren nicht nachgeholt werden; lediglich die aus anderen Gründen in Betracht kommende Abänderung kann wegen grober Unbilligkeit unterbleiben5.
1. § 27 VersAusglG als lex specialis 325
Neben der Anwendung des § 27 VersAusglG kommt die Anwendung anderer Generalklauseln wie § 242 BGB oder auch §§ 1381, 1579 BGB nicht in Betracht. Die Regelung ist für den Versorgungsausgleich sowohl hinsichtlich der Voraussetzungen als auch hinsichtlich der Rechtsfolge abschließend konzipiert. Das bedeutet, dass ein Anspruch auf Durchführung des Versorgungsausgleichs weder daraufhin zu überprüfen ist, ob er nach § 242 BGB verwirkt sein könnte, noch darauf, ob sich die Durchführung des Versorgungsausgleichs als unzulässige Rechtsausübung darstellt6. 2. Begriff der groben Unbilligkeit
326
Bei der Anwendung des § 27 VersAusglG ist Vorsicht geboten. Sie setzt voraus, dass die nach den übrigen Vorschriften vorgesehene Durchführung grob unbillig wäre. Für diese Wertung müssen die gesamten Um1 Eindrucksvolles Beispiel zum Umfang der Amtsaufklärungspflicht: BGH v. 2.12.1987 – IVb ZB 34/86, FamRZ 1988, 489 ff. 2 Borth, FamRZ 2008, 2069 (2077 f.). 3 ZB BGH v. 17.12.1986 – IVb ZB 62/84, FamRZ 1987, 364 (365). 4 BGH v. 20.12.2006 – XII ZB 64/03, FamRZ 2007, 366 (367) = FamRBint 2007, 30. 5 Vgl. Erman/Norpoth, § 27 VersAusglG Rn. 3. 6 Vgl. zu den Vorgängervorschriften § 1587c und 1587h BGB: BGH v. 30.9.1992 – XII ZB 100/89, FamRZ 1993, 176 (178); BGH v. 17.1.2007 – XII ZB 168/01, FamRZ 2007, 996 ff. = FamRB 2007, 203 = FamRBint 2007, 58.
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Versorgungsausgleich
Rn. 328
Kap. 11
stände des Einzelfalles herangezogen werden, § 27 S. 2 VersAusglG. Das erfordert – natürlich – auch und zuallererst die vollständige Aufklärung sämtlicher dem Versorgungsausgleich unterfallender Anrechte1. Der Begriff der groben Unbilligkeit umschreibt einen strengeren Maßstab 327 als denjenigen, der für eine Anwendung des § 242 BGB angelegt wird. Dies ist bei der Anwendung unbedingt zu beachten und beruht auf folgendem Grund: Der Versorgungsausgleich soll den gerechten (hälftigen) Ausgleich einer gemeinsam erbrachten Lebensleistung herbeiführen. Durch die Bezugnahme auf die Ehezeit geht es – vergleichbar dem Zugewinnausgleichsverfahren – um einen Vermögensausgleich für einen abgeschlossenen Zeitraum. Der gemeinsame Erwerb dieses (Altersvorsorge-)Vermögens ist ein Umstand, welcher aus verfassungsrechtlichen Gründen die Halbteilung des erworbenen Vermögens fordert2. Vom Halbteilungsgrundsatz im Versorgungsausgleich soll deshalb nur aus schwerwiegenden Gründen abgewichen werden. Eine Abweichung ist möglich, soweit die rein schematische Durchführung des Versorgungsausgleichs dem Gerechtigkeits- und Billigkeitsempfinden in unerträglicher Weise widerspricht3. Das schließt es nicht völlig aus, im Einzelfall auch Umstände in die Betrachtung einzubeziehen, die außerhalb der Ehezeit liegen. Der Gesetzgeber nennt ausdrücklich die gegenwärtige und zukünftige wirtschaftliche Situation der Eheleute und alle bereits bekannten und vorhersehbaren Lebensumstände, die ihre Versorgungslage beeinflussen4. Gleichwohl ist bei der Verwendung dieser Umstände Vorsicht geboten. Aus den dargelegten Gründen können Überlegungen, die im Unterhalts- 328 recht (§ 1579 BGB) entwickelt worden sind, nicht ungeprüft übernommen werden. Denn anders als der Versorgungsausgleich wird der Unterhalt nach Trennung und Scheidung idR aus laufenden und zukünftigen Einkünften, nicht dagegen aus dem während der Ehe erwirtschafteten Vermögen geleistet. Deswegen können dort ua. Gesichtspunkte, die nicht ehezeitbezogen sind, eine deutlich größere Rolle spielen als im Versorgungsausgleich. Allerdings neigt gerade die höchstrichterliche Rechtsprechung wegen der auch unterhaltsrechtlichen Wirkungen des Versorgungsausgleichs gerade dann, wenn bei schematischer Durchführung eine wirtschaftliche Schieflage droht, zu einer großzügigeren Anwendung des § 27 VersAusglG5.
1 ZB BGH v. 25.5.2005 – XII ZB 135/02, FamRZ 2005, 1238 mwN. = FamRB 2005, 255. 2 Vgl. BVerfG v. 2.5.2006 – 1 BvR 1275/97, FamRZ 2006, 1000 ff.; BVerfG v. 20.5.2003 – 1 BvR 237/97, FamRZ 2003, 1173 ff. = FamRB 2003, 387. 3 So zum alten Recht BT-Drucks. 7/650, 162; BGH v. 25.5.2005 – XII ZB 135/02, FamRZ 2005, 1238 (1239) = FamRB 2005, 255; BGH v. 17.1.2007 – XII ZB 168/01, FamRZ 2007, 996 (1000) = FamRB 2007, 203 = FamRBint 2007, 58; weitere Nachweise bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 850. 4 BT-Drucks. 16/10144, 69, linke Spalte. 5 Vgl. hierzu Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 852 mwN.
Norpoth
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Kap. 11 Rn. 329
Versorgungsausgleich
3. Mögliche Rechtsfolgen 329
Das neue Recht ist flexibler als das alte. Es ermöglicht, einzelne Anrechte sowohl des Berechtigten als auch des Ausgleichspflichtigen ganz oder teilweise von der Halbteilung auszunehmen. Anders als nach dem alten Recht kann damit auch Fehlverhalten des Ausgleichspflichtigen in der Weise sanktioniert werden, dass infolge des Versorgungsausgleichs – per Saldo – dem Berechtigten mehr als die Hälfte der beiderseitigen Anrechte zugeteilt wird. Anlass hierzu kann sich insbesondere in den Fällen ergeben, in denen der Ausgleichspflichtige auszugleichende Anrechte aufgelöst oder (bei betrieblichen Anwartschaften durch eigene Kündigung des Arbeitsverhältnisses vor Eintritt der Unverfallbarkeit) bewusst an der Entstehung gehindert hat1. Eine Grenze ergibt sich allerdings insoweit, als jedes einzelne Anrecht nicht weitergehend als hälftig geteilt werden kann2. Außerdem soll die Härteregelung des § 27 VersAusglG keinen Strafcharakter annehmen; nach der Vorstellung des Gesetzgebers wäre das der Fall, wenn ein Versorgungsausgleich im Ergebnis über die Differenz der beiderseitigen Anwartschaften hinausginge3 (rechnerisch soll im Versorgungsausgleich ohne Billigkeitskorrektur nach wie vor die Hälfte der Differenz ausgeglichen werden). Es wird letztlich Aufgabe der Rechtsprechung sein, mögliche absolute Grenzen einer Korrektur des Versorgungsausgleichs zu definieren. 4. Fallgruppen Die folgende Aufzählung ist wegen der großen Kasuistik nicht abschließend. Zu weiteren Fallgruppen wird daher auf einschlägige (Kommentar-)Literatur verwiesen4.
330
Illoyales Einwirken einer Partei auf ihr Versorgungsvermögen (vgl. § 1587c Nr. 2 aF BGB): Dieses muss nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv vorliegen5. Beispiele: Auflösung einer privaten Lebensversicherung auf Rentenbasis in Ansehung des Versorgungsausgleichs; Rückerstattung freiwillig geleisteter Rentenversicherungsbeiträge auf Antrag einer Partei6.
1 BT-Drucks. 16/10144, 69; Fälle entspr. § 1587c Nr. 2 aF BGB. 2 Auch einer mehr als hälftigen Teilung eines Anrechts durch Vereinbarung muss der Versorgungsträger zustimmen; s. dazu AG Kehlheim v. 5.11.2010 – 1 F 228/10, FamRZ 2011, 1653 ff. m. abl. Anm. Borth, 1654 f. 3 BT-Drucks. 16/10144, 69 f., 70 mit Beispielsfall. Weitere Beispiele bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 843 ff. 4 Vgl. zB Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 857 ff.; Palandt/Brudermüller, § 27 VersAusglG Rn. 23 ff.; Erman/Norpoth, § 27 VersAusglG Rn. 6 ff. 5 BGH v. 26.3.1986 – IVb ZB 37/83, FamRZ 1986, 658 (659). 6 OLG Bamberg v. 15.1.2007 – 7 UF 304/06, FamRZ 2007, 1897; OLG Brandenburg v. 22.9.2010 – 9 UF 98/10, FamRZ 2011, 722 = FamRB 2011, 138; OLG Nürnberg v. 20.4.2011 – 10 UF 36/11, FamRZ 2011, 1737. Weitere Beispiele und Nachweise bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 878.
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Versorgungsausgleich
Rn. 334
Kap. 11
Gröbliche Verletzung der Unterhaltspflicht durch eine Partei über einen längeren Zeitraum (entspr. § 1587c Nr. 3 aF BGB): Wer durch eine intensive und vorwerfbare (schuldhafte1) Verletzung seiner Pflichten aus der ehelichen Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft das Leistungsgleichgewicht zwischen den Ehegatten gestört hat, kann damit einem schematisch durchgeführten Versorgungsausgleich die Rechtfertigung entziehen. Erfasst sind ausschließlich Pflichtverletzungen während der Ehe (auch nach Trennung bis zum Ende der Ehezeit2), welche sich auf die Pflicht zur Leistung von Bar- oder Naturalunterhalt (§§ 1360, 1360a, 1361 BGB) beziehen. Die Pflichtverletzung muss auch gröblich sein; das ist zB der Fall, wenn hierdurch die andere Partei in ernsthafte Schwierigkeiten bei der Deckung ihres Lebensbedarfs geraten ist3.
331
Sonstige Fälle grober Unbilligkeit (vgl. § 1587c Nr. 1 aF BGB): Das alte 332 Recht benannte als Maßstab die beiderseitigen Verhältnisse, insbesondere den beiderseitigen Vermögenserwerb während der Ehe oder im Zusammenhang mit der Scheidung. Nicht ausreichend ist es für die Berücksichtigung eines Umstandes, dass dieser zum Scheitern der Ehe geführt hat. Die nachfolgenden Beispiele mögen als Anhaltspunkte dienen: Ausgleich steuerlicher oder sozialversicherungsrechtlicher Ungleichbe- 333 handlungen: Die Anrechte werden grundsätzlich mit ihrem Bruttowert berücksichtigt; wenn der Versorgungsausgleich aber zeitnah und in berechenbarer Weise bewirkt, dass eine Partei netto deutlich mehr an Altersversorgung erhält als die andere, ist eine Korrektur über § 27 VersAusglG möglich4. Für den Versorgungsausgleich nach Scheidung regelt dies, bezogen auf Sozialversicherungsbeiträge oder vergleichbare Aufwendungen, jetzt § 20 Abs. 1 S. 2 VersAusglG. Ungleiche Einkommensverhältnisse der Ehegatten: Wenn der – per Saldo – ausgleichsberechtigte Ehegatte über (zB ererbtes oder aus sonstigen Gründen nicht auszugleichendes) Vermögen verfügt, das seine Altersversorgung uneingeschränkt absichert, während der Verpflichtete auf seine Anrechte zur Sicherung seines Unterhalts dringend angewiesen ist, kann die Durchführung grob unbillig sein5. Hier reicht nach – nicht unbedenk-
1 Vorsatz ist nach wohl hM nicht erforderlich; ausreichend ist grobe Leichtfertigkeit: Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 883 mwN. 2 Vgl. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 881. 3 BGH v. 9.7.1986 – IVb ZR 4/85, FamRZ 1987, 49 (50); OLG Schleswig v. 16.7.2008 – 10 UF 22/08, FamRZ 2009, 1414 f. 4 Für den Versorgungsausgleich bei Scheidung BGH v. 14.2.2007 – XII ZB 68/03, FamRZ 2007, 627 ff. = FamRB 2007, 201; näher Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 848; für den Versorgungsausgleich nach Scheidung BGH v. 10.8.2005 – XII ZB 191/01, FamRZ 2005, 1982 ff. = FamRB 2006, 74; BGH v. 7.12.2005 – XII ZB 197/04, FamRZ 2006, 321 ff. = FamRBint 2006, 46; BGH v. 9.11.2005 – XII ZB 228/03, FamRZ 2006, 323 ff. = FamRB 2006, 139. 5 BGH v. 25.5.2005 – XII ZB 135/02, FamRZ 2005, 1238 f. = FamRB 2005, 255; BGH v. 5.11.2008 – XII ZB 217/04, FamRZ 2009, 205 m. Anm. Borth, S. 210 =
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334
Kap. 11 Rn. 335
Versorgungsausgleich
licher – Ansicht des BGH ggf. sogar schon eine Gefährdung des angemessenen Selbstbehalts des Ausgleichspflichtigen1. 335
Erhebliches Leistungsungleichgewicht in der Ehe: Wenn der per Saldo Ausgleichspflichtige auch in der Ehe die Hauptlast der Aufgaben getragen hat und zB dem Ausgleichsberechtigten das Studium finanziert und gleichzeitig den Haushalt und die Kinder versorgt hat, kann die Durchführung des Versorgungsausgleichs korrekturbedürftig sein2. Hierher gehört auch der Fall, dass der Ehegatte, dessen Anrechte allein oder überwiegend aus Kindererziehungszeiten stammen, (per Saldo) ausgleichspflichtig ist, allerdings nur bei Hinzutreten weiterer Umstände3.
336
Lange Trennungszeit: Maßgeblich ist das Verhältnis zwischen Zusammenleben und Getrenntleben innerhalb der gesetzlichen Ehezeit; eine lange Trennungszeit reicht allein nicht, wohl aber im Zusammenhang mit anderen Umständen, wie einer wirtschaftlichen Verselbständigung4 oder einem kurzen Zusammenleben5. Eine wirtschaftliche Verselbständigung tritt nicht ein, solange die Ehefrau die ehelichen Kinder betreut und deswegen an einer Erwerbstätigkeit (weitgehend) gehindert ist6.
337
Sog. phasenverschobene Ehe: Wenn wegen eines großen Altersunterschieds oder einer nicht ehebedingten Erwerbsunfähigkeit ein Ehegatte während der Ehezeit keine oder nur geringe Anrechte erworben hat, kann das – bei Hinzutreten weiterer Umstände – eine Korrektur des Versorgungsausgleichs rechtfertigen7.
338
Eheliche Verfehlungen: Wenn sie sich nicht wirtschaftlich ausgewirkt haben, muss es sich um schwere oder langandauernde Verfehlungen handeln. Regelmäßig kommen nur Verfehlungen vor der Trennung in Betracht. Nicht ausreichend ist die bloße Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft. Grobe Unbilligkeit kommt in Betracht bei (mindestens
1 2 3 4
5 6 7
FamRB 2009, 106; OLG Zweibrücken v. 1.12.2006 – 2 UF 205/05, FamRZ 2007, 1746 ff. ZB BGH v. 2.2.2011 – XII ZB 133/08, FamRZ 2011, 706 (711) = FamRB 2011, 137. BGH v. 24.3.2004 – XII ZB 27/99, FamRZ 2004, 962 f. = FamRB 2004, 219; OLG Hamm v. 21.2.2006 – 2 UF 382/05, FamRZ 2006, 1457. BGH v. 11.9.2007 – XII ZB 262/04, FamRZ 2007, 1966 f. m. Anm. Borth = FamRB 2008, 36. BGH v. 19.5.2004 – XII ZB 14/03, FamRZ 2004, 1181 (1182) mwN = FamRB 2004, 352; wirtschaftliche Verselbständigung verneint von BGH v. 29.3.2006 – XII ZB 2/02, FamRZ 2006, 769 ff. bei durchgehender Unterhaltszahlung = FamRB 2006, 203. BGH v. 28.9.2005 – XII ZB 177/00, FamRZ 2005, 2052 ff. = FamRB 2006, 40: verneint bei Kinderbetreuung durch den Ausgleichsberechtigten. BGH v. 28.9.2005 – XII ZB 177/00, FamRZ 2005, 2052 ff. = FamRB 2006, 40; BGH v. 25.6.2008 – XII ZB 163/06, FamRZ 2008, 1836 (1837) = FamRB 2008, 336. BGH v. 19.5.2004 – XII ZB 14/03, FamRZ 2004, 1181 (1183) = FamRB 2004, 352; OLG Hamm v. 2.10.2003 – 2 UF 276/03, FamRZ 2004, 885.
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Versorgungsausgleich
Rn. 340
Kap. 11
bedingt vorsätzlichem) Unterschieben eines Kindes1 oder einem von einer Partei gegen die andere oder einen nahen Angehörigen (gemeinsames Kind) begangenem Verbrechen/schwerem Vergehen2.
IX. Sonderregelungen, insbesondere für Härtefälle In bestimmten Fällen bedarf es für den durchzuführenden oder durchgeführten Versorgungsausgleich zur Vermeidung unbilliger Härten oder zur Regelung von Verfahrensfragen ergänzender Regelungen. Die meisten der nachfolgend aufgeführten Ergänzungen haben sich vorher im VAHRG befunden und gehen auf eine Entscheidung des BVerfG zurück3. Sonderregelungen existieren für die Fälle, dass
339
– der Ausgleichsberechtigte noch keinen Anspruch auf eine Versorgung und wegen der Kürzungen beim Ausgleichspflichtigen auch keine oder geringere Unterhaltsansprüche hatte (§§ 33 f. VersAusglG); – der Ausgleichspflichtige eine privat begründete Rente wegen Invalidität bezieht (§ 28 VersAusglG); – der Ausgleichspflichtige eine Versorgung wegen Invalidität bezieht, die wegen des Versorgungsausgleichs gekürzt ist und im Gegenzug aus einem im Versorgungsausgleich erworbenen Anrecht keine Leistungen wegen Invalidität beziehen kann (§§ 35 f. VersAusglG); – der Ausgleichsberechtigte stirbt, – nachdem ihm im schuldrechtlichen Versorgungsausgleich ein Versorgungsanspruch des Verpflichteten gegen dessen Versorgungsträger abgetreten worden ist (§ 21 Abs. 4 VersAusglG), – bevor er Anrechte aus dem Versorgungsausgleich für mehr als 36 Monate in Anspruch nehmen konnte (§§ 37 f. VersAusglG); – nach Rechtskraft der Scheidung, aber vor Rechtskraft einer Entscheidung über den Versorgungsausgleich ein Ehegatte stirbt (§ 31 Abs. 1 und 2 VersAusglG); – nach Rechtskraft der Entscheidung über Ausgleichsansprüche nach Scheidung eine Partei stirbt (§ 31 Abs. 3 VersAusglG). 1. Sonderregelungen wegen unbilliger Härten, §§ 32 ff. VersAusglG Im 4. Kap. des VersAusglG sind Sonderregelungen für den durchgeführten Versorgungsausgleich enthalten. Dessen Rechtsfolgen werden im Hin1 OLG Karlsruhe v. 27.5.1994 – 2 UF 267/92, FamRZ 1994, 1474 f. mwN; ist der unstreitige Scheinvater noch der rechtliche Vater, kann die Rechtsausübungssperre des § 1599 Abs. 1 BGB einer Berücksichtigung entgegenstehen; zur Frage der Durchbrechung s. BGH v. 25.6.2008 – XII ZB 163/06, FamRZ 2008, 1836 = FamRB 2008, 336; BGH v. 21.3.2012 – XII ZB 147/10, NJW 2012, 1446. 2 BGH v. 9.5.1990 – XII ZB 76/89, FamRZ 1990, 985 ff.; OLG Brandenburg v. 20.6.2002 – 9 UF 153/01, FamRZ 2003, 384 f. = FamRB 2002, 360. 3 BVerfG v. 28.2.1980 – 1 BvL 17/77, FamRZ 1980, 326.
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1265
340
Kap. 11 Rn. 341
Versorgungsausgleich
blick auf bestimmte Fallkonstellationen zeitweise oder endgültig beseitigt, um grundrechtswidrigen Auswirkungen des Versorgungsausgleichs zu begegnen. Dafür ist jeweils ein Antrag erforderlich. Dieser kann, anders als nach dem alten Recht, keine rückwirkende, sondern nur eine zukünftige Änderung bewirken (§§ 34 Abs. 3, 36 Abs. 3, 38 Abs. 2 VersAusglG). 341
Die Sonderregelungen sind beschränkt auf die in § 32 aufgezählten Anrechte. Es handelt sich ausschließlich um Anrechte aus den Regelsicherungssystemen gegenüber öffentlich-rechtlichen Versorgungsträgern. Ausgenommen vom Anwendungsbereich sind also Zusatzversorgungen, Anrechte der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge1. Es ist höchst umstritten, ob diese Beschränkung verfassungsrechtlich zulässig ist2. a) Rentnerprivileg und Rentenkürzung im Unterhaltsfall
342
Ist oder wird einer der Ehegatten Versorgungsempfänger, der andere aber noch nicht, stellt sich die Frage, ob die Wirkungen eines zulasten des Versorgungsempfängers durchgeführten Versorgungsausgleichs aufzuschieben oder abzumildern sind. Das alte Recht schützte in zwei Vorschriften die Rentner. Das sog. Rentner- und Pensionärsprivileg in § 101 Abs. 3 SGB VI aF, § 57 Abs. 1 S. 2 BeamtVG aF gewährte demjenigen, der bei Rechtskraft der Entscheidung zum Versorgungsausgleich schon Rentner/ Pensionär war, einen Bestandsschutz. Seine Versorgung blieb solange ungekürzt, bis der Ausgleichsberechtigte seine – durch den Versorgungsausgleich erhöhte – Rente bezog. Eine weitere Schutzvorschrift in § 5 VAHRG aF betraf denjenigen, der erst nach Rechtskraft der Entscheidung zum Versorgungsausgleich Rentner wurde. Dieser erhielt dann eine ungekürzte Rente, wenn er seinem geschiedenen Ehegatten unterhaltspflichtig war oder nur wegen der Rentenkürzung nicht war.
343
Das neue Recht hat diese Privilegierungen massiv gekürzt. Das Rentnerund Pensionärsprivileg aus § 101 Abs. 3 SGB VI aF/§ 57 Abs. 1 S. 2 BeamtVG ist – auf Bundesbene3 – vollständig entfallen. Es hätte in der bisherigen Form wegen der Abkehr vom Saldierungsprinzip nicht aufrechterhalten werden können, weil der per Saldo Ausgleichspflichtige ja zugleich Anwartschaften des Berechtigten übertragen bekommt und deshalb durch § 101 Abs. 3 SGB VI aF besser gestellt worden wäre, als er oh-
1 Zu den erfassten Anrechten genauer Erman/Norpoth, § 32 VersAusglG Rn. 4 ff., 10. 2 Bejahend OLG Stuttgart v. 20.6.2011 – 18 UF 107/11, FamRZ 2011, 1798; FAFamR/Gutdeutsch/Wagner, Kap. 7 Rn. 224; verneinend Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 927 ff. mwN Fn. 11; Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 955. 3 Für die Landesbeamten hat der Bund insoweit keine Regelungskompetenz mehr; deswegen galt dort zunächst das Pensionärsprivileg fort: s. Voucko-Glockner/ Vogts, FamRZ 2010, 950 f. Die Länder haben dies erst teilweise geändert; s. Erman/Norpoth, § 49 VersAusglG Rn. 7.
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Versorgungsausgleich
Rn. 346
Kap. 11
ne die Scheidung stünde. Der Gesetzgeber hat den durch das Rentnerprivileg generierten Bestandsschutz aber auch insgesamt als übertrieben und für den Leistungsträger zu belastend angesehen1.
Û
Praxistipp: Das Rentnerprivileg bleibt aber übergangsweise denjenigen erhalten, die bei Inkrafttreten des neuen Rechts bereits Rentner waren und deren Versorgungsausgleichsverfahren bereits eingeleitet war (§ 268a Abs. 2 SGB VI). Dasselbe gilt für pensionierte Beamte (§ 57 Abs. 1 S. 2 BeamtVG nF)2. Für die Landesbeamten regelt das jeweilige Landesrecht, ob, wann und inwieweit das Pensionärsprivileg entfallen ist.
Geblieben ist – allerdings in abgeschwächter Form – der Schutz des Ren- 344 tenempfängers in Unterhaltsfällen3. Die §§ 33 f. VersAusglG regeln jetzt einheitlich für diejenigen, die schon eine Rente beziehen und diejenigen, die erst später Rentner werden, den Fall, dass die Rente des – per Saldo – Ausgleichspflichtigen geringer ausfällt, während der Ausgleichsberechtigte nicht im Rentenbezug steht und ohne die Kürzung einen (höheren) Unterhaltsanspruch gegen den Ausgleichspflichtigen hätte. In diesem Fall wirkt die Durchführung des Versorgungsausgleichs für den Berechtigten zeitweise kontraproduktiv. Davor schützt auch das neue Recht; es sieht für diese Fälle allerdings idR nicht mehr vor, dass der Pflichtige seine Versorgung ungekürzt beanspruchen kann. aa) Die Regelung im Einzelnen (1) Grundvoraussetzung Die Rentenkürzung kann nur solange ausgesetzt werden, wie der Ausgleichsberechtigte aus dem ihm übertragenen Anrecht selbst noch keine Rente beziehen kann. Das gilt nicht nur bei Bezug einer Altersrente, sondern auch, wenn der Berechtigte eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezieht4.
345
(2) Geringfügigkeitsgrenze Eine Kürzung kann nur ausgesetzt werden, wenn sie eine Geringfügigkeitsgrenze übersteigt. Diese ist auf das Ende der Ehezeit bezogen und beträgt bei einer Rente 2 % und bei einem Kapitalbetrag 240 % der monatli1 BT-Drucks. 16/10144, 101. 2 Das gilt nach dem eindeutigen Wortlaut auch dann, wenn der Versorgungsausgleich in diesen Fällen nach neuem Recht durchgeführt wird; dazu s. Rn. 545. 3 Vgl. hierzu grundlegend und mit vielen Beispielsfällen Bergner, FPR 2011, 483 ff. 4 Streitig ist, ob nur der tatsächliche Rentenbezug maßgeblich ist, oder ob ausreicht, dass der Ausgleichsberechtigte erfolgreich eine Rentenleistung beantragen könnte: vgl. Erman/Norpoth, § 33 VersAusglG Rn. 4; Bergner, FPR 2011, 484 f.
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Kap. 11 Rn. 347
Versorgungsausgleich
chen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV (§ 33 Abs. 2 VersAusglG: bei einem Ehezeitende in 2012 sind dies 52,50 Euro/6300 Euro). Bei mehreren betroffenen Anrechten muss zumindest die Kürzung eines Anrechts diese Geringfügigkeitsgrenze überschreiten1. Bei der Anwendung auf Altfälle kommt es darauf an, ob der übertragene Saldo die Geringfügigkeitsgrenze überschreitet2. (3) Beschränkung auf Höhe des Unterhalts 347
Weiter kann die Rentenkürzung nur noch maximal bis zu derjenigen Höhe ausgesetzt werden, in welcher der Pflichtige ohne die Kürzung Unterhalt zahlen müsste (§ 33 Abs. 3 VersAusglG). Der Pflichtige profitiert also nur noch eingeschränkt von der Unterhaltspflicht, und auch der Unterhaltsanspruch des Berechtigten verringert sich. Beispiel3: E hat vor Durchführung des Versorgungsausgleichs eine gesetzliche Rente von brutto 2450 Euro, netto 2100 Euro, die vollständig in der Ehezeit erworben ist. Im Versorgungsausgleich gibt er Anrechte im Wert von 1225 Euro an F ab und erhält von ihr Anrechte im Wert von 475 Euro. Es verbleiben ihm brutto 1700 Euro, netto 1450 Euro. F hat – bereinigte – Einkünfte von 1100 Euro aus Erwerbstätigkeit. Während nun in einem ersten Schritt die Höhe der Aussetzung ermittelt wird, ergibt sich die tatsächliche Unterhaltspflicht nach der Aussetzung (erst) im zweiten Schritt: 1. Unterhaltspflicht ohne Rentenkürzung: Einkommen E: Einkommen F (bereinigt): Differenz: davon 1/2 = fiktive Unterhaltspflicht:
2100 Euro 1100 Euro 1000 Euro 500 Euro
Aussetzung der Rentenkürzung iHv. brutto: Dem E verbleibt: 2450 Euro – (1225 Euro – 500 Euro) + 475 Euro = brutto Netto (ca.):
500 Euro 2200 Euro 1900 Euro
2. Unterhaltspflicht nach Aussetzung der Rentenkürzung: Einkommen E: Einkommen F (bereinigt): Differenz: davon 1/2 = tatsächliche Unterhaltspflicht:
1900 Euro 1100 Euro 800 Euro 400 Euro
Nach dem alten Recht hätte E an F 500 Euro zahlen müssen und würde selbst 1600 Euro netto behalten haben. Beide Parteien hätten also noch einmal 100 Euro mehr.
348
Wie sich aus der Gesetzesbegründung4 ergibt, ist die obige Berechnung nur einmal durchzuführen und nicht anschließend mit den ermittelten gekürzten Unterhaltsbeträgen mehrfach zu wiederholen, wobei sich mit 1 2 3 4
Zu dieser Problematik s. näher Bergner, FPR 2011, 483. Bergner, FPR 2011, 484. Entlehnt aus BT-Drucks. 16/10144, 73 f. BT-Drucks. 16/10144, 73 f.
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Norpoth
Versorgungsausgleich
Kap. 11
Rn. 351
jedem nachfolgenden Berechnungsschritt erst der Betrag der auszusetzenden Rentenkürzung und sodann der Betrag des noch zu leistenden Unterhalts verringern würde. Eine Aussetzung der Rentenkürzung scheidet nach § 33 Abs. 1 Vers- 349 AusglG aus, wenn der Pflichtige trotz dieser Aussetzung gegenüber dem Berechtigten nicht unterhaltspflichtig wird. Beispiel1: Nach Rentenkürzung verbleiben dem E (netto): Ungekürzte Versorgung des E (netto): (Bereinigtes) Einkommen F: Differenz: 1/2 = fiktive Unterhaltspflicht des E:
1000 Euro 1400 Euro 1200 Euro 200 Euro 100 Euro
Nach Aussetzung iHv. brutto 100 Euro verblieben E netto:
1080 Euro
Der E wird auch nicht dadurch unterhaltspflichtig gegenüber F, dass die Rentenkürzung iHv. 100 Euro ausgesetzt wird. Deswegen wird die Rentenkürzung auch nicht ausgesetzt.
(4) Differenz bei Primärversorgungen Eine weitere Grenze/Bedingung für die Aussetzung der Kürzung ist die 350 Differenz der beiderseitigen Anrechte der Parteien nach § 32 VersAusglG. Nur wenn sich (den Versorgungsausgleich hinweggedacht) insoweit eine Differenz zugunsten des Unterhaltspflichtigen ergibt, kann die Kürzung im Umfang dieser Differenz ausgesetzt werden. Das wirkt sich negativ aus, wenn die Differenz der beiderseitigen Altersversorgungen im Wesentlichen darauf beruht, dass der Pflichtige betriebliche/private Altersvorsorge betrieben hat. Beispiel: Anrechte des E (jeweils Bruttorente): Gesetzliche Rentenversicherung: Betriebliche Altersvorsorge: Private Altersvorsorge: zusammen (Rente brutto):
1700 Euro 350 Euro 400 Euro 2450 Euro
Anrechte der F: Gesetzliche Rentenversicherung:
1700 Euro
Hier ergibt sich aus den beiderseitigen Anrechten i.S.d. § 32 VersAusglG keine Differenz. Die Kürzung der gesetzlichen Rente des E kann dann nach § 33 Abs. 3, Halbs. 2 VersAusglG nicht ausgesetzt werden.
bb) Verfahren Der Antrag auf Aussetzung der Rentenkürzung ist nicht mehr, wie frü- 351 her, bei dem Leistungsträger (§ 9 Abs. 1 VAHRG aF), sondern bei dem Familiengericht zu stellen, § 34 Abs. 1 VersAusglG. Antragsberechtigt sind 1 Nach BT-Drucks. 16/10144, 74.
Norpoth
1269
Kap. 11 Rn. 352
Versorgungsausgleich
sowohl der Ausgleichspflichtige als auch der Ausgleichsberechtigte, § 34 Abs. 2 VersAusglG. Entfällt die Unterhaltspflicht des Ausgleichspflichtigen später (zB nach § 1578b BGB), ist die Aussetzung der Kürzung zu beenden. Dies kann auch der betroffene Versorgungsträger beantragen. Die Hinterbliebenen des Ausgleichsberechtigten können die Aussetzung dagegen nicht (mehr) beantragen1. Das Familiengericht entscheidet bei mehreren Versorgungen des Pflichtigen nach billigem Ermessen, wie es die Aussetzung auf die einzelnen Anrechte verteilt, § 33 Abs. 4 VersAusglG. Stirbt der Rentner, nachdem er den Antrag nach § 33 Abs. 1 VersAusglG gestellt hat, geht sein Anspruch auf Anpassung auf seine Erben über (§ 34 Abs. 3 VersAusglG). 352
Û
Praxistipps: Die Kürzung wird erst ab dem Monat ausgesetzt, welcher der Antragstellung folgt, § 34 Abs. 3 VersAusglG2. Es wird für zulässig gehalten, den Antrag auf Aussetzung der Kürzung schon im Scheidungsverbund zu stellen3; davon sollte Gebrauch gemacht werden, wenn der – per Saldo – Ausgleichspflichtige bereits Versorgungsempfänger ist. In der Praxis bereitet die Prüfung eines möglichen Unterhaltsanspruchs im Verfahren nach den §§ 33 f. VersAusglG erhebliche Probleme; unklar ist, wie weit die Inzidentprüfung des Unterhaltsanspruchs im Verfahren nach §§ 33 f. VersAusglG geht, etwa, ob dort auch von Amts wegen (§ 26 FamFG) Befristungs- und Verwirkungseinwände zu prüfen sind4. Ein bereits bestehender Unterhaltstitel bindet allenfalls insoweit, als er seinerseits nicht abänderbar ist5.
353
Die Aussetzung kann abgeändert werden, wenn sich die Höhe des geschuldeten Unterhalts ändert. Wenn der Unterhaltsanspruch wegfällt oder wenn auch der unterhaltsberechtigte Ehegatte Anspruch auf eine Versorgung erhält, ist auch die Aussetzung zu beendigen.
354
Über die Abänderung, welche neben den Parteien auch der betroffene Versorgungsträger beantragen kann (§ 34 Abs. 2 S. 2 VersAusglG) entscheidet das Familiengericht nach § 34 Abs. 1 VersAusglG. Über die Beendigung der Aussetzung soll in eindeutigen Fällen (Wegfall des Unterhaltsanspruchs, Rentenanspruch – auch – des Berechtigten) der Versorgungsträger selbst entscheiden, § 34 Abs. 6 S. 1 VersAusglG. Besteht zwischen den Parteien und dem Versorgungsträger Streit darüber, ob der Unterhaltsanspruch des Berechtigten weggefallen ist, so ergibt sich aus der Ge-
1 Anders noch § 9 Abs. 2 VAHRG aF; der Gesetzgeber sieht hier keine auszugleichende Härte: BT-Drucks. 16/10144, 74. 2 Früher war unter Anwendung von §§ 44, 48 SGB X eine bis zu vier Jahre rückwirkende Aussetzung möglich. 3 Nachweise bei Erman/Norpoth, § 34 VersAusglG Rn. 3. 4 Dazu näher Erman/Norpoth, § 34 VersausglG Rn. 4 ff. 5 Vgl. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 972 ff.; s. hierzu eingehend Bergner, FPR 2011, 485 f.
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Versorgungsausgleich
Rn. 355
Kap. 11
setzesbegründung1, dass die Entscheidung des Familiengerichts zu suchen ist, die Vorrang vor einer Entscheidung des Versorgungsträgers hat. Der Versorgungsträger ist nur in eindeutigen Fällen befugt, die Aussetzung zu beendigen.
Û
Praxistipp: Im Anwendungsbereich des neuen Rechts ist immer dann an den Antrag nach § 33 Abs. 1 VersAusglG zu denken, wenn ein Rentner auf Ehegattenunterhalt in Anspruch genommen wird. Die Wirkungen des durchgeführten Versorgungsausgleichs treten ab dem auf die Rechtskraft der Entscheidung über den Versorgungsausgleich folgenden Monat ein2. Der Antrag auf Aussetzung muss bei unterhaltspflichtigen Rentnern also sehr zeitnah zur Scheidung gestellt werden. Die Auswirkungen sollten schon bei der Berechnung des nachehelichen Unterhaltsanspruchs im Scheidungsverbund einbezogen werden.
b) Beeinträchtigungen bei Renten wegen Invalidität Es kann geschehen, dass im Versorgungsausgleich eine Partei Anrechte 355 abgibt, die ihr Leistungen auch bei Invalidität gewährt haben würden, im Gegenzug aber Anrechte ohne Invaliditätsschutz erhält. Für die interne Teilung sieht beispielsweise § 11 Abs. 1 Nr. 3 VersAusglG vor, dass der Versorgungsträger das zu begründende Anrecht auf eine Altersversorgung beschränken darf, selbst wenn das zu teilende Anrecht einen Invaliditätsschutz vorsieht. Denkbar ist aber auch, dass das übertragene Anrecht zwar einen Invaliditätsschutz vorsieht, der Berechtigte aber die Anspruchsvoraussetzungen hierfür nicht erfüllt3. Diese Beeinträchtigungen des Invaliditätsschutzes können nach der Strukturreform weiter gehen als nach dem alten Recht, wo sich eine Erwerbsminderungsrente nur um die Hälfte des Saldos aus den Versorgungen beider Eheleute reduzieren konnte. Beispiel: E bezieht eine ehezeitliche Erwerbsminderungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung von monatlich brutto 1800 Euro; F ist Ärztin und hat bei der Ärzteversorgung ehezeitliche Anrechte auf eine Rente von brutto 1500 Euro erworben. E muss im Versorgungsausgleich gesetzliche Rentenanrechte im Wert von 900 Euro abgeben und erhält im Gegenzug reine Altersrentenanwartschaften iHv. (erhöht, § 11 Abs. 1 Nr. 3 VersAusglG) 850 Euro. Nach Durchführung des Versorgungsausgleichs erhielte er jetzt zunächst nur noch eine Erwerbsminderungsrente von brutto 900 Euro. Wäre nach altem Recht saldiert worden, hätte E Anwartschaften im 1 BT-Drucks. 16/10144, 75. 2 § 224 Abs. 1 FamFG; BSG v. 22.4.2008 – B 5a R 72/07 R, FamRZ 2008, 1845 ff.; BSG v. 29.1.1991 – 4 RA 67/90, FamRZ 1991, 934 ff. 3 ZB § 43 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 SGB VI: diese Voraussetzungen können Beamte, denen gesetzliche Rentenanwartschaften übertragen worden sind, nicht erfüllen.
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Kap. 11 Rn. 356
Versorgungsausgleich
Gegenwert von 150 Euro abgegeben und würde noch eine Erwerbsminderungsrente von brutto 1650 Euro beziehen.
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In derartigen Fällen soll nach der Gesetzesbegründung die Kürzung insoweit ausgesetzt werden können, als sie auch nach dem alten Recht nicht vorgenommen worden wäre. § 35 Abs. 3 VersAusglG beschränkt die Kürzung zu diesem Zweck auf die Höhe der Ausgleichswerte der Anrechte aus einer Primärversorgung (§ 32 VersAusglG), aus denen der Erwerbsunfähige keine Leistungen bezieht. Unklar ist, ob in diese Bilanz auch Anrechte einzubeziehen sind, die im Wege der externen Teilung eines nicht geschützten Anrechts (zB private Rentenversicherung) in einer Primärversorgung begründet worden sind (zB § 15 Abs. 5 VersAusglG). Nach Sinn und Zweck der Regelung soll für die Einstufung wohl allein die Herkunft des begründeten Anrechts entscheidend sein. Voraussetzung ist auch, dass die vorgenommene Kürzung die Geringfügigkeitsgrenze des § 33 Abs. 2 VersAusglG überschreitet (§ 35 Abs. 2 VersAusglG).
357
Wiederum wird die eingetretene Kürzung nur auf Antrag mit Wirkung ex nunc ausgesetzt (§ 36 Abs. 3 i.V.m. § 34 Abs. 3 VersAusglG). Der Antrag ist bei dem hierzu umfassend entscheidungsbefugten Versorgungsträger (§ 36 Abs. 1 VersAusglG) zu stellen. Hat der Antragsteller mehrere Anrechte mit Invaliditätsschutz, die im Versorgungsausgleich gekürzt worden sind, muss er die Anträge bei allen Versorgungsträgern stellen. Die Aussetzung erfolgt dann anteilig nach dem Verhältnis der Ausgleichswerte (§ 35 Abs. 4 VersAusglG)1. Stirbt der Antragsteller während des laufenden Verfahrens, geht der Anspruch auf seine Erben über (§ 36 Abs. 3 i.V.m. § 34 Abs. 4 VersAusglG). Sobald und soweit der Ausgleichspflichtige aus den ihm übertragenen Anrechten Leistungen beziehen kann, entfallen die Voraussetzungen für eine Aussetzung. Das hat er dem Versorgungsträger mitzuteilen (§ 36 Abs. 4 VersAusglG), damit dieser die Aussetzung aufheben kann. c) Tod der ausgleichsberechtigten Person, §§ 37 f. VersAusglG
358
Stirbt die – per saldo – ausgleichsberechtigte Person, bevor sie aus den im Versorgungsausgleich übertragenen Anrechten nennenswerte Leistungen hat beanspruchen können, kann die Aufrechterhaltung des Status quo für den überlebenden Ausgleichspflichtigen, der die abgegebenen Anrechte über einen langen Zeitraum mit seinen Beiträgen angespart hat, unbillig sein. Diese Konsequenz mildert das Gesetz für die Primärversorgungen nach § 32 VersAusglG ab, indem es unter bestimmten Bedingungen für die Zukunft die Beseitigung der Folgen des durchgeführten Versorgungsausgleichs zulässt.
359
Voraussetzung ist, dass der verstorbene Ausgleichsberechtigte noch nicht länger als 36 Monate die Versorgung aus dem/den erworbenen An1 Vgl. BT-Drucks. 16/10144, 76 mit Beispielsfall.
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Versorgungsausgleich
Rn. 361
Kap. 11
recht(en) bezogen hat (§ 37 Abs. 2 VersAusglG). Das alte Recht sah hierfür noch eine kürzere Frist von zwei Jahren vor; außerdem rechneten in diese Frist auch Leistungen an Hinterbliebene des Ausgleichsberechtigten hinein (§ 4 Abs. 1, 2 VAHRG aF1). Liegen die Voraussetzungen vor, kann der Ausgleichspflichtige durch Antrag mit Wirkung ex nunc (§§ 37 Abs. 1, 38 Abs. 2 i.V.m. 34 Abs. 3 VersAusglG)2 bewirken, dass ihm seine eigene Versorgung wieder ungekürzt zusteht. Die vom verstorbenen Ehegatten übertragenen Ansprüche aus Primärversorgungen i.S.d. § 32 VersAusglG erlöschen im Gegenzug, sobald die Anpassung wirksam wird (§ 37 Abs. 3 VersAusglG).
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Praxistipp: Der Antrag nach neuem Recht kann auch dann noch gestellt werden, wenn ein nach altem Recht gestellter Antrag bestandskräftig abgewiesen worden ist, weil die Voraussetzungen nach dem alten Recht nicht vorlagen3!
Für diese Regelung gelten keine Geringfügigkeitsgrenzen. Sie gilt auch dann, wenn der hinsichtlich Primärversorgungen Ausgleichspflichtige bei einer Gesamtbetrachtung eigentlich Ausgleichsberechtigter ist.
360
Beispiel: F hat im Versorgungsausgleich durch interne Teilung gesetzliche Rentenanwartschaften iHv. monatlich 200 Euro abgegeben und iHv. 100 Euro übertragen bekommen; im Übrigen ist für sie zulasten der privaten Rentenversicherung des – selbständigen – E durch interne Teilung ein Rentenanrecht iHv. monatlich 500 Euro übertragen worden. E, der mit 65 Jahren „in Rente gegangen ist“, stirbt mit 66 Jahren. F kann durch einen Antrag bewirken, dass die Kürzung ihrer gesetzlichen Rente beendet wird, obwohl sie insgesamt durch den Versorgungsausgleich begünstigt worden war4.
Die Entscheidungszuständigkeit liegt bei dem Versorgungsträger (§ 38 361 Abs. 1 VersAusglG), dem allerdings kein Ermessen eingeräumt ist5. Um zu gewährleisten, dass die Träger der dem Antragsteller übertragenen Versorgungen in Kenntnis gesetzt werden, regelt § 38 Abs. 3 VersAusglG entsprechende Informationspflichten des Antragstellers.
1 Zu den Vor- und Nachteilen gegenüber dem alten Recht s. im Einzelnen Erman/ Norpoth, § 37 VersAusglG Rn. 1. 2 Die Vorgängervorschrift war noch i.S. einer ex-tunc-Wirkung ausgelegt worden, was für die Rückabwicklung erhebliche Schwierigkeiten mit sich brachte: BTDrucks. 16/10144, 77 mwN. 3 Vgl. Dünn/Strotmeyer, FPR 2011, 493. 4 Die Beschränkung des Blickwinkels auf Primärversorgungen dürfte unausgegoren und auch verfassungsrechtlich bedenklich sein; vgl. Erman/Norpoth, § 37 VersAusglG Rn. 6 mwN. 5 Insoweit gehören Rechtsstreitigkeiten vor die jeweiligen Fachgerichte, nicht vor die Familiengerichte; OLG München v. 3.3.2011 – 2 WF 200/11, FamRZ 2011, 1406; Erman/Norpoth, § 38 VersAusglG Rn. 1 mwN.
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Kap. 11 Rn. 362
Versorgungsausgleich
362
Falls der Ausgleichspflichtige zur Begründung von Anrechten des Berechtigten1 oder zur Abwendung der bei der eigenen Versorgung eingetretenen Kürzung (zB nach § 187 SGB VI; § 58 BeamtVG) Beiträge geleistet hat, kann er diese unter Anrechnung der bereits erbrachten Leistungen von dem/den Versorgungsträger(n) zurückverlangen (§ 37 Abs. 1 S. 2 VersAusglG).
363
Anders als nach dem alten Recht (§ 4 Abs. 1 VAHRG aF) gilt die Privilegierung nicht auch für die Hinterbliebenen des Ausgleichspflichtigen. Beispiel: E und F lassen sich scheiden. Der Versorgungsausgleich wird durchgeführt. E heiratet unmittelbar darauf erneut; aus der Ehe geht ein Kind hervor. Zwei Jahre nach der Scheidung stirbt zunächst F. E, der im VA höhere gesetzliche Rentenanwartschaften übertragen als bekommen hat, stirbt kurze Zeit später. Sein Kind aus zweiter Ehe möchte nunmehr die Folgen des Versorgungsausgleichs beseitigen, um eine höhere Hinterbliebenenrente zu bekommen.
364
Dem Gesetzgeber des VAStrRefG ging die Privilegierung auch der Hinterbliebenen durch das alte Recht zu weit. Deren Interessen seien nicht schutzwürdig. Hinterbliebene Kinder aus erster Ehe erlitten keine Nachteile, weil sie Ansprüche auf Hinterbliebenenrenten nach beiden verstorbenen Elternteilen hätten. Hinterbliebene Kinder aus zweiter Ehe könnten sich teilweise an den überlebenden Elternteil halten2.
365
Hiervon zu unterscheiden ist der Fall, dass der Ausgleichspflichtige stirbt, nachdem er den Antrag auf Anpassung bei dem Versorgungsträger gestellt hat. Gesetzliche Renten zB werden bis zum Ende des Kalendermonats gezahlt, in dem der Berechtigte gestorben ist (§ 102 Abs. 5 SGB VI). Der Anspruch auf Rentenanpassung bis zu diesem Zeitpunkt (aber auch nicht darüber hinaus) fällt in den Nachlass (§ 38 Abs. 2 i.V.m. § 34 Abs. 4 VersAusglG).
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Praxistipp: Gegen die Beschränkung gerade des § 37 VersAusglG auf die Primärversorgungen sind verfassungsrechtliche Bedenken erhoben worden. Nach den Vorgaben des BVerfG müsse Entsprechendes auch für betriebliche und private Rentenanrechte gelten3. Deswegen ist ggf. zu erwägen, gegen den Träger einer Sekundärversorgung ein gerichtliches Verfahren nach den §§ 37 f. VersAusglG einzuleiten und darin möglichst frühzeitig eine Vorlage an das BVerfG nach Art. 100 GG anzuregen.
1 Das gilt nur für Altfälle, vgl. zB § 3b Abs. 1 Nr. 2 VAHRG aF; nach dem neuen Recht erfolgt ein Versorgungsausgleich nicht mehr durch Beitragszahlung der ausgleichspflichtigen Person. 2 BT-Drucks. 16/10144, 76 f. 3 Vgl. nur Ruland, NZS 2008, 225 (237) und Bergner, ZRP 2008, 211 (213), jeweils mN zur Rspr. des BVerfG.
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Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 369
Kap. 11
2. Weitere Sonderfälle a) Tod der ausgleichsberechtigten Person im Versorgungsausgleich nach Scheidung Im (schuldrechtlichen) Versorgungsausgleich nach Scheidung kann der 366 Ausgleichsberechtigte verlangen, dass ihm der Ausgleichspflichtige seinen Anspruch gegen den Versorgungsträger in Höhe der Ausgleichsrente abtritt, § 21 Abs. 1 VersAusglG. Stirbt der Ausgleichsberechtigte anschließend, so erlischt sein Anspruch auf eine schuldrechtliche Ausgleichsrente nach § 31 Abs. 3 VersAusglG. In diesem Fall geht der Rentenanspruch nach § 21 Abs. 4 VersAusglG wieder auf den Ausgleichspflichtigen über. Diese Folge tritt antragsunabhängig kraft Gesetzes ein. Eine entsprechende Regelung existierte auch schon im alten Recht (§ 1587k Abs. 2 S. 2 aF BGB); sie ist nicht auf die Ansprüche nach dem Katalog des § 32 VersAusglG beschränkt, gilt also auch für betriebliche und private Rentenansprüche. b) Bezug einer laufenden privaten Rente wegen Invalidität Bezieht ein Ehegatte eine private Rente wegen Invalidität aufgrund von 367 in der Ehezeit gezahlten Beiträgen und ist der Versicherungsfall in der Ehezeit eingetreten, unterfällt die Rente grundsätzlich dem Versorgungsausgleich (Rn. 196). Ein Ausgleich findet nach § 28 Abs. 1 VersAusglG hinsichtlich dieser Rente aber nur dann statt, wenn auch der ausgleichsberechtigte Ehegatte seinerseits zum Ehezeitende eine laufende Versorgung wegen Invalidität bezieht oder die Voraussetzungen dafür erfüllt. Für diesen Fall findet der Ausgleich zwar bei Scheidung, aber nach den Grundsätzen für den Versorgungsausgleich nach Scheidung statt (§ 28 Abs. 3 VersAusglG). Der Ausgleichsberechtigte hat Anspruch auf Teilhabe an Renten- und Kapitalzahlungen (dazu s. Rn. 289 ff., 298 ff.).
X. Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich sind in vielfältigen Inhalten denkbar. Sie reichen vom völligen Ausschluss des Versorgungsausgleichs bis hin zu detaillierten Einzelregelungen, betreffend die ausgleichsfähigen Anrechte. Beliebt sind etwa Vereinbarungen nach der Trennung, wonach Anrechte nicht mehr ausgeglichen werden sollen, die nach einem von den Parteien festgelegten Stichtag erworben werden, der aber vor dem eigentlichen Ehezeitende liegt.
368
Eines der Ziele der Strukturreform war es, den Gestaltungsspielraum für 369 Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich zu erweitern. Die Regelungen zu Vereinbarungen finden sich in den §§ 6–8 VersAusglG. Der früher bestehende Dualismus zwischen Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich in einem Ehevertrag nach § 1408 Abs. 2 aF BGB, die unwirksam
Norpoth
1275
Kap. 11 Rn. 370
Versorgungsausgleich
wurden, wenn binnen eines Jahres nach Vertragsschluss das Scheidungsverfahren rechtshängig wurde, und Vereinbarungen nach § 1587o aF BGB, die zu ihrer Wirksamkeit einer familiengerichtlichen Genehmigung bedurften, ist aufgegeben worden. Zu den formellen und inhaltlichen Anforderungen an Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich wird auf die Ausführungen von Borth, Kap. 15 Rn. 123 ff., verwiesen. An dieser Stelle sollen nach einer kurzen Darstellung der vom Gesetzgeber bedachten Möglichkeiten der vertraglichen Regelung Situationen aufgezeigt werden, welche eine vertragliche Regelung des Versorgungsausgleichs nahelegen. 370–392 Einstweilen frei 1. Möglichkeiten 393
Das Gesetz nennt drei Zielsetzungen, die mit Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich verfolgt werden können: – Die vollständige oder teilweise Einbeziehung des Ausgleichs des Altersvorsorgevermögens in die Gesamtvermögensauseinandersetzung. Ein vermögensrechtlicher Ausgleich von Anwartschaften auf eine Altersvorsorge im Rahmen des Zugwinnausgleichs ist nach diesem Leitbild mit deren Teilung gleichwertig1. Die Sicherung einer Alters- und Invaliditätsvorsorge genießt insoweit keinen Vorrang mehr2. Aber auch umgekehrt ist es möglich, güterrechtliche Ausgleichsansprüche in den Versorgungsausgleich einzubeziehen, indem entweder auszugleichende Anrechte des zu Begünstigenden von der Teilung ausgenommen werden oder – mit Einverständnis des jeweiligen Versorgungsträgers – auszugleichende Anrechte des zu Belastenden nicht nur hälftig, sondern ganz auf den Ausgleichsberechtigten übertragen werden.
Û
Praxistipp: Vermögensgegenstände des Zugewinnausgleichs unterliegen hinsichtlich der Besteuerung völlig anderen Regelungen (möglicherweise gar keine Besteuerung) als Anrechte aus dem Versorgungsausgleich, die teilweise zudem noch zu anderweitigen Sozialversicherungsbeiträgen herangezogen werden. Diese Unterschiede sollten bei einer etwaigen gegenseitigen Verrechnung mitberücksichtigt werden3. Zudem ergeben sich Bewertungsschwierigkeiten, wenn die Versorgungsanrechte mit Gegenständen des Zugewinnausgleichs vergleichbar gemacht werden sollen; hier muss man sich ggf. vom mitgeteilten
1 Aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 16/10144, 52) geht das nicht in dieser Eindeutigkeit hervor. Kritisch hierzu Eichenhofer, FamRZ 2011, 1633 f. unter Hinweis auf gesetzgeberisch geschaffene Zielkonflikte. 2 Nach altem Recht konnte hieran eine Vereinbarung zum Versorgungsausgleich scheitern, wenn sie an § 1587o Abs. 2 aF BGB zu messen war. 3 Zu den Risiken sog. „Cross-Over-Vereinbarungen“ ausführlich HK-Familienrecht/Hauß, § 6 VersAusglG Rn. 13 ff.
1276
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 397
Kap. 11
Ausgleichswert unabhängig machen und eine versicherungsmathematische Bewertung vornehmen1. – Den vollständigen oder teilweisen Ausschluss des Versorgungsaus- 394 gleichs. Auch dies ist – vorbehaltlich einer Inhalts- und Ausübungskontrolle – möglich. Der Verzicht kann beispielsweise auf den Ausgleich von Anrechten der ergänzenden Altersvorsorge (betriebliche, private Anwartschaften) beschränkt werden. Die Parteien können ebenso vereinbaren, einen Wertunterschied der beiderseitigen Anrechte vermögensrechtlich auszugleichen. Für diesen Fall sollten sie sich aber jedenfalls auf die Modalitäten zur Berechnung dieses Wertunterschiedes einigen. Anders als nach dem alten Recht bewirkt der Ausschluss des Versorgungsausgleichs nicht mehr, dass nach § 1414 S. 2 BGB Gütertrennung eintritt. – Den Vorbehalt des Versorgungsausgleichs für Ausgleichsansprüche 395 nach Scheidung. Diese Möglichkeit wird freilich regelmäßig nicht dem – gerade mit einer Vereinbarung häufig verfolgten – Interesse an einer abschließenden Regelung der Verhältnisse entsprechen. Sie kommt allerdings in Betracht, wenn die Parteien sich die Vermögensauseinandersetzung insgesamt für einen nach der Scheidung liegenden Zeitraum vorbehalten wollen. Der Versorgungsausgleich nach Scheidung wird nur auf Antrag durchgeführt und unterliegt deshalb der Parteidisposition. Zu bedenken ist aber, dass auch eine solche Vereinbarung Ansprüche aus einer Hinterbliebenenversorgung nach § 25 Abs. 2 VersAusglG ausschließt (s. Rn. 315). 2. Anlässe für Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich Es gibt bestimmte Situationen, in denen es geboten ist, über eine Verein- 396 barung zum Versorgungsausgleich zu sprechen, um Nachteile von einem oder sogar beiden beteiligten Eheleuten abzuwenden. Einige in der Praxis häufiger vorkommende Konstellationen werden nachfolgend vorgestellt. a) Drohende Transferverluste, drohende Zersplitterung Oberhalb der Schwellen des § 18 VersAusglG wird das Familiengericht 397 Anrechte der Beteiligten stets teilen. Durch die Rechtsprechung des BGH zu § 18 VersAusglG (s. Rn. 282) werden künftig auch geringfügige Anrechte öfter geteilt werden. Es kann daher zur Vermeidung von Kosten der internen Teilung (§ 13 VersAusglG) sinnvoll sein, Anrechte so gegeneinander zu verrechnen, dass die Anzahl der Teilungsvorgänge reduziert wird. Mit einer derartigen Verrechnung kann auch das Ziel verfolgt werden, einer Zersplitterung der Altersversorgung entgegenzuwirken. Das (idR hinnehmbare) Risiko, das beide Eheleute/Lebenspartner dabei tragen, ist, dass die jeweils nicht geteilten Anrechte sich im Wert unter1 Kemper, ZfE 2011, 179 mwN.
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Kap. 11 Rn. 397a
Versorgungsausgleich
schiedlich weiterentwickeln. Wichtig ist nur, eine Verrechnung nicht unbesehen auf Grundlage der mitgeteilten Kapitalwerte vorzunehmen. b) Rentner, (drohende) Erwerbsunfähigkeit und Unterhalt 397a Bezieht ein Beteiligter bereits erhebliche Rentenbeträge aus einem betrieblichen/privaten Anrecht, während der andere noch im Erwerbsleben steht und ggf. Unterhaltsansprüche geltend machen will, sollte erwogen werden, das betroffene Anrecht von der Teilung auszunehmen bzw. anderweitig zu kompensieren. Entsprechendes gilt, wenn einem der Beteiligten eine Erwerbsunfähigkeit droht, weil sein Schutz vor Erwerbsunfähigkeit beim Hin- und -Her-Ausgleich möglicherweise deutlich verschlechtert wird. Denn die Härtefallregelungen der §§ 33 ff. VersAusglG gelten nur für Anrechte der sog. Primärversorgung (§ 32 VersAusglG, s. dazu Rn. 341). c) Ausländische Versorgungsanrechte 397b
Ausländische Anrechte können nicht sofort, sondern erst im Wertausgleich nach der Scheidung ausgeglichen werden. Hier macht eine Vereinbarung Sinn, wenn die Beteiligten einen „clean break“, eine vollständige und abschließende Auseinandersetzung bei der Scheidung wünschen1. d) Schwere Erkrankung
397c Ist einer der Beteiligten so schwer erkrankt, dass sein Tod kurz bevorsteht, kann eine Vereinbarung Sinn machen, nach welcher die Anrechte des anderen Beteiligten nur schuldrechtlich, unterhaltsrechtlich oder auf andere Weise (zB Einräumung eines Wohnrechts) auszugleichen sind. Das schützt den Überlebenden über die Grenzen des § 37 VersAusglG hinaus vor einem endgültigen Verlust seiner Anrechte. Der Todkranke trägt bei der schuldrechtlichen Lösung das Risiko eines plötzlichen Versterbens des Ausgleichspflichtigen, weil beim schuldrechtlichen Ausgleich sein Ausgleichsanspruch dann erlischt2. Dies kann durch eine erbrechtliche Zusatzvereinbarung abzufedern sein, die nur dann gelten soll, wenn der Todkranke den Gesunden überlebt. e) Unwirtschaftliche Folgen 397d
Bezieht der Ausgleichsberechtigte eine Unfallrente, die auf seine gesetzliche Rente bereits teilweise angerechnet wird (§ 93 SGB VI), hilft ihm die Übertragung weiterer gesetzlicher Anrechte nicht (Fall des § 19 Abs. 1 Nr. 3 VersAusglG); hier kann eine Abfindungsregelung Sinn machen3.
1 Vgl. Kemper, ZfE 2011, 180. 2 Vgl. Kemper, ZfE 2011, 182. 3 Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 918.
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Versorgungsausgleich
Rn. 397h
Kap. 11
f) Freiberufliche Praxen, Immobilien Der Ausgleich des Werts freiberuflicher Praxen im Zugewinnausgleich 397e kann für den Praxisinhaber existenzbedrohend sein. Häufig findet aber gerade in der Praxisgründungsphase eine unzureichende Absicherung für das Alter statt mit der Folge, dass der eine Ehegatte/Lebenspartner im Zugewinnausgleich ausgleichspflichtig ist, der andere dagegen im Versorgungsausgleich. Hier bietet sich eine Verrechnung an, weil sie zu einer „zeitlichen Harmonisierung“ führt1. Eine entsprechende Situation kann sich ergeben, wenn die Eheleute/Lebenspartner Miteigentümer einer Immobilie sind, die „gehalten“ werden soll2. g) Anrechte von Landesbeamten Anrechte von Landesbeamten werden derzeit nicht intern, sondern ex- 397f tern durch Begründung eines Anrechts bei einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung ausgeglichen (§ 16 VersAusglG). Nachteil ist, dass die so begründeten Anrechte in der gesetzlichen Rentenversicherung zu Beiträgen zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung herangezogen werden, während bei Beamtenversorgungen nur ein Abzug für Pflegeleistungen erfolgt (zB § 50f BeamtVG)3. Die Teilung der Versorgungsanrechte von Landesbeamten bringt damit nur Nachteile, aber für keinen Beteiligten Vorteile hervor. Deswegen sollten derartige Anrechte, soweit es geht, stets durch Vereinbarung (ggf. gegeneinander oder mit gesetzlichen Rentenanrechten) saldiert werden4. h) Phasenverschobene Ehe Ehen mit großem Altersunterschied können dazu führen, dass nur ein 397g Ehegatte in der Ehezeit Anrechte erwirbt. während der andere sich entweder noch in der Ausbildung befindet oder – anders herum – bereits Rentner ist. Weil in derartigen Konstellationen ein nach § 27 VersAusglG zu korrigierender Härtefall vorliegen kann, bietet sich auch der Ausschluss des Versorgungsausgleichs an. i) Fehlender Bedarf für einen Versorgungsausgleich Bei einer Doppelverdienerehe ohne Kinder(wunsch), bei Ehen im fortgeschrittenen Alter sowie allgemein bei beiderseitig deutlich gehobenen wirtschaftlichen Verhältnissen kann das Bedürfnis für einen Versorgungsausgleich fehlen5; zur Erleichterung des Scheidungsverbundverfahrens
1 2 3 4 5
HK-Familienrecht/Hauß, § 6 VersAusglG Rn. 13. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 921, 922. Zu möglichen weiteren Nachteilen s. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 923. Münch, FPR 2011, 509. Vgl. Münch, FPR 2011, 508.
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1279
397h
Kap. 11 Rn. 398
Versorgungsausgleich
kann es in diesen Fällen sinnvoll sein, den Versorgungsausgleich auszuschließen.
XI. Abänderung der Entscheidungen und Vereinbarungen 398
Die Regelungen zur Abänderung einer Entscheidung zum Wertausgleich bei der Scheidung sind in den §§ 225, 226 FamFG enthalten. Außerdem fasst § 227 FamFG Änderungsmöglichkeiten im (schuldrechtlichen) Wertausgleich nach Scheidung und bei Parteivereinbarungen zum Versorgungsausgleich zusammen.
399
Wesentlicher Unterschied zum alten Recht ist zunächst, dass eine Totalrevision nicht mehr stattfindet. Eine solche Totalrevision kommt nur bei der Abänderung von Altentscheidungen nach den §§ 51 f. VersAusglG in Betracht (dazu s.u. Rn. 546 ff.). Nach dem neuen Ausgleichsmodus, der ja auf eine weitgehende systeminterne Teilung von Anrechten hinausläuft, ist sie nicht mehr erforderlich. Korrekturen finden vielmehr nur noch hinsichtlich einzelner Anrechte statt.
400
Die Systemumstellung hat zudem bewirkt, dass bestimmte Abänderungsgründe entfallen sind. So kommt eine Abänderung des Wertausgleichs bei Scheidung deswegen, weil ein verfallbares Anrecht der betrieblichen Altersvorsorge mittlerweile unverfallbar geworden ist (§ 10a Abs. 1 Nr. 2 VAHRG aF), nach neuem Recht nicht mehr in Betracht. Denn betriebliche Rentenanwartschaften, die im Zeitpunkt der Erstentscheidung noch verfallbar sind, unterfallen nach neuem Recht dem Ausgleich nach Scheidung (schuldrechtlicher Versorgungsausgleich, § 19 Abs. 1, 2 Nr. 1, 4 VersAusglG; s. Rn. 271, 275).
401
Auch eine Abänderung aus dem Grund, dass ein in der Vorentscheidung dem schuldrechtlichen Ausgleich überlassenes Anrecht später öffentlichrechtlich oder durch Realteilung ausgeglichen werden kann (§ 10a Abs. 1 Nr. 3 VAHRG aF), ist nicht mehr denkbar, weil alle Anrechte, die teilungsreif sind, im Wertausgleich bei der Scheidung auch berücksichtigt werden1, während die nicht teilungsreifen Anrechte dauerhaft dem schuldrechtlichen Ausgleich überlassen werden.
402
Das neue Recht wirkt sich auch auf die Abänderungsvoraussetzungen aus. War nach altem Recht für eine Abänderung nach § 10a Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2 VAHRG aF eine wesentliche Änderung der Ausgleichsbilanz erforderlich, so ist nach neuem Recht regelmäßig eine wesentliche Änderung eines einbezogenen Anrechts ausreichend. Eine Ausnahme wird für die Abänderung von Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich zu gelten haben (dazu s. näher unten Rn. 426 f.).
1 BT-Drucks. 16/10144, 98.
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Versorgungsausgleich
Rn. 405
Kap. 11
1. Versorgungsausgleich bei Scheidung a) Der Abänderung unterliegende Anrechte Nach § 225 Abs. 1 FamFG ist die Abänderung des Wertausgleichs bei Scheidung auf die in § 32 VersAusglG genannten Anrechte der primären Altersvorsorge beschränkt. Dabei handelt es sich um Anrechte aus
403
– der gesetzlichen Rentenversicherung einschließlich Höherversicherung, – der Beamtenversorgung oder einer sonstigen Versorgung i.S.d. § 5 Abs. 1 SGB VI, – einer berufsständischen oder sonstigen Versorgung i.S.d. § 6 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB VI, – der Alterssicherung der Landwirte und – den Versorgungssystemen der Abgeordneten und Regierungsmitglieder des Bundes und der Länder. Nicht einbezogen in die Abänderbarkeit sind also Anrechte der (sekun- 404 dären) betrieblichen und privaten Altersvorsorge. Der Gesetzgeber ist damit einer entsprechenden Empfehlung der Kommission „Strukturreform des Versorgungsausgleichs“ gefolgt. Bei einer internen Teilung könne es nicht zu einer unterschiedlichen Wertentwicklung kommen, weil der ausgleichsberechtigte Ehegatte an der künftigen Wertentwicklung des geteilten Anrechts teilnehme. Bei einer externen Teilung würde ein nachträglicher Korrekturversuch vor unüberbrückbaren Schwierigkeiten stehen, weil die unterschiedliche Entwicklung der Anrechte nach externer Teilung hier systemimmanent sei. Diese Abweichungen seien aufgrund der engen Voraussetzungen der externen Teilung entweder von den Parteien nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 VersAusglG akzeptiert oder bei geringfügigen Ausgleichswerten von ihnen hinzunehmen1. Veränderungen bei der Bewertung eines Anrechts der betrieblichen Altersvorsorge könnten sich nur zum Vorteil des Ausgleichsberechtigten ergeben und seien dann auch über den Versorgungsausgleich nach Scheidung ausgleichsfähig. Das bezieht sich auf die Dynamik betrieblicher Anrechte, die – etwa bei engehaltsbezogenen Anrechten – noch verfallbar sein kann. Diese Anrechte können nur, soweit sie schon unverfallbar sind, bei Scheidung ausgeglichen werden. Im Übrigen werden sie schuldrechtlich nach den §§ 20 ff. VersAusglG ausgeglichen, so dass deswegen die Entscheidung zum Wertausgleich bei Scheidung nicht abgeändert werden muss2. Kritisiert wird an der Beschränkung der Abänderbarkeit auf Primärversor- 405 gungsanrechte, dass Berechnungen, die auf fehlerhaften Auskünften oder auf offensichtlichen Fehlern des Ausgangsgerichts beruhen, nicht korrek-
1 BT-Drucks. 16/10144, 98. 2 Vgl. Prütting/Helms/Wagner, § 225 FamFG Rn. 3; Gutdeutsch/Wagner in FAFamR, Kap. 7, Rn. 142 f.
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Kap. 11 Rn. 406
Versorgungsausgleich
turfähig sind1. Entsprechendes gilt für ganz vergessene Anrechte der betrieblichen/privaten Altersvorsorge2. Außerdem könnten sich auch bei Betriebsrenten nach dem Ehezeitende rechtliche oder tatsächliche Veränderungen ergeben, welche sich auf den Ausgleichswert auswirken3.
Û
Praxistipp: Die zitierte Kritik ist mit verfassungsrechtlichen Bedenken verbunden4. In geeigneten Fällen wird diesen Bedenken nachzugehen sein.
b) Abänderungsvoraussetzungen aa) Nachträgliche rechtliche oder tatsächliche Veränderung 406
Die Abänderung setzt eine rechtliche oder tatsächliche Veränderung nach dem Ende der Ehezeit voraus, die auf den Ausgleichswert eines Anrechts zurückwirkt und diesen wesentlich ändert.
407
Auch hierin liegt eine Veränderung gegenüber dem alten Recht. Die Abänderungsvoraussetzungen sind als Voraussetzungen einer Rechtskraftdurchbrechung denjenigen des § 323 ZPO und des § 238 FamFG angepasst. Durch das Erfordernis der nachträglichen rechtlichen oder tatsächlichen Veränderung ist insbesondere die nach altem Recht (§ 10a VAHRG) mögliche einfache Fehlerkorrektur der Ausgangsentscheidung grundsätzlich ausgeschlossen5. Lediglich anlässlich einer aus anderen Gründen eröffneten Abänderungsentscheidung dürfen die betroffenen Versorgungsträger auch Berechnungs- und Buchungsfehler berichtigen6. Nach dem klaren Gesetzeswortlaut berechtigen aber auch solche Veränderungen nach Ehezeitende, die das Ausgangsgericht nach § 5 Abs. 2 S. 2 VersAusglG hätte berücksichtigen müssen, zur Abänderung (§ 225 Abs. 2 FamFG).
408
Beispiele für nachträgliche Änderungen sind die nachträgliche Anerkennung von rentenrelevanten Zeiten (wie Kindererziehungszeiten) oder die vorzeitige Dienstunfähigkeit eines Beamten, welche zu einer veränderten Berechnung des Ehezeitanteils seines Versorgungsanrechts führt.
409
Keinen Abänderungsgrund stellt ein Wertunterschied dar, der sich bei externer Teilung aus der unterschiedlichen Dynamik des auszugleichenden und des begründeten Anrechts ergibt7. 1 Schriftliche Stellungnahme Hauß im Anhörungsverfahren vor dem Rechtsausschuss v. 3.12.2008, S. 12 f.; Schriftliche Stellungnahme Niehaus, S. 6 ff. 2 Vergessene Anrechte können aber möglicherweise noch schuldrechtlich ausgeglichen werden; dazu s. Rn. 287b. 3 Ruland, NZS 2008, 225 (237); Rehme, FuR 2008, 474 f. 4 Überblick bei Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 928 mwN. 5 Kritisch hierzu Niehaus in ihrer Stellungnahme vor dem Rechtsausschuss, S. 7 f. 6 BT-Drucks. 16/10144, 98. 7 BT-Drucks. 16/10144, 98.
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Versorgungsausgleich
Rn. 414
Kap. 11
bb) Wesentlichkeitsgrenze Wie nach dem altem Recht (§ 10a Abs. 2 VAHRG) ist die Abänderung von 410 Entscheidungen zum Versorgungsausgleich vom Erreichen einer Wesentlichkeitsgrenze abhängig, § 225 FamFG. Diese bezieht sich nunmehr auf das einzelne betroffene Anrecht, dessen Ausgleichswert nach § 225 Abs. 3 FamFG – sich zum einen mindestens um 5 % verändert haben muss und – zum andern bei einer Rente 1 % (2012: 26,25 Euro) und bei einem Kapitalbetrag 120 % (2012: 3150 Euro) der jeweils zum Ehezeitende1 maßgeblichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV übersteigen muss. Nach § 225 Abs. 4 FamFG kommt es ausnahmsweise auf die Wesentlich- 411 keitsgrenze nicht an, wenn die ausgleichsberechtigte Person durch die Abänderung eine Wartezeit für den Bezug einer Rente erfüllt (zB §§ 50–52, 243b SGB VI); denn dann ist die Wirkung der Abänderung gleichwohl wesentlich. cc) Auswirkung zugunsten eines Ehegatten Eine Abänderung ist nur zulässig, wenn sie sich zugunsten eines Ehe- 412 gatten/Lebenspartners oder seiner Hinterbliebenen auswirkt. Begehrt ein Versorgungsträger eine Abänderung, die sich zulasten des ausgleichspflichtigen Ehegatten auswirkt, während der hierdurch begünstigte Ehegatte nachkommenslos verstorben ist, fehlt es an dieser Voraussetzung2; entsprechendes gilt, wenn sich die Abänderung für den begünstigten Ehegatten/Lebenspartner wegen einer Anrechnungsregelung (zB § 93 SGB VI oder § 55 BeamtVG) nicht auswirkt3 c) Verfahren Den Abänderungsantrag können neben den Ehegatten und ihren Hinterbliebenen auch die betroffenen Versorgungsträger stellen, § 226 Abs. 1 FamFG, letztere aber nur zugunsten eines der Ehegatten (s.o. Rn. 412).
413
Anders als nach dem alten Recht ist dieser Antrag nach § 226 Abs. 2 414 FamFG nur noch zeitnah, nämlich frühestens sechs Monate vor dem (ggf. unter Einbeziehung der Abänderungsentscheidung4) zu erwartenden Rentenbeginn zulässig. Dadurch soll vermieden werden, dass mehrere Abänderungsverfahren vor dem Renteneintritt durchgeführt werden; die Abänderungsgründe sollen möglichst in einem Verfahren gebündelt geltend gemacht werden5. 1 2 3 4
Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 1020. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 1179. Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 1029; DRV-Komm., § 225 FamFG Anm. 6. Etwa dann, wenn der Antragsteller durch die Abänderungsentscheidung die Wartezeit für eine Erwerbsunfähigkeitsrente erfüllt. 5 BT-Drucks. 16/10144, 99.
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Kap. 11 Rn. 415
Versorgungsausgleich
415
Die schematische Abänderung kann – auch unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse beider Ehegatten – grob unbillig sein. Deshalb erklärt § 226 Abs. 3 FamFG den § 27 VersAusglG für entsprechend anwendbar.
416
Die Wirkung der Abänderungsentscheidung tritt im Versorgungsausgleich bei Scheidung nach § 226 Abs. 4 FamFG mit dem ersten Tag des auf die Antragstellung folgenden Monats ein (zu den Wirkungen bei externer Teilung s. aber Rn. 256 ff.). Die Versorgungsträger sind durch § 30 VersAusglG vor einer doppelten Inanspruchnahme bis mindestens einen Monat nach Kenntnisnahme von der Rechtskraft der Entscheidung geschützt. Zuviel- oder Zuwenigzahlungen bei bereits laufenden Versorgungen müssen die beteiligten Ehegatten/Lebenspartner bzw. deren Hinterbliebene untereinander nach den Regeln des Bereicherungsrechts abwickeln (dazu näher Rn. 489 f.).
Û
Praxistipp: Sind beide Ehegatten/Lebenspartner bereits Rentner, kann es bei voraussichtlich längerer Verfahrensdauer geboten sein, derartige Bereicherungsansprüche durch eine einstweilige Anordnung1 zu sichern.
417
Die Folgen des Versterbens einer Partei während des laufenden Verfahrens regelt § 226 Abs. 5 FamFG entsprechend § 10a Abs. 10 VAHRG aF. Stirbt die antragstellende Partei und hinterlässt antragsberechtigte Hinterbliebene, so können diese das Verfahren auf Verlangen fortsetzen. Darüber sind sie vom Gericht zu informieren. Die Frist für das Fortsetzungsverlangen beträgt einen Monat nach Erhalt der gerichtlichen Information2. Läuft sie ohne Ergebnis ab, so gilt das Verfahren als in der Hauptsache erledigt. Stirbt der Antragsgegner, wird das Verfahren gegen dessen Erben fortgesetzt. 2. Wertausgleich nach Scheidung
418
Für die Abänderung eines Wertausgleichs nach Scheidung verweist § 227 Abs. 1 FamFG auf § 48 Abs. 1 FamFG. Diese Abänderung ist nicht auf die Anrechte der Primärversorgung beschränkt. Solche Anrechte werden auch nur selten erst nach der Scheidung ausgeglichen. a) Der Abänderung unterliegende Entscheidungen
419
Nach § 48 FamFG sind nur rechtskräftige Entscheidungen mit Dauerwirkung abänderbar. Der Gesetzgeber nennt (folgerichtig) auch nur drei Fälle des Wertausgleichs nach Scheidung: 1 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 754, hält hierbei § 246 FamFG für analog anwendbar. 2 Früher: drei Monate, aber ohne Informationspflicht des Gerichts, § 10a Abs. 10 VAHRG aF.
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Versorgungsausgleich
Rn. 423
Kap. 11
– die schuldrechtliche Ausgleichsrente (§ 20 VersAusglG), – deren Abtretung (§ 21 VersAusglG) und – die Beteiligung an der Hinterbliebenenversorgung des Ausgleichspflichtigen (§§ 25 f. VersAusglG). Es entspricht damit offenbar der Absicht des Gesetzgebers, dass die Rege- 420 lungen – der Kapitalzahlung (§ 22 VersAusglG) und – der Abfindung eines Ausgleichsanspruchs (§ 23 VersAusglG) nicht abänderbar sein sollen1. Zu den Gründen hat sich der Gesetzgeber nicht geäußert. Sollte sich zukünftig auch für die Fälle der §§ 22 f. VersAusglG Abänderungsbedarf ergeben, wird es freilich Aufgabe der Rechtsprechung sein zu definieren, ob auch die Regelung einer Einmalzahlung, wenn sie in ein Anrecht der Altersvorsorge zu investieren ist (§ 23 Abs. 1 VersAusglG), eine Dauerwirkung i.S.d. § 48 FamFG erzeugt. Einstweilen frei
421
b) Abänderungsvoraussetzungen Wie bei der Abänderung des Wertausgleichs bei Scheidung setzt die Abänderung des Wertausgleichs nach der Scheidung eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage voraus. Insoweit kann auf die Ausführungen oben (Rn. 406 ff.) verwiesen werden.
422
Die Änderung muss auch nach § 48 Abs. 1 FamFG wesentlich sein. Der 423 Begriff „wesentlich“ wird hier allerdings nicht definiert; das wäre auch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, weil § 48 FamFG für alle im FamFG geregelten Verfahren gilt, soweit nicht ausdrücklich eine abweichende Bestimmung getroffen ist. Nahe liegend ist, hierfür § 225 Abs. 3 FamFG analog anzuwenden, zumal die Gesetzesbegründung keinen Hinweis darauf enthält, dass sich die Wesentlichkeitsgrenzen für die Abänderung des Wertausgleichs bei Scheidung und nach Scheidung nicht entsprechen sollen2. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen (Rn. 410) verwiesen. Die Ausnahme von der Wesentlichkeitsgrenze nach § 225 Abs. 4 FamFG kann dagegen im Wertausgleich nach Scheidung keine Anwendung finden.
1 BT-Drucks. 16/10144, 98; ebenso Prütting/Helms/Wagner, § 227 FamFG Rn. 2 f.; hierzu kritisch Ruland in seiner schriftlichen Stellungnahme vor dem Rechtsausschuss, S. 36 f. Für eine Abänderbarkeit auch insoweit allerdings Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 1046; Johannsen/Henrich/Hahne, § 227 FamFG Rn. 1. 2 Str.; wie hier Prütting/Helms/Wagner, § 227 FamFG Rn. 6; Bergner, KomRefVA, § 227 FamFG Anm. 2; Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 1049; aA Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 1191: 10 %.
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Kap. 11 Rn. 424
Versorgungsausgleich
c) Verfahren 424
Wie der Wertausgleich nach Scheidung selbst, wird auch dessen Abänderung nur auf Antrag durchgeführt. Der Versorgungsträger, bei dem ein Anrecht besteht, das teilweise abgetreten ist, hat hier mangels Rechtsschutzinteresse kein Antragsrecht. Beantragt die ausgleichsberechtigte Person eine Erhöhung der Ausgleichsrente, gelten für die Fälligkeit und die Möglichkeit, den Anspruch rückwirkend geltend zu machen, die Regelungen der §§ 20 Abs. 2 und 3 VersAusglG entsprechend (dazu s. Rn. 293). Gleiches gilt, soweit mit dem Erhöhungsbegehren auch ein erweiterter Abtretungsanspruch geltend gemacht wird, für die Regelungen des § 21Abs. 1–3 VersAusglG (dazu s. Rn. 296). 3. Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich
425
Auf die Abänderung von Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich sind nach § 227 Abs. 2 FamFG die Regelungen zur die Abänderung des Versorgungsausgleichs bei Scheidung (§§ 225 f. FamFG) entsprechend anzuwenden. Voraussetzung ist allerdings, dass die Parteien die Abänderung in ihrer Vereinbarung nicht wirksam ausgeschlossen haben. Nach dem Wortlaut des § 227 Abs. 2 FamFG gilt dies auch für noch nach altem Recht getroffene Vereinbarungen; dabei dürften ggf. Rechtsgedanken der Übergangsregelungen in den §§ 51, 52 VersAusglG (dazu s.u. Rn. 546 ff.) entsprechend heranzuziehen sein1.
426
Der Verweis auf die §§ 225 f. FamFG erscheint allerdings unglücklich und wirft Probleme auf. Da materiell-rechtlich eine Abänderung von Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich das Fehlen oder den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) voraussetzt, was eine Betrachtung der Vereinbarung im Ganzen bedingt, bereitet zunächst die Einschränkung der abänderbaren Rechte auf Primärversorgungsanrechte (§ 225 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 32 VersAusglG) für diesen Fall Schwierigkeiten. Man wird aus dem Verweis schließen müssen, dass eine Vereinbarung zum Versorgungsausgleich nur dann abänderbar ist, wenn von der rechtlichen oder tatsächlichen Veränderung ein oder mehrere Anrechte der Primärversorgung i.S.d. § 32 VersAusglG betroffen sind. Für Vereinbarungen über den Wertausgleich nach der Scheidung, welche eine Entscheidung des Familiengerichts hierüber völlig entbehrlich machen, gilt der Verweis in § 227 Abs. 2 FamFG nicht; es gelten vielmehr die allgemeinen Regeln über Fehlen oder Wegfall der Geschäftsgrundlage2.
427
Der Verweis auf § 225 Abs. 2 FamFG sowie auf die Wesentlichkeitsgrenze des § 225 Abs. 3 FamFG kann dahin verstanden werden, dass bereits dann, wenn die Veränderung eines einzelnen Anrechts die Wesentlich1 Prütting/Helms/Wagner, § 227 FamFG Rn. 7 mwN. 2 Vgl. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 803, 1194. Nach anderer Ansicht (Prütting/Helms/Wagner, § 227 FamFG Rn. 7 mwN) ist § 48 FamFG hierauf anzuwenden.
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Versorgungsausgleich
Rn. 430
Kap. 11
keitsvoraussetzungen erfüllt, stets auch die Abänderung einer Vereinbarung verlangt werden kann1. Bei diesem Verständnis würde allerdings für Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich der sonst gültige Maßstab für Anpassungen nach den Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage verändert. Insoweit können die Abs. 2 und 3 des § 225 FamFG auch lediglich als eine zusätzliche Abänderungsvoraussetzung zu verstehen sein, die kumulativ vorliegen muss. Maßgeblich für die Abänderung wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage ist dann die Frage, ob die eingetretene Veränderung im Hinblick auf die gesamte Vereinbarung so wesentlich ist, dass sie das Verlangen nach einer Abänderung rechtfertigen kann. Dafür wird man in Anlehnung an die im Unterhaltsrecht geltenden Maßstäbe verlangen müssen, dass sich die Veränderung auf die auszugleichenden Anrechte iHv. 10 % auswirkt2. Im Einzelfall kann sich die Wesentlichkeit der Veränderung aber auch aus anderen Umständen ergeben, wie etwa, wenn es um die Erfüllung der Wartezeit für eine Rente geht (§ 225 Abs. 4 FamFG). Im Übrigen gelten die Ausführungen zur Abänderung des Versorgungsausgleichs bei Scheidung (Rn. 403 ff.) sinngemäß.
428
XII. Versorgungsausgleich bei Auslandsberührung Besondere Schwierigkeiten mit der Durchführung des Versorgungsausgleichs können bei Auslandsberührung auftreten. Folgende Fallkonstellationen sind denkbar:
429
– Durchführung des Versorgungsausgleichs, wenn mindestens einer der Ehegatten nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat, Art. 17 Abs. 3 EGBGB; – Einbeziehung von Versorgungsanrechten bei ausländischen Versorgungsträgern in den nach deutschem Recht durchzuführenden Versorgungsausgleich. 1. Versorgungsausgleich bei Scheidung von Nichtdeutschen Ist an einem Scheidungsverbundverfahren oder an einem isolierten Ver- 430 sorgungsausgleichsverfahren mindestens ein Ehegatte beteiligt, der nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, sind zwei Fragen zu klären: – die Frage nach der internationalen (und örtlichen) Zuständigkeit deutscher Gerichte und – die Frage nach dem anzuwendenden Sachrecht. 1 So Prütting/Helms/Wagner, § 227 FamFG Rn. 9. 2 Ähnlich Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 1191. Nach Ansicht von FA-FamR/ Gutdeutsch/Wagner, Kap. 7, Rn. 258 mwN, verdrängen die §§ 225 f. FamFG die Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage; gleichwohl wird auch hier das Problem gesehen, die Wesentlichkeitsgrenze zu bestimmen.
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Kap. 11 Rn. 431
Versorgungsausgleich
Diese Fragen werden im Kapitel zum internationalen Familienrecht (Kap. 16 Rn. 72 ff.) behandelt, auf die an dieser Stelle verwiesen wird. 431–440 Einstweilen frei 2. Einbeziehung ausländischer Anrechte in den deutschen Versorgungsausgleich 441
Das VersAusglG bezieht auch die Anrechte, die bei ausländischen, zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Versorgungsträgern bestehen, in den Versorgungsausgleich ein (§ 2 Abs. 1 VersAusglG). An den Erwerb solcher Anrechte ist deshalb immer zu denken, wenn eine Partei während der Ehezeit im Ausland gelebt und/oder gearbeitet hat. Dabei ist zuerst zu klären, ob ein ausländisches Anrecht vorliegt; sodann, ob es nach seiner Eigenart zu den im Versorgungsausgleich zu berücksichtigenden Rechten zählt. In einem letzten Schritt ist über die Konsequenzen der Einbeziehung nachzudenken.
442
Nicht immer, wenn eine Partei während der Ehezeit im Ausland gearbeitet hat, entstehen dadurch Anrechte bei ausländischen Versorgungsträgern. Möglich ist, dass die im Ausland zurückgelegten Zeiten sich auf die Rente der gesetzlichen Rentenversicherung auswirken. Entsprechende Regelungen finden sich zwar nicht im SGB VI1; allerdings gibt es zwischen- und überstaatliche Sozialversicherungsabkommen und EG-Verordnungen, wonach ausländische Beitragszeiten deutschen Versicherungszeiten gleichgestellt und in der gesetzlichen Rentenversicherung berücksichtigt werden; Informationen hierzu sind über die Verbindungsstellen der gesetzlichen Rentenversicherung zu erlangen2.
443
Steht nach der Prüfung fest, dass ein ausländisches Anrecht besteht, folgt daraus noch nicht zwangsläufig, dass es auch in den Versorgungsausgleich einzubeziehen ist. Einige ausländische Rentenanrechte haben den Charakter einer beitragsunabhängigen, steuerfinanzierten Grundsicherung; sie sind dann nicht in den Versorgungsausgleich einzubeziehen, weil sie nicht durch Arbeit oder Vermögen i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 1 VersAusglG geschaffen worden sind3. Für die niederländische AOW-Pension ist dies sehr umstritten; der BGH hat die Einbeziehung in den Versorgungsausgleich bejaht4. 1 Vgl. §§ 66, 113 SGB VI. 2 Einzelheiten bei Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 309, 1037. 3 OLG Bamberg v. 24.9.1979 – 2 UF 73/79, FamRZ 1980. 62 f.: schwedische Volksrente; OLG Koblenz v. 6.1.1981 – 11 UF 564/80, FamRZ 1981, 293: australische Rente; Gegenbeispiel: OLG Hamm v. 12.1.2001 – 4 UF 73/01: US-social security. 4 BGH v. 6.2.2008 – XII ZB 66/07, FamRZ 2008, 770 ff. = FamRBint 2008, 51 mwN zum Streitstand; BGH v. 3.9.2008 – XII ZB 203/06, FamRZ 2008, 2263 f. = FamRBint 2009, 1; zur Problematik eingehend Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 92, 1036.
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Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 447
Kap. 11
Ist ein ausländisches Anrecht danach in den Versorgungsausgleich ein- 444 zubeziehen, ergeben sich Probleme, weil die ausländischen Versorgungsträger selbst nicht dem Regelungsbereich des deutschen Gesetzgebers unterliegen. Das schließt sowohl die interne als auch die externe Teilung von Anrechten bei ausländischen Versorgungsträgern aus. Diese können demnach auch weder am Versorgungsausgleichsverfahren beteiligt (§ 219 Nr. 2 und 3 FamFG) noch zur Erteilung von Auskünften verpflichtet werden (§ 220 Abs. 4 und 5 FamFG). Dieses Dilemma regelt das VersAusglG, indem es die ausländischen 445 Anrechte zunächst einmal als nicht teilungsreif (§ 19 Abs. 2 Nr. 4 VersAusglG) einstuft und damit dem (schuldrechtlichen) Versorgungsausgleich nach Scheidung vorbehält. Bei einem erheblichen Wert dieser Anwartschaften sieht § 19 Abs. 3 VersAusglG vor, dass ein Wertausgleich bei Scheidung nicht stattfindet, soweit dies für den anderen Ehegatten unbillig wäre. Hierdurch wird vermieden, dass ein Ehegatte seine inländischen Anrechte bereits bei Scheidung vollständig ausgleichen muss und hinsichtlich der Anrechte des anderen Ehegatten weitgehend in den unsichereren Wertausgleich nach Scheidung verwiesen wird. Möglich ist eine teilweise, aber auch eine vollständige Verweisung („soweit“) in den schuldrechtlichen Versorgungsausgleich. Die Probleme bei Ermittlung des Werts und des Ehezeitanteils auslän- 446 discher Anrechte1 führen zu der Frage, was bei Unaufklärbarkeit solcher Anrechte passiert. Nach dem alten Recht bestand hier das Problem, dass eine Saldierung unmöglich wurde. War der per Saldo Ausgleichspflichtige Inhaber eines solchen Anrechts, konnte der Versorgungsausgleich zumindest hinsichtlich der ohne das ausländische Anrecht bestehenden Differenz durchgeführt werden; im Übrigen war der schuldrechtliche Versorgungsausgleich vorzubehalten. Hatte der ansonsten Ausgleichsberechtigte ein solches Anrecht, konnte ein öffentlich-rechtlicher Versorgungsausgleich nicht durchgeführt werden, weil nicht klar war, in welchem Umfang sich die Differenz der beiderseitigen Anwartschaften durch das ausländische Anrecht verringerte. Das geltende Recht ist flexibler. Es ermöglicht einen teilweisen Wertausgleich bei Scheidung, wenn der Wert des ausländischen Anrechts (anhand der gezahlten Beiträge oder der im Ausland verbrachten Arbeitszeit und des der Verbeitragung zugrunde liegenden Arbeitsentgelts) ungefähr eingeschätzt werden kann (§ 19 Abs. 3 VersAusglG). Außerdem können die Parteien ihre erweiterten Spielräume zu vertraglichen Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich (§§ 6–8 VersAusglG) nutzen.
1 Zu möglichen Wegen der Ermittlung eingehend Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 1041 ff.
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Kap. 11 Rn. 448
Û
Versorgungsausgleich
Praxistipp: Familiengerichte neigen aus Bequemlichkeit dazu, bei Existenz ausländischer Anrechte von ungeklärtem Wert insgesamt von der Durchführung des Wertausgleichs bei Scheidung nach § 19 Abs. 3 VersAusglG abzusehen. Für den Ehegatten/Lebenspartner, der über ein geringwertiges ausländisches Anrecht verfügt, insgesamt per Saldo aber ausgleichsberechtigt ist, ist dies gefährlich, weil er bei Versterben des anderen einen Wertausgleich überhaupt nicht mehr erlangt; auch die Teilhabe an der Hinterbliebenenversorgung ist ihm verwehrt (§ 25 Abs. 2 VersAusglG). Es liegt deswegen im Interesse dieser Partei, den Wert ihres ausländischen Anrechts aufzuklären, damit von § 19 Abs. 3 VersAusglG auch nur eingeschränkt Gebrauch gemacht wird1.
XIII. Anwendung des VersAusglG auf Lebenspartnerschaften (Art. 12 VAStrRefG) 448
Für eingetragene Lebenspartnerschaften ist der Versorgungsausgleich durch das PartÜG v. 15.12.20042 eingeführt worden (§ 20 LPartG). Für die vor dem 1.1.2005 eingetragenen Lebenspartnerschaften enthielten die §§ 20 Abs. 5 aF (jetzt: § 20 Abs. 4), 21 Abs. 4 LPartG eine Übergangsregelung. Danach konnten die Lebenspartner durch übereinstimmende, notariell beurkundete Erklärungen gegenüber dem Amtsgericht ihres Wohnortes bis zum 31.12.2005 die Anwendung des Versorgungsausgleichs entsprechend § 20 LPartG herbeiführen. Diese Übergangsregelung war aus Gründen des Vertrauensschutzes notwendig3.
449
Die Durchführung des Versorgungsausgleichs erfolgte entsprechend dem ehelichen Versorgungsausgleich. Dazu wurde eine Lebenspartnerschaftszeit parallel zur Ehezeit (§ 20 Abs. 2 LPartG) und die Möglichkeit, den Versorgungsausgleich durch Vertrag zu regeln (§ 20 Abs. 3 LPartG aF), aufgenommen. Im Übrigen wurde auf die Regelungen zum Versorgungsausgleich zwischen Ehegatten verwiesen (§ 20 Abs. 4 aF LPartG).
450
Ausgenommen hiervon waren die Härtefallregelungen der §§ 4–6 und 8 VAHRG aF; diese betrafen folgende Fälle: – Rücknahme der Kürzung der Versorgungsausgleichs hins. gesetzlicher Rentenanwartschaften/Beamtenversorgungsanwartschaften bei frühem Tod des Berechtigten (§ 4 VAHRG aF);
1 Vgl. hierzu auch instruktiv OLG Celle v. 4.5.2011 – 10 UF 147/10, FuR 2011, 575. 2 BGBl. I, 3396. 3 DRV-Komm., § 20 LPartG Ziff. 6.
1290
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 472
Kap. 11
– Aussetzung der Kürzung des Versorgungsausgleichs in Unterhaltsfällen einschließlich zu erbringender Nachzahlungen (§§ 5, 6 VAHRG aF); – Rückzahlung von Kapitalbeträgen, die der Ausgleichspflichtige an den Versorgungsträger geleistet hatte, um eine Kürzung aufgrund des Versorgungsausgleichs abzuwenden, in den Fällen des § 4 VAHRG aF (§ 8 VAHRG aF). Der Grund für diese Ausnahmen bestand darin, dass die Härteregelungen sich auch zulasten von Trägern der Beamtenversorgung auswirken konnten, zu denen auch die Länder zählen. Dies hätte das Überarbeitungsgesetz im Bundesrat zustimmungspflichtig gemacht. Die entsprechende Anpassung sollte daher einem späteren, zustimmungspflichtigen Gesetz vorbehalten bleiben.
451
Art. 12 VAStrRefG hat die Regelung des § 20 LPartG an das neue Ver- 452 sorgungsausgleichsrecht angepasst. Die Anwendbarkeit des neuen Rechts auf eingetragene Lebenspartnerschaften ist nunmehr in § 20 Abs. 1 LPartG zusammenfassend geregelt. Auch die Härtefallregelungen des neuen Rechts sind jetzt auf den Versorgungsausgleich unter Lebenspartnern anwendbar. Auf Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich nach § 7 LPartG sind die §§ 6–8 VersAusglG anwendbar (§ 20 Abs. 3 LPartG). Für Fälle mit Auslandsbezug ist hinsichtlich des anwendbaren Sachrechts 453 in Art. 17b EGBGB eine vergleichbare Regelung enthalten wie für den Versorgungsausgleich bei/nach Scheidung in Art. 17 Abs. 3 EGBGB.
XIV. Verfahren Die Verfahrensregelungen zur Durchführung des Versorgungsausgleichs 454 finden sich nahezu vollständig im FamFG. Besondere Verfahrensregelungen für den Versorgungsausgleich enthalten die §§ 217–228 FamFG. Hinsichtlich der Verfahrensregelungen wird auf die Ausführungen in Kap. 12 (dort insb. Rn. 396 ff.) verwiesen. An dieser Stelle sollen nur einige Besonderheiten behandelt werden. Einstweilen frei
455–471
1. Informationsbeschaffung und Auskunftsrechte Wie das alte Recht kennt auch das neue Recht den Dualismus zwischen 472 den – verfahrensrechtlichen – Auskunftspflichten der Beteiligten gegenüber dem Gericht einerseits und den Auskunftspflichten der Beteiligten untereinander.
Norpoth
1291
Kap. 11 Rn. 473
Versorgungsausgleich
a) Verfahrensrechtliche Auskunftspflichten 473
Die verfahrensrechtlichen Auskunftspflichten, die früher in § 53b Abs. 2 S. 2 und 3 FGG aF sowie in § 11 Abs. 2 VAHRG aF geregelt waren, finden sich nunmehr in § 220 FamFG. Sie sind das Werkzeug, welches das Familiengericht benötigt, um seiner Amtsermittlungspflicht (§ 26 FamFG) zu genügen.
474
Zur Auskunft gegenüber dem Familiengericht sind sämtliche nach § 219 FamFG zu Beteiligenden und sonstige Stellen verpflichtet, die Auskünfte geben können (§ 220 Abs. 1, 5 FamFG). Zu den sonstigen Stellen gehören ggf. frühere Arbeitgeber oder die Verbindungsstellen der gesetzlichen Rentenversicherung bei Aufklärung ausländischer Anrechte. Werden Auskünfte bei sonstigen Stellen eingeholt, erlangen diese allerdings nicht die Stellung eines Beteiligten (vgl. § 7 Abs. 6 FamFG)1. Bei der Auskunft sind übersandte gerichtliche Formulare zu verwenden, soweit nicht Versorgungsträger automatisiert erstellte Auskünfte erteilen (§ 220 Abs. 2 FamFG). Auf Anordnung des Gerichts sind die Ehegatten bzw. ihre Hinterbliebenen/Erben verpflichtet, gegenüber dem Versorgungsträger die zur Erteilung der Auskunft erforderlichen Mitwirkungshandlungen zu erbringen (§ 220 Abs. 3 FamFG).
475
Die Auskunftspflicht der Versorgungsträger konkretisiert § 220 Abs. 4 FamFG. Diese müssen mitteilen: – den Ehezeitanteil des bei ihnen bestehenden Anrechts (§ 5 Abs. 1 VersAusglG), – einen Vorschlag zur Bestimmung des Ausgleichswerts (§ 5 Abs. 3, Halbs. 1 VersAusglG), – ggf. einen Vorschlag zur Bestimmung eines korrespondierenden Kapitalwerts (§§ 5 Abs. 3, 2. Halbs., 47 VersAusglG); für den Versorgungsausgleich nach Scheidung nur der Rentenbetrag (§ 5 Abs. 4 VersAusglG), – eine übersichtliche und nachvollziehbare Berechnung der mitzuteilenden Werte, – die für die Teilung maßgeblichen Regelungen.
476
Zur Berechnung der mitzuteilenden Werte gehört die Benennung des angewandten versicherungsmathematischen Berechnungsverfahrens einschließlich des zugrunde gelegten Zinssatzes und der angewandten Sterbetafeln2. Verbleiben Unklarheiten, muss der Versorgungsträger auf Aufforderung des Gerichts die Einzelheiten der Wertermittlung – notfalls sogar im Termin mündlich – erläutern (§ 220 Abs. 4 S. 2 FamFG).
477
Wie nach altem Recht sind die für die Teilung maßgeblichen Regelungen mitzuteilen. Gemeint sind sämtliche für die Wertermittlung geltenden Grundlagen (vertragliche Bestimmungen, einschlägiges Satzungsrecht); 1 BT-Drucks. 16/10144, 94 f. 2 BT-Drucks. 16/10144, 95.
1292
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 481
Kap. 11
hat der Versorgungsträger dem Gericht diese einmal übersandt, kann er in der Folgezeit auf das betreffende Verfahren verweisen1. Zur Erzwingung der Auskunft oder von Mitwirkungshandlungen steht 478 dem Familiengericht die Möglichkeit offen, nach § 35 FamFG2 gegen den Auskunftspflichtigen ein Zwangsgeld zu verhängen. Anders als nach dem alten Recht (§ 33 FGG aF) ist auch die Verhängung einer (Ersatz)Zwangshaft möglich3. Der Beschluss, mit dem Zwangsgeld oder Ersatzzwangshaft festgesetzt wird, ist mit der sofortigen Beschwerde entsprechend den §§ 567–572 ZPO anfechtbar (§ 35 Abs. 5 FamFG). b) Auskunftsansprüche der Beteiligten untereinander Die Auskunftsansprüche der Beteiligten untereinander sind in § 4 Vers- 479 AusglG zusammengefasst. Solche Auskunftsansprüche waren nach altem Recht an folgenden Stellen geregelt: – in den §§ 1587e Abs. 1, 1587k Abs. 1 BGB, jeweils i.V.m. § 1580 BGB, – in § 3a Abs. 8 VAHRG, – in § 9 Abs. 4 VAHRG, – in § 10a Abs. 11 VAHRG. § 4 VersAusglG regelt nicht nur Auskunftsansprüche der Ehegatten untereinander, sondern auch Auskunftsansprüche der Versorgungsträger gegenüber den Ehegatten/Hinterbliebenen und umgekehrt.
480
Die Auskunftsansprüche der Ehegatten untereinander – ggf. von oder ge- 481 gen Hinterbliebene/Erben – ergeben sich aus § 4 Abs. 1 VersAusglG4. Die begehrte Auskunft muss für den Versorgungsausgleich erforderlich sein. Dazu muss sie zur Wahrnehmung der Rechte oder Interessen im Zusammenhang mit dem Versorgungsausgleich benötigt werden5. Die Ansprüche können auch schon vor Rechtshängigkeit eines Scheidungsverfahrens geltend gemacht werden, da sie ua. dazu dienen sollen, vorab eine Scheidungsfolgenvereinbarung zum Versorgungsausgleich zu ermöglichen6; 1 BT-Drucks. 16/10144, 95. 2 Vgl. Wick, FuR 2011, 608; Cirullies, FamRZ 2012, 158, auch zur Vollstreckung. Der Gesetzgeber erwähnt wohl fehlerhaft den § 95 Abs. 4 FamFG (BT-Drucks. 16/10144, 50), der aber einen Beschluss voraussetzt; § 35 FamFG greift dagegen schon, wenn einer gerichtlichen Anordnung (= Aufforderung zur Erteilung einer Auskunft) nicht Folge geleistet wird. 3 Die fehlende Anordnungsmöglichkeit der Zwangshaft nach altem Recht war bislang in der Praxis eine häufige Motivation für die Geltendmachung von Auskunftsansprüchen der Parteien untereinander während eines laufenden Scheidungsverbundverfahrens. Deswegen geht auch der Gesetzgeber davon aus, dass die Bedeutung des Auskunftsverfahrens unter den Eheleuten während des Scheidungsverbundverfahrens geringer geworden ist: BT-Drucks. 16/10144, 50. 4 Hierzu und zur Vollstreckung vgl. Cirullies, FamRZ 2012, 157 ff. 5 BT-Drucks. 16/10144, 49. 6 BT-Drucks. 16/10144, 49; Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 1122 mwN.
Norpoth
1293
Kap. 11 Rn. 482
Versorgungsausgleich
das birgt natürlich die Problematik in sich, dass das Ehezeitende noch nicht feststeht, so dass die Auskünfte nur eine ungefähre Wertermittlung ermöglichen. Die Auskunftspflicht erstreckt sich nur auf die in der Ehezeit erworbenen Versorgungen; sie umfasst selbst keinen Anspruch auf Wertermittlung1. 482
Nach § 4 Abs. 2 VersAusglG kann ein Ehegatte (oder dessen Hinterbliebene/Erben), der die erforderliche Auskunft vom anderen nicht erlangen kann, Auskunft von den betroffenen Versorgungsträgern verlangen. Zum Nachweis des erfolglosen Verlangens soll zB die Vorlage einer vergeblichen Mahnung reichen2.
483
Auch Versorgungsträger können im Einzelfall ein berechtigtes Auskunftsinteresse haben. Für diesen Fall bestimmt § 4 Abs. 3 VersAusglG sowohl Auskunftsansprüche gegen die Ehegatten (Hinterbliebenen/Erben) als auch der Versorgungsträger untereinander (zB Anspruch des Trägers einer Gesamtversorgungszusage gegenüber dem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung).
484
§ 4 Abs. 4 VersAusglG erklärt hinsichtlich der zu erteilenden Auskunft § 1605 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB für anwendbar. Die zu erteilenden Auskünfte sind danach auf Verlangen zu belegen. Erforderlichenfalls besteht Anspruch auf Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung (§ 1605 Abs. 1 S. 3 i.V.m. §§ 260, 261 BGB).
485
Der Auskunftsanspruch der Ehegatten gegeneinander kann sowohl als selbständige Familiensache als auch im Scheidungsverbund geltend gemacht werden3. Wird er in einem selbständigen Verfahren geltend gemacht, wird ein parallel laufendes Versorgungsausgleichsverfahren auszusetzen sein (§ 221 Abs. 2 FamG). Wird er im Scheidungsverbund geltend gemacht, ist über ihn vorab zu entscheiden4.
486
Das Familiengericht entscheidet über geltend gemachte Auskunftsansprüche durch Beschluss, der trotz seines Streitwerts (§ 50 Abs. 2 FamGKG: regelmäßig 500 Euro) mit der Beschwerde angreifbar ist (§ 228 FamFG). 2. Ergänzende Regelungen zum Verfahren a) Abfindungsverbot für Versorgungsträger
487
Während des laufenden Verfahrens darf der Versorgungsträger an die ausgleichspflichtige Person keine Zahlungen erbringen, die sich auf die Höhe des Ausgleichswerts auswirken können, § 29 VersAusglG. Die Vorschrift entspricht § 10d VAHRG aF. Gemeint sind Abfindungen, Kapitalisierun1 2 3 4
Vgl. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 1121. BT-Drucks. 16/10144, 50. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 1125 mwN. Vgl. hierzu näher Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 1125.
1294
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 490
Kap. 11
gen, Beitragserstattungen und sonstige Austrittsleistungen, welche das betroffene Anrecht bzw. seinen Ehezeitanteil (teilweise) zum Erlöschen bringen können1. Nicht erfasst sind (Renten-)Leistungen aus dem auszugleichenden Anrecht; diese können nach § 30 Abs. 1, 2 VersAusglG sogar innerhalb einer Übergangszeit nach Rechtskraft der Entscheidung zum Versorgungsausgleich noch mit befreiender Wirkung an die bislang berechtigte Person geleistet werden (s.u. Rn. 489 f.). Der Gesetzgeber hat nicht gesehen, dass immer dann, wenn der Ausgleichswert privater Rentenanrechte als Kapitalwert angegeben wird, auch bereits die laufenden Rentenleistungen während des Verfahrens diesen Kapitalwert und damit auch den Ausgleichswert verringern. Nach hier vertretener Ansicht erfolgen die laufenden Rentenzahlungen gleichwohl zu Recht; die Verringerung des Kapitalwerts und des Ausgleichswerts muss die ausgleichsberechtigte Person hinnehmen; das Familiengericht muss sie bei der Anrechtsteilung berücksichtigen2. Erbringt der Versorgungsträger in nicht vorwerfbarer Unkenntnis vom 488 laufenden Verfahren Abfindungszahlungen, ist er nach § 407 BGB vor einer Inanspruchnahme auf Schadenersatz geschützt3. b) Schutz des Versorgungsträgers vor Doppelzahlungen Nach § 30 VersAusglG4 ist der Versorgungsträger, der innerhalb einer 489 bereits bestehenden Leistungspflicht Rentenzahlungen erbringt, bei einer Teilung des Anrechts oder einer Abänderungsentscheidung (§§ 225 f. FamFG) für eine Übergangszeit vor doppelter Inanspruchnahme geschützt. Eine solche Zeit benötigt er, um die rechtskräftig gewordene Entscheidung technisch umzusetzen. Dafür sieht § 30 Abs. 1 S. 1 VersAusglG für eine Übergangszeit wegen 490 bereits erbrachter Leistungen eine Leistungsbefreiung gegenüber der ausgleichsberechtigten Person vor. Erlangt der Versorgungsträger Kenntnis von der Rechtskraft der Entscheidung, so währt die Übergangszeit bis zum letzten Tag des auf diesen Zeitpunkt folgenden Monats. Für diesen Zeitraum erfolgt die Abwicklung von Überzahlungen unter dem Leistungsempfänger und dem Berechtigten nach den Regelungen des Bereicherungsrechts (§ 30 Abs. 3 VersAusglG).
Û
Praxistipp: Im Bereicherungsrecht kann sich nur auf Entreicherung berufen, wer von dem laufenden Versorgungsausgleichsverfahren keine Kenntnis hatte (§§ 818 Abs. 3 und 4, 819 BGB). Es kann daher geboten sein,
1 Erman/Norpoth, § 29 VersAusglG Rn. 2. 2 Vgl. Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 580 ff., 582; Gutdeutsch/Hoenes/Norpoth, FamRZ 2012, 73 ff.; s. auch schon oben Rn. 230. 3 Zu den weiteren Wirkungen vgl. BGH v. 19.10.1994 – XII ZB 158/93, FamRZ 1995, 31 f. 4 Vorgängervorschriften: § 1587p BGB, §§ 3a Abs. 7, 10a Abs. 7 VAHRG aF.
Norpoth
1295
Kap. 11 Rn. 491
Versorgungsausgleich
während eines laufenden Versorgungsausgleichsverfahrens Auskünfte des Versorgungsträgers über laufende Leistungen einzuholen und die Leistungsempfänger über das laufende Verfahren in nachweisbarer Weise schriftlich zu informieren; ggf. muss ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erwogen werden (s. Rn. 416). c) Tod eines Ehegatten 491
Stirbt ein Ehegatte während des laufenden Scheidungsverbundverfahrens vor Rechtskraft der Scheidung, so gilt dieses nach § 131 FamFG als in der Hauptsache erledigt. Entsprechendes gilt für das Versorgungsausgleichsverfahren.
492
Stirbt ein Ehegatte nach Rechtskraft der Scheidung, aber vor Rechtskraft der Entscheidung zum Wertausgleich bei Scheidung (das kann insbesondere dann passieren, wenn das Versorgungsausgleichsverfahren aus dem Scheidungsverbund abgetrennt worden ist), dann kann der überlebende Ehegatte den Wertausgleich bei Scheidung gegen die Erben des verstorbenen Ehegatten nach § 31 Abs. 1 S. 1 VersAusglG weiter geltend machen.
493
Dabei trägt § 31 Abs. 2 VersAusglG den Besonderheiten des Hin-und-HerAusgleichs Rechnung. Anrechte des überlebenden Ehegatten werden nicht mehr geteilt, weil die Erben des Verstorbenen keinen Anspruch auf Wertausgleich gegen den überlebenden Ehegatten haben (§ 31 Abs. 1 S. 2 VersAusglG). Der überlebende Ehegatte darf nicht besser stehen, als er bei durchgeführtem Wertausgleich bei Scheidung stünde. Hat er in der Ehezeit höhere Anrechte erworben als der verstorbene Ehegatte, geht sein Ausgleichsanspruch ins Leere. Im umgekehrten Fall ist nach Ansicht des Gesetzgebers die Situation nach fiktiv durchgeführtem Versorgungsausgleich mit derjenigen ohne durchgeführten Versorgungsausgleich zu vergleichen. Die Differenz – und nur diese – ist auszugleichen1. Dabei sind nach umstrittener Ansicht auch geringfügige Anrechte in die Berechnung einzustellen2. Ob dies auch für nicht ausgleichsreife Anrechte i.S.d. § 19 VersAusglG gilt, ist im Einzelnen noch offen3. Dasselbe Ergebnis kommt heraus, wenn die beiderseitigen Anrechte, wie nach altem Recht, saldiert werden. In beiden Fällen besteht das – oben (Rn. 40 ff.) dargelegte – Problem, dass eine Saldierung von Anrechten unterschiedlicher Art auch mit Hilfe der (korrespondierenden) Kapitalwerte an deren sehr eingeschränkter Vergleichbarkeit scheitert4. Der durchzuführende Versorgungsausgleich lässt sich deshalb nur annäherungsweise errechnen.
1 BT-Drucks. 16/10144, 72. 2 OLG Hamm v. 30.3.2011 – 8 UF 43/11, NJW-RR 2011, 1376; aA AG Ludwigslust v. 11.10.2010 – 5 F 88/10, FamRZ 2011, 645; Götsche, FamRB 2012, 59 mwN. 3 Vgl. dazu Erman/Norpoth, § 31 VersAusglG Rn. 5; Götsche, FamRB 2012, 59. 4 Vgl. AG Neustadt/R. v. 20.8.2010 – 34 F 158/09 VA, FamRB 2011, 238; bedenklich deswegen OLG Saarbrücken v. 12.8.2011 – 6 UF 130/10, FamFR 2011, 441; Wick, FuR 2011, 605 und Götsche, FamRB 2012, 58.
1296
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 498
Kap. 11
Das Familiengericht hat nach billigem Ermessen zu entscheiden, welche 494 Anrechte des Verstorbenen zum Ausgleich herangezogen werden. Dabei geht der Gesetzgeber offensichtlich davon aus, dass die Teilung einzelner Anrechte nicht jenseits des zutreffenden Ausgleichswerts vorgenommen werden darf1. Ausgleichsansprüche nach Scheidung erlöschen mit dem Tod des aus- 495 gleichsberechtigten oder des ausgleichspflichtigen Ehegatten nach § 31 Abs. 3 S. 1 VersAusglG. Das neue Recht enthält, soweit auch Ansprüche bei Versterben des Ausgleichspflichtigen erlöschen, eine sprachliche Klarstellung gegenüber dem alten Recht2. Die bis zum Tod des Ausgleichspflichtigen bestehenden Ansprüche bleiben nach § 31 Abs. 3 S. 3 VersAusglG i.V.m. § 1586 Abs. 2 S. 1 BGB unberührt und können gegen die Erben geltend gemacht werden.
Û
Praxistipp: Stirbt die ausgleichspflichtige Person, besteht im Hinblick auf noch nicht ausgeglichene Anrechte für den Ausgleichsberechtigten unter den Voraussetzungen des §§ 25 f. ggf. ein Anspruch auf Teilhabe an der Hinterbliebenenversorgung (vgl. § 31 Abs. 3 S. 2 VersAusglG); das gilt auch für Anrechte, aus denen bis zum Tod der ausgleichspflichtigen Person eine schuldrechtliche Ausgleichsrente an die ausgleichsberechtigte Person gezahlt worden ist!
Einstweilen frei
496–497
3. Tenorierung3 a) Wertausgleich bei Scheidung durch interne Teilung Bei interner Teilung müssen neben der ausgleichspflichtigen und der aus- 498 gleichsberechtigten Person der Versorgungsträger, der Wert des zu übertragenden Anrechts (in der jeweils maßgeblichen Bezugsgröße) sowie ggf. die vom Familiengericht geprüfte (§ 11 Abs. 1 VersAusglG), der Teilung zugrunde liegende untergesetzliche Teilungsordnung in den Tenor aufgenommen werden4. Die Bezugnahme auf das Ende der Ehezeit hat Bedeutung für die Berechnung des Anrechts. Sie ist nur dort nicht erforderlich, wo Umrechnungsschritte nicht mehr benötigt werden, etwa wenn in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht Rentenanwartschaften in Höhe eines monatlichen Zahlbetrags, sondern in Form von Entgeltpunk-
1 BT-Drucks. 16/10144, 72. 2 §§ 1587k Abs. 2 S. 1, 1587m BGB, § 3a Abs. 6 VAHRG; vgl. dazu BT-Drucks. 16/10144, 72 mit Verweis auf BGH v. 12.4.1989 – IVb ZB 84/85, FamRZ 1989, 950. 3 Weitere, noch umfangreichere Tenorierungsvorschläge bei Kemper, Versorgungsausgleich, Kap. XI Rn. 198 ff. 4 BGH v. 26.1.2011 – XII ZB 504/10, FamRZ 2011, 547 = FamRB 2011, 106.
Norpoth
1297
Kap. 11 Rn. 499
Versorgungsausgleich
ten übertragen werden. Deswegen ergeben sich folgende Alternativen der Tenorierung:
„Zulasten der für den Antragsteller bei der DRV Bund, Vers.-Konto Nr. 11 150 947 R 315, bestehenden Rentenanrechte werden im Wege der internen Teilung für die Antragsgegnerin bei der DRV Bund Rentenanrechte iHv. 5,7 Entgeltpunkten übertragen.“ „Zulasten der für die Antragstellerin bei der Gloria-Versicherung in Calw bestehenden Rentenversicherung, Vertrags-Nr.: 3 321 156 669, wird im Wege interner Teilung für den Antragsgegner bei der Gloria-Versicherung in Calw eine Rentenversicherung in Höhe eines Ausgleichswerts von 24 500 Euro, bezogen auf den 31.3.2011, gem. dem zur Durchführung der internen Teilung geltenden Geschäftsplan (genaue Bezeichnung) übertragen.“
499
Bei Anrechten auf eine Betriebsrente ist nach der hier vertretenen Auffassung wie folgt zu tenorieren (wobei sich, soweit erkennbar, einhellig eine Tenorierung ohne den kursiv gedruckten Teil durchgesetzt hat):
„Zulasten der für den Antragsteller von der Fa. Tapeten Schröer in Hamminkeln bei der Vita Lebensversicherung, Vertrags-Nr. 33 122 445 661, begründeten Lebensversicherung wird für die Antragsgegnerin bei der Vita Lebensversicherung ein Anrecht auf eine monatliche Rente iHv. 49,30 Euro (alt.: in Höhe eines Ausgleichswerts von 4 208 Euro), bezogen auf den 31.3.2011, übertragen. Zugleich wird zulasten des für den Antragsteller bei der Fa. Tapeten Schröer in Hamminkeln bestehenden Anrechts auf eine betriebliche Altersversorgung in entsprechender Höhe ein Anrecht für die Antragsgegnerin bei der Fa. Tapeten Schröer in Hamminkeln übertragen.“
b) Versorgungsausgleich bei Scheidung, externe Teilung 500
Bei externer Teilung sind zulasten der abgebenden Versorgung bei der Zielversorgung des Ausgleichsberechtigten Anrechte zu begründen (§ 14 Abs. 1 VersAusglG). Dazu ist der Kapitalbetrag in den Tenor aufzunehmen, der vom abgebenden Versorgungsträger an den Träger der Zielversorgung zu zahlen ist (§ 14 Abs. 4 VersAusglG, § 222 Abs. 3 FamFG). Ist das auszugleichende Anrecht verzinslich, ist grundsätzlich auch der Ausgleichswert ab dem Ehezeitende mit demselben Zinssatz zu verzinsen1. (Nur) bei Einzahlungen in die gesetzlichen Rentenversicherung hat bereits die Entscheidung des Gerichts anrechtsbegründende Wirkung. Einzige Ausnahme ist nach § 120g SGB VI, wenn der Ausgleichsberechtigte die Zielversorgung nicht selbst benannt hat und der Ausgleich nach § 15 1 BGH v. 7.9.2011 – XII ZB 546/10, FamRZ 2011, 1785 ff. = FamRB 2011, 330.
1298
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 504
Kap. 11
Abs. 5 S. 1 VersAusglG in der gesetzlichen Rentenversicherung erfolgt: Dann tritt die Wirkung erst mit Eingang der Beitragszahlung ein. Die Umrechnungsmodalitäten zur Höhe des begründeten Anrechts sind im SGB VI (§§ 52, 76, 187) geregelt. Ist die gesetzliche Rentenversicherung als Zielversorgung ausgewählt, kann der Tenor wie folgt lauten:
501
„Im Wege der externen Teilung werden zulasten der Versicherung des Ehemannes bei der Vita Lebensversicherungs-AG, Vers.-Nr. 123456789, in Höhe eines Ausgleichswerts von 5 900 Euro zzgl. 2,25 % Zinsen seit dem 31.3.2011, welcher von der Vita Lebensversicherungs-AG auf das Konto Nr. 50 120 468 W 321 der Ehefrau bei der DRV Bund in Berlin zu zahlen ist, Anrechte zugunsten der Ehefrau bei der DRV Bund, bezogen auf den 31.3.2011, begründet.“
Ist die gesetzliche Rentenversicherung Auffangversorgungsträger (§ 15 502 Abs. 5 VersAusglG), kann der Tenor wie folgt lauten (s. Rn. 260):
„Im Wege der externen Teilung sind zulasten der Versicherung des Ehemannes bei der Vita Lebensversicherungs-AG, Vers.-Nr. 123456789, in Höhe eines Ausgleichswerts von 5 900 Euro zzgl. 2,25 % Zinsen seit dem 31.3.2011, welcher von der Vita Lebensversicherungs-AG auf das Konto Nr. 50 120 468 W 321 der Ehefrau bei der DRV Bund in Berlin zu zahlen ist, Anrechte zugunsten der Ehefrau bei der DRV Bund, bezogen auf den 31.3.2011, zu begründen.“
Bei externer Teilung aus einer Beamtenversorgung in die gesetzliche Ren- 503 tenversicherung lautet der Tenor, entsprechend dem alten Recht1, wie folgt (§ 16 VersAusglG, § 222 Abs. 4 FamFG):
„Zulasten der Versorgung des Antragstellers bei dem LBV NRW, PersonalNr. 123456789, werden auf dem Versicherungskonto Nr. 11 120 357 S 523 der Antragstellerin bei der DRV Bund in Berlin, Rentenanwartschaften iHv. monatlich 175 Euro, bezogen auf den 31.3.2011, begründet. Der Monatsbetrag der Rentenanwartschaft ist in Entgeltpunkte umzurechnen.“
Bei einer privaten Lebensversicherung als Zielversorgungsträger sind für die Wertberechnung deren AVB und der Geschäftsplan maßgeblich. Entsprechendes gilt für sonstige private Versorgungsträger. Der Tenor kann daher wie folgt lauten: 1 Vgl. BT-Drucks. 16/10144, 96.
Norpoth
1299
504
Kap. 11 Rn. 505
Versorgungsausgleich
„Im Wege der externen Teilung werden zulasten der Versicherung des Antragsgegners bei der Vita Lebensversicherungs-AG, Vers.-Nr. 123456789, in Höhe eines Ausgleichswerts von 5 900 Euro zzgl. 2,25 % Zinsen seit dem 31.3.2011, welcher von der Vita Lebensversicherungs-AG für die Antragstellerin zur Vertrags-Angebots-Nr. 987654321 an die Securo-Versicherung in Hannover zu zahlen ist, Anrechte zugunsten der Ehefrau bei der Securo-Versicherung in Hannover begründet.“
c) Ausnahmen vom Versorgungsausgleich bei Scheidung 505
Wenn der Versorgungsausgleich bei Scheidung wegen – § 3 Abs. 3 VersAusglG (kurze Ehezeit, Antrag ist nicht gestellt worden) – § 6 VersAusglG (Versorgungsausgleich durch Vertrag geregelt1) – § 18 Abs. 1 VersAusglG (wegen Geringfügigkeit der Differenz gleichartiger Anrechte – teilweise – kein VA) – § 18 Abs. 2 (Anrechte mit geringem Ausgleichswert, die nicht ausgeglichen werden) – § 27 VersAusglG (grobe Unbilligkeit) ganz oder teilweise nicht stattfindet (§ 224 Abs. 3 FamFG), lautet der Tenor:
„Ein Wertausgleich bei Scheidung findet nicht statt.“ „Im Übrigen findet ein Wertausgleich bei Scheidung nicht statt.“
Teilweise wird hier auch formuliert, dass der Versorgungsausgleich nicht stattfindet. Diese umfassendere Formulierung bezieht auch die Entscheidung über den Wertausgleich nach der Scheidung mit ein. Nach hier vertretener Ansicht ist das bedenklich, weil die Entscheidung über den Wertausgleich nach der Scheidung dem Familiengericht nur dann ansteht, wenn dies beantragt worden ist (§ 137 Abs. 2 S. 2 FamFG). Soweit ein Wertausgleich nach der Scheidung vorbehalten ist, müssen die betroffenen Anrechte in den Entscheidungsgründen, nicht zwingend im Tenor, genannt werden. Hier empfiehlt sich folgende Formulierung: „Im Übrigen bleibt der Wertausgleich nach der Scheidung vorbehalten.“
1 Vgl. hierzu BGH v. 22.10.2008 – XII ZB 110/06, FamRZ 2009, 215 m. zust. Anm. Borth, FamRZ 2009, 216 = FamRB 2009, 37. Die Feststellung im Tenor, dass (wegen einer bestehenden Vereinbarung) ein Versorgungsausgleich nicht stattfindet, beruht auf einer die Wirksamkeit der Vereinbarung umfassenden Rechtsprüfung; wird sie rechtskräftig, kann später die Unwirksamkeit der Vereinbarung nicht mehr geltend gemacht werden.
1300
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 509
Kap. 11
Im § 224 Abs. 3 FamFG sind zwar die Fälle des § 19 Abs. 3 VersAusglG nicht ausdrücklich benannt, in denen wegen fehlender Ausgleichsreife ein Wertausgleich bei Scheidung (teilweise) nicht stattfindet. Es handelt sich dabei aber offenbar um ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers; angesichts der vergleichbaren Interessenlage muss der Tenor also genauso lauten.
506
d) Tenor zum Wertausgleich nach der Scheidung Ein Wertausgleich nach der Scheidung kann auch ohne gerichtliche Hilfe 507 durchgeführt werden. Zu regeln sind hier nur Zahlungspflichten und ggf. die (teilweise) Abtretung von Rentenanrechten; dazu bedarf es keiner gerichtlichen Entscheidung. Der Tenor zum Wertausgleich nach Scheidung enthält dementsprechend nur eine Verpflichtung zur Leistung, ggf. Abtretung. Er kann wie folgt lauten:
„Der Antragsgegner hat der Antragstellerin zum Ausgleich der bei der Zentaur Zementwerke GmbH in Unterhaching bestehenden Ansprüche auf eine Betriebsrente eine monatliche Rente iHv. 54,21 Euro, beginnend mit dem … (Tag der Rechtshängigkeit des Verfahrens oder früherer Zeitpunkt, s. Rn. 293), zu zahlen.“
Handelt es sich um ein Anrecht auf eine private Rentenversicherung oder hat der Arbeitgeber dem rentenberechtigten Ausgleichspflichtigen die Anrechte gegen eine Direktversicherung abgetreten und sich dadurch nach § 2 Abs. 2 BetrAVG von der Rentenzusage gelöst, kann wie folgt formuliert werden:
508
„Der Antragsgegner hat der Antragstellerin zum Ausgleich der bei der Vita Lebensversicherung AG in Darmstadt, Vertrags-Nr. 123987654, bestehenden Ansprüche eine monatliche Rente iHv. 54,21 Euro, beginnend mit dem … (Tag der Rechtshängigkeit des Verfahrens oder früherer Zeitpunkt, s. Rn. 293), zu zahlen.“
Zusatz nach § 21 Abs. 1 VersAusglG:
509
„Mit Wirkung vom 1.2.2012 hat er der Antragstellerin den Anspruch auf die Rente gegen die Zentaur Zementwerke GmbH in Unterhaching in Höhe eines monatlichen Betrags von 54,21 Euro abzutreten.“
Norpoth
1301
Kap. 11 Rn. 510 510
Versorgungsausgleich
Alternative nach § 22 VersAusglG, Ausgleich von Kapitalzahlungen:
„Der Antragsgegner hat der Antragstellerin zum Ausgleich des Ehezeitanteils des bei der Zentaur Zementwerke GmbH in Unterhaching bestehenden Anspruchs auf Auszahlung eines Kapitalbetrags einen Betrag von 12 680 Euro zu zahlen.“
511
Zusatz nach § 21 Abs. 1 VersAusglG:
„Er hat der Ehefrau den Anspruch auf Auszahlung gegen die Zentaur Zementwerke GmbH in Unterhaching in Höhe des Betrags von 12 680 Euro abzutreten.“
512
Alternative: Abfindung nach § 23 VersAusglG:
„Der Antragsgegner hat für die Antragstellerin zur Abfindung der bei der Vita Lebensversicherung AG in Darmstadt, Vertrags-Nr. 123987654, bestehenden Ansprüche einen Betrag iHv. 13 456 Euro zur Vertrags-Angebots-Nr. 987654321 an die Securo-Versicherung in Hannover zur Begründung eines Rentenanrechts zu zahlen.“
e) Versorgungsausgleich bei Scheidung, Abänderungsverfahren 513
Bei Abänderungen ist der Monat, der auf die Antragstellung folgt, für den Eintritt der Wirkungen der Entscheidung maßgeblich (§ 101 Abs. 3 S. 2 SGB VI i.V.m. § 226 Abs. 4 FamFG). Zur Vorgängervorschrift (§ 10a Abs. 7 VAHRG aF) entsprach es allerdings einhelliger Meinung, dass dies dann nicht galt, wenn der Ausgleichspflichtige zur Begründung von Anrechten Beiträge zu entrichten hatte; vielmehr sollten dann die Wirkungen frühestens mit der Beitragsentrichtung eintreten. Der Gesetzgeber hat sich hierzu nicht geäußert. Es ist daher davon auszugehen, dass in den Fällen der externen Teilung im Abänderungsverfahren dasselbe gilt wie im Ausgangsverfahren: Wenn die gesetzliche Rentenversicherung Zielversorgungsträger ist oder eine externe Teilung nach § 16 VersAusglG erfolgt, treten bei ihr kraft Gesetzes die anrechtsbegründenden Wirkungen der Abänderungsentscheidung sofort und unabhängig von der tatsächlichen Beitragsentrichtung ein. Ist sie Auffangversorgungsträger i.S.d. § 15 Abs. 5 S. 1 VersAusglG, löst die Entscheidung zum Versorgungsausgleich zunächst die vollstreckbare Verpflichtung zur Zahlung des Ausgleichswerts aus und wirkt erst die tatsächliche Beitragsentrichtung anrechts-
1302
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 534
Kap. 11
begründend. Für alle anderen Versorgungsträger fehlt es an einer gesetzlichen Regelung (zur Problematik s.o. Rn. 260). Einstweilen frei
514–531
XV. Übergangsrecht Die Übergangsvorschriften sind in den §§ 48–54 VersAusglG enthalten. 532 Der grundsätzliche Tenor des Übergangsrechts lautet, das neue Recht so schnell und umfassend wie möglich anzuwenden. Ein Nebeneinander von altem und neuem Recht ist der Praxis nämlich nach Ansicht des Gesetzgebers nicht lange zuzumuten. Eine Übergangsfrist war aus verfassungsrechtlichen Gründen (Vertrauensschutz) nicht erforderlich, weil das neue Recht dasselbe Ziel verfolgt wie das alte, nämlich eine Halbteilung der Versorgungsanrechte, und diesem Ziel auch noch besser gerecht werden soll. Ihre endgültige Fassung haben die Übergangsvorschriften in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses erhalten1; dabei ging es darum, den Übergang zum neuen Recht noch klarer und stringenter zu fassen und feste Zeitgrenzen einzuführen2. Die am Anfang stehende Übergangsvorschrift für laufende Verfahren (§ 48 VersAusglG) steht – mehr als 2 Jahre nach dem Inkrafttreten des neuen Rechts – nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses, weil auf fast alle laufenden Verfahren nur noch neues Recht anzuwenden ist. Der Fokus richtet sich jetzt zunehmend auf die Regelungen zur Abänderung von Altentscheidungen (§§ 51–53 VersAusglG). Einen Überblick zum Übergangsrecht für Erstverfahren bietet das Schaubild unter Rn. 562. 1. Laufende Verfahren Das alte Recht – und zwar sowohl das materielle Recht als auch das Ver- 533 fahrensrecht3 – blieb nach § 48 Abs. 1 VersAusglG zunächst für Verfahren relevant, die bis zum 31.8.2009 (also vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts) bereits eingeleitet waren. Das hatte praktische Gründe: Geschützt werden sollten die bereits investierte Zeit und Mühe in die Aufklärung der einzubeziehenden Versorgungsanrechte. Die Anforderungen an die einzuholenden Auskünfte haben sich verändert. Das neue Recht sollte nicht in der Weise in laufende Verfahren eingreifen, dass neue Auskünfte eingeholt werden mussten. Eingeleitet ist ein Versorgungsausgleichsverfahren bereits dann, wenn ein Scheidungsantrag bei Gericht anhängig gemacht worden ist und der 1 BT-Drucks. 16/11903, 41 ff.; 113 ff. 2 Vgl. § 48 Abs. 3 VersAusglG, der erst durch den Rechtsausschuss in den GesetzE eingefügt worden ist. 3 Der Hinweis auf das Verfahrensrecht ist deklaratorisch: Die Regelung bezüglich des Verfahrensrechts enthält Art. 111 Abs. 1 S. 1 FGG-RG (BGBl. I 2008, 2586, 2743).
Norpoth
1303
534
Kap. 11 Rn. 535
Versorgungsausgleich
Versorgungsausgleich von Amts wegen im Scheidungsverbund durchzuführen ist1. Letzteres ist nur bei Fällen mit Auslandsberührung nicht zwangsläufig der Fall. Art. 17 Abs. 3 EGBGB sieht in bestimmten Fallkonstellationen vor, dass der Versorgungsausgleich nur auf Antrag (nach deutschem Recht) durchgeführt wird. In diesen Fällen ist der Zeitpunkt der Anhängigkeit dieses Antrags für die Anwendbarkeit alten oder neuen Rechts maßgeblich. Das konnte allerdings im Einzelfall dazu führen, dass für die Scheidung einerseits und den Versorgungsausgleich andererseits unterschiedliche Verfahrensregelungen gelten. 535
Anhängig gemacht ist ein Scheidungsantrag bei Verbindung mit einem Verfahrenskostenhilfegesuch nur dann mit Eingang bei Gericht, wenn die Erhebung des Scheidungsantrags nicht von der Bewilligung der Verfahrenskostenhilfe abhängig gemacht wird2.
536
Auch auf laufende Versorgungsausgleichsverfahren sind allerdings nach § 48 Abs. 3 VersAusglG dann das neue materielle Recht und das neue Verfahrensrecht (Art. 111 Abs. 5 FGG-RG) anzuwenden, wenn nicht spätestens bis zum 31.8.2010 im ersten Rechtszug eine Entscheidung erlassen worden ist. Damit sind insbesondere auch Scheidungsverbundverfahren erfasst, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht weiterbetrieben und ggf. nach der Aktenordnung weggelegt worden sind. Dadurch wird vermieden, dass in diesen Verfahren noch nach vielen Jahren aufgrund deren Wiederaufnahme das alte Recht zur Anwendung kommt. Folge dieser Regelung ist, dass heute nur noch solche Verfahren nach altem Recht behandelt werden können, die sich bereits im Instanzenzug befinden. Auch für diese gilt das nicht uneingeschränkt, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen. 2. Abgetrennte und ausgesetzte Verfahren
537
Ist der Versorgungsausgleich aus dem Scheidungsverbund abgetrennt worden, dann ist seit dem 1.9.2009 das neue Recht anzuwenden (§ 48 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VersAusglG, Art. 111 Abs. 4 FGG-RG). Dabei ist gleichgültig, ob die Abtrennung vor oder nach Inkrafttreten des neuen Rechts erfolgt ist3. Hat das Amtsgericht aber vor dem 1.9.2009 nach altem Recht entschieden, gilt dieses auch für die nachfolgenden Instanzen weiter4.
538
Entsprechendes gilt für ausgesetzte Verfahren und für Verfahren, deren Ruhen angeordnet worden ist (§ 48 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VersAusglG, jew. 2. 1 BT-Drucks. 16/10144, 88. 2 Str.: so jetzt BGH v. 29.2.2012 – XII ZB 198/11, FamRZ 2012, 783; Nachweise zum Streitstand bei Erman/Norpoth, § 48 VersAusglG Rn. 6. 3 Str.: Nachweise zum Streitstand bei BGH v. 26.10.2011 – XII ZB 567/10, FamRB 2012, 39; der BGH musste die Frage nicht entscheiden. Weitere Nachweise bei OLG Schleswig v. 11.7.2011 – 10 UF 87/09, FamRB 2012, 6. 4 BGH v. 14.3.2012 – XII ZB 436/11, NJW 2012, 1508.
1304
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 541
Kap. 11
und 3. Alt. einerseits und Art. 111 Abs. 3 FGG-RG andererseits), wenn das Verfahren nicht vor dem 1.9.2009 wieder aufgenommen worden ist1. Anlass zur Aussetzung des Verfahren nach altem Recht konnte sich aus § 614 Abs. 2 aF ZPO (wegen Aussicht auf Fortsetzung der Ehe) oder aus § 53c FGG aF (bei Streit über Bestand oder Höhe eines Anrechts) ergeben2. Regelungsbedürftig waren auch diejenigen Fälle, in denen wegen der 539 Beteiligung von West- und Ost-Rentenanwartschaften (den sog. angleichungsdynamischen Anwartschaften) nach § 1 VAÜG aF eine Abtrennung und Aussetzung des Versorgungsausgleichs nach § 2 Abs. 1 S. 2 VAÜG aF erfolgen musste. In der Übergangszeit bis zum 31.8.2010 konnte es vorkommen, dass nach 540 dem anzuwendenden alten Recht das Verfahren insoweit abzutrennen und auszusetzen war; nach jetzt geltendem Recht konnte es dagegen durchgeführt werden. Der Gesetzgeber hat in § 50 Abs. 1 Nr. 2 VersAusglG dem Familiengericht die Möglichkeit eingeräumt, durch kurzzeitiges Aussetzen und sofortiges Wiederaufnehmen in den Anwendungsbereich des neuen Rechts zu gelangen. Erforderlich war dies nur für die Zeit bis zum 31.8.2010, weil danach kraft Gesetzes auf laufende Verfahren in erster Instanz immer neues Recht anzuwenden ist. Ältere, ausgesetzte Verfahren nach § 2 Abs. 1 S. 2 VAÜG kann das Familiengericht von Amts wegen jederzeit wieder aufnehmen; es soll dies bis spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten des neuen Rechts tun3. Die Parteien und die beteiligten Versorgungsträger können nach § 50 541 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 VersAusglG die Wiederaufnahme durch einen Antrag erzwingen, allerdings nur im Zusammenhang mit einem Leistungsfall. Dies entspricht der Regelung in § 2 Abs. 2 S. 1 und 2 VAÜG aF. Diese wurde allerdings für die antragstellende Partei insoweit verbessert, als der Antrag bereits sechs Monate vor dem voraussichtlichen Eintritt des Leistungsfalls gestellt werden kann. Entfallen ist das Antragsrecht der Hinterbliebenen. Diesem entspricht nämlich keine materielle Berechtigung, weil mit dem Tod des Berechtigten auch sein Recht auf einen Wertausgleich erlischt (§ 31 VersAusglG; § 1587e aF BGB)4.
1 S. BGH v. 26.10.2011 – XII ZB 567/10, FamRB 2012, 39. 2 Zur Aussetzung bei Anrechten aus der Zusatzversorgung des öffentlichen/kirchlichen Dienstes s. Rn. 183. 3 Mit der Soll-Vorschrift ist der ursprüngliche GesetzE entschärft worden, der die Wiederaufnahme binnen fünf Jahren noch zwingend vorsah; hiergegen hatte der Bundesrat Bedenken, weil wegen der Vielzahl ausgesetzter Verfahren vor allem die Familiengerichte in den neuen Bundesländern mit dieser Aufgabe im Einzelfall überfordert sein könnten; vgl. BT-Drucks. 16/10144, 121. 4 BGH v. 15.8.2007 – XII ZB 64/06, FamRZ 2007, 1804 f. = FamRB 2007, 355; BTDrucks. 16/10144, 89.
Norpoth
1305
Kap. 11 Rn. 542
Versorgungsausgleich
3. Verfahren nach den §§ 4–10 VAHRG aF 542
Für Verfahren nach den §§ 4–10 VAHRG aF (vergleichbare Regelungen enthalten jetzt die §§ 32–38 VersAusglG), in denen es um die nachträgliche Anpassung des Versorgungsausgleichs zur Vermeidung unbilliger Härten geht, ist nach § 49 VersAusglG das alte Recht dann weiter anzuwenden, wenn der Antrag bei dem Versorgungsträger bis zum 31.8.2009 eingegangen ist. Hintergrund ist, dass für diese Anträge nach dem geltenden Recht die Zuständigkeit teilweise von den Versorgungsträgern auf das Familiengericht übergegangen ist. Die bei Inkrafttreten des neuen Rechts bereits laufenden Verfahren sollen noch von den anfänglich zuständigen Versorgungsträgern auf Grundlage des alten Rechts abgewickelt werden. Der Gesetzgeber geht zu Recht davon aus, dass es sich dabei nur um eine geringe Anzahl von Verfahren handelt1.
543
Betroffen sind folgende Verfahren: – Wegfall der Kürzung bei der Versorgung des Ausgleichspflichtigen bei Tod des Ausgleichsberechtigten, bevor mehr als zwei Jahre Leistungen aus dem erworbenen Anrecht erbracht worden sind, § 4 VAHRG aF; – keine Kürzung der Versorgung des Ausgleichspflichtigen, solange der Ausgleichsberechtigte einen Unterhaltsanspruch hat, § 5 VAHRG aF; – Folgeregelungen hierzu: – Nachzahlungen durch den Versorgungsträger im Fall des § 5 VAHRG: § 6 VAHRG aF, – Rückzahlungen vom empfangenden an den leistenden Versorgungsträger im Fall des § 4 VAHRG: § 7 VAHRG aF, – Rückzahlung von Beiträgen, welche der Ausgleichspflichtige im Fall des § 4 VAHRG zur Abwendung einer Versorgungskürzung schon an seinen Versorgungsträger geleistet hatte: § 8 VAHRG aF
544
Ist ein Versorgungsausgleich nach altem Recht durchgeführt worden, wird ein Antrag wegen des Todes des Ausgleichsberechtigten oder in Unterhaltsfällen aber erst nach dem 31.8.2009 gestellt, so ist sowohl hinsichtlich des materiellen Rechts als auch hinsichtlich des Verfahrensrechts das neue Recht maßgeblich.
Û
Praxistipp: Für die Anpassung wegen Todes der ausgleichsberechtigten Person hat das neue Recht (§§ 37 f. VersAusglG) die Voraussetzungen gegenüber dem alten Recht (§ 4 Abs. 2 VAHRG aF) verbessert (s.o. Rn. 358 ff.). Selbst wenn nach altem Recht ein Antrag gestellt und rechtskräftig abgelehnt worden ist, kann ein neuer Antrag nach neuem Recht – allerdings nur mit Wirkung für die Zukunft – gestellt werden2.
1 BT-Drucks. 16/10144, 88. 2 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 978 f.
1306
Norpoth
Rn. 988
aE;
Ruland,
Versorgungsausgleich,
Versorgungsausgleich
Rn. 546
Kap. 11
4. Rentner- und Pensionärsprivileg Erst im Rechtsausschuss wurde das Rentnerprivileg (§ 101 Abs. 3 SGB VI 545 aF) ebenso wie das Pensionärsprivileg auf Bundesebene (vgl. § 268a Abs. 2 SGB VI, § 57 Abs. 2 S. 2 BeamtVG; wegen der Landesbeamten s.o. Rn. 343) verlängert. Es bleibt denjenigen, die vor dem 1.9.2009 Rentner/Pensionäre waren und deren Versorgungsausgleichsverfahren bereits eingeleitet war, erhalten. Begründet wurde dies damit, dass die Verfahrensdauer der Versorgungsausgleichsverfahren von den Parteien kaum beeinflusst werden kann. Danach kann es jetzt allerdings zu Anwendungsschwierigkeiten durch das neue Recht kommen. Hat sich das Verfahren nämlich bis zum 1.9.2010 hingezogen oder ist es zwischenzeitlich abgetrennt/ausgesetzt worden, dann ist der Versorgungsausgleich nach neuem Recht durchzuführen. Hat der Ausgleichspflichtige gesetzliche Rentenanwartschaften abgegeben und im Gegenzug Anderes als gesetzliche Rentenanwartschaften übertragen bekommen, so wird seine gesetzliche Rente nicht gekürzt, während er zusätzlich von den ihm übertragenen Anrechten profitiert1. Es ist davon auszugehen, dass sich diese gesetzgeberische Lücke in nicht allzu vielen Fällen auswirken wird. 5. Übergangsrecht für Abänderungsverfahren a) Totalrevision unter Anwendung neuen Rechts Der Gesetzgeber musste zudem Ersatz schaffen für die Abänderungsver- 546 fahren nach § 10a VAHRG aF. Er konnte die dort geregelten weitreichenden Abänderungsmöglichkeiten für die nach altem Recht durchgeführten Versorgungsausgleichsverfahren nicht abschaffen, weil sie verfassungsrechtlich geboten waren. Auch die bloße Korrektur fehlerhafter Entscheidungen diente im Geltungsbereich des alten Rechts der Umsetzung des Halbteilungsgrundsatzes. Um hier nicht zu einer Anwendung alten Rechts ad infinitum zu kommen, sieht § 51 Abs. 1 VersAusglG wie nach dem alten Recht eine Totalrevision vor, bei der nunmehr aber statt des alten das neue Recht anzuwenden ist. Die Regelung betrifft nur den früheren öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleich. Für Altentscheidungen zum schuldrechtlichen Versorgungsausgleich richtet sich die Abänderung nach § 48 FamFG i.V.m. §§ 20 ff. VersAusglG2. Es empfiehlt sich hierzu folgende Prüfungsreihenfolge: – Wertänderung nach dem Ende der Ehezeit (§ 51 Abs. 2 VersAusglG i.V.m. § 225 Abs. 2 FamFG)? – Wesentliche Wertänderung (§ 51 Abs. 2 VersAusglG) i.V.m. § 225 Abs. 2, 3 FamFG; § 51 Abs. 3 VersAusglG) oder hilfsweise wesentliche Auswirkung „Wartezeiterfüllung“ (§ 51 Abs. 5 VersAusglG i.V.m. § 225 Abs. 4 FamFG)? 1 Diese Wirkung muss nach Ansicht von Göhde, FamFR 2010, 555, unterbunden werden; allerdings fehlt es dafür an einer gesetzlichen Regelung. 2 Kemper, VA, Kap. XII Rn. 61.
Norpoth
1307
Kap. 11 Rn. 547
Versorgungsausgleich
– Wertänderung zugunsten eines Ehegatten (§ 51 Abs. 5 VersAusglG i.V.m. § 225 Abs. 5 FamFG)? – Kein Verweis in den Wertausgleich nach der Scheidung (§ 51 Abs. 4 VersAusglG)?
Û
Praxistipp: Anlass zur Überprüfung von Altentscheidungen zum öffentlichrechtlichen Versorgungsausgleich besteht in allen Fällen, in denen Anrechte unter Anwendung der BarwertVO in gesetzliche Rentenanrechte umgerechnet worden sind; diese Umrechnung ist in aller Regel mit einer erheblichen Unterbewertung der betroffenen Anrechte verbunden gewesen, was die jeweils ausgleichspflichtige Person begünstigt und die ausgleichsberechtigte Person benachteiligt hat. Die Abänderung von Alttiteln zum schuldrechtlichen Versorgungsausgleich kann deshalb geboten sein, weil nach neuem Recht nicht mehr die Bruttorente, sondern nur noch die Rente nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge zu teilen ist (§ 20 Abs. 1 S. 2 VersAusglG)1.
b) Besonderheiten 547
Durch die Totalrevision nach neuem Recht entsteht eine Gemengelage zwischen altem und neuem Recht, welche ergänzende Regelungen erfordert. Diese sind in § 51 VersAusglG enthalten. Dort ist allerdings nicht ausdrücklich geregelt, was passiert, wenn einer der geschiedenen Ehegatten schon gestorben ist. In diesem Fall muss auch § 31 VersAusglG zur Anwendung kommen2. aa) Einzubeziehende Anrechte
548
Die Schnittmenge der einzubeziehenden Anrechte ist nach altem und neuem Recht nicht deckungsgleich3. In die Abänderung werden nur diejenigen Anrechte einbezogen, die auch, und sei es nur als Berechnungsfaktor, Gegenstand der abzuändernden Entscheidung waren4. Unberücksichtigt bleiben deshalb zum einen Kapitalleistungen aus der betrieblichen 1 Vgl. Kemper, VA, Kap. XII Rn. 61. 2 AA OLG Schleswig v. 18.5.2011 – 12 UF 60/11, FamRZ 2012, 36 f. mit abl. Anm. Borth. Die Erben des verstorbenen Ehegatten sind an dem Abänderungsverfahren nicht zu beteiligen; vgl. OLG Celle v. 3.2.2011 – 10 UF 250/10, FamRZ 2011, 1656. 3 Zu betrieblichen, auf Kapital lautenden Anrechten s. AG Groß-Gerau v. 9.2.2011 – 73 F 1471/09 GÜ, FamRZ 2011, 1736 m. Anm. Spangenberg, Schwamb und Borth, FamRZ 2012, 373 ff. 4 Vgl. OLG München v. 28.10.2011 – 12 UF 1755/11, FamRB 2012, 3. Außen vor bleiben auch solche Anrechte, wegen derer seinerzeit der schuldrechtliche Versorgungsausgleich vorbehalten geblieben ist: Bergner, FamFR 2011, 196. Das Abänderungsverfahren beschränkt sich hier aber nicht – wie im neuen Recht – auf Anrechte der Primärversorgung.
1308
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 551
Kap. 11
Altersversorgung oder einem Vertrag nach dem AltZertG (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 VersAusglG), weil diese nach altem Recht (möglicherweise) Bestandteil der sonstigen Vermögensauseinandersetzung der Ehegatten (insbesondere Zugewinnausgleich) waren. Es bleiben aber auch weiterhin solche Anrechte unberücksichtigt, die bei der Ausgangsentscheidung übersehen und deswegen nicht in die Ausgleichsberechnung einbezogen worden sind. bb) Wesentliche, nachträgliche Änderung Die Wesentlichkeitsgrenze für eine Abänderungsmöglichkeit beurteilt 549 sich nach § 51 Abs. 2 und 3 VersAusglG. Maßgeblich ist danach auch im Übergangsrecht nicht mehr, ob sich per Saldo eine wesentliche Änderung ergibt, sondern ob sich der Wert eines einzelnen auszugleichenden Anrechts wesentlich (um mindestens 5 % seines Werts und mehr als 1 % der jeweils zum Ehezeitende1 maßgeblichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV; dazu s.o. Rn. 410) geändert hat. Ausnahmsweise kommt es nach § 51 Abs. 5 VersAusglG i.V.m. § 225 Abs. 4 und 5 FamFG sogar auf die anrechtsbezogene Wesentlichkeitsgrenze nicht an, wenn die – unwesentliche – Abänderung mit der – wesentlichen – Wirkung verbunden ist, dass der Ausgleichsberechtigte (oder seine Hinterbliebenen) eine Wartezeit für den Bezug einer Rente erfüllt. Soweit die wesentliche Änderung eines mithilfe der BarwertVO nach al- 550 tem Recht dynamisierten Anrechts der berufsständischen, betrieblichen oder privaten Altersvorsorge zu bewerten ist, wird überprüft, ob die Dynamisierung nach altem Recht fehlerhaft war. Dazu wird der damalige Wert des Ehezeitanteils vor der Dynamisierung mit demjenigen verglichen, der sich nach der Dynamisierung bei Ansatz des heutigen aktuellen Rentenwerts in der gesetzlichen Rentenversicherung ergibt. Das erfordert also die Umrechnung des dynamisierten Werts nach der Formel Dynamisierter Wert/aktueller Rentenwert zum Ehezeitende × aktueller Rentenwert jetzt. Der aktuelle Rentenwert wird erst seit 1992 amtlich festgesetzt. Für die Zeit davor ist er aber aus den älteren Bemessungsgrundlagen komplementär zu errechnen2. Seit Juli 2011 beträgt der aktuelle Rentenwert für die alten Bundesländer 27,47 Euro und für das Beitrittsgebiet 24,37 Euro. Anschließend wird der nicht dynamisierte Wert mit dem dynamisierten umgerechneten Wert verglichen. Beträgt die Abweichung bei der monatlichen Rente mindestens 2 % der zum Zeitpunkt der Antragstellung3 maßgeblichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV (2012: 52,50 Euro), kann
1 Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 1020. 2 S. Tabellen bei Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 233, 1066; Kemper, VA, Kap. XII Rn. 86 f. 3 Kemper, VA, Kap. XII Rn. 93, 95.
Norpoth
1309
551
Kap. 11 Rn. 552
Versorgungsausgleich
abgeändert werden. Abgesehen davon, dass hier nicht der Zeitpunkt des Ehezeitendes, sondern der Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich ist, entspricht die Geringfügigkeitsgrenze derjenigen nach § 51 Abs. 1 VersAusglG, weil hier nicht der Ausgleichswert, sondern der Ehezeitanteil Gegenstand der Betrachtung ist1. Anders als nach altem Recht muss die wesentliche Änderung aber nach dem Ende der Ehezeit, also nachträglich eingetreten sein. Die Korrektur von Fehlern in der Altentscheidung kann nur dann erfolgen, wenn durch eine solche nachträgliche wesentliche Änderung das Abänderungsverfahren eröffnet ist2. c) Ausnahme von der Totalrevision: Ausgleich nach Scheidung 552
Ausnahmsweise findet nach § 51 Abs. 4 VersAusglG keine Totalrevision unter Anwendung des neuen Rechts über § 51 Abs. 3 VersAusglG statt, wenn unter der Geltung des alten Rechts nach bereits erfolgtem teilweisem Ausgleich durch Supersplitting (§ 3b Abs. 1 Nr. 1 VAHRG aF) ein Ausgleich nach Scheidung (§§ 20–26 VersAusglG) vorbehalten worden ist. Von diesem teilweisen Ausgleich durch Supersplitting waren ausschließlich private Anrechte betroffen, welche durch erweiterte Übertragung gesetzlicher Rentenanrechte bis zu einer Höchstgrenze (2 % der am Ende der Ehezeit maßgeblichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV) ausgeglichen werden konnten. Überschritt der Wert der Anrechte (ggf. nach Umrechnung in eine dynamische Rente) diese Höchstgrenze, verblieb ein Rest dem schuldrechtlichen Ausgleich. In diesen Fällen soll es auch nach neuem Recht bei einem Versorgungsausgleich nach Scheidung verbleiben, um den Aufwand für eine Totalrevision nach neuem Recht zu reduzieren.
553
Die tatsächliche Höhe des noch auszugleichenden Anrechts muss das Gericht bei der Entscheidung selbst ermitteln. Eine Bindung an die Berechnung in der Ausgangsentscheidung zum öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleich besteht nicht. Der bereits durchgeführte Teilausgleich muss berücksichtigt werden. Hierfür gibt § 53 VersAusglG den Rechenweg vor: Der zum Ehezeitende durch erweiterte Übertragung von gesetzlichen Anwartschaften dem Berechtigten zugewandte Rentenbetrag ist höhenmäßig zu aktualisieren, indem er durch den aktuellen Rentenwert zum Ehezeitende dividiert und mit dem aktuellen Rentenwert zum Zeitpunkt der Entscheidung multipliziert wird. Dies erläutert folgendes Beispiel: Ehemann E hat neben den höheren gesetzlichen Rentenanwartschaften auch Anwartschaften auf eine Betriebsrente iHv. monatlich 1500 Euro in der Ehezeit erworben. F hat nur gesetzliche Rentenanwartschaften erworben. Die Ehezeit endet am 30.9.2008. Das Amtsgericht hat die Betriebsrentenanwartschaft mithilfe der 1 Kemper, VA, Kap. XII Rn. 94. 2 Kemper, VA, Kap. XII Rn. 70; Ruland, Versorgungsausgleich, Rn. 1060.
1310
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 555
Kap. 11
BarwertVO in eine dynamische Rente von 640 Euro umgerechnet. Diese hat es durch erweiterte Übertragung gesetzlicher Rentenanwartschaften bis zum seinerzeit zulässigen Höchstwert von 48,30 Euro ausgeglichen und im Übrigen den schuldrechtlichen Versorgungsausgleich vorbehalten. Im Januar 2012 beziehen beide eine Rente und F beantragt die Durchführung des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs. Der Ehezeitanteil der Betriebsrente des E beträgt jetzt monatlich 1550 Euro. Es ist jetzt wie folgt zu rechnen: Ehezeitanteil der Betriebsrente des E jetzt: 1550 Euro Hälftig auszugleichen, also iHv.: 775 Euro Schon gesetzliche Anrechte übertragen iHv. damals: 48,30 Euro Zu aktualisieren nach § 53: 48,30 Euro/aRW 2008 (26,56 Euro) × aRW heute (27,47 Euro) = 49,95 Euro Noch schuldrechtlich auszugleichen also: (775 Euro – 49,95 Euro =) 725,05 Euro
Achtung: § 51 Abs. 4 VersAusglG enthält nur eine Ausnahme zu § 51 Abs. 3 VersAusglG. Hat sich der Wert eines nicht mithilfe der BarwertVO dynamisierten Anrechts zugleich wesentlich i.S.d. § 51 Abs. 2 VersAusglG geändert, findet trotzdem eine Totalrevision statt. Es gibt im Übrigen noch weitere Varianten von Altentscheidungen, in denen Anrechte mithilfe der BarwertVO „dynamisiert“ worden sind. So wurden Anrechte aus öffentlich-rechtlichen Zusatzversorgungen nach § 1 Abs. 3 VAHRG aF nach Umrechnung (mit zu niedrigen Werten) über die gesetzliche Rentenversicherung ausgeglichen. Auch gibt es weitere Varianten eines nur teilweisen Ausgleichs nach altem Recht, etwa, wenn Anrechte auf eine Beamtenversorgung wegen alter Höchstbetragsgrenzen nicht vollständig über die gesetzliche Rentenversicherung ausgeglichen werden konnten. Für diese Fälle gilt § 51 Abs. 4 VersAusglG nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers aber nicht1. In diesen Fällen verbleibt es also dabei, dass unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1–3 VersAusglG die Entscheidung zum öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleich im Wege der Totalrevision abzuändern ist. d) Verfahren Für das Verfahren enthält § 52 VersAusglG ergänzende Regelungen.
554
§ 52 Abs. 1 VersAusglG verweist auf die Anwendung des § 226 FamFG. In Bezug genommen sind folgende Regelungen:
555
– Antragsberechtigung (§ 226 Abs. 1 FamFG), – frühestmöglicher Zeitpunkt der Antragstellung (§ 226 Abs. 2 FamFG), – Anwendung des § 27 VersAusglG (§ 226 Abs. 3 FamFG), – Zeitpunkt der Wirkung der Abänderung (§ 226 Abs. 4 FamFG), – Regelungen zum Tod eines Ehegatten während des Abänderungsverfahrens (§ 226 Abs. 5 FamFG).
1 BT-Drucks. 16/11903, 116 f.
Norpoth
1311
Kap. 11 Rn. 556
Versorgungsausgleich
556
Hierzu kann im Einzelnen auf die Ausführungen oben (Rn. 413–417) verwiesen werden. Bei laufenden Rentenzahlungen kann die auf den Monat nach Antragstellung rückwirkende Abänderung zu Rückforderungsansprüchen des Versorgungsträgers gegen die Person führen, zu deren Nachteil abgeändert wird1. Da sich aber im Gegenzug regelmäßig erweiterte Ansprüche der begünstigten Person gegen denselben Versorgungsträger ergeben, weil nur eine Verschiebung stattfindet (vgl. § 51 Abs. 5 VersAusglG i.V.m. § 225 Abs. 5 FamFG), ist davon auszugehen, dass der Versorgungsträger gegenüber der benachteiligten Person auf die rückwirkende Abänderung verzichtet und sich gegenüber der begünstigten Person auf seine Leistungsfreiheit nach § 30 Abs. 1 VersAusglG beruft.
557
§ 52 Abs. 2 VersAusglG erweitert die Mitteilungspflichten der betroffenen Versorgungsträger insoweit, als sie den Ehezeitanteil der bei ihnen bestehenden Anrechte auch als Rente anzugeben haben. Maßgeblich ist – bei Berücksichtigung zwischenzeitlich eingetretener tatsächlicher oder rechtlicher Veränderungen – der Wert zum Stichtag des Ehezeitendes. Das erleichtert die Prüfung, ob sich der Wert der einzelnen Anrechte seit der abzuändernden Entscheidung verändert hat.
558
Nach § 52 Abs. 3 VersAusglG (früher: § 10a Abs. 8 VAHRG) sind eventuell zur Begründung von Anrechten des Ausgleichsberechtigten in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlte Beiträge unter Anrechnung zwischenzeitlich erbrachter Leistungen zurückzugewähren. 6. Vorbehaltener schuldrechtlicher Versorgungsausgleich
559
Nicht ausdrücklich geregelt hat der Gesetzgeber, was nach neuem Recht passiert, wenn ein öffentlich-rechtlicher Versorgungsausgleich nach altem Recht durchgeführt und hinsichtlich einzelner Anrechte der schuldrechtliche Versorgungsausgleich vorbehalten worden ist. Das Verfahren zum schuldrechtlichen Versorgungsausgleich ist ein eigenständiges Verfahren i.S.d. § 48 VersAusglG, so dass für die Anwendung des alten oder neuen Rechts die oben (Rn. 532 ff.) angestellten Überlegungen gleichermaßen gelten. Auch im Rückschluss aus den §§ 51 Abs. 4, 53 VersAusglG ist zu folgern, dass der schuldrechtliche Versorgungsausgleich ggf. nunmehr als Versorgungsausgleich nach der Scheidung nach neuem Recht (§§ 20 ff. VersAusglG) durchzuführen ist. Auch insoweit gilt, dass nur diejenigen Anrechte dem Versorgungsausgleich nach der Scheidung unterliegen, die schon nach altem Recht dem schuldrechtlichen Versorgungsausgleich unterlagen (s. Rn. 5482). Ausführungen in der Entscheidung zum öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleich, die sich auf die
1 Vgl. Hauß, FPR 2011, 516. 2 Zur Frage, ob seinerzeit vergessene Anrechte jetzt noch schuldrechtlich ausgeglichen werden können, vgl. OLG München v. 31.10.2011 – 12 UF 1755/11, FamRZ 2012, 380; Borth, FamRZ 2012, 337 ff.
1312
Norpoth
Versorgungsausgleich
Rn. 560
Kap. 11
Höhe des schuldrechtlich auszugleichenden Anrechts beziehen, entfalten insoweit keine Bindungswirkung1. Auch ist nicht erforderlich, dass in der früheren Entscheidung die Durchführung des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs ausdrücklich vorbehalten worden ist2. 7. Übergangsrecht für Altfälle Für vor dem 1.7.1977 geschlossene Ehen erklärt § 54 VersAusglG altes Übergangsrecht für weiter anwendbar. Danach ist ein Versorgungsausgleich auch für diese Ehen grundsätzlich durchzuführen, wenn – sie nicht nach dem bis zum 30.6.1977 geltenden Recht geschieden worden sind, – die ausgleichsberechtigte Person hinsichtlich künftiger Unterhaltsansprüche durch Übertragung von Vermögensgegenständen endgültig abgefunden worden ist oder – die Parteien über ihre Versorgungsausgleichsansprüche vor dem 1.7.1977 eine vertragliche Regelung getroffen haben (welcher der Inhalts- und Ausübungskontrolle standhält).
1 BGH v. 14.2.2007 – XII ZB 190/04, FamRZ 2007, 707; BGH v. 26.10.1994 – XII ZB 126/92, FamRZ 1995, 157 f.; BGH v. 29.3.1995 – XII ZB 156/92, FamRZ 1995, 1481 f.; Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 806. 2 Borth, Versorgungsausgleich, Rn. 806 mwN.
Norpoth
1313
560
Kap. 11 Rn. 561
Versorgungsausgleich
XVI. Schaubild zum Versorgungsausgleich 561
Kurze Ehezeit, Antrag auf Durchführung wird nicht gestellt, § 3 Abs. 3
VA durch Vertrag geregelt/ausgeschlossen, §§ 6–8
Durchführung des Versorgungsausgleichs grob unbillig, § 27 (setzt Gesamtbetrachtung voraus)
Ja
Nein
Anrecht im Sinne des § 2
nein
ja
Geringfügigkeit (§ 18 I, II) – einzelner Anrechte – der Differenz gleichartiger Anrechte
Keine Berücksichtigung im VA
ja
nein
Ausgleichsreife nach § 19
Versorgungsausgleich nach Scheidung, §§ 20–26
Norpoth
Ausnahme vom Soll
nein
Versorgungsausgleich bei Scheidung, §§ 9-17
Regel: Interne Teilung, §§ 10–13
1314
ja
ja
nein
Ein VA findet (ggf. bei § 27 teilweise) nicht (durch Familiengericht) statt
Insoweit findet ein VA nicht statt
Ausnahme: Externe Teilung, §§ 14–17
Zeit
Wenn am oder nach dem 1.9.09 – abgetrennt – ausgesetzt – ruhend, dann nach Wiederaufnahme neues Recht, § 48 II VersAusglG (vorbehaltener) Schuldrechtlicher VA = VA nach Scheidung: neues Recht
Wesentliche Abänderung auch nur eines Anrechts i.S.d. § 51 Abs. 2, 3 VersAusglG: neues Recht
Ausnahme, § 51 IV, in Fällen des § 3b I Nr. 1 VAHRG a.F.: Lösung über VA nach Scheidung
Neuverfahren: neues Recht
Nach dem 1.9.09 eingeleitete Verfahren:
Abänderungsverfahren nach § 51–53 VersAusglG (entspr. § 10a VAHRG a.F.):
Regelfall, § 51 I VersAusglG: Totalrevision nach neuem Recht
Regelfall: bis 30.9.2010 altes Recht anwendbar, § 48 I , III VersAusglG
Vor dem 1.9.09 eingeleitete Verfahren:
Zu differenzieren:
1.9.2009
Einzige Ausnahme: laufendes Verfahren im Instanzenzug, eine erstinstanzliche Entscheidung liegt schon vor, § 48 Abs. 2, 3 VersAusglG
Es gilt für alle laufenden und neuen Verfahren neues materielles Recht und Verfahrensrecht; für Abänderungsverfahren betr. ö.-r. VA nach altem Recht gelten §§ 51–53 VersAusglG
Ab 1.9.2010
Versorgungsausgleich Rn. 562
Kap. 11
XVII. Schaubild zum Übergangsrecht 562
Norpoth
1315
Kapitel 12 Verfahrensrecht Inhaltsübersicht I. Problemfelder II. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Familiensachen, § 111 FamFG 2. Familienstreitsachen, § 112 FamFG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zuständigkeitsregelungen 1. Sachliche Zuständigkeit . . . . . . a) Ehesachen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kindschaftssachen . . . . . . . . . aa) Verfahren der elterlichen Sorge . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren über das Umgangsrecht . . . . . . . . . cc) Kindesherausgabe . . . . . . dd) Sonstige Kindschaftssachen . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abstammungssachen . . . . . . d) Adoptionssachen . . . . . . . . . . e) Ehewohnungs- und Haushaltssachen . . . . . . . . . . . . . . . f) Gewaltschutzsachen . . . . . . . g) Versorgungsausgleichssachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Unterhaltssachen. . . . . . . . . . i) Güterrechtssachen . . . . . . . . j) Streitigkeiten in sonstigen Familiensachen . . . . . . . . . . . k) Lebenspartnerschaftssachen 2. Örtliche Zuständigkeit . . . . . . . a) Ehesachen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Andere Familiensachen aa) Vor Anhängigkeit der Ehesache (1) Kindschaftssachen . . (2) Abstammungssachen . . . . . . . . . . . . . . . (3) Adoptionssachen . . . . (4) Ehewohnungs- und Haushaltssachen . . . . (5) Gewaltschutzsachen (6) Versorgungsausgleichssachen . . . . . . . (7) Unterhaltssachen . . . (8) Güterrechtssachen . . (9) Sonstige Familiensachen . . . . . . . . . . . . .
1316
1 6 9 15 16 19 20 23 24 25 30 31 32 35 36 37 38 40 48 53 54
61 68 71 77 81 83 84 91 93
bb) Während Anhängigkeit einer Ehesache . . . . . . . . . 95 (1) Kindschaftssachen . . . 96 (2) Ehewohnungs- und Haushaltssachen . . . . 97 (3) Versorgungsausgleichssachen . . . . . . . 98 (4) Unterhaltssachen. . . . 99 (5) Güterrechtssachen . . 100 c) Örtliche Zuständigkeit in Lebenspartnerschaftssachen 101 d) Zuständigkeitskonflikte . . . . 102 e) Internationale Zuständigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 IV. Allgemeine Vorschriften in FG-Familiensachen 1. Beteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Beteiligte kraft Gesetzes . . . . 118 b) Beteiligte kraft Hinzuziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 c) Übersicht über Beteiligte i.S.d. § 7 FamFG . . . . . . . . . . . 127 2. Verfahrensfähigkeit . . . . . . . . . . 128 3. Bekanntgabe; formlose Mitteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4. Fristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5. Antragsrücknahme; Beendigungserklärung . . . . . . . . . . . . . . 134 V. Verfahren im ersten Rechtszug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Verfahrenseinleitung . . . . . . . . . 138 2. Bevollmächtigte/Verfahrensvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Akteneinsicht . . . . . . . . . . . . . . . 147 4. Amtsermittlungsgrundsatz . . . 148 5. Beweiserhebung zur Sachverhaltsaufklärung . . . . . . . . . . . . . . 154 6. Vorbereitung der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 7. Beendigung des Verfahrens a) Durch Vergleich . . . . . . . . . . . 168 b) Entscheidung durch Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 8. Wirksamkeit eines Beschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 9. Formelle Rechtskraft . . . . . . . . . 176
Kap. 12
Verfahrensrecht 10. Verfahrenskostenhilfe . . . . . . . . 177 11. Schematische Darstellung der Familiensachen und ihrer Zuordnung im familiengerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . . . 180 VI. Verfahren in Ehesachen, Scheidungs- und Folgesachen 1. Allgemeine Verfahrensgrundsätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einleitung und Ablauf des Ehescheidungsverfahrens . . . . . a) Antragsschrift . . . . . . . . . . . . . aa) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anlagen . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bezeichnungen. . . . . . . . . dd) Verfahrensfähigkeit . . . . ee) Sachantrag . . . . . . . . . . . . ff) Begründung. . . . . . . . . . . . b) Zustimmung zur Scheidung und Rücknahme des Scheidungsantrags/Widerruf der Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . c) Eingeschränkte Amtsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Persönliche Anhörung . . . . . e) Säumnis der Beteiligten . . . . f) Beendigung des Verfahrens . VII. Verbund von Scheidungs- und Folgesachen 1. Überblick Verbund . . . . . . . . . . . 2. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eintritt des Verbunds . . . . . . . . . 4. Auswirkungen des Verbunds . . 5. Beendigung des Verbunds a) Antragsrücknahme, Abweisung des Scheidungsantrags b) Abtrennung aa) Wirkung . . . . . . . . . . . . . . bb) Möglichkeiten einer Abtrennung . . . . . . . . . . . cc) Entscheidung durch Beschluss. . . . . . . . . . . . . . c) Beendigung aus sonstigen Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Außergerichtliche Streitbeilegung über Folgesachen . . .
181 183 184 185 188 189 190 191 192
194 196 197 199 201
202 203 207 217 221 227 228 235 237 242
VIII. Verfahren in Familiensachen außerhalb des Verbunds 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 2. Einstweiliger Rechtsschutz nach dem FamFG . . . . . . . . . . . . 247 a) Voraussetzungen des einstweiligen Anordnungsverfahrens
aa) Selbständigkeit des einstweiligen Anordnungsverfahrens . . . . . . . . 251 bb) Zuständigkeit . . . . . . . . . . 252 cc) Antragserfordernis . . . . . . 255 dd) Anordnungsanspruch . . . 258 ee) Regelungsbedürfnis . . . . . 259 ff) Regelungsumfang . . . . . . 260 b) Gang des einstweiligen Anordnungsverfahrens . . . . . . . . 261 c) Entscheidungsform . . . . . . . . 265 d) Rechtsbehelfe im einstweiligen Anordnungsverfahren . 266 aa) Rechtsbehelfe ohne vorherige mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . 268 (1) Antrag auf mündliche Verhandlung, § 54 Abs. 2 FamFG. . . 269 (2) Antrag auf Einleitung des Hauptsacheverfahrens, § 52 FamFG . 275 bb) Rechtsbehelfe nach mündlicher Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 (1) Antrag auf Einleitung des Hauptsacheverfahrens, § 52 FamFG . 279 (2) Antrag auf Aufhebung oder Änderung, § 54 Abs. 1 FamFG . . . . . . . . . . . . . 280 (3) Beschwerde, § 57 FamFG . . . . . . . . . . . . . 284 e) Aussetzung der Vollstreckung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 f) Außerkrafttreten der einstweiligen Anordnung, § 56 FamFG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 g) Vollstreckbarkeit einstweiliger Anordnungen . . . . . . . . . 291 h) Kosten der einstweiligen Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 293 i) Spezialregelungen für einstweilige Anordnungen aa) In Familienstreitsachen . 295 bb) In Kindschaftssachen . . . 298 cc) In Gewaltschutzsachen . 300 dd) In Unterhaltssachen . . . . 301 j) Abwehr der einstweiligen Anordnung durch negativen Feststellungsantrag . . . . . . . . 310 3. Einstweilige Verfügung und Arrest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
1317
Kap. 12 4. Isolierte Hauptsacheverfahren a) In Kindschaftssachen . . . . . . aa) Verfahrensbeistand . . . . . bb) Persönliche Anhörung/ Mitwirkung Dritter . . . . cc) Vermittlungsverfahren in Umgangsrechtssachen . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Abänderung und Überprüfung kinderschutzrechtlicher Maßnahmen b) In Abstammungssachen . . . . c) In Adoptionssachen. . . . . . . . d) In Ehewohnungs- und Haushaltssachen . . . . . . . . . . e) In Gewaltschutzsachen . . . . f) In Versorgungsausgleichssachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Erstverfahren in Unterhaltssachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeine Verfahrensvoraussetzungen . . . . . . . bb) Unterhaltsverfahren betreffend den Kindesunterhalt . . . . . . . . . . . . . . (1) Minderjährigenunterhalt . . . . . . . . . . . . . (2) Volljährigenunterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ehegattenunterhalt, Unterhalt nach § 1615l BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Vollstreckung in Unterhaltssachen . . . . . . . . . . . . ee) Kosten in Unterhaltssachen . . . . . . . . . . . . . . . . h) In Güterrechtssachen . . . . . . i) In sonstigen Familiensachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) In Lebenspartnerschaftssachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abänderung von Unterhaltstiteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abgrenzungsfragen . . . . . . . . aa) Abgrenzung zum Vollstreckungsabwehrantrag bb) Abgrenzung zum Leistungsantrag . . . . . . . . . . . . cc) Abgrenzung zur Beschwerde und Rechtsbeschwerde . . . . . . . . . . . . dd) Abgrenzung zum Feststellungsantrag . . . . . . . .
1318
Verfahrensrecht
325 342 348 352 355 358 366 370 386 396 405 408 426 427 441 444 446 447 448 455 457 458 459 460 464 471 474
b) Abänderung von Endentscheidungen gem. § 238 FamFG aa) Zulässigkeit des Abänderungsantrags (1) Allgemeine Voraussetzungen. . . . . . . . . . . 475 (2) Besondere Voraussetzungen. . . . . . . . . . . 481 bb) Begründetheit des Abänderungsantrags . . . . . . . . . 492 cc) Darlegungs- und Beweislast. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 dd) Abänderungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 c) Abänderung von Vergleichen und Urkunden, § 239 FamFG aa) Zulässigkeit . . . . . . . . . . . 514 bb) Begründetheit . . . . . . . . . . 523 6. Vollstreckungsabwehrverfahren gem. § 767 ZPO . . . . . . . . . . 528 IX. Rechtsmittel und Rechtsbehelfe in Familiensachen 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 2. Anfechtung von Endentscheidungen a) Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . 542 aa) Statthaftigkeit der Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . 543 bb) Zuständigkeit . . . . . . . . . . 549 cc) Beschwerdebefugnis . . . . 550 dd) Beschwerdewert/Zulassungsbeschwerde (1) Beschwerdewert . . . . . 563 (2) Zulassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . 569 ee) Beschwerdefrist . . . . . . . . 572 ff) Einlegung der Beschwerde . . . . . . . . . . . . 576 gg) Beschwerdeschrift . . . . . . 581 hh) Beschwerdebegründung (1) In FG-Familiensachen. . . . . . . . . . . . . . 584 (2) In Ehe- und Familienstreitsachen . . . . . . 587 ii) Anschlussbeschwerde. . . 594 jj) Rechtsmittelverzicht/ Rücknahme . . . . . . . . . . . . 603 kk) Gang des Beschwerdeverfahrens (1) Allgemeine Verfahrensgrundsätze . . . . . . 606
Kap. 12
Verfahrensrecht (2) Angriffs- und Verteidigungsmittel . . . . . . . (3) Beschwerdeentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . (4) Anschlussrechtsmittel/Rechtsmittelerweiterung in Scheidungs- und Folgesachen . . . . . . . . 3. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand a) In FG-Familiensachen . . . . . b) In Ehe- und Familienstreitsachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
618 619
621 628
4. Rechtsbeschwerde . . . . . . . . . . . 641 5. Anfechtung von Zwischenund Nebenentscheidungen . . . . 659 6. Anhörungsrüge; Gegenvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668 X. Anwaltszwang in Familiensachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 1. Verfahren ohne Anwaltszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 2. Verfahren mit Anwaltszwang. . 676 XI. Übergangsregelungen . . . . . . . . . 678
633
Literaturverzeichnis: Eckebrecht/Gutjahr, Verfahrenshandbuch Familiensachen, 2. Aufl. 2010; van Els, Die Aussetzung der Vollstreckung nach § 55 FamFG, FamRZ 2011, 1706; Andreas Frank, Anwaltszwang bei der isolierten Beschwerde gegen Verbundentscheidungen in Folgesachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, FamRZ 2011, 1021; Giers, Verfahrensrechtliche Probleme bei Scheidungsfolgensachen gem. § 137 Abs. 2 FamFG, FamRB 2011, 287; Giers, Die Vollstreckung in Familiensachen ab dem 1.9.2009, FamRB 2009, 87 f.; Giers, Der Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz, FamRB 2005, 303 f.; Götsche, Übergangsrecht: Der selbständige Versorgungsausgleich, FamRB 2011, 123; Götz, Das neue Familienverfahrensrecht – Erste Praxisprobleme, NJW 2010, 897; Götz/Brudermüller, Wohnungszuweisungs- und Hausratssachen, FPR 2009, 38 f.; Griesche, Das Verhältnis zwischen § 522 Abs. 2 ZPO und § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG in Ehe- und Familienstreitsachen, FamRB 2011, 154; Griesche, Die Bekanntgabe von Entscheidungen in Unterhaltssachen, FamRB 2010, 340; Große-Boymann, Verfahrenshandbuch Familiensachen, 2. Aufl. 2010; Heiter, Praxisprobleme und gesetzlicher Änderungsbedarf im Familienverfahrensrecht, FamRB 2012, 21; Heiter, Das Verfahren in sonstigen Familiensachen nach dem FamFG, FamRB 2010, 121; Heiter, Verfahrensfähigkeit des Kindes in personenbezogenen Verfahren nach dem FamFG, FamRZ 2009, 85 f.; Kogel, Das selbständige Beweisverfahren – gerichtskostenfreie Wertermittlung im Zugewinnausgleich, FamRB 2010, 155; Krause, Verfahren in Kindschaftssachen nach dem FamFG, FamRB 2009, 156 f.; Maurer, Die Rechtsmittel in Familiensachen nach dem FamFG, FamRZ 2009, 465 f.; Nickel, Aktuelle Entwicklungen in der Rechtsprechung zur PKH, MDR 2010, 1227; Roessink, Das Verfahren in Unterhaltssachen nach dem FamFG, FamRB 2009, 117 f.; Rüntz/Viefhues, Erste Erfahrungen aus der Praxis mit dem FamFG, FamRZ 2010, 1285; Schlünder, Der gerichtlich gebilligte Vergleich, FamRZ 2012, 9; Schürmann, Die einstweilige Anordnung nach dem FamFG, FamRB 2008, 375 f.; Schürmann, Die Rechtsmittel nach dem FamFG, FamRB 2009, 24 f.; Stößer, Das neue Verfahren in Kindschaftssachen, FamRZ 2009, 656 f.; Spangenberg, Mediationskostenhilfe ein Verfassungsgebot?, FamRZ 2009, 834; Streicher, Rechtssprechungsübersicht zum FamFG, FamRZ 2011, 509; Wever, Die Entwicklung der Rechtsprechung zur Vermögensauseinandersetzung der Ehegatten außerhalb des Güterrechts, FamRZ 2011, 413; Wever, Das Große Familiengericht nach dem FamFG, FF 2008, 399 f.
Kühner
1319
Kap. 12 Rn. 1
Verfahrensrecht
I. Problemfelder 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Örtliche Zuständigkeit (Rn. 61 f.) Beteiligtenstellung (Rn. 115 f.) Rechtsbehelfsbelehrung (Rn. 173) Eintritt der Wirksamkeit eines Beschlusses (Rn. 174 f., 446 f.) Zwei-Wochen-Sperrfrist im Scheidungsverbundverfahren (Rn. 207 f.) Einstweilige Anordnungen in Unterhaltssachen (Rn. 301 f.) Abänderung von Unterhaltstiteln (Rn. 458 ff.) Rechtsmittel (Rn. 536 ff.), Anschlussbeschwerde (Rn. 594 f.) und Auswirkungen eines Rechtsmittelverzichts gegen den Scheidungsausspruch (Rn. 603 ff.) 9. Wiedereinsetzung (Rn. 628 ff.) 10. Anfechtung von Nebenentscheidungen (Rn. 659 ff.) 11. Übergangsvorschriften (Rn. 678)
II. Einleitung 1
Mit dem am 1.9.2009 in Kraft getretenen Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG)1 wurden das gesamte familiengerichtliche Verfahren und das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit neu geregelt. Vorher waren Verfahren in Familiensachen in der ZPO, im FGG, im BGB, in der HausratsVO und weiteren Gesetzen geregelt. Diese Überlagerung verschiedener Verfahrensordnungen, insbesondere der ZPO und des FGG, erforderte eine Unterscheidung in sog. ZPO-Familiensachen, auf die die ZPO Anwendung fand, und in die FGG-Familiensachen, für die die Vorschriften des FGG galten. Mit der Einführung des FamFG wurde eine einheitliche Verfahrensordnung geschaffen, das 6. Buch der ZPO über das Verfahren in Familiensachen (§§ 606 bis 687 ZPO) wurde aufgehoben und das FGG und die HausratsVO, deren Bestimmungen in das FamFG eingearbeitet wurden, außer Kraft gesetzt.
2
Das FamFG ist in neun Bücher gegliedert. Grundsätzlich sind auf alle Familiensachen die Vorschriften des Allgemeinen Teils in Buch 1 des FamFG (§§ 1 bis 110 FamFG) anwendbar, soweit nicht in Buch 2 in dessen Abschnitten 2 bis 12 spezielle Bestimmungen für die einzelnen Verfahren in Familiensachen enthalten sind, die die Anwendung des Allgemeinen Teils des FamFG nur mit Einschränkungen zulassen und im Übrigen auf die entsprechende Anwendung bestimmter Vorschriften der ZPO verweisen.
3
Für die Frage, welche Vorschriften im Einzelnen für die jeweiligen Verfahren zugrunde zu legen sind, ist zu unterscheiden zwischen Familiensachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FG-Familiensachen) einerseits und Ehesachen und Familienstreitsachen andererseits. Die FG-Familien1 Gesetz v. 17.12.2008, BGBl. I, S. 2586.
1320
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 8
Kap. 12
sachen unterliegen in vollem Umfang den Vorschriften des Allgemeinen Teils des FamFG, während auf Ehesachen und Familienstreitsachen über § 113 Abs. 1 FamFG die Allgemeinen Vorschriften der ZPO (§§ 1 bis 252 ZPO) und der Vorschriften der ZPO über das Verfahren vor den Landgerichten (§§ 253 bis 494a ZPO) entsprechend anwendbar sind. Die Differenzierung zwischen FG-Familiensachen und Ehe- und Famili- 4 enstreitsachen ist notwendig, weil die jeweils anzuwendenden Verfahrensvorschriften unterschiedliche Anforderungen zB an die Einleitung des Verfahrens, den Inhalt und die Begründung einer Antragsschrift und an die Beweiserhebung stellen sowie unterschiedliche Auswirkungen auf die Wirksamkeit und Vollstreckbarkeit von Endentscheidungen und den Anwaltszwang haben.
Û
Wichtig: Die Verweisung auf die Vorschriften der ZPO in Ehe- und Familienstreitsachen gilt nur insoweit, als die §§ 113 Abs. 2 bis 5, 114 bis 120 FamFG sowie die speziellen Vorschriften zu den einzelnen Familiensachen keine abweichende Regelung enthalten.
Flankiert wird das FamFG von einem einheitlichen Gesetz über Gerichts- 5 kosten in Familiensachen (FamGKG), so dass das Nebeneinander der Regelungen im GKG und in der KostO entfallen ist. 1. Familiensachen, § 111 FamFG In § 111 Nr. 1 bis 11 FamFG sind die einzelnen Familiensachen enumera- 6 tiv aufgezählt und in Buch 2 in den Abschnitten 2–12 (§§ 121–270 FamFG) in der jeweils ersten zu Beginn der Abschnitte genannten Vorschrift näher definiert. Familiensachen sind:
7
– Ehesachen, § 121 FamFG, – Kindschaftssachen, § 151 FamFG, – Abstammungssachen, § 169 FamFG, – Adoptionssachen, § 186 FamFG, – Ehewohnungs- und Haushaltssachen, § 200 FamFG, – Gewaltschutzsachen, § 210 FamFG, – Versorgungsausgleichssachen, § 217 FamFG, – Unterhaltssachen, § 231 FamFG, – Güterrechtssachen, § 261 FamFG, – sonstige Familiensachen, § 266 FamFG, – Lebenspartnerschaftssachen, § 269 FamFG. Diese Aufzählung ersetzt die früher in § 23b Abs. 1 S. 2 GVG und § 621 8 Abs. 1 ZPO enthaltenen Kataloge. Insbesondere durch die Erfassung der Kühner
1321
Kap. 12 Rn. 9
Verfahrensrecht
sonstigen Familiensachen gem. § 266 FamFG und der Adoptionssachen wurde der Kreis der Familiensachen erheblich erweitert. 2. Familienstreitsachen, § 112 FamFG 9
Neu eingeführt wurde innerhalb der Familiensachen der Begriff der Familienstreitsachen, § 112 FamFG, die weitestgehend mit den früheren ZPOFamiliensachen übereinstimmen. Folgende Familiensachen sind Familienstreitsachen: a) Unterhaltssachen gem. § 231 Abs. 1 FamFG und die entsprechenden Lebenspartnerschaftssachen gem. § 269 Abs. 1 Nr. 7 und 8 FamFG sind Verfahren, die – die durch Verwandtschaft begründete gesetzliche Unterhaltspflicht, – die durch Ehe begründete gesetzliche Unterhaltspflicht, – die Ansprüche nach §§ 1615l oder 1615m BGB, – die gesetzliche Unterhaltspflicht für ein gemeinschaftliches minderjähriges Kind der Lebenspartner oder – die durch die Lebenspartnerschaft begründete gesetzliche Unterhaltspflicht betreffen.
10 b) Güterrechtssachen gem. § 261 Abs. 1 FamFG mit den entsprechenden Lebenspartnerschaftssachen gem. § 269 Abs. 1 Nr. 10 FamFG sind Verfahren, die die Ansprüche aus dem ehelichen Güterrecht oder dem lebenspartnerschaftlichen Güterrecht betreffen, auch wenn Dritte an dem Verfahren beteiligt sind. 11 c) Sonstige Familiensachen gem. § 266 Abs. 1 FamFG mit den entsprechenden Lebenspartnerschaftssachen gem. § 269 Abs. 2 FamFG sind Verfahren über – die Ansprüche zwischen miteinander verlobten oder ehemals verlobten Personen im Zusammenhang mit der Beendigung des Verlöbnisses sowie in den Fällen der §§ 1298 und 1299 BGB zwischen einer solchen und einer dritten Person, – die aus der Ehe herrührenden Ansprüche, – die Ansprüche zwischen miteinander verheirateten oder ehemals miteinander verheirateten Personen oder zwischen einer solchen und einem Elternteil im Zusammenhang mit Trennung oder Scheidung oder Aufhebung der Ehe, – die aus dem Eltern-Kind-Verhältnis herrührenden Ansprüche oder – die aus dem Umgangsrecht herrührenden Ansprüche, sofern nicht die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte gegeben ist oder das Verfahren eines in der § 348 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a–k ZPO genannten Sachgebiete, das Wohnungseigentumsrecht oder das Erbrecht betrifft und sofern es sich nicht bereits nach anderen Vorschriften um eine Familiensache handelt, 1322
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 12
Kap. 12
– die Ansprüche nach § 1 Abs. 3 S. 2 LPartG i.V.m. §§ 1298 bis 1301 BGB, – die Ansprüche aus der Lebenspartnerschaft, – die Ansprüche zwischen Personen, die miteinander eine Lebenspartnerschaft führen oder geführt haben oder zwischen einer solchen Person und einem Elternteil im Zusammenhang mit der Trennung oder Aufhebung der Lebenspartnerschaft, sofern nicht die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte gegeben ist oder das Verfahren eines der in § 348 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a–k ZPO genannten Sachgebiete, das Wohnungseigentumsrecht oder das Erbrecht betrifft und sofern es sich nicht bereits nach anderen Vorschriften um eine Lebenspartnerschaftssache handelt. d) Übersicht über die Anwendbarkeit des Allgemeinen Teils des FamFG in Familiensachen gem. § 113 FamFG
Ehesachen
Familienstreitsachen
FG-Familiensachen
§ 121 Nr. 1 FamFG
§ 112 FamFG
§§ 111 Nr. 2–7 FamFG § 111 Nr. 8 iVm. § 231 Abs. 2 FamFG § 111 Nr. 9 iVm. § 261 Abs. 2 FamFG § 111 Nr. 10 iVm. § 266 Abs. 2 FamFG § 111 Nr. 11 iVm. § 269 Abs. 2 FamFG
anwendbar: §§ 1, 38, 39, 46 Satz 3 u. 4, 49–75, 97–110 FamFG
§§ 1–110 FamFG anwendbar
nicht anwendbar: §§ 2–37, 40–45, 46 Satz 1 u. 2, 47, 48, 76–96 FamFG
Kühner
1323
12
Kap. 12 Rn. 13
Verfahrensrecht
13 e) Anwendbarkeit der ZPO in Familiensachen gem. § 113 FamFG
Ehesachen § 121 Nr. 1 FamFG
Familienstreitsachen § 112 FamFG
anwendbar: §§ 1–252, 253–494a ZPO §§ 578 – 591 ZPO (Wiederaufnahme des Verfahrens) In den §§ 117–120 FamFG werden weitere Vorschriften der ZPO für anwendbar erklärt.
anwendbar: §§ 1–252, 253–494a ZPO §§ 592–605a ZPO (Urkunden- u. Wechselprozess) §§ 688–703d ZPO (Mahnverfahren) §§ 578–591 ZPO (Wiederaufnahme des Verfahrens) In den §§ 117–120 FamFG werden weitere Vorschriften der ZPO für anwendbar erklärt.
nicht anwendbar: § 227 Abs. 3 ZPO Weitere nicht anwendbare Vorschriften der ZPO sind in § 113 Abs. 4 FamFG aufgeführt.
nicht anwendbar: § 227 Abs. 3 ZPO
14 Auswirkungen hat die Differenzierung insbesondere für den Anwaltszwang, die Beweiserhebung, die Wirksamkeit von Endentscheidungen, auf Rechtsmittel und auf die Vollstreckung.
III. Zuständigkeitsregelungen 1. Sachliche Zuständigkeit 15 Die sachliche Zuständigkeit der Amtsgerichte – Familiengerichte – ist in § 23a GVG geregelt. Die Amtsgerichte sind gem. § 23a Abs. 1 Nr. 1 GVG für Familiensachen und gem. § 23a Abs. 1 Nr. 2 GVG für Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, soweit nicht durch gesetzliche Vorschriften eine anderweitige Zuständigkeit begründet ist, sachlich ausschließlich zuständig. Bei den Amtsgerichten sind besondere Abteilungen eingerichtet, die für die Familiensachen ausschließlich zuständig sind, § 23b Abs. 1 GVG (Familiengerichte).
1324
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 21
Kap. 12
a) Ehesachen Der Begriff der Ehesachen ist in § 121 FamFG legal definiert. Ehesachen sind:
16
– Ehescheidungsverfahren, §§ 1564 bis 1568 BGB, – Verfahren auf Aufhebung einer Ehe, §§ 1313 bis 1318 BGB, – Verfahren auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens einer Ehe zwischen den Beteiligten. Verfahren auf Herstellung des ehelichen Lebens, § 1353 BGB, zählen we- 17 gen ihrer geringen Bedeutung nicht mehr zu den Ehesachen. Diese Verfahren zählen zu den sonstigen Familiensachen, vgl. Rn. 40. In den Katalog der Ehesachen wurden bestimmte, nach ausländischen 18 Rechtsordnungen vorgesehene Verfahren, wie zB das italienische Verfahren nach Art. 151 Ital.CC auf Trennung von Tisch und Bett nicht ausdrücklich aufgenommen, diese Verfahren werden jedoch wie bisher den Ehesachen zugeordnet, so dass das Familiengericht auch sachlich zuständig ist1. b) Kindschaftssachen Sämtliche Streitigkeiten in Kindschaftssachen, die in § 151 FamFG neu 19 definiert sind, fallen in die Zuständigkeit des Familiengerichts. § 151 FamFG erfasst nicht nur die im früheren § 621 Abs. 1 Nr. 1–3 und teilweise unter § 621 Abs. 1 Nr. 12 ZPO genannten Familiensachen, sondern darüber hinaus weitere Regelungsgegenstände in § 151 Nr. 4–8 FamFG, die bis zum Inkrafttreten des FamFG dem Vormundschaftsgericht zugewiesen waren. aa) Verfahren der elterlichen Sorge Sämtliche Verfahren betreffend die elterliche Sorge für eheliche oder nichteheliche Kinder sind Kindschaftssachen i.S.d. des § 151 Nr. 1 FamFG.
20
Erfasst werden alle Verfahren, die die Bestimmung der Person, der Rechte oder Pflichten des Sorgeberechtigten betreffen. Zu nennen sind insbesondere
21
– die Verfahren auf Übertragung der elterlichen Sorge bei dauerndem Getrenntleben (§§ 1671 bis 1672 BGB); mit umfasst sind auch Verfahrensgegenstände, die mit einer derartigen Regelung aus sachlichen oder verfahrensrechtlichen Gründen in Zusammenhang stehen2; 1 BGH v. 1.4.1987 – IVb ZR 40/86, FamRZ 1987, 793; BT-Drucks. 16/6308, 226; OLG Karlsruhe v. 12.1.1999 – 2 WF 129/98, FamRZ 1999, 1680; OLG Frankfurt v. 8.8.1994 – 6 WF 119/94, FamRZ 1995, 375. 2 BT-Drucks. 16/6308, 233.
Kühner
1325
Kap. 12 Rn. 22
Verfahrensrecht
– Übertragung der Entscheidungsbefugnis in einer einzelnen Angelegenheit von erheblicher Bedeutung (§ 1628 BGB); – elterliche Sorge bei Pflegerbestellung oder Familienpflege (§ 1630 BGB); – Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls und des Kindesvermögens (§§ 1666, 1667 BGB); – Verfahren bei Tod eines Elternteils oder Entziehung des Sorgerechts (§ 1680 Abs. 2 und Abs. 3 BGB); – Bestellung eines Ergänzungspflegers bei Verhinderung der Eltern (§ 1693 BGB); – Abänderung gerichtlicher Entscheidungen und gerichtlich gebilligter Vergleiche (§ 1696 BGB). 22 Zu den Verfahren der elterlichen Sorge und damit vor das Familiengericht gehören nunmehr auch die nach alter Rechtslage noch von dem Vormundschaftsgericht zu treffenden Entscheidungen: – Ermächtigung eines Minderjährigen zum selbständigen Betrieb eines Erwerbsgeschäftes (§ 112 BGB); – Befreiung vom Ehemündigkeitsalter der Volljährigkeit (§ 1303 Abs. 2–4 BGB); – Ausschluss der Eheaufhebung (§ 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB); – Religionswechsel, Bestimmung des Religionsverhältnisses bei Vormundschaft oder Pflegschaft (§§ 2 Abs. 3, 3 Abs. 2, 7 RelKErzG); – Aufgebotsverfahren (§ 16 Abs. 3 VerschG); – Änderung des Familiennamens (§ 2 Abs. 1 NÄG). bb) Verfahren über das Umgangsrecht 23 Sämtliche Streitigkeiten, die das Umgangsrecht, dh. die Regelung von Umgangskontakten oder die Abänderung gerichtlicher Umgangsregelungen betreffen, sind Kindschaftssachen i.S.d. § 151 Nr. 2 FamFG und fallen in die sachliche Zuständigkeit der Familiengerichte. Zu nennen sind insbesondere – Regelungen über den Umgang des Kindes mit den Eltern und gegenüber Dritten (§ 1684 Abs. 1 und 3 BGB); – Einschränkung oder Ausschluss des Umgangsrechts und begleitender Umgang (§ 1684 Abs. 4 BGB); – Umgang des Kindes mit anderen Bezugspersonen (§ 1685 BGB); – Anordnung einer Umgangspflegschaft (§§ 1684 Abs. 3 S. 3, 1685 Abs. 3 S. 2 BGB); – Maßnahmen wegen Kindeswohlgefährdung (§ 1666 BGB); – Abänderung einer Entscheidung über das Umgangsrecht gem. § 1696 Abs. 1 BGB. 1326
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 27
Kap. 12
cc) Kindesherausgabe Die sachliche Zuständigkeit des Familiengerichts erfasst auch Verfahren, 24 die die Herausgabe eines ehelichen oder nichtehelichen Kindes an den Personensorgeberechtigten betreffen (§ 151 Nr. 3 FamFG). Zu nennen sind insbesondere – Herausgabeverlangen der Eltern untereinander oder gegenüber Dritten, zB einer Pflegeperson1 (§ 1632 Abs. 1 BGB); – Verbleibensanordnung bei der Pflegeperson (§ 1632 Abs. 4 BGB); – Abänderung gerichtlicher Entscheidungen (§ 1696 BGB). dd) Sonstige Kindschaftssachen Sämtliche Vormundschaftssachen, dh. Verfahren, die die Bestimmung der 25 Person oder der Rechte oder Pflichten des Vormunds betreffen, zählen gem. § 151 Nr. 4 FamFG ebenfalls zu den Kindschaftssachen und unterliegen damit der sachlichen Zuständigkeit des Familiengerichts (das Vormundschaftsgericht wurde aufgelöst). Zu nennen sind insbesondere folgende Verfahren: – Anordnung und Aufhebung der Vormundschaft (§§ 1774, 1886 f. BGB); – Auswahl und Bestellung des Vormunds (§ 1779 BGB). Erfasst sind ferner die für einen unter Vormundschaft stehenden Minderjährigen zu treffenden Entscheidungen nach den §§ 112, 113 Abs. 3 BGB, 2 Abs. 3, 3 Abs. 2, 7 RelKErzG, 56 SGB VIII, § 2 Abs. 1 NÄG, 16 Abs. 3 VerschG sowie Verfahren gem. §§ 1303 Abs. 2–4, 1315 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Auch Verfahren gem. §§ 1411, 1491 Abs. 3, 1492 Abs. 3 BGB werden als Kindschaftssachen definiert2.
26
Weitere Kindschaftssachen (§ 151 Nr. 5 FamFG) sind die Verfahren, die 27 sich auf die Bestimmung der Person des Pflegers oder Vertreters sowie auf dessen Rechte oder Pflichten für minderjährige Kinder beziehen. Zu nennen sind insbesondere die – Umgangspflegschaft (§ 1684 Abs. 3 S. 3 BGB), – Ergänzungspflegschaft3 (§ 1909 BGB) und die – Pflegschaft für eine Leibesfrucht (§ 1912 BGB).
1 OLG Bamberg v. 11.8.1998 – 2 UF 169/98, FamRZ 1999, 663. 2 BT-Drucks. 16/6308, 262. 3 OLG Dresden v. 12.3.2010 – 24 UF 157/10, FamRZ 2010, 1995 (zur Anordnung einer Ergänzungspflegschaft zwecks Geltendmachung von Kindesunterhalt gegenüber allein sorgeberechtigtem Vater); OLG Nürnberg v. 15.4.2010 – 9 UF 353/10, FamRZ 2010, 1996 und OLG Brandenburg v. 17.11.2009 – 10 UF 154/09, FamRZ 2010, 843 (zur Ergänzungspflegschaft bei Zeugnisverweigerungsrecht eines minderjährigen Kindes).
Kühner
1327
Kap. 12 Rn. 28
Verfahrensrecht
28 Verfahren über Unterbringungsmaßnahmen sind ebenfalls Kindschaftssachen und fallen somit in die sachliche Zuständigkeit des Familiengerichts. Hierzu zählen – die Genehmigung der Unterbringung eines Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, §§ 1631b, 1800, 1915 BGB (§ 151 Nr. 6 FamFG) und – die Anordnung einer freiheitsentziehenden Unterbringung nach den Landesgesetzen über die Unterbringung psychisch Kranker (§ 151 Nr. 7 FamFG). 29 Die dem Familiengericht nach dem JGG (§§ 53, 104 Abs. 4 JGG) obliegenden Aufgaben sind Kindschaftssachen gem. § 151 Nr. 8 FamFG. Zu nennen sind insbesondere – die Festsetzung von Erziehungsmaßregeln (§ 9 JGG); – die Bestellung eines Pflegers nach § 67 Abs. 4 S. 3 JGG. c) Abstammungssachen 30 Die ebenfalls dem Familiengericht zugewiesenen Abstammungssachen sind in § 169 FamFG definiert. Abstammungssachen sind insbesondere – Verfahren auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Eltern-Kind-Verhältnisses und postmortale Vaterschaftsfeststellung (§ 1600d BGB); – Feststellung der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Anerkennung der Vaterschaft (§ 1598 BGB); – Anfechtung der Vaterschaft und postmortale Vaterschaftsanfechtung (§ 1599 Abs. 1 i.V.m. §§ 1592 Nr. 1, 1593 BGB). d) Adoptionssachen 31 Für Adoptionssachen (§ 186 FamFG) ist seit 1.9.2009 ebenfalls das Familiengericht zuständig. Adoptionssachen sind Verfahren, die – die Annahme eines minderjährigen oder volljährigen Kindes (§ 186 Nr. 1 FamFG i.V.m. §§ 1741 ff., 1767 ff. BGB), – die Ersetzung der Einwilligung zur Annahme als Kind (§ 186 Nr. 2 FamFG i.V.m. §§ 1748, 1749 Abs. 1 S. 2 BGB), – die Aufhebung des Annahmeverhältnisses (§ 186 Nr. 3 FamFG, §§ 1759, 1760 BGB), – die Befreiung vom Eheverbot des § 1308 Abs. 1 BGB (§ 186 Nr. 4 FamFG) betreffen.
1328
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 33
Kap. 12
e) Ehewohnungs- und Haushaltssachen Sowohl Ehewohnungssachen gem. § 200 Abs. 1 FamFG als auch Haushaltssachen i.S.d. § 200 Abs. 2 FamFG unterliegen der Zuständigkeit des Familiengerichts.
32
Ehewohnungssachen umfassen alle Angelegenheiten zwischen Ehegatten 33 zur Regelung der Rechtsverhältnisse an der Ehewohnung, und zwar während der Trennungszeit (§ 1361b BGB) oder ab Rechtskraft der Scheidung (1568a BGB). Für die sachliche Zuständigkeit ist unerheblich, ob Alleineigentum, Miteigentum, ein Erbbau- und Nießbrauchsrecht, Wohnungseigentum, ein Dauerwohnrecht oder dingliches Wohnrecht an der Ehewohnung besteht. Diese Rechtspositionen fließen lediglich in die für die Entscheidung vorzunehmende Billigkeitsprüfung ein. Folgende Ehewohnungssachen fallen in die Zuständigkeit des Familiengerichts: – Verfahren auf Überlassung der Ehewohnung oder eines Teils der Ehewohnung zur alleinigen Benutzung (§ 1361b Abs. 1 und 2 BGB); – Schutz- und Unterlassungsanordnungen (§ 1361b Abs. 3 S. 1 BGB); – Ansprüche auf Nutzungsvergütung nach vorangegangenem bzw. zeitgleich betriebenem Wohnungszuweisungsverfahren (§ 1361b Abs. 3 S. 2 BGB); – Überlassung der Ehewohnung nach Rechtskraft der Scheidung (§ 1568a BGB)1; – Anspruch auf Begründung eines Mietverhältnisses (§ 1568a Abs. 4 S. 1), während mietrechtliche Streitigkeiten zwischen den Ehegatten aufgrund eines gem. § 1568a Abs. 5 BGB begründeten oder gem. § 1568a Abs. 3 BGB geänderten Mietvertrags in die Zuständigkeit des Zivilgerichts fallen, da es sich weder um eine Ehewohnungs- noch um eine sonstige Familiensache i.S.d. § 266 Abs. 1 FamFG handelt2.
Û
Praxistipp: Ist ein Ehegatte freiwillig aus der Ehewohnung ausgezogen und hat dem in der Ehewohnung verbleibenden Ehepartner während der Trennungszeit die Nutzung freiwillig überlassen, ist ebenfalls das Familiengericht für ein Verfahren auf Zahlung einer Nutzungsentschädigung gegen den in der Ehewohnung verbliebenen Ehegatten zuständig. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Anspruch auf § 745 Abs. 2 BGB oder auf § 1361b BGB beruht. Die Unterscheidung ist wichtig, weil für die jeweiligen Ansprüche unterschiedliche Verfahrensvorschriften gelten. Der Anspruch gem. § 1361b Abs. 3 S. 2 BGB ist eine FG-Familiensache, auf die die §§ 200 f. FamFG iVm dem All-
1 Mit dem Gesetz zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts v. 6.7.2009, BGBl. I, S. 1696, wurden die materiellrechtlichen Regelungen der HausratsVO aufgehoben und in §§ 1568a und 1568b BGB integriert. 2 So auch Götz/Brudermüller, NJW 2010, 5; aA Prütting/Helms/Heiter, § 266 FamFG Rn. 54; Wever, FamRZ 2010, 237; Heinemann, MDR 2009, 1026.
Kühner
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Kap. 12 Rn. 34
Verfahrensrecht
gemeinen Teil des FamFG anzuwenden sind, während es sich bei einem Anspruch gem. § 745 Abs. 2 BGB um eine sonstige Familiensache nach § 266 Abs. 1 FamFG und damit um eine Familienstreitsache gem. § 112 FamFG handelt, für die im Wesentlichen über § 113 FamFG die allgemeinen Vorschriften der ZPO gelten und zB auch Anwaltszwang besteht. Nach inzwischen überwiegender Auffassung folgt der Anspruch auf Zahlung einer Nutzungsvergütung bei freiwilligem Auszug aus § 1361b Abs. 3 S. 2 BGB1, und zwar unabhängig von den Eigentumsverhältnissen. Sind die Ehegatten rechtskräftig geschieden, ist § 745 Abs. 2 BGB Anspruchsgrundlage; bei diesem Verfahren handelt es sich um eine sonstige Familiensache i.S.d. § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG2. 34 Bei den Haushaltssachen, die in § 200 Abs. 2 FamFG definiert sind, handelt es sich um Verfahren, die – den Herausgabeanspruch während der Trennungszeit (§ 1361a Abs. 1 S. 1 BGB); – den Anspruch auf Gebrauchsüberlassung während der Trennungszeit (§ 1361a Abs. 1 S. 2 BGB); – die Verteilung der Haushaltsgegenstände nach Scheidung (§ 1568b BGB)3 betreffen. f) Gewaltschutzsachen 35 Sämtliche Gewaltschutzsachen (§ 210 FamFG) nach §§ 1, 2 GewSchG unterliegen der Zuständigkeit des Familiengerichts. Für die Frage der Zuständigkeit ist unerheblich, ob die Partner miteinander verheiratet sind. Der Zuständigkeit des Familiengerichts unterliegen somit Streitigkeiten nicht nur zwischen Ehegatten, sondern zwischen allen Personen, die in häuslicher Gemeinschaft leben, unabhängig davon, ob zwischen den Beteiligten eine Rechtsbeziehung besteht. Gerichtliche Schutzanordnungen gem. § 1 GewSchG setzen keine persönliche Nähebeziehungen zwischen Opfer und Täter voraus.
1 BGH v. 15.2.2006 – XII ZR 202/03, FamRZ 2006, 930; OLG Hamm v. 1.7.2010 – II-3 UF 122/09, FamRZ 2011, 481; Erman/Kroll-Ludwigs, § 1361b Rn. 12; Palandt/Brudermüller, § 1361b Rn. 20 mwN; Wever, Rn. 101; Wever, FamRZ 2010, 237; aA offenbar BGH v. 4.8.2010 – XII ZR 14/09, FamRZ 2010, 1630 = FamRB 2010, 357. 2 BGH v. 4.8.2010 – XII ZR 14/09, FamRZ 2010, 1630 = FamRB 2010, 357; Palandt/ Brudermüller, § 1568a BGB Rn. 9; aA Prütting/Helms/Neumann, § 200 FamFG Rn. 7. 3 Mit dem Gesetz zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts v. 6.7.2009, BGBl. I, S. 1696, wurden die materiellrechtlichen Regelungen der HausratsVO aufgehoben und in §§ 1568a und 1586b BGB integriert.
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Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 37
Kap. 12
g) Versorgungsausgleichssachen Für alle Versorgungsausgleichssachen (§ 217 FamFG) ist ebenfalls das Fa- 36 miliengericht zuständig. Hierzu zählen Ansprüche zwischen den Ehegatten gem. § 1587 BGB nach Maßgabe des VersAusglG. Verfahren, die den Versorgungsausgleich betreffen, sind die Verfahren über den Wertausgleich, über Ausgleichsansprüche nach der Scheidung oder Abänderungsverfahren1, die Verfahren nach §§ 33, 34 VersAusglG zur Anpassung der Versorgungsbezüge wegen bestehender Unterhaltspflicht2 oder nach §§ 51, 52 VersAusglG3. h) Unterhaltssachen Verfahren in Unterhaltssachen, die in § 231 FamFG definiert sind, unterfallen der sachlichen Zuständigkeit des Familiengerichts. Hierzu zählen: – Streitigkeiten über gesetzliche Unterhaltsansprüche unter Verwandten gem. §§ 1601 f. BGB (§ 231 Abs. 1 Nr. 1 FamFG). Erfasst sind Ansprüche auf Kindesunterhalt ehelicher oder nichtehelicher Kinder, Verfahren, die eine Ersatz- oder Ausfallhaftung gem. §§ 1606, 1607 BGB betreffen und Ansprüche auf Elternunterhalt. – Unterhaltsansprüche, die gem. §§ 94 Abs. 1 S. 1 SGB XII (Sozialhilfe), 33 Abs. 1 SGB II (Leistungen von Arbeitslosengeld II), 37 Abs. 1 BAföG (Ausbildungsförderung), 7 Abs. 1 S. 1 UVG (Unterhaltsvorschuss für minderjährige Kinder) gesetzlich auf den Leistungsträger übergegangen sind, und zwar unabhängig davon, ob sie für oder gegen den Anspruchsinhaber gerichtet sind. – Ansprüche auf Zahlung eines Verfahrenskostenvorschusses des ehelichen oder nichtehelichen Kindes. Der Vorschussanspruch des minderjährigen Kindes wird aus § 1610 BGB hergeleitet, der Verfahrenskostenvorschussanspruch des privilegiert volljährigen und volljährigen Kindes in Analogie zu § 1360a Abs. 4 BGB4. – Verfahren, die die durch die Ehe begründete gesetzliche Unterhaltspflicht betreffen (§ 231 Abs. 1 Nr. 2 FamFG). Erfasst sind Streitigkeiten über den Familienunterhalt (§§ 1360, 1360a BGB), den Trennungsunterhalt (§ 1361 BGB), den nachehelichen Unterhalt (§§ 1569 f. BGB) und Verfahrenskostenvorschussansprüche zwischen getrenntlebenden Ehegatten (§ 1360a Abs. 4 BGB). – Streitigkeiten über Ansprüche der nichtehelichen Mutter/des nichtehelichen Vaters nach § 1615l BGB oder Ansprüche gem. § 1615m BGB (§ 231 Abs. 1 Nr. 3 FamFG). 1 Bergner, NJW 2009, 1235. 2 OLG Frankfurt v. 19.1.2010 – 2 UFH 1/10, FamRZ 2010, 916 = FamRB 2010, 203. 3 Zöller/Lorenz, § 217 FamFG Rn. 2. 4 BGH v. 23.3.2005 – XII ZB 13/05, FamRZ 2005, 883 = FamRB 2005, 200; BGH v. 4.8.2004 – XII ZA 6/04, FamRZ 2004, 1633 (1634) = FamRB 2004, 393.
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Kap. 12 Rn. 38
Verfahrensrecht
– Verfahren nach § 3 Abs. 2 S. 3 BKGG und § 64 Abs. 2 S. 3 EStG sind durch die Erweiterung der Zuständigkeit der Familiengerichte ebenfalls Unterhaltssachen gem. § 231 Abs. 2 FamFG mit der Besonderheit, dass sie nicht den Familienstreitsachen, sondern den FG-Familiensachen zuzuordnen sind. i) Güterrechtssachen 38 Sämtliche Güterrechtssachen (§ 261 Abs. 1 und 2 FamFG) sind vor dem Familiengericht zu führen. Sie sind untergliedert in aa) Verfahren über Ansprüche aus dem ehelichen Güterrecht (§ 261 Abs. 1 FamFG): – Zugewinnausgleichsansprüche zwischen Ehegatten und Ansprüche des Ausgleichsberechtigten gegen Dritte (§§ 1363 bis 1390 BGB); – Ansprüche aus dem vertraglichen Güterrecht der Gütertrennung und Gütergemeinschaft (§§ 1408 bis 1561 BGB), und bb) Verfahren gem. § 261 Abs. 2 FamFG mit den Anträgen – auf Ersetzung der Zustimmung zu einem Rechtsgeschäft über das Vermögen im Ganzen (Gesamtvermögensgeschäfte im gesetzlichen Güterstand), § 1365 Abs. 2 BGB, – auf Ersetzung der Zustimmung für Verfügungen über Gegenstände des ehelichen Haushalts (Gesamtvermögensgeschäfte im gesetzlichen Güterstand), § 1369 Abs. 2 BGB, – auf Stundung einer Ausgleichsforderung und auf Übertragung bestimmter Vermögensgegenstände unter Anrechnung auf die Zugewinnausgleichsforderung, §§ 1382, 1383 BGB, – auf Ersetzung der Zustimmung des anderen Ehegatten zu zustimmungsbedürftigen Rechtsgeschäften gem. §§ 1423, 1424 BGB (§ 1426 BGB), – auf Ersetzung der Zustimmung zu einem Rechtsgeschäft des Ehegatten, der das Gesamtgut verwaltet, §§ 1430, 1452 BGB. 39 Güterrechtssachen nach § 261 Abs. 1 FamFG sind Familienstreitsachen, die Güterrechtssachen nach § 261 Abs. 2 FamFG hingegen FG-Familiensachen. j) Streitigkeiten in sonstigen Familiensachen 40 Im Rahmen der Zuständigkeitserweiterungen des Familiengerichts durch das FamFG wurde der Katalog der Familiensachen erheblich erweitert. Die Zuständigkeit des Familiengerichts erstreckt sich seither auch auf Verfahren, die bislang vor den allgemeinen Zivilgerichten geführt werden mussten. Diese sonstigen Familiensachen sind in § 266 FamFG definiert; es handelt sich um Fallgruppen, die sich unmittelbar aus bestimmten familienrechtlichen Rechtsverhältnissen, zB der Ehe oder dem Eltern-KindVerhältnis ableiten sowie um solche, die jedenfalls in einem inhaltlichen 1332
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Verfahrensrecht
Rn. 42
Kap. 12
Zusammenhang mit der Beendigung der Partnerschaft stehen. Im Einzelnen ist das Familiengericht für folgende Verfahren zuständig: aa) Ansprüche zwischen miteinander verlobten oder ehemals verlobten 41 Personen im Zusammenhang mit der Beendigung des Verlöbnisses sowie in den Fällen der §§ 1298 und 1299 BGB zwischen einer solchen und einer dritten Person (§ 266 Abs. 1 Nr. 1 FamFG). Hierzu zählen die Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit der Beendigung des Verlöbnisses, dh. Ersatzpflichten für Aufwendungen bei Rücktritt und Ansprüche auf Rückgabe von Geschenken, Rückgabe von Briefen1 auch gegenüber dritten Personen, insbesondere den Eltern. bb) Ansprüche, die aus der Ehe herrühren (§ 266 Abs. 1 Nr. 2 FamFG). Die 42 Vorschrift erfasst insbesondere Ansprüche aus der ehelichen Lebensgemeinschaft gem. § 1353 BGB. Hierzu zählen: – Streitigkeiten der Ehegatten, die mit dem Steuerrecht in Zusammenhang stehen, zB auf Mitwirkung und Zustimmung zur gemeinsamen steuerlichen Veranlagung2. – Ansprüche auf Zustimmung zur Durchführung des sog. steuerlichen Realsplittings nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG und Ansprüche auf Erstattung der durch die Zustimmung zum steuerlichen Realsplitting erwachsenden Nachteile3. Diese Ansprüche fielen bereits vor Inkrafttreten des FamFG in die Zuständigkeit des Familiengerichts; es handelt sich nicht um Unterhaltssachen i.S.d. § 231 FamFG, die Ansprüche werden nur aus dem Unterhaltsrechtsverhältnis abgeleitet4. – Mitwirkungshandlungen gegenüber Versicherungen, zB wegen der Übertragung eines Schadensfreiheitsrabatts5. – Ansprüche auf Auskehrung des Krankenhaustagegeldes6. – Abwehr- und Unterlassungsansprüche gegen Störungen des räumlichgegenständlichen Bereichs der Ehe gegenüber dem anderen Ehegatten oder einem Dritten (sog. Ehestörungsverfahren) sowie diesbezügliche Schadensersatzansprüche7.
1 MüKo/Wacke, § 1301 BGB Rn. 3. 2 So auch BGH v. 18.11.2010 – IX ZR 240/07, FamRZ 2011, 210 m. Anm. Schlünder = FamRB 2011, 115; Zöller/Lorenz, § 266 FamFG Rn. 14. 3 BGH v. 23.3.1983 – IVb ZR 269/81, FamRZ 1983, 576; OLG Hamm v. 14.5.1986 – 10 UF 717/85, FamRZ 1987, 489. 4 Prütting/Helms/Bömelburg, § 231 FamFG Rn. 17; aA Zöller/Lorenz, § 231 FamFG Rn. 15; Wever, Rn. 816; Bork/Jacoby/Schwab/Kodal, § 231 FamFG Rn. 6. 5 AA AG Olpe v. 7.1.2010 – 22 F 6/10, FamRZ 2010, 919 und Wever, FamRZ 2011, 413 (424): sonstige Familiensache i.S.d. § 266 Abs. 1 Nr. 2 FamFG. 6 BGH v. 9.2.1994 – XII ARZ 1/94, FamRZ 1994, 626; OLG Hamm v. 28.8.1990 – 2 Sdb (Zust) 9/90, FamRZ 1991, 206; aA Zöller/Lorenz, § 231 FamFG Rn. 16: Unterhaltssache gem. § 231 Abs. 1 FamFG. 7 BT-Drucks. 16/6308, 262 (263).
Kühner
1333
Kap. 12 Rn. 43
Verfahrensrecht
– Verfahren auf Herstellung des ehelichen Lebens1. – Familienrechtliche Ausgleichsansprüche, zB wegen des Ausgleichs von Unterhaltsleistungen, die ein Elternteil anstelle des anderen erbracht und durch die er dessen Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind erfüllt hat. Diese Ansprüche stehen nur im Zusammenhang mit der Unterhaltspflicht und sind keine Unterhaltssachen i.S.d. § 231 FamFG, sondern sonstige Familiensachen2. Die Zuordnung spielt vor allem eine Rolle für die in einem solchen Verfahren zu treffende Kostenentscheidung, die in sonstigen Familiensachen nach §§ 91 f. ZPO nach Obsiegen und Unterliegen zu treffen sind, während eine Zuordnung zu den Unterhaltssachen zur Folge hätte, dass die Kosten nach billigem Ermessen zu verteilen wären. 43 cc) Ansprüche zwischen miteinander verheirateten oder ehemals miteinander verheirateten Personen oder zwischen einer solchen und einem Elternteil im Zusammenhang mit der Trennung oder Scheidung oder Aufhebung der Ehe (§ 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG). Diese Ansprüche müssen in jedem Fall im Zusammenhang mit Trennung, Scheidung oder Aufhebung der Ehe stehen3. Erforderlich ist ein inhaltlicher Zusammenhang, der insbesondere dann gegeben ist, wenn das Verfahren die wirtschaftliche Entflechtung der (vormaligen) Eheleute, Dispositionen im Hinblick auf die Verbindung oder Vorgänge anlässlich ihrer Beendigung betrifft4. Die von dieser Bestimmung des § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG erfassten Ansprüche, die die vermögensrechtliche Auseinandersetzung zwischen den Ehegatten außerhalb des Güterrechts betreffen, kommen in der Praxis am häufigsten vor. Hierzu zählen insbesondere: – Die Auseinandersetzung einer Miteigentumsgemeinschaft, § 741 f. BGB, Streitigkeiten um Nutzungsvergütungen gem. § 745 Abs. 2 BGB; – Besitzschutzansprüche gem. § 861 BGB5; – Streitigkeiten über die Sanierung des gemeinsamen Hauses6; – Streitigkeiten über die Verteilung des Erlöses aus der Teilungsversteigerung oder bei sonstiger Veräußerung einer gemeinsamen Immobilie7; – Streitigkeiten wegen Gesamtschuldnerausgleich gem. § 426 BGB oder über die Aufteilung von Steuerguthaben oder Steuerschulden8; 1 Erman/Kroll-Ludwigs, § 1353 BGB Rn. 25. 2 AA OLG Köln v. 28.7.2011 – 25 WF 178/11, FamRZ 2012, 574; Wever, Rn. 928; Zöller/Lorenz, § 231 FamFG Rn. 13. 3 BT-Drucks. 16/6308, 263. 4 Meyer-Seitz/Kröger/Heiter, FamRZ 2005, 1430 (1437); Wever, FF 2008, 399; Kemper, FamRB 2009, 53; Zöller/Lorenz, § 266 FamFG Rn. 17. 5 Wever, FamRZ 2011, 413; Götz/Brudermüller, FamRZ 2009, 1261 (1267); aA AG Berlin-Tempelhof Kreuzberg v. 13.4.2010 – 178 F 7737/10, NJW 2010, 2445. 6 LG Stralsund v. 21.12.2010 – 6 O 369/10, FamRZ 2011, 1673. 7 OLG Frankfurt v. 3.5.2010 – 4 W 6/10, FamRZ 2010, 1581; Prütting/Helms/Heiter, § 266 FamFG Rn. 54. 8 Wever, Rn. 758.
1334
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 43
Kap. 12
– Streitigkeiten wegen unbefugter Kontoabhebungen oder Kontoguthaben1; – Auseinandersetzung der Ehegatteninnengesellschaft2; – Rückgewähransprüche von Zuwendungen, insbesondere von ehebezogenen Zuwendungen und Schenkungen3; – Freistellungsansprüche4; – Anspruch auf Zustimmung zur Kündigung des gemeinsamen Mietvertrags5; – Rückgewähransprüche zwischen Ehegatten und Schwiegereltern, zB wegen Investitionen des Schwiegerkindes in die Immobilie der Schwiegereltern6 oder wegen Rückgewähr von Zuwendungen der Schwiegereltern an das Schwiegerkind, nicht aber Ansprüche der Schwiegereltern auf Rückzahlung eines wegen Zahlungsverzugs gekündigten Darlehens7; – Schadensersatzansprüche eines Ehegatten gegen den anderen wegen eigenmächtiger Veräußerung oder Wegschaffung von Haushaltsgegenständen8; – Streitigkeiten über Gegenstände, die im Alleineigentum eines Ehegatten stehen oder zu seinem persönlichen Gebrauch bestimmt sind; – Streitigkeiten aus einer Unterhaltsvereinbarung, mit der ein eigener vertraglicher Unterhaltsanspruch begründet wird. Voraussetzung einer selbständigen Unterhaltsvereinbarung, die in der Praxis sehr selten anzutreffen ist, ist die vollständige Loslösung von der gesetzlichen Unterhaltspflicht und die Begründung eines rein vertraglichen Unterhaltsanspruchs9. Eine solche Vereinbarung, die idR ein Leibrentenversprechen (§§ 759, 760 BGB) zum Inhalt hat, ist nur bei besonderen Anhaltspunkten anzunehmen10.
Û
Wichtig: Die Zuständigkeit des Familiengerichts für Verfahren gem. § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG setzt Ansprüche voraus, die im Zusammenhang mit der Trennung oder Scheidung oder Aufhebung der Ehe bestehen. Nach der Begründung des Regierungsentwurfs hat der Begriff des Zu-
1 Prütting/Helms/Heiter, § 266 FamFG Rn. 54. 2 BGH v. 28.9.2005 – XII ZR 189/02, FamRZ 2006, 607 = FamRB 2006, 165; BGH v. 25.6.2003 – XII ZR 161/01, FamRZ 2003, 1454 = FamRB 2004, 12; BGH v. 30.6.1999 – XII ZR 230/96, FamRZ 1999, 1580. 3 Wever, Rn. 430 f., Rn. 436 f. 4 Wever, Rn. 26a. 5 Wever, Rn. 26a. 6 OLG Oldenburg v. 5.11.2007 – 15 U 19/07, FamRZ 2008, 1440 = FamRB 2008, 65. 7 OLG Frankfurt v. 21.1.2011 – 9 W 67/10, FamRZ 2011, 1421. 8 Prütting/Helms/Heiter, § 266 FamFG Rn. 54. 9 BGH v. 4.10.1978 – IV ZB 84/77, FamRZ 1978, 873 (874). 10 BGH v. 4.8.2004 – XII ZB 38/04, FamRZ 2004, 1546 (1547) = FamRB 2004, 397.
Kühner
1335
Kap. 12 Rn. 44
Verfahrensrecht
sammenhangs nicht nur die im Gesetzeswortlaut enthaltene inhaltliche, sondern auch eine zeitliche Komponente1. Streitig ist, ob neben dem inhaltlichen auch ein zeitlicher Zusammenhang der geltend gemachten Ansprüche mit Trennung oder Scheidung bestehen muss2. Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass auch ein zeitlicher Zusammenhang der geltend gemachten Ansprüche mit der Trennung oder Scheidung der Ehe bestehen müsse, der jedoch nicht mehr gegeben sei, wenn seit Beendigung der Ehe und der im Wesentlichen abgeschlossenen vermögensmäßigen Auseinandersetzung der Ehegatten ein längerer Zeitraum verstrichen sei. Auch wenn ein zeitlicher Zusammenhang großzügig bejaht werden soll3, würde jedoch die Prüfung, ob noch ein zeitlicher Zusammenhang mit der Trennung oder Scheidung oder Auflösung der Ehe besteht, in der Praxis zu erheblichen Unsicherheiten führen und hätte Auseinandersetzungen der Beteiligten über die Zuständigkeit des Familiengerichts zur Folge, die mit der gesetzlichen Regelung gerade vermieden werden sollten4. Für die Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit des Familiengerichts kann die späte Geltendmachung eines Anspruchs nicht ausschlaggebend sein, sie kann allenfalls Bedeutung für den Verjährungs- oder Verwirkungseinwand haben5. 44 dd) Aus dem Eltern-Kind-Verhältnis herrührende Ansprüche (§ 266 Abs. 1 Nr. 4 FamFG). Das Familiengericht ist auch für sonstige zivilrechtliche Ansprüche aus dem Eltern-Kind-Verhältnis zuständig. Hier sind etwa zu nennen Streitigkeiten wegen der Verwaltung des Kindesvermögens, auch soweit es sich um Schadensersatzansprüche6 oder Ansprüche auf Herausgabe persönlicher Gegenstände des Kindes handelt7. Der Anspruch muss im Eltern-Kind-Verhältnis selbst seine Grundlage haben, ein bloßer Zusammenhang hierzu ist nicht ausreichend8. 45 ee) Aus dem Umgangsrecht herrührende Ansprüche (§ 266 Abs. 1 Nr. 5 FamFG), insbesondere Schadensersatzansprüche wegen Nichteinhaltens der Umgangsregelung9. 1 BT-Drucks. 16/6308, 170, 263. 2 Prütting/Helms/Heiter, § 266 FamFG Rn. 47, 50 f.; Meyer-Seitz/Kröger/Heiter, FamRZ 2005, 1430 (1437); Thomas/Putzo/Hüßtege, § 266 FamFG Rn. 5; Burger, FamRZ 2009, 1017. 3 Prütting/Helms/Heiter, § 266 FamFG Rn. 50a. 4 OLG Stuttgart v. 10.1.2011 – 13 W 69/10, FamRZ 2011, 1420 = FamRB 2011, 143; OLG Hamm v. 10.2.2011 – II-2 WF 208/10, FamRZ 2011, 1421; OLG Hamm v. 15.10.2010 – II-4 WF 123/10, FamRZ 2011, 392; OLG Frankfurt v. 3.5.2010 – 4 W 6/10, FamRZ 2010, 1581; Wever, FamRZ 2011, 413. 5 So auch Zöller/Lorenz, § 266 FamFG Rn. 17; Wever, FF 2008, 399 (401). 6 BT-Drucks. 16/6308, 263. 7 OLG Frankfurt v. 8.10.2008 – 6 UF 120/08, FamRB 2009, 176 (Herausgabe ua. einer Bonuskarte über den Nachweis zahnärztlicher Untersuchungen). 8 BT-Drucks. 16/6308, 263. 9 BT-Drucks. 16/6308, 263; BGH v. 19.6.2002 – XII ZR 173/00, FamRZ 2002, 1099 = FamRB 2002, 295.
1336
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 50
Kap. 12
ff) Verfahren über Anträge nach § 1357 Abs. 2 S. 1 BGB sind ebenfalls 46 sonstige Familiensachen (§ 266 Abs. 2 FamFG) und unterliegen der Zuständigkeit des Familiengerichts mit der Besonderheit, dass sie nicht den Familienstreitsachen, sondern den FG-Familiensachen zuzuordnen sind.
Û
Wichtig: Nicht zuständig ist das Familiengericht, wenn – die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte, zB für Ansprüche aus einem Ehegattenarbeitsverhältnis, gegeben sind, – das Verfahren eines der in § 348 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a–k ZPO genannten Sachgebiete, zB Handelssachen i.S.d. § 95 GVG, Streitigkeiten aus der Berufstätigkeit freiberuflich Tätiger, aus Bau- und Architektenverträgen und urheberrechtliche Streitigkeiten betrifft, oder – das Verfahren ein Wohnungseigentums- oder das Erbrecht betrifft. Bei diesen Streitigkeiten handelt es sich jeweils um Rechtsgebiete, für deren Bearbeitung spezielle Kenntnisse erforderlich sind, weswegen die Familiengerichte nicht mit ihnen befasst werden sollen1.
Verfahren über Ansprüche aus einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sind nach wie vor keine Familiensachen und somit vor dem Zivilgericht zu führen. Die Zuständigkeit des Familiengerichts ist nur gegeben, wenn die Ansprüche im Zusammenhang mit der Beendigung eines Verlöbnisses geltend gemacht werden können.
47
k) Lebenspartnerschaftssachen Lebenspartnerschaftssachen, die in § 269 Abs. 1 FamFG, und sonstige Le- 48 benspartnerschaftssachen, die in § 269 Abs. 2 FamFG definiert sind, fallen ebenfalls in die Zuständigkeit des Familiengerichts. Es handelt sich insbesondere nach § 269 Abs. 1 Nr. 1–12 FamFG um Ver- 49 fahren, die die Aufhebung der Lebenspartnerschaft, die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens, die elterliche Sorge, das Umgangsrecht oder die Herausgabe in Bezug auf ein gemeinschaftliches Kind, die Wohnungszuweisung, den Haushalt, den Versorgungsausgleich, gesetzliche Unterhaltspflichten oder Ansprüche aus dem lebenspartnerschaftlichen Güterrecht zum Gegenstand haben. Sonstige Lebenspartnerschaften (§ 269 Abs. 2 FamFG) sind Verfahren, die 50 Ansprüche nach § 1 Abs. 4 S. 2 LPartG i.V.m. den §§ 1298 bis 1301 BGB, Ansprüche aus der Lebenspartnerschaft oder Ansprüche zwischen Personen, die miteinander eine Lebenspartnerschaft führen oder geführt haben oder zwischen einer solchen Person und einem Elternteil im Zusammenhang mit der Trennung oder Aufhebung der Lebenspartnerschaft zum Gegenstand haben. 1 BT-Drucks. 16/6308, 263.
Kühner
1337
Kap. 12 Rn. 51
Verfahrensrecht
51 Auch Verfahren über einen Antrag nach § 8 Abs. 2 LPartG i.V.m. § 1357 Abs. 2 S. 1 BGB sind sonstige Lebenspartnerschaftssachen (§ 269 Abs. 3 FamFG). 52 Die Verfahren gem. § 269 Abs. 1 Nr. 8–10 und Abs. 2 FamFG sind Familienstreitsachen, keine FG-Familiensachen (§ 112 FamFG). 2. Örtliche Zuständigkeit 53 Die örtliche Zuständigkeit in Familiensachen ist für Ehesachen in § 122 FamFG und für die anderen Familiensachen gem. § 111 Nr. 2–11 FamFG in den jeweiligen für diese Verfahren geltenden Abschnitten (§§ 152, 170, 187, 201, 211, 218, 232, 262, 267 FamFG) geregelt. Für diese (anderen) Familiensachen ist grundsätzlich im Vorfeld zu prüfen, ob bereits eine Ehesache anhängig ist oder nicht, da sich bereits die Anhängigkeit einer Ehesache auf die örtliche Zuständigkeit in einem Verfahren in einer anderen Familiensache auswirkt. a) Ehesachen 54 Die örtliche Zuständigkeit in Ehesachen folgt aus § 122 FamFG. Es handelt sich um eine ausschließliche Zuständigkeit, so dass gem. § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. § 40 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und S. 2 ZPO eine Gerichtsstandsvereinbarung in Ehesachen unzulässig ist. Die örtliche Zuständigkeit als eine Verfahrensvoraussetzung ist von Amts wegen zu prüfen (§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. § 253 ZPO). Ist das angerufene Gericht örtlich unzuständig, ist der Antrag nach richterlichem Hinweis gem. § 139 Abs. 3 ZPO als unzulässig abzuweisen, es sei denn, der Antragsteller beantragt die Verweisung an das örtlich zuständige Gericht (§ 281 ZPO). § 122 FamFG enthält eine feste Rangfolge von Anknüpfungskriterien zur Bestimmung des für die Ehesache örtlich zuständigen Gerichts in den Nr. 1–5. 55 Ausgangspunkt ist der gewöhnliche Aufenthaltsort1 im Inland. Hierbei handelt es sich um den Daseinsmittelpunkt, dh. den Ort, an dem der Schwerpunkt der Bindungen einer Person in familiärer oder beruflicher Hinsicht liegt2. Die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts setzt nicht voraus, dass der Wille besteht, den Ort zum Daseinsmittelpunkt zu machen3. Zwar wird grundsätzlich ein Aufenthalt von einer gewissen Dauer verlangt, der gewöhnliche Aufenthalt an einem Ort wird jedoch grundsätzlich schon dann begründet, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass der Aufenthalt an diesem Ort auf längere Zeit angelegt ist und
1 Hierzu ausf. Prütting/Helms/Helms, § 122 FamFG Rn. 4 f. 2 BGH v. 3.2.1993 – XII ZB 93/90, FamRZ 1993, 798 (800); BGH v. 5.2.1975 – IV ZR 103/73, FamRZ 1975, 272. 3 BGH v. 3.2.1993 – XII ZB 93/90, FamRZ 1993, 798 (800).
1338
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 56b
Kap. 12
der neue Aufenthaltsort künftig anstelle des bisherigen der Daseinsmittelpunkt sein soll1. Die Anmeldung eines Wohnsitzes beim Einwohnermeldeamt ist ein ge- 56 wisses Indiz, reicht für sich allein aber nicht für die Annahme aus, dass der Gemeldete an der angegebenen Stelle auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat2. Der nicht nur von vornherein auf einen begrenzten Zeitraum angelegte Aufenthalt in einem Frauenhaus kann einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen3, ein vorübergehender Aufenthalt von weniger als drei Wochen ist nicht ausreichend4. Ein gewöhnlicher Aufenthalt kann nach längerer Aufenthaltsdauer auch dort gegeben sein, wo sich jemand wider Willen aufhält, zB im Strafvollzug5. Möglich ist auch die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts gleichzeitig an mehreren Orten, zB wenn in gleichem Umfang ein Teil der Woche am Arbeitsort und der Rest der Woche an einem anderen Ort bei der Familie verbracht wird6. Der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes ist der Ort, an dem eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist7. IdR hat das minderjährige Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei dem Elternteil, in dessen Obhut es sich befindet8, er leitet sich jedoch nicht vom Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils ab, sondern ist unabhängig vom gewöhnlichen Aufenthalt des sorgeberechtigten Elternteils zu bestimmen9.
56a
Hat ein nicht oder nicht allein sorgeberechtigter Elternteil das minderjährige Kind gegen den Willen des anderen allein oder mit sorgeberechtigten Elternteils an sich genommen, kann hierdurch an diesem Ort ein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes begründet werden, wenn es zu einer dauernden sozialen Einbindung des minderjährigen Kindes am neuen Aufenthaltsort und damit zu einer tatsächlichen Verlegung des Daseinsmittelpunkts gekommen ist10. Auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltswechsels kommt es grundsätzlich nicht an11.
56b
1 BGH v. 3.2.1993 – XII ZB 93/90, FamRZ 1993, 798 (800). 2 BGH v. 15.3.1995 – XII ARZ 37/94, FamRZ 1995, 1135. 3 OLG Karlsruhe v. 10.2.1995 – 2 UF 290/94, FamRZ 1995, 1210; OLG Nürnberg v. 15.11.1996 – 10 WF 3644/96, FamRZ 1997, 1400. 4 BGH v. 14.12.1994 – XII ARZ 33/94, FamRZ 1995, 728. 5 OLG Schleswig v. 29.10.1979 – 8 WF 292/79, SchlHA 1980, 73; Prütting/Helms/ Helms, § 122 FamFG Rn. 9; Zöller/Lorenz, § 122 FamFG Rn. 6 mwN. 6 Zöller/Lorenz, § 122 FamFG Rn. 9; Prütting/Helms/Helms, § 122 FamFG Rn. 12. 7 EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-497/10 PPU, FamRZ 2011, 617. 8 BT-Drucks. 16/6308, 227. 9 BGH v. 18.6.1997 – XII ZB 156/95, FamRZ 1997, 1070; OLG Hamm v. 13.7.2010 – II-2-Sdb (Fams) Zust. 21/10, FamRZ 2011, 395. 10 BGH v. 29.10.1980 – IVb ZB 586/80, FamRZ 1981, 135. 11 OLG Hamm v. 16.5.1991 – 4 UF 8/91, FamRZ 1991, 1466 mwN.
Kühner
1339
Kap. 12 Rn. 57
Verfahrensrecht
57 Die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit ist Schritt für Schritt in der in § 122 Nr. 1–6 FamFG aufgeführten Rangfolge vorzunehmen: – gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten mit allen gemeinschaftlichen minderjährigen Kindern (§ 122 Nr. 1 FamFG), – gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten mit einem Teil der gemeinschaftlichen minderjährigen Kinder, sofern bei dem anderen Ehegatten keine gemeinschaftlichen minderjährigen Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben (§ 122 Nr. 2 FamFG), – letzter gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt der Ehegatten, wenn ein Ehegatte bei Eintritt der Rechtshängigkeit im Bezirks dieses Gerichts seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 122 Nr. 3 FamFG), – gewöhnlicher Aufenthalt des Antragsgegners (§ 122 Nr. 4 FamFG), – gewöhnlicher Aufenthalt des Antragstellers (§ 122 Nr. 5 FamFG), – Amtsgericht Berlin-Schöneberg, wenn keiner der zuvor beschriebenen Gerichtsstände gegeben ist (§ 122 Nr. 6 FamFG). 58 An erster Stelle ist somit das Familiengericht zuständig, in dessen Bezirk einer der Ehegatten mit sämtlichen gemeinschaftlichen minderjährigen Kindern seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Gemeinschaftliche Kinder sind auch Kinder, die außerehelich geboren sind1. Der gewöhnliche Aufenthalt mit sämtlichen gemeinschaftlichen minderjährigen Kindern setzt nicht die Führung eines gemeinsamen Haushalts voraus, sondern lediglich, dass die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im gleichen Gerichtsbezirk haben wie der Ehegatte2. 59 Seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat ein Kind bei dem Elternteil, in dessen Obhut es sich befindet3. Fehlt es an dieser Voraussetzung, ist darauf abzustellen, wo einer der Ehegatten mit einem Teil der gemeinsamen minderjährigen Kinder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dieses Familiengericht ist jedoch nur zuständig, wenn ein weiteres oder mehrere weitere gemeinsame Kinder bei Dritten ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, zB bei Großeltern oder in einer Betreuungseinrichtung. Eine Internatsunterbringung begründet keinen gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes4, in diesen Fällen kommt es darauf an, bei welchem Ehegatten sich der Daseinsmittelpunkt dieses Kindes befindet. Ist eine Zuständigkeit des Familiengerichts gem. § 122 Nr. 2 FamFG nicht gegeben, ist zu prüfen, in welchem Bezirk die Ehegatten zuletzt ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt hatten, vorausgesetzt, einer der Ehegatten hat dort noch bei Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags seinen gewöhnli-
1 Johannsen/Henrich/Markwardt, § 122 FamFG Rn. 7. 2 OLG Düsseldorf v. 18.3.2010 – II-2 WF 27/10, FamRZ 2010, 1178; Prütting/ Helms/Helms, § 122 FamFG Rn. 25; Musielak/Borth, § 122 FamFG Rn. 10. 3 BT-Drucks. 16/6308, 227. 4 BGH v. 5.2.1975 – IV ZR 103/73, NJW 1975, 1068.
1340
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 61
Kap. 12
chen Aufenthalt (§ 122 Nr. 3 FamFG)1. Dies gilt auch dann, wenn bei jedem der Ehegatten jeweils zumindest ein Kind lebt2.
Û
Wichtig: Abzustellen ist für § 122 Nr. 3 FamFG auf die Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags, die bloße Anhängigkeit einer Ehesache oder eines Verfahrenskostenhilfegesuchs für das beabsichtigte Scheidungsverfahren ist nicht ausreichend. Die örtliche Zuständigkeit kann sich somit während der Anhängigkeit eines Verfahrenskostenhilfegesuchs noch ändern.
Beispiel: Die Ehe ist kinderlos, der letzte gemeinsame gewöhnliche Aufenthaltsort der Ehegatten befand sich in Köln, wo die Ehefrau ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Der in Düsseldorf lebende Ehemann hat einen Verfahrenskostenhilfeantrag für das Ehescheidungsverfahren vor dem zuständigen Amtsgericht in Köln eingereicht. Während der Anhängigkeit des Verfahrenskostenhilfeantrags wechselt die Ehefrau ihren Aufenthaltsort und verzieht nach Hamburg. In diesem Fall greift § 122 Nr. 4 FamFG ein, wonach dann, wenn es an dem Anknüpfungskriterium des § 122 Nr. 3 FamFG fehlt, darauf abzustellen ist, in welchem Gerichtsbezirk der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, so dass vorliegend nunmehr das Amtsgericht Hamburg für das Ehescheidungsverfahren zuständig ist. Wäre die Ehesache bereits rechtshängig gewesen, hätte der Aufenthaltswechsel keine Auswirkung auf die nach § 122 Nr. 3 FamFG begründete örtliche Zuständigkeit und das Familiengericht in Köln bliebe zuständig.
Fehlt es an einem der Anknüpfungskriterien gem. § 122 Nr. 3 FamFG, ist 60 gem. § 122 Nr. 4 FamFG darauf abzustellen, in welchem Gerichtsbezirk der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Fehlt ein Gerichtsstand nach § 122 Nr. 4 FamFG, ist der gewöhnliche Aufenthalt des Antragstellers maßgebend (§ 122 Nr. 5 FamFG). Haben die Ehegatten im Inland weder zusammen gelebt und leben zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit beide Ehegatten im Ausland, ist das Amtsgericht Berlin-Schöneberg ausschließlich für das Ehescheidungsverfahren zuständig (§ 122 Nr. 6 FamFG)3. b) Andere Familiensachen aa) Vor Anhängigkeit der Ehesache (1) Kindschaftssachen Die örtliche Zuständigkeit für Kindschaftssachen ist in § 152 FamFG ge- 61 regelt. Anknüpfungskriterium gem. Abs. 2 ist der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes. Dieser Aufenthalt wird von einer auf längere Dauer angelegten sozialen Eingliederung gekennzeichnet und ist allein von der
1 BGH v. 30.10.1996 – XII ARZ 16/96, FamRZ 1997, 416. 2 BGH v. 30.10.1996 – XII ARZ 16/96, FamRZ 1997, 416. 3 Prütting/Helms/Helms, § 122 FamFG Rn. 31.
Kühner
1341
Kap. 12 Rn. 62
Verfahrensrecht
tatsächlichen – ggf. vom Willen unabhängigen Situation – gekennzeichnet, die den Aufenthaltsort als Mittelpunkt der Lebensführung ausweist1 (vgl. auch Rn. 55). 62 Der maßgebliche Zeitpunkt für die Feststellung bestimmt sich danach, wann das Gericht mit der Maßnahme befasst wurde2. Dies ist in Antragsverfahren der Fall, wenn ein Antrag bei diesem Gericht eingegangen ist. In einem Verfahren von Amts wegen ist das Gericht mit der Sache befasst, wenn es amtlich von Tatsachen Kenntnis erlangt, die Anlass zu gerichtlichen Maßnahmen sein können. Ändert sich nach diesem Zeitpunkt der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes, zB aufgrund eines Obhutswechsels oder des Umzugs des betreuenden Elternteils mit dem Kind, verbleibt es bei der einmal gegebenen Zuständigkeit3. 63 Ist eine Zuständigkeit nach § 152 Abs. 2 FamFG nicht gegeben, ist weiterer Anknüpfungspunkt das Bedürfnis der Fürsorge (§ 152 Abs. 3 FamFG). Das Bedürfnis der Fürsorge tritt hervor, wenn sich der Aufenthalt des Kindes noch nicht zu einem gewöhnlichen Aufenthalt verdichtet hat oder wenn ein solcher nicht feststellbar ist oder im Ausland liegt4. Die Vorschrift erfasst damit auch den Schutz der Leibesfrucht5. 64 Eine zusätzliche Zuständigkeitsvorschrift enthält § 152 Abs. 4 FamFG. Danach ist für die in den §§ 1693 BGB (gerichtliche Maßnahmen bei Verhinderung der Eltern, die elterliche Sorge auszuüben), 1846 BGB (einstweilige Maßregeln bei Fehlen oder Verhinderung des Vormunds) und Art. 24 Abs. 3 EGBGB bezeichneten Maßnahmen ebenfalls das Gericht zuständig, in dessen Bezirk das Bedürfnis der Fürsorge bekannt wird.
Û
Wichtig: In der Praxis kommt es häufig, insbesondere im Zusammenhang mit der räumlichen Trennung vor, dass ein Elternteil ohne Zustimmung des anderen den bisherigen gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes eigenmächtig ändert, indem er mit dem Kind in einen anderen Gerichtsbezirk umzieht. Wegen der plötzlichen räumlichen Distanz zwischen Kind und Umgangsberechtigtem werden durch diese Verhaltensweise anschließende Bemühungen um eine vernünftige Konfliktlösung im Interesse des Kindes außerordentlich erschwert6. Um dem betreuenden Elternteil nicht auch noch den Vorteil des ortsnahen Gerichts zu verschaffen7, kann das nach § 152 Abs. 2 FamFG
1 2 3 4
BT-Drucks. 16/6308, 226. BT-Drucks. 16/6308, 235. Prütting/Helms/Stößer, § 152 FamFG Rn. 6. BT-Drucks. 16/6308, 235; OLG Hamm v. 13.7.2010 – II-Sdb (Fams) Zust. 21/10, FamRZ 2011, 395. 5 BT-Drucks. 16/6308, 235. 6 BT-Drucks. 16/6308, 235. 7 BT-Drucks. 16/6308, 235.
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Verfahrensrecht
Rn. 68
Kap. 12
zuständige Gericht gem. § 154 FamFG die Kindschaftssache, zB ein Verfahren auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts, an das Gericht des früheren gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Kindes verweisen. Die Entscheidung über die Verweisung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Die Verweisung ist für das Empfangsgericht bindend1. § 154 FamFG will verhindern, dass ein Elternteil nach einem über- 65 raschend durchgeführten Wegzug mit dem Kind durch die Einreichung eines vorher vorbereiteten Antrags ohne weiteres die Zuständigkeit des Gerichts am neuen Aufenthaltsort des Kindes begründet. Dem trennungswilligen Elternteil ist regelmäßig zuzumuten, zunächst eine einverständliche Lösung zu suchen und nach deren Scheitern eine umgehende gerichtliche Regelung bei dem für den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes zuständigen Gericht zu beantragen. § 154 FamFG kann jedoch nur zur Anwendung gelangen, wenn der neue Aufenthaltsort des Kindes nunmehr dessen gewöhnlicher Aufenthalt ist (vgl. Rn. 55), da anderenfalls das angerufene Gericht von vornherein nicht örtlich zuständig wäre. Allerdings ist jeweils zu prüfen, ob nicht etwa wegen Gewalt und Drohungen gegen den Ehegatten dessen einseitige Änderung des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Kindes gerechtfertigt ist. In diesen Fällen ist § 154 FamFG nicht anwendbar. Die Verweisung ist ausgeschlossen, wenn dem anderen Elternteil das Aufenthaltsbestimmungsrecht nicht zusteht (§ 154 S. 2 FamFG).
66
Wird eine Ehesache anhängig, während eine ein gemeinschaftliches Kind 67 der Ehegatten betreffende Kindschaftssache bei einem anderen Gericht im ersten Rechtszug bereits anhängig ist, muss dieses Kindschaftsverfahren ab Rechtshängigkeit (§§ 253 Abs. 1, 261 Abs. 1 ZPO) der Ehesache von Amts wegen an das Gericht der Ehesache abgegeben werden (§ 153 S. 1 FamFG). Ein Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für die Ehesache ist nicht ausreichend, da die Rechtshängigkeit der Ehesache regelmäßig erst aufgrund förmlicher Zustellung herbeigeführt wird. Mit der Abgabe wird die Zuständigkeitskonzentration bei dem Gericht der Ehesache verwirklicht. (2) Abstammungssachen In Abstammungssachen knüpft die örtliche Zuständigkeit an den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes an (§ 170 FamFG). Das Gericht des gewöhnlichen Aufenthaltsortes ist ausschließlich örtlich zuständig. Maßgeblich für die Feststellung der örtlichen Zuständigkeit ist der Zeitpunkt, in dem der Antrag bei Gericht eingegangen ist (§ 2 Abs. 1 FamFG)2.
1 BT-Drucks. 16/9733, 293. 2 BT-Drucks. 16/6308, 175; Prütting/Helms/Prütting, § 2 FamFG Rn. 21.
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68
Kap. 12 Rn. 69
Verfahrensrecht
Ändert sich später der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes, bleibt die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts erhalten (§ 2 Abs. 2 FamFG)1. 69 Ist ein deutsches Gericht nach § 170 Abs. 1 FamFG nicht zuständig, kommt es zunächst auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter und, wenn auch danach die Zuständigkeit eines deutschen Gerichts nicht gegeben ist, auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Vaters an. Ist auch danach eine Zuständigkeit nicht gegeben, ist das Amtsgericht Berlin-Schöneberg ausschließlich zuständig (§ 170 Abs. 2 und 3 FamFG). 70 Die Anhängigkeit oder Rechtshängigkeit einer Ehesache hat auf die örtliche Zuständigkeit in Abstammungssachen keine Auswirkung. (3) Adoptionssachen 71 Die örtliche Zuständigkeit für Adoptionssachen ist in § 187 FamFG geregelt. Auch hier richtet sich die ausschließliche örtliche Zuständigkeit des Gerichts nach dem gewöhnlichen Aufenthalt. Ausschließlich zuständig ist das Gericht, in dessen Bezirk der Annehmende oder einer der Annehmenden seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 187 Abs. 1 FamFG). 72 Ist die Zuständigkeit eines deutschen Gerichts nach Abs. 1 nicht gegeben, ist als Ersatzgerichtsstand der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes maßgebend (§ 187 Abs. 2 FamFG). 73 Für Verfahren wegen Befreiung vom Eheverbot gem. § 1308 Abs. 1 BGB besteht eine ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts, in dessen Bezirk einer der Verlobten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 187 Abs. 3 FamFG). 74 Ist eine Zuständigkeit nach § 187 Abs. 1–3 FamFG nicht gegeben, enthält Abs. 4 die Auffangzuständigkeit des Amtsgerichts Berlin-Schöneberg. 75 Die Befugnis zur Abgabe an ein anderes Gericht richtet sich nach § 4 FamFG. Maßgeblich für die Feststellung der örtlichen Zuständigkeit ist der Zeitpunkt, wann das Gericht mit der Sache befasst wurde, dh. entweder mit Eingang der Antragsschrift oder in Verfahren von Amts wegen (zB §§ 1746 Abs. 3, 1763 BGB)2, wenn das Gericht amtlich von Tatsachen Kenntnis erlangt, die Anlass zu gerichtlichen Maßnahmen sein können3. Spätere Änderungen der Verhältnisse haben auf die einmal begründete örtliche Zuständigkeit keinen Einfluss.
1 Prütting/Helms/Stößer, § 170 FamFG Rn. 4; Zöller/Greger, § 170 FamFG Rn. 2. 2 Prütting/Helms/Krause, § 187 FamFG Rn. 11. 3 BT-Drucks. 16/6308, 234.
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Verfahrensrecht
Rn. 81
Kap. 12
Die Anhängigkeit oder Rechtshängigkeit einer Ehesache hat auf die örtliche Zuständigkeit in Adoptionssachen keine Auswirkung.
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(4) Ehewohnungs- und Haushaltssachen Für Ehewohnungs- und Haushaltssachen war die örtliche Zuständigkeit 77 bisher in § 11 HausratsVO geregelt. Diese Bestimmungen wurden durch Art. 62 Nr. 3–5 FGG-RG aufgehoben. Die ausschließliche örtliche Zuständigkeit bestimmt sich nunmehr in einer festen Rangfolge nach § 201 FamFG. Die Vorschrift entspricht im Wesentlichen dem bisherigen § 11 HausratsVO. Haben die Ehegatten im Zeitpunkt der Antragstellung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Ehewohnung, ist das Gericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk sich die gemeinsame Wohnung der Ehegatten befindet.
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Ist eine solche Zuständigkeit nicht gegeben, wird für die örtliche Zu- 79 ständigkeit auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Antragsgegners im Inland und schließlich hilfsweise nach § 201 Nr. 4 FamFG auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers abgestellt. Maßgeblich für die von Amts wegen zu treffende Feststellung der örtlichen Zuständigkeit ist der Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befasst wurde (§ 2 Abs. 1 FamFG). Die örtliche Zuständigkeit bleibt auch bei einer Veränderung der sie begründenden Umstände erhalten (§ 2 Abs. 2 FamFG). Wird eine Ehesache rechtshängig, während eine Ehewohungs- und/oder Haushaltssache vor einem anderen Gericht anhängig ist, ist das Verfahren von Amts wegen an das Gericht der Ehesache abzugeben (§ 202 S. 1 FamFG); § 281 Abs. 2 und 3 S. 1 ZPO gilt entsprechend.
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(5) Gewaltschutzsachen In Gewaltschutzsachen nach §§ 1, 2 GewSchG bestimmt sich die örtliche 81 Zuständigkeit nach § 211 Nr. 1–3 FamFG. Ausschließlich zuständig ist danach: – das Gericht, in dessen Bezirk die Tat begangen wurde (§ 211 Nr. 1 FamFG), Tatort ist sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsort1, – das Gericht, in dessen Bezirk sich die gemeinsame Wohnung des Antragstellers und des Antragsgegners befindet (§ 211 Nr. 2 FamFG) oder – das Gericht, in dessen Bezirk der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 211 Nr. 3 FamFG).
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Wichtig: Sind danach mehrere Gerichte zuständig, kann der Antragsteller wählen.
1 BT-Drucks. 16/6308, 251; BGH v. 28.2.1996 – XII ZR 181/93, FamRZ 1996, 601.
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Kap. 12 Rn. 82
Verfahrensrecht
82 Auch in Gewaltschutzsachen bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befasst wird (§ 2 Abs. 1 FamFG); auch bei einer Veränderung der sie begründenden Umstände bleibt die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts erhalten (§ 2 Abs. 2 FamFG). Wird eine Ehesache rechtshängig, während ein Verfahren nach dem GewSchG zwischen den Ehegatten bei einem anderen Gericht im ersten Rechtszug anhängig ist, sieht das FamFG, anders als in § 621 Abs. 3 S. 1 ZPO, keine Abgabe an das Gericht der Ehesache mehr vor. (6) Versorgungsausgleichssachen 83 In Versorgungsausgleichssachen vor Anhängigkeit der Ehesache bestimmt sich die ausschließliche örtliche Zuständigkeit des Familiengerichts nach § 218 Nr. 2–5 FamFG. Nach der dort bestimmten festen Rangfolge ist in Versorgungsausgleichssachen zuständig: – das Gericht, in dessen Bezirk die Ehegatten ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt haben oder zuletzt gehabt haben, wenn ein Ehegatte dort weiterhin seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, – das Gericht, in dessen Bezirk ein Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz hat, – das Gericht, in dessen Bezirk ein Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz hat, – und als Auffangzuständigkeit das Amtsgericht Schöneberg in Berlin. Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befasst wird (§ 2 Abs. 1 FamFG); gem. § 2 Abs. 2 FamFG bleibt die örtliche Zuständigkeit des Gerichts auch bei Veränderung der sie begründenden Umstände erhalten, dies gilt selbst bei Abtrennung und späterer Wiederaufnahme eines Versorgungsausgleichsverfahrens1. (7) Unterhaltssachen 84 Die örtliche Zuständigkeit in Unterhaltssachen bestimmt sich nach § 232 FamFG. Weitestgehend wurden mit dieser Vorschrift die Regelung des § 642 ZPO in das FamFG übernommen und die weiteren Sondervorschriften aus der ZPO zusammengefasst. 85 § 232 Abs. 1 Nr. 2 FamFG begründet eine ausschließliche örtliche Zuständigkeit vor Anhängigkeit der Ehesache für Unterhaltssachen, die die Unterhaltspflicht für ein minderjähriges Kind oder ein privilegiert volljähriges Kind (§ 1603 Abs. 2 S. 2 BGB) betreffen. Die Vorschrift erfasst nicht nur Leistungs- oder Auskunftsanträge (§ 1605 Abs. 1 BGB), sondern auch Abänderungsanträge (§§ 238, 239 FamFG), Vollstreckungsabwehr1 KG v. 6.8.2010 – 18 AR 41/10, FamRZ 2011, 319.
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Verfahrensrecht
Rn. 88
Kap. 12
anträge (§ 767 ZPO) oder negative Feststellungsanträge (§ 256 Abs. 1 ZPO). Von der Vorschrift werden auch Unterhaltsanträge von Leistungsträgern bei übergeleiteten Unterhaltsansprüchen (§ 33 SGB II, § 94 SGB XII, § 7 UVG) erfasst1. Ausschließlich örtlich zuständig ist das Gericht, in dessen Bezirk das Kind oder der Elternteil, der für das minderjährige Kind zu handeln befugt ist, seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Aufgrund der Anknüpfung an die Handlungsbefugnis werden auch die Fälle der Verfahrensstandschaft nach § 1629 Abs. 3 S. 1 BGB mit umfasst, da nicht mehr auf die gesetzliche Vertretung, sondern allein auf die Handlungsbefugnis abgestellt wird. Dies gilt jedoch nicht, wenn das Kind oder ein Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat. Diese Zuständigkeit nach § 232 Abs. 1 Nr. 2 FamFG geht der ausschließ- 86 lichen Zuständigkeit eines anderen Gerichts vor (§ 232 Abs. 2 FamFG). Praktische Bedeutung hat die Kollision mehrerer ausschließlicher Gerichtsstände in Unterhaltssachen insbesondere im Fall des Vollstreckungsabwehrverfahrens2. Dieser bisherige Vorrang des nach §§ 767 Abs. 1, 802 ZPO ausschließlich zuständigen Gerichts des ersten Rechtszuges wurde aufgegeben, so dass ein Vollstreckungsabwehrantrag nunmehr ausschließlich bei dem nach § 232 Abs. 1 FamFG aktuell zuständigen Gericht gestellt werden muss3. Für Unterhaltssachen, die die durch die Ehe begründete gesetzliche Un- 87 terhaltspflicht oder einen Unterhaltsanspruch nach § 1615l BGB (Unterhaltsanspruch der/des nichtehelichen Mutter/Vaters) oder Ansprüche des (nicht privilegiert) volljährigen Kindes oder Unterhaltssachen gem. § 231 Abs. 2 FamFG betreffen, bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit über § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG nach den allgemeinen Gerichtsstandvorschriften der ZPO (§§ 12 f. ZPO) mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Wohnsitzes der gewöhnliche Aufenthalt tritt (§ 232 Abs. 3 S. 1 FamFG). Darüber hinaus eröffnet § 232 Abs. 3 S. 2 FamFG für den Antragsteller einen Wahlgerichtsstand, und zwar – für Anträge auf Ehegattenunterhalt oder Unterhalt gem. § 1615l BGB bei dem Gericht, bei dem ein Verfahren über den Unterhalt des Kindes im ersten Rechtszug anhängig (§ 232 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 FamFG) ist und – in Unterhaltsverfahren wegen Kindesunterhalts, in dem beide Elternteile in Anspruch genommen werden, bei dem Gericht, das für den Anspruch gegen einen Elternteil zuständig ist (§ 232 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 FamFG). Hiervon sind Fälle erfasst, in denen beide Elternteile zum Barunterhalt verpflichtet sind, zB bei Volljährigenunterhalt oder Ansprüchen des minderjährigen Kindes, das einen eigenen Hausstand begründet hat.
1 Prütting/Helms/Bömelburg, § 232 FamFG Rn. 11. 2 BT-Drucks. 16/6308, 255. 3 BT-Drucks. 16/6308, 255; Prütting/Helms/Bömelburg, § 232 FamFG Rn. 12.
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Kap. 12 Rn. 89
Verfahrensrecht
– Wenn der Antragsgegner im Inland keinen Gerichtsstand hat, ist das Gericht örtlich zuständig, bei dem der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 232 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 FamFG).
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Praxistipp: Der Wahlgerichtsstand gem. § 232 Abs. 3 S. 2 FamFG ist nur eröffnet, wenn bereits ein Verfahren über Kindesunterhalt anhängig ist. Die Anhängigkeit eines Antrags bestimmt sich nach Maßgabe des § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. § 253 ZPO. Umstritten ist, ob die Anhängigkeit bereits durch Einreichung eines isolierten Verfahrenskostenhilfeantrags ohne gleichzeitige Einreichung eines Unterhaltsantrags herbeigeführt werden kann1 oder den Eingang einer anwaltlichen Antragsschrift bei Gericht voraussetzt2.
89 Wird die Ehesache rechtshängig, während bei einem anderen Gericht im ersten Rechtszug eine Unterhaltssache anhängig ist, die die Unterhaltspflicht für ein gemeinsames Kind oder den Ehegattenunterhalt betrifft (§ 232 Abs. 1 Nr. 1 FamFG), ist dieses Unterhaltsverfahren von Amts wegen an das Gericht der Ehesache abzugeben (§ 233 FamFG).
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Wichtig: Von der Abgabepflicht wird das vereinfachte Verfahren über den Unterhalt Minderjähriger (§ 249 FamFG) nicht erfasst. Geht das vereinfachte Verfahren auf Antrag eines Beteiligten gem. §§ 254, 255 FamFG jedoch in das streitige Verfahren über und wird oder ist bereits bei einem anderen Gericht eine Ehesache anhängig, ist dieses Verfahren gem. § 233 FamFG an das Gericht der Ehesache abzugeben3.
90 Für alle anderen Unterhaltssachen ist die Anhängigkeit oder Rechtshängigkeit der Ehesache ohne Bedeutung. (8) Güterrechtssachen 91 Die örtliche Zuständigkeit in Güterrechtssachen vor Anhängigkeit einer Ehesache bestimmt sich gem. § 262 Abs. 2 FamFG nach der ZPO, jedoch mit der Maßgabe, dass in den Vorschriften über den allgemeinen Gerichtsstand (§§ 113, 15, 16 ZPO) an die Stelle des Wohnsitzes der gewöhnliche Aufenthalt tritt. Mit den Vorschriften der ZPO sind nicht nur die allgemeinen Gerichtsstandsregeln gemeint, sondern anwendbar sind auch zB die Vorschriften über Zuständigkeitsvereinbarun1 OLG Bamberg v. 2.11.2010 – 2 UF 180/10, FamRZ 2011, 1416; OLG Hamm v. 17.10.2011 – 6 UF 144/11, FF 2012, 39 (jeweils zu § 137 Abs. 2 FamFG); Prütting/ Helms/Helms, § 137 FamFG Rn. 50. 2 Prütting/Helms/Bömelburg, § 232 FamFG Rn. 18; Zöller/Lorenz, § 232 FamFG Rn. 11. 3 Prütting/Helms/Bömelburg, § 232 FamFG Rn. 7; Zöller/Lorenz, § 232 FamFG Rn. 3.
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Verfahrensrecht
Rn. 95
Kap. 12
gen (§§ 38, 40 ZPO) und die Zuständigkeit infolge rügeloser Verhandlung (§ 39 ZPO)1. Wird die Ehesache rechtshängig, ist eine bei einem anderen Gericht im ersten Rechtszug noch anhängige Güterrechtssache von Amts wegen an das Gericht der Ehesache abzugeben. § 281 Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 ZPO gilt entsprechend (§ 263 S. 2 FamFG).
92
(9) Sonstige Familiensachen Die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit für sonstige Familiensachen 93 des § 266 FamFG richtet sich vor Anhängigkeit der Ehesache nach § 267 Abs. 2 FamFG. Die Zuständigkeit bestimmt sich nach der ZPO mit der Maßgabe, dass in den Vorschriften über den allgemeinen Gerichtsstand (§§ 113, 15 Abs. 1 und 16 ZPO) nicht auf den Wohnsitz, sondern auf den gewöhnlichen Aufenthalt abgestellt wird (s. Rn. 55). Mit den Vorschriften der ZPO sind nicht nur die allgemeinen Gerichtsstandregeln gemeint, sondern anwendbar sind auch zB die Vorschriften über Zuständigkeitsvereinbarungen (§§ 38, 40 ZPO) und die Zuständigkeit infolge rügeloser Verhandlung (§ 39 ZPO)2. Wird eine Ehesache rechtshängig, während eine sonstige Familiensache bei einem anderen Gericht im ersten Rechtszug anhängig ist, ist diese von Amts wegen an das Gericht der Ehesache abzugeben, § 281 Abs. 2 und Abs. 3, S. 1 ZPO gilt entsprechend (§ 268 FamFG).
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bb) Während Anhängigkeit einer Ehesache Ist eine Ehesache bereits anhängig, ist für die nachfolgend aufgeführten 95 Verfahren ausschließlich das Gericht der Ehesache zuständig. Damit wird die Zuständigkeitskonzentration bei dem Gericht der Ehesache verwirklicht. Anhängig wird eine Ehesache mit Einreichung der Antragsschrift nach Maßgabe des § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. § 253 ZPO. Bei gleichzeitiger Einreichung eines Antrags auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe und der Antragsschrift wird bereits die Ehesache anhängig3, es sei denn, der Antragsteller stellt unmissverständlich klar, dass er den Antrag nur unter der Bedingung der Verfahrenskostenhilfebewilligung stellen will4, in dem er dies zB ausdrücklich im Text erklärt oder die Antragsschrift nur als Anlage zu dem Verfahrenskostenhilfegesuch einreicht, als Entwurf bezeichnet oder nicht mit Unterschrift versieht5. Die Anhängig1 Zöller/Lorenz, § 263 FamFG Rn. 7. 2 Zöller/Lorenz, § 263 FamFG Rn. 7. 3 BGH v. 22.5.1996 – XII ZR 14/95, FamRZ 1996, 1142; Prütting/Helms/Helms, § 124 FamFG Rn. 2. 4 BGH v. 22.5.1996 – XII ZR 14/95, FamRZ 1996, 1142. 5 BGH v. 22.5.1996 – XII ZR 14/95, FamRZ 1996, 1142; OLG Schleswig v. 18.2.2010 – 13 UF 167/09, FamRZ 2010, 1359 mwN = FamRB 2010, 142; Prütting/Helms/Helms, § 124 FamFG Rn. 2; Zöller/Lorenz, § 123 FamFG Rn. 2.
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1349
Kap. 12 Rn. 96
Verfahrensrecht
keit der Ehesache darf noch nicht beendet sein. Die Anhängigkeit der Ehesache endet mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens, mit Antragsrücknahme (§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. § 269 ZPO), bei übereinstimmender Erledigungserklärung oder bei Tod eines Ehegatten (§ 131 FamFG). Befindet sich die Ehesache in der Beschwerdeinstanz, bleibt die Zuständigkeit des Gerichts der Ehesache bestehen1. (1) Kindschaftssachen 96 Ist eine Ehesache anhängig, bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit nach § 152 Abs. 1 FamFG. Diese Vorschrift umfasst alle Kindschaftssachen, die gemeinschaftliche Kinder der Ehegatten betreffen. Danach ist während der Anhängigkeit einer Ehesache unter den deutschen Gerichten das Gericht zuständig, bei dem die Ehesache im ersten Rechtszug anhängig ist oder war. (2) Ehewohnungs- und Haushaltssachen 97 Für Ehewohnungs- und Haushaltssachen ist während der Anhängigkeit einer Ehesache das Gericht ausschließlich zuständig, bei dem die Ehesache im ersten Rechtszug anhängig ist oder war (§ 201 Nr. 1 FamFG). (3) Versorgungsausgleichssachen 98 Ist eine Ehesache anhängig, ist für eine Versorgungsausgleichssache das Gericht zuständig, bei dem die Ehesache im ersten Rechtszug anhängig ist oder war (§ 218 Nr. 1 FamFG). (4) Unterhaltssachen 99 Ist eine Ehesache bereits anhängig, ist das Gericht der Ehesache ausschließlich zuständig (§ 232 Abs. 1 Nr. 1 FamFG) in Unterhaltssachen für ein gemeinschaftliches minderjähriges oder ein ihm gleichgestelltes (privilegiertes) Kind der Ehegatten oder für Verfahren, die die durch die Ehe begründete Unterhaltspflicht betreffen.
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Wichtig: Diese ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts der Ehesache gilt nicht für das vereinfachte Verfahren über den Unterhalt Minderjähriger. In diesen Fällen richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach § 232 Abs. 1 Nr. 2 FamFG. Erst wenn das vereinfachte Verfahren auf Antrag eines Beteiligten in das streitige Verfahren übergeht, wechselt die Zuständigkeit und das Verfahren ist nach § 233 FamFG an das Gericht der Ehesache abzugeben.
1 Prütting/Helms/Bömelburg, § 232 FamFG Rn. 6.
1350
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 103
Kap. 12
(5) Güterrechtssachen In Güterrechtssachen besteht bei Anhängigkeit der Ehesache ebenfalls ei- 100 ne ausschließliche örtliche Zuständigkeit des Gerichts, bei dem die Ehesache im ersten Rechtszug anhängig ist oder war (§ 262 Abs. 1 FamFG). Diese ausschließliche Zuständigkeit geht anderen ausschließlichen Gerichtsständen vor (§ 262 Abs. 1 S. 2 FamFG). Hierbei ist insbesondere an Vollstreckungsabwehrverfahren zu denken (§§ 767 Abs. 1, 802 ZPO)1. c) Örtliche Zuständigkeit in Lebenspartnerschaftssachen Für die örtliche Zuständigkeit in Lebenspartnerschaftssachen ist zu diffe- 101 renzieren: Für Verfahren auf Aufhebung der Lebenspartnerschaft (§ 269 Abs. 1 Nr. 1 FamFG) und auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens einer Lebenspartnerschaft (§ 269 Abs. 1 Nr. 2 FamFG) ist die Vorschrift über die örtliche Zuständigkeit in Ehesachen gem. § 122 FamFG entsprechend anwendbar. Für die Lebenspartnerschaftssachen nach § 269 Abs. 1 Nr. 3–12 FamFG sind über § 111 Nr. 2, 4, 5 und 7–9 FamFG die jeweiligen Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit in Kindschaftssachen, Adoptionssachen, Ehewohnungs- und Haushaltssachen, Versorgungsausgleichs- und Unterhaltssachen sowie in Güterrechtssachen entsprechend anzuwenden. Auf die Ausführungen zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit in den jeweiligen Verfahrensarten kann verwiesen werden. d) Zuständigkeitskonflikte Neben den besonderen Bestimmungen für die gerichtliche Eingangs- 102 zuständigkeit enthält der Allgemeine Teil des FamFG für die FG-Familiensachen noch weitere allgemeine Bestimmungen über die Vorgriffszuständigkeit bei mehreren örtlich zuständigen Gerichten (§ 2 FamFG), die Verweisung bei Unzuständigkeit (§ 3 FamFG), die Abgabe aus wichtigem Grund (§ 4 FamFG) sowie der gerichtlichen Bestimmung der Zuständigkeit (§ 5 FamFG). In Anlehnung an den früheren § 43 Abs. 1, 2. Halbs. FGG richtet sich die Zuständigkeit unter mehreren örtlich zuständigen Gerichten in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit danach, welches Gericht zuerst mit der Sache befasst wurde, und nicht danach, wann es tatsächlich tätig geworden ist. Für familiengerichtliche Verfahren, die nur durch Antrag eingeleitet werden können, zB in Ehewohnungs- und Haushaltssachen, kommt es darauf an, wann die Antragsschrift bei Gericht eingegangen ist. In Verfahren von Amts wegen, zB einem Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung gem. § 1666 BGB, kommt es auf die Kenntnisnahme der Um-
1 BT-Drucks. 16/6308, 262.
Kühner
1351
103
Kap. 12 Rn. 104
Verfahrensrecht
stände an, die die Verpflichtung des Gerichts, ein Verfahren einzuleiten, begründen1 (§ 2 Abs. 1 FamFG). 104
Auf die Zuständigkeit hat es keinen Einfluss, wenn sich die sie begründenden Umstände verändern, weiterhin gilt der Grundsatz der perpetuatio fori (§ 2 Abs. 2 FamFG).
105
§ 2 Abs. 3 FamFG entspricht im Hinblick auf die fehlende örtliche Zuständigkeit dem bisherigen § 7 FGG, wonach gerichtliche Handlungen nicht deshalb unwirksam sind, weil sie von einem örtlich unzuständigen Gericht vorgenommen worden sind.
106
Wie sich das Vorgehen des angerufenen Gerichts bestimmt, das bereits zu Beginn des Verfahrens in einer FG-Familiensache sachlich oder örtlich unzuständig ist, regelt § 3 FamFG. Die Vorschrift entspricht inhaltlich im Wesentlichen § 17a Abs. 2 S. 2 GVG. Kann das zuständige Gericht bestimmt werden, muss sich das unzuständige Gericht durch Beschluss für unzuständig erklären und hat die Sache an das zuständige Gericht zu verweisen. Vor der Verweisung sind die Beteiligten zu hören (§ 3 Abs. 1 S. 2 FamFG); diese Regelung ist Ausdruck des Anspruchs auf rechtliches Gehör2. Bei mehreren zuständigen Gerichten muss die Verweisung an das vom Antragsteller gewählte Gericht erfolgen (§ 3 Abs. 2 S. 1 FamFG). Unterlässt der Antragsteller die Wahl, hat das örtlich oder sachlich unzuständige Gericht das zuständige Gericht zu bestimmen (§ 3 Abs. 2 S. 2 FamFG). Mit dieser Vorschrift soll eine Angleichung an die entsprechende Regelung in § 17a Abs. 2 S. 2 GVG erreicht werden. Unerheblich ist, ob es sich um ein Antrags- oder Amtsverfahren handelt, selbst in einem von Amts wegen von einem unzuständigen Gericht eingeleiteten Verfahren ist für den Fall, dass mehrere Gerichte zuständig sind, das Verfahren an das gerichtlich bestimmte Gericht zu verweisen.
107
Der Verweisungsbeschluss ist nicht anfechtbar, er ist für das als zuständig bezeichnete Gericht bindend (§ 3 Abs. 3 FamFG). Dies gilt selbst dann, wenn die Verweisung rechtsirrtümlich oder verfahrensfehlerhaft war3. Nur dann, wenn es dem Beschluss an jeder rechtlichen Grundlage fehlt, so dass er objektiv willkürlich erscheint, tritt keine Bindung ein4. Mit der grundsätzlichen Bindung des Verweisungsbeschlusses sollen Zwischenstreitigkeiten und damit eintretende Verzögerungen des Verfahrens vermieden werden5.
108
Kosten, die in dem Verfahren vor dem angerufenen Gericht entstanden sind, sind nicht in den Verweisungsbeschluss aufzunehmen, sondern erst im Rahmen der Endentscheidung des mit der Sache befassten Gerichts in 1 2 3 4 5
BT-Drucks. 16/6308, 175. BT-Drucks. 16/6308, 175. BT-Drucks. 16/6308, 175. BT-Drucks. 16/6308, 175. BT-Drucks. 16/6308, 175.
1352
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 110
Kap. 12
der gem. § 81 FamFG zu treffenden Kostenentscheidung zu berücksichtigen (§ 3 Abs. 4 FamFG). Gem. § 4 FamFG kann das Gericht eine FG-Familiensache aus wichtigem 109 Grund an ein anderes Gericht abgeben. Ein wichtiger Grund liegt insbesondere in Kindschaftssachen vor, wenn das betroffene Kind seinen Aufenthalt dauerhaft in den Bezirk eines anderen Gerichts verlegt und der Aufenthaltswechsel mit besonderen Erschwernissen verbunden ist, die es aus Gründen des Kindeswohls notwendig erscheinen lassen, das Verfahren am Gericht des neuen Aufenthaltsorts des Kindes weiterzuführen1. Zu prüfen ist allerdings, ob das Beschleunigungsgebot (§ 155 Abs. 1 FamFG) einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit des mit der Sache befassten Gerichts entgegensteht2. Die Abgabe ist jedoch nur dann möglich, wenn sich das andere Gericht zur Übernahme der Sache bereit erklärt hat. Hintergrund ist der Gedanke, dass der Personenbezug im Verfahren im Vordergrund steht und es aus diesem Grund zweckmäßig sein kann, das Verfahren an ein Gericht abzugeben, in dessen Nähe sich die maßgeblich von dem Verfahren betroffene Person zwischenzeitlich befindet. Als wichtiger Grund kommt beispielsweise im Bereich der Betreuungssachen vor allem der dauerhafte Aufenthaltswechsel des Mündels und des Betreuers oder der Eltern oder in Adoptionssachen der Wohnsitzwechsel des Annehmenden und des Kindes in einen anderen Gerichtsbezirk in Betracht3. Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen. Die Abgabe ist für das übernehmende Gericht nicht bindend4. Die Abgabeentscheidung ist nicht selbständig mit der Beschwerde (§ 58 Abs. 1 FamFG) anfechtbar5, weil es sich nicht um eine Endentscheidung i.S.d. § 58 Abs. 1 FamFG, sondern nur um eine Zwischenentscheidung handelt, die nur dann selbständig angefochten werden kann, wenn dies ausdrücklich gesetzlich bestimmt ist (§ 58 Abs. 1 Halbs. 2 FamFG)6. Die Abgabeentscheidung kann daher nur im Rahmen eines gegen die Endentscheidung gerichteten Rechtsmittels überprüft werden (§ 58 Abs. 2 FamFG)7. Soll eine Abgabe aus wichtigem Grund erfolgen und ist das Gericht, an das das Verfahren abgegeben wurde, zur Annahme des Verfahrens nicht bereit, wird das zuständige Gericht durch das nächsthöhere gemeinsame Gericht bestimmt (§ 5 Abs. 1 Nr. 5 FamFG). Die gerichtliche Bestim1 OLG Hamm v. 1.7.2010 – II-2 Sdb (FamS) Zust 19/10, FamRZ 2011, 55; BTDrucks. 16/6308, 176. 2 OLG Hamm v. 1.7.2010 – II-2 Sdb (FamS) Zust 19/10, FamRZ 2011, 55. 3 BT-Drucks. 16/6308, 176. 4 Prütting/Helms/Prütting, § 4 FamFG Rn. 32. 5 BGH v. 1.12.2010 – XII ZB 227/10, FamRZ 2011, 282 m. Anm. Fröschle = FamRB 2011, 117; Prütting/Helms/Prütting, § 4 FamFG Rn. 30; aA Zöller/Geimer, § 4 FamFG Rn. 2. 6 BGH v. 1.12.2010 – XII ZB 227/10, FamRZ 2011, 282 m. Anm. Fröschle = FamRB 2011, 117. 7 BGH v. 1.12.2010 – XII ZB 227/10, FamRZ 2011, 282 m. Anm. Fröschle = FamRB 2011, 117; Prütting/Helms/Prütting, § 4 FamFG Rn. 30.
Kühner
1353
110
Kap. 12 Rn. 111
Verfahrensrecht
mung der Zuständigkeit durch das nächsthöhere gemeinsame Gericht erfasst Fälle der tatsächlichen oder rechtlichen Verhinderung an der Ausübung der Gerichtsbarkeit (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 FamFG), bei Bestehen einer Ungewissheit über die Zuständigkeit des Gerichts im Hinblick auf die Grenzen verschiedener Gerichtsbezirke oder aus sonstigen tatsächlichen Gründen (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 FamFG) oder in Fällen des positiven oder negativen Kompetenzkonfliktes (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 und 4 FamFG), wenn sich verschiedene Gerichte rechtskräftig für zuständig oder unzuständig erklärt haben. 111
Ist das nächsthöhere gemeinsame Gericht der BGH, wird in den Fällen des Abs. 1 Nr. 2–5 das zuständige Gericht durch das Oberlandesgericht bestimmt, zu dessen Bezirk das zuerst mit der Sache befasste Gericht gehört.
Û
Wichtig: Der Beschluss, der das zuständige Gericht bestimmt, ist nicht anfechtbar (§ 5 Abs. 3 FamFG).
e) Internationale Zuständigkeit 112
Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte (s. dazu im Einzelnen Kap. 16 Rn. 5) ist in den §§ 98 bis 105 FamFG (nicht ausschließlich, § 106 FamFG) geregelt für – Ehesachen und den Verbund von Scheidungs- und Folgesachen (§ 98 FamFG), – Kindschaftssachen (§ 99 FamFG), – Abstammungssachen (§ 100 FamFG), – Adoptionssachen (§ 101 FamFG), – Lebenspartnerschaftssachen (§ 103 Abs. 1 FamFG), – isolierte Versorgungsausgleichssachen (§ 102 FamFG).
113
Die Bestimmungen knüpfen an den gewöhnlichen Aufenthalt1 an.
114
Die internationale Zuständigkeit bei Verfahren mit Auslandsbezug2 ist vorab von Amts wegen zu prüfen, und zwar gesondert für jede einzelne Verfahrensart gem. §§ 98 bis 102 FamFG. Grundsätzlich ist für die internationale Zuständigkeit zunächst supranationales Recht zu prüfen, dh. völkerrechtliche Vereinbarungen bzw. Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft. Gelangen diese nicht zur Anwendung, ist das innerstaatliche Recht heranzuziehen.
1 Dazu ausf. Prütting/Helms/Helms, § 122 FamFG. 2 Dazu ausf. Prütting/Helms/Hau, §§ 98 f. FamFG.
1354
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 117
Kap. 12
IV. Allgemeine Vorschriften in FG-Familiensachen 1. Beteiligte Anders als nach der bis zum Inkrafttreten des FamFG am 1.9.2009 beste- 115 henden Rechtslage ist nunmehr gesetzlich definiert, wer Beteiligter in einem FG-Verfahren ist (§ 7 FamFG). Diese Regelung ist ein Kernstück der Reform des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Mit der Einführung des Beteiligtenbegriffs soll verhindert werden, dass die in ihren materiellen Rechten betroffenen Personen am Verfahren nicht oder nicht rechtzeitig beteiligt werden und so weder rechtliches Gehör erhalten noch ihre Beteiligtenrechte effektiv in einer der Bedeutung der betroffenen Rechte entsprechenden Weise wahren können1. Die Neuregelung trägt dazu bei, dass die Beteiligten eine feste Rechtsposition als Verfahrensrechtssubjekte erhalten, darüber hinaus kann wesentlich übersichtlicher zB bestimmt werden, welcher Person oder Behörde die Befugnis zusteht, Akteneinsicht zu beantragen oder ein Rechtsmittel gegen eine Endentscheidung einzulegen. § 7 FamFG ist als Generalklausel zu verstehen, die durch weitere Rege- 116 lungen in den weiteren Büchern des FamFG ergänzt wird, so zB zur Beteiligung – des Jugendamts in Kindschaftssachen (§ 162 Abs. 2 FamFG), – in Abstammungssachen (§ 172 FamFG), – in Adoptionssachen (§ 188 Abs. 1 FamFG), – in Wohnungszuweisungssachen (§ 204 Abs. 1 FamFG), – in Gewaltschutzsachen (§ 212 FamFG), – in Versorgungsausgleichssachen (§ 219 FamFG).
Û
Wichtig: Nach § 113 Abs. 1 FamFG gilt § 7 FamFG weder für Ehesachen noch für Familienstreitsachen, sondern nur für die FG-Familiensachen.
Nach altem Recht wurde in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit 117 zwischen formell und materiell Beteiligten unterschieden. Materiell am Verfahren beteiligt sind die Personen, deren Rechte und Pflichten durch das Verfahren und durch die darin zu erwartende oder getroffene Entscheidung unmittelbar betroffen sein können. Formell beteiligt hingegen ist derjenige, der zur Wahrnehmung nicht notwendig eigener Interessen auf Antrag am Verfahren teilnimmt oder als Folge des Amtsermittlungsgrundsatzes nach dem früheren § 12 FGG hinzugezogen wird2. Der in § 7 FamFG eingeführte Beteiligtenbegriff orientiert sich nun stärker am formellen Recht, es kann nun eindeutiger bestimmt werden, wer Beteiligter ist. Das
1 BT-Drucks. 16/6308, 165. 2 Keidel/Zimmermann, § 7 FamFG Rn. 4 f.
Kühner
1355
Kap. 12 Rn. 118
Verfahrensrecht
Gesetz unterscheidet dabei zwischen Beteiligten kraft Gesetzes (§ 7 Abs. 1 FamFG) und Beteiligten kraft Hinzuziehung (§ 7 Abs. 2 FamFG). a) Beteiligte kraft Gesetzes 118
Beteiligter kraft Gesetzes ist in Antragsverfahren der Antragsteller. IdR wird der Antragsteller durch die ergehende Entscheidung in eigenen materiellen Rechten betroffen sein. Auch wenn dies ausnahmsweise nicht der Fall ist, muss über den Antrag entschieden werden, und schon deshalb ist es erforderlich, dass der Antragsteller in jedem Fall als Beteiligter am Verfahren teilnimmt1. b) Beteiligte kraft Hinzuziehung
119
Bei den Beteiligten kraft Hinzuziehung ist zu unterscheiden nach den sog. Muss-Beteiligten (§ 7 Abs. 2 FamFG) und Kann-Beteiligten (§ 7 Abs. 3 FamFG). Der Personenkreis, den das Gericht zwingend zu dem Verfahren hinzuzuziehen hat, wird in § 7 Abs. 2 FamFG bestimmt. Die Personen, die zu dem Verfahren hinzugezogen werden können, sind in § 7 Abs. 3 S. 1 FamFG aufgeführt.
120
„Muss-Beteiligte“ sind diejenigen, – deren Recht durch das Verfahren unmittelbar betroffen wird (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG), – die aufgrund dieses oder eines anderen Gesetzes von Amts wegen oder auf Antrag zu beteiligen sind (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 FamFG).
121
Mit dem Kriterium der Unmittelbarkeit in § 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG soll klargestellt werden, dass eine Beteiligung nur dann zu erfolgen hat, wenn subjektive Rechte des Einzelnen betroffen sind, womit eine direkte Auswirkung auf eigene materielle, nach öffentlichem oder privatem Recht geschützte Positionen gemeint ist2. Nicht ausreichend sind lediglich ideelle, soziale oder wirtschaftliche Auswirkungen durch den Ausgang des Verfahrens oder mittelbare Auswirkungen zB im Hinblick auf eine präjudizielle Wirkung auf andere gleich gelagerte Fälle3. Das Gericht muss von Amts wegen (§ 26 FamFG) selbst ermitteln, welche Personen unmittelbar in einem eigenen Recht betroffen sind4.
122
Eine Pflicht zur Hinzuziehung gilt ferner für die von Amts wegen oder auf Antrag zu beteiligenden Personen oder Behörden (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 FamFG). So besteht eine Beteiligungspflicht von Amts wegen in FG-Familiensachen nach folgenden Vorschriften:
1 2 3 4
BT-Drucks. 16/6308, 178. BT-Drucks. 16/6308, 178. BT-Drucks. 16/6308, 178. Prütting/Helms/Prütting, § 7 FamFG Rn. 24a.
1356
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 124
Kap. 12
– in Abstammungssachen gem. § 172 Abs. 1 FamFG, in denen Vater, Mutter und Kind zu beteiligen sind; – in Verfahren auf Vaterschaftsanfechtung der Mann, der an Eides statt versichert, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben sowie die zuständige Behörde (anfechtungsberechtigte Behörde) in den Fällen des § 1592 Nr. 2 BGB, – in Adoptionssachen gem. § 188 FamFG, in denen der Anzunehmende und der Angenommene und je nach Fallgestaltung auch Eltern, Ehegatten, Verlobte oder das Jugendamt zu beteiligen sind, – in Wohnungszuweisungs- und Haushaltssachen, wonach gem. § 200 Abs. 1 Nr. 2 FamFG auch der Vermieter, Grundstückseigentümer und Personen, mit denen die Ehegatten oder einer von ihnen hinsichtlich der Wohnung in Rechtsgemeinschaft stehen, beteiligt werden müssen, – in Versorgungsausgleichssachen gem. § 219 FamFG, in denen neben den Ehegatten insbesondere die Versicherungsträger zu beteiligen sind.
Û
Wichtig: Für Kindschaftssachen gem. § 151 FamFG fehlt eine solche spezielle Regelung über Beteiligte, so dass die Beteiligtenstellung ausschließlich nach § 7 FamFG zu beurteilen ist.
Darüber hinaus sind auf Antrag weitere Personen als Beteiligte hin- 123 zuzuziehen, soweit dies gesetzlich ausdrücklich geregelt ist. Auch Behörden (zB das Jugendamt) können Beteiligte sein. Sie müssen aber nur dann hinzugezogen werden, wenn sie dies ausdrücklich beantragen. Sie können wählen, ob sie nur im Rahmen der Anhörung am Verfahren teilnehmen wollen oder als Beteiligte aktiv am Verfahren mitwirken1. Mit der Hinzuziehung haben die Behörden zwar alle Verfahrensrechte, können allerdings auch mit den Kosten des Verfahrens belastet werden2. Wird ein Antrag auf Beteiligung gestellt, ist das Gericht verpflichtet, die Hinzuziehung zu veranlassen, ohne dass ein Ermessensspielraum besteht3. Eine Beteiligungspflicht des Jugendamts auf Antrag besteht
124
– in Kindschaftssachen, § 162 Abs. 2 FamFG, – in Abstammungssachen, § 172 Abs. 2 FamFG, – in Adoptionssachen, § 188 Abs. 2 FamFG, – in Ehewohnungssachen, § 204 FamFG, wenn Kinder im Haushalt der Ehegatten leben, – in Gewaltschutzsachen, § 212 FamFG, wenn ein Kind im Haushalt lebt.
1 BT-Drucks. 16/6308, 179. 2 BT-Drucks. 16/6308, 179. 3 BT-Drucks. 16/6308, 179.
Kühner
1357
Kap. 12 Rn. 125 125
Verfahrensrecht
Gem. § 7 Abs. 3 S. 1 FamFG hat das Gericht auch die Möglichkeit, von Amts wegen oder auf Antrag weitere Personen als Beteiligte hinzuzuziehen, soweit dies in diesem oder in einem anderen Gesetz vorgesehen ist (Kann-Beteiligte).
Û
Wichtig: § 7 Abs. 3 FamFG findet in FG-Familiensachen keine Anwendung, die sog. Kann-Beteiligten werden ausschließlich durch abschließende Aufzählung in den Büchern 2–8 und in anderen Gesetzen mit Bezug zu dem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit definiert1. Aus den besonderen Vorschriften über die Beteiligtenstellung in FG-Familiensachen geht jedoch hervor, dass diese Personen oder Behörden hinzugezogen werden müssen.
126
Diejenigen, die auf ihren Antrag als Beteiligte zu dem Verfahren hinzuzuziehen sind oder hinzugezogen werden können, sind von der Einleitung des Verfahrens zu benachrichtigen, soweit sie dem Gericht bekannt sind (§ 7 Abs. 4 S. 1 FamFG). Sie sind über ihr Antragsrecht auch zu belehren (§ 7 Abs. 4 S. 2 FamFG). Mit dieser Vorschrift wird für alle Gruppen von Beteiligten die Pflicht des Gerichts, über die Verfahrenseinleitung zu unterrichten, einheitlich geregelt. Wird einem Antrag auf Hinzuziehung nicht stattgegeben, muss das Gericht durch Beschluss hierüber entscheiden. Dieser Beschluss ist mit der sofortigen Beschwerde (innerhalb der Zwei-Wochen-Frist) in entsprechender Anwendung der §§ 567 bis 572 ZPO anfechtbar (§ 7 Abs. 5 FamFG). Die Pflicht zur Benachrichtigung beschränkt sich auf die dem Gericht bekannten Personen2. Das Gericht ist nicht verpflichtet, Namen und Anschriften unbekannter Rechtsinhaber selbst zu ermitteln3. Wenn jedoch eine im Antrag bezeichnete Person unter der angegebenen Anschrift nicht erreichbar ist, kann das Gericht die neue Anschrift selbst ermitteln oder dem Antragsteller im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht (§ 27 FamFG) die Ermittlung der Anschrift aufgeben. Personen und Behörden, die aufgrund von Vorschriften in den Büchern 2–8 des FamFG in einem Verfahren anzuhören sind oder eine Auskunft zu erteilen haben, werden nicht allein dadurch schon zu Verfahrensbeteiligten4. Ist eine Beteiligung i.S.d. § 7 FamFG gegeben, ist die Beteiligtenfähigkeit gem. § 8 FamFG zu prüfen5.
Û
Wichtig: In den Verfahren betreffend die elterliche Sorge, das Umgangsrecht oder die Kindesherausgabe ist das minderjährige Kind Beteiligter des Verfahrens. Hat das Kind das 14. Lebensjahr vollendet, sind dem verfahrensbeteiligten Kind die Terminsladungen und Entscheidungen
1 2 3 4 5
BT-Drucks. 16/6308, 179. BT-Drucks. 16/6308, 179. BT-Drucks. 16/6308, 179. BT-Drucks. 16/6308, 180. Vgl. hierzu ausf. Prütting/Helms/Prütting, § 8 FamFG.
1358
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 127
Kap. 12
bekannt zu geben (§ 164 Abs. 1 FamFG), anderenfalls liegt ein Verfahrensfehler vor. c) Übersicht über Beteiligte i.S.d. § 7 FamFG Beteiligte
kraft Gesetzes § 7 Abs. 1 FamFG
= Antragsteller (in Antragsverfahren)
Nr. 1: unmittelbar Betroffene,
127
kraft Hinzuziehung § 7 Abs. 2 und 3 FamFG
Muss-Beteiligte § 7 Abs. 2 Nr. 1, 2 FamFG
Kann-Beteiligte § 7 Abs. 3 FamFG
Nr. 2: – Beteiligte auf – Beteiligte von Antrag: zB Angehörige in Amts wegen: ● Abstammungssachen, ● Betreuungssachen, § 172 Abs. 1 FamFG § 274 Abs. 4 FamFG ● Wohnungszuweisungs● Unterbringungssachen, § 204 FamFG sachen § 315 Abs. 4 ● VersorgungsausgleichsFamFG sachen, § 219 FamFG ● Adoptionssachen, § 188 Abs. 1 FamFG – Beteiligte auf Antrag: das Jugendamt gem. §§ 162 Abs. 2, 172 Abs. 2, 188 Abs. 2, 204 Abs. 2, 212 Abs. 2 FamFG
Kühner
1359
Kap. 12 Rn. 128
Verfahrensrecht
2. Verfahrensfähigkeit 128
Zusätzlich zu der Frage, wer Beteiligter eines Verfahrens ist, ist dessen Verfahrensfähigkeit zu prüfen (§ 9 FamFG). Insbesondere in Angelegenheiten, die minderjährige Kinder betreffen, ist diese Frage von erheblicher Bedeutung. Verfahrensfähigkeit setzt voraus, dass ein Beteiligter selbst oder durch einen selbst gewählten Vertreter wirksam Erklärungen im Verfahren abgeben kann (§ 9 FamFG)1. Verfahrensfähig kann nur sein, wer auch beteiligtenfähig ist (§ 8 FamFG). Fehlt es an der Verfahrensfähigkeit, so sind gleichwohl vorgenommene Verfahrenshandlungen unwirksam2.
129
Nach § 9 Abs. 1 FamFG sind verfahrensfähig – die voll Geschäftsfähigen nach bürgerlichem Recht nach den §§ 2, 104 f. BGB (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 FamFG), – die beschränkt Geschäftsfähigen, soweit sie nach bürgerlichem Recht als geschäftsfähig anerkannt sind (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 FamFG), – die nach bürgerlichem Recht beschränkt Geschäftsfähigen, soweit sie das 14. Lebensjahr vollendet haben und sie in einem Verfahren, das ihre Person betrifft, ein ihnen nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht geltend machen (§ 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG).
130
Ein minderjähriges Kind ist somit erst ab Vollendung des 14. Lebensjahres verfahrensfähig, darüber hinaus muss es sich um ein Verfahren handeln, das das Kind betrifft und das Kind muss ein ihm nach dem BGB zustehendes Recht geltend machen, also positiv für sich in Anspruch nehmen3. Hier sind insbesondere die Verfahren betreffend die elterliche Sorge, das Umgangsrecht oder die Kindesherausgabe zu nennen. Ein nach dem BGB dem Kind zustehendes Recht ist das Widerspruchsrecht gegen einen Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge gem. § 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB4. Nach dieser Vorschrift kann das Kind eigenständig materielle Rechte im kindschaftsrechtlichen Verfahren ohne Mitwirkung seiner gesetzlichen Vertreter geltend machen. Dies gilt nicht, wenn es um ein Umgangsrecht nach § 1685 BGB oder die Einschränkung oder den Ausschluss des Umgangsrechts nach § 1684 Abs. 4 BGB geht5.
131
Ist das Kind nicht verfahrensfähig (§ 9 Abs. 1 Nrn. 1–3 FamFG), handeln für das Kind idR die sorgeberechtigten Eltern in gesetzlicher Vertretung (§ 1629 BGB).
1 BT-Drucks. 16/6308, 180. 2 BT-Drucks. 16/6308, 180. 3 Prütting/Helms/Prütting, § 9 FamFG Rn. 14; Schulte-Bunert/Weinreich/Schöpflin, § 9 FamFG Rn. 9. 4 BT-Drucks. 16/9733, 352. 5 Prütting/Helms/Prütting, § 9 FamFG Rn. 14.
1360
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 132
Kap. 12
Die Streitfrage, ob die gesetzliche Vertretung von den sorgeberechtigten El- 131a tern ungeachtet ihrer eigenen Verfahrensbeteiligung wahrgenommen werden kann, die Bestellung eines Verfahrensbeistands1 oder grundsätzlich ein Ergänzungspfleger zu bestellen ist (§§ 1629 Abs. 2 S. 3, 1796 BGB)2, ist nunmehr höchstrichterlich geklärt. Die Eltern sind in Kindschaftssachen grundsätzlich von der gesetzlichen Vertretung ausgeschlossen; selbst bei Vorliegen eines erheblichen Interessengegensatzes zwischen Eltern und Kind darf den Eltern die Vertretungsbefugnis im Zusammenhang mit dem Verfahren nicht entzogen werden, wenn bereits durch die Bestellung eines Verfahrensbeistands für eine wirksame Interessenvertretung des Kindes Sorge getragen werden kann3. Dass ein Verfahrensbeistand nicht gesetzlicher Vertreter des Kindes ist, steht dem nicht entgegen4. 3. Bekanntgabe; formlose Mitteilung § 15 FamFG enthält eine allgemeine Regelung über die Bekanntgabe von 132 Dokumenten in FG-Familiensachen. Die Vorschrift gilt nicht in Ehe- und Familienstreitsachen, für diese gelten die allgemeinen Vorschriften der ZPO. Dokumente, deren Inhalt eine Termins- oder Fristbestimmung enthalten oder den Lauf einer Frist auslösen kann, sind den Beteiligten bekannt zu geben. Die Bekanntgabe kann gem. § 15 Abs. 2 FamFG in der Weise bewirkt werden, dass das Schriftstück zur Post gegeben wird oder eine Zustellung nach den §§ 166 bis 195 ZPO erfolgt. Die Entscheidung über die Form der Bekanntgabe liegt grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts5, allerdings mit der Einschränkung, dass ein anfechtbarer Beschluss demjenigen, dessen erklärtem Willen er nicht entspricht, zwingend nach den Vorschriften der ZPO förmlich zugestellt werden muss (§ 41 Abs. 1 S. 2 FamFG). Soll die Bekanntgabe durch Aufgabe zur Post im Inland bewirkt werden, gilt das Schriftstück drei Tage nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, wenn nicht der Beteiligte glaubhaft macht, dass ihm das Schriftstück nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist (§ 15 Abs. 2 S. 2 FamFG). Dokumente, deren Inhalt keiner Bekanntgabe bedürfen, weil sie weder eine Terminsoder Fristbestimmung enthalten oder den Lauf einer Frist auslösen, können nach Ermessen des Gerichts auch ohne Einhaltung einer Form, zB per einfacher E-Mail mitgeteilt werden (§ 15 Abs. 3 FamFG)6.
1 OLG Koblenz v. 3.8.2010 – 7 UF 513/10, FamRZ 2010, 1919; OLG Stuttgart v. 26.10.2009 – 18 WF 229/09, FamRZ 2010, 1166 = FamRB 2010, 7. 2 OLG Oldenburg v. 26.11.2009 – 14 UF 149/09, FamRZ 2010, 660 = FamRB 2010, 38; Prütting/Helms/Prütting, § 9 FamFG Rn. 19. 3 BGH v. 7.9.2011 – XII ZB 12/11, FamRZ 2011, 1788 = FamRB 2011, 371; m. Anm. Stößer, FamRZ 2011, 1859. 4 BGH v. 7.9.2011 – XII ZB 12/11, FamRZ 2011, 1788 = FamRB 2011, 371. 5 BT-Drucks. 16/6308, 182. 6 BT-Drucks. 16/6308, 183.
Kühner
1361
Kap. 12 Rn. 133
Verfahrensrecht
4. Fristen 133
In Anlehnung an §§ 221 ZPO, 57 Abs. 1 VwGO regelt § 16 Abs. 1 FamFG in FG-Familiensachen, wann eine Frist zu laufen beginnt. Fristbeginn ist regelmäßig der Zeitpunkt der Bekanntgabe. Die Vorschrift knüpft an den bisherigen § 16 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 FGG an, wonach der Fristablauf mit der schriftlichen Bekanntgabe beginnt1. Für die Berechnung der Fristen sind die §§ 222, 224 Abs. 2 und 3 sowie 225 ZPO entsprechend anwendbar, so dass für die Fristberechnung insbesondere über § 222 Abs. 1 ZPO die §§ 187 bis 193 BGB maßgebend sind2. 5. Antragsrücknahme; Beendigungserklärung
134
Die Zulässigkeit und die Folgen der Rücknahme eines Antrags in FG-Familiensachen sind nunmehr ausdrücklich in § 22 FamFG geregelt. Ein Beteiligter kann den Antrag noch bis zur Rechtskraft der Endentscheidung zurücknehmen (§ 22 Abs. 1 S. 1 FamFG), also auch noch nach Erlass der Endentscheidung. Allerdings bedarf die Rücknahme nach Erlass der Endentscheidung der Zustimmung der übrigen Beteiligten (§ 22 Abs. 1 S. 2 FamFG). Mit dieser ausdrücklichen Regelung ist der nach altem Recht bestehende Streit, ob die Rücknahme bis zur Wirksamkeit einer Entscheidung zulässig ist, beseitigt. Für die Erklärung der Rücknahme bestehen keine Formerfordernisse, es bleibt dem Beteiligten auch unbenommen, nach einer Antragsrücknahme erneut einen Antrag zu stellen, sofern das Antragsrecht nicht durch Zeitablauf erloschen und nicht ein Antragsverzicht erklärt worden ist3.
135
In Anlehnung an § 269 Abs. 3 S. 1, 2. Halbs. ZPO wird in § 22 Abs. 2 S. 1 FamFG auch klargestellt, dass durch die Antragsrücknahme eine noch nicht rechtskräftige Endentscheidung wirkungslos wird, ohne dass das Gericht die ausdrückliche Aufhebung aussprechen muss. Diese Rechtsfolge stellt das Gericht nur durch Beschluss fest, wenn einer der Beteiligten dies ausdrücklich beantragt. Der Beschluss ist rein deklaratorisch und daher auch unanfechtbar (§ 22 Abs. 2 S. 3 FamFG).
Û
Praxistipp: Im Interesse der Rechtssicherheit ist es empfehlenswert, stets den Antrag auf Aufhebung zu stellen.
136
Eine besondere Regelung für die Antragsverfahren in FG-Familiensachen enthält § 22 Abs. 3 FamFG über die Möglichkeiten einer Beendigung eines Verfahrens. Sind sich alle Beteiligten in einem Antragsverfahren einig und erklären, dass sie das Verfahren nicht fortführen wollen, endet das Verfahren ohne weitere gerichtliche Prüfung. Eine Entscheidung über den 1 BT-Drucks. 16/6308, 183; Prütting/Helms/Ahn-Roth, § 16 FamFG Rn. 8. 2 Ausf. hierzu Prütting/Helms/Ahn-Roth, § 16 FamFG. 3 BT-Drucks. 16/6308, 185.
1362
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 139
Kap. 12
Antrag hat nicht zu ergehen, die übereinstimmenden Erledigungserklärungen sind für das Gericht bindend1.
Û
Wichtig: In den amtswegigen Verfahren treten weder die Rücknahmewirkungen gem. § 22 Abs. 2 FamFG ein, noch ist eine Verfahrensbeendigung durch übereinstimmende Erledigungserklärung aller Beteiligten möglich (§ 22 Abs. 4 FamFG), weil die Antragsteller und die übrigen Beteiligten über den Verfahrensgegenstand nicht verfügen können2.
V. Verfahren im ersten Rechtszug Die §§ 23 bis 37 FamFG behandeln den gesamten Ablauf des Verfahrens in FG-Familiensachen und in den Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Auf die Ehesachen und Familienstreitsachen sind diese Vorschriften nicht anzuwenden, der Verfahrensablauf in diesen Verfahren wird unter den Rn. 183 ff., 405 ff., 448, 455 behandelt.
137
1. Verfahrenseinleitung Die formellen Voraussetzungen für die Einleitung eines Verfahrens in ei- 138 ner FG-Familiensache bestimmen sich nach den §§ 23, 24 FamFG. Das Recht und die Pflicht zur Einleitung eines Verfahrens leiten sich ausschließlich nach materiellem Recht ab3. Unabhängig davon, dass in den von Amts wegen zu betreibenden Verfahren (zB bei Kindeswohlgefährdung, § 1666 BGB) das Gericht berechtigt und ggf. auch verpflichtet ist, von selbst tätig zu werden und ein Verfahren einzuleiten, wenn Umstände bekannt werden, die ein Einschreiten erforderlich machen, können auch Dritte in diesen Verfahren die Einleitung eines Verfahrens anregen (§ 24 Abs. 1 FamFG). Bereits nach alter Rechtslage war es in Amtsverfahren möglich, bei Ge- 139 richt die Einleitung eines Verfahrens anzuregen. Hierzu zählten zB die Anregung eines nicht sorgeberechtigten nichtehelichen Vaters, ein Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung gegen die Mutter einzuleiten. Während nach alter Rechtslage derjenige, der die Einleitung angeregt hat, nicht darüber informiert werden musste, wenn das Gericht der Anregung nicht folgte, bestimmt nun § 24 Abs. 2 FamFG ausdrücklich, dass eine Unterrichtungspflicht besteht, soweit ein berechtigtes Interesse an der Unterrichtung ersichtlich ist. Dies wird zB bei demjenigen der Fall sein, der an einem späteren Verfahren als Beteiligter hinzuzuziehen gewesen wäre4. 1 2 3 4
BT-Drucks. 16/6308, 364, 365. BT-Drucks. 16/6308, 185. BT-Drucks. 16/6308, 185. BT-Drucks. 16/6308, 186.
Kühner
1363
Kap. 12 Rn. 140
Û
Verfahrensrecht
Praxistipp: Obwohl eine Pflicht zur Unterrichtung besteht, empfiehlt es sich, vorsorglich (ggf. unter Hinweis auf § 24 Abs. 2 FamFG) um Unterrichtung zu bitten und gleichzeitig Umstände vorzutragen, aus denen ein berechtigtes Interesse ersichtlich ist.
140
In Antragsverfahren hingegen setzt die Einleitung des Verfahrens einen Antrag der Beteiligten voraus. Der Antrag kann schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle (§ 25 Abs. 1 FamFG) gestellt werden.
141
Die Anforderungen, die an den Inhalt der Antragsschrift in FG-Familiensachen zu stellen sind, sind deutlich geringer als im Zivilprozess. Die Antragsschrift muss keinen Sachantrag enthalten. Ausreichend ist, dass erkennbar wird, welches Ziel der Beteiligte mit dem Verfahren erreichen will. In den Antragsverfahren soll der verfahrenseinleitende Antrag begründet werden (§ 23 Abs. 1 S. 1 FamFG). Mit der generellen Einführung einer Begründungspflicht soll eine möglichst frühzeitige Strukturierung, sachgerechte Förderung und Beschleunigung des Verfahrens erreicht werden. Dies rechtfertigt es, dem Antragsteller im Rahmen der ihm obliegenden Mitwirkungspflicht zuzumuten, sein Rechtsschutzziel in wenigen Sätzen darzulegen1. Die Ausgestaltung der Begründungspflicht in § 23 Abs. 1 S. 1 FamFG als Sollvorschrift stellt sicher, dass der Antrag nicht als unzulässig zurückgewiesen werden kann, wenn der Antragsteller den verfahrenseinleitenden Antrag nicht begründet2. Darüber hinaus sollen – die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angegeben werden, – die Personen benannt werden, die als Beteiligte in Betracht kommen, – Urkunden, auf die Bezug genommen wird, in Urschrift oder Abschrift beigefügt werden und – der Antrag vom Antragsteller oder seinem Bevollmächtigten unterschrieben werden (§ 23 Abs. 1 FamFG).
141a Zu beachten sind in FG-Familiensachen neben § 23 FamFG die Spezialvorschriften insbesondere der § 171 Abs. 2 FamFG in Abstammungsverfahren und § 203 Abs. 2 und Abs. 3 FamFG in Ehewohnungs- und Haushaltssachen, die zusätzliche Anforderungen an den Verfahrensantrag stellen. 142
Die in § 23 Abs. 2 FamFG enthaltene Regelung, dass der verfahrenseinleitende Antrag den anderen Beteiligten übermittelt werden soll, dient der Gewährung rechtlichen Gehörs. Ist der Antrag unzulässig oder offensichtlich unbegründet, kann von der Übermittlung abgesehen werden, in diesen Fällen kann das Gericht den Antrag sofort zurückweisen3. Anträge und Erklärungen sind schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstel1 BT-Drucks. 16/6308, 185. 2 BT-Drucks. 16/6308, 186. 3 BT-Drucks. 16/6308, 186.
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Rn. 146
Kap. 12
le abzugeben (§ 25 Abs. 1 FamFG). Ein unzuständiges Gericht ist gem. § 25 Abs. 3 S. 1 FamFG verpflichtet, die Niederschrift unverzüglich, dh. ohne schuldhaftes Zögern im ordnungsgemäßen Geschäftsgang weiterzuleiten1. Bei Fristversäumung infolge nicht unverzüglicher Weitergabe kommt eine Wiedereinsetzung nach §§ 17 f. FamFG in Betracht2 (vgl. vertiefend zur Wiedereinsetzung Rn. 626 ff.). Die Verfahrenshandlung wird jedoch erst wirksam, wenn die Niederschrift bei dem zuständigen Gericht eingegangen ist (§ 25 Abs. 3 S. 2 FamFG). 2. Bevollmächtigte/Verfahrensvollmacht Grundsätzlich können die Beteiligten in FG-Familiensachen das Verfah- 143 ren entweder selbst betreiben oder einen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten beauftragen (§ 10 Abs. 1 FamFG). Darüber hinaus werden in § 10 Abs. 2 FamFG weitere Personen, Behörden und juristische Personen genannt, die als Bevollmächtigte vertretungsbefugt sind, soweit eine Vertretung in einem Verfahren durch Rechtsanwälte nicht geboten ist. Bevollmächtigte, die nicht vertretungsbefugt sind, werden durch unan- 144 fechtbaren Beschluss zurückgewiesen (§ 10 Abs. 3 FamFG). Die bis zur Zurückweisung vorgenommenen Verfahrenshandlungen dieses Bevollmächtigten oder an diesen bewirkte Zustellungen oder Mitteilungen bleiben aber wirksam.
Û
Wichtig: Auch für ein Erstbeschwerdeverfahren in FG-Familiensachen besteht kein Anwaltszwang3. Vor dem BGH müssen sich die Beteiligten jedoch durch einen dort zugelassenen Anwalt vertreten lassen (§ 10 Abs. 4 S. 1 FamFG). Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts hingegen können sich durch eigene Beschäftigte vertreten lassen, sofern diese die Befähigung zum Richteramt besitzen. Zum Anwaltszwang vgl. im Einzelnen Rn. 671 ff.
Zur Gerichtsakte ist eine schriftliche Verfahrensvollmacht zu reichen 145 (§ 11 S. 1 FamFG). Sie kann nachgereicht werden, das Gericht kann eine Frist zur Vorlage bestimmen. Der Mangel der Vollmacht ist nur dann von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn als Bevollmächtigter kein Rechtsanwalt oder Notar auftritt (§ 11 S. 4 FamFG). In Ehesachen bedarf es einer besonderen Vollmacht (§ 114 Abs. 5 FamFG). Schließlich darf sich ein Beteiligter im Verfahren auch eines Beistands bedienen (§ 12 FamFG). Beistand kann derjenige sein, der als Bevollmächtigter nach § 10 FamFG vertretungsbefugt ist. Andere Personen können
1 BGH v. 17.8.2011 – XII ZB 50/11, FamRZ 2011, 1389. 2 BT-Drucks. 16/6308, 186. 3 BT-Drucks. 16/6308, 181.
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Kap. 12 Rn. 147
Verfahrensrecht
als Beistand zugelassen werden, wenn dies sachdienlich ist und nach den Umständen des Einzelfalls ein Bedürfnis dafür besteht. 3. Akteneinsicht 147
Das Akteneinsichtsrecht ist in § 13 FamFG geregelt. Hier zeigt sich eine der Auswirkungen der Beteiligtenstellung, da nach § 13 Abs. 1 FamFG zwischen dem Einsichtsrecht eines Beteiligten und demjenigen dritter Personen unterschieden wird. Ein Beteiligter hat uneingeschränkt ein Recht auf Akteneinsicht, während Dritte grundsätzlich ein berechtigtes Interesse für die Akteneinsicht glaubhaft machen müssen (§ 13 Abs. 2 FamFG). Das Gericht kann einem Rechtsanwalt, Notar oder einer beteiligten Behörde die Akten zur Einsichtnahme in die Amts- oder Geschäftsräume überlassen (§ 13 Abs. 4 S. 1 FamFG), es besteht allerdings kein Recht auf Überlassung von Beweisstücken in die Amts- oder Geschäftsräume (§ 13 Abs. 4 S. 2 FamFG). Die Entscheidung nach § 13 Abs. 4 S. 1 FamFG ist auch nicht anfechtbar. 4. Amtsermittlungsgrundsatz
148
In FG-Familiensachen gilt der Grundsatz der Amtsermittlung (§ 26 FamFG), der bereits nach altem Recht in § 12 FGG normiert war. Die entscheidungserheblichen Tatsachen hat das Gericht von Amts wegen festzustellen und nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, ob die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen in Form des Freibeweises (§ 29 FamFG) beschafft werden oder ob eine förmliche Beweisaufnahme nach den Vorschriften der ZPO (§ 30 FamFG) durchgeführt wird. Das Gericht hat von Amts wegen die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen und die geeignet erscheinenden Beweise zu erheben1. Welchen Weg das Gericht innerhalb der ihm vorgegebenen Verfahrensordnung für geeignet hält, um zu den für seine Entscheidung notwendingen Erkenntnissen zu gelangen, muss dem erkennenden Gericht vorbehalten bleiben2.
149
§ 26 FamFG korrespondiert mit § 27 Abs. 1 FamFG, der die Mitwirkungspflicht der Beteiligten bei der Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen normiert. Soweit die Beteiligten dazu in der Lage sind, sollen sie durch Angabe von Tatsachen und Beweismitteln eine gerichtliche Aufklärung ermöglichen3. Allerdings ist das Gericht verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass sich die Beteiligten rechtzeitig über alle erheblichen Tatsachen erklären und ungenügende tatsächliche Angaben ergänzen 1 BGH v. 28.4.2010 – XII ZB 81/09, FamRZ 2010, 1060 = FamRBint 2010, 51 = FamRB 2010, 204. 2 BGH v. 2.2.2011 – XII ZB 467/10, FamRZ 2011, 556 = FamRB 2011, 146; BGH v. 28.4.2010 – XII ZB 81/09, FamRZ 2010, 1060 = FamRBint 2010, 51 = FamRB 2010, 204. 3 BT-Drucks. 16/6308, 186.
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Rn. 152
Kap. 12
(§ 28 Abs. 1 S. 1 FamFG). Diese Hinwirkungspflicht des Gerichts stellt eine spezielle Ausformung der Pflicht zur Amtsermittlung dar1. Die Beteiligten sind auch darauf hinzuweisen, wenn das Gericht einen rechtlichen Gesichtspunkt anders beurteilt als sie selbst und seine Entscheidung darauf stützen will. Dies kann die beabsichtigte Änderung einer gefestigten Rechtsprechung oder die Anwendung einer bisher nicht in Betracht gezogenen Rechtsnorm sein2. Eine solche Hinweispflicht besteht jedoch nicht, wenn kein Beteiligter im Verfahren einen Rechtsstandpunkt eingenommen hat oder zwischen den Beteiligten lediglich unterschiedliche rechtliche Auffassungen in einer entscheidungserheblichen Frage bestehen3. Letztlich dient die Vorschrift der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs und dem Schutz vor Überraschungsentscheidungen. Hinweise sind telefonisch oder schriftlich so früh wie möglich zu erteilen und aktenkundig zu machen (§ 28 Abs. 3 FamFG). Die Vorschrift entspricht § 139 Abs. 4 S. 1 ZPO. Die Mitwirkungspflicht der Beteiligten umfasst nicht nur die Mithilfe 150 bei der Ermittlung des Sachverhalts, sondern auch Mitwirkungshandlungen, zB den fristgerechten Tatsachenvortrag oder die Teilnahme an einem Termin, zu dem das persönliche Erscheinen angeordnet worden ist. Die Mitwirkungspflicht umfasst auch die wahrheitsgemäße und vollständige Erklärung über tatsächliche Umstände (§ 27 Abs. 2 FamFG). Diese Pflicht entspricht der Wahrheitspflicht der Parteien im Zivilprozess gem. § 138 Abs. 1 ZPO4. Nicht rechtzeitig vorgebrachte Tatsachen kann das Gericht in FG-Familiensachen nicht als verspätet zurückweisen, da eine entsprechende gesetzliche Bestimmung fehlt5. Darüber hinaus ist das Gericht auch verpflichtet, über die wesentlichen 151 Vorgänge eines Termins oder einer persönlichen Anhörung einen Vermerk anzufertigen (§ 28 Abs. 4 FamFG). Dieser dient nicht nur dazu, die Beteiligten über die Ergebnisse der Anhörung oder des Termins zu informieren, sondern soll auch dem Beschwerdegericht die Entscheidung gem. § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG (vgl. Rn. 612) erleichtern, ob eine Wiederholung der Verfahrenshandlung angezeigt ist6. Eine entsprechende Verpflichtung enthält § 29 Abs. 3 FamFG, wonach die Ergebnisse einer Beweisaufnahme im Wege des Freibeweises außerhalb eines Termins aktenkundig zu machen sind. Die Mitwirkung der Beteiligten ist nur eingeschränkt im Hinblick auf 152 einzelne Anordnungen mit Ordnungs- und Zwangsmitteln erzwingbar. So kann zB wegen unentschuldigten Ausbleibens im Termin ein Ordnungsgeld festgesetzt oder die Vorführung angeordnet werden (§ 33 Abs. 3 1 2 3 4 5 6
BT-Drucks. 16/6308, 187. BT-Drucks. 16/6308, 187. BT-Drucks. 16/6308, 187. BT-Drucks. 16/6308, 187. Jacoby, FamRZ 2007, 1703 (1706). BT-Drucks. 16/6308, 187.
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Kap. 12 Rn. 153
Verfahrensrecht
FamFG). Wird eine gerichtliche Anordnung zur Vornahme oder Unterlassung einer Handlung nicht befolgt, kann Zwangsgeld oder Zwangshaft angeordnet werden (§ 35 Abs. 1 FamFG). Fehlende oder unzureichende Mitwirkung der Beteiligten kann darüber hinaus nachteilige Kostenfolgen mit sich bringen. So können zB dem Beteiligten eines Kindschaftsverfahrens, der einer richterlichen Anordnung zur Teilnahme an einer Beratung (§ 156 Abs. 1 S. 4 FamFG) unentschuldigt nicht nachgekommen ist, die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise auferlegt werden. 153
Im Übrigen beeinflusst eine verweigerte zumutbare Mitwirkung den Umfang der gerichtlichen Ermittlungen. Die Darlegungslast der Beteiligten erhöht sich dabei in gleichem Maß, wie das Gericht auf deren Mitwirkung bei der Sachaufklärung angewiesen ist1. Verweigern die Beteiligten ihre Mitwirkung und besteht ansonsten kein Anlass zu weiteren, erfolgversprechenden Ermittlungen, hat das Gericht seiner Untersuchungspflicht Genüge getan2. Die nachhaltige Weigerung einer zumutbaren Mitwirkungshandlung kann im Einzelfall zu einer negativen Berücksichtigung im Rahmen der Beweiswürdigung führen3. 5. Beweiserhebung zur Sachverhaltsaufklärung
154
In allen Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit und in den FG-Familiensachen ist das Gericht grundsätzlich nicht an förmliche Beweisregeln gebunden, sondern kann die Beweise in der ihm geeignet erscheinenden Form erheben, so zB durch informelle persönliche, telefonische oder schriftliche Befragung einer Auskunftsperson oder Beiziehung von Akten4 (§ 29 Abs. 1 S. 1 FamFG). An das Vorbringen eines Beteiligten, insbesondere ein Geständnis oder Nichtbestreiten, ist das Gericht nicht gebunden, sondern muss unabhängig davon die Wahrheit ermitteln und zu diesem Zweck Beweis erheben5 (§ 29 Abs. 1 S. 2 FamFG). Das Gericht ist daher regelmäßig in der Auswahl und Verwertung seiner Beweismittel frei6.
155
Auch bei einer formlosen Beweisaufnahme ist das Gericht kraft Gesetzes an gewisse Grundregeln der Beweisaufnahme gebunden. So sind die Amtsverschwiegenheit gem. § 376 ZPO und das Recht zur Zeugnis- und Auskunftsverweigerung gem. §§ 383 bis 390 ZPO zu beachten (§ 29 Abs. 2 FamFG).
1 BT-Drucks. 16/6308, 186. 2 BT-Drucks. 16/6308, 187. 3 Prütting/Helms/Prütting, § 27 FamFG Rn. 10; Zöller/Feskorn, § 27 FamFG Rn. 4. 4 BT-Drucks. 16/6308, 188. 5 BT-Drucks. 16/6308, 188. 6 Zöller/Vollkommer, § 56 ZPO Rn. 8.
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Verfahrensrecht
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Rn. 158
Kap. 12
Wichtig: Vor Einholung einer der Amtsverschwiegenheit unterliegenden Auskunft ist die Genehmigung des Dienstvorgesetzten zur Erteilung der Auskunft einzuholen. Liegt eine Genehmigung nicht vor, kann die Aussage der betreffenden Person nicht verwertet werden. Häufig kommt es insbesondere in erster Instanz vor, dass in einem Sorgerechtsverfahren eine Anhörung von Lehrpersonal erfolgen soll. Hier sollte vor der Anhörung geklärt werden, ob die betreffende Person zur Verschwiegenheit verpflichtet ist und ob eine Aussagegenehmigung vorliegt.
Ein förmliches Beweisantragsrecht steht den Beteiligten in FG-Familien- 156 sachen nicht zu, eine Auseinandersetzung des Gerichts mit Beweisanträgen der Beteiligten bleibt auch ohne förmliches Beweisantragsrecht gewährleistet1. Setzt sich das Gericht mit entscheidungserheblichen Beweisangeboten eines Beteiligten nicht ausreichend auseinander, stellt dies einen Verfahrensfehler dar, der im Rechtsmittelzug geprüft werden kann2. Eine Überprüfung kann auch noch im Rechtsbeschwerdeverfahren erfolgen, da es sich bei einem solchen Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz um einen Rechtsfehler handelt3. Eine förmliche Beweisaufnahme nach den Vorschriften der ZPO ist 157 durchzuführen, wenn das Gesetz dies ausdrücklich vorsieht. In FG-Familiensachen wird die förmliche Beweisaufnahme nur in § 177 Abs. 2 S. 1 FamFG in den Vaterschaftsfeststellungs- und -anfechtungssachen gem. § 169 Nr. 1 und 4 FamFG angeordnet. Eine Einschränkung des gerichtlichen Wahlrechts über die Form der Be- 158 weisaufnahme enhält die Generalklausel des § 30 Abs. 3 FamFG. Danach soll eine förmliche Beweisaufnahme stattfinden, wenn das Gericht seine Entscheidung maßgeblich auf die Feststellung dieser Tatsache stützen will und die Richtigkeit von einem Beteiligten ausdrücklich bestritten wird. Hier stellt sich allerdings das Problem, dass der Gesetzeswortlaut auf das ausdrückliche Bestreiten eines Beteiligten abstellt, während in der Gesetzesbegründung im Regelfall ein substantiiertes Bestreiten gefordert wird4, der Beteiligte also darlegen muss, warum er das Freibeweisergebnis für falsch hält5, um eine förmliche Beweisaufnahme zu erzwingen. Um eine förmliche Beweisaufnahme zu erzwingen, wird ein Mindestmaß an objektiv nachvollziehbarer Begründung für die Ablehnung des Freibeweis-
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BT-Drucks. 16/9733, 288. BT-Drucks. 16/9733, 288. BT-Drucks. 16/6308, 188. BT-Drucks. 16/6308, 190; so auch Prütting/Helms/Prütting, § 30 FamFG Rn. 14. 5 BT-Drucks. 16/6308, 190.
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Kap. 12 Rn. 159
Verfahrensrecht
ergebnisses gefordert1, obwohl dies aus dem Wortlaut des § 30 Abs. 3 FamFG nicht zu entnehmen ist.
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Praxistipp: Solange nicht höchstrichterlich geklärt ist, welche Anforderungen an ein ausdrückliches Bestreiten zu stellen sind, wird man aus anwaltlicher Vorsorge den Vorgaben des Gesetzgebers Rechnung tragen müssen.
159
Allerdings darf die Fähigkeit des Bestreitenden, sich im Verfahren zu artikulieren, nicht außer Acht gelassen werden2. Weder konkludentes noch pauschales Bestreiten ist ausreichend, einfaches Bestreiten ohne Angabe von Gründen für die angebliche Unwahrheit der freibeweislich festgestellten Tatsachen ausnahmsweise nur dann, wenn den Beteiligten ein höherer Grad an Substantiierung nicht zuzumuten ist3.
160
Die Ergebnisse einer Beweiserhebung in Form des Freibeweises sind gem. § 29 Abs. 3 FamFG in den Akten zu dokumentieren, und den Beteiligten ist im Strengbeweisverfahren Gelegenheit zur Stellungnahme zum Ergebnis der Beweisaufnahme zu geben (§ 30 Abs. 4 FamFG). Diese Vorschrift tritt an die Stelle des § 279 Abs. 3 ZPO, aufgrund dessen das Gericht im Zivilverfahren verpflichtet ist, den Sach- und Streitstand mit den Parteien zu erörtern.
161
Wortgleich mit § 294 Abs. 2 ZPO ordnet § 31 Abs. 2 FamFG an, dass eine notwendige Glaubhaftmachung nur durch präsente Beweismittel erfolgen kann. Zulässig ist auch die Versicherung an Eides statt.
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Praxistipp: Die häufig zu beobachtende Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung, in der lediglich die Richtigkeit des anwaltlichen Sachvortrags bestätigt wird, ist nicht ausreichend. Erforderlich ist vielmehr, die einzelnen Tatsachen, die mit der eidesstattlichen Versicherung glaubhaft gemacht werden sollen, substantiiert darzustellen. Der eigentliche Sachvortrag kann sich dadurch auf eine knappe Darstellung beschränken und im Übrigen vollinhaltlich auf die eidesstattliche Versicherung Bezug nehmen.
6. Vorbereitung der Entscheidung 162
Das Gericht kann gem. § 32 Abs. 1 FamFG Termin anberaumen, um die Sache mit den Beteiligten zu erörtern. Der Mündlichkeitsgrundsatz ist mit dieser Vorschrift nicht in das FamFG-Verfahren eingeführt worden, 1 BT-Drucks. 16/6308, 190. 2 BT-Drucks. 16/6308, 190. 3 BT-Drucks. 16/6308, 190; so auch Prütting/Helms/Prütting, § 30 FamFG Rn. 14.
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Verfahrensrecht
Rn. 165
Kap. 12
vielmehr kann das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen zwischen mündlichem und schriftlichem Verfahren wählen. Soweit die Erörterung mit den Beteiligten sachdienlich ist – und dies dürfte in den meisten FGFamiliensachen der Fall sein – kann nur aus äußerst gewichtigen Gründen, wie zB der Gefährdung der Gesundheit eines Beteiligten1, von einer mündlichen Erörterung abgesehen werden.
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Wichtig: In Kindschaftssachen ist gem. § 155 Abs. 2 S. 1 FamFG ein Termin zwingend vorgeschrieben; in Abstammungssachen (§ 175 Abs. 1 S. 1 FamFG), Ehewohnungs- und Haushaltssachen (§ 207 FamFG) und Versorgungsausgleichssachen (§ 221 Abs. 1 FamFG) soll die Angelegenheit in einem Termin mündlich erörtert werden. Daraus folgt, dass in diesen Verfahren grundsätzlich ein Erörterungstermin abzuhalten ist2.
Grundsätzlich ist die mündliche Verhandlung in allen Familiensachen, also auch in Unterhaltssachen, seit Inkrafttreten des FamFG nicht öffentlich (§ 170 S. 1 GVG). Die Vorschriften des § 219 ZPO (Terminsort) und § 227 Abs. 1, 2 und 4 ZPO (Vertagung, Verlegung oder Terminsaufhebung) geltend entsprechend.
163
Eine Güteverhandlung i.S.d. § 278 ZPO ist in FG-Familiensachen nicht vorgesehen.
164
In § 33 Abs. 1 FamFG ist nunmehr ausdrücklich für Verfahren der freiwil- 165 ligen Gerichtsbarkeit geregelt, dass das Gericht das persönliche Erscheinen eines Beteiligten zu einem Termin anordnen und ihn anhören kann, wenn dies zur Sachverhaltsaufklärung sachdienlich erscheint, zB weil eine schriftliche Äußerung entweder keine hinreichende Sachaufklärung erbracht hat oder von vornherein nicht erfolgversprechend erscheint3. Muss sich das Gericht als Grundlage für die Entscheidung einen persönlichen Eindruck verschaffen, ist eine persönliche Anhörung des Beteiligten unabdingbar. Hier ist insbesondere auf die speziellen Vorschriften über die grundsätzliche persönliche Anhörung von Eltern und Kindern in Personensorgeverfahren (§§ 159 Abs. 1, 160 FamFG) hinzuweisen. § 33 Abs. 1 FamFG stellt also einen Auffangtatbestand dar, der zurücktritt, wenn spezialgesetzlich eine Pflicht zur Anhörung besteht. Primär dient die persönliche Anhörung der Sachaufklärung, zugleich aber auch der Gewährung des rechtlichen Gehörs des Beteiligten4. Die persönliche Anhörung ist ohnehin zwingend, wenn dies erforderlich ist, um den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör zu erfüllen (§ 34 Abs. 1 Nr. 1 FamFG). Die Anhörung kann grundsätzlich sowohl in einem Gerichtster-
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BT-Drucks. 16/6308, 366. Zöller/Feskorn, § 32 FamFG Rn. 2. BT-Drucks. 16/6308, 191. BT-Drucks. 16/6308, 191.
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Kap. 12 Rn. 166
Verfahrensrecht
min als auch in der Umgebung des Betroffenen stattfinden, zB wenn sie zugleich der Ermittlung des Sachverhalts dient1. Dies kommt beispielsweise in Haushaltssachen in Betracht, wenn das Gericht zur Sachverhaltsaufklärung einen Ortstermin anberaumt. 166
Wird Termin anberaumt, muss die Ladung zum Termin unmittelbar an den Beteiligten erfolgen, selbst wenn er einen Bevollmächtigten hat (§ 32 Abs. 2 S. 1 FamFG); diese Vorschrift entspricht § 141 Abs. 2 S. 2 ZPO. Für den Fall des unentschuldigten Fernbleibens kann ein Ordnungsgeld und im Falle des wiederholten Ausbleibens die Vorführung des Beteiligten angeordnet werden (§ 33 Abs. 3 S. 1–3 FamFG). Der Ordnungsmittelbeschluss kann aufgehoben werden, wenn das Ausbleiben nachträglich entschuldigt und glaubhaft gemacht wird, dass die verspätete Entschuldigung unverschuldet war. Der Ordnungsmittelbeschluss ist mit der sofortigen Beschwerde in entsprechender Anwendung der §§ 567 bis 572 ZPO anfechtbar.
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Wichtig: Wenn in einem Verfahren mehrere Beteiligte persönlich anzuhören sind, muss die Anhörung eines Beteiligten in Abwesenheit der anderen Beteiligten stattfinden, falls dies zum Schutz des anzuhörenden Beteiligten oder aus anderen Gründen erforderlich ist (§ 33 Abs. 1 S. 2 FamFG). Die Vorschrift gilt für alle im FamFG vorgesehenen Anhörungen und Erörterungstermine2. Die Anhörung in Abwesenheit anderer Beteiligter dürfte vor allem in Gewaltschutzsachen in Betracht kommen.
167
Eine spezielle Regelung für die Anhörung eines Kindes in Kindschaftssachen enthält § 159 Abs. 4 FamFG, wonach das Gericht den Anhörungstermin und damit auch die Anwesenheit der Beteiligten bei diesem Termin nach freiem Ermessen gestaltet. 7. Beendigung des Verfahrens a) Durch Vergleich
168
Mit § 36 FamFG ist nunmehr ausdrücklich der Vergleich in FG-Verfahren geregelt; die Vorschrift gilt jedoch nicht nur für einen Vergleich, sondern für jede mögliche Beendigung des Verfahrens ohne gerichtliche Entscheidung, zB durch Antragsrücknahme oder Erledigungserklärung3. Ein Vergleich zur Niederschrift des Gerichts ist immer dann zulässig, wenn die Beteiligten nach materiellem Recht über den Gegenstand des Verfahrens verfügen können4.
1 2 3 4
BT-Drucks. 16/6308, 192. BT-Drucks. 16/9733, 289. Prütting/Helms/Abramenko, § 36 FamFG Rn. 3. BT-Drucks. 16/6308, 193.
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Verfahrensrecht
Rn. 170
Kap. 12
Grundsätzlich soll das Gericht in allen FG-Verfahren auf eine gütliche Ei- 169 nigung hinwirken. Dieser Grundsatz, der bereits nach alter Rechtslage zB in § 13 Abs. 2 HausratsVO verankert war, ist nunmehr allgemein für alle Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit normiert (§ 36 Abs. 1 S. 2 FamFG). In einem möglichst frühen Verfahrensstadium sollen den Beteiligten die Möglichkeit und der Vorteil einer Streitbeilegung dargestellt und, falls möglich, ein Vergleichsvorschlag unterbreitet werden1. In Gewaltschutzsachen gilt dieser Grundsatz jedoch nicht, da ein Verstoß gegen eine in einem Vergleich auferlegte Verpflichtung nach § 4 S. 1 GewSchG nicht strafbewehrt ist. In diesen Verfahren soll daher das Gericht den Abschluss einer Vereinbarung zwischen den Beteiligten im Hinblick auf eine effektive Durchsetzung der im GewSchG vorgesehenen Maßnahmen nicht fördern2. Zum gerichtlich gebilligten Vergleich s. Rn. 337 f. b) Entscheidung durch Beschluss Sämtliche Endentscheidungen in Familiensachen, also nicht nur in FG- 170 Familiensachen, sondern auch in Ehesachen und Familienstreitsachen, sind generell in Form eines Beschlusses zu treffen, wenn mit der Entscheidung der Verfahrensgegenstand ganz oder teilweise erledigt wird (§ 38 Abs. 1 S. 1 FamFG). Diese Entscheidungen werden als Endentscheidungen gesetzlich definiert, die Entscheidung muss die Instanz abschließen3. IdR wird es eine Entscheidung in der Hauptsache sein. Ist diese weggefallen, kann die Entscheidung i.S.d. § 38 Abs. 1 S. 1 FamFG auch eine Kostenentscheidung sein, während Zwischen- und Nebenentscheidungen nicht unter diese Vorschrift fallen. Hierüber ist nur dann durch Beschluss zu entscheiden, wenn dies im Gesetz ausdrücklich vorgesehen ist. Die Beschlussform ist aber in Einzelfällen auch für Entscheidungen vorgeschrieben, die das Verfahren nicht endgültig erledigen, zB – die Entscheidung über die Hinzuziehung von Beteiligten (§ 7 Abs. 3 FamFG), – Verhängung eines Ordnungsgeldes (§§ 33 Abs. 3, 89 Abs. 1 FamFG) oder – eine Entscheidung im Verfahrenskostenhilfeverfahren oder über ein Ablehnungsgesuch. In den beiden zuletzt genannten Fällen ergibt sich die Beschlussform aus der Verweisung auf die ZPO4.
1 2 3 4
BT-Drucks. 16/6308, 193. BT-Drucks. 16/6308, 193. BT-Drucks. 16/6308, 195. BT-Drucks. 16/6308, 195.
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Kap. 12 Rn. 171
Verfahrensrecht
171
Mit der Einführung der generellen Entscheidungsform in Familiensachen entfällt die nach altem Recht notwendige Unterscheidung zwischen ZPO-Familiensachen, die in der Hauptsache durch Urteil, und den FGGFamiliensachen, die durch Beschluss zu entscheiden waren. So wird auch die Ehe nicht mehr durch Urteil, sondern durch Beschluss geschieden, statt eines Unterhaltsurteils ergeht ein Unterhaltsbeschluss oder zB statt eines Verbundurteils ein Verbundbeschluss.
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Jeder Beschluss ist grundsätzlich zu begründen und zu unterzeichnen (§ 38 Abs. 3 FamFG). Der Beschluss wird entweder in Anwesenheit der Beteiligten durch Verlesen der Beschlussformel oder durch Übergabe an die Geschäftsstelle erlassen (§ 38 Abs. 3 S. 3 FamFG). Der Tag der mündlichen Verhandlung ist in der Beschlussformel, anders als in Ehe- und Familienstreitsachen1, nicht anzugeben2. Erst wenn das Datum der Übergabe des Beschlusses an die Geschäftsstelle oder der Bekanntgabe durch Verlesen der Beschlussformel auf dem Beschluss vermerkt ist, ist der Beschluss i.S.d. § 38 Abs. 3 S. 3 FamFG erlassen. In FG-Familiensachen kann der Beschluss mit der Bekanntgabe wirksam werden (§§ 40, 41 FamFG). In Ehe- und Familienstreitsachen erfolgt die Entscheidung zwar auch durch Beschluss i.S.d. § 38 FamFG, jedoch bezieht sich § 38 Abs. 3 Satz 3 FamFG nur auf die Bekanntgabe gem. § 40 Abs. 1 FamFG und knüpft an § 41 Abs. 2 FamFG an. Diese Vorschriften sind jedoch auf Eheund Familienstreitsachen nicht anwendbar, so dass diese Beschlüsse gem. § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG nach den Vorschriften der ZPO zu verkünden sind3. Uneinigkeit besteht nach wie vor, ob die Verkündung nach den Vorschriften über die Verkündung eines Urteils gem. §§ 310 f. ZPO oder für die Verkündung von Beschlüssen gem. § 329 ZPO erfolgen muss4. Für Entscheidungen in Familienstreitsachen ist diese Frage nunmehr höchstrichterlich geklärt5. Danach sind Familienstreitsachen nach § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. §§ 311 Abs. 2 S. 1, 329 Abs. 1 S. 1 ZPO zu verkünden6. Diese Form der Bekanntgabe dürfte auch für Ehesachen gelten7.
1 Zöller/Feskorn, § 38 FamFG Rn. 11. 2 Prütting/Helms/Abramenko, § 38 FamFG Rn. 12. 3 BGH v. 19.10.2011 – XII ZB 250/11, FamRZ 2012, 106 = FamRB 2012, 50; Zöller/ Feskorn, § 38 FamFG Rn. 16; Prütting/Helms/Helms, § 116 FamFG Rn. 12; Borth, FamRZ 2010, 705; Rüntz/Viefhues, FamRZ 2010, 1285. 4 Zöller/Feskorn, § 38 Rn. 16; Prütting/Helms/Helms, § 116 FamFG Rn. 12; Borth, FamRZ 2010, 705; Griesche, FamRB 2010, 340; aA Schulte-Bunert/Weinreich/ Oberheim, § 113 FamFG Rn. 453. 5 BGH v. 19.10.2011 – XII ZB 250/11, FamRZ 2012, 106 (ohne dies zu begründen) = FamRB 2012, 50. 6 BGH v. 19.10.2011 – XII ZB 250/11, FamRZ 2012, 106 = FamRB 2012, 50. 7 Heiter, FamRB 2012, 21.
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Verfahrensrecht
Û
Rn. 173
Kap. 12
Praxistipp: Die ordnungsgemäße Verkündung in Ehe- und Familienstreitsachen ist maßgebend für den Beginn der fünfmonatigen Rechtsmittelfrist gem. § 117 Abs. 1 Satz 2 FamFG1.
Bei Anerkenntnis, Verzicht, Säumnis, Rechtsmittelverzicht oder einer Entscheidung, mit der gleichgerichteten Anträgen der Beteiligten stattgegeben wird, kann auf die Begründung verzichtet werden (§ 38 Abs. 4 FamFG). Zu beachten ist, dass § 38 Abs. 4 FamFG nicht anzuwenden ist
172a
– in Ehesachen, mit Ausnahme der eine Scheidung aussprechenden Entscheidung (§ 38 Abs. 5 Nr. 1 FamFG), – in Abstammungssachen (§ 38 Abs. 5 Nr. 2 FamFG) und Betreuungssachen (§ 38 Abs. 5 Nr. 3 FamFG) oder – wenn zu erwarten ist, dass der Beschluss im Ausland geltend gemacht werden wird (§ 38 Abs. 5 Nr. 4 FamFG).
Û
Wichtig: Grundsätzlich müssen Endentscheidungen in allen Familiensachen mit Tatbestand und Entscheidungsgründen versehen sein, wenn sie im Ausland geltend gemacht oder dort anerkannt werden sollen. Häufig wird im Zusammenhang mit einem Rechtsmittelverzicht in einer Ehesache auch auf den Tatbestand verzichtet und das Einverständnis mit einer abgekürzten Ausfertigung der Entscheidung erklärt. Eine solche abgekürzte und ohne Tatbestand versehene Ausfertigung wird im Ausland nicht anerkannt. In allen Fällen mit Auslandsberührung ist also eine vollständige Fassung des Beschlusses notwendig.
In allen Familiensachen, dh. in FG-Familiensachen, Ehesachen und Fami- 173 lienstreitsachen, ist nunmehr einheitlich eine Rechtsbehelfsbelehrung vorgeschrieben (§ 39 FamFG). Die Belehrungspflicht umfasst alle Rechtsmittel oder sonstigen ordentlichen Rechtsbehelfe wie Einspruch, Widerspruch oder Erinnerung. Sie muss ferner eine Belehrung über das Gericht, bei dem diese Rechtsbehelfe einzulegen sind, dessen Sitz und die einzuhaltende Form und Frist enthalten, damit die Beteiligten in die Lage versetzt werden, ohne die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts den zulässigen Rechtsbehelf gegen die ergangene Entscheidung einzulegen2. Die Rechtsbehelfsbelehrung erfordert auch die Information über einen bestehenden Anwaltszwang3. Eine Belehrung zu Form und Frist der Be-
1 BGH v. 19.10.2011 – XII ZB 250/11, FamRZ 2012, 106 = FamRB 2012, 50; BGH v. 13.4.2011 – XII ZR 131/09, FamRB 2011, 242. 2 BT-Drucks. 16/6308, 196. 3 BGH v. 15.6.2011 – XII ZB 468/10, FamRZ 2011, 1389 = FamRB 2011, 310; BGH v. 23.6.2010 – XII ZB 82/10, FamRZ 2010, 1425 = FamRB 2010, 335; OLG Karlsruhe v. 25.5.2011 – 5 UF 76/11, FamRZ 2011, 1806 = FamRB 2011, 375.
Kühner
1375
Kap. 12 Rn. 174
Verfahrensrecht
schwerdebegründung bedarf es nicht1. Bei fehlender und unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung kommt grundsätzlich eine Wiedereinsetzung in Betracht, nicht jedoch dann, wenn der Beteiligte wegen vorhandener Kenntnis über seine Rechtsmittel keiner Unterstützung bedarf (§ 17 FamFG). (Zur Wiedereinsetzung vgl. Rn. 626 ff.) 8. Wirksamkeit eines Beschlusses 174
Für das Wirksamwerden einer Entscheidung ist zu differenzieren: Grundsätzlich werden Beschlüsse in FG-Familiensachen mit Bekanntgabe wirksam (§ 40 Abs. 1 FamFG). Ausnahmen gelten für Entscheidungen in Abstammungssachen, über die Ersetzung der Zustimmung oder Einwilligung in Adoptionssachen oder in Haushaltssachen, die erst mit Eintritt der Rechtskraft wirksam werden, es sei denn, die sofortige Wirksamkeit wurde angeordnet (§§ 184 Abs. 1, 198 Abs. 1 S. 1, 209 Abs. 2 S. 1 FamFG). Der Eintritt der Wirksamkeit in FG-Familiensachen bleibt somit regelmäßig an die Bekanntgabe der Entscheidung geknüpft, nicht aber an den Eintritt der formellen Rechtskraft. Damit soll dem Bedürfnis nach einem schnellen Wirksamwerden der Entscheidungen Rechnung getragen werden2. In Ehesachen und Familienstreitsachen, für die § 40 FamFG nicht gilt, tritt die Wirksamkeit allerdings grundsätzlich erst mit Rechtskraft ein. In Familienstreitsachen kann das Gericht jedoch die sofortige Wirksamkeit anordnen (§ 116 Abs. 3 FamFG). Die Vorschrift hat insbesondere in Unterhaltssachen besondere Bedeutung (vgl. Rn. 446). Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit entspricht der aus der ZPO bekannten Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit (§ 708 Nr. 8 ZPO).
Û
Wichtig: Scheidungsfolgesachen gem. § 137 Abs. 2 Nrn. 2 und 4 FamFG werden gem. § 148 FamFG erst mit Rechtskraft der Ehesache wirksam und vollstreckbar (vgl. Rn. 622).
175
Die Form der Bekanntgabe in FG-Familiensachen richtet sich nach § 41 FamFG. Ist der Beschluss anfechtbar, ist er dem Beteiligten nach den Vorschriften der ZPO zuzustellen, dessen erklärtem Willen er nicht entspricht3 (§ 41 Abs. 1 S. 2 FamFG). Sind die Beteiligten anwesend, kann der Beschluss auch durch Verlesen der Beschlussformel bekannt gegeben werden; dies ist in den Akten zu vermerken (§ 41 Abs. 2 S. 2 FamFG). In diesem Fall ist die Begründung des Beschlusses aber unverzüglich nachzuholen (§ 41 Abs. 2 S. 3 FamFG). Damit wird klargestellt, dass die Wirksamkeit eines Beschlusses auch dann bei Verkündung der Entscheidung durch Verlesen der Beschlussformel eintritt, wenn die Entscheidung zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig abgesetzt ist4. 1 2 3 4
BGH v. 15.6.2011 – XII ZB 468/10, FamRZ 2011, 1389 = FamRB 2011, 310. BT-Drucks. 16/6308, 196. BGH v. 4.5.2011 – XII ZB 632/10, FamRZ 2011, 1049. BT-Drucks. 16/9733, 289.
1376
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 177
Kap. 12
Die Bekanntgabe in Ehe- und Familienstreitsachen, auf die § 41 FamFG 175a nicht anwendbar ist, erfolgt gem. § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. §§ 311 Abs. 2 S. 1, 329 Abs. 1 S. 1 ZPO durch Verkündung1.
Û
Wichtig: Insbesondere in isolierten Hauptsacheverfahren oder in einstweiligen Anordnungsverfahren betreffend die elterliche Sorge wird häufig übersehen, dass die jeweiligen Beschlüsse bereits mit Bekanntgabe und nicht erst mit Rechtskraft wirksam werden. In Sorgerechtsverfahren kann dies dazu führen, dass der beteiligte Elternteil, dem die elterliche Sorge oder das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das bei dem anderen Elternteil lebende Kind übertragen wurde, das Kind bei einem unmittelbar nach Bekanntgabe anstehenden Umgangskontakt nicht mehr an den anderen Elternteil herausgibt, und zwar unabhängig davon, ob der Beschluss eine Herausgabeanordnung (§ 1632 BGB) enthält oder nicht. Will der andere Elternteil die Entscheidung nicht akzeptieren, den anstehenden Umgangskontakt aber auch nicht verweigern, bleibt grundsätzlich nur die Möglichkeit, ein Rechtsmittel einzulegen und gem. § 64 Abs. 3 FamFG die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Beschlusses zu beantragen oder, wenn es sich um einen nach mündlicher Verhandlung im einstweiligen Anordnungsverfahren ergangenen Beschluss handelt, den Antrag gem. § 55 Abs. 2 FamFG auf Aussetzung der Vollstreckung zu stellen, um den Aufenthaltswechsel des Kindes bis zur Entscheidung des Beschwerdegerichts zu verhindern. Eine wirksame gerichtliche Umgangsregelung, die noch nicht rechtskräftig ist, kann, solange im Beschwerdeverfahren die Aussetzung der Wirksamkeit nicht angeordnet wurde, mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden.
9. Formelle Rechtskraft Formell rechtskräftig wird der Beschluss erst dann, wenn die Frist für die Einlegung des zulässigen Rechtsmittels, Einspruchs, Widerspruchs oder der Erinnerung abgelaufen ist. Wird rechtzeitig ein Rechtsmittel, Einspruch, Widerspruch oder Erinnerung eingelegt, wird die Rechtskraft dadurch gehemmt (§ 45 FamFG).
176
10. Verfahrenskostenhilfe Nach altem Recht waren die Vorschriften über die Prozesskostenhilfe gem. §§ 114 bis 127 ZPO auf FGG-Verfahren entsprechend anwendbar und unmittelbar anwendbar auf Ehe- und Folgesachen, die ZPO-Familiensachen und Lebenspartnerschaftssachen. Nunmehr wird der Begriff Prozesskostenhilfe in allen dem FamFG unterliegenden Verfahren durch
1 BGH v. 19.10.2011 – XII ZB 250/11, FamRZ 2012, 106 = FamRB 2012, 50.
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1377
177
Kap. 12 Rn. 178
Verfahrensrecht
den Begriff Verfahrenskostenhilfe ersetzt, und § 76 Abs. 1 FamFG bestimmt, dass in FG-Familiensachen (und sämtlichen anderen Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, die im FamFG geregelt sind) die Vorschriften der ZPO entsprechend anwendbar sind, soweit die §§ 76 Abs. 2, 77, 78 FamFG nichts abweichendes bestimmen. In Ehe- und Familienstreitsachen sind die §§ 76 bis 78 FamFG nicht anwendbar; dies folgt aus § 113 Abs. 1 S. 1, 2 FamFG. Für diese Verfahren gelten wie bisher unmittelbar die Vorschriften der §§ 114 f. ZPO. 178
Verfahrenskostenhilfe wird grundsätzlich nur auf Antrag bewilligt, dabei ist unerheblich, ob es sich um ein Antrags- oder ein Amtsverfahren handelt. Dem Antrag ist unter Verwendung des amtlichen Vordrucks (§ 117 Abs. 3, 4 ZPO) eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Belegen beizufügen, damit beurteilt werden kann, ob die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung erfüllt sind. Darüber hinaus muss die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bieten und darf nicht mutwillig sein.
Û
Praxistipp: Gem. § 117 Abs. 2 S. 2 ZPO kann die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst den Belegen ohne Zustimmung des Beteiligten dem Gegner übermittelt werden, wenn ein materiellrechtlicher Anspruch auf Auskunft über Einkommen und Vermögen des Antragstellers besteht. Diese Voraussetzung ist ausschließlich bei Unterhaltsansprüchen erfüllt.
179
In den Verfahren, in denen eine anwaltliche Vertretung nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, dies gilt insbesondere für Sorgerechts- und Umgangsstreitigkeiten, Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung, Ehewohnungsund Haushaltssachen, ist ein Rechtsanwalt nur beizuordnen, wenn wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint (§ 78 Abs. 2 FamFG). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll weder die Schwere des Eingriffs in die Rechtsposition des Beteiligten noch der Grundsatz der Waffengleichheit ausschlaggebend sein1. Bei der Bemessung der Schwierigkeit der Sachund Rechtslage sind objektive und subjektive Kriterien zu berücksichtigen2, wobei auch die anwaltliche Vertretung anderer Beteiligter ein Kriterium für die Notwendigkeit der anwaltlichen Beiordnung wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage sein könne3. (Zur Verfahrenskostenhilfe im Einzelnen vgl. Kap. 14.)
1 BT-Drucks. 16/6308, 214. 2 BGH v. 23.6.2010 – XII ZB 232/09, FamRZ 2010, 1427 = FamRB 2010, 266. 3 BGH v. 23.6.2010 – XII ZB 232/09, FamRZ 2010, 1427 = FamRB 2010, 266.
1378
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 180
Kap. 12
11. Schematische Darstellung der Familiensachen und ihrer Zuordnung im familiengerichtlichen Verfahren 180
Familiensachen, § 23a GVG
andere Familiensachen, §§ 111 Nr. 2–11 FamFG
Ehesachen, §§ 111 Nr. 1, 121 FamFG
Eheaufhebung und Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens einer Ehe
streitige Scheidung
Scheidungssachen
Folgesachen, (jedoch nur Familiensachen) gem. § 137 Abs. 2, 3 FamFG
einverständliche Scheidung
isolierte Familiensachen, § 111 Nr. 2–11 FamFG einstweiliger HauptsacheRechtsschutz: verfahren eAO, zB §§ 49 f., 214, 226, 246–248 FamFG Arrest, § 916 f. ZPO
Verbund, § 137 FamFG
von Amts wegen: VA, §§ 6–19, 28 VersAusglG
auf Antrag: §§ 137 Abs. 2 Nr. 2–4, Abs. 3 FamFG
Kühner
1379
Kap. 12 Rn. 181
Verfahrensrecht
VI. Verfahren in Ehesachen, Scheidungs- und Folgesachen 1. Allgemeine Verfahrensgrundsätze 181
Die Verfahren in Ehesachen sind in den §§ 121 bis 132 FamFG und die Verfahren in Scheidungs- und Folgesachen in den §§ 133 bis 150 FamFG geregelt. Zur Legaldefinition der Ehesachen und der örtlichen Zuständigkeit s. Rn. 16 und 53.
182
In der anwaltlichen Praxis sind die Ehesachen am häufigsten, die die Ehescheidung zum Gegenstand haben. Mit Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses ist die Ehe aufgelöst (§ 1564 S. 2 BGB). Die verfahrensrechtliche Besonderheit in Scheidungsverfahren ist der sog. Verbund von Scheidungs- und Folgesachen, der dem Schutz des wirtschaftlich schwächeren Ehegatten dient und übereilten Scheidungsentschlüssen entgegenwirkt1. Mit dem Verbund soll erreicht werden, dass die wichtigsten Scheidungsfolgen mit der Ehescheidung zusammen in ein und demselben (Verbund)Verfahren geregelt werden. In allen verbundfähigen Familiensachen, für die eine Entscheidung für den Fall der Scheidung zu treffen ist und die rechtzeitig im ersten Rechtszug im Scheidungsverfahren anhängig gemacht worden sind, ist das Gericht grundsätzlich verpflichtet, einheitlich in einem Beschluss über die Ehescheidung und die Folgesachen zu entscheiden (§ 137 Abs. 1 FamFG). Dies bedeutet, dass nicht nur die Ehescheidung, sondern auch die zu regelnden Scheidungsfolgen entscheidungsreif sein müssen. Zwangsläufig verzögert sich durch das Verbundprinzip das Ehescheidungsverfahren und der nicht scheidungswillige Ehepartner, der die Scheidung nur in den seltenen Ausnahmefällen gem. § 1568 BGB verhindern kann, kann die rechtskräftige Auflösung der Ehe äußerstenfalls auf Jahre hinaus mit Folgesachen blockieren. Dies hat sich mit der Reform des Familienverfahrensrechts nicht wesentlich geändert. Das bereits nach altem Recht bestehende Verbundprinzip (§ 623 ZPO) wurde mit der Einführung des FamFG in seiner Struktur im Wesentlichen übernommen und lediglich modifiziert. 2. Einleitung und Ablauf des Ehescheidungsverfahrens
183
Das Ehescheidungsverfahren wird durch die Einreichung einer Antragsschrift (§ 124 FamFG) eingeleitet, die wegen des bestehenden Anwaltszwangs in Ehesachen und Folgesachen (§ 114 Abs. 1 FamFG) durch einen von der antragstellenden Partei beauftragten Rechtsanwalt eingereicht werden muss. Der Bevollmächtigte bedarf in Ehesachen einer besonderen, auf das Verfahren gerichteten Vollmacht, die sich auch auf die Folgesachen erstreckt (§ 114 Abs. 5 FamFG).
1 BT-Drucks. 16/6308, 229.
1380
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 187
Kap. 12
a) Antragsschrift Die inhaltlichen Anforderungen an die Antragsschrift sind in § 133 FamFG geregelt. Folgende Angaben sind notwendig:
184
aa) Inhalt Namen, Geburtsdaten der gemeinschaftlichen minderjährigen Kinder und Mitteilung ihres gewöhnlichen Aufenthalts (§ 133 Abs. 1 Nr. 1 FamFG), damit das Familiengericht gem. § 17 Abs. 3 SGB VIII das Jugendamt korrekt benachrichtigen kann, damit dieses die Eltern über das Leistungsangebot der Jugendhilfe (§ 17 Abs. 2 SGB VIII) unterrichtet. Ferner sollen damit frühzeitig Probleme bei der örtlichen Zuständigkeit erkannt werden1.
185
Die Erklärung, ob Regelungen über elterliche Sorge, Umgang, Kindes- 186 und Ehegattenunterhalt, die Rechtsverhältnisse an der Ehewohnung und an Haushaltsgegenständen getroffen wurden (§ 133 Abs. 1 Nr. 2 FamFG). Diese Erklärung dient der Information des Gerichts über mögliche Streitpunkte. Damit soll erreicht werden, dass das Gericht bereits zu Beginn des Verfahrens gezielte Hinweise auf entsprechende Beratungsmöglichkeiten erteilen kann, um zu einer möglichst ausgewogenen Scheidungsfolgenregelung im Kindesinteresse und im Interesse eines wirtschaftlich schwächeren Ehepartners beizutragen2. Darüber hinaus sollen die Ehegatten veranlasst werden, sich vor Einleitung des Scheidungsverfahrens über die bedeutsamen Scheidungsfolgen Klarheit zu verschaffen3. Ein Zwang zur Einigung über die Folgesachen ist damit allerdings nicht verbunden, ausreichend ist, wenn angegeben wird, dass eine einvernehmliche Lösung noch nicht gefunden wurde4. Die Formulierung „die Beteiligten hätten sich bis auf den Versorgungsausgleich über die Folgesachen geeinigt bzw. würden sich bis zur mündlichen Verhandlung geeinigt haben“ wird für nicht ausreichend erachtet5. Weitere Zulässigkeitsvoraussetzung ist die Angabe, ob Familiensachen, 187 an denen beide Ehegatten beteiligt sind, anderweitig anhängig sind (§ 133 Abs. 1 Nr. 3 FamFG). Anzugeben sind alle anderweitig anhängigen Familiensachen durch Bezeichnung des Gerichts und des Aktenzeichens6. Auch hiermit soll die frühzeitige Information des Gerichts über die zwischen den Ehegatten bestehenden Streitpunkte ermöglicht werden. Die Einhaltung der Formvorschrift des § 133 Abs. 1 FamFG gehört zu den zwingenden Zulässigkeitsvoraussetzungen für das Ehescheidungsverfah1 2 3 4 5
BT-Drucks. 16/6308, 228. BT-Drucks. 16/9733, 293. BT-Drucks. 16/9733, 293. Prütting/Helms/Helms, § 133 FamFG Rn. 4. OLG Hamm v. 2.3.2010 – II-2 WF 27/10, FamRZ 2010, 1581 = FamRB 2010, 208. 6 Prütting/Helms/Helms, § 133 FamFG Rn. 5.
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1381
Kap. 12 Rn. 188
Verfahrensrecht
ren. Fehlende Angaben können bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung nachgeholt werden1, geschieht dies trotz richterlichen Hinweises gem. § 139 Abs. 3 ZPO i.V.m. § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG nicht, ist der Antrag als unzulässig zurückzuweisen2. Auch die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe setzt voraus, dass die Anforderungen des § 133 Abs. 1 FamFG erfüllt sind3. bb) Anlagen 188
Der Antragsschrift sollen ferner die Heiratsurkunde und Geburtsurkunden der gemeinschaftlichen minderjährigen Kinder beigefügt werden (§ 133 Abs. 2 FamFG). Dies stellt eine aus dem eingeschränkten Amtsermittlungsgrundsatz resultierende Ausnahme zu dem über § 113 Abs. 1 FamFG anwendbaren § 131 Abs. 3 ZPO dar.
Û
Wichtig: Die Verpflichtung zur Beifügung besteht nur, wenn dem Antragsteller die Urkunden auch zugänglich sind4. Ggf. sind beglaubigte Abschriften bei dem zuständigen Standesamt anzufordern und spätestens im Termin zur mündlichen Verhandlung in der Ehesache vorzulegen. Im Übrigen dürfte es auch ausreichend sein, statt der Heirats- und Geburtsurkunden eine beglaubigte Ablichtung aus dem Personenstandsregister (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 PStG) vorzulegen, da diese ebenfalls sämtliche für das Verfahren notwendigen Daten beinhaltet.
cc) Bezeichnungen 189
In der Antragsschrift werden die Parteien als Antragsteller und Antragsgegner bezeichnet (§ 113 Abs. 5 FamFG), die Vorschriften der ZPO über die Klageschrift (§§ 253 f. ZPO) gelten entsprechend. Dies bedeutet, dass die Parteien exakt mit Vor- und Familiennamen, ggf. Geburtsnamen, Geburtsdaten und ladungsfähigen Anschriften zu bezeichnen sind. Es verbleibt auch bei den Bezeichnungen „Antragsteller“ und „Antragsgegner“, wenn Scheidungsfolgesachen anhängig gemacht werden, in denen der Antragsgegner selbst zur antragstellenden Partei wird. In diesen Fällen kann es zweckmäßig sein, zur Vereinfachung und Vermeidung von Fehlern in den Antragsbegründungen die Bezeichnung „Ehefrau“ und „Ehemann“ zu wählen.
1 Prütting/Helms/Helms, § 133 FamFG Rn. 6; Musielak/Borth, § 133 FamFG Rn. 2. 2 OLG Hamm v. 2.3.2010 – II-2 WF 27/10, FamRZ 2010, 1581 = FamRB 2010, 208. 3 OLG Hamm v. 2.3.2010 – II-2 WF 27/10, FamRZ 2010, 1581 = FamRB 2010, 208. 4 BT-Drucks. 16/6308, 228.
1382
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 192
Kap. 12
dd) Verfahrensfähigkeit Beide Parteien müssen verfahrensfähig sein. Die Verfahrensfähigkeit ist 190 in § 125 FamFG geregelt; sie entspricht im Wesentlichen dem früheren § 607 ZPO und ergänzt für Ehesachen die §§ 52 bis 58 ZPO. Verfahrensfähig ist damit auch ein in der Geschäftsfähigkeit beschränkter Ehegatte (§ 125 Abs. 1 FamFG). Ist ein Ehegatte geschäftsunfähig, wird das Verfahren durch den gesetzlichen Vertreter geführt, der für einen Antrag auf Scheidung oder Aufhebung der Ehe der Genehmigung des Familien- oder Betreuungsgerichts bedarf (§ 125 Abs. 2 FamFG).
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Wichtig: Nach dem Gesetzeswortlaut in § 125 Abs. 1 FamFG erfasst die Verfahrensfähigkeit eines beschränkt geschäftsfähigen Ehegatten nur die Ehesachen, nicht aber Scheidungsfolgesachen1. Der beschränkt geschäftsfähigen Partei muss daher für die Folgesache ein Pfleger bestellt werden (§§ 1909 f. BGB). Besteht für einen in der Geschäftsfähigkeit beschränkten Ehegatten bereits eine Pflegschaft oder Betreuung, ist bereits in der Antragsschrift oder Erwiderung darauf hinzuweisen, dass die Partei nur in Folgesachen durch den Pfleger oder Betreuer gesetzlich vertreten ist, da die Partei in der Ehesache selbst verfahrensfähig ist (§ 125 FamFG).
ee) Sachantrag Außer dem Sachantrag, die Scheidung der Ehe auszusprechen, bedarf es keines zusätzlichen Kostenantrags, da die Kostenentscheidung von Amts wegen zu treffen ist.
191
ff) Begründung In der Antragsbegründung sind, da gem. § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG die Vor- 192 schriften über die Klageschrift gem. § 253 ZPO anwendbar sind, die Tatsachen vorzutragen, aus denen sich das Scheitern der Ehe ergibt (§ 1565 BGB). Die Darlegungs- und Beweislast obliegt dem antragstellenden Ehegatten. Die Zerrüttung der Ehe i.S.d. § 1565 Abs. 1 BGB wird vermutet, wenn beide Ehegatten die Scheidung der Ehe beantragen oder ein Ehegatte dem Antrag des anderen zustimmt (§ 1566 Abs. 1 BGB). Diese Beweislastregel setzt aber zunächst voraus, dass die Voraussetzungen des Getrenntlebens i.S.d. § 1567 BGB vorgetragen und unter Beweis gestellt werden. Leben die Ehegatten innerhalb der Ehewohnung getrennt, sind Ausführungen dazu notwendig, dass keinerlei Versorgungsleistungen mehr stattgefunden haben und auch im Übrigen keine Gemeinsamkeiten mehr bestehen2. Vorzutragen ist auch, dass für den antragstellenden Ehegatten eine Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht 1 Prütting/Helms/Helms, § 125 FamFG Rn. 2. 2 BGH v. 11.4.1979 – IV ZR 55/78, FamRZ 1979, 469.
Kühner
1383
Kap. 12 Rn. 193
Verfahrensrecht
mehr in Betracht kommt und diese nicht mehr zu erwarten ist. Die zur Begründung des Scheidungsantrags vorgetragenen Tatsachen werden idR durch Parteianhörung unter Beweis gestellt.
Û
Praxistipp: Im Hinblick auf den Auskunftsanspruch zum Trennungszeitpunkt gem. § 1379 Abs. 2 BGB ist im Einzelfall abzuwägen, ob in der Antragsschrift der exakte Trennungszeitpunkt angegeben werden soll. Für die Schlüssigkeit eines Scheidungsantrags gem. § 1565 Abs. 1 BGB ist nur die Trennungszeit, nicht aber der exakte Trennungszeitpunkt darzulegen. Diese Überlegung erübrigt sich, wenn der Trennungszeitpunkt unstreitig ist und ggf. der Auskunftsanspruch zum Trennungszeitpunkt auch bereits erledigt ist.
193
Leben die Parteien noch nicht ein Jahr getrennt und will der Antragsteller den Scheidungsantrag vor Ablauf des Trennungsjahres wegen unzumutbarer Härte (§ 1565 Abs. 2 BGB) stellen, muss er substantiiert nicht nur zum Scheitern der Ehe, sondern insbesondere zu den Härtegründen i.S.d. § 1565 Abs. 2 BGB vortragen und Beweis antreten. Die Gründe, auf die der Antrag gestützt wird, müssen in der Person des anderen Ehegatten liegen und für den antragstellenden Ehegatten eine unzumutbare Härte darstellen (vgl. Kap. 2 Rn. 35 ff.). Entscheidend ist, ob es für den Antragsteller unzumutbar ist, mit dem anderen Ehegatten bis zum Ablauf des Trennungsjahres weiter verheiratet zu sein1. Gründe für eine unzumutbare Härte können Gewalttätigkeiten, Misshandlungen, Alkoholmissbrauch, schwere Beleidigungen und Drohungen oder schwerwiegende Verletzungen der ehelichen Treuepflicht sein, zB ehebrecherische Beziehungen mit Angehörigen der Familie im weiteren Sinne2 oder mit Arbeitskollegen des Antragstellers.
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Praxistipp: Falls die Beantragung von Verfahrenskostenhilfe in Betracht kommt, ist ein entsprechender Antrag zu stellen. Die Zustellung des Scheidungsantrags und der damit verbundene Eintritt der Rechtshängigkeit werden sich dadurch allerdings verzögern, da die formelle Zustellung des Antrags erst nach Bewilligung der Verfahrenskostenhilfe veranlasst wird. Es ist daher zu überlegen, ob zunächst die anfallenden zwei Gerichtsgebühren eingezahlt werden und anschließend Verfahrenskostenhilfe beantragt wird. Ggf. ist auch zu überprüfen, ob ein Verfahrenskostenvorschussanspruch (§ 1360a Abs. 4 BGB) in Betracht kommt.
1 Erman/Blank, § 1565 BGB Rn. 16. 2 OLG Oldenburg v. 19.12.1991 – 3 WF 138/91, FamRZ 1992, 682.
1384
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 194
Kap. 12
b) Zustimmung zur Scheidung und Rücknahme des Scheidungsantrags/Widerruf der Zustimmung Der Antragsgegner kann zu Protokoll der Geschäftsstelle oder in der 194 mündlichen Verhandlung dem Scheidungsantrag zustimmen (§ 134 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. FamFG).
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Wichtig: Die häufig anzutreffende Situation, dass ein (auch anwaltlich vertretener) Antragsgegner dem Scheidungsantrag nur zustimmt, hat erhebliche Auswirkungen, die oft nicht bedacht werden. Wird dem Scheidungsantrag lediglich zugestimmt, anstatt ebenfalls in dem anhängigen Verfahren die Scheidung der Ehe zu beantragen, bleibt der Antragsteller Herr des Verfahrens und kann auch noch nach Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens bis zur Rechtskraft den Scheidungsantrag zurücknehmen mit der Folge, dass die Wirkungen der Rechtshängigkeit (zB der Bewertungsstichtag für das Endvermögen) entfallen. Ist der Antragsgegner anwaltlich vertreten und sind Folgesachen anhängig gemacht worden, werden diese ebenfalls durch die Rücknahme des Scheidungsantrags grundsätzlich gegenstandslos; mit Rücknahme des Antrags ist das Verfahren als nicht anhängig geworden anzusehen, § 269 Abs. 3 S. 1 ZPO i.V.m. § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG. Um die damit evtl. verbundenen Nachteile, zB wegen des Wegfalls des Stichtags für den Zugewinnausgleich zu vermeiden, sollte der Rechtsanwalt, der von dem Antragsgegner im Ehescheidungsverfahren beauftragt wird, in jedem Falle unverzüglich einen eigenen Scheidungsantrag (in Form eines Widerklageantrags i.S.d. §§ 33, 253 ZPO i.V.m. § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG) stellen, und zwar nicht nur im Interesse des Mandanten, sondern auch aus haftungsrechtlichen Gesichtspunkten. Ist der Scheidungsantrag des Antragsgegners zugestellt, führt die anschließende Rücknahme des Scheidungsantrags durch den Antragsteller nicht zum Wegfall der Rechtshängigkeit, vielmehr muss das Verfahren wegen des eigenen Antrags des Antragsgegners weiter betrieben werden. Trotz der Rücknahme wird für die Rechtshängigkeit auf den Zeitpunkt der Zustellung der Antragsschrift des Antragstellers abgestellt. Es kommt also allein auf den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Verfahrens an, das schließlich zur Scheidung der Ehe geführt hat. Maßgebend ist also der Beginn des Scheidungsverfahrens1.
Einen eigenen Scheidungsantrag kann der Antragsgegner allerdings nur durch einen Anwalt stellen, was zusätzlich Kosten auslöst. Dieser Nachteil muss gegen die aufgezeigten Nachteile eines Verzichts auf einen eigenen Scheidungsantrag abgewogen werden.
1 BGH v. 11.7.1979 – IV ZR 159/77, FamRZ 1979, 905; BGH v. 2.11.1966 – IV ZR 229/65, FamRZ 1967, 138.
Kühner
1385
Kap. 12 Rn. 195 195
Verfahrensrecht
Die rechtswirksame Rücknahme des Scheidungsantrags (vgl. vertiefend Rn. 221 ff.) richtet sich nach § 269 ZPO, der über § 113 Abs. 1 FamFG anwendbar ist. Vor mündlicher Verhandlung ist die Antragsrücknahme ohne Einwilligung des Antragsgegners möglich, nach Beginn der mündlichen Verhandlung ist die Wirksamkeit der Antragsrücknahme von der Einwilligung des Antragsgegners abhängig. Auch die Zustimmung zur Rücknahme kann zur Niederschrift der Geschäftsstelle oder in der mündlichen Verhandlung erklärt werden (§ 134 Abs. 1, 2. Alt. FamFG), es besteht kein Anwaltszwang. Gleiches gilt für den Widerruf der Zustimmung zur Scheidung, der noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung, in der über die Scheidung der Ehe entschieden wird, möglich ist (§ 134 Abs. 2 FamFG). c) Eingeschränkte Amtsermittlung
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In Ehesachen gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Das Gericht hat von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen (§ 127 Abs. 1 FamFG). Die Formulierung entspricht § 26 FamFG, der für die FG-Familiensachen, aber gem. § 113 Abs. 1 S. 1 FamFG nicht auf Ehesachen anwendbar ist. Der Amtsermittlungsgrundsatz erfährt aber insoweit eine Einschränkung, als in Ehesachen die von den Beteiligten nicht vorgebrachten Tatsachen nur dann berücksichtigt werden dürfen, wenn sie geeignet sind, der Aufrechterhaltung der Ehe zu dienen oder wenn der Antragsteller einer Berücksichtigung nicht widerspricht (§ 127 Abs. 2 FamFG). Ein Ehegatte, der die Scheidung ablehnt, muss hierfür die Umstände, aufgrund derer die Scheidung für ihn eine schwere Härte darstellen würde (§ 1568 BGB) ausdrücklich vorbringen (§ 127 Abs. 3 FamFG). Der Amtsermittlungsgrundsatz erfährt hier also eine weitere Einschränkung. Die Vorschrift enthält im Wesentlichen den Regelungsgehalt des bisherigen § 616 Abs. 1–3 ZPO.
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Wichtig: Die Einschränkung des Amtsermittlungsgrundsatzes gem. § 127 Abs. 3 FamFG gilt nur für die Ehegattenschutzklausel, nicht aber für die Kinderschutzklausel gem. § 1568 BGB1.
d) Persönliche Anhörung 197
Grundsätzlich sollen nach § 128 FamFG die Ehegatten persönlich erscheinen und angehört werden. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens steht nicht im Ermessen des Gerichts2. Die Vorschrift entspricht im Wesentlichen dem früheren § 613 ZPO. Klarstellend ist nunmehr auch geregelt, dass ggf. zum Schutz eines Ehegatten oder aus anderen gleichwertigen Gründen eine getrennte Anhörung der Ehegatten stattfinden muss (§ 128 1 Erman/Blank, § 1568 BGB Rn. 19 mwN. 2 BGH v. 2.2.1994 – XII ZR 148/92, FamRZ 1994, 434; Prütting/Helms/Helms, § 128 FamFG Rn. 3.
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Verfahrensrecht
Rn. 199
Kap. 12
Abs. 1 S. 2 FamFG). Ist ein Ehegatte am Erscheinen gehindert oder kann ihm wegen großer Entfernung zum Sitz des Gerichts ein Erscheinen nicht zugemutet werden, kann die Anhörung oder Vernehmung durch einen ersuchten Richter erfolgen. Es ist empfehlenswert, in solchen Fällen einen entsprechenden Antrag zu stellen. Kommt ein Ehegatte der Anordnung des persönlichen Erscheinens nicht nach, kann ein Ordnungsgeld verhängt werden, Ordnungshaft darf jedoch nicht verhängt werden. § 128 Abs. 1 FamFG stellt eine Sollvorschrift dar. Bleibt ein Ehegatte trotz ordnungsgemäßer Ladung (wiederholt) unentschuldigt dem Termin fern, darf die Anhörung unterbleiben1. Dies gilt nicht ohne weiteres schon dann, wenn sich die Partei im Ausland aufhält2. Einer Anhörung bedarf es nicht, wenn der Antragsgegner unbekannten Aufenthalts ist3. Sind gemeinschaftliche minderjährige Kinder vorhanden, muss das Ge- 198 richt die Ehegatten auch zur elterlichen Sorge und zum Umgangsrecht anhören sowie auf bestehende Möglichkeiten der Beratung hinweisen (§ 128 Abs. 2 FamFG). Ein Verstoß gegen § 128 FamFG stellt einen erheblichen Verfahrensmangel dar4. e) Säumnis der Beteiligten Ist der Antragsteller der Ehesache säumig, kann auf Antrag eine Versäumnisentscheidung ergehen. Bei Säumnis beider Beteiligten ist das Ruhen des Verfahrens anzuordnen (§ 251a Abs. 3 ZPO) oder zu vertagen (§ 227 ZPO); eine Entscheidung nach Aktenlage (§ 251a Abs. 1 und 2 ZPO) ist nicht zulässig5. Während nach alter Rechtslage die Versäumnisentscheidung auf Abweisung des Scheidungsantrags gerichtet war, ist nunmehr die Versäumnisentscheidung gegen den Antragsteller dahin zu erlassen, dass der Antrag als zurückgenommen gilt (§ 130 Abs. 1 FamFG).
Û
Wichtig: Eine Säumnisentscheidung gegen den Antragsgegner ist nur in der Ehesache unzulässig. Ist eine Familienstreitsache als Folgesache anhängig, finden gem. § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG die §§ 330 f. ZPO Anwendung, so dass in der Folgesache eine Versäumnisentscheidung ergehen kann. Ist ein Stufenantrag rechtshängig, kann in der Auskunftsstufe ein Teilversäumnisbeschluss ergehen; eine Versäumnisentscheidung über den bezifferten Leistungsantrag setzt jedoch voraus, dass dem Scheidungsantrag stattgegeben wird.
1 OLG Hamm v. 9.2.1999 – 1 UF 179/98, FamRZ 1999, 1091; OLG Koblenz v. 25.8.2000 – 11 UF 672/99, FamRZ 2001, 1159. 2 OLG Hamm v. 1.9.1999 – 5 UF 84/99, FamRZ 2000, 898; OLG Hamm v. 2.2.1996 – 5 UF 219/95, FamRZ 1996, 1156; Prütting/Helms/Helms, § 128 FamFG Rn. 15. 3 BGH v. 2.2.1994 – XII ZR 148/92, FamRZ 1994, 434. 4 OLG Hamm v. 1.9.1999 – 5 UF 84/99, FamRZ 2000, 898. 5 Prütting/Helms/Helms, § 130 FamFG Rn. 3; Bork/Jacoby/Schwab/Löhnig, § 130 FamFG Rn. 10; aA Zöller/Lorenz, § 130 FamFG Rn. 4.
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199
Kap. 12 Rn. 200 200
Verfahrensrecht
Die Vorschrift ist nicht nur auf Scheidungssachen, sondern auf sämtliche Ehesachen i.S.d. § 121 FamFG anwendbar. Mit der Rücknahmefiktion soll erreicht werden, dass allein aufgrund des Umstands der Säumnis keine grundsätzlich der materiellen Rechtskraft fähige Entscheidung ergehen soll, da in Ehesachen ein erhöhtes Interesse an einer materiell richtigen Entscheidung besteht1. Die „Flucht in die Säumnis“ hilft auch bei einem verfrühten Scheidungsantrag, der vor Ablauf des Trennungsjahres gestellt wird, ohne dass die behaupteten Härtegründe gem. § 1565 Abs. 2 BGB vorlagen, weiter. In derartigen Fällen wurde bereits nach alter Rechtslage die Flucht in die Säumnis dazu genutzt, um weitere Zeit zu gewinnen und zu erreichen, dass entweder vor der mündlichen Verhandlung in erster Instanz oder spätestens vor dem Termin im Berufungsverfahren das Trennungsjahr verstrichen war und somit der Scheidungsantrag auch nicht mehr zurückgewiesen werden konnte2, die mit der Rechtshängigkeit des Antrags aber bereits herbeigeführten Stichtage erhalten blieben. Nach Erlass des Versäumnisurteils wurde Einspruch eingelegt und bis zu einer Neuterminierung vergingen regelmäßig mehrere Wochen. Zwar konnte in diesem Termin dann der Scheidungsantrag, falls bis dahin das Trennungsjahr noch nicht abgelaufen war, zurückgewiesen werden, mit der Durchführung des Berufungsverfahrens konnte aber schließlich in den meisten Fällen wegen des Ablaufs des Trennungsjahres der Berufung zum Erfolg verholfen werden, und die Sache musste an das Amtsgericht zur weiteren Verhandlung zurückverwiesen werden. Trotz der Rücknahmefiktion gem. § 130 Abs. 1 FamFG bleibt es möglich, durch eine Säumnisentscheidung weitere Zeit zu gewinnen. Damit bleibt grundsätzlich die Möglichkeit erhalten, trotz eines verfrühten Scheidungsantrags, der letztlich nicht die Voraussetzungen des § 1565 Abs. 2 BGB erfüllt, die mit der Zustellung dieses Antrags herbeigeführten Stichtage zu erhalten. Selbst wenn in erster Instanz der Scheidungsantrag als unbegründet zurückgewiesen wird, vergeht durch das Ausschöpfen aller Fristen bis zur Terminierung in zweiter Instanz so viel Zeit, dass bis dahin auch das Trennungsjahr verstrichen ist. f) Beendigung des Verfahrens
201
Das Ehescheidungsverfahren wird idR entweder durch einen Scheidungsbeschluss (§ 116 Abs. 1 FamFG) oder durch den seltenen Fall der Zurückweisung des Antrags beendet. Möglich ist auch die Beendigung durch Rücknahme des Scheidungsantrags oder den Eintritt eines erledigenden Ereignisses. Ausdrücklich geregelt ist die Erledigung der Ehesache bei Tod eines Ehegatten (§ 131 FamFG). Stirbt ein Ehegatte nach mündlicher Verhandlung, bevor die Entscheidung in der Ehesache rechtskräftig ist, gilt das Verfahren als in der Hauptsache für erledigt. Die Erledigung tritt kraft Gesetzes ein, sie erstreckt sich auch auf die Entscheidung über eine Folgesache3. 1 BT-Drucks. 16/8308, 228. 2 BGH v. 4.12.1996 – XII ZR 231/95, FamRZ 1997, 347 (348). 3 BGH v. 14.7.1982 – IV b ZB 565/81, FamRZ 1983, 683.
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Rn. 204
Kap. 12
VII. Verbund von Scheidungs- und Folgesachen 1. Überblick Verbund 202
Ehesachen, §§ 1564 BGB, 121 FamFG und Folgesachen, § 137 FamFG
Amtsverbund
Antragsverbund
(§ 137 Abs. 1 FamFG)
(§§ 137 Abs. 2 Nr. 2–4, 137 Abs. 3 FamFG)
Versorgungsausgleichssachen, § 217 FamFG
Versorgungsausgleich bei kurzer Ehe (§ 3 Abs 3 VersAusglG) Unterhaltssachen, § 231 Abs. 1 FamFG (Ehegatten- und Kindesunterhalt für gemeinschaftliche minderjährige Kinder mit Ausnahme des vereinfachten Verfahrens über Unterhalt Minderjähriger, § 249 FamFG) Ehewohnungs- und Haushaltssachen, § 200 FamFG Güterrechtssachen, § 261 FamFG Kindschaftssachen, § 151 Nr. 1–3 FamFG (elterliche Sorge, § 1671 BGB, Umgang, § 1684 BGB, Kinderherausgabe, § 1632 BGB)
2. Allgemeines Grundsätzlich ist zwischen dem sog. Amts- und dem Antragsverbund zu 203 unterscheiden. Damit ist gemeint, dass Folgesachen entweder kraft Gesetzes oder aber auf Antrag in den Verbund gelangen können. Der Versorgungsausgleich gelangt grundsätzlich von Amts wegen in den Verbund, ein Antrag ist grundsätzlich nicht erforderlich. Hiervon gelten jedoch Ausnahmen: Ein Antrag auf Durchführung des Versorgungsausgleichs ist bei einer Ehezeit von bis zu drei Jahren zu stellen (§ 3 Abs. 3 VersAusglG). Nach § 17 Abs. 3 S. 2 EGBGB ist darüber hinaus in Scheidungsverfahren zwischen Ausländern ausdrücklich ein Antrag auf Durchführung des Versorgungsausgleichs zu stellen, wenn der Versorgungsausgleich bereits dem Scheidungsstatut oder dem Heimatrecht der Ehegatten (zB in der Türkei) unbekannt ist. Verbundfähig sind nur Regelungen, die für den Fall der Scheidung getroffen werden sollen, die also Rechtswirkung erst mit Rechtskraft der ScheiKühner
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204
Kap. 12 Rn. 205
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dung entfalten. Verfahren, die auf eine Entscheidung für die Zeit des Getrenntlebens gerichtet sind, können schon begrifflich keine Folgesachen sein, zB das Verfahren wegen Trennungsunterhalts, Kindesunterhalts für die Zeit des Getrenntlebens oder Verfahren auf Nutzung der Ehewohnung gem. § 1361b BGB oder in Haushaltssachen gem. § 1361a BGB. Diese in der Trennungszeit getroffenen Entscheidungen verlieren mit Rechtskraft der Scheidung ihre Wirkung, mit Ausnahme des Kindesunterhalts, dessen Titulierung wegen der Einheitlichkeit des Unterhaltsanspruchs auch für die Zeit nach der Scheidung Gültigkeit hat. 205
§ 137 Abs. 2 FamFG legt fest, welche Verfahren Folgesachen sein können: – Versorgungsausgleichssachen, – Unterhaltssachen, sofern sie die Unterhaltspflicht gegenüber einem gemeinschaftlichen Kind oder den nachehelichen Ehegattenunterhalt betreffen, mit Ausnahme des vereinfachten Verfahrens über den Unterhalt Minderjähriger, – Ehewohnungs- und Haushaltssachen, – Güterrechtssachen, – Kindschaftssachen, die die Übertragung oder Entziehung der elterlichen Sorge, das Umgangsrecht oder die Herausgabe eines gemeinschaftlichen Kindes der Ehegatten oder das Umgangsrecht eines Ehegatten mit dem Kind des anderen Ehegatten betreffen.
206
Verbundfähig sind auch Stufenanträge (§ 254 ZPO), die neben dem Auskunftsantrag auch einen unbezifferten Leistungsantrag enthalten und damit den gesamten Anspruch anhängig machen. IdR werden insbesondere in Unterhalts- und Zugewinnausgleichsverfahren Auskunftsstufenanträge gestellt. Ist ein Stufenantrag rechtshängig, ist über die Auskunftsstufe zunächst durch Teilentscheidung zu entscheiden und erst nach Rechtskraft dieser Entscheidung über den Leistungsantrag, und zwar im Verbund mit der Ehesache durch einheitlichen Beschluss. Zulässig ist die Erhebung eines negativen Feststellungsantrags im Verbund, zB wenn sich der andere Ehegatte eines Anspruchs auf nachehelichen Unterhalt berühmt.
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Wichtig: Ein reiner Auskunftsantrag ist nicht verbundfähig.
3. Eintritt des Verbunds 207
Die in § 137 Abs. 2 und Abs. 3 FamFG genannten Folgesachen gelangen auf Antrag nur dann in den Verbund, wenn sie rechtzeitig anhängig gemacht worden sind. Eine Folgesache wird anhängig, wenn der Verbundantrag bei Gericht eingeht (§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. § 253 ZPO). In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob für die Fristwahrung nach § 137 Abs. 2 FamFG bereits die Einreichung eines isolierten Verfah1390
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Verfahrensrecht
Rn. 209
Kap. 12
renskostenhilfeantrags ausreicht. Im Hinblick auf die Schutzfunktion der Vorschrift genügt die Einreichung eines isolierten Verfahrenskostenhilfeantrags, mit dem der Sachantrag „nach Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe“ angekündigt wird1. Durch das Verbundprinzip soll der sozial schwächere Ehegatte geschützt werden. Dieser Schutz kann nur erreicht werden, wenn bereits die Anhängigkeit eines Verfahrenskostenhilfegesuchs den Verbund herbeiführt, da anderenfalls dem wirtschaftlich schwächeren Ehegatten das volle Kostenrisiko aufgebürdet würde, wenngleich dieses bei einem Stufenantrag gering ist und für Folgesachenanträge keine Gerichtskosten einzuzahlen sind, weil die Zustellung des Antrags in Abweichung von § 14 FamGKG nicht von der Zahlung der Gerichtskosten abhängig gemacht werden kann.
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Wichtig: Zur Fristwahrung reicht die Einreichung eines Stufenantrags (§ 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. § 254 ZPO) aus2.
Ob eine Folgesache rechtzeitig anhängig gemacht worden ist, bestimmt 208 sich danach, ob es sich um Folgesachen gem. § 137 Abs. 2 Nr. 1–4 FamFG oder um die in § 137 Abs. 3 FamFG genannten Kindschaftssachen betreffend die elterliche Sorge, das Umgangsrecht oder die Herausgabe eines gemeinschaftlichen Kindes handelt. Die Folgesachen gem. § 137 Abs. 2 Nr. 1–4 FamFG müssen bis spätestens zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung im ersten Rechtszug anhängig gemacht werden (§ 137 Abs. 2, 2. Halbs. FamFG). In der zweiten Instanz kann eine Folgesache nicht mehr in den Verbund eingeführt werden. Ist das Scheidungsverfahren in zweiter Instanz anhängig und wird das Verfahren an die erste Instanz zurückverwiesen, kann jedoch, wenn die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind, noch in erster Instanz ein Folgesachenantrag anhängig gemacht werden. Sind Folgesachen in zweiter Instanz anhängig, können, soweit der Streitgegenstand identisch ist, in zweiter Instanz die Folgesachenanträge noch geändert oder erweitert werden. Nach altem Verfahrensrecht (§ 623 Abs. 4 ZPO) war es ausreichend, dass 209 das Verfahren bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz eingeleitet wurde. Dies hatte zur Konsequenz, dass – auch aus taktischen Erwägungen – noch im Termin zur mündlichen Verhandlung in der Scheidungssache Folgesachen vor allem in Form einer Stufenklage anhängig gemacht wurden. Mit der Neuregelung und Einführung der ZweiWochen-Frist soll die Anhängigmachung zum spätest möglichen Zeit1 OLG Hamm v. 17.10.2011 – 6 UF 144/11, FF 2012, 39 = NJW 2012, 240; OLG Bamberg v. 2.11.2010 – 2 UF 180/10, FamRZ 2011, 1416; OLG Koblenz v. 29.5.2008 – 7 UF 812/07, FamRZ 2008, 1967 = FamRB 2008, 341: zum früheren Recht; Prütting/Helms/Helms, § 137 FamFG Rn. 50; Johannsen/Henrich/Markwardt, § 137 FamFG Rn. 14; Musielak/Borth, § 137 FamFG Rn. 28; aA Thomas/ Putzo/Hüßtege, § 137 FamFG Rn. 20. 2 BGH v. 19.3.1997 – XII ZR 277/95, FamRZ 1997, 811; Prütting/Helms/Helms, § 137 FamFG Rn. 50; Giers, FamRB 2011, 290 (291).
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Kap. 12 Rn. 210
Verfahrensrecht
punkt verhindert werden. Der Gesetzgeber hat dies insbesondere damit begründet, dass von der Möglichkeit der späten Anhängigmachung häufig Gebrauch gemacht wurde, um Verhandlungsmasse zu schaffen und taktische Vorteile zu sichern1. Termine müssten, da eine Vorbereitung auf die neuen Streitpunkte zumindest für das Gericht nicht mehr möglich gewesen sei, kurzfristig verlegt, aufgehoben oder die Verhandlung vertagt werden. Eine Frist von spätestens zwei Wochen vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung wird als angemessen betrachtet, um – wie es in der Begründung heißt – der missbräuchlichen Anhängigmachung von Scheidungsfolgesachen entgegenzuwirken2. 210
Welche mündliche Verhandlung gemeint ist, geht weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus den Materialien hervor. Nach Sinn und Zweck kann nur der Termin gemeint sein, in dem die Ehesache entscheidungsreif ist3. Die Neuregelung des § 137 Abs. 2 S. 1 FamFG harmonisiert jedoch nicht mit der Ladungsfrist nach § 217 ZPO, der über § 113 Abs. 1 FamFG auf die Scheidungsverfahren Anwendung findet. Die Ladungsfrist in Ehesachen und Folgesachen, die dem Anwaltszwang unterliegen, beträgt zwischen Zustellung der Ladung und dem Terminstag lediglich mindestens eine Woche. Wird die Terminsladung erst zwei Wochen vor dem Termin zugestellt, könnte wegen Nichteinhaltung der Zwei-Wochen-Frist eine Folgesache zwar anhängig gemacht werden, dies wäre aber nicht mehr rechtzeitig i.S.d. § 137 FamFG. Die Beteiligten wären also gezwungen, frühzeitig eine Entscheidung darüber zu treffen, ob eine Folgesache anhängig gemacht werden soll oder nicht. Auch wenn die ZweiWochen-Frist das Ziel hat, einer missbräuchlichen Anhängigmachung von Scheidungsfolgesachen entgegenzuwirken, kann nicht generell unterstellt werden, dass die späte Anhängigmachung nur taktischen Erwägungen, wie zB der Verzögerung dienen soll. Zeichnet sich zB während des Scheidungsverfahrens der Abschluss einer Scheidungsfolgenvereinbarung über Unterhalt und Zugewinnausgleich ab und werden deshalb noch keine Folgesachen anhängig gemacht, würde eine kurzzeitige Terminierung innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung der Ladung dazu führen, dass bei einem Scheitern der Verhandlungen keine Folgesache mehr anhängig gemacht werden könnte und somit der berechtigte Ehegatte unangemessen benachteiligt sein kann. Gem. § 32 Abs. 2 FamFG, der allerdings auf die Ehe- und Scheidungsfolgeverfahren keine Anwendung findet, soll zwischen der Ladung und dem Termin eine angemessene Frist liegen. Es wäre nur sachgerecht, diesen Grundsatz auch auf die 1 BT-Drucks. 16/6308, 374. 2 BT-Drucks. 16/6308, 374. 3 Rüntz/Viefhues, FamRZ 2010, 1285, OLG Hamm v. 30.6.2010 – II-5 WF 95/10, FamRZ 2010, 2091 = FamRB 2010, 304 (die Zwei-Wochen-Frist bezieht sich auf einen Termin, in dem die Scheidungssache selbst, wie auch die bis zu diesem Zeitpunkt fristgerecht rechtshängigen Folgesachen entscheidungsreif sind); Musielak/Borth, § 137 FamFG Rn. 14; Johannsen/Henrich/Markwardt, § 137 FamFG Rn. 123; Schulte-Bunert/Weinreich/Schröder, § 137 FamFG Rn. 3; Thomas/ Putzo/Hüßtege, § 137 FamFG Rn. 20; Roessink, FamRB 2010, 182.
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Verfahrensrecht
Rn. 211
Kap. 12
Scheidungs- und Folgesachen zu übertragen und die Ladungsfristen so großzügig zu bemessen, dass ausreichend Zeit bleibt, noch rechtzeitig eine Folgesache anhängig machen zu können. Noch nicht höchstrichterlich entschieden ist, ob die Ausschlussfrist gem. § 137 Abs. 2 S. 1 FamFG auch dann gilt, wenn die Ladungsfrist von einer Woche gem. § 113 Abs. 1 FamFG, § 217 ZPO eingehalten wird, bis zum Termin jedoch weniger als zwei Wochen liegen. Teilweise wird die Auffassung vertreten, die Ladung müsse mehr als vier Wochen1 oder insgesamt drei Wochen2 vor dem Termin erfolgen. Wird so kurzfristig terminiert, dass die Zwei-Wochen-Frist nicht eingehalten werden kann, ist einem Verlegungsantrag zu entsprechen3. Streitig ist, ob im Falle einer Zurückverweisung die Frist des § 137 Abs. 2 S. 1 FamFG wieder neu eröffnet wird4.
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Praxistipp: Solange diese Fragen in Literatur und Rechtsprechung nicht geklärt sind, bleibt aus haftungsrechtlichen Gesichtspunkten keine andere Wahl, als Folgesachenanträge nach Möglichkeit in Form von Stufenanträgen sehr frühzeitig anhängig zu machen, sofern keine sachlichen Erwägungen entgegenstehen. In jedem Fall setzt die Entscheidung über das Vorgehen eine (zu dokumentierende) Erörterung mit der Partei voraus, in der die Vor- und Nachteile des Verbundverfahrens im konkreten Fall erläutert werden. Offen ist bisher, wie die Berechnung der Frist vorzunehmen ist5.
Wird ein Folgesachenantrag verspätet eingereicht, ist streitig, wie mit der 211 verspätet eingegangenen Folgesache zu verfahren ist. Teilweise wird die Auffassung vertreten, der Folgesachenantrag müsse als unzulässig zurückgewiesen werden6 oder sei als isoliertes Verfahren weiterzuführen, ohne dass es einer Abtrennung bedürfe7. Zum Teil wird auch danach differenziert, ob es sich um einen Antrag handelt, der schon vor der Scheidung weiterbetrieben werden kann. Dies setzt allerdings voraus, dass die Antragsumstellung zulässig ist, zB die Umstellung eines Folgesachenantrags auf Zugewinnausgleich in einen Antrag auf vorzeitigen Zugewinnausgleich
1 OLG Brandenburg v. 18.10.2011 – 10 UF 143/11, FamRZ 2012, 572; OLG Stuttgart v. 11.1.2011 – 17 UF 304/10, FamRZ 2011, 1083 = FamRB 2011, 75; OLG Oldenburg v. 23.8.2010 – 13 UF 46/10, FamRZ 2010, 2015. 2 Prütting/Helms/Helms, § 137 FamFG Rn. 48. 3 OLG Stuttgart v. 11.1.2011 – 17 UF 304/10, FamRZ 2011, 1083 = FamRB 2011, 75. 4 So OLG Düsseldorf v. 12.8.2010 – II-7 UF 70/10, FamRZ 2011, 298; Musielak/ Borth, § 137 FamFG Rn. 27; aA Prütting/Helms/Helms, § 137 FamFG Rn. 53. 5 Vgl. im Einzelnen mit Berechnungsbeispiel Giers, FamRB 2011, 287 zu Recht mit dem Hinweis, Folgesachenanträge immer spätestens zwei Wochen und einen Tag vor dem Termin oder, wenn dieser Tag auf einen Sonntag oder allgemeinen Feiertag fällt, am vorangegangenen letzten Werktag einzureichen. 6 Musielak/Borth, § 137 FamFG Rn. 28. 7 Keidel/Weber, § 137 FamFG Rn. 20.
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Kap. 12 Rn. 212
Verfahrensrecht
(§ 1385 BGB) und der Antrag auch umgestellt wird1. Die Überprüfung der Behandlung eines Folgesachenantrags als verspätet ist nur im Rahmen des Rechtsmittels gegen den Scheidungsbeschluss möglich2. 212
Eine Ausnahme von der zweiwöchigen Sperrfrist sieht § 137 Abs. 3 FamFG für die dort genannten Kindschaftssachen vor. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage gelangen diese verbundfähigen Verfahren grundsätzlich auch dann in den Verbund, wenn sie durch ausdrücklichen Antrag anhängig gemacht werden, es sei denn, das Gericht hält eine Einbeziehung aus Gründen des Kindeswohls nicht für sachgerecht (§ 137 Abs. 3, letzter Halbs. FamFG).
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Praxistipp: Ein Antrag auf Durchführung des Versorgungsausgleichs gem. § 3 Abs. 3 VersAusglG bei kurzer Ehedauer unterliegt nicht der zweiwöchigen Sperrfrist, da der Antrag materiellrechtlicher Natur ist3.
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Eine Kindschaftssache kann von Amts wegen in den Verbund gelangen, wenn es sich um ein Verfahren gem. § 1666 BGB wegen Kindeswohlgefährdung handelt.
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Auch Dritte können infolge des Verbunds am Verfahren beteiligt sein, zB das Jugendamt oder ein Verfahrensbeistand (§ 158 FamFG) in einer Kindschaftsfolgesache, Vermieter und/oder Jugendamt in Ehewohnungssachen (§ 204 FamFG), Versicherungsträger in Versorgungsausgleichssachen (§ 219 FamFG).
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Wichtig: Wegen der höchstpersönlichen Natur des Scheidungsverfahrens sind vorbereitende Schriftsätze, Ausfertigungen oder Abschriften diesen Beteiligten nur insoweit mitzuteilen oder zuzustellen, als der Inhalt des Schriftstücks sie betrifft. Dies gilt auch für die Zustellung von Entscheidungen an dritte Personen, die zur Einlegung von Rechtsmitteln berechtigt sind (§ 139 Abs. 1 FamFG). Die Vorschrift entspricht bis auf geringfügige Veränderungen dem bisherigen § 624 Abs. 4 ZPO. Aus diesem Grund ist es notwendig, dafür Sorge zu tragen, dass Anträge und weitere vorbereitende Schriftsätze zu den Folgesachen in getrennten Schriftsätzen eingereicht werden.
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Gesetzlich normiert ist nun in § 139 Abs. 2 FamFG auch, dass die weiteren Beteiligten von der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung im Verbund insoweit ausgeschlossen werden können, als nicht über die sie betreffenden Familiensachen verhandelt wird. Bereits nach altem Recht 1 Johannsen/Henrich/Markwardt, § 137 FamFG Rn. 16. 2 OLG Bremen v. 22.11.2010 – 4 WF 151/10, FamRZ 2011, 753 = FamRB 2011, 77. 3 OLG Dresden v. 24.8.2010 – 20 UF 526/10, FamRZ 2011, 483 = FamRB 2011, 5; Prütting/Helms/Helms, § 137 FamFG Rn. 55.
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Verfahrensrecht
Rn. 217
Kap. 12
sollte ein Drittbeteiligter nur für die Dauer der Erörterung derjenigen Folgesachen teilnehmen dürfen, an der er auch tatsächlich beteiligt ist. Aus anwaltlicher Sicht sollte darauf geachtet werden, dass dieser Grundsatz auch konsequent umgesetzt wird. Im Falle der Verweisung oder Abgabe werden Verfahren, die die Voraussetzungen des § 137 Abs. 2 oder Abs. 3 FamFG erfüllen, mit Anhängigkeit bei dem Gericht der Ehesache zu Folgesachen (§ 137 Abs. 4 FamFG).
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Formulierungsbeispiel für einen Verbundantrag: In der Familiensache … beantragen wir, 1. den Antragsgegner zu verpflichten, an die Antragstellerin nachehelichen Elementarunterhalt in Höhe von monatlich … Euro und Krankheitskostenunterhalt in Höhe von monatlich … Euro ab Rechtskraft der Scheidung zu zahlen und 2. die sofortige Wirksamkeit des Beschlusses mit Eintritt der Rechtskraft der Ehesache anzuordnen1.
4. Auswirkungen des Verbunds Die Beteiligten haben grundsätzlich die Wahl zwischen dem Verbund 217 und dem isolierten Verfahren. Vor- und Nachteile des Verbund- oder isolierten Verfahrens sind gegeneinander abzuwägen. Das Verbundverfahren ist für die Beteiligten kostengünstiger, da die jeweiligen Einzelstreitwerte zu addieren sind und aus dem Gesamtstreitwert die Gerichts- und Anwaltskosten berechnet werden. Ein Verfahrenskostenhilfeantrag für ein nach Rechtskraft der Ehescheidung beabsichtigtes isoliertes Verfahren in einer Unterhaltssache gem. § 137 Abs. 2 Nr. 3 FamFG oder einer Güterrechtssache gem. § 137 Abs. 2 Nr. 4 FamFG kann nicht als mutwillig zurückgewiesen werden, weil der kostengünstigere Weg des Verbundverfahrens hätte gewählt werden können2. Als mutwillig hingegen wurde nach altem Recht ein Antrag auf Prozesskostenhilfe für ein nach Rechtskraft der Scheidung eingeleitetes Sorgerechtsverfahren angesehen, falls die Voraussetzungen für eine Regelung des Sorgerechts bereits während des Scheidungsverfahrens vorlagen3. Diese Auffassung ist abzulehnen. Auch für FG-Familiensachen muss die Möglichkeit bestehen, zwischen dem Verbund und einem isolierten Verfahren frei zu wählen, zumal auch die verbundfähigen Kindschaftssachen unter bestimmten Voraussetzungen abgetrennt und als selbständige isolierte Verfahren fortgeführt werden können. 1 Vgl. Rn. 446. 2 BGH v. 10.3.2005 – XII ZB 20/04, FamRZ 2005, 786 = FamRB 2005, 200. 3 OLG Karlsruhe v. 10.10.2005 – 5 WF 175/05, FamRZ 2005, 1099.
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1395
Kap. 12 Rn. 218
Verfahrensrecht
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Für jede Folgesache, die auf Antrag in den Verbund eingebracht werden kann, ist gesondert Verfahrenskostenhilfe zu beantragen, da sich die Bewilligung der Verfahrenskostenhilfe in der Ehesache nur auf die Folgesachen im Amtsverbund erstreckt (§ 149 FamFG). Ggf. ist, wenn die Voraussetzungen vorliegen, für jede Folgesache ein Verfahrenskostenvorschuss geltend zu machen.
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Für den nachehelichen Unterhalt hat das Verbundverfahren den Vorteil, dass zwischen Trennungs- und Nachscheidungsunterhalt keine Lücke entsteht und der nicht eigenständig krankenversicherte Ehegatte mit der durch die Folgesache eintretenden Verzögerung bei dem gesetzlich krankenversicherten Ehegatten noch (bis zur Rechtskraft) mitversichert ist. Für den Verbund spricht ferner, dass für die jeweiligen Folgesachen noch Verfahrenskostenvorschüsse (§ 1360a Abs. 4 BGB) geltend gemacht werden können; zwischen geschiedenen Ehegatten besteht keine Vorschusspflicht mehr. Im Zugewinnausgleich kann jedoch die Geltendmachung im Verbund von Nachteil sein, weil der Zugewinnausgleichsanspruch erst ab Rechtskraft der Ehesache fällig wird und somit wegen der längeren Verfahrensdauer erhebliche Zinsverluste entstehen können.
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Grundsätzlich kann die Verzögerung des Ehescheidungsverfahrens durch Einbringung von Folgesachen dazu führen, dass der scheidungswillige Ehegatte eher bereit ist, an gütlichen Einigungen mitzuwirken und entsprechende Zugeständnisse zu machen, da die Möglichkeit, Folgesachen aus dem Verbund der Ehesache abzutrennen und damit den Scheidungsausspruch schneller rechtskräftig werden zu lassen, nur unter bestimmten Voraussetzungen besteht (vgl. Rn. 228). 5. Beendigung des Verbunds a) Antragsrücknahme, Abweisung des Scheidungsantrags
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Die Rücknahme eines Scheidungsantrags hat zur Folge, dass das Verfahren als nicht anhängig geworden gilt (§ 269 Abs. 3 S. 1, 1. Halbs. ZPO). Die Wirkung der Rücknahme erstreckt sich grundsätzlich auch auf die Folgesachen (§ 141 S. 1 FamFG). Folgesachen hingegen, die die Übertragung der elterlichen Sorge oder eines Teils der elterlichen Sorge wegen Gefährdung des Kindeswohls auf einen Elternteil, Vormund oder Pfleger betreffen, werden durch die Rücknahme des Scheidungsantrags nicht gegenstandslos, da in Fällen der Kindeswohlgefährdung im Interesse des Kindeswohls die Durchführung des Verfahrens gerade nicht der Disposition der Ehegatten unterliegen soll1. Diese Kindschaftssachen werden sodann als selbständige, isolierte Familiensache fortgeführt. Grundsätzlich werden alle anderen Folgesachen gegenstandslos, da ja nur eine Regelung für den Fall der Scheidung begehrt wird.
1 BT-Drucks. 16/6308, 374.
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Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 224
Kap. 12
Alle anderen anhängigen Folgesachen können trotz Rücknahme des 222 Scheidungsantrags ebenfalls als selbständige Familiensachen fortgeführt werden, wenn ein Beteiligter vor Wirksamwerden der Rücknahme ausdrücklich seinen Willen zur Fortführung der Folgesache erklärt hat. Die Folgesachenanträge müssen lediglich auf die veränderte Situation umgestellt werden. Wurde beispielsweise in einer Folgesache nachehelicher Unterhalt für die Zeit ab Rechtskraft der Scheidung verlangt, ist der Antrag nebst Begründung dahingehend zu formulieren, dass nunmehr Trennungsunterhalt verlangt wird. Ist eine güterrechtliche Folgesache auf Zahlung von Zugewinn anhängig, 223 kann dieses Verfahren grundsätzlich auch auf Antrag hin nicht als selbständige Familiensache fortgeführt werden, da ein Anspruch auf Zugewinnausgleich grundsätzlich erst ab Beendigung des Güterstandes (im Ehescheidungsverfahren ab Rechtskraft der Scheidung) entsteht. Möglich und zulässig ist die Fortführung nur dann, wenn der Anspruch auf vorzeitigen Zugewinnausgleich nach §§ 1385, 1386 BGB gestützt werden kann. Die Rücknahme eines Scheidungsantrags mit den oben beschriebenen 224 Konsequenzen muss allerdings wirksam sein. Zu unterscheiden sind insbesondere folgende Verfahrenssituationen, wobei davon ausgegangen wird, dass keine Kindschaftsfolgesachen wegen Gefährdung des Kindeswohls anhängig sind: – Ist der Antragsgegner nicht anwaltlich vertreten und hat noch keine mündliche Verhandlung stattgefunden, ist die Rücknahme jederzeit möglich, die Folgesachen werden gegenstandslos, ein Antrag auf Fortführung kann wegen des bestehenden Anwaltszwangs vom Antragsgegner nicht gestellt werden. – Ist der Antragsgegner anwaltlich vertreten und hat er dem Scheidungsantrag lediglich zugestimmt, eine mündliche Verhandlung aber noch nicht stattgefunden, treten auch hier die oben beschriebenen Folgen ein mit der Ausnahme, dass aufgrund der anwaltlichen Vertretung ein Antrag auf Fortführung der anhängigen Folgesachen gestellt werden kann. – Ist der Antragsgegner anwaltlich vertreten und hat er dem Scheidungsantrag schriftsätzlich zugestimmt, ohne dass bisher eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, kann der Scheidungsantrag bis zur Rechtskraft der Scheidung von dem Antragsteller ohne Einwilligung des Antragsgegners zurückgenommen werden. – Ist der Antragsgegner anwaltlich vertreten und hat er schriftsätzlich einen eigenen Scheidungsantrag gestellt, ohne dass bisher eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, kann der Antragsteller zwar den Scheidungsantrag ohne Einwilligung zurücknehmen, die Rücknahme entfaltet jedoch keine Rechtswirkung i.S.d. § 141 FamFG, das Verfahren bleibt vielmehr wegen des eigenen Antrags des Antragsgegners (wenn dieser bereits zugestellt war) rechtshängig.
Kühner
1397
Kap. 12 Rn. 225
Verfahrensrecht
– Hat bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden und beide Beteiligten sind anwaltlich vertreten, bedarf die Antragsrücknahme jeweils der Zustimmung des anderen Ehegatten, unabhängig davon aber bleibt, wenn nur ein Ehegatte mit oder ohne Einwilligung des anderen die Antragsrücknahme erklärt, das Verfahren rechtshängig1. 225
Die Rechtsfolgen des § 141 S. 1 FamFG treten bereits durch die Erklärung der Beteiligten ein; einer gesonderten gerichtlichen Entscheidung bedarf es nicht.
226
Mit Abweisung des Scheidungsantrags werden die Folgesachen mit Ausnahme der in § 137 Abs. 3 FamFG genannten Kindschaftsfolgesachen ebenfalls gegenstandslos (§ 142 Abs. 2 FamFG), es sei denn, ein Beteiligter hat vor der Entscheidung ausdrücklich erklärt, die Folgesachen fortführen zu wollen. Anders als bei der Rücknahme des Scheidungsantrags werden nach dem Wortlaut der Vorschrift auch Kindschaftsfolgesachen wegen Gefährdung des Kindeswohls gegenstandslos. Nach altem Recht waren gem. § 629 Abs. 3 ZPO diese Verfahren als selbständige Familiensachen fortzuführen. ME kann auch für 142 Abs. 2 FamFG nichts anderes gelten als für den Fall der Rücknahme des Scheidungsantrags. Das Kindeswohlinteresse gebietet es, ein Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung fortzuführen und nicht etwa anschließend von Amts wegen ein neues Verfahren einzuleiten. b) Abtrennung aa) Wirkung
227
Die Beendigung des Verbunds durch Abtrennung ist von den Fällen der Abweisung des Scheidungsantrags und der Antragsrücknahme zu unterscheiden. Die Abtrennung bewirkt, dass die Ehe geschieden werden kann, während das anhängige Folgesachenverfahren hiervon losgelöst fortgeführt wird. Die Besonderheit liegt darin, dass – anders als bei Antragsrücknahme oder Abweisung des Scheidungsantrags – die Folgesachen i.S.d. § 137 Abs. 2 Nrn. 1 bis 4 FamFG nicht als selbständige Familiensachen, sondern als abgetrennte Folgesachen fortgeführt werden mit der Folge, dass weiterhin Anwaltszwang besteht. Sind mehrere Folgesachen anhängig, die abgetrennt wurden, so stehen diese untereinander im Restverbund, sie werden ebenfalls nicht als selbständige Familiensachen fortgeführt. Wird aus diesem sog. Restverbund keine weitere Folgesache mehr abgetrennt, ist über alle Folgesachen wiederum dann einheitlich zu entscheiden, wenn sämtliche Folgesachen entscheidungsreif sind.
Û
Praxistipp: Wurde eine Folgesache Versorgungsausgleich vor dem 1.9.2009 vom Scheidungsverbund abgetrennt und nach dem 1.9.2009 wieder auf-
1 BGH v. 23.6.2004 – XII ZB 212/01, FamRZ 2004, 1364 = FamRB 2004, 355.
1398
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Verfahrensrecht
Rn. 230
Kap. 12
genommen, ist das Verfahren als selbständige Familiensache fortzuführen1; dies gilt auch für ein vom Scheidungsverbund abgetrenntes und zunächst ausgesetztes Verfahren, das ab dem 1.9.2009 fortgesetzt wird2. Dies hat zur Konsequenz, dass der Anwaltszwang entfällt, eine Kostenentscheidung gem. §§ 80 f. FamFG getroffen und für das selbständig fortzuführende Verfahren Verfahrenskostenhilfe neu beantragt werden muss3. Die Beiordnung des Verfahrensbevollmächtigten bestimmt sich nach § 78 Abs. 2 FamFG4. Die Zustellungen sind hingegen grundsätzlich weiterhin an den bisherigen Bevollmächtigten vorzunehmen5. bb) Möglichkeiten einer Abtrennung Die nach altem Recht an verschiedenen Stellen (§§ 623 Abs. 2 S. 2, 628 228 ZPO) geregelten Möglichkeiten einer Abtrennung sind nunmehr einheitlich in § 140 FamFG abschließend geregelt. Die Abtrennung nach § 140 Abs. 2 S. 2 Nrn. 4 und 5 FamFG kann nur auf Antrag erfolgen, während die Voraussetzungen einer Abtrennung nach § 140 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 FamFG von Amts wegen geprüft werden müssen6. Weder der Abtrennungsantrag noch die Zustimmung zur Abtrennung unterliegen dem Anwaltszwang. Die Entscheidung über die Abtrennung steht überwiegend im Ermessen des Gerichts, lediglich in Unterhalts- oder Güterrechtsfolgesachen, in denen außer den Ehegatten eine weitere Person Beteiligter des Verfahrens wird, ist die Folgesache zwingend abzutrennen (§ 140 Abs. 1 FamFG). Diese Vorschrift entspricht dem bisherigen § 623 Abs. 1 S. 2 ZPO. Die Kann-Bestimmungen des § 140 Abs. 2 S. 2 Nr. 2–5 FamFG enthalten die Voraussetzungen, die für eine Abtrennung aller anderen Folgesachen erfüllt sein müssen. § 140 Abs. 2 Nr. 2–5 FamFG regelt folgende Alternativen: (1) Abtrennung einer Versorgungsausgleichs- oder Güterrechtsfolgesache, 229 wenn aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen eine Entscheidung vor Auflösung der Ehe nicht möglich ist (Nr. 1). Beispiel: Wegen Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift kann eine Entscheidung über den Versorgungsausgleich nicht getroffen werden.
(2) In einer Versorgungsausgleichsfolgesache ist das Verfahren ausgesetzt, 230 weil ein Rechtsstreit über den Bestand oder die Höhe eines Anrechts vor einem anderen Gericht (zB Arbeitsgericht, Sozial- oder Verwaltungsgericht) anhängig ist (Nr. 2). 1 2 3 4 5 6
BGH v. 16.2.2011 – XII ZB 261/10, FamRZ 2011, 635 = FamRB 2011, 104. BGH v. 26.10.2011 – XII ZB 567/10, FamRZ 2012, 98 = FamRB 2012, 39. BGH v. 16.2.2011 – XII ZB 261/10, FamRZ 2011, 635 = FamRB 2011, 104. Götsche, FamRB 2011, 123. BGH v. 16.2.2011 – XII ZB 261/10, FamRZ 2011, 635 = FamRB 2011, 104. Prütting/Helms/Helms, § 140 FamFG Rn. 10.
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Kap. 12 Rn. 231
Verfahrensrecht
231
(3) In einer Kindschaftsfolgesache hält das Gericht die Abtrennung aus Gründen des Kindeswohls für sachgerecht oder das Verfahren ist ausgesetzt (Nr. 3). Mit dieser Vorschrift werden die Abtrennungsvoraussetzungen im Unterschied zu § 623 Abs. 2 S. 2 ZPO völlig neu geregelt1. Im Interesse des Kindeswohls steht an erster Stelle die Beschleunigung der Kindschaftsfolgesachen. Eine Abtrennung kommt daher in Betracht, wenn aus Kindeswohlgründen das Bedürfnis für eine schnelle Entscheidung besteht, an der das Gericht wegen fehlender Entscheidungsreife eines anderen Verfahrensgegenstandes im Verbund gehindert ist2. Eine Gefährdung des Kindeswohls (§§ 1666, 1666a BGB) kann eine Abtrennung rechtfertigen, wenn mit einem alsbaldigen Abschluss des Verbundverfahrens nicht zu rechnen ist und mit einer von Amts wegen eingeleiteten einstweiligen Anordnung keine ausreichenden Maßnahmen getroffen werden können. Es sind jedoch auch Fälle denkbar, in denen entgegen dem grundsätzlichen Beschleunigungsgebot in Kindschaftssachen ein Zuwarten mit der Entscheidung in der Folgesache dem Kindeswohl eher nützt, zB wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich dadurch die Chancen für eine einvernehmliche Regelung verbessern und der Umgang vorläufig durch eine einstweilige Anordnung geregelt ist3.
232
(4) Erleichterte Abtrennung der Folgesache Versorgungsausgleich (Nr. 4). Voraussetzungen für die schnellere Abtrennung der Folgesache Versorgungsausgleich sind, dass die Ehegatten die erforderlichen Mitwirkungshandlungen (vgl. Rn. 400 f.) vorgenommen haben, übereinstimmend die Abtrennung beantragen und eine Frist von drei Monaten seit Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags abgelaufen sein muss. In dieser Zeit soll es möglich gewesen sein, die erforderlichen Auskünfte im Versorgungsausgleich einzuholen. Somit kann bei regulärem Verlauf nach drei Monaten die noch offene Versorgungsausgleichsfolgesache abgetrennt und die Scheidung entscheidungsreif werden, so dass einverständliche Scheidungen nunmehr wesentlich zügiger durchgeführt werden können.
Û
Wichtig: Im Fall eines verfrühten Scheidungsantrags, der vor Ablauf des Trennungsjahres rechtshängig wird und nicht die Voraussetzungen des § 1565 Abs. 2 BGB erfüllt, beginnt die Frist erst mit Ablauf des Trennungsjahres (§ 140 Abs. 4 S. 1 FamFG). Der Zeitraum, um den der Antrag zu früh eingereicht wurde, ohne dass die Voraussetzungen für eine Scheidung vorliegen, soll nicht zur Begründung einer verfahrensrechtlichen Privilegierung oder der Voraussetzungen einer Trennung wegen unzumutbarer Härte herangezogen werden können4.
1 2 3 4
BT-Drucks. 16/6308, 231. BT-Drucks. 16/6308, 231. BT-Drucks. 16/6308, 231. BT-Drucks. 16/6308, 231.
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Verfahrensrecht
Rn. 233
Kap. 12
(5) Die Abtrennung ist ferner zulässig, wenn sich der Scheidungsaus- 233 spruch so außergewöhnlich verzögern würde, dass ein weiterer Aufschub unter Berücksichtigung der Bedeutung der Folgesache eine unzumutbare Härte darstellen würde und ein Ehegatte die Abtrennung beantragt (Nr. 5). Die Vorschrift entspricht in modifizierter Form dem bisherigen § 628 S. 1 Nr. 4 ZPO. Die Verzögerung als solche muss nicht durch die Erledigung der betreffenden Folgesache bedingt sein. Ausreichend sind auch andere Verzögerungsgründe, wie etwa eine Überlastung des Gerichts, allerdings muss neben der außergewöhnlichen Verzögerung auch das Kriterium der unzumutbaren Härte erfüllt sein. Außergewöhnlich ist eine Verzögerung nur, wenn sie die normale Dauer eines Verbundverfahrens gleicher Art überschreitet; zu berücksichtigen ist die Zeit ab Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags1. IdR wird eine außergewöhnliche Verzögerung erst ab einer Verfahrensdauer von zwei Jahren angenommen2. Daneben muss der Aufschub der Ehescheidung noch eine unzumutbare Härte darstellen, für die strenge Maßstäbe anzulegen sind. Nicht ausreichend ist idR der Wunsch des Antragstellers, bald wieder zu heiraten, weil aus einer anderen Verbindung ein Kind erwartet oder bereits geboren ist3. Der Härtegrund kann auch gegeben sein, wenn der Antragsgegner bewusst das Verfahren verzögert, weil Trennungs- und zu erwartender nachehelicher Aufstockungsunterhalt erheblich divergieren4. Der Antragsteller kann sich auf die Unzumutbarkeit nicht berufen, wenn er selbst zur Verzögerung beiträgt5. Je gewichtiger die Bedeutung der abzutrennenden Folgesache ist, umso strengere Anforderungen sind an die unzumutbare Härte zu stellen.
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Praxistipp: Wird einem übereinstimmenden Abtrennungsantrag stattgegeben, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Abtrennung nicht erfüllt sind, sollte, wenn nicht wichtige Gründe entgegenstehen, versucht werden, einen beiderseitigen Rechtsmittelverzicht gegen den Scheidungsausspruch zu erklären. Denn sonst kann der andere Ehe-
1 BGH v. 9.1.1991 – XII ZR 14/90, FamRZ 1991, 687 (689); OLG Hamm v. 20.10.2008 – II-4 UF 67/08, FamRZ 2009, 367 = FamRB 2009, 179; OLG Düsseldorf v. 9.1.2008 – II-5 UF 148/07, FamRZ 2008, 1266; Prütting/Helms/Helms, § 140 Rn. 21. 2 BGH v. 9.1.1991 – XII ZR 14/90, FamRZ 1991, 687 (689) mwN; OLG Hamm v. 1.12.2006 – 12 UF 168/06, FamRZ 2007, 651; für eine kürzere Zeitspanne von ein bis 11/2 Jahren im Einzelfall: Prütting/Helms/Helms, § 140 FamFG Rn. 22; Johannsen/Henrich/Markwardt, § 140 FamFG Rn. 10. 3 BGH v. 2.7.1986 – IVb ZR 54/85, FamRZ 1986, 898 (899); aA OLG Hamm v. 1.12.2006 – 12 UF 168/06, FamRZ 2007, 651. 4 OLG Hamm v. 1.12.2006 – 12 UF 168/06, FamRZ 2007, 651 (652); OLG Naumburg v. 29.6.2001 – 14 WF 108/01, FamRZ 2002, 331; OLG Oldenburg v. 18.11.1991 – 12 UF 90/91, FamRZ 1992, 458; AG Bad Iburg v. 17.1.2011 – 5 F 320/09 UE, FamRZ 2011, 1084; vgl. ausführliche Rechtsprechungsnachweise bei Zöller/Lorenz, § 141 FamFG Rn. 9. 5 OLG Hamm v. 17.11.2008 – 6 UF 131/08, FamRZ 2009, 710; Prütting/Helms/ Helms, § 140 FamFG Rn. 26.
Kühner
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Kap. 12 Rn. 234
Verfahrensrecht
gatte auch dann, wenn er der Abtrennung zugestimmt hatte, gegen die Vorabentscheidung in der Ehesache noch Beschwerde einlegen, wenn er sich zwischenzeitlich überlegt hat, dass es vorteilhafter wäre, dass die Scheidung noch nicht ausgesprochen wird. Diese Möglichkeit besteht nicht mehr, wenn beidseitig ein Rechtsmittelverzicht gegen den Scheidungsausspruch erklärt wurde. 234
(6) Im Fall der Abtrennung einer Kindschaftsfolgesache besteht wie früher (§ 623 Abs. 2 S. 3 aF ZPO) weiterhin die Möglichkeit, auf Antrag auch eine Unterhaltsfolgesache abzutrennen (§ 140 Abs. 3 FamFG), wenn dies wegen des Zusammenhangs mit der Kindschaftsfolgesache geboten erscheint. Das Erfordernis des Zusammenhangs wird regelmäßig zu verneinen sein, wenn sich die Entscheidung in der Kindschaftsfolgesache nicht auf die konkrete Unterhaltsfolgesache auswirken kann1. Nach Abtrennung der Kindschaftsfolgesache wird dieses Verfahren als selbständiges Verfahren fortgeführt, die Unterhaltsfolgesache behält hingegen den Charakter einer (abgetrennten) Folgesache (§ 137 Abs. 5 FamFG). cc) Entscheidung durch Beschluss
235
Die Entscheidung über die Abtrennung erfolgt durch gesonderten Beschluss (§ 140 Abs. 6 FamFG), sie kann also nicht wie bisher als Teil der Endentscheidung, mit der die Scheidung ausgesprochen wird, ergehen2. Der Beschluss, mit dem einem Abtrennungsantrag stattgegeben oder der Antrag abgelehnt wird, ist nicht selbständig anfechtbar3. Wurde dem Antrag auf Abtrennung stattgegeben, obwohl die Voraussetzungen für eine Abtrennung nicht erfüllt waren, besteht wie bisher nur die Möglichkeit, im Rahmen der Beschwerde gegen den Scheidungsausspruch die Zwischenentscheidung inzidenter überprüfen zu lassen4.
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Wichtig: Für diesen Fall ist im Beschwerdeverfahren der Antrag zu stellen, den Scheidungsbeschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Die Aufhebung und Zurückverweisung kommt jedoch nur dann in Betracht, wenn damit das Ziel, die Wiederherstellung des Verbunds zu erreichen, noch möglich ist. Dies wäre beispielsweise dann nicht mehr der Fall, wenn in erster Instanz noch die abgetrennte Folgesache Zugewinnausgleich anhängig ist und der andere Ehegatte seinen ursprünglichen Antrag im Wege der Antragsänderung nunmehr zB auf vorzeitigen Zugewinnausgleich gem. § 1385 BGB gestützt hat, da ein Verfahren auf vorzeitigen Zugewinnausgleich nicht verbundfähig ist und somit in erster Instanz kei-
1 BT-Drucks. 16/6308, 231. 2 BT-Drucks. 16/6308, 232. 3 OLG Bremen v. 22.11.2010 – 4 WF 151/10, FamRZ 2011, 753 = FamRB 2011, 77. 4 BGH v. 1.10.2008 – XII ZR 172/06, FamRZ 2008, 2268 = FamRB 2009, 42.
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Verfahrensrecht
Rn. 241
Kap. 12
ne Folgesache mehr anhängig ist, der Verbund demzufolge nicht wiederhergestellt werden kann1. Trotz verfahrensfehlerhafter Abtrennung einer Folgesache kommt bei unwiederherstellbarer Auflösung des Verbunds eine Aufhebung und Zurückverweisung des angefochtenen Scheidungsbeschlusses nicht in Betracht. Werden Folgesachen aus dem Scheidungsverbund abgetrennt und als selbständige Familienverfahren weitergeführt, muss in diesen Verfahren eine eigenständige Kostenentscheidung nach den hierfür jeweils geltenden Kostenvorschriften getroffen werden (§ 50 Abs. 5 S. 2 FamFG).
236
c) Beendigung aus sonstigen Gründen Stirbt ein Ehegatte, bevor die Endentscheidung in der Ehesache rechts- 237 kräftig ist, gilt das Verfahren als in der Hauptsache für erledigt (§ 131 FamFG). Die Vorschrift entspricht dem früheren § 619 ZPO. Der Tod eines Ehegatten nach Eintritt der Rechtshängigkeit hingegen führt lediglich zu einer Unterbrechung des Verfahrens nach § 239 ZPO oder bei einer Vertretung durch einen Verfahrensbevollmächtigten zur Aussetzung nach § 246 ZPO; beide Vorschriften sind über § 113 FamFG in Ehe- und Scheidungsfolgesachen anwendbar. Ist zB eine Folgesache Zugewinnausgleich anhängig und der ausgleichspflichtige Ehegatte verstirbt während des noch anhängigen Verbundverfahrens, kann das Verfahren betreffend den Zugewinnausgleich als selbständige Familiensache gegen den oder die Erben des verstorbenen Ehegatten fortgeführt werden (§ 1371 Abs. 2, 1933 S. 1 BGB)2. Im Übrigen tritt Verfahrensbeendigung, auch soweit über die Folgesachen 238 entschieden worden ist, durch Beschluss ein (§ 38 FamFG). Auch besteht die Möglichkeit, das Verbundverfahren durch eine ver- 239 gleichweise Regelung zu beenden. Die Ehesache als solche kann durch Vergleich nicht beendet werden, während grundsätzlich über die Folgesachen ein Scheidungsfolgenvergleich zu Protokoll erklärt oder als Anlage zum Protokoll genommen werden kann (§ 127a BGB) oder die Folgesachen werden übereinstimmend für erledigt erklärt, nachdem zuvor eine notarielle Vereinbarung über die Scheidungsfolgen getroffen wurde. Nicht nur vor, sondern auch während eines Ehescheidungsverfahrens können die Beteiligten zB durch Ehevertrag den Güterstand aufheben oder ändern (§ 1408 Abs. 1 BGB).
240
Die Ehegatten können vor oder während eines anhängigen Scheidungsverfahrens Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich treffen (§ 6 Abs. 1 VersAusglG). Diese sind allerdings formbedürftig und entweder notariell zu beurkunden oder entsprechend § 127a BGB gerichtlich pro-
241
1 OLG Düsseldorf v. 8.7.2002 – 2 UF 27/02, FamRZ 2003, 388. 2 BGH v. 15.10.2003 – XII ZR 23/01, FamRZ 2004, 527 = FamRB 2004, 142.
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1403
Kap. 12 Rn. 242
Verfahrensrecht
tokollieren zu lassen (§ 7 Abs. 1 VersAusglG). Eine Vereinbarung über den Versorgungsausgleich (§ 1408 Abs. 2 BGB) bedarf nicht mehr der familiengerichtlichen Genehmigung, unterliegt jedoch der Inhalts- und Ausübungskontrolle durch das Gericht (§§ 8 Abs. 1, 7 VersAusglG). d) Außergerichtliche Streitbeilegung über Folgesachen 242
§ 135 Abs. 1 S. 1 FamFG ermöglicht dem Familiengericht die Anordnung, dass die Ehegatten einzeln oder gemeinsam an einem kostenfreien Informationsgespräch über Mediation oder eine sonstige Möglichkeit der außergerichtlichen Streitbeilegung anhängiger Folgesachen bei einer von dem Gericht benannten Person oder Stelle teilnehmen und eine Bestätigung hierüber vorlegen. Das Gericht kann allerdings die Beteiligten nicht zur Teilnahme an einem Informationsgespräch oder zur Durchführung einer Mediation zwingen. Die Anordnung ist nicht mit Zwangsmitteln nach § 35 FamFG durchsetzbar und, da es sich um eine Zwischenentscheidung handelt, nicht selbständig anfechtbar (§ 135 Abs. 1 S. 2 FamFG).
243
Die Entscheidung über die Anordnung liegt im freien richterlichen Ermessen, das Gericht hat jedoch zu prüfen, ob die Anordnung zumutbar ist. Dies kann insbesondere in Fällen häuslicher Gewalt oder bei einer Anreise aus größerer Entfernung zu verneinen sein. Sind die Beteiligten der Anordnung des Gerichts gefolgt, steht es ihnen frei, ob sie nach dem Informationsgespräch eine Mediation zur außergerichtlichen Streitbeilegung durchführen wollen oder nicht. Die Entscheidung für eine Mediation wird häufig daran scheitern, dass die Beteiligten nicht in der Lage sind, deren Kosten zu tragen oder sich über die Verteilung der Kosten zu einigen. Die Verfahrenskostenhilfe kann auf eine nicht kostenfreie Mediation nicht erstreckt werden1.
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Wichtig: Die Anordnung des Gerichts ist zwar grundsätzlich sanktionslos, sie kann jedoch kostenrechtliche Folgen nach sich ziehen, da das Gericht die Weigerung eines oder beider Ehegatten bei der Kostenverteilung gem. § 150 Abs. 4 S. 2 FamFG berücksichtigen kann, sofern der jeweilige Ehegatte die Nichtbefolgung der richterlichen Anordnung nicht genügend entschuldigt hat. In der Praxis wird dies zur Folge haben, dass dem Mandanten die Teilnahme an einem solchen Informationsgespräch anzuraten ist, sofern nicht gewichtige Gründe dagegen sprechen.
244
Ergänzend regelt § 135 Abs. 2 FamFG für Folgesachen, die Familienstreitsachen (§ 112 FamFG) sind, dass das Gericht in geeigneten Fällen den Ehegatten auch insoweit eine außergerichtliche Streitbeilegung vorschlagen soll. Die Vorschrift folgt dem Vorbild des § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO und 1 Prütting/Helms/Helms, § 135 FamFG Rn. 5; aA Spangenberg, FamRZ 2009, 834.
1404
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Verfahrensrecht
Rn. 246
Kap. 12
verdrängt diesen in solchen Folgesachen1. Sie ist als Soll-Vorschrift ausgestaltet2. Das Familiengericht muss also zunächst prüfen, ob im jeweiligen Einzelfall eine Mediation oder eine sonstige außergerichtliche Streitbeilegung sinnvoll ist.
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Praxistipp: Am 15.12.2011 hat der Bundestag den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung3 in der Fassung des Beschlusses des Rechtsausschusses4 angenommen. Mit Inkrafttreten des Mediationsgesetzes wird § 135 Abs. 2 FamFG aufgehoben. Zugleich wird im FamFG § 36a neu eingefügt, mit dem das Gericht einzelnen oder allen Beteiligten eine gerichtsnahe Mediation oder ein anderes Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung vorschlagen oder, soweit durch Landesrecht vorgesehen, darüber hinaus auch in geeigneten Fällen eine gerichtsinterne Mediation (§ 1 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 E-MediationsG) vorschlagen kann. Die neu eingefügten § 36a FamFG und § 278a ZPO i.V.m. § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG gelten für sämtliche Familiensachen, damit bedarf es der bisherigen Sonderregelung des § 135 Abs. 2 FamFG nicht mehr. Mediationskostenhilfe wurde nicht eingeführt, stattdessen ist zunächst ein Forschungsvorhaben vorgesehen, um zu entscheiden, ob und ggf. wie eine Mediationskostenhilfe eingeführt wird. Im Rahmen der Forschungsvorhaben kann im Einzelfall gem. § 6 Abs. 2 S. 1 MediationsG, der an § 114 S. 1 ZPO anknüpft, eine finanzielle Förderung der Mediation auf Antrag bewilligt werden.
VIII. Verfahren in Familiensachen außerhalb des Verbunds 1. Allgemeines Außerhalb des Verbundverfahrens besteht die Möglichkeit, entweder im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes und/oder in einem isolierten Hauptsacheverfahren Rechtsschutz zu erlangen. Diese Möglichkeiten bestehen sowohl vor und während Anhängigkeit als auch nach Rechtskraft der Ehesache.
245
Zu unterscheiden sind zunächst die sog. Erstverfahren, in denen erstmalig 246 eine Regelung angestrebt wird, von den besonderen Verfahrensarten, mit denen die Anpassung eines Titels erreicht werden soll, zB mit einem Abänderungs-, Vollstreckungsabwehr- oder negativem Feststellungsverfahren. Welche Bestimmungen des FamFG für die jeweiligen Verfahren Anwendung finden, bestimmt sich danach, ob es sich um eine FG-Familiensache oder eine Familienstreitsache handelt (vgl. Rn. 9). In FG-Familiensachen 1 2 3 4
BT-Drucks. 16/6308, 229. BT-Drucks. 16/6308, 229. BT-Drucks. 17/5335; BT-Drucks. 17/5496. BT-Drucks. 17/8058.
Kühner
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Kap. 12 Rn. 247
Verfahrensrecht
besteht noch die Besonderheit, dass zwischen den Antragsverfahren und den Verfahren von Amts wegen zu differenzieren ist. 2. Einstweiliger Rechtsschutz nach dem FamFG 247
Sowohl in Ehesachen als auch in den FG-Familiensachen und Familienstreitsachen können im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Entscheidungen getroffen werden. In Betracht kommen einstweilige Anordnungen gem. §§ 49 f. FamFG, während die einstweilige Verfügung in Familiensachen gegenstandslos und der Arrest nur in besonderen Fällen zulässig ist. Nachfolgend wird daher vorrangig die einstweilige Anordnung behandelt.
248
Die einstweilige Anordnung in Familiensachen soll sowohl in Antragsverfahren als auch in den vom Gericht eingeleiteten Verfahren von Amts wegen dazu dienen, auf schnellerem Weg eine Entscheidung zu erlangen, als dies normalerweise in einem Hauptsacheverfahren möglich ist. Sowohl für einstweilige Anordnungsverfahren in FG-Familiensachen als auch in Ehe- und Familienstreitsachen finden die §§ 49 bis 57 FamFG Anwendung. Für einzelne familienrechtliche Verfahren sind spezielle Regelungen zu beachten: – In Familienstreitsachen nach § 112 Nr. 2 und 3 FamFG gilt gem. § 119 Abs. 1 S. 2 FamFG die Schadensersatzpflicht des § 945 ZPO entsprechend. – In sämtlichen Familienstreitsachen kann gem. § 119 Abs. 2 FamFG ein Arrest angeordnet werden, die §§ 916 bis 934, 943–945 ZPO finden mit Ausnahme der Unterhaltssachen entsprechende Anwendung. – In Gewaltschutzsachen gelten Besonderheiten gem. §§ 96 Abs. 2, 214 FamFG bezüglich der Besitzeinweisung nach § 885 Abs. 1 ZPO, der Zustellung bzw. Wirksamkeit und Vollstreckbarkeit und der Anordnungsinhalte der §§ 1, 2 GewSchG. – In Unterhaltssachen ist die Verpflichtung zur Zahlung von Unterhalt und eines Verfahrenskostenvorschusses für gerichtliche Verfahren in Abweichung von § 49 FamFG in § 246 FamFG geregelt. – Die Zahlung des Unterhalts des Kindes und der Mutter/Vater (§ 1615l BGB) kann gem. § 247 FamFG bereits vor Geburt für die ersten drei Lebensmonate geregelt werden. – § 248 FamFG enthält eine Sondervorschrift für einstweilige Anordnungen in Bezug auf Kindesunterhalt vor Vaterschaftsfeststellung.
249
Weichen diese Vorschriften sachlich von den allgemeinen Regelungen der §§ 49 ff. FamFG ab, treten sie als leges speciales an deren Stelle1.
1 Schürmann, FamRB 2008, 375 (376).
1406
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Verfahrensrecht
Rn. 251a
Kap. 12
Nach alter Rechtslage setzte die Zulässigkeit einer einstweiligen Anord- 250 nung die Anhängigkeit eines Hauptsacheverfahrens voraus, zumindest aber einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein beabsichtigtes Hauptsacheverfahren. Mit Inkrafttreten des FamFG wurde der einstweilige Rechtsschutz völlig neu geregelt. Die einstweiligen Anordnungsverfahren in FG-Familiensachen und Familienstreitsachen sind nunmehr selbständige Verfahren und nicht mehr von einer Hauptsache abhängig. Das einstweilige Anordnungsverfahren bleibt nach § 51 Abs. 3 FamFG auch dann ein selbständiges Verfahren, wenn eine Hauptsache bereits anhängig ist. a) Voraussetzungen des einstweiligen Anordnungsverfahrens aa) Selbständigkeit des einstweiligen Anordnungsverfahrens Den Beteiligten steht es frei, mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen 251 Anordnung zugleich ein Hauptsacheverfahren einzuleiten oder zunächst ein Hauptsacheverfahren anhängig zu machen und erst im Anschluss daran eine einstweilige Anordnung zu beantragen. Sind alle Beteiligten mit der Entscheidung im einstweiligen Anordnungverfahren zufrieden, ist nach Meinung des Gesetzgebers ein Hauptsacheverfahren idR überflüssig1. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass das einstweilige Anordnungsverfahren lediglich summarischen Charakter hat. Eine einstweilige Anordnung schafft zwar einen Vollstreckungstitel, erwächst aber nicht in materieller Rechtskraft. Es ist daher für jeden Einzelfall zu prüfen, ob im Antragsverfahren neben einer einstweiligen Anordnung noch ein Hauptsacheverfahren eingeleitet werden soll. In einem von Amts wegen eingeleiteten einstweiligen Anordnungsverfahren ist das Gericht verpflichtet zu überprüfen, ob die Einleitung eines Hauptsacheverfahrens von Amts wegen erforderlich ist2. Eine Ausnahme von der Selbständigkeit des einstweiligen Anordnungs- 251a verfahrens gilt für die Verfahren, in denen bei Feststellung der Vaterschaft ein Unterhaltsanspruch der Mutter oder des Kindes im Wege der einstweiligen Anordnung geltend gemacht werden soll, da diese Anträge nur zulässig sind, wenn gleichzeitig auch ein Verfahren auf Feststellung der nichtehelichen Vaterschaft anhängig ist (§ 248 FamFG).
Û
Praxistipp: Werden Verfahrenskostenhilfeanträge gleichzeitig für ein einstweiliges Anordnungs- und für ein Hauptsacheverfahren gestellt, besteht Uneinigkeit, ob der Verfahrenskostenhilfeantrag für das Hauptsacheverfahren wegen Mutwilligkeit zurückgewiesen werden kann. Es wird im Wesentlichen wohl auf das erstrebte Rechtsschutzziel ankommen. Mutwilligkeit ist zu verneinen, wenn im Rahmen eines Haupt-
1 BT-Drucks. 16/6308, 201. 2 BT-Drucks. 16/6308, 199.
Kühner
1407
Kap. 12 Rn. 252
Verfahrensrecht
sacheverfahrens höherer Unterhalt als im einstweiligen Anordnungsverfahren eingefordert wird1. Die parallele Durchführung eines einstweiligen Anordnungsverfahrens und eines Hauptsacheverfahrens zum Sorgerecht ist regelmäßig mutwillig2. bb) Zuständigkeit 252
Die örtliche und sachliche Zuständigkeit richtet sich nach § 50 FamFG. Ist noch keine Hauptsache anhängig, ist das Gericht für die einstweilige Anordnung zuständig, das für die Hauptsache in erster Instanz zuständig wäre (§ 50 Abs. 1 S. 1 FamFG). Die Zuständigkeit bestimmt sich daher aus den allgemeinen Vorschriften bzw. den jeweiligen besonderen Regeln für die jeweiligen Verfahren.
Û
Wichtig: Wird während der Anhängigkeit des einstweiligen Anordnungsverfahrens zu einem späteren Zeitpunkt ein Hauptsacheverfahren eingeleitet, bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit dieses Hauptsacheverfahrens nicht nach dem bereits anhängigen einstweiligen Anordnungsverfahren. Es können somit verschiedene Gerichte für das Anordnungs- und Hauptsacheverfahren zuständig sein, zB aufgrund eines Wechsels des gewöhnlichen Aufenthalts in einem Sorgerechtsverfahren. In diesem Fall sollte eine Abgabe nach § 4 FamFG an das Gericht der Hauptsache in Betracht gezogen werden3. Kommt es zu einem Auseinanderfallen der Zuständigkeit für die Hauptsache und die einstweilige Anordnung in einer Unterhaltssache, kommt allenfalls eine analoge Anwendung des § 4 FamFG in Betracht, ansonsten verbleibt es bei den unterschiedlichen Zuständigkeiten. Der Anregung, das Verfahren der einstweiligen Anordnung im Hinblick auf die Hauptsache für erledigt zu erklären4, kann mE in einem Unterhaltsverfahren im Interesse des Unterhaltsberechtigten nicht gefolgt werden.
253
Ist bereits in erster Instanz eine Hauptsache anhängig, ist dieses Gericht auch für das einstweilige Anordnungsverfahren zuständig (§ 50 Abs. 1 S. 2 FamFG). Ändert sich nach Anhängigkeit der Hauptsache der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes, ist wegen des in § 232 Abs. 2 FamFG angeordneten Vorrangs der ausschließlichen Zuständigkeit in § 232 Abs. 1 Nr. 2 FamFG für das einstweilige Anordnungsverfahren das Gericht des gewöhnlichen Aufenthaltsorts zuständig5. Befindet sich das Hauptsacheverfahren in der 1 OLG Hamm v. 20.1.2011 – II-10 WF 201/10, FamRZ 2011, 1157. 2 OLG Köln v. 14.12.2010 – 4 WF 230/10, FamRZ 2011, 1157; aA OLG Frankfurt v. 20.12.2010 – 5 WF 329/10, FamRZ 2011, 661 (zum Umgangsrecht). 3 Schürmann, FamRB 2008, 375 (376); Prütting/Helms/Stößer, § 50 FamFG Rn. 5. 4 Prütting/Helms/Stößer, § 50 FamFG Rn. 5. 5 Prütting/Helms/Bömelburg, § 232 FamFG Rn. 12; Musielak/Borth, § 50 FamFG Rn. 5.
1408
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 257
Kap. 12
Beschwerdeinstanz, ist das Beschwerdegericht zuständig (§ 50 Abs. 1 S. 2 FamFG), wenn das einstweilige Anordnungs- und das Hauptsacheverfahren denselben Verfahrensgegenstand haben1. Das Beschwerdegericht bleibt auch dann zuständig, wenn die Ehesache inzwischen rechtshängig geworden ist2. Eine Eilzuständigkeit für besonders dringende Fälle regelt § 50 Abs. 2 S. 1 254 FamFG in Anlehnung an § 942 Abs. 1 ZPO3. Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich in Eilfällen nach dem Ort, an dem das Bedürfnis für ein gerichtliches Tätigwerden hervortritt oder wo sich die Person oder die Sache, auf die sich die einstweilige Anordnung bezieht, befindet4. Das Gericht hat jedoch unverzüglich das einstweilige Anordnungsverfahren an das Gericht abzugeben, das nach § 50 Abs. 1 FamFG zuständig wäre. Die Abweichung von den allgemeinen Zuständigkeitsregeln soll nicht länger als unbedingt nötig aufrechterhalten bleiben5. cc) Antragserfordernis In Antragsverfahren setzt der Erlass einer einstweiligen Anordnung einen 255 Antrag voraus (§ 51 Abs. 1 S. 1 FamFG). Nur auf Antrag wird das Gericht tätig in den Familienstreitsachen nach § 112 FamFG (Unterhalts- und Güterrechts- sowie sonstige Familiensachen), Gewaltschutzsachen (§ 214 FamFG) und Versorgungsausgleichssachen (§§ 217 f. FamFG). Aus § 51 Abs. 1 S. 1 FamFG folgt zugleich, dass für Amtsverfahren kein Antrag erforderlich ist. Es ist vielmehr Sache des Gerichts, zu prüfen, ob die Einleitung eines einstweiligen Anordnungsverfahrens notwendig ist. Anders als früher nach § 620a Abs. 2 ZPO muss der Antragsteller den An- 256 trag begründen und die Voraussetzungen für die Anordnung glaubhaft machen (§ 51 Abs. 1 S. 2 FamFG). Die für die Glaubhaftmachung zugelassenen Beweismittel sind für die FG-Familiensachen in § 31 FamFG aufgeführt; eine Beweisaufnahme findet lediglich bei präsenten Beweismitteln statt (§ 31 Abs. 2 FamFG). IdR erfolgt die Glaubhaftmachung durch eidesstattliche Versicherung (vgl. Rn. 161). Welche Anforderungen an die Begründung eines Antrags genau zu stellen sind, ist in § 51 Abs. 1 S. 2 FamFG nicht geregelt. Zu berücksichtigen ist, dass es sich um ein summarisches Eilverfahren handelt, die Begründung muss aber zumindest die Darlegung und Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes enthalten. In Amtsverfahren, insbesondere den Kindschaftssachen, setzt der Erlass 257 einer einstweiligen Anordnung keinen besonderen Antrag voraus. Vielmehr muss das Gericht von sich aus in jedem Verfahrensstadium prüfen, 1 2 3 4 5
Prütting/Helms/Stößer, § 50 FamFG Rn. 3. Schürmann, FamRB 2008, 375 (376) mwN. BT-Drucks. 16/6308, 200. BT-Drucks. 16/6308, 200. BT-Drucks. 16/6308, 200.
Kühner
1409
Kap. 12 Rn. 258
Verfahrensrecht
ob ein dringendes Regelungsbedürfnis (vgl. Rn. 259) für die Einleitung des Verfahrens besteht1.
Û
Praxistipp: In Kindschaftssachen, insbesondere wenn es um Umgangsregelungen, die gesamte elterliche Sorge oder Teilbereiche der elterlichen Sorge wie das Aufenthaltsbestimmungsrecht geht, ist es immer empfehlenswert, einen entsprechenden Antrag zu stellen, um eine Eilentscheidung anzuregen2. Regelmäßig erlangt das Gericht ja erst durch diesen Antrag Kenntnis von Umständen, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung in derartigen Amtsverfahren rechtfertigen.
dd) Anordnungsanspruch 258
Der Grundtatbestand des § 49 FamFG setzt nach Abs. 1 voraus, dass für eine einstweilige Anordnung nur vorläufige Maßnahmen in Betracht kommen, es gilt deshalb, wie im Recht der einstweiligen Verfügung, der Grundsatz des Verbots einer Vorwegnahme der Hauptsache3. Ferner muss die Anordnung nach den für das Rechtsverhältnis maßgebenden materiellen Vorschriften gerechtfertigt sein4. ee) Regelungsbedürfnis
259
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt ferner voraus, dass hierfür ein Regelungsbedürfnis besteht. Hier ist zu differenzieren. Für einstweilige Anordnungen in FG-Familiensachen muss ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden bestehen und dargetan werden. Ein solches wird idR zu bejahen sein, wenn ein Zuwarten bis zur Entscheidung in einer etwaigen Hauptsache nicht ohne Eintritt erheblicher Nachteile möglich wäre5. Der Gesetzgeber nimmt insbesondere in Umgangssachen regelmäßig ein besonderes Bedürfnis für eine zeitnahe Regelung an, da nur auf diese Weise eine dem Kindeswohl abträgliche längere Unterbrechung der persönlichen Beziehung zu dem nicht betreuenden Elternteil vermieden werden kann6. So wurde auch in § 156 Abs. 3 S. 2 FamFG ausdrücklich bestimmt, dass in Umgangsrechtsverfahren der Umgang durch einstweilige Anordnung geregelt oder ausgeschlossen werden soll, wenn die Teilnahme der Beteiligten an einer Beratung oder ein Sachverständigengutachten angeordnet wird. In Sorgerechtsverfahren 1 Schürmann, FamRB 2008, 375 (376). 2 Schürmann, FamRB 2008, 375 (376). 3 BT-Drucks. 16/6308, 199; OLG Hamm v. 9.12.2009 – 10 WF 274/09, FamRZ 2010, 824; OLG Saarbrücken v. 20.10.2010 – 6 UF 102/10, FamRZ 2011, 1087; Prütting/Helms/Stößer, § 49 FamFG Rn. 4; Zöller/Feskorn, § 49 FamFG Rn. 5; Schürmann, FamRB 2008, 375. 4 BT-Drucks. 16/6308, 199. 5 BT-Drucks. 16/6308, 199. 6 BT-Drucks. 16/6308, 199.
1410
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 260
Kap. 12
fehlt es regelmäßig an einem dringenden Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden, wenn die gesamte elterliche Sorge übertragen werden soll1. Bei Gefährdung des Kindeswohls ist idR im Wege der einstweiligen Anordnung der teilweise Entzug der elterlichen Sorge, zB des Aufenthaltsbestimmungsrechts, gerechtfertigt2.
Û
Wichtig: Für einstweilige Anordnungen in Unterhaltssachen gelten die besonderen Vorschriften der §§ 246 bis 248 FamFG (vgl. Rn. 301 ff.). Abweichend von § 49 FamFG kann in Unterhaltssachen die Zahlung von Unterhalt oder eines Kostenvorschusses im Wege der einstweiligen Anordnung geregelt werden, ohne dass ein dringendes Bedürfnis geprüft werden muss3. Dies galt auch bereits für einstweilige Anordnungen nach § 644 bzw. § 620a aF ZPO. Gleichwohl muss wie nach altem Recht ein dem Verfahrenszweck entsprechendes Regelungsbedürfnis bestehen4. Dieses ist zB bei freiwilliger Zahlung des laufenden Unterhalts oder wenn rückständiger Unterhalt verlangt wird zu verneinen5.
ff) Regelungsumfang Für eine einstweilige Anordnung in FG-Familiensachen kommen lediglich die vorläufigen Maßnahmen in Betracht, die in § 49 Abs. 2 FamFG näher bezeichnet sind: – Sicherungs- und Regelungsanordnungen, – Gebote oder Verbote und insbesondere das Verfügungsverbot (§ 49 Abs. 2 S. 2 FamFG) in Anlehnung an § 938 Abs. 2 ZPO6, – flankierende Anordnungen zur Durchführung einer einstweiligen Anordnung (§ 49 Abs. 2 S. 3 FamFG). Diese Vorschrift ist in Anlehnung an den früheren § 15 HausratsVO formuliert und soll die Vollstreckung oder sonstige Durchführung der Anordnung regeln, ermöglichen oder erleichtern7. Als flankierende Maßnahme sind zB Herausgabeanordnungen bei Haushaltssachen, Räumungsfristen für die Wohnung und Ge- oder Verbote im Zusammenhang mit der Ausübung eines Umgangsrechts zu nennen8.
1 OLG Nürnberg v. 9.9.2010 – 11 WF 972/10, FamRZ 2011, 131: Antrag auf Übertragung der gesamten elterlichen Sorge wegen Umzugs ins Ausland. 2 Vgl. OLG Stuttgart v. 25.1.2010 – 17 UF 15/10, FamRZ 2010, 1678: Übertragung der gesamten elterlichen Sorge wegen Kindeswohlgefährdung aufgrund intensiver Meinungsverschiedenheiten der Eltern. 3 BT-Drucks. 16/6308, 259. 4 Schürmann, FamRB 2008, 377. 5 Zöller/Geimer/Lorenz, § 246 FamFG Rn. 3; Schürmann, FamRB 2008, 377. 6 BT-Drucks. 16/6308, 199. 7 BT-Drucks. 16/6308, 199. 8 Schürmann, FamRB 2008, 375 (378).
Kühner
1411
260
Kap. 12 Rn. 261
Û
Verfahrensrecht
Praxistipp: Ein ausdrücklicher Antrag an das Gericht, flankierende Maßnahmen zu treffen, ist nicht erforderlich, und zwar auch dann nicht, wenn das Gericht im einstweiligen Anordnungsverfahren dem Grunde nach einer Bindung an die gestellten Anträge unterliegt1. Gleichwohl dürfte es empfehlenswert sein, einen entsprechenden Antrag zu stellen.
Û
Wichtig: Wird in einem einstweiligen Anordnungsverfahren ein Vergleich geschlossen, ist zu unterscheiden, ob dieser zur endgültigen Erledigung des einstweiligen Anordnungsverfahrens oder zur Regelung des Anspruchs in der Hauptsache abgeschlossen worden ist. Eine endgültige Erledigung durch Vergleich hat zur Folge, dass der Vergleich wie eine Endentscheidung abzuändern ist. Handelt es sich nur um eine vergleichsweise Erledigung im einstweiligen Anordnungsverfahren, kommt eine Abänderung gem. § 54 Abs. 1 FamFG in Betracht oder ein negatives Feststellungsverfahren.
b) Gang des einstweiligen Anordnungsverfahrens 261
Für das einstweilige Anordnungsverfahren gelten die Vorschriften, die für eine entsprechende Hauptsache anwendbar sind (§ 51 Abs. 2 S. 1 FamFG), soweit nicht die Besonderheiten des einstweiligen Rechtsschutzes entgegenstehen, wie die Eilbedürftigkeit und der summarische Charakter des Verfahrens. Die Anordnung des Ruhens des Verfahrens oder die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens kommen im Regelfall im einstweiligen Anordnungsverfahren nicht in Betracht2.
262
Einstweilige Anordnungen können ohne mündliche Verhandlung ergehen (§ 51 Abs. 2 S. 2 FamFG). Die in einzelnen Vorschriften zwingend vorgesehene persönliche Anhörung der Beteiligten (zB §§ 34, 107, 156 Abs. 2, 213 FamFG) vor Erlass einer einstweiligen Anordnung wird jedoch häufig dazu führen, dass Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt wird. Unterbleibt wegen der Eilbedürftigkeit die Anhörung, muss sie unverzüglich nachgeholt werden (§§ 159 Abs. 3, 160 Abs. 4, 205 Abs. 1, 213 Abs. 1 FamFG). In Unterhaltssachen soll eine einstweilige Anordnung regelmäßig aufgrund mündlicher Verhandlung ergehen (§ 246 Abs. 2 FamFG).
Û
Praxistipp: Wird erkennbar, dass ein Beteiligter beabsichtigt, den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu stellen, sei es in Unterhaltsoder in Ehewohnungssachen, zB auf Zutritt zur Ehewohnung, nachdem zuvor eigenmächtig die Schlösser ausgetauscht wurden, ist es
1 BT-Drucks. 16/6308, 199. 2 BT-Drucks. 16/6308, 200.
1412
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 265
Kap. 12
empfehlenswert, eine Schutzschrift bei dem zuständigen Amtsgericht zu hinterlegen. In Anlehnung an die Schutzschrift in Zivilverfahren kann auch in den Familiensachen mit der Schutzschrift erreicht werden, dass die Entscheidung nicht ohne mündliche Verhandlung erfolgt. In der Schutzschrift werden mit komplettem Rubrum die mutmaßlichen Antragsteller bzw. Antragsgegner angegeben und es wird für den Fall der Einleitung eines Eilverfahrens beantragt, nur aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Zur Begründung ist es ausreichend, kurz darzustellen, dass grundsätzliche Einwände gegen den Antrag erhoben werden. Die Schutzschrift wird in der zuständigen Abteilung hinterlegt und bei Eingang des Eilantrags mit vorgelegt und auch regelmäßig berücksichtigt. Der Vorteil liegt darin, dass auf diese Weise verhindert werden kann, dass nicht sofort ein Beschluss ergeht, aus dem Vollstreckungsmaßnahmen betrieben werden können. Die mündliche Verhandlung in einstweiligen Anordnungsverfahren ist nicht öffentlich (§ 170 GVG), mit Zustimmung der Beteiligten kann das Gericht jedoch die Öffentlichkeit zulassen.
263
Für Familienstreitverfahren stellt § 51 Abs. 2 S. 2 FamFG klar, dass auch ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann.
264
c) Entscheidungsform Das Gericht entscheidet über den Antrag durch Beschluss (§§ 51 Abs. 2 265 S. 1, 38 Abs. 1 S. 1 FamFG). Die einstweilige Anordnung trifft aufgrund ihres summarischen Charakters nur eine vorläufige Regelung und erwächst daher nicht in materieller Rechtskraft1. Sie ist auch jederzeit bis zum Außerkrafttreten abänderbar, sie ist daher sogar rückwirkend jederzeit abänderbar (§ 54 Abs. 1 FamFG). Dieser Gesichtspunkt ist von erheblicher Bedeutung für die Frage, ob zusätzlich ein Hauptsacheverfahren eingeleitet und durchgeführt werden soll, während an die Abänderung einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren strenge Anforderungen gestellt werden und eine rückwirkende Änderung zB in Unterhaltssachen nur in Ausnahmefällen zulässig ist. Eine Hauptsacheentscheidung hat somit wesentlich weiter reichende Konsequenzen als eine einstweilige Anordnung. Eine Versäumnisentscheidung ist ausgeschlossen (§ 51 Abs. 2 S. 3 FamFG).
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Wichtig: Im Falle der Säumnis eines Beteiligten kann das Gericht dennoch nach dem bisherigen Verfahrensstand eine Sachentscheidung treffen.
1 BGH v. 9.2.1983 – IVb ZR 343/81, FamRZ 1983, 355; OLG Zweibrücken v. 27.4.2000 – 5 WF 43/00, FamRZ 2000, 1288 (1289) mwN.
Kühner
1413
Kap. 12 Rn. 266
Verfahrensrecht
d) Rechtsbehelfe im einstweiligen Anordnungsverfahren 266
Der nachfolgende Überblick soll die Möglichkeiten der Änderung/Aufhebung der einstweiligen Anordnungen deutlich machen, wobei grundsätzlich danach zu differenzieren ist, ob die Entscheidung ohne oder aufgrund mündlicher Verhandlung ergangen ist und welche Regelungsbereiche betroffen sind. Die nachfolgend behandelten Anträge, aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden oder die Aufhebung oder Änderung zu beantragen, sind im weitesten Sinn den Rechtsbehelfen zuzuordnen, da sie die Möglichkeit der Abänderung eröffnen.
267
Übersicht der Rechtsbehelfe in einstweiligen Anordnungsverfahren Beschluss
ohne vorherige mündliche Verhandlung:
in allen Fällen der §§ 49, 214 Abs. 1, 246–248, 300–301, 331, 427 FamFG
Antrag aufgrund mündlicher Verhandlung erneut zu entscheiden, § 54 Abs. 2 FamFG
1414
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nach mündlicher Verhandlung:
●
elterliche Sorge,
●
Kindesherausgabe,
●
Verbleiben des Kindes bei Pflegeoder Bezugsperson
●
§§ 1, 2 GewSchG
●
Wohnungszuweisung
Beschwerde binnen zwei Wochen, § 63 Abs. 2 Nr. 1 FamFG, bei dem Gericht, das den Beschluss erlassen hat, § 64 Abs. 1 FamFG
in allen anderen Fällen
nur Aufhebung oder Änderung gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 FamFG
Verfahrensrecht
Rn. 271
Kap. 12
aa) Rechtsbehelfe ohne vorherige mündliche Verhandlung Ist eine Entscheidung über die einstweilige Anordnung im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung ergangen, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, den Antrag auf mündliche Verhandlung gem. § 54 Abs. 2 FamFG und/oder den Antrag auf Einleitung des Verfahrens zur Hauptsache gem. § 52 FamFG zu stellen.
268
(1) Antrag auf mündliche Verhandlung, § 54 Abs. 2 FamFG § 54 Abs. 2 FamFG entspricht inhaltlich weitgehend dem früheren § 620b 269 ZPO. Der Antrag kann sowohl von dem Antragsteller als auch vom Antragsgegner gestellt werden, wenn dessen Antrag ganz oder teilweise zurückgewiesen wurde1. Der Antrag auf mündliche Verhandlung setzt keine Änderung der Rechts- oder Tatsachenlage voraus, sondern lediglich die Beschwer2 und damit ein notwendiges Rechtsschutzinteresse3. Eine Erledigung der Angelegenheit steht dem Antrag nach § 54 Abs. 2 FamFG nicht entgegen4. Der Antrag ist nicht fristgebunden und auch dann nicht rechtsmissbräuchlich, wenn die einstweilige Anordnung bereits einige Jahre alt, aber noch in Kraft ist5. Ob der Antrag begründet werden muss, ist aus § 54 FamFG nicht zu entnehmen. Nach altem Recht war gem. § 620d ZPO in ZPO-Familiensachen die Begründung zwingend vorgeschrieben, eine gleichlautende Regelung wurde in das FamFG nicht übernommen. Zwar besagt § 51 Abs. 1 S. 2 FamFG, dass ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu begründen sei, nach dem Regelungsgehalt der Vorschrift ist mE insoweit jedoch der Antrag gemeint, der das Anordnungsverfahren erstmals einleitet, so dass eine Begründung nicht zwingend ist6. Stellt man hingegen nur auf den Begriff des Antragstellers ab, müsste gem. § 51 Abs. 1 S. 2 FamFG auch der Antrag auf mündliche Verhandlung begründet werden. Die Vorschrift ist zumindest unklar; § 23 FamFG sieht nur die Begründung eines verfahrenseinleitenden Antrags vor. Eine Begründung des Antrags ist aber in jedem Fall zweckmäßig, um den Rechtsstandpunkt des Antragsgegners darstellen zu können.
270
Mit dem Antrag auf mündliche Verhandlung wird das ursprüngliche Verfahren fortgesetzt. Der Antrag stellt eine besondere Form des Rechtsbehelfs dar, über den die Beteiligten nach § 39 FamFG belehrt werden müssen7.
271
1 2 3 4 5
BT-Drucks. 16/6308, 201; Prütting/Helms/Stößer, § 54 FamFG Rn. 7. KG v. 15.5.1991 – 18 UF 4386/90, FamRZ 1991, 1327 (1328). OLG Oldenburg v. 5.7.1999 – 4 WF 76/99, FamRZ 2000, 759. OLG Karlsruhe v. 3.9.2010 – 5 WF 179/10, FamRZ 2011, 571. OLG Köln v. 29.5.2006 – 14 WF 93/06, FamRZ 2006, 1402 = FamRB 2007, 12; Zöller/Feskorn, § 54 FamFG Rn. 12; Prütting/Helms/Stößer, § 54 FamFG Rn. 7. 6 So auch Prütting/Helms/Stößer, § 54 FamFG Rn. 9. 7 Schürmann, FamRB 2008, 375 (379).
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1415
Kap. 12 Rn. 272
Verfahrensrecht
272
Zuständig ist das Gericht, das die Entscheidung erlassen hat (§ 54 Abs. 3 S. 1 FamFG). Hat das Beschwerdegericht die einstweilige Anordnung erlassen (§ 50 Abs. 1 S. 2 FamFG), ist es auch für den Antrag auf mündliche Verhandlung zuständig. Wurde das Verfahren an ein anderes Gericht abgegeben oder verwiesen, ist gem. § 54 Abs. 3 S. 2 FamFG dieses Gericht für den Antrag zuständig. Die zwischenzeitlich eingetretene Anhängigkeit der Ehesache wirkt sich auf die Zuständigkeit für den Antrag auf mündliche Verhandlung nicht aus; maßgebend ist, welches Gericht die einstweilige Anordnung erlassen hat.
273
Der Antrag auf mündliche Verhandlung kann entweder auf eine Änderung für die Zukunft oder auf eine rückwirkende Änderung gerichtet sein.
274
Ebenso wie nach altem Recht gem. § 620b Abs. 2 ZPO ist, selbst wenn die Änderung rechtlicher oder tatsächlicher Verhältnisse geltend gemacht wird, vorrangig der Antrag gem. § 54 Abs. 2 FamFG auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu stellen1. Ein Antrag auf Aufhebung oder Änderung gem. § 54 Abs. 1 FamFG ist unzulässig, solange noch keine mündliche Verhandlung stattgefunden hat2. (2) Antrag auf Einleitung des Hauptsacheverfahrens, § 52 FamFG
275
In Antragsverfahren kann der Beteiligte, der durch die einstweilige Anordnung in seinen Rechten beeinträchtigt ist, bei Gericht beantragen, dass demjenigen, der die Anordnung erwirkt hat, eine Frist bestimmt wird, innerhalb derer das Hauptsacheverfahren einzuleiten ist (§ 52 Abs. 2 S. 1 FamFG). Die Anordnung des Gerichts kann auch darauf gerichtet sein, einen Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das Hauptsacheverfahren zu stellen. Die Frist hat sich an den Umständen des Einzelfalls zu orientieren3, sie darf höchstens drei Monate betragen (§ 52 Abs. 2 S. 2 FamFG). Streitig ist, ob der Antrag auf Einleitung des Hauptsacheverfahrens vor Erlass der einstweiligen Anordnung hilfsweise mit der Antragserwiderung gestellt werden kann. Der Gesetzeswortlaut spricht gegen die Zulässigkeit, weil § 52 Abs. 2 FamFG voraussetzt, dass eine einstweilige Anordnung erlassen wurde4. 1 So auch Prütting/Helms/Stößer, § 54 FamFG Rn. 10; Zöller/Feskorn, § 54 FamFG Rn. 8; Schürmann, FamRB 2008, 375; Johannsen/Henrich/Büte, § 54 FamFG Rn. 9; differenzierend Prütting/Helms/Bömelburg, § 246 FamFG Rn. 55: Änderungsantrag unzulässig, solange das ursprüngliche Anordnungsverfahren wegen Anhängigkeit eines Antrags nach § 54 Abs. 2 FamFG noch nicht abgeschlossen ist; aA Musielak/Borth, § 54 FamFG Rn. 11; Thomas/Putzo/Reichold, § 54 FamFG Rn. 6; Keidel/Giers, § 54 FamFG Rn. 14; für ein Wahlrecht: SchulteBunert/Weinreich/Schwonberg, § 54 FamFG Rn. 16. 2 Prütting/Helms/Stößer, § 54 FamFG Rn. 9; Schürmann, FamRB 2008, 375 (379). 3 BT-Drucks. 16/6308, 201. 4 Prütting/Helms/Stößer, § 52 FamFG Rn. 7; Horndasch/Viefhues/Viefhues, § 52 FamFG Rn. 7; aA zu Recht: Johannsen/Henrich/Büte, § 52 FamFG Rn. 7; Schulte-Bunert/Weinreich/Schwonberg, § 52 FamFG Rn. 10.
1416
Kühner
Verfahrensrecht
Û
Rn. 277
Kap. 12
Wichtig: Wird der Antrag entgegen der Anordnung des Gerichts nicht oder nicht fristgerecht eingereicht, ist die einstweilige Anordnung aufzuheben. Der Beschluss über die Aufhebung ist unanfechtbar mit der Folge, dass zB in Unterhaltssachen die Grundlage für alle beigetriebenen Zahlungen rückwirkend entfällt1 und ein Bereicherungsanspruch besteht.
Die Möglichkeit zur Herbeiführung eines Hauptsacheverfahrens lehnt sich weitestgehend an die für Arrest und einstweilige Verfügung geltende Vorschrift des § 926 ZPO an2. Es steht dem Antragsgegner frei, ein Hauptsacheverfahren gem. § 52 Abs. 2 FamFG zu erzwingen. Bei der einstweiligen Anordnung handelt es sich trotz ihrer Selbständigkeit nur um eine vorläufige summarische Regelung, so dass die Möglichkeit geschaffen werden musste, auf Antrag ein Hauptsacheverfahren einzuleiten, um eine umfassende und mit höherem richterlichen Überzeugungsgrad3 abschließende Entscheidung zu erreichen. Nach altem Recht war dies nicht notwendig, da die einstweilige Anordnung immer die Anhängigkeit eines Hauptsacheverfahrens bzw. eines Prozesskostenhilfegesuchs für ein beabsichtigtes Hauptsacheverfahren voraussetzte, in dem die streitigen Tatsachen umfassend geklärt werden konnten.
276
Auch in Amtsverfahren kann ein Hauptsacheverfahren eingeleitet wer- 277 den. Entweder kann das Gericht von Amts wegen ein Hauptsacheverfahren einleiten oder auf Antrag eines Beteiligten (§ 52 Abs. 1 S. 1 FamFG)4. Über dieses Antragsrecht sind die Beteiligten gem. § 39 FamFG zu belehren. Das Gericht kann jedoch gem. § 52 Abs. 1 S. 2 FamFG in der einstweiligen Anordnung bereits bestimmen, dass der Antrag erst nach Ablauf einer Frist, die drei Monate nicht überschreiten darf (§ 52 Abs. 1 S. 3 FamFG), zulässig ist. Damit soll vermieden werden, dass die Beteiligten vorschnell in das Hauptsacheverfahren drängen5. Eine Fristsetzung unterbleibt, wenn das Gericht bereits bei Erlass der einstweiligen Anordnung zur Einleitung des Hauptsacheverfahrens entschlossen ist. Die Frist gem. § 52 Abs. 1 S. 3 FamFG sollte kürzer als drei Monate bemessen werden, wenn die einstweilige Anordnung unanfechtbar ist und schwerwiegend in die Rechte eines Beteiligten eingreift, zB insbesondere in Kindschaftssachen. Wird der Antrag auf Einleitung des Hauptsacheverfahrens vor Ablauf der von dem Gericht gesetzten Frist gestellt, wird die Auffassung vertreten, dass der verfrühte Antrag unzulässig und damit zu verwerfen sei,
1 BGH v. 22.3.1989 – IVb ZR 2/89, FamRZ 1989, 850; BGH v. 9.5.1984 – IVb ZR 7/83, FamRZ 1984, 767. 2 BT-Drucks. 16/6308, 201. 3 BT-Drucks. 16/6308, 201. 4 Prütting/Helms/Stößer, § 52 FamFG Rn. 1; Johannsen/Henrich/Büte, § 52 FamFG Rn. 4; Zöller/Feskorn, § 52 FamFG Rn. 2. 5 BT-Drucks. 16/6308, 201.
Kühner
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Kap. 12 Rn. 278
Verfahrensrecht
da ja die Fristsetzung gerade verhindern soll, dass die Beteiligten vorschnell einen Antrag auf Einleitung des Hauptsacheverfahrens stellen1. Im Hinblick auf die Tragweite einer einstweiligen Anordnung insbesondere in Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung, sollte das Gericht verpflichtet sein, nach Ablauf der angeordneten Wartefrist von Amts wegen das Hauptsacheverfahren einzuleiten2. bb) Rechtsbehelfe nach mündlicher Verhandlung 278
Ist die Entscheidung im einstweiligen Anordnungsverfahren nach mündlicher Verhandlung ergangen, bestehen drei Möglichkeiten, eine Änderung des Beschlusses herbeizuführen. Die Änderung kann nicht nur von dem Antragsgegner, sondern auch von dem Antragsteller, dessen Antrag auf einstweilige Anordnung zurückgewiesen wurde, verlangt werden3. Den Beteiligten stehen folgende Änderungsmöglichkeiten zur Wahl: (1) Antrag auf Einleitung des Hauptsacheverfahrens, § 52 FamFG
279
Hierzu kann auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen werden (Rn. 275). (2) Antrag auf Aufhebung oder Änderung, § 54 Abs. 1 FamFG
280
Sowohl in Antrags- als auch in Amtsverfahren können die Entscheidungen im einstweiligen Anordnungsverfahren nach § 54 FamFG überprüft und aufgehoben oder abgeändert werden. Die Vorschrift entspricht im Wesentlichen § 620b aF ZPO. Diese weitgehende Abänderungsmöglichkeit ist in Familiensachen Ersatz für die regelmäßig nicht bzw. nur unter bestimmten Voraussetzungen gegebene Anfechtbarkeit der einstweiligen Anordnung4. In amtswegigen Verfahren kann das Familiengericht die Entscheidung in der einstweiligen Anordnungssache auch von Amts wegen aufheben oder ändern (§ 54 Abs. 1 S. 1 FamFG).
281
§ 54 Abs. 1 S. 2 FamFG regelt die Abänderungsmöglichkeit für Antragsverfahren, bei denen auch die Aufhebung oder Änderung der einstweiligen Anordnung einen entsprechenden Antrag der Beteiligten voraussetzt. Der Antrag ist nur entbehrlich, wenn die Entscheidung des Gerichts ohne vorherige Durchführung einer nach dem Gesetz notwendigen Anhörung erlassen wurde (§ 54 Abs. 1 S. 2 FamFG). Antragsbefugt sind die Beteiligten, die in ihren Rechten durch den Beschluss beeinträchtigt sind.
1 2 3 4
Johannsen/Henrich/Büte, § 52 FamFG Rn. 5; Keidel/Giers, § 52 FamFG Rn. 7. Prütting/Helms/Stößer, § 52 FamFG Rn. 3. BT-Drucks. 16/6308, 201. BT-Drucks. 16/6308, 201.
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Verfahrensrecht
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Rn. 284
Kap. 12
Wichtig: Der Antrag auf Änderung oder Aufhebung in Antragsverfahren ist nur zulässig, wenn entweder neue Tatsachen oder neue Beweismittel oder die Änderung rechtlicher Verhältnisse vorgebracht werden können, die eine Änderung oder Aufhebung rechtfertigen1. Werden keine neuen Tatsachen vorgebracht, fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, und der Antrag ist als unzulässig zurückzuweisen2. Das Änderungsbegehren setzt jedoch keine wesentliche Veränderung voraus, wie sie für ein Abänderungsverfahren gem. § 238 Abs. 1 FamFG verlangt wird. In amtswegigen Verfahren reicht für die Änderung oder Aufhebung eine abweichende rechtliche oder tatsächliche Beurteilung durch das Gericht aus3.
Der Antrag ist zu begründen. Er kann auf eine rückwirkende Abänderung gerichtet sein und zeitlich unbefristet gestellt werden, solange die einstweilige Anordnung gem. § 56 FamFG noch nicht außer Kraft getreten ist.
282
Im Übrigen gelten für den Ablauf des Verfahrens dieselben Vorschriften 283 wie für einen erstmals gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Das Gericht kann auch über den Abänderungsantrag ohne mündliche Verhandlung entscheiden, dies ermöglicht sodann aber wieder einen Antrag gem. § 54 Abs. 2 FamFG mit dem Ziel, aufgrund mündlicher Verhandlung neu zu entscheiden. In der Praxis wird aus diesem Grund regelmäßig über die Abänderung erst nach mündlicher Verhandlung entschieden. Zuständig für den Antrag auf Abänderung ist das Gericht, das die einstweilige Anordnung erlassen hat (vgl. Rn. 252). (3) Beschwerde, § 57 FamFG Die einstweilige Anordnung ist grundsätzlich unanfechtbar. § 57 FamFG, der im Wesentlichen § 620c aF ZPO entspricht, ermöglicht nur in fünf Ausnahmefällen eine Anfechtbarkeit der nach mündlicher Erörterung ergangenen Entscheidungen: Bei einstweiligen Anordnungen über – die elterliche Sorge für ein Kind (§ 57 Nr. 1 FamFG), selbst wenn nur Teilbereiche der elterlichen Sorge geregelt wurden, wie zB das Aufenthaltsbestimmungsrecht4, – die Herausgabe des Kindes an den anderen Elternteil (§ 57 Nr. 2 FamFG)5, 1 Prütting/Helms/Bömelburg, § 246 FamFG Rn. 73. 2 Prütting/Helms/Bömelburg, § 246 FamFG Rn. 73; Schürmann, FamRB 2008, 375 (380). 3 Zöller/Feskorn, § 54 FamFG Rn. 3; so wohl auch Prütting/Helms/Stößer, § 54 FamFG Rn. 2. 4 Prütting/Helms/Stößer, § 57 FamFG Rn. 5 mwN. 5 OLG Oldenburg v. 9.11.2010 – 13 UF 90/10, FamRZ 2011, 745: analoge Anwendung des § 57 Nr. 2 FamFG, wenn die Herausgabe des Kindes von einem Elternteil an das als Ergänzungspfleger bestellte Jugendamt angeordnet worden ist.
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284
Kap. 12 Rn. 285
Verfahrensrecht
– einen Antrag auf Verbleiben eines Kindes bei einer Pflege- oder Bezugsperson (§ 57 Nr. 3 FamFG), – einen Antrag nach den §§ 1, 2 GewSchG (§ 57 Nr. 4 FamFG) oder – in einer Ehewohnungssache über einen Antrag auf Zuweisung der Wohnung (§ 57 Nr. 5 FamFG)1. 285
Entscheidungen im einstweiligen Anordnungsverfahren in allen anderen Familiensachen – insbesondere auch solche über den Ausschluss eines Umgangsrechts2 – können nicht mit der Beschwerde angegriffen werden. Hier besteht nur die Möglichkeit, gem. § 54 Abs. 1 FamFG Antrag auf Abänderung zu stellen oder nach § 52 FamFG die Einleitung des Hauptsacheverfahrens zu beantragen bzw. in Unterhaltssachen einen negativen Feststellungsantrag zu stellen (vgl. hierzu Rn. 310).
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Wichtig: Erweitert wurde die Anfechtbarkeit von Entscheidungen im einstweiligen Anordnungsverfahren dahingehend, dass die Beschwerde auch dann statthaft ist, wenn Anträge zur elterlichen Sorge oder Herausgabe des Kindes gem. § 57 Nr. 1, 2 FamFG zurückgewiesen worden sind. Diese Fälle waren von § 620c aF ZPO nicht erfasst, gegen ablehnende Entscheidungen war die Beschwerde nicht zulässig.
286
Die Beschwerde ist innerhalb einer Frist von zwei Wochen (§ 63 Abs. 2 Nr. 1 FamFG) bei dem Gericht einzulegen, dessen Beschluss angefochten wird (§ 64 Abs. 1 FamFG). Die zweiwöchige Beschwerdefrist gilt in den Fällen des § 57 Nrn. 1 bis 5 FamFG auch dann, wenn den Anträgen nicht stattgegeben wurde3. Die Beschwerde gem. § 57 FamFG ist nicht statthaft, wenn das Gericht zunächst nach mündlicher Erörterung weitere Ermittlungen angestellt und anschließend im schriftlichen Verfahren entschieden hat (sog. gemischt mündlichschriftliches Verfahren)4. In diesem Fall ist erneut ein Antrag auf mündliche Verhandlung gem. § 54 Abs. 2 FamFG zu stellen.
1 Die Anordnung auf Wiedereinräumung des Mitbesitzes an der Ehewohnung ist kein Antrag auf Zuweisung i.S.d. 57 Nr. 5 FamFG, OLG Bamberg v. 21.2.2005 – 2 WF 22/05, FamRZ 2006, 873 = FamRB 2006, 15, ebenso wenig, wenn nur einzelne Räume zugewiesen wurden, OLG Nürnberg v. 16.3.2010 – 7 WF 237/10, FamRZ 2010, 1463. 2 OLG Celle v. 16.12.2010 – 10 UF 253/10, FamRZ 2011, 574 (zur Einrichtung einer Umgangspflegschaft); OLG Köln v. 9.11.2010 – 4 WF 189/10 und 4 WF 190/10, FamRZ 2011, 574; OLG München v. 25.10.2010 – 12 WF 1735/10, FamRZ 2011, 496. 3 Zu Recht OLG Zweibrücken v. 8.10.2010 – 6 WF 196/10, FamRZ 2011, 497; Prütting/Helms/Stößer, § 57 FamFG Rn. 12; aA Zöller/Feskorn, § 63 FamFG Rn. 3. 4 Prütting/Helms/Stößer, § 57 FamFG Rn. 9; OLG Zweibrücken v. 22.1.2008 – 5 WF 2/08, FamRZ 2008, 1265 m. Anm. van Els = FamRB 2008, 177.
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Rn. 288
Kap. 12
Wichtig: Bei der Entscheidung über eine einstweilige Anordnung in Familiensachen handelt es sich um eine Endentscheidung i.S.d. § 68 Abs. 1 S. 2 FamFG mit der Folge, dass das Familiengericht nicht abhilfebefugt ist, sondern die Beschwerde dem (nächsthöheren) Beschwerdegericht vorzulegen ist1. Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung, so dass zugleich in der Beschwerdeschrift der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung gem. § 55 Abs. 1 FamFG gestellt werden muss.
e) Aussetzung der Vollstreckung § 55 FamFG ermöglicht die Aussetzung oder Beschränkung der Vollstre- 287 ckung einer einstweiligen Anordnung sowohl bei Anträgen nach § 54 Abs. 1, 2 FamFG als auch im Beschwerdeverfahren nach § 57 FamFG. Sie kann von Bedingungen oder Auflagen abhängig gemacht werden, insbesondere auch von einer Sicherheitsleistung2. Ein Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung ist zwar nicht erforderlich3, weil die Aussetzung oder Beschränkung der Vollstreckung auch von Amts wegen erfolgen kann, aber unbedingt empfehlenswert. Wichtig ist der Antrag auf Aussetzung insbesondere in Unterhalts- und Kindschaftssachen. Beispiel: Dem Ehemann ist im Wege der einstweiligen Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ein gemeinsames Kind übertragen worden, das (noch) in der Obhut seiner getrenntlebenden Ehefrau lebt. Der Beschluss wurde dem Anwalt der Ehefrau am 20.9.2011 zugestellt. Aufgrund einer Umgangsvereinbarung zwischen den Beteiligten steht für Samstag, den 24.9.2011, ein Besuchskontakt an. Mit der Bekanntgabe des Beschlusses ist die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts wirksam geworden, so dass die Ehefrau damit rechnen muss, dass der Ehemann das Kind nach dem Besuchskontakt nicht mehr zurückbringt. Es empfiehlt sich daher, falls die Entscheidung des Gerichts nicht akzeptiert werden soll, unverzüglich Beschwerde einzulegen und in der Beschwerdeschrift bereits die Aussetzung der Vollstreckung zu beantragen, die Beschwerde sollte auch bereits vorläufig begründet werden.
Über den Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung ist vorab zu entscheiden (§ 55 Abs. 2 FamFG). Die Entscheidung ist unanfechtbar. f) Außerkrafttreten der einstweiligen Anordnung, § 56 FamFG Eine einstweilige Anordnung gilt grundsätzlich zeitlich unbefristet, es 288 sei denn, das Gericht hat einen Zeitpunkt bestimmt, zu dem die einstweilige Anordnung außer Kraft tritt (§ 56 Abs. 1 S. 1 FamFG). In allen an-
1 AA OLG Hamm v. 4.8.2010 – II-10 WF 121/10, FamRZ 2011, 234. 2 BT-Drucks. 16/6308, 202. 3 Prütting/Helms/Stößer, § 55 FamFG Rn. 2; van Els, FamRZ 2011, 1706.
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Kap. 12 Rn. 289
Verfahrensrecht
deren Fällen tritt die einstweilige Anordnung bei Wirksamwerden einer anderweitigen Regelung außer Kraft. Nach altem Recht war das Außerkrafttreten der einstweiligen Anordnung in § 620f ZPO geregelt, diese Vorschrift wurde mit Modifikationen in die neue Bestimmung des § 56 FamFG übernommen. Die Neuregelung war erforderlich geworden, weil das einstweilige Anordnungsverfahren nunmehr ein selbständiges und damit von einer Hauptsache unabhängiges Verfahren ist. Eine anderweitige Regelung kann eine deckungsgleiche Hauptsacheentscheidung sein oder ein Vergleich, den die Beteiligten gerichtlich oder außergerichtlich geschlossen haben. Für den Fall, dass es sich bei der anderweitigen Regelung um eine Endentscheidung in einer Familienstreitsache handelt, tritt gem. § 56 Abs. 1 S. 2 FamFG die einstweilige Anordnung erst mit Eintritt der Rechtskraft dieser Endentscheidung außer Kraft1. Handelt es sich bei der Endentscheidung um eine Folgesache in einer Familienstreitsache, tritt die einstweilige Anordnung erst zu einem späteren Zeitpunkt außer Kraft, weil diese Entscheidungen nicht vor Rechtskraft des Scheidungsausspruchs wirksam werden (§§ 148, 56 Abs. 1 S. 2, 2. Halbs. FamFG) Der BGH2 hatte für Unterhaltssachen bereits entschieden, dass erst mit Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung die einstweilige Anordnung außer Kraft tritt. Dies wurde nun für alle Familienstreitsachen übernommen. 289
§ 56 Abs. 2 FamFG zählt für Antragsverfahren noch weitere Fälle auf, die die einstweilige Anordnung außer Kraft setzen, nämlich dann, wenn – der Antrag in der Hauptsache zurückgenommen wird (Nr. 1), – der Antrag in der Hauptsache rechtskräftig abgewiesen ist (Nr. 2), – die Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt wird (Nr. 3) oder – die Erledigung der Hauptsache anderweitig eingetreten ist (Nr. 4). Auch hier kommt ein gerichtlicher oder außergerichtlicher Vergleich in Betracht.
290
Das Außerkrafttreten ist auf Antrag von dem Gericht auszusprechen, das in der einstweiligen Anordnungssache im ersten Rechtszug zuletzt entschieden hat (§ 56 Abs. 3 S. 1 FamFG). Die Entscheidung ergeht durch Beschluss, gegen den die Beschwerde stattfindet (§ 56 Abs. 3 FamFG). Die Beschwerdefrist dürfte nach § 63 Abs. 1 FamFG zu bestimmen sein, weil sich die Beschwerde gem. § 56 Abs. 3 FamFG nicht gegen die einstweilige Anordnung als solche richtet, so dass das Rechtsmittel nicht binnen zwei Wochen (§ 63 Abs. 2 FamFG), sondern binnen eines Monats seit schriftlicher Bekanntgabe einzulegen ist3.
1 BT-Drucks. 16/6308, 202. 2 BGH v. 27.10.1999 – XII ZR 239/97, FamRZ 2000, 751. 3 Schürmann, FamRB 2008, 375 (382).
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Verfahrensrecht
Rn. 293
Kap. 12
g) Vollstreckbarkeit einstweiliger Anordnungen Die einstweilige Anordnung bedarf grundsätzlich keiner Vollstreckungs- 291 klausel. Diese ist nur erforderlich, wenn die Vollstreckung für oder gegen eine nicht in dem Beschluss bezeichnete Person erfolgen soll (§ 53 Abs. 1 FamFG). Soweit es nach den Vorschriften des FamFG (§§ 86 f.) jedoch ohnehin keiner Vollstreckungsklausel bedarf, ist diese auch für den Fall der Vollstreckung gegen eine im Beschluss nicht bezeichnete Person nicht erforderlich1. Die Vorschrift soll in Anlehnung an § 929 Abs. 1 ZPO die Klauselpflicht lediglich einschränken, nicht aber erweitern2. Eine Besonderheit gilt gem. § 53 Abs. 2 FamFG, wonach in Gewaltschutzsachen sowie in sonstigen Fällen, in denen hierfür ein besonderes Bedürfnis besteht, angeordnet werden kann, dass die Vollstreckung der einstweiligen Anordnung vor Zustellung an den Verpflichteten zulässig ist. In diesem Fall wird die einstweilige Anordnung bereits mit Erlass wirksam. Diese Vorverlagerung der Wirksamkeit des Beschlusses tritt im Unterschied zu dem früheren § 64b Abs. 3 S. 4 FGG nicht nur im Fall des Erlasses der einstweiligen Anordnung ohne mündliche Verhandlung ein, sondern in jedem Fall einer Anordnung nach § 53 Abs. 1 FamFG3.
292
h) Kosten der einstweiligen Anordnung Aufgrund der Selbständigkeit des Verfahrens muss die Entscheidung über 293 die einstweilige Anordnung grundsätzlich mit einer Kostenentscheidung ergehen (§§ 51 Abs. 4, 82 FamFG), und zwar auch dann, wenn der Beschluss ohne mündliche Verhandlung erlassen wurde. Für die Kostenentscheidung gelten die diesbezüglichen allgemeinen Vorschriften (§§ 81 f. FamFG). Wegen der Selbständigkeit des einstweiligen Anordnungsverfahrens und der grundsätzlich zu treffenden Kostenentscheidung besteht auch in einstweiligen Anordnungsverfahren die Möglichkeit, Kostenfestsetzung oder Kostenausgleich zu beantragen.
1 BT-Drucks. 16/6308, 201. 2 BT-Drucks. 16/6308, 201. 3 BT-Drucks. 16/6308, 201.
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Kap. 12 Rn. 294 294
Verfahrensrecht
Überblick über das einstweilige Anordnungsverfahren Einleitung von Amts wegen
Beschluss
in Verfahren von Amts wegen, § 54 Abs. 1 Satz 1 FamFG
auf Anregung gem. § 24 FamFG
auf Antrag eines Beteiligten (§ 7 FamFG)
Einleitung des Hauptsacheverfahrens
oder
Einleitung auf Antrag
Beschluss
in Verfahren auf Antrag, § 54 Abs. 1 Sätze 2 und 3, Abs. 2 FamFG
Anordnung an Antragsteller: Einleitung der Hauptsache (§ 52 Abs. 2 Satz 1 FamFG)
oder Anordnung: Antrag auf Verfahrenskostenhilfe (§ 52 Abs. 2 Satz 1 FamFG)
mit Fristsetzung maximal drei Monate (§ 52 Abs. 2 Satz 2 FamFG)
Nach Fristablauf: Aufhebung der einstweiligen Anordnung
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Verfahrensrecht
Rn. 298
Kap. 12
i) Spezialregelungen für einstweilige Anordnungen aa) In Familienstreitsachen In Familienstreitsachen nach § 112 FamFG sind grundsätzlich die all- 295 gemeinen Vorschriften über die einstweilige Anordnung gem. §§ 49. ff. FamFG anzuwenden (§ 119 Abs. 1 S. 1 FamFG). Die einstweilige Anordnung ist daher auch in Familienstreitsachen statthaft. Darüber hinaus gelten Besonderheiten für die in § 112 Nr. 2 und 3 FamFG genannten Familienstreitsachen, dh. für die Güterrechtssachen nach § 261 Abs. 1 FamFG, Lebenspartnerschaftssachen nach § 269 Abs. 1 Nr. 10 FamFG sowie die sonstigen Familiensachen nach § 266 Abs. 1 FamFG und die Lebenspartnerschaftssachen nach § 269 Abs. 2 FamFG. Für diese Verfahren hat der Gesetzgeber ausdrücklich § 945 ZPO für anwendbar erklärt (§ 119 Abs. 1 S. 2 FamFG). Erweist sich somit die einstweilige Anordnung gem. § 945 ZPO als von Anfang ungerechtfertigt oder wird sie gem. § 926 Abs. 2 ZPO oder § 942 Abs. 3 ZPO aufgehoben, besteht eine Schadensersatzpflicht der Partei, die die Anordnung erwirkt hat.
Û
Wichtig: Diese Schadensersatzpflicht ist bei einer einstweiligen Anordnung in Unterhaltssachen ausgeschlossen, da § 119 Abs. 1 S. 2 FamFG die Unterhaltssachen von der Anwendbarkeit des § 945 ZPO ausdrücklich ausgenommen hat. Bereits nach alter Rechtslage war in Unterhaltssachen ein entsprechender Schadensersatzanspruch in einstweiligen Anordnungsverfahren nach §§ 644, 620 f. ZPO nicht vorgesehen und die Anwendbarkeit des § 945 ZPO auch von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abgelehnt1.
Einstweilige Anordnungen können zB in Güterrechtssachen Sicherungs- 296 oder Regelungsverfügungen (§ 49 Abs. 2 S. 1 FamFG) oder beispielsweise Verfügungsverbote gem. § 1365 Abs. 1 BGB enthalten. In den sonstigen Familiensachen nach § 266 Abs. 1 FamFG können ebenfalls Sicherungsoder Regelungsverfügungen im Wege der einstweiligen Anordnung in Betracht kommen. Die einstweiligen Anordnungen in Unterhaltssachen sind auf eine Leistungsverfügung gerichtet, so dass für diese einstweiligen Anordnungsverfahren die Sonderregeln der §§ 246, 247 FamFG gelten, vgl. dazu Rn. 301 ff.
297
bb) In Kindschaftssachen Für einstweilige Anordnungen in Kindschaftssachen ist neben den Vor- 298 schriften der §§ 49 ff. FamFG die Sonderregelung in § 157 Abs. 3 FamFG
1 BT-Drucks. 16/6308, 226; BGH v. 27.10.1999 – XII ZR 239/97, FamRZ 2000, 751.
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Kap. 12 Rn. 299
Verfahrensrecht
zu beachten. Danach ist das Gericht in den Kindschaftssachen wegen Kindeswohlgefährdung nach §§ 1666, 1666a BGB verpflichtet, unverzüglich den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu prüfen. Diese Regelung betrifft sämtliche Verfahren, die wegen einer Kindeswohlgefährdung eingeleitet werden können, zB auch Verfahren, die auf eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB gerichtet sind1. 299
Hinzuweisen ist ferner auf § 156 Abs. 3 FamFG, wonach in Kindschaftssachen, die den Aufenthalt des Kindes, das Umgangsrecht oder die Kindesherausgabe betreffen, das Gericht gehalten ist, mit den Beteiligten und dem Jugendamt den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erörtern, wenn in diesen Verfahren im Termin zur mündlichen Verhandlung keine einvernehmliche Regelung erzielt werden kann. In Umgangsrechtsverfahren soll das Gericht den Umgang durch einstweilige Anordnung regeln, wenn es die Teilnahme der Beteiligten an einer Beratung oder eine schriftliche Begutachtung angeordnet hat (§ 156 Abs. 3 S. 2 FamFG). Auf diese Weise soll eine Entfremdung zwischen dem Umgangsberechtigten und dem Kind durch die Verzögerung, die durch die Anordnung eintritt, vermieden werden. Mit der einstweiligen Anordnung soll verhindert werden, dass unvermeidliche Verfahrensverzögerungen für das Kindeswohl abträgliche Situationen herbeiführen oder sogar „vollendete Tatsachen“ schaffen2. cc) In Gewaltschutzsachen
300
Für Gewaltschutzsachen enthält § 214 Abs. 1 FamFG eine spezielle Regelung. Auf Antrag kann das Gericht vorläufige Regelungen gem. §§ 1 oder 2 GewSchG treffen. Konkretisiert wird in § 214 Abs. 1 S. 2 FamFG der Begriff des dringenden Bedürfnisses, das für den Erlass einer einstweiligen Anordnung in FG-Familiensachen grundsätzlich vorausgesetzt wird (§ 49 Abs. 1 FamFG). Ein solches liegt idR dann vor, wenn eine Tat nach § 1 GewSchG begangen wurde oder aufgrund konkreter Umstände mit einer Begehung zu rechnen ist. Mit dieser Konkretisierung soll klargestellt werden, dass in den Fällen des § 1 GewSchG, der die Anordnung von Schutzmaßnahmen ermöglicht, idR ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden anzunehmen ist3. Zugleich hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen, ob aufgrund einer glaubhaft gemachten Gefahrenlage von einer mündlichen Verhandlung vor Erlass des Beschlusses abzusehen ist4. Die Glaubhaftmachung richtet sich nach § 294 ZPO und erfolgt idR durch eidesstattliche Versicherung. Wird in Gewaltschutzsachen dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung ohne mündliche Erörterung stattgegeben, gilt der Antrag zugleich auch
1 2 3 4
BT-Drucks. 16/6308, 238. BT-Drucks. 16/6308, 237. BT-Drucks. 16/6308, 252. BT-Drucks. 16/6308, 252.
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Verfahrensrecht
Rn. 303
Kap. 12
als Auftrag zur Zustellung durch den Gerichtsvollzieher unter Vermittlung der Geschäftsstelle und als Auftrag zur Vollstreckung (§ 214 Abs. 2 FamFG).
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Wichtig: In den einstweiligen Anordnungsverfahren nach dem GewSchG ist darauf zu achten, dass zusätzlich zu dem verfahrenseinleitenden Antrag auch beantragt wird anzuordnen, dass die Zustellung nicht vor der Vollstreckung erfolgen soll. Diese Regelung entspricht dem bisherigen § 64b Abs. 3 S. 6 FGG. Mit dieser Anordnung wird erreicht, dass Bekanntmachung und Vollstreckung des Beschlusses zeitgleich erfolgen können.
dd) In Unterhaltssachen Der Regelungsbereich einstweiliger Anordnungen in Unterhaltssachen 301 erfasst nach der Definition des § 231 Abs. 1 FamFG – den Verwandtenunterhalt nach §§ 1601 ff. BGB, dh. insbesondere die Unterhaltsansprüche minderjähriger und volljähriger Kinder, aber auch Unterhaltsansprüche der Eltern gegen ihre Kinder, – die Unterhaltsansprüche zwischen Ehegatten, wobei es unerheblich ist, ob es sich um Trennungsunterhalt (§ 1361 BGB) oder Nachscheidungsunterhalt (§§ 1569 ff. BGB) handelt, und – Unterhaltsansprüche der nichtehelichen Mutter bzw. des nichtehelichen Vaters (§§ 1615l, 1615m BGB).
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Wichtig: In Unterhaltssachen i.S.d. § 231 Abs. 2 FamFG, also den Verfahren nach dem BKGG und dem EStG, richtet sich das Verfahren der einstweiligen Anordnung ausschließlich nach §§ 49 f. FamFG. Die Verfahren sind zwar Unterhaltssachen, nicht jedoch Familienstreitsachen, so dass § 119 FamFG nicht anwendbar ist.
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung in Unterhaltssachen gem. § 49 FamFG werden durch die Sondervorschriften der §§ 246 bis 248 FamFG modifiziert. Diese Modifizierung war notwendig, weil § 49 FamFG keine auf Leistung gerichtete Anordnung ermöglicht und deshalb in § 246 Abs. 1 FamFG die Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung geschaffen wurde, die eine Verpflichtung zur Zahlung von Unterhalt anordnet.
302
Nach § 246 Abs. 1, letzter Halbs. FamFG kann darüber hinaus die Verpflichtung zur Zahlung eines Kostenvorschusses (§ 1360a Abs. 4 i.V.m. § 1361 Abs. 4 S. 4 BGB) durch einstweilige Anordnung geregelt werden, was nach altem Recht in unterschiedlichen Vorschriften (§§ 620 Nr. 10, 621 f., 127a ZPO) geregelt war. Der Kostenvorschussanspruch ist unter-
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Kap. 12 Rn. 304
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haltsrechtlicher Natur und setzt sowohl die Bedürftigkeit des Anspruchstellers als auch die Leistungsfähigkeit des Pflichtigen voraus; darüber hinaus darf die beabsichtigte Rechtsverfolgung, für die der Kostenvorschuss begehrt wird, nicht mutwillig sein und muss nach dem Maßstab des § 114 ZPO hinreichende Aussicht auf Erfolg bieten1. 304
Auch eine einstweilige Anordnung in Unterhaltssachen setzt ein Regelungsbedürfnis voraus. In Unterhaltssachen ist im Gegensatz zu den FG-Familiensachen jedoch kein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden erforderlich2. Ein Regelungsbedürfnis besteht, wenn der geforderte Unterhalt nicht oder unpünktlich gezahlt wird oder bisher freiwillige Zahlungen eingestellt werden. Ein Regelungsbedürfnis besteht regelmäßig dann nicht, wenn der Unterhaltsschuldner nicht zuvor zur Zahlung aufgefordert wurde oder der geforderte Unterhalt laufend entrichtet wird3. Ein Regelungsbedürfnis liegt auch nicht vor, wenn Unterhalt für die Vergangenheit verlangt wird; rückständiger Unterhalt kann nur in einem Hauptsacheverfahren gerichtlich geltend gemacht werden.
305
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung muss auf Zahlung einer Geldrente gerichtet sein, ein Anspruch auf Auskunft oder auf Feststellung wird von § 246 FamFG nicht erfasst. Grundsätzlich kann der volle geschuldete laufende Unterhalt ab Eingang des Antrags und ohne zeitliche Begrenzung tituliert werden4. Bei gesetzlichem Forderungsübergang (§ 33 Abs. 1 SGB II, § 94 Abs. 1 S. 1 SGB VII, § 7 Abs. 1 UVG) wegen der Inanspruchnahme von Sozialleistungen muss der Antragsteller die Zahlung des künftigen Unterhalts an sich selbst und in Höhe der bereits erhaltenen Leistungen an den Sozialleistungsträger beantragen5. Unterschiedlich wird die Frage beurteilt, ob eine einstweilige Anordnung in einer Unterhaltssache, die während der Trennungszeit erwirkt wurde, auch über den Zeitpunkt der Rechtskraft der Scheidung hinaus fortgilt, wenn keine andere Regelung wirksam wird6. Folgt man der Auffassung, dass die einstweilige Anordnung über die Scheidung hinaus fortgilt, sollte in einem anhängigen Anordnungsverfahren der Versuch unternommen werden, für den Fall des Erlasses eine zeitliche Befristung anzuregen oder eine entsprechende vergleichsweise Regelung zu treffen.
306
Eine besondere Vorschrift enthält § 247 FamFG über einstweilige Anordnungen vor Geburt eines Kindes. Danach kann im Wege der einstweili1 BGH v. 7.2.2001 – XII ZB 2/01, FamRZ 2001, 1363 = FamRB 2002, 13. 2 BT-Drucks. 16/6308, 259. 3 Zöller/Lorenz, § 246 FamFG Rn. 3; Prütting/Helms/Bömelburg, § 246 FamFG Rn. 42; Schürmann, FamRB 2008, 375. 4 BT-Drucks. 16/6308, 259; Zöller/Lorenz, § 246 FamFG Rn. 10. 5 BGH v. 2.4.2008 – XII ZB 266/03, FamRZ 2008, 1159 = FamRB 2008, 206; Zöller/ Lorenz, § 246 FamFG Rn. 10. 6 So Zöller/Lorenz, § 246 FamFG Rn. 37; BT-Drucks. 16/6308, 202; Prütting/ Helms/Bömelburg, § 246 FamFG Rn. 84; aA Johannsen/Henrich/Büte, § 56 FamFG Rn. 3; Rahm/Künkel/Niepmann, I 12 C Rn. 124.
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Rn. 309
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gen Anordnung die Verpflichtung zur Zahlung des für die ersten drei Monate dem Kind zu gewährenden Unterhalts sowie des der Mutter nach § 1615l Abs. 1 BGB zustehenden Betrags geregelt werden. Die Vorschrift entspricht dem verfahrensrechtlichen Gehalt der Regelungen des früheren § 1615o BGB1. Der Antrag auf Zahlung des Kindesunterhalts für das ungeborene Kind kann auch durch die Mutter gestellt werden (§ 247 Abs. 2 S. 1 FamFG), wodurch die Bestellung eines Pflegers für diesen Zeitraum entbehrlich ist2. § 1600d Abs. 2 und 3 BGB gelten entsprechend (§ 247 Abs. 2 S. 2 FamFG). In den Fällen des Abs. 1 kann auch angeordnet werden, dass der Betrag zu einem bestimmten Zeitpunkt vor der Geburt des Kindes zu hinterlegen ist (§ 247 Abs. 2 S. 3 FamFG). Eine zusätzliche Zulässigkeitsvoraussetzung für eine einstweilige Anordnung bei Feststellung der Vaterschaft enthält § 248 FamFG. Steht nicht bereits aufgrund anderer Vorschriften (§§ 1592 Nr. 1 und 2 oder 1593 BGB) die Vaterschaft des im einstweiligen Anordnungsverfahren in Anspruch genommenen Mannes fest, ist der einstweilige Anordnungsantrag nur zulässig, wenn ein Verfahren auf Vaterschaftsfeststellung gem. § 1600d BGB anhängig ist3.
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307
Wichtig: Das einstweilige Anordnungsverfahren bleibt selbständig, es ist auch in diesem Fall nicht Teil des Verfahrens auf Feststellung der Vaterschaft4.
Die sachliche und örtliche Zuständigkeit für einstweilige Anordnungen 308 bei Feststellung der Vaterschaft richtet sich nach § 248 Abs. 2 FamFG. Zuständig ist das Gericht, bei dem das Vaterschaftsfeststellungsverfahren im ersten Rechtszug anhängig ist; während der Anhängigkeit beim Beschwerdegericht ist dieses zuständig. § 248 Abs. 3 FamFG ordnet die entsprechende Geltung von § 1600d Abs. 2 und 3 BGB an. Dies ist erforderlich, da die Vaterschaftsvermutung ausdrücklich nur im Verfahren auf gerichtliche Feststellung der Vaterschaft, also im Abstammungsverfahren, anwendbar ist5. Hierzu gehört im Unterschied zu der alten Rechtslage das einstweilige Anordnungsverfahren über den Unterhalt nicht. Die Vorschrift ist erforderlich, um den bisherigen sachgerechten Rechtszustand in der Unterhaltssache aufrechtzuerhalten6. Das Gericht hat auch die Möglichkeit, eine Sicherheitsleistung in Höhe eines bestimmten Betrags anzuordnen (§ 248 Abs. 4 FamFG). Das Außerkrafttreten einer einstweiligen Anordnung gem. § 56 FamFG wird durch § 248 Abs. 5 S. 1 FamFG ergänzt. Danach tritt die einstweilige 1 2 3 4 5 6
BT-Drucks. 16/6308, 260. BT-Drucks. 16/6308, 260. BT-Drucks. 16/6308, 260. BT-Drucks. 16/6308, 260. BT-Drucks. 16/6308, 260. BT-Drucks. 16/6308, 260.
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Kap. 12 Rn. 310
Verfahrensrecht
Anordnung auch dann außer Kraft, wenn der Antrag auf Feststellung der Vaterschaft zurückgenommen oder rechtskräftig zurückgewiesen worden ist. Für diese Fälle bestimmt § 248 Abs. 5 S. 2 FamFG eine Schadensersatzpflicht desjenigen, der die einstweilige Anordnung erwirkt hat. j) Abwehr der einstweiligen Anordnung durch negativen Feststellungsantrag 310
Da einstweilige Anordnungen grundsätzlich erst mit Wirksamwerden einer anderweitigen Regelung außer Kraft treten, stellt sich die Frage, ob und welche Verteidigungsmöglichkeiten dem Antragsgegner zustehen, wenn die Abänderungsmöglichkeiten und ordentlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft sind und das zwischenzeitlich auf seinen Antrag hin eingeleitete Hauptsacheverfahren noch nicht rechtskräftig entschieden ist. Insbesondere in Unterhaltssachen ist diese Frage von erheblicher Bedeutung. Der Unterhaltsschuldner, der weiterhin die Herabsetzung oder den Wegfall der einstweiligen Anordnung anstrebt, hatte nach altem Recht die Möglichkeit, negative Feststellungsklage (§ 256 ZPO) zu erheben, wenn eine einstweilige Anordnung gem. § 620 ZPO während der Anhängigkeit der Ehesache erlassen wurde. Handelte es sich um eine einstweilige Anordnung nach § 644 ZPO, fehlte es für eine negative Feststellungsklage am Rechtsschutzbedürfnis und es musste Rückforderungsklage erhoben werden. Die Gefahr der einstweiligen Anordnung besteht darin, dass der Unterhaltsschuldner selbst bei Obsiegen in der Hauptsache die im Wege der einstweiligen Anordnung gezahlten oder im Wege der Vollstreckung beigetriebenen Unterhaltsbeträge nicht mehr zurückfordern kann, weil dem idR gegebenen Bereicherungsanspruch gem. § 812 BGB der Einwand der Entreicherung gem. § 818 Abs. 3 BGB entgegengehalten werden kann.
311
Dieses Problem besteht seit Inkrafttreten des FamFG fort, weil § 241 FamFG nicht für Erstverfahren, sondern nur für Abänderungsverfahren gilt, vgl. Rn. 314. Insoweit stellt sich zunächst die Frage des Verhältnisses zwischen dem negativen Feststellungsantrag und dem Erzwingungsverfahren gem. § 52 FamFG (Einleitung des Hauptsacheverfahrens). Beispiel: Der Antragsgegner ist antragsgemäß im Wege der einstweiligen Anordnung zur Zahlung von Ehegattenunterhalt in Höhe von 800 Euro verpflichtet worden. Auf seinen Antrag hin hat das Gericht die Einleitung des Hauptsacheverfahrens durch die Antragstellerin angeordnet, das Hauptsacheverfahren ist bereits rechtshängig, jedoch noch lange nicht entscheidungsreif. Die Antragstellerin verfolgt ihren Unterhaltsanspruch in Höhe von 800 Euro weiter, während der Antragsgegner Zurückweisung des Antrags beantragt hat.
312
Der Unterhaltsschuldner kann verfahrensrechtlich im Hauptsacheverfahren seinen Antrag auf Abweisung mit einem Hilfsantrag auf Rückforderung des überzahlten Unterhalts, der in diesem Antrag genau zu beziffern ist, verbinden. Ein negativer Feststellungsantrag gem. § 256 ZPO i.V.m.
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Verfahrensrecht
Rn. 314
Kap. 12
§ 113 Abs. 1 FamFG ist mangels Rechtsschutzbedürfnisses nicht zulässig, weil das Hauptsacheverfahren in Gestalt des positiven Leistungsantrags der Unterhaltsgläubigerin vom Gegenstand her deckungsgleich mit dem negativen Feststellungsantrag ist1. Abwandlung des Beispiels: Sachverhalt wie oben, mit der Besonderheit, dass das Erzwingungsverfahren gem. § 52 FamFG bisher nicht eingeleitet wurde.
Der Unterhaltsschuldner ist nicht gezwungen, die Einleitung des Haupt- 313 sacheverfahrens zu betreiben, sondern kann sofort negativen Feststellungsantrag stellen. Die Möglichkeit der Einleitung des Hauptsacheverfahrens gem. § 52 FamFG lässt das Rechtsschutzbedürfnis für einen negativen Feststellungsantrag oder einen Aufhebungs- oder Abänderungsantrag gem. § 54 FamFG nicht entfallen. Das Verhältnis zwischen einem negativen Feststellungsantrag und den Rechtsbehelfen gem. §§ 52, 54 FamFG ist allerdings umstritten2. Im Hinblick darauf, dass bis zur Rechtshängigkeit des Erzwingungsverfahrens gem. § 52 Abs. 2 FamFG regelmäßig ein längerer Zeitraum vergehen wird und der Unterhaltsgläubiger den Eintritt der Rechtshängigkeit auch erheblich verzögern kann, ist das Rechtsschutzbedürfnis für einen negativen Feststellungsantrag wegen schutzwürdiger Interessen des Unterhaltsschuldners zu bejahen.
Û
Praxistipp: Den negativen Feststellungsantrag sollte der Unterhaltspflichtige mit einem Rückforderungsantrag verbinden, da umstritten ist, ob die verschärfte Haftung gem. § 241 FamFG in den Abänderungsverfahren gem. §§ 238 bis 240 FamFG analog auf den negativen Feststellungsantrag angewandt werden kann3.
Zwar kann in Unterhaltsabänderungsverfahren gem. §§ 238 bis 240 314 FamFG nunmehr gem. § 241 FamFG mit der Rechtshängigkeit eines auf Herabsetzung gerichteten Abänderungsantrags die verschärfte Haftung nach § 818 Abs. 4 BGB herbeigeführt werden. Die Vorschrift ist jedoch nach ihrem Wortlaut nur auf die auf Abänderung gerichteten Hauptsacheverfahren anwendbar, nicht auf das nunmehr als selbständiges Verfahren ausgerichtete einstweilige Anordnungsverfahren. Wird ein Abänderungsantrag gem. § 54 FamFG gestellt, ist aus den Gründen des Schuldnerschutzes eine analoge Anwendung auch für den Abänderungs-
1 OLG Köln v. 7.6.2000 – 14 WF 75/99, FamRZ 2001, 106 mwN. 2 So wie hier Prütting/Helms/Bömelburg, § 246 FamFG Rn. 76; Keidel/Giers, § 246 FamFG Rn. 8; Johannsen/Henrich/Maier, vor §§ 246 bis 248 FamFG Rn. 9; Musielak/Borth, § 246 FamFG Rn. 16; Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 439; Schulte-Bunert/Weinreich/Schwonberg, § 246 FamFG Rn. 18; aA Thomas/Putzo/ Hüßtege, § 246 FamFG Rn. 9; Götz, NJW 2010, 897; FA-FamR/Gerhardt, Kap. 6 Rn. 896; MüKo.ZPO/Soyka, § 56 FamFG Rn. 2. 3 Musielak/Borth, § 241 FamFG Rn. 4; Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 444.
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Kap. 12 Rn. 315
Verfahrensrecht
antrag nach § 54 FamFG zu befürworten1. Derzeit bleibt es deshalb bei der Notwendigkeit, entweder im Hauptsacheverfahren hilfsweise die Rückforderung zu beantragen oder einen negativen Feststellungs- bzw. Rückforderungsantrag zu stellen, falls kein Hauptsacheverfahren anhängig ist. Das einstweilige Anordnungsverfahren ist zwar ein selbständiges Verfahren, die Vorschriften über die Abänderung von Unterhaltstiteln gem. §§ 238 ff. gelten jedoch nur für Endentscheidungen in Hauptsacheverfahren.
Û
Praxistipp: Werden aufgrund einer einstweiligen Anordnung die titulierten Unterhaltszahlungen beigetrieben und ist in der Hauptsache terminiert worden, ist bei der Antragstellung für den Unterhaltsgläubiger aus kostenrechtlicher Sicht zu beachten, ob der Antrag in der Hauptsache ganz oder teilweise für erledigt erklärt werden muss, dies setzt aber voraus, dass die Zahlungen mit Erfüllungswirkung i.S.d. § 362 BGB erbracht wurden. Ist dies nicht der Fall und gibt der Unterhaltsschuldner im Termin auch keine entsprechende Erklärung ab, ist in der Hauptsache der Antrag ohne Berücksichtigung der bisher geleisteten Beträge zu stellen.
315
Mit Rechtskraft des negativen Feststellungsbeschlusses tritt die einstweilige Anordnung im Umfang der Entscheidung über den negativen Feststellungsantrag außer Kraft2.
Û
Wichtig: Im Feststellungsverfahren sollte in jedem Fall ein Antrag auf vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung analog §§ 709, 717 ZPO gestellt werden.
316
Eine einstweilige Anordnung kann auch mit einem Vollstreckungsabwehrantrag gem. § 767 ZPO angegriffen werden, wenn dessen Voraussetzungen vorliegen, zB wenn rechtshemmende oder rechtsvernichtende Einwendungen erhoben werden können3. Die einstweilige Anordnung als solche wird damit jedoch nicht beseitigt, sondern nur die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung aus dem Titel, so dass der Vollstreckungsabwehrantrag parallel zu einem Abänderungsverfahren nach § 54 FamFG zulässig ist4.
1 Prütting/Helms/Bömelburg, § 241 FamFG Rn. 12; Johannsen/Henrich/Büte, § 54 FamFG Rn. 15; Zöller/Lorenz, § 241 FamFG Rn. 4; Schulte-Bunert/Weinreich/ Klein, § 241 FamFG Rn. 4; aA Thomas/Putzo/Hüßtege, § 241 FamFG Rn. 1. 2 Zöller/Philippi, 27. Aufl. 2009, § 620 f. ZPO Rn. 13. 3 Prütting/Helms/Bömelburg, § 246 FamFG Rn. 79; Johannsen/Henrich/Maier, vor § 246 FamFG Rn. 10. 4 Prütting/Helms/Bömelburg, § 246 FamFG Rn. 79; aA FA-FamR/Gerhardt, Kap. 6 Rn. 893.
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Verfahrensrecht
Rn. 322
Kap. 12
3. Einstweilige Verfügung und Arrest Einstweilige Verfügungen gem. § 935 ZPO sind im Anwendungsbereich 317 des FamFG ausgeschlossen, da das FamFG an keiner Stelle auf die Vorschriften der §§ 935 ff. ZPO verweist1. In Familienstreitsachen ist jedoch das Arrestverfahren (§§ 916 ff. ZPO) zulässig (§ 119 Abs. 2 S. 1 FamFG). Der Arrest dient der Sicherung der Vollstreckung in das bewegliche oder unbewegliche Vermögen des Schuldners wegen einer Geldforderung oder eines Anspruchs, der in eine Geldforderung übergehen kann (§ 916 Abs. 1 ZPO). In Unterhaltssachen besteht darüber hinaus die Möglichkeit, auch zukünftige Unterhaltsansprüche durch Arrest zu sichern, da es nur darauf ankommt, ob die Ansprüche einklagbar sind (§ 258 ZPO)2.
318
Der Unterhaltsanspruch eines minderjährigen Kindes kann durch dinglichen Arrest den voraussichtlichen Unterhaltsanspruch für die Zeit bis zum Eintritt der Volljährigkeit umfassen3. Die Dauer der Sicherung eines nachehelichen Unterhaltsanspruchs kommt auf den Einzelfall an, idR kann ein Zeitraum von drei bis fünf Jahren gesichert werden4.
319
Der Arrest setzt die Glaubhaftmachung eines Arrestanspruchs und -grundes voraus (§ 920 Abs. 2 ZPO). Ein Arrest kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht, so zB bei Vermögensverschiebungen oder Vermögensverschleuderungen oder wenn sich der Schuldner ins Ausland absetzen will. Eine schlechte Vermögenslage des Schuldners oder die drohende Konkurrenz anderer Gläubiger5 ist für sich allein kein Arrestgrund, weil der Arrest nur gegen unlautere Beeinträchtigungen und Machenschaften des Schuldners schützen soll6. Die Dauer der Sicherung durch Arrest richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls7.
320
Ist eine Ehesache anhängig, ist für den Arrest das Gericht der Ehesache 321 örtlich ausschließlich zuständig. Wahlweise kann der Arrest jedoch auch bei dem Familiengericht der mit Arrest zu belegenden Sache oder, wenn ein persönlicher Arrest erwirkt werden soll, bei dem Aufenthaltsort des Arrestschuldners beantragt werden (§§ 919, 943 Abs. 1 ZPO). Eine erhebliche Rolle spielt die Sicherung durch dinglichen Arrest für 322 den Zugewinnausgleich. Die Zugewinnausgleichsforderung entsteht mit 1 2 3 4
BT-Drucks. 16/6308, 226. Prütting/Helms/Helms, § 119 FamFG Rn. 6. KG v. 27.3.1985 – 18 UF 6755/84, FamRZ 1985, 731. OLG Düsseldorf v. 23.6.1980 – 6 UF 64/80, FamRZ 1981, 45 f.; Schulte-Bunert/ Weinreich/Schwonberg, § 119 FamFG Rn. 10; Prütting/Helms/Helms, § 119 FamFG Rn. 6. 5 BGH v. 19.10.1995 – IX ZR 82/94, NJW 1996, 321 (324). 6 BGH v. 19.10.1995 – IX ZR 82/94, NJW 1996, 321 (324). 7 OLG Hamm v. 20.6.1995 – 3 UF 51/95, FamRZ 1995, 1427 (Ehegattenunterhalt für fünf Jahre).
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Kap. 12 Rn. 323
Verfahrensrecht
Beendigung des Güterstandes (§ 1378 Abs. 3 BGB) und ist ab diesem Zeitpunkt, wenn Arrestanspruch und -grund gegeben sind, durch Arrest sicherbar. Auch die künftige Zugewinnausgleichsforderung kann nach h.M. ab Rechtshängigkeit eines auf Auflösung der Ehe gerichteten Verfahrens oder eines Antrags auf vorzeitigen Zugewinnausgleich1 (§ 1385 BGB) durch Arrest gesichert werden2, nachdem § 1389 BGB mit Wirkung zum 1.9.2009 aufgehoben wurde. Arrestgrund für den Anspruch auf Zugewinnausgleich kann eine konkret drohende Vermögensverschiebung sein3. 323
Zuständig ist das Gericht der Hauptsache i.S.d. §§ 919, 943 Abs. 1 ZPO, also das Familiengericht, bei dem das Ehescheidungsverfahren oder das Verfahren auf vorzeitigen Zugewinnausgleich gem. § 1385 BGB rechtshängig ist, oder wahlweise das Amtsgericht der mit Arrest zu belegenden Sache oder der Aufenthaltsort des Arrestschuldners, wenn ein persönlicher Arrest erwirkt werden soll4. Musterformulierung für einen dinglichen Arrest: … beantragen wir, wegen der Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden: Zur Sicherung der Zwangsvollstreckung wegen der Zugewinnausgleichsforderung der Antragstellerin in Höhe von … Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz sowie einer Kostenpauschale von … Euro wird der dingliche Arrest in das bewegliche und unbewegliche Vermögen des Antragsgegners angeordnet. Für den Fall, dass der Beschluss erlassen wird, beantragen wir: In Vollziehung des Arrestes ist im Grundbuch des Antragsgegners auf seinem Grundstück in …, eingetragen im Grundbuch von …, Blatt …, AG …, eine Sicherungshypothek, und zwar bis zu einem Höchstbetrag von … Euro, für die Antragstellerin einzutragen.
1 BT-Drucks. 635/08, 37. 2 OLG München v. 30.5.2006 – 12 UF 1118/06, FamRZ 2007, 1101; OLG Karlsruhe v. 29.8.2006 – 5 UF 173/06, FamRZ 2007, 408 (409); OLG Hamburg v. 9.10.2001 – 2 UF 61/01, FamRZ 2003, 238 = FamRB 2002, 353; OLG Hamm v. 22.4.1996 – 5 WF 89/96, FamRZ 1997, 181; OLG Celle v. 8.9.1993 – 21 UF 118/93, FamRZ 1996, 1429; OLG Düsseldorf v. 18.6.1993 – 3 UF 189/92, FamRZ 1994, 114; Prütting/Helms/Helms, § 119 FamFG Rn. 7; Zöller/Vollkommer, § 916 ZPO Rn. 8; aA OLG Karlsruhe v. 17.7.2006 – 18 WF 140/06, FamRZ 2007, 410 = FamRB 2007, 322; OLG Koblenz v. 12.11.1997 – 13 WF 1157/97, FamRZ 1999, 97; OLG Stuttgart v. 15.3.1995 – 17 WF 103/95, FamRZ 1995, 1427. 3 OLG Brandenburg v. 29.9.2008 – 13 UF 68/08, FamRZ 2009, 446 = FamRB 2009, 33; OLG Düsseldorf v. 18.6.1993 – 3 UF 192/92, FamRZ 1994, 114; Prütting/ Helms/Helms, § 119 FamFG Rn. 7. 4 OLG Düsseldorf v. 29.9.2005 – II-4 UF 143/05, FamRZ 2006, 286 (287).
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Verfahrensrecht
Rn. 328
Kap. 12
Das Arrestgericht ist befugt, das Grundbuchamt um die Eintragung der 324 Arresthypothek zu ersuchen (§ 941 ZPO). Der Antrag ist zweckmäßig, da damit Verzögerungen der Vollziehung vermieden werden können. Durch den Eingang des Ersuchens um Eintragung des Arrestgerichts bei dem Grundbuchamt wird die Vollziehungsfrist gewahrt (§§ 929, 932 Abs. 3 ZPO), allerdings wird mit dem Ersuchen des Arrestgerichts die Frist gem. § 929 Abs. 3 S. 2 ZPO in Lauf gesetzt, so dass die vorherige Vollziehung nur wirksam bleibt, wenn nicht innerhalb einer Woche nach Eingang des Ersuchens und vor Ablauf der Frist des § 929 Abs. 2 ZPO die Zustellung durch den Gläubiger erfolgt1. 4. Isolierte Hauptsacheverfahren a) In Kindschaftssachen Kindschaftssachen gem. § 151 FamFG sind reine FG-Familiensachen. In 325 Verfahren vor dem Familiengericht gilt der Amtsermittlungsgrundsatz, anwendbar sind alle Vorschriften des Allgemeinen Teils des FamFG, die durch die besonderen Vorschriften für Kindschaftssachen in den §§ 151 bis 168a FamFG ergänzt werden. In allen Verfahren in Kindschaftssachen hat sich das Gericht am Kindeswohl zu orientieren, dieser Grundsatz leitet sich bereits aus dem materiellen Recht (§ 1697a BGB) ab. Unter welchen Voraussetzungen ein Verfahren im ersten Rechtszug ein- 326 geleitet werden kann, bestimmt sich nach den §§ 23, 24 FamFG, dh. entweder erfolgt die Einleitung durch einen Antrag eines Beteiligten oder von Amts wegen (§§ 1666, 1666a, 1696 BGB). Das Amtsverfahren wird eingeleitet, wenn dem Gericht Tatsachen bekannt geworden sind, die das Einschreiten von Amts wegen erfordern können. Kenntnis von einer Kindeswohlgefährdung kann das Familiengericht auf 327 unterschiedliche Weise erlangen. So kann zB in einem Termin zur mündlichen Verhandlung in einem familiengerichtlichen Verfahren, ohne dass es sich um eine Kindschaftssache handeln muss, das Gericht von sich aus tätig werden, wenn das Verhalten der Eltern oder eines Elternteils befürchten lässt, dass das Kindeswohl gefährdet ist. In einem Sorgerechtsverfahren kann dies der Fall sein, wenn ersichtlich wird, dass der andere Elternteil Umgangskontakte, die bisher nicht Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens waren, mit dem Kind verweigert. Wegen der Voraussetzungen für den Erlass einstweiliger Anordnungen in Kindschaftssachen vgl. Rn. 298. Die häufigsten Fälle in der Praxis sind die auf Antrag eingeleiteten Kind- 328 schaftsverfahren betreffend die elterliche Sorge (§§ 1671, 1672 BGB) und das Umgangsrecht (§ 1684 BGB). Der Ablauf des Verfahrens bestimmt sich nach dem Allgemeinen Teil des FamFG; auf die dortigen Ausführungen unter Rn. 138 wird verwiesen. Daneben gelten ergänzende Regelungen. 1 Zöller/Vollkommer, § 941 ZPO Rn. 2.
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Kap. 12 Rn. 329
Verfahrensrecht
329
An erster Stelle steht in Kindschaftssachen betreffend den Aufenthalt, das Umgangsrecht, die Kindesherausgabe oder Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung das Vorrang- und Beschleunigungsgebot (§ 155 Abs. 1 FamFG). Die Kindschaftssachen sind vorrangig und beschleunigt durchzuführen, in sorge- und umgangsrechtlichen Verfahren soll eine Verkürzung der Verfahrensdauer im Interesse des Kindeswohls bewirkt werden. Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot gilt in jeder Lage des Verfahrens1. Es darf jedoch nicht schematisch gehandhabt werden. Im Einzelfall kann – jedenfalls in einem Hauptsacheverfahren – auch ein Zuwarten mit einem Verfahrensabschluss oder ein zeitaufwendiger zusätzlicher Verfahrensschritt erforderlich oder sinnvoll sein2. IdR hat die bevorzugte Erledigung dieser Kindschaftssachen aber auf Kosten anderer anhängiger Sachen zu erfolgen3.
330
Besondere Bedeutung hat § 155 FamFG insbesondere für Umgangsrechtsverfahren, da gerade dort ein besonderes Bedürfnis für eine zeitnahe Entscheidung über einen Antrag zur Regelung des Umgangs nach Trennung der Eltern besteht und in vielen Fällen nur eine sofortige Regelung die Gefahr einer dem Kindeswohl abträglichen Unterbrechung von Umgangskontakten zwischen dem Kind und dem nicht betreuenden Elternteil vermeidet4. Der Grundsatz des Kindeswohls prägt und begrenzt zugleich das Beschleunigungsgebot5.
331
In den Verfahren des § 155 Abs. 1 FamFG ist die Sache mit den Beteiligten in einem Termin mündlich zu erörtern, um eine einvernehmliche Konfliktlösung zu fördern (§ 155 Abs. 2 S. 1 FamFG). Dieser Termin soll spätestens einen Monat nach Beginn des Verfahrens stattfinden. Das Verfahren hat begonnen, wenn ein Antrag eingereicht oder eine Anregung eingegangen ist, aber auch dann, wenn lediglich ein Antrag auf Verfahrenskostenhilfe für ein beabsichtigtes Verfahren eingegangen ist.
Û
Wichtig: Fragen der Bedürftigkeit des Antragstellers sind wegen des Beschleunigungsgebots ggf. erst im Termin zu klären6.
332
Die zeitliche Vorgabe für eine Terminierung spätestens einen Monat nach Beginn des Verfahrens darf nur in Ausnahmefällen überschritten werden. Das Vorliegen eines Ausnahmefalls ist jeweils im Einzelfall zu prüfen, im Zweifel zugunsten des Beschleunigungsgebots7. Nach der Begründung des RegE8 soll eine spätere Terminierung ausnahmsweise zu1 2 3 4 5 6 7 8
BT-Drucks. 16/6308, 235. BT-Drucks. 16/6308, 236. BT-Drucks. 16/6308, 235. BT-Drucks. 16/6308, 235. BT-Drucks. 16/6308, 236. BT-Drucks. 16/6308, 236. BT-Drucks. 16/6308, 236. BT-Drucks. 16/6308, 236.
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Verfahrensrecht
Rn. 334
Kap. 12
lässig sein, wenn zB eine öffentliche Zustellung der Antragsschrift geboten ist, keine Vertretung für den erkrankten Richter besteht oder der Hauptsache bereits ein Verfahren auf einstweilige Anordnung in derselben Sache mit mündlicher Verhandlung unmittelbar vorausgegangen ist1. Mit dem frühen Termin soll insbesondere in der ersten Zeit nach der Trennung eine Eskalierung des Elternkonflikts vermieden werden. Das Familiengericht soll so schnell wie möglich versuchen, die Eltern im persönlichen Gespräch wieder auf den Weg zur Übernahme gemeinsamer Verantwortung zu bringen2. Das Gericht ist verpflichtet, das Jugendamt in diesem Termin anzuhören 333 (§ 155 Abs. 2 S. 3 FamFG). Dies setzt allerdings voraus, dass das Jugendamt organisatorische Vorkehrungen, zB durch entsprechende Vertretungsregelungen, trifft, die es möglich machen, dass ein Sachbearbeiter am Termin teilnehmen kann; darüber hinaus ist zur Vermeidung von Terminskollisionen eine enge Kooperation zwischen Familiengericht und Jugendamt notwendig3. Nach alter Rechtslage erfolgte eine Terminierung im Hauptsacheverfahren meist erst nach mehreren Monaten, um dem Jugendamt ausreichend Zeit zu geben, Gespräche mit den Eltern zu führen und sodann eine schriftliche Stellungnahme zu fertigen, die als Entscheidungshilfe für das Gericht gedacht war. Eine Terminierung innerhalb eines Monats seit Beginn des Verfahrens bedeutet, dass notwendige Einzelgespräche oder gemeinsame Gespräche mit den Beteiligten unter erheblichem Zeitdruck geführt werden müssen und der mündliche Bericht im Termin letztlich nur einen ersten Eindruck des Jugendamts vermitteln kann. ME ist die bloße mündliche Berichterstattung in einem Hauptsacheverfahren mit dem Ziel der Beschleunigung nicht ohne weiteres mit dem Grundsatz des Kindeswohls zu vereinbaren. Die beteiligten Eltern werden sich sehr viel stärker benachteiligt und auch übervorteilt fühlen. Im Übrigen wird man sich darauf einstellen müssen, dass die Termine noch wesentlich mehr Zeit in Anspruch nehmen werden, als dies bisher schon der Fall ist. § 155 Abs. 2 S. 4 FamFG regelt ergänzend zu § 32 Abs. 1 S. 2 FamFG, dass eine Verlegung des Termins nur aus zwingenden Gründen zulässig ist. Nach dem RegE4 werden als zwingende Gründe nur solche Gründe angesehen, die eine Teilnahme am Termin tatsächlich unmöglich machen, wie zB eine Erkrankung.
Û
Wichtig: Das Vorliegen einer Terminskollision für einen Beteiligtenvertreter in einem anderen Verfahren, sofern es sich nicht ebenfalls um ein Verfahren über die elterliche Sorge, das Umgangsrecht, die Heraus-
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BT-Drucks. 16/6308, 236. BT-Drucks. 16/6308, 236. BT-Drucks. 16/6308, 236. BT-Drucks. 16/6308, 236.
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334
Kap. 12 Rn. 335
Verfahrensrecht
gabe des Kindes oder ein Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls handelt, ist kein Verlegungsgrund. Vielmehr wird verlangt, in der anderen Sache einen Verlegungsantrag zu stellen, dem das Gericht wegen des Vorrangs der Kindschaftssache dann auch stattzugeben habe1. Der Verlegungsgrund ist stets glaubhaft zu machen. Dies gilt auch bei einer Terminskollision des Bevollmächtigten wegen einer anderen Kindschaftssache, wobei auch dargelegt werden sollte, weshalb eine Vertretung durch einen anderen Verfahrensbevollmächtigten nicht zumutbar ist. Nach den Erfahrungen der Autorin bemühen sich die Gerichte erfreulicherweise häufig darum, den frühen ersten Termin mit den Verfahrensbevollmächtigten abzustimmen. 335
Zum Termin soll das Gericht das persönliche Erscheinen der verfahrensfähigen (vgl. Rn. 128) Beteiligten anordnen (§ 155 Abs. 3 FamFG). Auch soll das Gericht in jeder Lage des Verfahrens auf ein Einvernehmen der Beteiligten hinwirken, wenn dies dem Kindeswohl nicht widerspricht (§ 156 Abs. 1 S. 1 und 2 FamFG). Die Vorschrift entspricht im Wesentlichen dem bisherigen § 52 Abs. 1 S. 1 und 2 FGG. Sie ist als Soll-Vorschrift ausgestaltet, weil insbesondere in Fällen häuslicher Gewalt ein Hinwirken auf ein Einvernehmen nicht in Betracht kommt2. Die Beteiligten sind auf Möglichkeiten der Beratung durch die Beratungsstellen und Dienste der Träger der Kinder- und Jugendhilfe hinzuweisen sowie in geeigneten Fällen auch auf die Möglichkeit der Mediation oder der sonstigen außergerichtlichen Streitbeilegung (§ 156 Abs. 1 S. 2 und 3 FamFG). Ua. soll § 156 Abs. 1 S. 3 FamFG durch das geplante Mediationsgesetz (BT-Drucks. 17/5335) dahingehend erweitert werden, dass das Gericht die Anordnung treffen kann, dass die Eltern einzeln oder gemeinsam an einem kostenfreien Informationsgespräch über Mediation oder über eine sonstige Möglichkeit der außergerichtlichen Konfliktbeilegung bei einer von dem Gericht benannten Person oder Stelle teilnehmen und eine Bestätigung hierüber vorlegen.
336
Das Familiengericht kann die Eltern zur Teilnahme an einer Beratung verpflichten (§ 156 Abs. 1 S. 4 FamFG). Dem Jugendamt soll vor Erlass dieser Anordnung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben3 und in der Anordnung soll festgelegt werden, bei welcher Beratungsstelle und binnen welcher Frist die Eltern sich beraten sollen. Die Verpflichtung zur Beratung darf aber nicht zu einer Verzögerung des Verfahrens führen4, sie wird aber mE zwangsläufig zu einer längeren Verfahrensdauer führen. Die Anordnung ist nicht selbständig anfechtbar und auch mit Zwangsmitteln nicht durchsetzbar5. Wenn ein Elternteil die Teilnahme an einer angeordneten Beratung endgültig verweigert oder verzögert, hat das Ge1 2 3 4 5
BT-Drucks. 16/6308, 236. BT-Drucks. 16/6308, 236. BT-Drucks. 16/6308, 237. BT-Drucks. 16/6308, 237. BT-Drucks. 16/6308, 237.
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Verfahrensrecht
Rn. 338
Kap. 12
richt die Sache mit den Beteiligten und dem Jugendamt kurzfristig erneut zu erörtern1.
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Wichtig: Die Anordnung ist zwar grundsätzlich sanktionslos, die Weigerung, an der Beratung teilzunehmen, kann jedoch Auswirkungen auf die Kostenpflicht haben, da das Gericht gem. § 81 Abs. 2 Nr. 5 FamFG einem Beteiligten die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise auferlegen kann, wenn er der richterlichen Anordnung gem. § 156 Abs. 1 S. 4 FamFG nicht nachgekommen ist, sofern dies nicht genügend entschuldigt wurde.
In Umgangsverfahren können die Beteiligten mit Billigung des Gerichts 337 einen Vergleich schließen, der in § 156 Abs. 2 S. 1 FamFG ausdrücklich als gerichtlich gebilligter Vergleich definiert ist. Die Umgangsregelung ist zu billigen, wenn sie dem Kindeswohl nicht widerspricht2. Der gerichtlich gebilligte Vergleich hat den Vorteil, dass er ebenso wie eine richterliche Entscheidung einen Vollstreckungstitel darstellt und die Durchsetzung der Umgangsregelung mit Zwangsmitteln ermöglicht. Die Vollstreckung setzt jedoch eine hinreichend bestimmte und konkrete Regelung mit genauer und erschöpfender Bestimmung über Art, Ort und Zeit des Umgangs voraus3.
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Praxistipp: Der gerichtlich gebilligte Vergleich muss gem. § 89 Abs. 2 FamFG mit einem Warnhinweis auf die Folgen einer Zuwiderhandlung versehen werden, da die Vollstreckung die Belehrung zwingend voraussetzt4. Es ist daher darauf zu achten, dass der Warnhinweis in den Vergleich aufgenommen wird; eine Nachholung ist allerdings möglich5. Dies ist grundsätzlich auch möglich, wenn der Vollstreckungstitel vor dem 1.9.2009 entstanden ist6.
Ein Vergleich der Eltern über die elterliche Sorge setzt keine Billigung des Familiengerichts voraus, dieses kann jedoch eine anderweitige Regelung treffen, wenn die Vereinbarung der Eltern über die elterliche Sorge das Kindeswohl gefährdet (§§ 1671 Abs. 3, 1666, 1666a BGB, § 157 FamFG).
1 2 3 4 5
BT-Drucks. 16/6308, 237. BT-Drucks. 16/6308, 237. BGH v. 1.2.2012 – XII ZB 188/11, FamRZ 2012, 533. BGH v. 17.8.2011 – XII ZB 621/10, FamRZ 2011, 1729 = FamRB 2011, 339. BGH v. 17.8.2011 – XII ZB 621/10, FamRZ 2011, 1729 = FamRB 2011, 339; OLG Hamm v. 13.4.2010 – 13 WF 55/10, FamRZ 2010, 1838; OLG Stuttgart v. 17.3.2010 – 16 WF 41/10, FamRZ 2010, 1594. 6 BGH v. 17.8.2011 – XII ZB 621/10, FamRZ 2011, 1729 = FamRB 2011, 339; OLG Hamm v. 13.4.2010 – 13 WF 55/10, FamRZ 2010, 1838; OLG Stuttgart v. 17.3.2010 – 16 WF 41/10, FamRZ 2010, 1594; OLG Karlsruhe v. 19.2.2010 – 5 WF 28/10, FamRZ 2010, 1103.
Kühner
1439
338
Kap. 12 Rn. 339
Û
Verfahrensrecht
Wichtig: Die Regelung erstreckt sich auf alle formell am Verfahren Beteiligten, so dass es auch einer Zustimmung des verfahrensfähigen Kindes (§ 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG) bedarf. Ein Kind, das das 14. Lebensjahr vollendet hat, kann somit einen Abschluss des Verfahrens durch Vergleich verhindern1. Kann in den Kindschaftssachen betreffend den Aufenthalt, Umgang oder Kindesherausgabe keine einvernehmliche Regelung erreicht werden, muss das Familiengericht mit den Beteiligten und dem Jugendamt den Erlass einer einstweiligen Anordnung erörtern (vgl. Rn. 299), § 156 Abs. 3 FamFG.
339
Besondere Bestimmungen enthält § 157 FamFG für Verfahren bei Kindeswohlgefährdung. Das Gericht soll mit den Eltern und in geeigneten Fällen auch mit dem Kind erörtern, wie insbesondere durch öffentliche Hilfen einer Gefährdung des Kindeswohls begegnet werden und welche Folgen die Nichtannahme notwendiger Hilfe haben kann. Zu dem Termin ist das Jugendamt zu laden, ferner ist das persönliche Erscheinen der Eltern anzuordnen. Die persönliche Anhörung dient in diesen Fällen der Erörterung der Kindeswohlgefährdung, während ansonsten die persönliche Anhörung in erster Linie der Feststellung des Sachverhalts und der Gewährung rechtlichen Gehörs dient2.
340
§ 157 Abs. 1 FamFG stellt nur auf eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls ab, die also noch nicht sicher feststehen muss. Die zwingende Anhörung der Eltern soll dazu dienen, sie stärker als bisher in die Pflicht zu nehmen und auf sie einzuwirken, Hilfen in Anspruch zu nehmen und mit dem Jugendamt zu kooperieren3. Eine Erörterung mit dem Kind hält der RegE in den Fällen für notwendig, wenn Drogensucht oder wiederholte Straffälligkeit des Kindes bzw. des Jugendlichen Anlass zu dem Verfahren gegeben haben4.
341
Im Übrigen hat das Gericht in Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung unverzüglich nach der Einleitung des Verfahrens den Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. Rn. 295 ff.) zu prüfen (§ 157 Abs. 3 FamFG). aa) Verfahrensbeistand
342
In Kindschaftssachen, die die Person des Kindes betreffen, also insbesondere in Verfahren betreffend die elterliche Sorge, den Umgang oder die Kindesherausgabe, sieht das Gesetz in bestimmten Fällen die Bestellung eines Verfahrensbeistands vor. Die Voraussetzungen für die Bestellung und die Aufgaben des Verfahrensbeistands regelt im Einzelnen § 158 FamFG. Die Vorschrift entspricht im Wesentlichen dem früheren § 50 1 2 3 4
Heiter, FamRZ 2009, 85 (89). BT-Drucks. 16/6308, 237. BT-Drucks. 16/6308, 237. BT-Drucks. 16/6308, 238.
1440
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 344
Kap. 12
FGG, ist aber wesentlich deutlicher gefasst. Der Verfahrensbeistand ist nicht gesetzlicher Vertreter des Kindes (§ 158 Abs. 4 S. 5 FamFG). Er handelt im eigenen Namen und hat nicht die Funktion, rechtliche Willenserklärungen für das Kind abzugeben oder entgegenzunehmen1. Zum Verfahrensbeistand soll nur bestimmt werden, wer persönlich und fachlich geeignet ist, das Interesse des Kindes festzustellen und sachgerecht in das Verfahren einzubringen. Das Gericht ist zur Bestellung eines Verfahrensbeistands verpflichtet, wenn dies zur Wahrnehmung der Interessen des Kindes erforderlich ist. § 158 Abs. 2 FamFG nennt folgende Regelbeispiele, in denen die Bestellung eines Verfahrensbeistands erforderlich ist:
343
– bei erheblichem Interessengegensatz zwischen dem Kind und seinen gesetzlichen Vertretern, – in Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung (§§ 1666, 1666a BGB), wenn die teilweise oder vollständige Entziehung der Personensorge in Betracht kommt, – wenn eine Trennung des Kindes von der Person erfolgen soll, in deren Obhut es sich befindet, – in Verfahren, die die Kindesherausgabe oder eine Verbleibensanordnung zum Gegenstand haben oder – wenn der Ausschluss oder eine wesentliche Beschränkung des Umgangsrechts (§ 1684 Abs. 4 S. 1 und 2 BGB) in Betracht kommt. Maßgeblich ist bei der Bestellung eines Verfahrensbeistands nicht auf den 343a Interessengegensatz der Eltern abzustellen, sondern darauf, ob die eigenständigen Interessen des Kindes gegenüber den Interessen der Eltern ungenügend wahrgenommen werden2. Soll trotz Vorliegens der Voraussetzungen eines Regelbeispiels von einer 344 Bestellung abgesehen werden, bedarf dies besonderer Gründe, die das Gericht im Einzelnen darzulegen hat. Dies kommt insbesondere bei Entscheidungen von geringer Tragweite, die sich auf die Rechtsposition der Beteiligten und auf die künftige Lebensgestaltung des Kindes nicht in erheblichem Umfang auswirken, in Betracht oder wenn alle beteiligten Personen und Stellen gleichgerichtete Verfahrensziele verfolgen3. Werden die Interessen des Kindes in anderer Weise im Verfahren ausreichend zur Geltung gebracht, zB bei der Vertretung durch einen Ergänzungspfleger, kann ebenfalls von der Bestellung eines Verfahrensbeistands abgesehen werden4.
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BT-Drucks. 16/6308, 240. OLG Düsseldorf v. 12.11.1999 – 6 WF 154/99, FamRZ 2000, 1298. BT-Drucks. 16/6308, 238. BT-Drucks. 16/6308, 238.
Kühner
1441
Kap. 12 Rn. 345
Verfahrensrecht
345
Darüber hinaus soll eine Bestellung unterbleiben oder kann aufgehoben werden, wenn die Interessen des Kindes von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten angemessen vertreten werden (§ 158 Abs. 5 FamFG). Die Vorschrift entspricht dem alten § 50 Abs. 3 FGG.
346
§ 158 Abs. 3 FamFG enthält Regelungen über den Zeitpunkt der Bestellung des Verfahrensbeistands, seine Stellung als formell Beteiligter mit dessen Rechten und Pflichten – mit Ausnahme der Verpflichtung zur Kostentragung (§ 158 Abs. 8 FamFG). Ferner wird klargestellt, dass die Entscheidung über die Bestellung oder Aufhebung der Bestellung eines Verfahrensbeistands sowie über die Ablehnung einer derartigen Maßnahme nicht selbständig anfechtbar ist (§ 158 Abs. 3 S. 4 FamFG).
Û
Wichtig: Die Einlegung eines Rechtsmittels gegen die Endentscheidung des Gerichts kann weiterhin auch damit begründet werden, dass das Gericht einen Verfahrensbeistand zu Unrecht bestellt oder abberufen oder dass es die Bestellung eines Verfahrensbeistands zu Unrecht unterlassen oder abgelehnt hat1.
347
Bestimmungen über Aufgaben und Rechtsstellung des Verfahrensbeistands enthält § 158 Abs. 4 FamFG. Er hat die Pflicht zur Information des Kindes über Gegenstand, Ablauf und möglichen Ausgang des Verfahrens. Er ist dem Interesse des Kindes verpflichtet und nicht allein dem von diesem geäußerten Willen2. Er ist befugt, Gespräche mit Eltern und sonstigen Bezugspersonen zu führen und am Zustandekommen einer einvernehmlichen Regelung mitzuwirken, er kann ferner im Interesse des Kindes Beschwerde einlegen (§ 158 Abs. 4 S. 5 FamFG). Voraussetzung ist jedoch, dass das Gericht entsprechende Anordnungen i.S.d. § 158 Abs. 4 S. 3 und 4 FamFG über den Wirkungskreis getroffen hat. Möglich sind nur Gespräche mit den Eltern, insbesondere um den Willen des Kindes erkennen und beurteilen zu können. Eine Mitwirkung am Zustandekommen einer einvernehmlichen Regelung ist nur zulässig, wenn dem Verfahrensbeistand diese Aufgabe übertragen wurde3.
Û
Praxistipp: Der Aufwendungsersatz und die Vergütung des nicht berufsmäßigen Verfahrensbeistands und die Fallpauschale sind gem. § 158 Abs. 7 S. 5 FamFG stets aus der Staatskasse zu zahlen4.
1 2 3 4
BT-Drucks. 16/6308, 239. BT-Drucks. 16/6308, 239. Prütting/Helms/Stößer, § 158 FamFG Rn. 22. Prütting/Helms/Stößer, § 158 FamFG Rn. 33.
1442
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 350
Kap. 12
bb) Persönliche Anhörung/Mitwirkung Dritter In Kindschaftssachen sind sowohl das Kind, das das 14. Lebensjahr voll- 348 endet hat, als auch die Eltern persönlich anzuhören (§§ 159, 160 FamFG). Kinder, die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sind nur anzuhören, wenn ihre Neigungen, Bindungen oder ihr Wille für die Entscheidung von Bedeutung sind oder wenn aus sonstigen Gründen, zB in vermögensrechtlichen Angelegenheiten, eine persönliche Anhörung angezeigt ist (§ 159 Abs. 2 FamFG). Insbesondere in Sorgerechts- und Umgangsrechtsstreitigkeiten spielen Bindungen und Wille des Kindes eine erhebliche Rolle, so dass idR die persönliche Anhörung durchzuführen ist. Ferner ist das Jugendamt anzuhören (§ 162 Abs. 1 S. 1 FamFG), und zwar in allen Kindschaftssachen, die das Kind betreffen und die nicht ausschließlich vermögensrechtlicher Art sind1. Mit der Anhörung wird das Jugendamt noch nicht Verfahrensbeteiligter, ihm steht vielmehr eine Wahlmöglichkeit zu, einen Antrag auf Beteiligung zu stellen (§ 162 Abs. 2 FamFG). In diesem Fall ist das Gericht zur Hinzuziehung verpflichtet (§ 7 Abs. 3 FamFG). Im Gegensatz dazu ist das Jugendamt, das in einem Antragsverfahren einen Sach- oder Verfahrensantrag stellt, schon deshalb Beteiligter (§ 7 Abs. 1 FamFG)2. § 162 Abs. 3 S. 2 FamFG enthält darüber hinaus die von § 59 FamFG un- 349 abhängige Beschwerdebefugnis des Jugendamts3. Das Gericht kann in Kindschaftssachen aufgrund des Amtsermittlungs- 350 grundsatzes selbst entscheiden, ob es die Anordnung einer schriftlichen Begutachtung durch einen Sachverständigen für notwendig erachtet. Wird eine solche Anordnung getroffen, ist dem Sachverständigen gem. § 163 Abs. 1 FamFG zugleich eine Frist für die Einreichung des Gutachtens zu setzen, da in Kindschaftssachen ein besonderes Bedürfnis für eine Verfahrensbeschleunigung besteht. Im früheren Recht war eine solche Frist zur Erstellung des Gutachtens nicht vorgesehen. Das Gutachten ist zu den im Beweisbeschluss bezeichneten Punkten zu erstellen, wobei das Gericht bei streitigem Sachverhalt bestimmen muss, welche Tatsachen der Begutachtung zugrunde zu legen sind (vgl. §§ 403, 404a Abs. 3 ZPO)4. Der Sachverständige kann auch damit beauftragt werden, die Eltern zur Erzielung eines Einvernehmens und zur Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortung bei der Regelung der elterlichen Sorge und des Umgangs zu bewegen (§ 163 Abs. 2 FamFG)5.
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Wichtig: Die Anordnung des Sachverständigengutachtens ist, da es sich um eine Zwischenentscheidung handelt, nicht selbständig anfechtbar.
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BT-Drucks. 16/6308, 241. BT-Drucks. 16/6308, 241. BT-Drucks. 16/6308, 241. BT-Drucks. 16/6308, 242. BT-Drucks. 16/6308, 242.
Kühner
1443
Kap. 12 Rn. 351
Verfahrensrecht
Liegt das Sachverständigengutachten vor, ist ggf. der Antrag zu stellen, den Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens zu laden. Ist dieser Antrag in erster Instanz versäumt worden, kann er in zweiter Instanz nicht nachgeholt werden. 351
Ergeht eine Endentscheidung des Familiengerichts, gegen die das Kind das Beschwerderecht ausüben kann, ist diese dem Kind selbst bekannt zu geben, wenn es das 14. Lebensjahr vollendet hat und nicht geschäftsunfähig ist (§ 164 Abs. 1 FamFG). Die Entscheidung ist gem. § 164 S. 2 FamFG zu begründen. Dies gilt nur dann nicht, wenn Nachteile für die Entwicklung, Erziehung oder Gesundheit des Kindes zu befürchten sind. § 38 Abs. 4 Nr. 2 FamFG findet wegen § 164 S. 2 FamFG keine Anwendung. cc) Vermittlungsverfahren in Umgangsrechtssachen
352
Wurde im gerichtlichen Verfahren entweder durch Beschluss oder durch gerichtlich gebilligten Vergleich (§ 156 Abs. 2 S. 1 FamFG) eine Regelung über den Umgang getroffen und wird die Durchführung der Entscheidung oder des Vergleichs vereitelt oder erschwert, kann ein Vermittlungsverfahren vor Gericht beantragt werden (§ 165 Abs. 1 FamFG). Die Vorschrift übernimmt und erweitert das Vermittlungsverfahren nach dem früheren § 52a FGG1. Die Vermittlung des Gerichts dient dem Kindeswohl. Nach Möglichkeit soll dem Kind eine Vollstreckung der Umgangsregelung mit Zwangsmitteln erspart werden2. Das Gericht kann das Vermittlungsverfahren ablehnen, wenn bereits ein vorangegangenes Vermittlungsverfahren oder eine anschließende außergerichtliche Beratung ohne Erfolg geblieben ist (§ 165 Abs. 1 S. 2 FamFG).
353
Wird das Vermittlungsverfahren eingeleitet, sind die Eltern unverzüglich zu einem Vermittlungstermin zu laden. Das persönliche Erscheinen ist anzuordnen, ferner ist auf die Rechtsfolgen eines erfolglosen Vermittlungsverfahrens hinzuweisen. Ggf. wird auch das Jugendamt zu dem Termin geladen. Mit den Eltern sind die Folgen des Unterbleibens des Umgangs für das Kindeswohl zu erörtern. Es ist darauf hinzuweisen, dass Ordnungsmittel verhängt oder die elterliche Sorge eingeschränkt oder entzogen werden können, wenn der Umgang vereitelt oder erschwert wird. Darüber hinaus ist auf die bestehende Möglichkeit der Beratung durch die Beratungsstellen und Dienste der Träger der Kinder- und Jugendhilfe hinzuweisen (§ 165 Abs. 3 FamFG).
354
Auch im Vermittlungsverfahren soll das Gericht auf eine einvernehmliche Regelung über die Ausübung des Umgangs hinwirken. Kann eine einvernehmliche Regelung nicht getroffen werden oder ist das Vermittlungsverfahren aus sonstigen Gründen erfolglos geblieben, ist das Gericht verpflichtet, zu prüfen, ob Ordnungsmittel ergriffen, Änderungen der 1 BT-Drucks. 16/6308, 242. 2 BT-Drucks. 16/6308, 242.
1444
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 358
Kap. 12
Umgangsregelung vorgenommen oder Maßnahmen in Bezug auf die elterliche Sorge ergriffen werden sollen (§ 165 Abs. 5 FamFG). dd) Abänderung und Überprüfung kinderschutzrechtlicher Maßnahmen Eine besondere Bestimmung über die Abänderung und Überprüfung von 355 Entscheidungen und gerichtlich gebilligten Vergleichen in Kindschaftssachen enthält § 166 FamFG. Die Vorschrift übernimmt den verfahrensrechtlichen Gehalt des § 1696 BGB (§ 166 Abs. 1 FamFG) und stellt für den Bereich der Kindschaftssachen eine Spezialvorschrift zu den allgemeinen Regelungen über die Abänderung gerichtlicher Entscheidungen und gerichtlich gebilligter Vergleiche dar. Sie betrifft jedoch nur die Abänderung von Entscheidungen in der Hauptsache1. § 166 Abs. 2 FamFG bestimmt, dass entsprechend dem alten § 1696 356 Abs. 3 BGB2 länger dauernde kinderschutzrechtliche Maßnahmen in angemessenen Zeitabständen überprüft werden müssen. Die Aufnahme der kinderschutzrechtlichen Maßnahmen, die in §§ 1666 bis 1667 BGB definiert sind, soll klarstellen, dass die Überprüfungspflicht des Gerichts für alle länger dauernden Maßnahmen besteht, bei denen die Eingriffsschwelle über die Kindeswohlgefährdung oder die Voraussetzung der Erforderlichkeit der Maßnahme für das Kindeswohl definiert ist3. Wurde die Anordnung einer Schutzmaßnahme gem. §§ 1666 bis 1667 357 BGB abgelehnt, ist das Gericht gem. § 166 Abs. 3 FamFG verpflichtet, in einem angemessenen Zeitabstand, der idR drei Monate beträgt, seine Entscheidung zu überprüfen. Damit kann der Gefahr vorgebeugt werden, dass die Eltern nicht mehr mit dem Jugendamt kooperieren und ihrem Kind damit notwendige Hilfen vorenthalten. Nehmen beispielsweise Eltern entgegen ihrer Zusage im Gerichtstermin Jugendhilfeleistungen nicht in Anspruch, soll das Gericht zeitnah weitergehende Maßnahmen prüfen4. b) In Abstammungssachen Verfahren in Abstammungssachen sind in §§ 169 ff. FamFG geregelt. Die 358 Abstammungssachen sind in § 169 FamFG definiert. Die Vorschrift entspricht § 640 Abs. 2 Nr. 1 und 2 aF ZPO. Einbezogen sind nun auch die früher von § 1600e Abs. 2 BGB5 erfassten Feststellungs- und Anfechtungsverfahren. Diese Verfahren zur Bestimmung bzw. Klärung der Vaterschaft sind reine FG-Familiensachen, die Vorschriften des Allgemeinen Teils des FamFG sind anwendbar, soweit in den besonderen Vorschriften 1 2 3 4 5
BT-Drucks. 16/6308, 242. Die Vorschrift wurde mit Inkrafttreten des FamFG aufgehoben. BT-Drucks. 16/6308, 242. BT-Drucks. 16/6308, 243. Die Vorschrift wurde mit Inkrafttreten des FamFG aufgehoben.
Kühner
1445
Kap. 12 Rn. 359
Verfahrensrecht
gem. §§ 169 ff. FamFG nichts Abweichendes bestimmt ist. Die Verfahren sind reine Antragsverfahren (§ 171 Abs. 1 FamFG). Wird der Antrag rechtzeitig bei Gericht eingereicht, wahrt er zugleich die Einhaltung der materiellrechtlichen Anfechtungsfrist nach § 1600b Abs. 1 BGB. Wird der Antrag bei einem unzuständigen Gericht eingereicht, wird die Frist erst mit Eingang bei dem zuständigen Gericht gewahrt. 359
Das Verfahren ist, anders als die Abstammungssachen nach altem Recht, die nach den Vorschriften der ZPO (§ 640f aF ZPO) zu führen waren, ohne formalen Gegner ausgestaltet. Es gibt lediglich den Antragsteller und die weiteren Beteiligten. Beteiligte sind nach § 172 Abs. 1 FamFG das Kind, die Mutter und der Vater. Auf schriftlichen Antrag eines Elternteils kann das Jugendamt Beistand des Kindes werden (§ 1712 BGB); ist eine Beistandschaft eingerichtet, ist die Vertretung durch den sorgeberechtigten Elternteil ausgeschlossen. Die elterliche Sorge als solche wird durch die Beistandschaft nicht eingeschränkt und das Jugendamt wird durch die Beistandschaft auch nicht zum Beteiligten des Verfahrens. Zum Beteiligten wird das Jugendamt allein nach den §§ 172 Abs. 2, 176 Abs. 1 FamFG1. Alle am Verfahren beteiligten Personen sind Beteiligte i.S.d. § 7 Abs. 2 Nr. 2 FamFG kraft Gesetzes, auf die Ausführungen unter Rn. 118 wird verwiesen.
360
Die inhaltlichen Anforderungen des Antrags regelt § 171 Abs. 2 FamFG. Danach sollen zumindest das Verfahrensziel und die betroffenen Personen bezeichnet werden. Die Vorschrift ist als Soll-Vorschrift ausgestaltet, so dass bei ungenügenden Angaben zunächst ein Hinweis des Gerichts erfolgen muss und der Antrag nicht sofort als unzulässig zurückgewiesen werden kann. Für Verfahren auf Anfechtung der Vaterschaft nach § 1600 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BGB sollen darüber hinaus auch die Umstände angegeben werden, die gegen eine Vaterschaft sprechen, also Umstände, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind, Zweifel an der Abstammung zu wecken und die Möglichkeit einer anderweitigen Abstammung des Kindes als nicht ganz fern liegend erscheinen lassen2. Um dem Gericht die Ermittlung der Einhaltung der Anfechtungsfrist nach § 1600b Abs. 1 BGB von Amts wegen zu ermöglichen, soll die Antragsbegründung auch den Zeitpunkt der Kenntniserlangung von den Umständen, die gegen die Vaterschaft sprechen, darlegen3. Die Feststellungslast für den Ablauf der Anfechtungsfrist richtet sich nach materiellem Recht (§ 1600b Abs. 1 BGB). Besondere Anforderungen, die an den Inhalt der Antragsschrift für behördliche Anfechtungsverfahren4 gem. § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB gestellt werden, regelt § 171 Abs. 2 S. 3 FamFG. 1 BT-Drucks. 16/6308, 245. 2 BT-Drucks. 16/6308, 244; BVerfG v. 13.2.2007 – 1 BvR 421/05, FamRZ 2007, 441 (446). 3 BT-Drucks. 16/6308, 244. 4 Die Erweiterung des Anfechtungsrechts durch die Behörde in den Fällen des § 1592 Nr. 2 BGB wurde durch das Gesetz zur Änderung des Rechts zur Anfechtung der Vaterschaft v. 13.3.2008, BGBl. I, S. 313, eingeführt.
1446
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 368
Kap. 12
Möglich ist auch in Abstammungsverfahren die Bestellung eines Verfahrensbeistands für das minderjährige Kind (§ 174 FamFG), soweit dies zur Wahrnehmung der Interessen des Kindes erforderlich ist. Insoweit gilt § 158 Abs. 2 Nr. 1 und 2 sowie Abs. 3 bis 7 FamFG entsprechend; auf die Ausführungen zu Rn. 342 ff. wird verwiesen.
361
In bestimmten Anfechtungsverfahren (§§ 1600 Abs. 1 Nr. 2, 5, 1600 Abs. 4 BGB im Falle der Anfechtung durch den gesetzlichen Vertreter) ist gem. § 176 FamFG das Jugendamt anzuhören.
362
In Vaterschaftsanfechtungsverfahren gilt eine eingeschränkte Amtsermittlung; auf den Umfang des Vorbringens kommt es daher grundsätzlich nicht an. Das Familiengericht darf jedoch Tatsachen, die von den beteiligten Personen nicht vorgebracht wurden, nur bei Zustimmung des Anfechtenden berücksichtigen oder wenn sie geeignet sind, dem Fortbestand der Vaterschaft zu dienen.
363
Û
Wichtig: In Verfahren über die Abstammung gilt der Grundsatz des Strengbeweises. Das Gericht muss stets eine förmliche Beweisaufnahme nach den Vorschriften der ZPO durchführen; der Freibeweis ist ausgeschlossen.
Die Regelung des § 178 FamFG über die Duldung von notwenigen Untersuchungen zur Feststellung der Abstammung und die Möglichkeiten zur zwangsweisen Untersuchung entspricht im Wesentlichen § 372a ZPO.
364
Die Endentscheidung in Abstammungssachen wird erst mit Rechtskraft 365 wirksam, eine Abänderung ist ausgeschlossen (§ 184 Abs. 1 FamFG). Gegen die Endentscheidung ist die Beschwerde zulässig (§ 61 FamFG), die auch demjenigen zusteht, der an dem Verfahren beteiligt war oder zu beteiligen gewesen wäre (§ 184 Abs. 3 FamFG). c) In Adoptionssachen Die Adoptionssachen (§ 186 FamFG) sind reine FG-Familiensachen, so 366 dass der Allgemeine Teil des FamFG uneingeschränkt Anwendung findet und von den besonderen Vorschriften über das Verfahren in Adoptionssachen gem. §§ 186 bis 199 FamFG ergänzt wird. Wer Beteiligter des Verfahrens ist oder auf Antrag hinzugezogen werden kann oder muss, regelt § 188 FamFG. Die Aufzählung ist nicht abschließend, im Einzelfall können unter den Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (vgl. Rn. 119) weitere Personen hinzuzuziehen sein1.
367
Auch in Adoptionssachen besteht die Möglichkeit, einem minderjährigen Beteiligten einen Verfahrensbeistand beizuordnen (§ 191 FamFG). Ist der
368
1 BT-Drucks. 16/6308, 247.
Kühner
1447
Kap. 12 Rn. 369
Verfahrensrecht
Anzunehmende oder Angenommene minderjährig, ist das Jugendamt anzuhören (§ 194 Abs. 1 S. 1 FamFG). Dies gilt nur dann nicht, wenn das Jugendamt bereits nach § 189 FamFG eine fachliche Äußerung abgegeben hat (§ 194 Abs. 1 S. 2 FamFG)1. 369
Zu beachten ist, dass nach § 199 FamFG die Vorschriften des Adoptionswirkungsgesetzes unberührt bleiben. Sie gehen als Spezialvorschriften denjenigen des FamFG vor. d) In Ehewohnungs- und Haushaltssachen
370
Die Ehewohnungs- und Haushaltssachen sind in § 200 FamFG definiert. Ehewohnungssachen sind Verfahren nach § 1361b BGB während der Trennungszeit und nach § 1568a BGB für die Zeit ab Rechtskraft der Scheidung. Haushaltssachen sind Verfahren gem. § 1361a BGB und § 1568b BGB. Die Vorschriften nach § 200 FamFG sind auch auf Wohnungszuweisung- und Haushaltssachen unter Lebenspartnern (§ 269 Abs. 1 Nr. 5 und 6 FamFG) entsprechend (§ 270 Abs. 1 S. 2 FamFG) anzuwenden. Soweit die §§ 200 bis 209 FamFG keine Sonderregelungen für Ehewohungs- und Haushaltssachen enthalten, gelten die Vorschriften des Allgemeinen Teils des FamFG.
371
In Haushaltssachen ist das Gericht an die Anträge der Beteiligten nicht gebunden, sondern kann die Haushaltssachen nach billigem Ermessen auch anderweitig verteilen2.
372
Für die Ehewohnungs- und Haushaltssachen besteht eine ausschließliche örtliche Zuständigkeit (§ 201 FamFG).
373
Für diese Verfahren gilt nach §§ 26, 29 FamFG der Amtsermittlungsgrundsatz, so dass das Familiengericht von Amts wegen die Rechtsverhältnisse an der Ehewohnung klären muss, ferner auch, in wessen Eigentum die zur Verteilung verfügbaren Gegenstände stehen3, notfalls durch richterliche Inaugenscheinnahme4. Die Aufklärung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts.
374
Das jeweilige Verfahren wird nur auf Antrag eines Ehegatten eingeleitet. Der Antrag setzt ein Regelungsinteresse voraus, das nicht besteht, wenn sich die Ehegatten bereits ganz oder teilweise über die Nutzung der Ehewohnung oder die Verteilung der Haushaltssachen geeinigt haben. Die inhaltlichen Anforderungen an die Antragsschrift regelt für Haushalts1 BT-Drucks. 16/6308, 248. 2 BGH v. 14.7.1955 – IV ZB 37/55, NJW 1955, 1355; Erman/Maier, 12. Aufl. 2008, § 1 HausratsVO Rn. 17. 3 OLG Bamberg v. 18.3.1996 – 7 UF 225/95, FamRZ 1996, 1293. 4 OLG Düsseldorf v. 29.10.2007 – II-7 UF 108/07, FF 2008, 169 (das Gericht hat auch festzustellen, in welchem Umfang eine Partei herausverlangte Gegenstände anlässlich eines gerichtlichen Ortstermins verborgen hat).
1448
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 378
Kap. 12
sachen § 203 Abs. 2 FamFG und für Ehewohnungssachen § 203 Abs. 3 FamFG. Die Beweiserhebung in Ehewohnungs- und Haushaltssachen erfolgt idR 375 im Wege des Freibeweises (§ 29 FamFG). Eine streitig gebliebene entscheidungserhebliche Tatsache nach Durchführung des Freibeweises ist allerdings durch Strengbeweis zu überprüfen (§ 30 Abs. 3 FamFG). Der Antrag in Ehewohnungssachen muss Angaben darüber enthalten, ob 376 Kinder im Haushalt der Ehegatten leben, um frühzeitig eine sachgerechte Beteiligung des Jugendamts zu gewährleisten1. Das Jugendamt ist für diesen Fall von dem Gericht anzuhören. Sie kann wegen Gefahr im Verzug unterbleiben, ist dann aber unverzüglich nachzuholen (§ 205 Abs. 1 FamFG).
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Wichtig: In Ehewohnungssachen ist, auch wenn das Gesetz keine besonderen Anforderungen an den Sachantrag auf Zuweisung oder Aufteilung der Ehewohnung stellt, dringend anzuraten, die Sachanträge auf Zuweisung oder Aufteilung der Ehewohnung exakt zu formulieren, anderenfalls hat die erwirkte Entscheidung möglicherweise keinen vollstreckungsfähigen Inhalt.
Musterformulierung für die Zuweisung der Ehewohnung: … beantragen wir, 1. der Antragstellerin die eheliche Wohnung Musterstraße 12, 1. OG links, bestehend aus drei Zimmern, Küche, Diele, Bad und Kellerraum in 59071 Hamm zur alleinigen Nutzung zuzuweisen, 2. dem Antragsgegner aufzugeben, die o.g. Wohnung bis zum … zu verlassen und 3. dem Antragsgegner zu untersagen, die oben genannte eheliche Wohnung zu betreten.
(Die Formulierung „die Wohnung zu räumen“ hätte die Konsequenz, dass der Antragsgegner auch tatsächlich die Ehewohnung ausräumen kann!) Die Vollstreckung richtet sich nach der ZPO, der Gerichtsvollzieher müsste in diesem Fall auch einen entsprechenden Vorschuss für die Räumung verlangen.
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Neben den unmittelbar Betroffenen sind ggf. weitere Beteiligte hinzuzuziehen (§ 204 Abs. 1 FamFG).
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1 BT-Drucks. 16/6308, 249.
Kühner
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Kap. 12 Rn. 379
Û
Verfahrensrecht
Wichtig: Diese Vorschrift ist nur auf Ehewohnungssachen anwendbar, die eine endgültige Regelung für die Zeit nach der Scheidung beinhalten, nicht aber auf Regelungen während der Trennungszeit. Als Beteiligte sind hinzuzuziehen der Vermieter der Wohnung, Grundstücks- oder Wohnungseigentümer oder Dritte, zB der Arbeitgeber, wenn es um die Zuweisung einer Werkswohnung geht, ferner Personen, mit denen die Ehegatten oder einer von ihnen hinsichtlich der Wohnung in Rechtsgemeinschaft stehen. Dies können nahe Angehörige oder zB Untermieter sein.
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Abgesehen von § 204 Abs. 2 FamFG kann sich eine Beteiligtenstellung (vgl. Rn. 115 ff.) darüber hinaus auch aus § 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG ergeben1, zB für Nießbraucher oder Erbbauberechtigte oder sonstige dinglich Berechtigte, die vom Wortlaut des § 204 FamFG nicht erfasst sind2.
380
In Haushaltssachen sind die inhaltlichen Anforderungen an die Antragsschrift in § 203 Abs. 2 FamFG geregelt. In dem verfahrenseinleitenden Antrag sollen die Gegenstände angegeben werden, deren Zuteilung begehrt wird, damit soll das Verfahrensziel präzisiert werden3. Die Vorschrift gilt sowohl für Verfahren während der Trennungszeit als auch für Zuteilungsanträge für die Zeit nach Rechtskraft der Scheidung. Für diese Verfahren soll aber zudem eine Aufstellung sämtlicher Haushaltsgegenstände beigefügt werden, die auch deren genaue Bezeichnung enthält (§ 203 Abs. 2 FamFG), da eine endgültige Verteilung für die Zeit nach der Scheidung voraussetzt, dass auch bekannt ist, welche Gegenstände insgesamt zum Haushalt gehört haben4. Diese Angabe ist auch dann notwendig, wenn die Beteiligten bereits einen Teil des Hausrats untereinander verteilt haben5. Eine genaue Bezeichnung der Gegenstände für die Verfahren der Haushaltsverteilung nach Scheidung ist insbesondere auch geboten, um spätere Probleme bei der Vollstreckung zu vermeiden.
381
Darüber hinaus wird die Mitwirkungspflicht der Beteiligten (§ 27 FamFG) in Haushaltssachen durch die Möglichkeit, beiden Ehegatten Auflagen zu erteilen, ergänzt (§ 206 FamFG), weil in Haushaltssachen eine Vielzahl streitiger Punkte (Eigentumslage, Verbleib der Gegenstände, Wert) zu klären ist und es daher sachgerecht ist, dass nicht allein das Gericht, sondern auch die Beteiligten für die Beibringung des Tatsachenstoffs verantwortlich sind6. Auf Anforderung sind die Gegenstände anzugeben, deren Zuteilung begehrt wird, ist eine Aufstellung sämtlicher genau bezeichneter Gegenstände vorzulegen oder eine bereits vorgelegte Aufstellung zu ergänzen, haben sich die Ehegatten über bestimmte Umstände zu erklä1 2 3 4 5 6
BT-Drucks. 16/6308, 250. Götz/Brudermüller, FPR 2009, 38 (40). BT-Drucks. 16/6308, 249. BT-Drucks. 16/6308, 249. BT-Drucks. 16/6308, 249. BT-Drucks. 16/6308, 250.
1450
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 384
Kap. 12
ren, eigene Angaben zu ergänzen, zum Vortrag eines anderen Beteiligten Stellung zu nehmen oder bestimmte Belege vorzulegen. Das Gericht kann den Beteiligten hierzu eine angemessene Frist setzen. Um die Mitwirkung sicherzustellen, wurde mit § 206 Abs. 2 FamFG eine 382 Präklusionsregelung geschaffen, die in Anlehnung an § 296 Abs. 1 ZPO ausgestaltet ist1. Wird die Auflage nicht fristgemäß erfüllt, können die nach Fristablauf vorgebrachten Umstände nur berücksichtigt werden, wenn sich dadurch nach Überzeugung des Gerichts das Verfahren nicht verzögert oder wenn die Verspätung genügend entschuldigt wird. Umstände i.S.d. § 206 Abs. 2 FamFG sind insbesondere der Vortrag und Beweisangebote für bestimmte Tatsachen2. Für den Fall, dass die Präklusionsregelung des Abs. 2 greift oder ein Ehegatte einer Auflage des Gerichts überhaupt nicht nachkommt, ist das Gericht zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts nicht verpflichtet, insoweit wird also der Amtsermittlungsgrundsatz weiter eingeschränkt. Die Präklusionswirkung kann nach ihrem Sinn und Zweck nur solche Umstände erfassen, die für den Beteiligten, gegen den sich die Auflage richtet, günstig sind3. Betrifft die Auflage hingegen für den Beteiligten nachteilige Umstände, ist die Amtsermittlungspflicht des Gerichts nicht eingeschränkt mit der Folge, dass zunächst geprüft werden müsste, ob die Auflage für den Beteiligten von Vorteil oder von Nachteil ist. Diese Regelung ist auch sinnvoll, weil ansonsten der Verstoß gegen die Mitwirkungspflichten sanktionslos bzw. wirkungslos bliebe. Das Gericht muss idR eine mündliche Verhandlung anberaumen, um die 383 Sache mit den Ehegatten zu erörtern (§ 207 S. 1 FamFG). Nur in Ausnahmefällen kann auf die mündliche Verhandlung verzichtet werden4. Das persönliche Erscheinen der Ehegatten ist anzuordnen (§ 207 S. 2 FamFG). Es kann bei unentschuldigtem Fernbleiben durch Ordnungsgeld oder ggf. die Vorführung zwangsweise durchgesetzt werden (§ 33 Abs. 3 FamFG). Die Beteiligten sind getrennt anzuhören, falls dies zu ihrem Schutz oder aus anderen Gründen erforderlich ist5 (§ 33 Abs. 1 S. 2 FamFG); dies wird in erster Linie in Gewaltfällen notwendig sein. Kann eine einvernehmliche Einigung nicht erzielt werden, ist im Be- 384 schlusswege zu entscheiden. Eine einvernehmliche Einigung kann auch im schriftlichen Verfahren durch Annahme eines Vergleichsvorschlags des Gerichts getroffen werden, da nach § 36 Abs. 3 FamFG § 278 Abs. 6 S. 1 ZPO entsprechend anwendbar ist. Die Endentscheidungen werden grundsätzlich erst mit Rechtskraft wirksam. In Ehewohnungssachen für
1 2 3 4
BT-Drucks. 16/6308, 250. BT-Drucks. 16/6308, 250. BT-Drucks. 16/6308, 250. BayObLG v. 31.10.1969 – BReg. 2 Z 12/69, FamRZ 1970, 36 (37); Erman/Maier, 12. Aufl. 2008, § 13 HausratsVO Rn. 3. 5 BT-Drucks. 16/9733, 289.
Kühner
1451
Kap. 12 Rn. 385
Verfahrensrecht
die Trennungszeit nach § 1361b BGB soll jedoch das Gericht die sofortige Wirksamkeit anordnen (§ 209 Abs. 2 S. 2 FamFG).
Û
Wichtig: Ist die sofortige Wirksamkeit angeordnet worden, kann das Gericht auch die Zulässigkeit der Vollstreckung vor der Zustellung an den Antragsgegner anordnen (§ 209 Abs. 3 S. 1 FamFG). Die Wirksamkeit tritt in diesem Fall in dem Zeitpunkt ein, in dem die Entscheidung der Geschäftsstelle des Gerichts zur Bekanntmachung übergeben wird (§ 209 Abs. 3 S. 2 FamFG). Vorsorglich sollte in Ehewohnungssachen und in Zuweisungsverfahren nach dem LPartG ein entsprechender Antrag gestellt werden, damit die Entscheidung sofort umgesetzt werden kann.
Musterformulierung: … beantragen wir, die sofortige Wirksamkeit und die Zulässigkeit der Vollstreckung vor der Zustellung an den Antragsgegner anzuordnen.
385
Mit der Endentscheidung soll das Gericht auch die Anordnungen treffen, die zu deren Durchführung erforderlich sind (§ 209 Abs. 1 FamFG). Die Vorschrift entspricht inhaltlich dem früheren § 15 HausratsVO. In Haushaltssachen ist zB eine Herausgabeanordnung zu treffen, in der alle Gegenstände, die herauszugeben sind, genau bezeichnet werden. Bei Entscheidungen über die Ehewohnung oder Wohnungszuweisung bei Lebenspartnerschaften ist eine Räumungsanordnung zu treffen1, ferner kann ein Betretungsverbot angeordnet werden2. Es ist zwar nicht notwendig, aber empfehlenswert, diesbezügliche Anträge in die Antragsschrift mit aufzunehmen. e) In Gewaltschutzsachen
386
Die Gewaltschutzsachen sind in § 210 FamFG definiert. Es handelt sich um die Verfahren nach §§ 1 und 2 GewSchG, wonach Schutzmaßnahmen oder die Überlassung der Wohnung angeordnet werden können. Der Anwendungsbereich umfasst nicht nur Ehegatten oder Lebenspartner i.S.d. LPartG, sondern auch nichteheliche Lebensgemeinschaften, Wohngemeinschaften oder Eltern-Kind-Verhältnisse mit volljährigen Kindern. Das Familiengericht kann insbesondere gem. § 1 Abs. 1 S. 3 GewSchG –
1 BGH v. 29.9.1993 – XII ZR 43/92, FamRZ 1994, 98 (101); Schwab/Motzer, Teil VIII Rn. 86. 2 OLG Köln v. 12.9.2002 – 14 WF 171/02, FamRZ 2003, 319 (320).
1452
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 390
Kap. 12
grundsätzlich zu befristende – Maßnahmen treffen oder anordnen, dass der Täter es unterlässt – die Wohnung der verletzten Person zu betreten, – sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung der verletzten Person aufzuhalten, – zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich die verletzte Person regelmäßig aufhält, – Verbindung zur verletzten Person, auch unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln, aufzunehmen, – Zusammentreffen mit der verletzten Person herbeizuführen, soweit dies nicht zur Wahrnehmung berechtigter Interessen erforderlich ist.
Û
Wichtig: Anordnungen nach § 1 GewSchG können zugunsten minderjähriger Kinder nicht getroffen werden, derartige Ge- oder Verbote sind in einem Verfahren auf Auschluss des Umgangsrechts geltend zu machen.
Die Abgrenzung von Gewaltschutzsachen insbesondere zu allgemeinen 387 zivilrechtlichen Ansprüchen und zu Ehewohnungssachen muss wie bisher durch Auslegung des Antrags erfolgen. Zur Verbindung von Gewaltschutzsachen mit anderen Verfahren, ggf. auch im Wege eines Hilfsantrags, gelten die allgemeinen Grundsätze (§ 210 FamFG)1. Im Unterschied zu der früheren Rechtslage ist nunmehr das Familiengericht für sämtliche Gewaltschutzsachen zuständig.
388
Das Gericht wird auf einen verfahrenseinleitenden Antrag hin tätig. Es 389 gilt der Amtsermittlungsgrundsatz, da Gewaltschutzsachen reine FG-Familiensachen sind. Der Antrag muss zwar im Falle des § 1 GewSchG die zu treffenden Maßnahmen nicht im Einzelnen bezeichnen, sie müssen jedoch im Beschluss konkretisiert sein2. Es ist deshalb unbedingt ratsam, in der Antragsschrift exakt zu formulieren, welche Anordnungen getroffen werden sollen. Die zur Begründung des Antrags angeführten Vorfälle sind detailliert nach Zeit, Ort, näheren Umständen und konkreten Folgen vorzutragen3, floskelhafte Angaben sind nicht ausreichend4. Die Feststellungslast für die rechtsbegründenden Tatsachen trifft den Antragsteller5. In dem Antrag gem. § 2 GewSchG sollte auch die Wohnung, deren Überlassung begehrt wird, genau bezeichnet werden (vgl. Rn. 376). 1 BT-Drucks. 16/6308, 251. 2 OLG Karlsruhe v. 19.9.2007 – 20 WF 104/07, FamRZ 2008, 291 (292) = FamRB 2008, 105. 3 Giers, FamRB 2003, 303 (305). 4 Giers, FamRB 2003, 303 (305). 5 Giers, FamRB 2003, 303 (305) mwN.
Kühner
1453
390
Kap. 12 Rn. 391
Û
Verfahrensrecht
Wichtig: Soll ein Antrag gem. § 2 GewSchG auf Überlassung einer gemeinsam genutzten Wohnung gestellt werden, ist zu bedenken, dass das Familiengericht die Überlassung der Wohnung regelmäßig für einen bestimmten Zeitraum befristen muss (§ 2 Abs. 2 GewSchG), während die Wohnungszuweisung nach § 1361b BGB für die Trennungszeit unbefristet erfolgt, so dass es sich bei Streitigkeiten unter Ehegatten empfiehlt, einen Antrag nach § 1361b BGB zu stellen.
391
Für Gewaltschutzsachen besteht eine ausschließliche örtliche Zuständigkeit nach Wahl des Antragstellers (§ 211 FamFG).
392
Gem. § 2 GewSchG ist das Jugendamt auf seinen Antrag als Beteiligter hinzuzuziehen (§ 212 FamFG). Darüber hinaus soll das Gericht in den Verfahren nach § 2 GewSchG das Jugendamt anhören, wenn Kinder in dem Haushalt leben. Die Anhörung ist unverzüglich nachzuholen, wenn sie allein wegen Gefahr im Verzug unterblieben ist (§ 213 Abs. 1 FamFG).
393
Es liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, ob ein Termin zur Erörterung bestimmt oder ob das schriftliche Verfahren gewählt wird (vgl. § 32 Abs. 1 FamFG). Ist Termin zur Erörterung anberaumt, können die Beteiligten getrennt anhört werden (§ 33 Abs. 1 FamFG). Während das Gericht in den meisten familiengerichtlichen Verfahren auf ein Einvernehmen der Beteiligten hinwirken soll, gilt dies in Gewaltschutzsachen nicht (vgl. Rn. 386 ff.). Eine vergleichsweise Einigung zwischen den Beteiligten ist zwar grundsätzlich möglich, in den meisten Fällen wird das Verfahren jedoch durch eine Entscheidung des Gerichts beendet.
394
In einer Endentscheidung in Verfahren nach § 2 GewSchG soll das Gericht zugleich die zur Durchführung der Entscheidung erforderlichen Anordnungen treffen. Hierzu wird auf die Ausführungen zu den Ehewohnungssachen unter Rn. 370 ff. verwiesen.
395
Die Wirksamkeit der Endentscheidung in Gewaltschutzsachen ist in § 216 Abs. 1 FamFG geregelt. Die Endentscheidung wird grundsätzlich erst mit Rechtskraft wirksam, das Gericht soll jedoch die sofortige Wirksamkeit anordnen und kann die Zulässigkeit der Vollstreckung vor Zustellung an den Antragsgegner anordnen (§ 216 Abs. 2 S. 1 FamFG), vgl. Rn. 384. f) In Versorgungsausgleichssachen
396
Für Versorgungsausgleichssachen (§ 1587 BGB i.V.m. VersAusglG), die reine FG-Familiensachen sind, sind besondere verfahrensrechtliche Regelungen in den §§ 217 bis 229 FamFG getroffen.
397
Das Verfahren über den öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleich (Wertausgleich bei der Scheidung, §§ 9 bis 19 VersAusglG) wird von Amts wegen eingeleitet; ist das Ehescheidungsverfahren rechtshängig, wird das 1454
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 400
Kap. 12
Verfahren von Amts wegen im Verbund geführt. In Ausnahmefällen ist für die Durchführung des öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleichs in Ehesachen mit Ausländerbeteiligung ein Antrag notwendig. Betrug die Ehezeit weniger als drei Jahre, setzt die Durchführung des Versorgungsausgleichs einen Antrag des Ehegatten voraus (§ 3 Abs. 3 VersAusglG). Wird der Antrag nicht gestellt, werden auch keine Feststellungen über erworbene Anrechte getroffen. Der schuldrechtliche (schuldrechtliche Auszahlungen, §§ 20 bis 22 Vers- 398 AusglG) und der verlängerte schuldrechtliche („Teilhabe an der Hinterbliebenenversorgung“, §§ 25, 26 VersAusglG) Versorgungsausgleich hingegen bedürfen ebenso wie die Verfahren auf Abänderung von Entscheidungen im Versorgungsausgleich eines verfahrenseinleitenden Antrags. In den Fällen der §§ 6 bis 19, 28 VersAusglG ist kein Antrag notwendig. Für das Verfahren gilt der Amtsermittlungsgrundsatz mit den besonderen Mitwirkungspflichten der Beteiligten (vgl. Rn. 400). Wer als Beteiligter zu dem Verfahren hinzuzuziehen ist, regelt § 219 399 FamFG. Zu beteiligen sind diejenigen, in deren Rechte der Versorgungsausgleich unmittelbar eingreift. Die Vorschrift knüpft an § 7 Abs. 2 Nr. 2 FamFG an1. Zu beteiligen sind die Ehegatten (Lebenspartner) gem. § 219 Nr. 1 FamFG sowie die Versorgungsträger, bei denen ein auszugleichendes Anrecht besteht oder begründet werden soll (§ 219 Nrn. 2 und 3 FamFG) und ggf. die Hinterbliebenen und die Erben des Ehegatten (§ 219 Nr. 4 FamFG). Ob eine Person am Verfahren beteiligt ist oder nicht, ist ua. entscheidend dafür, ob die Entscheidung dem Betreffenden bekannt zu geben ist und ob ein eigenes Beschwerderecht (§ 58 FamFG) besteht. Die Aufzählung in § 219 FamFG ist nicht abschließend, eine Beteiligung weiterer Personen oder Stellen kann sich auch aus § 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG ergeben2. Die Beteiligten sind verpflichtet, dem Gericht Auskunft über Grund und Höhe der Anrechte zu erteilen. (Zu den Auskunftspflichten im Einzelnen vgl. Kap. 11 Rn. 473 ff.) Übersendet das Gericht hierzu ein Formular, ist dieses zu verwenden (gem. § 220 Abs. 1 und 2 FamFG). Die beteiligten Ehegatten und ggf. ihre Hinterbliebenen sind verpflichtet, gegenüber dem Versorgungsträger die für die Feststellung der einzubeziehenden Rechte erforderlichen Mitwirkungshandlungen zu erbringen.
Û
Wichtig: Kommen die Beteiligten ihren Mitwirkungspflichten nicht nach, kann das Gericht die Anordnung nach § 35 FamFG mit Zwangsmitteln durchsetzen.
1 BT-Drucks. 16/6308, 252. 2 BT-Drucks. 16/6308, 195.
Kühner
1455
400
Kap. 12 Rn. 401
Verfahrensrecht
401
Die Versorgungsausgleichssache soll mit den Ehegatten in einem Termin erörtert werden (§ 221 Abs. 1 FamFG). Im Scheidungsverbundverfahren wird der Versorgungsausgleich idR im Schlusstermin, wenn das Verfahren insgesamt entscheidungsreif ist, erörtert. Zum Versorgungsausgleich im Verbund wird auf die Ausführungen zu Rn. 203 f. verwiesen.
402
Ist über den Bestand oder die Höhe eines in den Versorgungsausgleich einzubeziehenden Anrechts ein Rechtsstreit über Grund und/oder Höhe der in den Versorgungsausgleich einzubeziehenden Versorgung anhängig, muss das Familiengericht das Versorgungsausgleichsverfahren aussetzen. In einem Scheidungsverbundverfahren ist zunächst die Folgesache Versorgungsausgleich gem. § 140 Abs. 2 Nr. 2 FamFG abzutrennen. Besteht Streit über den Bestand oder die Höhe eines einzubeziehenden Anrechts, ohne dass ein Rechtsstreit darüber anhängig ist, kann das Versorgungsausgleichsverfahren ausgesetzt und einem oder beiden Ehegatten eine Frist zur Klageerhebung gesetzt werden (§ 221 Abs. 3 S. 1 FamFG). Wird dieser Anordnung nicht Folge geleistet, kann das Gericht selbst entscheiden und das Vorbringen, das mit der Klage hätte geltend gemacht werden können, unberücksichtigt lassen (§ 221 Abs. 3 S. 2 FamFG)1. Besteht Streit über eine von dem Versorgungsträger vorgenommene Bewertung, zB der Berechnung des Kapitalwerts, Ausgleichswerts oder des Ehezeitanteils, kommt eine Aussetzung i.S.d. § 221 Abs. 3 FamFG nicht in Betracht, vielmehr obliegt die Prüfung und Entscheidung insoweit dem Familiengericht2. Sowohl die Entscheidung über die Aussetzung als auch die die Aussetzung ablehnende Entscheidung ist in analoger Anwendung des § 221 Abs. 2 FamFG mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar3.
403
Ist eine externe Teilung der Anrechte (§§ 14 bis 17 VersAusglG) beabsichtigt, regelt § 222 FamFG die Durchführung der externen Teilung. Das Familiengericht kann den Beteiligten für die Ausübung der Wahlrechte Fristen setzen (§ 222 Abs. 1 FamFG), es handelt sich um Ausschlussfristen4.
Û
Wichtig: Werden die Erklärungen gem. § 14 VersAusglG nicht fristgemäß abgegeben, ist die Durchführung der externen Teilung ausgeschlossen und das betreffende Anrecht wird intern geteilt5. Erfolgt keine Benennung der Zielversorgung mit der notwendigen Einverständniserklärung des Zielversorgungsträgers (§ 15 Abs. 1 VersAusglG), wird der externe Ausgleich über die gesetzliche Rentenversicherung bzw. bei
1 Johannsen/Henrich/Hahne, § 222 FamFG Rn. 4. 2 Prütting/Helms/Wagner, § 221 FamFG Rn. 9. 3 Prütting/Helms/Wagner, § 221 FamFG Rn. 15; Keidel/Weber, § 221 FamFG Rn. 12. 4 Prütting/Helms/Wagner, § 221 FamFG Rn. 10. 5 Prütting/Helms/Wagner, § 221 FamFG Rn. 10.
1456
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 409
Kap. 12
Anrechten der betrieblichen Altersversorgung über die Versorgungsausgleichskasse durchgeführt (§ 15 Abs. 5 S. 2 VersAusglG)1. Die Entscheidung über den Versorgungsausgleich wird erst mit Rechts- 404 kraft wirksam, sie ist zu begründen (§ 224 FamFG). Der Beschluss ist mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen (§ 39 FamFG). Entscheidungen und Vereinbarungen können unter den Voraussetzungen der §§ 225 ff. FamFG auf Antrag abgeändert werden; antragsberechtigt sind gem. § 226 Abs. 1 FamFG die Ehegatten, ihre Hinterbliebenen und die von der Abänderung betroffenen Versorgungsträger. g) Erstverfahren in Unterhaltssachen Das Verfahren in Unterhaltssachen ist einschließlich der Abänderung 405 von Unterhaltstiteln in den §§ 231 bis 260 FamFG geregelt. Nach § 231 FamFG sind Unterhaltssachen Verfahren, die die durch Verwandtschaft begründete Unterhaltspflicht, die durch die Ehe begründete Unterhaltspflicht sowie die Ansprüche nach §§ 1615l, 1615m BGB betreffen. Die Vorschrift entspricht dem bisherigen § 621 Abs. 1 Nr. 4, 5, 11 ZPO. Für diese Familienstreitsachen i.S.d. § 112 Nr. 1 FamFG gelten – über § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG – die Allgemeinen Vorschriften der ZPO und die Vorschriften der ZPO über das Verfahren vor den Landgerichten sowie – unmittelbar – die speziellen Regelungen der §§ 231 bis 260 FamFG.
406
Auch Verfahren nach § 3 Abs. 2 S. 3 BKGG und § 64 Abs. 2 S. 3 EStG sind Unterhaltssachen (§ 231 Abs. 2 FamFG), jedoch keine Familienstreitsachen, sondern FG-Familiensachen, für die der Allgemeine Teil des FamFG gilt (vgl. Rn. 115 ff.).
407
aa) Allgemeine Verfahrensvoraussetzungen Verfahren in Unterhaltssachen werden mit einer Antragsschrift eingelei- 408 tet. Die inhaltlichen Anforderungen richten sich nach den Vorschriften über die Klageschrift gem. § 253 ZPO. In der Antragsschrift sind die jeweiligen Unterhaltsbeträge der Unterhaltsgläubiger im Einzelnen aufgeschlüsselt geltend zu machen, und es ist anzugeben, welche Unterhaltsbeträge jeweils für welche Zeiträume an die einzelnen Gläubiger gezahlt werden sollen2. Die bis zur Anhängigkeit des Verfahrens aufgelaufenen Rückstände sind gesondert aufzuführen, ggf. ist eine Verzinsung zu beantragen (§§ 288, 291 BGB). Eine Ausnahme gilt für den Stufenantrag (§ 254 ZPO), der eine Bezifferung erst ermöglicht, wenn der Auskunftsanspruch erfüllt ist.
1 Prütting/Helms/Wagner, § 221 FamFG Rn. 10. 2 BGH v. 14.6.1995 – XII ZR 171/94, FamRZ 1995, 1131 (1132).
Kühner
1457
409
Kap. 12 Rn. 410
Verfahrensrecht
410
Bei der gerichtlichen Geltendmachung von Ehegattenunterhalt sind die unselbständigen Bestandteile des Unterhaltsanspruchs (Altersvorsorge, Krankenvorsorge, Pflegevorsorgeunterhalt) beziffert geltend zu machen.
411
Das Gericht kann ein schriftliches Vorverfahren anordnen (§ 276 ZPO). Es empfiehlt sich, bereits in der Antragsschrift die Anordnung des schriftlichen Vorverfahrens anzuregen und zugleich für den Fall der Säumnis des Antragsgegners den Erlass eines Versäumnisbeschlusses zu beantragen.
Û
Praxistipp: Wird das schriftliche Vorverfahren angeordnet und die Verteidigungsanzeige abgegeben, ist zu empfehlen, nicht zugleich auch bereits einen Abweisungsantrag zu stellen. Dem Antragsgegner wäre damit die zulässige Möglichkeit genommen, innerhalb der Antragserwiderungsfrist den Anspruch ganz oder teilweise sofort anzuerkennen (§ 93 ZPO)1.
412
Grundsätzlich kann die Zahlung des Unterhalts auch über einen freiwillig gezahlten Betrag hinaus beantragt werden, jedoch ist Streitgegenstand dann nur der Spitzenbetrag. Dieser Weg ist wenig empfehlenswert, weil der freiwillig gezahlte Sockelbetrag von dem Unterhaltsschuldner reduziert werden kann und in einem späteren Nachforderungsverfahren tituliert werden müsste.
Û
Praxistipp: Der Kindesunterhalt (bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres) kann kostenfrei durch eine Jugendamtsurkunde gem. §§ 59 Abs. 1 Nr. 3, 60 SGB VIII tituliert werden; diese Möglichkeit der Titulierung besteht auch für den Unterhaltsanspruch des nichtehelichen Elternteils gem. § 1615l BGB (§ 59 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII).
413
Regelmäßig sollte der Unterhaltsschuldner außergerichtlich zur Titulierung einer Jugendamtsurkunde oder, wenn Ehegattenunterhalt geschuldet wird, zur Vorlage einer notariellen Urkunde aufgefordert werden. Unterbleibt die Aufforderung und erkennt der Unterhaltsschuldner die Unterhaltsforderung in dem Unterhaltsverfahren sofort an, trägt der Unterhaltsgläubiger nach § 243 Nr. 4 FamFG die Kosten des Verfahrens. Bei einem Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für ein Kindesunterhaltsverfahren ist mit einer Zurückweisung des Antrags zu rechnen, wenn außergerichtlich die Vorlage einer Jugendamtsurkunde nicht verlangt wurde. Kosten, die durch die Titulierung entstehen, trägt grundsätzlich der Unterhaltsschuldner2. 1 BGH v. 30.5.2006 – VI ZB 64/05, FamRZ 2006, 1189. 2 OLG Hamm v. 19.6.2007 – 3 UF 251/06, FamRZ 2007, 1831; OLG Stuttgart v. 11.1.2001 – 18 WF 545/00, FamRZ 2001, 1381; OLG Düsseldorf v. 29.9.1993 – 3 WF 154/93, FamRZ 1994, 1484; aA OLG Nürnberg v. 25.1.2002 – 10 WF 4230/01, MDR 2002, 886 = FamRB 2002, 263.
1458
Kühner
Verfahrensrecht
Û
Rn. 417
Kap. 12
Wichtig: Zahlt der Unterhaltsschuldner regelmäßig und freiwillig den vollen geltend gemachten Unterhalt, besteht grundsätzlich auch in diesem Fall ein Rechtsschutzinteresse an der vollen Titulierung1. Erbringt der Unterhaltspflichtige lediglich Teilleistungen auf den geschuldeten Unterhalt, ist der Unterhaltsgläubiger nicht verpflichtet, vor Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens zur Titulierung des freiwillig gezahlten (Teil-) Unterhalts aufzufordern. Der Unterhaltspflichtige gibt selbst dann Veranlassung für ein gerichtliches Verfahren auf Zahlung des vollen Unterhalts, wenn er zuvor nicht zur Titulierung des freiwillig gezahlten Teils aufgefordert worden ist2.
Grundsätzlich soll die Zustellung der Antragsschrift erst nach Zahlung 414 des Gerichtskostenvorschusses (§ 14 FamGKG) bzw. nach erfolgter Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe erfolgen. Auf Antrag kann Befreiung von der Vorauszahlung der Gerichtskosten und die sofortige Zustellung verlangt werden, wenn bei nicht aussichtsloser Rechtsverfolgung dem Antragsteller die alsbaldige Zahlung der Kosten mit Rücksicht auf seine Vermögenslage Schwierigkeiten bereiten oder die Verzögerung dem Antragsteller einen nicht oder nur schwer zu ersetzenden Schaden bringen würde (§ 15 Nr. 3 FamGKG). Ist der Aufenthalt des Antragsgegners unbekannt oder eine Zustellung im 415 Ausland nicht möglich oder nicht erfolgversprechend, kann im Übrigen die öffentliche Zustellung gem. § 185 ZPO angeordnet werden. Dies setzt voraus, dass dargelegt und nachgewiesen wird, dass Ermittlungen bei den Meldebehörden, Verwandten, Freunden, Mietern, Arbeitskollegen, Arbeitgebern etc. ergebnislos waren. Für das Unterhaltsverfahren gilt der Beibringungsgrundsatz, die Beteiligten müssen die für sie günstigen Tatsachen und Beweismittel beibringen, soweit ihnen die Darlegungs- und Beweislast obliegt. Es gilt der Mündlichkeitsgrundsatz. Die Beweiserhebung des Gerichts erfolgt im Wege des Strengbeweises.
416
Der Beibringungsgrundsatz erfährt jedoch durch § 235 FamFG Einschrän- 417 kungen. Die dort geregelte verfahrensrechtliche Auskunftspflicht der Beteiligten ermöglicht dem Gericht (§ 235 Abs. 1 S. 1 FamFG), von Amts wegen bei den Beteiligten Auskunft über ihre Einkünfte, ihr Vermögen und ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse einzuholen und die Vorlage bestimmter Belege zu verlangen, soweit dies für die Bemessung des Unterhalts von Bedeutung ist. Die Vorschrift entspricht dem bisherigen § 643 ZPO, wurde aber erheblich erweitert. Den Beteiligten ist zur Erledigung eine angemessene Frist zu setzen. 1 BGH v. 1.7.1998 – XII ZR 271/97, FamRZ 1998, 1165. 2 BGH v. 2.12.2009 – XII ZB 207/08, FamRZ 2010, 195 m. Anm. Gottwald und Anm. Schmidt, FamRZ 2010, 447 = FamRB 2010, 75.
Kühner
1459
Kap. 12 Rn. 418
Verfahrensrecht
418
Das Gericht kann auch anordnen, dass Antragsteller und Antragsgegner schriftlich und eigenhändig die Richtigkeit und Vollständigkeit ihrer Angaben versichern. Diese Versicherung muss jedoch wie eine eidesstattliche Versicherung vom Auskunftsverpflichteten selbst und darf nicht von einem Vertreter, also auch nicht durch den in der Unterhaltssache bevollmächtigten Rechtsanwalt abgegeben werden1. Mit dieser Neuregelung sollen die bisherigen zeitintensiven Stufenklagen in möglichst weitgehendem Umfang entbehrlich werden2.
419
Darüber hinaus sind die Beteiligten verpflichtet, während des laufenden Verfahrens ungefragt alle Veränderungen zu offenbaren, wenn sich während des Unterhaltsverfahrens Umstände wesentlich verändert haben, die Gegenstand der Anordnung nach § 235 Abs. 1 FamFG waren (§ 235 Abs. 3 FamFG). Diese Verpflichtung besteht unabhängig von den prozessualen Wahrheitspflichten gem. § 138 Abs. 1 ZPO3.
420
Nach alter Rechtslage waren die Regelungen zur verfahrensrechtlichen Auskunftspflicht in das Ermessen des Familiengerichts gestellt. Nach neuem Recht ist das Gericht jedoch verpflichtet, nach § 235 Abs. 1 FamFG vorzugehen, wenn ein Beteiligter dies beantragt (§ 235 Abs. 2 FamFG). Voraussetzung ist, dass der andere Beteiligte vor Beginn des Verfahrens seiner materiellen Auskunftspflicht trotz Aufforderung innerhalb angemessener Frist nicht nachgekommen ist (§ 235 Abs. 2 FamFG). Die Anordnungen des Gerichts nach dieser Vorschrift sind nicht selbständig anfechtbar und auch nicht mit Zwangsmitteln durchsetzbar, die Nichtbefolgung kann jedoch Einfluss auf die Kostenentscheidung gem. § 243 FamFG haben.
421
Kommt der Beteiligte seiner verfahrensrechtlichen Auskunftspflicht nicht nach, ist das Gericht befugt, Auskünfte und Belege bei Dritten anzufordern (§ 236 Abs. 1 FamFG). Die Auskunftsverpflichtung Dritter beschränkt sich auf die Höhe der Einkünfte und die Vorlage von Belegen, erfasst aber nicht die Auskunft über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse oder das Vermögen des anderen Beteiligten. Auskunftspflichtig sind Arbeitgeber, Sozialleistungsträger und Künstlersozialkasse, sonstige Personen oder Stellen, die Leistungen zur Versorgung im Alter und bei verminderter Erwerbsfähigkeit sowie Leistungen zur Entschädigung und zum Nachteilsausgleich zahlen, Versicherungsunternehmen oder Finanzämter. Die vorgenannten Personen und Stellen sind verpflichtet, der Anordnung Folge zu leisten. Die Anordnungen sind für die Beteiligten nicht selbständig anfechtbar (§ 236 Abs. 5 FamFG).
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Die mündliche Verhandlung ist auch in Unterhaltssachen seit Inkrafttreten des FamFG nicht öffentlich (§ 170 S. 1 GVG).
1 Roessink, FamRB 2009, 117 (119); Schürmann, FuR 2009, 130 (134). 2 BT-Drucks. 16/6308, 255. 3 BGH v. 16.4.2008 – XII ZR 107/06, FamRZ 2008, 1325 mwN (zum materiellrechtlichen Anspruch auf ungefragte Information) = FamRB 2008, 230.
1460
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 425
Kap. 12
Nicht rechtzeitig vorgebrachte Angriffs- und Verteidigungsmittel kann 423 das Gericht nur zurückweisen, wenn ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Verfahrens verzögern würde und die Verspätung auf grober Nachlässigkeit beruht (§ 115 FamFG). Die Entscheidung des Gerichts erfolgt durch Beschluss (§ 116 Abs. 1 424 FamFG); sie ist stets zu begründen (§ 38 Abs. 3 S. 1 FamFG), sofern es sich nicht um eine Anerkenntnis- oder Versäumnisentscheidung handelt oder gleichgerichteten Anträgen der Beteiligten stattgegeben wurde (§ 38 Abs. 4 FamFG). Endentscheidungen in isolierten Familienstreitsachen werden gem. § 116 Abs. 3 FamFG erst mit Rechtskraft wirksam. In Unterhaltssachen soll das Gericht die sofortige Wirksamkeit anordnen (§ 116 Abs. 3 S. 2 FamFG). Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts und ist von Amts wegen zu treffen. Wird die Anordnung versäumt, kann in analoger Anwendung des § 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. §§ 716, 321 ZPO Ergänzung verlangt werden1. Die sofortige Wirksamkeit ist regelmäßig wegen des laufenden Unterhalts anzuordnen. Bei länger zurückliegenden Unterhaltsrückständen kommt eine sofortige Wirksamkeit ebenfalls in Betracht, insbesondere wenn der Unterhaltsberechtigte vorträgt, dass er aufgrund des nicht gezahlten Unterhalts sein Bankkonto erheblich belasten musste.2 Der Schuldner kann gem. § 120 Abs. 2 S. 1 FamFG beantragen, die Voll- 424a streckung vor Eintritt der Rechtskraft in der Endentscheidung einzustellen oder zu beschränken. Streitig ist, ob der Antrag in erster Instanz gestellt werden muss3. Befindet sich das Verfahren in der Beschwerdeinstanz, bleibt nur die Möglichkeit, die Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 120 Abs. 2 S. 3 FamFG i.V.m. §§ 707 Abs. 1, 719 Abs. 1 ZPO zu beantragen. Ferner muss der Beschluss eine Kostenentscheidung (vgl. Rn. 447) enthal- 425 ten (§ 243 FamFG) und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen werden (§§ 116, 39 FamFG), vgl. Rn. 173.
Û
Wichtig: In allen Unterhaltssachen gilt Anwaltszwang für die selbständigen Hauptsacheverfahren (§ 114 Abs. 1 FamFG), nicht aber für die einstweiligen Anordnungsverfahren (§ 114 Abs. 4 Nr. 1 FamFG).
1 Prütting/Helms/Helms, § 116 FamFG Rn. 30; Große-Boymann, Verfahrenshandbuch Familiensachen, § 1 IX Rn. 519. 2 Musielak/Borth, § 116 FamFG Rn. 5. 3 OLG Frankfurt v. 22.2.2011 – 3 UF 460/10, FamRZ 2012, 576; OLG Hamm v. 1.3.2011 – 8 UF 40/11, FamRZ 2011, 1678; aA OLG Bremen v. 21.9.2010 – 4 UF 94/10, FamRZ 2011, 322 = FamRB 2011, 48; zur Glaubhaftmachung: OLG Hamm v. 7.9.2010 – II-11 UF 155/10, FamRZ 2011, 589 (keine Sicherheitsleistung).
Kühner
1461
Kap. 12 Rn. 426
Verfahrensrecht
bb) Unterhaltsverfahren betreffend den Kindesunterhalt 426
In Verfahren betreffend den Kindesunterhalt sind zusätzliche Besonderheiten zu beachten. Zunächst ist danach zu differenzieren, ob es sich um Minderjährigen- oder Volljährigenunterhalt handelt. (1) Minderjährigenunterhalt
427
Jede gerichtliche Geltendmachung von Unterhalt für ein minderjähriges Kind setzt zunächst die Klärung der Frage voraus, wer Beteiligter des Verfahrens ist, um festzustellen, ob das Kind selbst oder ein Elternteil das Verfahren betreiben muss.
428
Leben die Eltern getrennt und sind sie gemeinsam sorgeberechtigt, muss der Elternteil, in dessen Obhut sich das Kind befindet, den Anspruch in eigenem Namen im Wege der gesetzlichen Verfahrensstandschaft geltend machen; das Kind wird nicht Beteiligter des Verfahrens (§ 1629 Abs. 3 BGB). Dies hat auch Auswirkungen auf die Geltendmachung eines Verfahrenskostenhilfeantrags, da es nicht auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Kindes, sondern auf die des Elternteils ankommt. Sind die Ehegatten geschieden oder steht einem Elternteil die alleinige elterliche Sorge zu, sind die Ansprüche von dem Kind in gesetzlicher Vertretung durch den Elternteil, dem entweder die alleinige elterliche Sorge zusteht oder in dessen Obhut sich das Kind befindet, geltend zu machen. Diese Grundsätze gelten auch für selbständige Hauptsacheverfahren. Für Aufhebungs- oder Abänderungsanträge des Unterhaltspflichtigen erfassen die §§ 1629 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1 BGB auch die Vertretung des Kindes auf der Passivseite.
429
In Fällen des gesetzlichen Forderungsübergangs nach § 33 Abs. 2 SGB II (Sozialhilfe als Grundsicherung für Arbeitssuchende), § 94 SGB XII (Sozialhilfe als Grundsicherung im Alter bzw. bei dauernder Erwerbsunfähigkeit), § 7 UVG (Unterhaltsvorschuss), § 37 BAföG (BAföG-Leistungen) ist zu beachten, dass allein der Leistungsträger befugt ist, den auf ihn übergegangenen Anspruch gerichtlich geltend zu machen, sofern der Anspruchsübergang nicht nach § 94 SGB XII ausgeschlossen ist. Der Sozialhilfeträger kann den auf ihn übergegangenen Unterhaltsanspruch im Einvernehmen mit dem Hilfeberechtigten auf diesen zur gerichtlichen Geltendmachung zurückübertragen (§ 94 Abs. 5 S. 1 SGB XII). IdR lässt sich der Träger der Sozialhilfe den rückübertragenen Unterhaltsanspruch wieder abtreten, die gerichtliche Geltendmachung obliegt jedoch weiterhin dem Hilfeempfänger. Tritt nach Rechtshängigkeit des Unterhaltsverfahrens ein Anspruchsübergang ein, ist lediglich der Antrag umzustellen und die Zahlung an den Sozialhilfeträger im Umfang des Anspruchsübergangs zu beantragen1. 1 BGH v. 3.7.1996 – XII ZR 99/95, FamRZ 1996, 1203 (1207) zu § 91 des inzwischen aufgehobenen BSHG.
1462
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 432
Kap. 12
Die Vollstreckung aus einem Titel, der auf Zahlung von Kindesunterhalt gerichtet ist und im Wege der Verfahrensstandschaft erwirkt wurde, kann sowohl von dem Elternteil in eigenem Namen als auch von dem Kind selbst betrieben werden. Wird das Kind nach Erlass des Beschlusses volljährig, ist der Titel auf das Kind umzuschreiben (§ 727 ZPO).
430
Bei einem Sorgerechts- oder Obhutswechsel während des laufenden Ver- 431 fahrens oder mit Eintritt der Volljährigkeit erlischt die Vertretungs- bzw. Verfahrensführungsbefugnis des bis dahin betreuenden Elternteils. Die Beendigung der Verfahrensstandschaft endet auch für die aufgelaufenen Unterhaltsrückstände, die Klage wird unzulässig1. Bei Beendigung der Verfahrensstandschaft durch Obhuts- oder Sorgerechtswechsel kann im Wege der Antragsänderung ein familienrechtlicher Ausgleichsanspruch gegen den anderen Elternteil geltend gemacht werden. Nach Eintritt der Volljährigkeit tritt ein gesetzlicher Parteiwechsel ein, das Verfahren ist von dem volljährigen Kind fortzusetzen2. Die gesetzliche Verfahrensstandschaft dauert über die Rechtskraft der Ehesache hinaus bis zum Abschluss des Unterhaltsverfahrens fort, wenn die elterliche Sorge für das Kind keinem anderen übertragen worden ist3.
Û
Wichtig: Der Rechtsanwalt muss sich nach Eintritt der Volljährigkeit von dem Kind eine Vollmacht erteilen lassen. § 1629 Abs. 3 BGB umfasst auch die Vertretung des Kindes auf der Passivseite, und zwar unabhängig davon, ob der Antragsteller die Herabsetzung des Unterhalts oder die Feststellung, keinen Unterhalt zu schulden begehrt4.
Das minderjährige Kind kann den Unterhalt entweder als statischen Unterhaltsbetrag gem. §§ 1601 f., 1610 BGB oder dynamisiert als Prozentsatz des in § 1612a Abs. 1, Abs. 2 BGB definierten Mindestunterhalts in der jeweiligen Altersstufe geltend machen. Der dynamisierte Unterhalt kann nur für die Zukunft verlangt werden, rückständiger Unterhalt ist als Festbetrag beziffert geltend zu machen.
Û
Praxistipp: Empfehlenswert ist, wenn kein Mangelfall vorliegt, in jedem Fall die Geltendmachung des dynamisierten Unterhalts, da automatisch eine Anpassung erfolgt, wenn das minderjährige Kind die nächsthöhere Altersstufe i.S.d. § 1612a Abs. 1 S. 3 BGB erreicht oder sich das sächliche Existenzminimum eines Kindes gem. § 32 Abs. 6 S. 1 EStG verändert. Bei Geltendmachung des statischen Unterhalts wären diese
1 OLG München v. 12.8.2002 – 26 UF 1103/02, FamRZ 2003, 243; OLG Hamm v. 9.2.1990 – 5 UF 352/89, FamRZ 1990, 890 (891); Norpoth, FamRZ 2007, 514. 2 BGH v. 15.11.1989 – IVb ZR 3/89, FamRZ 1990, 283 (284). 3 BGH v. 15.11.1989 – IVb ZR 3/89, FamRZ 1990, 283 (284); OLG Koblenz v. 19.9.2001 – 9 UF 62/01, FamRZ 2002, 965 = FamRB 2002, 101; OLG Hamm v. 29.7.1997 – 13 UF 41/97, FamRZ 1998, 379. 4 OLG Brandenburg v. 2.11.1999 – 9 WF 225/99, FamRZ 2000, 1377 (1378).
Kühner
1463
432
Kap. 12 Rn. 433
Verfahrensrecht
Veränderungen im Wege eines Abänderungsverfahrens geltend zu machen, was eine wesentliche Veränderung voraussetzt. Es muss damit gerechnet werden, dass ein Verfahrenskostenhilfegesuch als mutwillig zurückgewiesen wird, weil im Erstverfahren dynamisierter Unterhalt hätte verlangt werden können. Hier besteht ein nicht unerhebliches Haftungsrisiko1. Formulierungsvorschlag für Kindesunterhalt im dynamisierten Verfahren in Verfahrensstandschaft: … beantragen wir wie folgt zu beschließen: Der Antragsgegner ist verpflichtet, an die Antragstellerin zum Unterhalt für das gemeinschaftliche Kind …, geb. am 3.4.2008, ab 1.5.2011 zum Ersten eines jeden Monats im Voraus eine laufende monatliche Unterhaltsrente in Höhe von 115 % des Mindestunterhalts gem. § 1612a Abs. 1 BGB der jeweils maßgebenden Altersstufe abzüglich des auf das erste Kind entfallenden hälftigen Kindergeldanteils zu zahlen.
Û
Praxistipp: Grundsätzlich hat das minderjährige Kind einen Anspruch auf einen Unterhaltstitel, der nicht auf die Zeit der Minderjährigkeit befristet sein darf2.
433
Dem minderjährigen Kind obliegt die Darlegungs- und Beweislast für seine Bedürftigkeit und die Höhe des Unterhaltsbedarfs, dh. insbesondere für die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Unterhaltsverpflichteten, wenn nach § 1610 BGB höherer Unterhalt als der Mindestunterhalt nach § 1612a Abs. 1 S. 1 BGB verlangt wird3.
434
Der Unterhalt des minderjährigen Kindes kann auch im vereinfachten Verfahren nach §§ 249 bis 260 FamFG geltend gemacht werden; die Vorschriften entsprechen den bisherigen §§ 645 bis 660 ZPO. Im vereinfachten Verfahren kann jedoch nur das 1,2-fache des Mindestunterhalts nach § 1612a Abs. 1 BGB geltend gemacht werden. Das Verfahren ist statthaft, wenn zu dem Zeitpunkt, in dem der Antrag oder eine Mitteilung über dessen Inhalt dem Antragsgegner zugestellt wird, über den Unterhaltsanspruch des Kindes entweder noch keine Entscheidung ergangen ist, ein gerichtliches Verfahren nicht anhängig ist oder ein zur Zwangsvollstreckung geeigneter Schuldtitel nicht errichtet worden ist (§ 249 Abs. 2 FamFG). Das vereinfachte Verfahren bleibt auch dann statthaft, wenn der Unterhaltsschuldner nach Zustellung des Antrags oder einer Mitteilung 1 BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 19/84, FamRZ 1985, 690. 2 OLG Hamm v. 9.2.2011 – 8 WF 37/11, FamRZ 2011, 1407 = FamRB 2011, 344. 3 BGH v. 27.11.2002 – XII ZR 295/00, FamRZ 2003, 444 = FamRB 2003, 143; Borth, FamRZ 2006, 813 (817).
1464
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 438
Kap. 12
über dessen Inhalt noch nachträglich eine vollstreckbare Jugendamtsurkunde über einen geringeren als den beantragten Unterhalt beurkunden lässt. Der Antrag setzt die Verwendung der amtlichen Formulare für das vereinfachte Verfahren voraus (§ 259 Abs. 2 FamFG). Der Antragsgegner kann innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zu- 435 stellung des Antrags oder der Mitteilung über dessen Inhalt (§ 251 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 FamFG) Einwendungen gegen die Festsetzung erheben (§ 252 FamFG). Einwendungen wegen eingeschränkter oder fehlender Leistungsfähigkeit können nur erhoben werden, wenn zugleich unter Verwendung des eingeführten Formulars Auskunft über die Einkünfte, das Vermögen und die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Übrigen erteilt und Belege über die Einkünfte vorgelegt werden, bevor der Festsetzungsbeschluss verfügt war1. Der Einwand der Erfüllung ist nur zulässig, wenn der Antragsgegner zugleich erklärt, inwieweit er geleistet hat und dass er sich verpflichtet, einen darüber hinaus gehenden Unterhaltsrückstand zu begleichen (§ 252 Abs. 2 FamFG), anderenfalls sind die Einwände unbeachtlich. Bei berechtigt erhobenen Einwendungen wird nur der Unterhalt fest- 436 gesetzt, zu dem sich der Antragsgegner nach § 252 Abs. 2 S. 1 und 2 FamFG verpflichtet hat. Auf Antrag eines Beteiligten ist das streitige Verfahren durchzuführen. Es 437 ist sodann wie nach Eingang eines Antrags in einer Unterhaltssache weiter zu verfahren. Die Einwendungen gelten als Erwiderung. Den Antrag auf Durchführung des streitigen Verfahrens können beide Beteiligten stellen. Wird der Antrag vor Ablauf von sechs Monaten nach Zugang der Mitteilung nach § 254 S. 1 FamFG gestellt, wirkt die Rechtshängigkeit auf den Zeitpunkt der Zustellung des Feststellungsantrags zurück (§ 255 Abs. 3 i.V.m. Abs. 6 FamFG). Wird der Antrag erst nach Fristablauf gestellt, gilt der über den Festsetzungsbeschluss oder die Verpflichtungserklärung des Antragsgegners hinausgehende Festsetzungsantrag als zurückgenommen (§ 255 Abs. 6 FamFG). Die Abänderung von Entscheidungen im vereinfachten Verfahren richtet 438 sich nach § 240 FamFG. Sofern noch kein Antrag auf Durchführung des streitigen Verfahrens gestellt wurde, kann jeder Teil die Abänderung beantragen. Ein Antrag auf Herabsetzung des Unterhalts ist jedoch nur ab Rechtshängigkeit des Antrags zulässig, wenn er nicht innerhalb eines Monats nach Rechtskraft des Beschlusses gestellt wird (§ 240 Abs. 2 FamFG). Ist innerhalb der Monatsfrist ein Antrag des anderen Beteiligten auf Erhöhung des Unterhalts anhängig geworden, läuft die Frist nicht vor Beendigung dieses Verfahrens ab. Darüber hinaus ist der nach Ablauf der Frist gestellte Antrag auf Herabsetzung auch für die Zeit ab dem Ersten
1 OLG Saarbrücken v. 23.6.2010 – 9 UF 45/10, FamRZ 2011, 49.
Kühner
1465
Kap. 12 Rn. 439
Verfahrensrecht
des auf ein entsprechendes Auskunfts- oder Verzichtsverlangens des Antragstellers folgenden Monats zulässig. 439
Im Übrigen kann gegen den Festsetzungsbeschluss zwar Beschwerde erhoben werden, die jedoch nicht auf den Einwand der Erfüllung oder der eingeschränkten oder fehlenden Leistungsfähigkeit gestützt werden kann, wenn diese Einwendungen nicht vor Verfügung des Festsetzungsbeschlusses erhoben waren (§ 256 S. 2 FamFG).
Û
Wichtig: Für das Verfahren besteht kein Anwaltszwang1. Es wird in der anwaltlichen Praxis selten eingeleitet, da erfahrungsgemäß im Wege des einstweiligen Anordnungsverfahrens der Unterhalt schneller tituliert werden kann, obwohl das vereinfachte Verfahren eingeführt wurde, um eine zügige Titulierung zu erreichen.
440
Der Unterhalt eines minderjährigen Kindes, dessen Vaterschaft nicht festgestellt ist, kann in einem selbständigen Unterhaltsverfahren gem. § 237 FamFG geltend gemacht werden, wenn bereits ein Verfahren auf Feststellung der Vaterschaft nach § 1600d BGB anhängig ist (§ 237 Abs. 1 FamFG). Nach früherem Recht war eine selbständige Geltendmachung nicht möglich; das Unterhaltsverfahren war Teil des Vaterschaftsfeststellungsverfahrens. Tituliert werden kann lediglich Unterhalt in Höhe des Mindestunterhalts abzüglich des anzurechnenden Kindergeldes. Eine Herabsetzung oder Erhöhung des Unterhalts kann in diesem Verfahren nicht verlangt werden.
Û
Wichtig: Die Entscheidung über die Verpflichtung zur Zahlung von Unterhalt wird erst wirksam, wenn das Vaterschaftsfeststellungs- oder -anerkennungsverfahren rechtswirksam abgeschlossen ist (§ 237 Abs. 4 FamFG). Das Unterhaltsverfahren kann mit dem Verfahren auf Feststellung der Vaterschaft verbunden werden (§ 179 Abs. 1 S. 2 FamFG).
(2) Volljährigenunterhalt 441
Das volljährige Kind hat nur die Möglichkeit, Unterhalt als Festbetrag zu verlangen, da § 1612a BGB auf den Unterhalt volljähriger Kinder nicht anwendbar ist. Das volljährige Kind ist sowohl für die Höhe seines Unterhaltsbedarfs als auch für die Haftungsverteilung zwischen den Eltern darlegungs- und beweispflichtig. Diese Darlegungs- und Beweislast umfasst auch substantiierten Sachvortrag zur Leistungsfähigkeit des Elternteils, der nicht in Anspruch genommen werden soll. Der Antragsgegner kann den nicht in Anspruch genommenen Elternteil zur Berechnung seines Haftungsanteils auf Auskunft in Anspruch nehmen; er kann das volljäh1 Anwaltszwang ab Übergang ins streitige Verfahren: Keidel/Giers, § 255 FamFG Rn. 5; Prütting/Helms/Bömelburg, § 257 FamFG Rn. 4.
1466
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 444
Kap. 12
rige Kind nicht darauf verweisen, gegen den anderen Elternteil ein gesondertes Verfahren einzuleiten1. Im Übrigen kann auf die Ausführungen über das Verfahren in Unterhaltssachen (Rn. 408 ff.) verwiesen werden.
442
Verfahrensrechtliche Möglichkeiten zur Geltendmachung von Kindesunterhalt
443
minderjähriges Kind dynamisiert, § 1612a BGB oder statisch (als Festbetrag)
Einstweilige Anordnung §§ 49 ff., 246 ff. FamFG
Hauptsacheverfahren §§ 253 ZPO
vereinfachtes Verfahren, §§ 249 ff. FamFG
bei Anhängigkeit der Ehesache: als Folgesache im Verbund
volljähriges Kind
statisch
einstweilige Anordnung §§ 49 f., 246 f. FamFG
Hauptsacheverfahren §§ 253 ZPO
Sowohl für den Minderjährigen- als auch für den Volljährigenunterhalt kommt in Ausnahmefällen der Arrest gem. §§ 916 f. ZPO in Betracht (vgl. Rn. 320)! cc) Ehegattenunterhalt, Unterhalt nach § 1615l BGB Die Antragsschrift erfordert substantiierten Sachvortrag und Beweisan- 444 tritte zum eigenen Unterhaltsbedarf und zur Bedürftigkeit, die Darlegungs- und Beweislast umfasst die Höhe eigener Einkünfte und die des anderen Ehegatten. Ggf. ist bei besonders günstigen Einkommensverhältnissen der Bedarf konkret darzulegen.
1 BGH v. 28.1.1981 – IVb ZR 573/80, FamRZ 1981, 347; OLG Hamm v. 27.1.2006 – 11 WF 274/05, FamRZ 2006, 1479.
Kühner
1467
Kap. 12 Rn. 445
Û
Verfahrensrecht
Praxistipp: Ab Rechtshängigkeit der Ehesache entsteht der Anspruch auf Altersvorsorgeunterhalt (§ 1361 Abs. 1 S. 2 BGB). Wird die Ehesache rechtshängig, während bereits ein Trennungsunterhaltsverfahren anhängig ist, ist, wenn Altersvorsorgeunterhalt geltend gemacht werden soll, der Antrag im Trennungsunterhaltsverfahren zu konkretisieren und zu erweitern. Zumindest ist es aus Haftungsgründen dringend notwendig, den in dem ursprünglichen Antragsverfahren geltend gemachten Unterhaltsbetrag ausdrücklich als Elementarunterhalt zu bezeichnen. Wird diese Differenzierung nicht vorgenommen und soll nach Abschluss des Trennungsunterhaltsverfahrens zu einem späteren Zeitpunkt zB Altersvorsorgeunterhalt geltend gemacht werden, wäre ein Nachforderungsantrag unzulässig. Ein Abänderungsverfahren des Unterhaltsgläubigers würde an der Präklusionswirkung des § 238 Abs. 2 FamFG scheitern. Diese Grundsätze gelten auch, wenn nachehelicher Unterhalt im Verbund verlangt wird, auch hier ist deutlich zu machen, ob Elementar, Altersvorsorge- oder Pflegevorsorgeunterhalt geltend gemacht wird. Bei einem Antrag, der lediglich auf die Zahlung von „Unterhalt in Höhe von …“ gerichtet ist, besteht grundsätzlich die Vermutung, dass der volle Unterhalt geltend gemacht worden ist1. Wird zu einem späteren Zeitpunkt Vorsorgeunterhalt verlangt, ist der Antrag nur dann zulässig, wenn sich die im Vorprozess maßgeblichen Umstände wesentlich verändert haben. Hier besteht erhebliche Regressgefahr. Eine Nachforderung wäre ansonsten nur möglich, wenn ausdrücklich nur ein Teil des Unterhaltsanspruchs geltend gemacht wird.
Musterformulierung: … der Antragsgegner wird verpflichtet, an die Antragstellerin ab … Elementarunterhalt in Höhe von … Euro monatlich sowie Altersvorsorgeunterhalt seit dem (Datum der Rechtshängigkeit der Ehesache) in Höhe von monatlich … Euro zu zahlen.
445
Beruht der Anspruch auf § 1615l BGB, hat die Berechtigte ihre eigene Lebensstellung vor Geburt des Kindes unter Beweisantritt darzulegen. Im Übrigen kann auf die Ausführungen zu den Verfahren in Unterhaltssachen (Rn. 405 ff.) verwiesen werden.
1 BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 19/84, FamRZ 1985, 690.
1468
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 446
Kap. 12
Verfahrensrechtliche Möglichkeiten zur Geltendmachung von Ehegattenunterhalt Trennungsunterhalt
Einstweilige Anordnung §§ 49 ff., 246 ff. FamFG
Hauptsacheverfahren §§ 253 ZPO
nachehelicher Unterhalt
während Anhängigkeit der Ehesache in erster Instanz
als Folgesache im Verbund gem. § 137 Abs. 2 Nr. 2 FamFG
ab Rechtskraft der Ehesache
einstweilige Anordnung §§ 49 f., 246 f. FamFG
Hauptsacheverfahren §§ 253 ZPO
Arrest gem. §§ 916 f. ZPO kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht (vgl. Rn. 320)! dd) Vollstreckung in Unterhaltssachen Endentscheidungen in Familienstreitsachen, zu denen auch die Unter- 446 haltssachen zählen, werden grundsätzlich erst mit Rechtskraft wirksam (§ 116 Abs. 3 S. 1 FamFG). Das Gericht soll jedoch in Unterhaltssachen die sofortige Wirksamkeit anordnen (§ 116 Abs. 3 S. 3 FamFG). Die sofortige Wirksamkeit mit der Folge der sofortigen Vollstreckbarkeit gem. § 120 Abs. 2 S. 1 FamFG ist in Unterhaltssachen regelmäßig anzuordnen, eine Ausnahme gilt für übergegangene Unterhaltsansprüche und längere Zeit zurückliegende Unterhaltsrückstände (vgl. Rn. 424).
Û
Wichtig: Zur Vermeidung der Vollstreckung und des Risikos, überzahlte Beträge nicht wieder zurückzuerlangen, ist der Unterhaltspflichtige gehalten, rechtzeitig einen Antrag auf Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung vor Eintritt der Rechtskraft der Endentscheidung zu stellen (§ 120 Abs. 2 S. 2 FamFG). Er hat glaubhaft zu machen, dass die Vollstreckung ihm einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde. Unklar ist, ob die Einstellung oder Beschränkung gegen SiKühner
1469
Kap. 12 Rn. 447
Verfahrensrecht
cherheitsleistung zulässig ist, eine Sicherheit sollte zumindest angeboten werden1. Der Antrag sollte unbedingt bereits in erster Instanz vor Schluss der letzten mündlichen Verhandlung gestellt werden2, da offen ist, ob ein erst in zweiter Instanz gestellter Antrag unzulässig ist. § 120 Abs. 2 FamFG lehnt sich an § 62 Abs. 1 ArbGG an, wonach eine einstweilige Einstellung in zweiter Instanz idR nicht zulässig ist, wenn es der Schuldner versäumt hat, den Schutzantrag nach § 62 Abs. 1 S. 2 ArbGG zu stellen3. Formulierungsvorschlag: … beantragen wir, 1. den Antrag abzuweisen, 2. hilfsweise die Vollstreckung vor Eintritt der Rechtskraft in der Endentscheidung gem. § 120 Abs. 2 S. 2 FamFG, ggf. gegen Sicherheitsleistung, einzustellen.
ee) Kosten in Unterhaltssachen 447
Maßgebend für die Kostenentscheidung in Unterhaltssachen ist § 243 FamFG; danach entscheidet das Gericht über die Kostenverteilung nach billigem Ermessen. Zu berücksichtigen sind insbesondere das Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen, der Umstand, dass ein Beteiligter vor Verfahrensbeginn seiner Auskunfts- und Belegpflicht nicht oder nicht vollständig nachgekommen ist sowie der Umstand, dass ein Beteiligter seiner verfahrensrechtlichen Auskunftspflicht nicht oder nicht fristgerecht Folge geleistet hat. h) In Güterrechtssachen
448
Für die Geltendmachung von Ansprüchen aus dem ehelichen Güterrecht (§ 261 Abs. 1 FamFG) sind über § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG im Wesentlichen die Vorschriften der ZPO anzuwenden. Ergänzt werden diese Vorschriften durch die Zuständigkeitsregelung in § 262 FamFG (vgl. Rn. 100).
449
Das Zugewinnausgleichsverfahren wird auf Antrag eingeleitet, der den inhaltlichen Anforderungen des § 253 ZPO entsprechen muss. Ist eine Bezifferung des Anspruchs nicht möglich, weil der Auskunfts- und Beleganspruch nicht oder noch nicht vollständig erfüllt wurde, ist die Erhebung eines Stufenantrags (§ 254 ZPO) notwendig. Die Rechtshängigkeit 1 Giers, FamRB 2009, 87 (88). 2 Giers, FamRB 2009, 87 (88). 3 OLG Frankfurt v. 22.2.2011 – 3 UF 460/10, FamRZ 2012, 576; Giers, FamRB 2009, 87 (88).
1470
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 450
Kap. 12
des Stufenantrags bewirkt grundsätzlich die Rechtshängigkeit des Antrags insgesamt1, so dass damit im isolierten Güterrechtsverfahren auch die Verjährung gehemmt ist (§§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB, 253 Abs. 1 ZPO). Formulierungsvorschlag für einen Stufenantrag … beantragen wir, den Antragsgegner zu verpflichten, der Antragstellerin 1. a) Auskunft über den Bestand seines Anfangsvermögens am … und seines Endvermögens am … durch Vorlage eines systematischen und nach Aktiva und Passiva geordneten Bestandsverzeichnisses zu erteilen und b)
die zum jeweiligen Nachweis der einzelnen Positionen erforderlichen Belege beizufügen,
2. den Antragsgegner ggf. zu verpflichten, die Vollständigkeit und Richtigkeit der erteilten Auskunft an Eides statt zu versichern und 3. den Antragsgegner zu verpflichten, an die Antragstellerin den sich nach Auskunft ergebenden, noch zu beziffernden Zugewinnausgleich nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtskraft der Ehescheidung zu zahlen2.
Der Auskunftsanspruch gem. § 1379 BGB umfasst nunmehr auch das 450 Anfangsvermögen. Ferner wird ein Beleganspruch gewährt, so dass der Antrag ggf. noch entsprechend zu ergänzen ist. Die angeforderten Belege sind exakt zu bezeichnen, und im Hinblick auf eine spätere Vollstreckbarkeit des Titels sind Auskunfts- und Beleganspruch strikt voneinander zu trennen. Der Stufenantrag bzw. ein bezifferter Antrag können isoliert idR erst ab Rechtskraft des Ehescheidungsverfahrens anhängig gemacht werden, weil der Zugewinnausgleichsanspruch erst mit Beendigung des Güterstandes entsteht.
Û
Praxistipp: Ein zulässiges Mittel zur Wertermittlung einzelner Vermögenspositionen, wie zB von Immobilien, ist das selbständige Beweisverfahren gem. § 485 Abs. 2 ZPO3. Die Vorschrift ist über § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG anwendbar. Voraussetzung ist jedoch, dass kein Zugewinnausgleichsverfahren anhängig ist und durch das Verfahren ein Rechtsstreit vermieden werden kann. Für das Verfahren fällt eine Gerichtsgebühr in Höhe von 1,0 (FamGKG Kostenverzeichnis Nr. 1503) an.
1 BGH v. 8.2.1995 – XII ZR 24/94, FamRZ 1995, 797 (798). 2 Ggf. nach Bezifferung des Anspruchs zusätzlich: Antrag auf Anordnung der sofortigen Wirksamkeit. 3 OLG Naumburg v. 13.4.2011 – 8 WF 74/11, FamRZ 2011, 1531; OLG Köln v. 25.2.2010 – 10 WF 216/09, FamRZ 2010, 1585 = FamRB 2010, 133; OLG Koblenz v. 17.10.2008 – 7 WF 867/08, FamRZ 2009, 804; Kogel, FamRB 2010, 155.
Kühner
1471
Kap. 12 Rn. 451 451
Verfahrensrecht
Während der Trennungszeit kann bis zur Beendigung des Güterstands ein Verfahren auf vorzeitigen Zugewinn (§ 1385 BGB) eingeleitet werden. Dieser Antrag kann das Ziel haben, entweder nur den Güterstand zu beenden oder mit der Beendigung des Güterstands in einer einheitlichen Entscheidung auch den Zugewinnausgleichsanspruch zu regeln. In diesem Fall ist ein Stufenantrag zu stellen, mit dem in der ersten Stufe zu beantragen ist, auf vorzeitigen Zugewinn zu erkennen. Es ergeht sodann eine Teilentscheidung, die als Endentscheidung beschwerdefähig ist. Erst wenn die Teilentscheidung rechtskräftig ist, kann das Verfahren in der zweiten Stufe fortgesetzt werden. Liegen nach Rechtskraft der Teilentscheidung die erforderlichen Auskünfte und Belege noch nicht vor, ist innerhalb der zweiten Stufe zunächst wiederum ein Auskunftsantrag zu stellen und nach dessen Erledigung der bezifferte Leistungsantrag. Der Antrag gem. § 1385 BGB ist nur zulässig, wenn die Ehegatten mindestens seit drei Jahren getrennt leben, illoyale Vermögensminderungen zu befürchten sind oder der andere Ehegatte längere Zeit hindurch seinen wirtschaftlichen Verpflichtungen aus der Ehe nicht nachgekommen ist und auch nicht anzunehmen ist, dass er sie in Zukunft erfüllen wird. Darüber hinaus kann vorzeitiger Zugewinnausgleich gem. § 1385 Nr. 4 BGB verlangt werden, wenn sich der andere Ehegatte ohne ausreichenden Grund bis zur Antragserhebung auf Auskunft beharrlich geweigert hat, den Antragsteller über den Stand seines Vermögens zu unterrichten.
451a Wird der Anspruch auf Unterrichtung gem. § 1385 Nr. 4 BGB nicht erfüllt, ist – wie oben beschrieben – Antrag auf vorzeitigen Zugewinnausgleich in Form eines Stufenantrags zu stellen, womit der ausgleichsberechtigte Ehegatte frühzeitig vor Vermögensminderungen geschützt werden kann, die seine Ausgleichsforderung beeinträchtigen können. In diesem Verfahren kann sodann der umfassende Auskunftsanspruch gem. § 1379 BGB geltend gemacht werden.
Û
Praxistipp: Wird der Anspruch auf Unterrichtung nach Antragszustellung doch noch erfüllt, ist mit der Neufassung des § 1385 Nr. 4 BGB nunmehr klargestellt worden, dass dies nicht zu einer Erledigung des Verfahrens auf vorzeitigen Zugewinnausgleich führt.
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Wichtig: § 1379 BGB hat in der anwaltlichen Praxis erhebliche Bedeutung, da häufig die Vermögensverhältnisse des anderen Ehegatten bei der Trennung nicht bekannt sind, bis zur Entstehung des Auskunftsanspruchs gem. § 1379 Abs. 1 S. 1 BGB (ab Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens) idR mehr als ein Jahr vergangen ist und bis dahin – gewollt oder ungewollt – häufig Vermögensminderungen eintreten. Um den ausgleichsberechtigten Ehegatten stärker vor illoyalen Vermögensverschiebungen zu schützen, kann Auskunft gem. § 1379 Abs. 2 BGB über das Vermögen nunmehr bereits zum Zeitpunkt der
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Verfahrensrecht
Rn. 454
Kap. 12
Trennung verlangt werden. Dieser Anspruch kann bereits vor Rechtshängigkeit der Ehescheidung oder eines Antrags auf vorzeitigen Zugewinnausgleich oder vorzeitige Aufhebung der Zugewinngemeinschaft geltend gemacht werden. Zugleich wurde § 1375 Abs. 2 BGB durch eine Beweislastregel in § 1375 Abs. 2 S. 2 BGB ergänzt. Wird das Ehescheidungsverfahren oder ein Antrag gem. §§ 1385, 1386 BGB rechtshängig und hat der Auskunftsschuldner auf Verlangen des anderen Ehegatten gem. § 1379 Abs. 1 BGB die Auskunft zwar erteilt, das Vermögen aber geringer angegeben, als in der zum Trennungszeitpunkt erteilten Auskunft, muss er substantiiert darlegen und beweisen, dass die Vermögensminderung nicht auf illoyalen Handlungen beruht (§ 1375 Abs. 1 S. 2 BGB). Gelingt dies nicht, erhöht sich der Zugewinn, in dem der Differenzbetrag dem Endvermögen hinzugerechnet wird. Wenn der Ausgleichsberechtigte konkrete Anhaltspunkte für illoyale Ver- 452 mögensminderungen i.S.d. § 1375 Abs. 2 BGB vortragen kann, besteht ein ergänzender Auskunftsanspruch gem. § 242 BGB1. Für Vermögensminderungen i.S.d. § 1375 Abs. 2 Nr. 2 BGB reicht ein großzügiger Lebensstil oder ein Leben über die Verhältnisse allein nicht aus2. Für das Verfahren auf Zugewinnausgleich ist zu beachten, dass dem An- 453 tragsteller die volle Darlegungs- und Beweislast sowohl für das eigene End- und Anfangsvermögen als auch über das Endvermögen des Antragsgegners obliegt. Der Antragsteller trägt auch die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die vom Antragsgegner behaupteten Verbindlichkeiten nicht bestehen3. Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob mit der Antragsschrift bereits Belege über die Vermögenspositionen des Antragstellers vorgelegt werden, da im Falle des Bestreitens ohnehin der Nachweis über das Anfangs- bzw. Endvermögen geführt werden muss. Dieses Problem dürfte sich durch den nach neuem Recht eingeführten Beleganspruch idR jedoch nicht mehr stellen. Die Verfahren auf Stundung oder Übertragung von Vermögensgegenstän- 454 den (§§ 1382, 1383 BGB) unterliegen anderen Voraussetzungen, da es sich um FG-Familiensachen und nicht um Familienstreitsachen handelt. Die Verfahren sind in der anwaltlichen Praxis von untergeordneter Bedeutung. Ist über die Ausgleichsforderung ein Verfahren anhängig, kann ein Antrag auf Stundung nur in diesem Verfahren gestellt werden. Der Stundungsantrag muss bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung über die Ausgleichsforderung gestellt werden, wenn die Voraussetzungen für die Stundung bereits zu diesem Zeitpunkt vorlagen, anderenfalls wäre ein im Anschluss an dieses Verfahren gestellter isolierter Stundungsantrag nur bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse zulässig4. Die isolierten Güterrechtsverfahren werden grundsätzlich erst mit Rechtskraft der 1 2 3 4
BGH v. 9.2.2005 – XII ZR 93/02, FamRZ 2005, 689 = FamRB 2005, 161. BGH v. 19.4.2000 – XII ZR 62/98, FamRZ 2000, 948 (950). OLG Hamm v. 13.4.1997 – 7 UF 22/97, FamRZ 1998, 237 (238). Schwab/Maurer/Borth, Teil I Rn. 708.
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Kap. 12 Rn. 455
Verfahrensrecht
ergangenen Entscheidung wirksam. Das Gericht kann auch in Güterrechtssachen die sofortige Wirksamkeit anordnen, vgl. Rn. 446. i) In sonstigen Familiensachen 455
Die sonstigen Familiensachen i.S.d. § 266 FamFG gliedern sich auf in die Familienstreitsachen (§ 112 Nr. 3 i.V.m. § 266 Abs. 1 FamFG) und die FGFamiliensachen (§ 266 Abs. 2 FamFG), vgl. Rn. 3. Auf die in Abs. 1 genannten Streitigkeiten sind somit im Wesentlichen die allgemeinen Vorschriften der ZPO über das Verfahren vor den Landgerichten (§ 113 Abs. 1 FamFG) anwendbar, so dass insoweit auf die Ausführungen unter Rn. 405 ff. verwiesen werden kann.
456
Endentscheidungen in sonstigen Familienstreitsachen werden erst mit Rechtskraft wirksam (§ 116 Abs. 3 FamFG), das Gericht kann die sofortige Wirksamkeit anordnen und der Antragsgegner muss ggf. einen Vollstreckungsschutzantrag nach § 120 Abs. 2 S. 1 FamFG stellen (vgl. Rn. 446). j) In Lebenspartnerschaftssachen
457
Für Verfahren in Lebenspartnerschaftssachen (§§ 269 bis 270 FamFG) ist danach zu differenzieren, ob die Streitigkeit eine FG-Familiensache oder eine Familienstreitsache ist. Familienstreitsachen sind Verfahren, die die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens einer Lebenspartnerschaft (§ 269 Abs. 1 Nr. 2 FamFG) zum Gegenstand haben, ferner die unterhalts- und güterrechtlichen Ansprüche nach § 269 Abs. 1 Nr. 8 bis 10 FamFG. Auf diese sind im Wesentlichen die allgemeinen Vorschriften der ZPO über das Verfahren vor den Landgerichten anwendbar (§ 113 Abs. 1 FamFG), so dass für die Einleitung und Durchführung des Verfahrens auf die Ausführungen unter Rn. 405 ff. verwiesen werden kann. 5. Abänderung von Unterhaltstiteln
458
Die Abänderung von Unterhaltstiteln ist in den speziellen Vorschriften der §§ 238 bis 240 FamFG geregelt. Gerichtliche Endentscheidungen in einem Hauptsacheverfahren können gem. § 238 FamFG, gerichtliche Vergleiche oder vollstreckbare Urkunden gem. § 239 FamFG und Entscheidungen im Vaterschaftsfeststellungsverfahren oder im vereinfachten Verfahren über den Unterhalt Minderjähriger gem. § 240 FamFG abgeändert werden. a) Abgrenzungsfragen
459
Grundsätzlich ist vor Einleitung eines Abänderungsverfahrens zu prüfen, ob es sich bei dem Abänderungsantrag um das richtige Verfahren handelt,
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Verfahrensrecht
Rn. 461
Kap. 12
da im Einzelfall Abgrenzungsprobleme – insbesondere zu einem Leistungs- oder Vollstreckungsabwehrantrag – bestehen können.
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Praxistipp: Zunächst ist festzustellen, ob und ggf. welcher Titel mit welchem Inhalt existiert, um entscheiden zu können, ob für den Unterhaltsgläubiger ein Leistungs- oder Abänderungsantrag und für den Unterhaltsschuldner ein Abänderungs- oder Vollstreckungsabwehrantrag zu stellen ist. Es ist Sache des Anwalts, sich durch Befragung des Mandanten oder Einsichtnahme in die Gerichtsakte um zusätzliche Informationen über das Vorverfahren zu bemühen1. Es ist zwar grundsätzlich zulässig, einen Abänderungsantrag hilfsweise mit einem Vollstreckungsabwehrantrag zu stellen, wenn die Voraussetzungen der objektiven Antragshäufung vorliegen, gleichwohl besteht für den Anwalt hier ein hohes Haftungsrisiko. Grundsätzlich ist zwar eine Umdeutung zulässig, auf die sich der Anwalt jedoch nicht verlassen darf und sich schadensersatzpflichtig macht, wenn das Gericht rechtsfehlerhaft von der Umdeutung keinen Gebrauch macht2. Dieses Haftungsrisiko besteht auch, wenn für den Unterhaltsgläubiger ein Leistungs- statt eines Abänderungsantrags gestellt wurde3.
aa) Abgrenzung zum Vollstreckungsabwehrantrag Während das Abänderungsverfahren gegen gerichtliche Endentscheidungen i.S.d. §§ 238 ff. FamFG auf die Durchbrechung der Rechtskraft gerichtet ist, verfolgt das Vollstreckungsabwehrverfahren das Ziel, die Zwangsvollstreckung aus dem Titel wegen der nunmehr erhobenen materiellrechtlichen Einwendungen für unzulässig zu erklären (§ 767 ZPO).
460
Das Vollstreckungsabwehrverfahren dient der Durchsetzung rechtsver- 461 nichtender und rechtshemmender Einwendungen. Das Verfahren ist lediglich auf die Beseitigung der Vollstreckbarkeit des früheren Titels gerichtet, während mit dem Abänderungsverfahren der Unterhaltstitel selbst unter Durchbrechung seiner materiellen Rechtskraft an die stets wandelbaren wirtschaftlichen Verhältnisse angepasst werden soll4. Abänderungs- und Vollstreckungsabwehrverfahren schließen sich für den gleichen Streitgegenstand wegen dieser unterschiedlichen Zielrichtung grundsätzlich gegenseitig aus5, so dass kein Wahlrecht des Unterhaltsschuldners zwischen beiden Verfahrensarten besteht6 und er sein Rechtsschutzbegehren auf die Antragsart stützen muss, die dem Ziel seines
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BGH v. 2.4.1998 – IX ZR 107/97, FamRZ 1998, 896. BGH v. 2.4.1998 – IX ZR 107/97, FamRZ 1998, 896. BGH v. 2.4.1998 – IX ZR 107/97, FamRZ 1998, 896. BGH v. 3.11.2004 – XII ZR 120/02, FamRZ 2005, 101 = FamRB 2005, 74. BGH v. 8.6.2005 – XII ZR 294/02, FamRZ 2005, 1479 = FamRB 2005, 260. BGH v. 8.6.2005 – XII ZR 294/02, FamRZ 2005, 1479 = FamRB 2005, 260.
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Begehrens für den entsprechenden Unterhaltszeitraum am besten entspricht1. Das Vollstreckungsabwehrverfahren ist die richtige Wahl bei – Erfüllung oder Erfüllungssurrogaten2, – Verjährung, – Erlass der Unterhaltsschuld, Unterhalts- oder Vollstreckungsverzicht3, – Wegfall des Trennungsunterhaltsanspruchs durch rechtskräftige Scheidung4, – Wiederheirat des Unterhaltsberechtigten5, dies gilt jedoch nicht, wenn eine Abfindung für künftigen Unterhalt gezahlt worden ist und der Unterhaltsberechtigte kurze Zeit später eine neue Ehe eingeht6, – Vollstreckung im Namen des Elternteils aus einem Kindesunterhaltstitel nach Volljährigkeit des Kindes7, – fehlende Vollstreckbarkeit wegen mangelnder Bestimmtheit des Unterhaltstitels8. 462
Die Verwirkungstatbestände gem. §§ 1611, 1579 BGB können sowohl mit einem Vollstreckungsabwehrantrag als auch mit einem Abänderungsantrag geltend gemacht werden9.
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Bezieht der Unterhaltsberechtigte inzwischen Rente und wendet sich deshalb der Unterhaltsschuldner gegen den titulierten Unterhaltsanspruch, ist hierfür das Abänderungsverfahren und nicht das Vollstreckungsabwehrverfahren nach § 767 ZPO eröffnet10.
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Wichtig: Die Abgrenzung zwischen den beiden Verfahrensarten ist schon deshalb notwendig, weil im Vollstreckungsabwehrverfahren grundsätzlich die Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung bereits ab Entstehen der Einwendung geltend gemacht werden kann, während der Abänderungsantrag auf Herabsetzung des Unterhalts der zeitlichen Beschränkung des § 238 Abs. 3 FamFG unterliegt (vgl. auch Rn. 510 f.).
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BGH v. 8.6.2005 – XII ZR 294/02, FamRZ 2005, 1479 = FamRB 2005, 260. BGH v. 21.12.2005 – XII ZR 126/03, FamRZ 2006, 1015 = FamRB 2006, 232. Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 154. BGH v. 14.1.1981 – IV b ZR 575/80, FamRZ 1981, 242. OLG Naumburg v. 24.8.2005 – 14 WF 126/05, FamRZ 2006, 1402. BGH v. 10.8.2005 – XII ZR 73/05, FamRZ 2005, 1662 = FamRB 2005, 320. OLG München v. 2.5.1997 – 16 UF 822/97, FamRZ 1997, 1493; OLG Hamm v. 17.1.1992 – 5 UF 264/91, FamRZ 1992, 843. 8 BGH v. 7.12.2005 – XII ZR 94/03, FamRZ 2006, 261 = FamRB 2006, 76. 9 BGH v. 30.5.1990 – XII ZR 57/89, FamRZ 1990, 1095. 10 BGH v. 8.6.2005 – XII ZR 294/02, FamRZ 2005, 1479 = FamRB 2005, 260.
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Verfahrensrecht
Rn. 464
Kap. 12
bb) Abgrenzung zum Leistungsantrag Auch die Abgrenzung zwischen einem Abänderungs- und einem Leis- 464 tungsantrag des Unterhaltsberechtigten kann im Einzelfall Probleme bereiten. Die Abgrenzung ist erforderlich, weil der Leistungsantrag keine wesentliche Veränderung der Verhältnisse voraussetzt, eine Bindung an die Feststellungen in der früheren Entscheidung nicht besteht und auch die Präklusion i.S.d. § 238 Abs. 2 FamFG nicht gilt1. Die Abänderung setzt nach dem Gesetzeswortlaut (§ 238 Abs. 1 S. 1 FamFG) voraus, dass die Endentscheidung eine Verpflichtung zu künftig fällig werdenden wiederkehrenden Leistungen enthält und der Entscheidung eine Prognose der künftigen Entwicklung zugrunde liegt und damit der Entscheidung eine in die Zukunft reichende Rechtskraftwirkung zukommt2. Ein Leistungsantrag ist zu stellen, wenn im Erstverfahren der Antrag auf Zahlung künftigen Unterhalts vollständig – mangels Bedürftigkeit3, auch wenn zugleich rückständiger Unterhalt zugesprochen wurde4, – mangels Leistungsfähigkeit des Antragsgegners5 oder – wegen fehlender Schlüssigkeit6 zurückgewiesen worden war. In diesen Fällen liegt in der Abweisung des Antrags auf Zahlung zukünftigen Unterhalts keine sachliche Beurteilung; eine solche Entscheidung hat also keine in die Zukunft reichende Rechtskraftwirkung7. Wurde der Unterhaltsantrag teilweise zurückgewiesen, ist das Abänderungsverfahren die zutreffende Verfahrensart, weil – wenn auch nur teilweise – Unterhalt für die Zukunft zugesprochen wurde, also eine Verpflichtung zur Zahlung wiederkehrender Leistungen i.S.d. § 238 Abs. 1 FamFG erfolgte. Wurde Unterhalt für eine bestimmte Zeit zugesprochen und der Unterhaltsantrag ab einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt wegen der Annahme künftigen Wegfalls der Bedürftigkeit aberkannt, ist ein erneutes Unterhaltsbegehren im Wege des Abänderungsantrags gem. § 238 FamFG geltend zu machen8, weil die Abweisung des Antrags auf einer Prognoseentscheidung für die zukünftige Entwicklung beruht9. In diesem Fall stellt sich die in der Ausgangsentscheidung angestellte Prognose im Nachhinein als fehlerhaft heraus, weil die prognostizierten Veränderungen tatsächlich nicht eingetreten sind. Diese fehlgeschlagene Prognostizierung kann mit dem Abänderungsantrag wieder 1 Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 24. 2 BGH v. 3.11.2004 – XII ZR 120/02, FamRZ 2005, 101 = FamRB 2005, 74; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 25. 3 BGH v. 20.1.1982 – IVb ZR 647/80, FamRZ 1982, 252. 4 BGH v. 3.11.2004 – XII ZR 120/02, FamRZ 2005, 101 = FamRB 2005, 74. 5 BGH v. 27.6.1984 – IX b ZR 2/83, FamRZ 1994, 1001. 6 OLG München v. 6.5.2009 – 12 UF 1832/08, FamRZ 2009, 1338 = FamRB 2009, 375. 7 BGH v. 3.11.2004 – XII ZR 120/02, FamRZ 2005, 101 = FamRB 2005, 74. 8 BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 163/04, FamRZ 2007, 983 = FamRB 2007, 227. 9 BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 163/04, FamRZ 2007, 983 = FamRB 2007, 227.
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Kap. 12 Rn. 465
Verfahrensrecht
korrigiert werden1. Dies gilt selbst dann, wenn in einem Abänderungsverfahren wegen Wegfalls der Bedürftigkeit der im Erstverfahren zugesprochene Unterhalt aberkannt wird und in der Folgezeit erneut mit der Begründung, der Unterhaltsbedarf sei nicht mehr gedeckt, Unterhalt verlangt wird2. 465
Somit ist im Wesentlichen statt eines Leistungs- ein Abänderungsantrag zu stellen, wenn – Unterhalt für die Zukunft nur für einen befristeten Zeitraum zugesprochen wurde oder – im Erstverfahren dem Antrag auf laufenden Unterhalt nur teilweise stattgegeben wurde oder – Unterhaltsansprüche bei erneuten wesentlichen Veränderungen der Verhältnisse geltend gemacht werden, nachdem zuvor ursprünglich titulierte Unterhaltsansprüche im Wege eines Abänderungsantrags von Seiten des Unterhaltsschuldners ganz oder teilweise aberkannt worden sind3.
466
Wurde im Erstverfahren Trennungsunterhalt tituliert und wird nun nachehelicher Unterhalt verlangt, ist nicht etwa ein Abänderungs-, sondern ein neuer Leistungsantrag zu erheben, da die beiden Unterhaltsansprüche nicht identisch sind4.
467
Eine weitere Abgrenzung ist zwischen dem Abänderungs- und Nachforderungsantrag (§ 113 Abs. 1 FamFG, § 258 ZPO), der einen Unterfall des Leistungsantrags darstellt, vorzunehmen. Ein Nachforderungsantrag ist zu stellen, wenn der Unterhaltsgläubiger, der wegen eines bisher freiwillig gezahlten Sockelbetrags nur einen darüber hinausgehenden Spitzenbetrag hat titulieren lassen und nunmehr den Sockelbetrag gerichtlich geltend machen will, weil der Unterhaltsschuldner die Zahlungen eingestellt hat5. Wird Unterhalt über einen freiwillig gezahlten Betrag hinaus zugesprochen, liegt lediglich eine Entscheidung über einen Teilantrag vor, ohne dass eine Entscheidung über den Sockelbetrag getroffen wurde, so dass der Leistungsantrag die richtige Antragsform ist.
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Praxistipp: Im Regelfall ist dem Unterhaltsgläubiger von einer Titulierung nur des Spitzenbetrags abzuraten, weil der Unterhaltsschuldner die Zahlungen des Sockelbetrags jederzeit einstellen kann. Der Unterhaltsberechtigte hat ein Titulierungsinteresse auf den vollen geschuldeten
1 Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 199; Johannsen/Henrich/Brudermüller, § 238 FamFG Rn. 67; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 82. 2 BGH v. 28.3.2007 – XII ZR 163/04, FamRZ 2007, 983 = FamRB 2007, 227. 3 BGH v. 13.12.1989 – IVb ZR 22/89, FamRZ 1990, 863; OLG Hamm v. 5.1.2004 – 11 WF 138/03, FamRZ 2004, 1656 = FamRB 2004, 221. 4 BGH v. 14.1.1981 – IVb ZR 575/80, FamRZ 1981, 242. 5 BGH v. 7.12.1994 – XII ZB 112/94, FamRZ 1995, 729.
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Verfahrensrecht
Rn. 470
Kap. 12
Unterhalt, so dass der Unterhaltspflichtige, der lediglich Teilleistungen auf den geschuldeten Unterhalt erbringt, selbst dann Veranlassung für einen Unterhaltsantrag auf den vollen Unterhalt gibt, wenn er zuvor nicht zur Titulierung des freiwillig gezahlten Teils aufgefordert worden ist1 (vgl. auch Rn. 412). Will der Unterhaltsgläubiger, dem im Vorverfahren der geltend gemachte Unterhalt in vollem Umfang zugesprochen worden war, zusätzlich Unterhalt geltend machen, stellt sich ebenfalls das Problem der Abgrenzung zwischen dem Abänderungs- und Nachforderungsantrag.
468
Nach der Rechtsprechung des BGH2 besteht bei der Geltendmachung von 469 Unterhalt die Vermutung, dass im Vorprozess Unterhalt in voller Höhe geltend gemacht worden ist, mit der Folge, dass grundsätzlich die Geltendmachung weiteren Unterhalts nur im Wege des Abänderungsantrags gem. § 238 FamFG zulässig ist. Der Abänderungsantrag setzt jedoch ua. eine wesentliche Veränderung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse voraus. Eine Ausnahme besteht nur in den Fällen, in denen der Unterhaltsanspruch im vorausgegangenen Verfahren im Wege eines sog. offenen Teilantrags geltend gemacht wurde, in dem der Unterhaltsgläubiger entweder ausdrücklich nur einen Teilanspruch geltend macht oder sich wenigstens erkennbar eine Nachforderung vorbehält3. Wird nachträglich Altersvorsorge- oder Krankheitskostenvorsorgeunterhalt (vgl. hierzu Kap. 6, Rn. 857 ff.) geltend gemacht, ist der Nachforderungsantrag daher nur zulässig, wenn der Unterhalt im Vorverfahren im Wege eines offenen Teilantrags verlangt wurde.
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Praxistipp: Ist ein Hauptsacheverfahren über Trennungsunterhalt anhängig und wird noch während des laufenden Verfahrens der Scheidungsantrag rechtshängig, ist zu beachten, dass mit der Rechtshängigkeit der Ehescheidung der Anspruch auf Altersvorsorgeunterhalt (§ 1361 Abs. 1 S. 2 BGB) entsteht. Soll der Altersvorsorgeunterhalt (derzeit) noch nicht beziffert geltend gemacht werden, muss im Trennungsunterhaltsverfahren zumindest deutlich gemacht werden, dass es sich bei dem dort geltend gemachten Unterhalt nur um Elementarunterhalt handelt, anderenfalls könnte der Altersvorsorgeunterhalt später für die Trennungszeit nur noch mit einem Abänderungsverfahren geltend gemacht werden, das jedoch voraussetzt, dass sonstige Abänderungsgründe vorgetragen werden können. Wird im Verbundverfahren die Zahlung nachehelichen Unterhalts beantragt, ohne zugleich Altersvorsorge- oder ggf. Krankheitskostenvorsorgeunterhalt zu be-
1 BGH v. 2.12.2009 – XII ZB 207/08, FamRZ 2010, 196 = FamRB 2010, 75. 2 BGH v. 3.4.1985 – IV b ZR 19/84, FamRZ 1985, 690. 3 BGH v. 3.4.1985 – IV b ZR 19/84, FamRZ 1985, 690.
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Kap. 12 Rn. 471
Verfahrensrecht
ziffern, tritt dasselbe Problem auf. Erfolgt kein ausdrücklicher Vorbehalt der Nachforderung des Altersvorsorge- und Krankheitskostenvorsorgeunterhalts oder wird der geltend gemachte Unterhalt nicht ausdrücklich als Elementarunterhalt bezeichnet, können die unselbständigen Unterhaltsbestandteile für die Zukunft ebenfalls nur unter der Voraussetzung des § 238 FamFG verlangt werden.
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Wichtig: Der Rechtsanwalt hat den Mandanten bei Einleitung des Verfahrens auf Zahlung von Trennungsunterhalt auch auf die Geltendmachung von Altersvorsorgeunterhalt hinzuweisen, wenn Vorsorgeunterhalt voraussichtlich geschuldet wird1. Verstöße gegen die Hinweispflicht können Schadensersatzansprüche nach sich ziehen.
cc) Abgrenzung zur Beschwerde und Rechtsbeschwerde 471
Ist bereits eine erstinstanzliche Entscheidung ergangen, jedoch noch nicht rechtskräftig und ändern sich die dieser Entscheidung zugrunde liegenden Verhältnisse nach Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz und noch innerhalb der Rechtsmittelfrist, besteht grundsätzlich ein Wahlrecht, entweder Beschwerde einzulegen oder ein Abänderungsverfahren nach § 238 FamFG einzuleiten. Das Wahlrecht setzt allerdings auch voraus, dass das Rechtsmittel überhaupt zulässig ist2.
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Wichtig: Dieses Wahlrecht erlischt, wenn ein Beschwerdeverfahren anhängig ist, ein Abänderungsantrag in einem gesonderten Verfahren wäre als unzulässig zurückzuweisen3. Nicht entscheidend ist, ob der Antragsteller oder der Antragsgegner das Rechtsmittel eingelegt hat4. Die eingetretenen Änderungen tatsächlicher oder rechtlicher Art sind deshalb ebenso wie die im Laufe des Beschwerdeverfahrens eintretenden Änderungen durch Antragserweiterungen oder durch Gegenanträge geltend zu machen.
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Hat lediglich der Gegner ein Rechtsmittel eingelegt, muss der Abänderungsberechtigte Anschlussbeschwerde gem. § 66 FamFG erheben und sein Abänderungsbegehren mit einer Antragserweiterung oder einem Abänderungswiderantrag geltend machen5, anderenfalls wäre er mit einem späteren Abänderungsbegehren präkludiert. Wird das Rechtsmittel von dem Gegner zurückgenommen oder als unzulässig verworfen, verliert die 1 OLG Düsseldorf v. 9.6.2009 – I-24 U 133/08, FamRZ 2010, 73 = FamRB 2009, 303. 2 Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 172. 3 BGH v. 6.11.1985 – IVb ZR 74/84, FamRZ 1986, 43. 4 BGH v. 6.11.1985 – IVb ZR 74/84, FamRZ 1986, 43. 5 BGH v. 1.10.1997 – XII ZR 49/96, FamRZ 1998, 99; BGH v. 6.11.1985 – IVb ZR 74/84, FamRZ 1986, 43; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 35.
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Verfahrensrecht
Rn. 476
Kap. 12
Anschließung ihre Wirkung (§ 66 S. 2 FamFG) und der Abänderungsberechtigte muss sein Abänderungsbegehren in einem gesonderten Abänderungsverfahren innerhalb der Sechs-Monats-Frist gem. § 204 Abs. 2 BGB i.V.m. § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB gerichtlich geltend machen, um die Vorwirkung des Abänderungsantrags zu erhalten1. Mit der Rechtsbeschwerde können Tatsachenänderungen, die erst nach 473 Abschluss des Beschwerdeverfahrens in zweiter Instanz eintreten, nicht mehr berücksichtigt werden (§ 72 Abs. 1 FamFG), so dass in diesem Fall ein Abänderungsantrag gem. § 238 FamFG gestellt werden muss. Wird auf die Rechtsbeschwerde hin das Verfahren unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an das Beschwerdegericht gem. § 74 Abs. 6 S. 2 FamFG zurückverwiesen, können die Beteiligten die nach Schluss der letzten Tatsachenverhandlung eingetretenen Änderungen in der neu eröffneten zweiten Tatsacheninstanz geltend machen2. dd) Abgrenzung zum Feststellungsantrag Grundsätzlich schließen sich Abänderungs- und negativer Feststellungs- 474 antrag aus, für einen negativen Feststellungsantrag besteht kein Rechtsschutzbedürfnis3. Ein negativer Feststellungsantrag ist jedoch zulässig, wenn sich der Feststellungsantrag gegen eine Entscheidung im einstweiligen Anordnungsverfahren gem. § 246 FamFG i.V.m. §§ 49 f. FamFG richtet. § 238 FamFG ist auf die Abänderung gerichtlicher Entscheidungen im einstweiligen Anordnungsverfahren nicht anwendbar, weil es sich bei den einstweiligen Anordnungen nicht um eine Endentscheidung i.S.d. § 238 FamFG handelt4 (vgl. auch Rn. 310 ff.). b) Abänderung von Endentscheidungen gem. § 238 FamFG aa) Zulässigkeit des Abänderungsantrags (1) Allgemeine Voraussetzungen Für das Abänderungsverfahren ist das Familiengericht sachlich zuständig (§ 23a Abs. 1 Nr. 1 GVG).
475
Die örtliche Zuständigkeit für Abänderungsanträge in Unterhaltssachen richtet sich nach §§ 232, 233 FamFG, §§ 12 f. ZPO (vgl. hierzu Rn. 84 ff.). Ist die Ehesache anhängig, ist das Gericht der Ehesache ausschließlich für das Abänderungsverfahren zuständig. Betrifft das Abänderungsverfahren Unterhaltsansprüche minderjähriger und privilegiert volljähriger Kin-
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1 Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 177. 2 BGH v. 3.4.1985 – IVb ZR 18/84, FamRZ 1985, 691; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 38. 3 Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 164; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 44. 4 Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 45.
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Kap. 12 Rn. 477
Verfahrensrecht
der, ist das Gericht des gewöhnlichen Aufenthaltsorts der Kinder ausschließlich örtlich zuständig (§ 232 Abs. 1 Nr. 2 FamFG). Ist eine Zuständigkeit nach § 232 Abs. 1 FamFG nicht gegeben, bestimmt sich die Zuständigkeit nach dem allgemeinen Aufenthaltsort des Antragsgegners (§ 232 Abs. 3 S. 1 FamFG i.V.m. §§ 12, 13 ZPO), es sei denn, die Voraussetzungen des § 232 Abs. 3 S. 2 Nrn. 1–3 FamFG sind erfüllt, wonach der Antragsteller eine Wahlmöglichkeit zwischen den dort geregelten Gerichtsständen und den allgemeinen Gerichtsständen der ZPO hat. 477
Das Abänderungsverfahren ist nur zulässig, wenn ein Rechtsschutzinteresse für das Verfahren besteht.
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Ein Rechtsschutzinteresse des Unterhaltsschuldners besteht nicht, wenn der Unterhaltsgläubiger den Vollstreckungstitel herausgibt oder die Herausgabe nur verweigert, weil der Titel für die Vollstreckung weiterer Ansprüche noch benötigt wird, jedoch eine Erklärung abgibt, aus der unzweifelhaft hervorgeht, dass wegen des laufenden Unterhalts auf die Rechte aus dem Titel verzichtet wird1.
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Wurde außergerichtlich nur teilweise ein Vollstreckungsverzicht erklärt, besteht das Rechtsschutzbedürfnis für den Abänderungsantrag nur in Höhe des verbleibenden Betrags2. Ist der Unterhalt nur in Höhe eines Spitzenbetrags tituliert, besteht für ein Abänderungsbegehren des Unterhaltsschuldners nur dann ein Rechtsschutzbedürfnis, wenn die erstrebte Herabsetzung des Unterhalts den freiwillig geleisteten Sockelbetrag übersteigt3.
480
Die Abänderung kann auch in Form eines Stufenantrags gestellt werden. Ist bereits ein Abänderungsverfahren des Gegners anhängig, kann und muss ggf. im Wege eines Widerantrags oder eines Stufenwiderantrags die Abänderung begehrt werden, wenn nicht nur das Abänderungsbegehren mit dem Abweisungsantrag, sondern die bestehende Titulierung angegriffen werden soll. (2) Besondere Voraussetzungen
481
Der Abänderungsantrag muss sich gegen eine gerichtliche Endentscheidung in einem Hauptsacheverfahren richten, die eine Verpflichtung zu künftig fällig werdenden wiederkehrenden Leistungen enthält, wobei es maßgebend darauf ankommt, ob diese Entscheidung tatsächlich eine der Rechtskraft fähige Entscheidung für die Zukunft enthält, dh. ob sie sich im Wege einer Prognose der künftigen Verhältnisse mit den Vorausset1 OLG Hamm v. 31.1.2006 – 2 WF 12/06, FamRZ 2006, 1855; OLG Köln v. 25.7.2005 – 4 WF 104/05, FamRZ 2006, 718; OLG München v. 3.12.1998 – 12 WF 1327/98, FamRZ 1999, 942; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 60; aA Johannsen/Henrich/Brudermüller, § 238 FamFG Rn. 35. 2 Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 60. 3 BGH v. 31.3.1993 – XII ZR 234/91, FamRZ 1993, 945.
1482
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 485
Kap. 12
zungen des künftigen Unterhaltsanspruchs befasst hat1 (vgl. zur Abgrenzung zu anderen Verfahrensarten Rn. 459 ff.). Titel i.S.d. § 238 FamFG sind nicht nur streitige Endentscheidungen, sondern auch Anerkenntnisoder rechtskräftige Versäumnisbeschlüsse und Abänderungsbeschlüsse bzw. Abänderungsurteile gem. § 323 aF ZPO. Die Abänderbarkeit eines Unterhaltsfestsetzungsbeschlusses im verein- 482 fachten Verfahren über den Unterhalt Minderjähriger (§§ 249 f. FamFG) richtet sich nach § 240 FamFG. Dies gilt auch für einen Unterhaltsbeschluss, der im Rahmen der Feststellung der Vaterschaft gem. § 237 FamFG erlassen wurde. Ist der im Erstverfahren errichtete Unterhaltstitel bereits mehrfach abge- 483 ändert worden, richtet sich der neue Abänderungsantrag grundsätzlich gegen die zuletzt ergangene Abänderungsentscheidung2. (Zur Abänderung von Vergleichen und vollstreckbaren Urkunden vgl. Rn. 514 ff.).
Û
Praxistipp: Grundsätzlich ist es empfehlenswert, den Titel, dessen Abänderung begehrt wird, dem Abänderungsantrag in Kopie beizufügen und die Beiziehung der Akten aus dem Vorverfahren zu beantragen.
Weitere Voraussetzung für die Zulässigkeit des Abänderungsverfahrens 484 ist die Identität der Beteiligten des Abänderungsverfahrens mit denen des Vorverfahrens. Auch diejenigen sind Beteiligte des Abänderungsverfahrens, auf die sich die Rechtskraft der abzuändernden Entscheidung erstreckt3.
Û
Praxistipp: Wurde ein Unterhaltstitel über Kindesunterhalt in gesetzlicher Verfahrensstandschaft (§ 1629 Abs. 3 BGB) errichtet und ist die Verfahrensstandschaft durch Volljährigkeit des Kindes oder Scheidung der Ehe entfallen, ist nur das Kind Beteiligter des Abänderungsverfahrens4.
Ist ein Unterhaltsanspruch nach Errichtung des zuletzt ergangenen Titels 485 im Wege des gesetzlichen Forderungsübergangs auf den Leistungsträger übergegangen (§ 94 Abs. 1 S. 1 SGB XII oder § 33 Abs. 1 SGB II), ist dieser 1 BGH v. 3.11.2004 – XII ZR 120/02, FamRZ 2005, 101 (102) = FamRB 2005, 74. 2 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 (796) = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197; BGH v. 3.11.2004 – XII ZR 120/02, FamRZ 2005, 101 = FamRB 2005, 74; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 66. 3 BGH v. 11.12.1985 – IV b ZR 80/84, FamRZ 1996, 254; BGH v. 17.3.1982 – IVb ZR 646/80, FamRZ 1982, 587; OLG Jena v. 19.5.2008 – 1 WF 414/07, FamRZ 2009, 67; Zöller/Vollkommer, § 323 ZPO Rn. 28; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 70. 4 Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 71.
Kühner
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Kap. 12 Rn. 486
Verfahrensrecht
als Rechtsnachfolger für das Abänderungsverfahren aktiv- bzw. passivlegitimiert. Die Aktivlegitimation des Sozialhilfeträgers, der im Wege der Abänderung zukünftigen Unterhalt geltend machen will, entfällt, wenn er die Ansprüche zurück abgetreten hat (§ 33 Abs. 4 S. 1 SGB II, § 94 Abs. 5 SGB XII)1. 486
Die Zulässigkeit des Abänderungsantrags setzt ferner voraus, dass dem Abänderungsverfahren derselbe Verfahrensgegenstand wie im Vorprozess zugrunde liegt2.
Û
Wichtig: Keine Identität besteht zwischen einem Anspruch auf Trennungsunterhalt (§ 1361 BGB) und dem Anspruch auf nachehelichen Unterhalt (§§ 1569 f. BGB), so dass der Unterhaltsschuldner bei einer Vollstreckung aus dem Trennungsunterhaltstitel einen Vollstreckungsabwehrantrag gem. § 767 ZPO und der Unterhaltsgläubiger seinen Anspruch auf nachehelichen Unterhalt mit einem Leistungsantrag geltend machen muss. Der Unterhaltsanspruch eines minderjährigen Kindes hingegen ist identisch mit dem Unterhaltsanspruch nach Eintritt der Volljährigkeit3.
487
Der Abänderungsantrag gem. § 238 Abs. 1 S. 2 FamFG ist nur zulässig, wenn der Antragsteller Tatsachen vorträgt, aus denen sich eine wesentliche Veränderung der der Entscheidung zugrunde liegenden tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse der für die Leistungspflicht maßgeblichen Verhältnisse nach Schluss der mündlichen Verhandlung (Tatsacheninstanz) des Vorverfahrens ergibt4. Ob tatsächlich eine solche Veränderung vorliegt, ist bei der Begründetheit des Abänderungsantrags zu prüfen. Im Einzelnen und substantiiert sind die Grundlagen des abzuändernden Titels darzustellen, dh. alle Umstände, die für Grund, Höhe und Dauer der Unterhaltsverpflichtung maßgebend waren5. Sodann sind substantiiert die Tatsachen vorzutragen, aus denen sich die wesentliche Veränderung zum Vorverfahren ergibt. Die Schlüssigkeit des Abänderungsantrags setzt voraus, dass sämtliche für die Unterhaltsberechnung maßgebenden Positionen vorgetragen werden, weil nur durch eine Gesamtschau unter Berücksichtigung aller Aspekte6 eine Entscheidung über die Zulässigkeit des Abänderungsantrags getroffen werden kann.
1 BGH v. 1.3.1992 – XII ZR 1/91, FamRZ 1992, 797; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 72. 2 Zöller/Vollkommer, § 323 ZPO Rn. 10; Zöller/Lorenz, § 238 FamFG Rn. 16; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 67. 3 BGH v. 21.3.1984 – IVb ZR 72/82, FamRZ 1984, 682; Zöller/Lorenz, § 238 FamFG Rn. 13; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 69. 4 BT-Drucks. 16/6308, 257; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 73. 5 Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 75. 6 Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 75.
1484
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 489
Kap. 12
Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse sind zB – Änderung der Einkommensverhältnisse der – Änderung der Unterhaltstabellen2,
488
Beteiligten1,
– Erreichen der nächsthöheren Altersstufe der jeweiligen Unterhaltstabelle beim Kindesunterhalt3, – anteilige Barunterhaltsverpflichtung beider Elternteile mit Volljährigkeit des Kindes4, – nicht nur vorübergehende Arbeitslosigkeit5, – Hinzutreten weiterer Unterhaltsverpflichtungen aufgrund Wiederheirat6 oder Geburt eines weiteren Kindes7, – der Eintritt oder die Erweiterung von Erwerbsobliegenheiten8, – Änderung des Unterhaltsbedarfs wegen höheren Alters9, – Verfestigung einer außerehelichen Beziehung zu einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft10, – Herabsetzung auf den angemessenen Bedarf und Befristung (§ 1578b BGB)11, – Eröffnung eines Insolvenzverfahrens12. Änderungen der rechtlichen Verhältnisse sind zB
489
– Gesetzesänderungen, zB durch das UÄndG am 1.1.2008, – Änderung der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung, die einer Gesetzesänderung gleichkommt; wie zB der Surrogatsrechtsprechung
1 OLG Zweibrücken v. 20.10.1978 – 6 WF 161/78, FamRZ 1979, 929. 2 BGH v. 2.2.2005 – XII ZR 114/03, FamRZ 2005, 608. 3 BGH v. 2.2.2005 – XII ZR 114/03, FamRZ 2005, 608; OLG Karlsruhe v. 15.10.2003 – 16 WF 119/03, FamRZ 2004, 1052; OLG Hamm v. 9.8.1988 – 2 WF 49/88, FamRZ 1989, 201. 4 OLG Koblenz v. 9.11.2006 – 7 WF 1042/06, FamRZ 2007, 653 = FamRB 2007, 42. 5 OLG Dresden v. 25.11.1997 – 10 WF 455/97, FamRZ 1998, 767; OLG Brandenburg v. 12.1.1995 – 9 UF 90/94, FamRZ 1995, 1220; Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 198. 6 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 159/09, FamRZ 2012, 288 = FamRB 2012, 74. 7 BGH v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, FamRZ 2008, 1911 = FamRB 2008, 326 und FamRB 2008, 327. 8 OLG Bamberg v. 2.12.1998 – 2 UF 203/98, FamRZ 1999, 942; Wendl/Dose/ Schmitz, § 10 Rn. 198; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 82. 9 BGH v. 23.11.1994 – XII ZR 168/93, FamRZ 1995, 221; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 82. 10 BGH v. 25.11.2009 – XII ZR 8/08, FamRZ 2010, 192 = FamRB 2010, 71; BGH v. 12.3.1997 – XII ZR 153/95, FamRZ 1997, 671. 11 BGH v. 26.5.2010 – XII ZR 143/08, FamRZ 2010, 1238 = FamRB 2010, 262; Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 198. 12 Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 198; Johannsen/Henrich/Brudermüller, § 238 FamFG Rn. 66.
Kühner
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Kap. 12 Rn. 490
Verfahrensrecht
des BGH1 mit dem Wechsel von der Anrechnungs- zur Differenzmethode2 oder zur Befristung und Begrenzung des Aufstockungsunterhalts gem. § 1573 Abs. 5 BGB3 490
Wurde dem Unterhaltsschuldner im Ausgangsverfahren fiktives Einkommen zugerechnet, nachdem er schuldlos seine Arbeitsstelle verloren und sich danach nicht in ausreichendem Maß um eine neue Arbeitsstelle bemüht hat, ist die Abänderung bei fortdauernder Arbeitslosigkeit nur zulässig, wenn er vorträgt, dass er sich im Anschluss an die Entscheidung ausreichend, jedoch erfolglos um eine neue Beschäftigung bemüht hat oder eine Erwerbstätigkeit zwar aufgenommen werden konnte, das daraus erzielte Einkommen jedoch nicht die Höhe des in der Ausgangsentscheidung angenommenen Verdienstes erreicht4.
491
Die Abänderung eines wegen mutwilliger Aufgabe einer gut bezahlten Arbeitsstelle auf fiktiver Grundlage ergangenen Unterhaltstitels setzt hingegen voraus, dass der Abänderungsantragsteller geltend macht, er hätte die frühere Arbeitsstelle inzwischen aus anderen Gründen verloren, etwa weil er den Anforderungen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr gewachsen gewesen oder Personal abgebaut worden sei und er hiervon betroffen gewesen wäre5. Die Abänderung ist in diesem Fall nicht bereits mit der Behauptung zulässig, der Abänderungsantragsteller genüge inzwischen seiner Erwerbsobliegenheit, verdiene aber weniger als zuvor6. bb) Begründetheit des Abänderungsantrags
492
Der Abänderungsantrag ist begründet, wenn nicht nur eine Veränderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse vorliegt, sondern diese Veränderung auch wesentlich ist. Eine Änderung ist wesentlich, wenn sie in nicht unerheblicher Weise zu einer anderen Beurteilung des Bestehens, der Höhe oder der Dauer des Anspruchs führt7. Als Faustregel für eine wesentliche Veränderung des Unterhaltsanspruchs wird eine Abweichung in Höhe von 10 % angenommen. Diese 10 %-Schwelle kann jedoch nicht schematisch angewandt werden; sie kann bei beengten wirtschaftlichen Verhältnissen deutlich darunter liegen8. Die 10 %-Grenze stellt lediglich einen Richtwert dar, der bei beengten wirtschaftlichen Verhältnissen auch unterschritten werden kann9. Eine Abweichung von 1 2 3 4 5 6 7
BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986 = FamRB 2002, 3. BGH v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986 = FamRB 2002, 3. BGH v. 12.4.2006 – XII ZR 240/03, FamRZ 2006, 1006 = FamRB 2006, 263. BGH v. 20.2.2008 – XII ZR 101/05, FamRZ 2008, 872 = FamRB 2008, 170. BGH v. 20.2.2008 – XII ZR 101/105, FamRZ 2008, 872. BGH v. 20.2.2008 – XII ZR 101/05, FamRZ 2008, 872 = FamRB 2008, 170. BGH v. 26.1.1983 – IVb ZR 347/81, FamRZ 1984, 353; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 80. 8 Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 80. 9 BGH v. 29.1.1992 – XII ZR 239/90, FamRZ 1992, 539; OLG Hamm v. 11.8.2006 – 11 UF 25/06, FamRZ 2007, 929 = FamRB 2007, 200 (zum Kindesunterhalt).
1486
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 495
Kap. 12
weniger als 3 % wird im Allgemeinen als unwesentlich bezeichnet1. Die Wesentlichkeit der Veränderung setzt deren Nachhaltigkeit voraus, so dass zB der arbeitslose Unterhaltspflichtige ein Abänderungsbegehren nur auf eine nachhaltige Arbeitslosigkeit stützen kann2. Zur Veränderung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse vgl. im Einzelnen oben Rn. 488.
493
Der Antragsteller kann sein Abänderungsbegehren nur auf Gründe stüt- 494 zen, die nachträglich, dh. nach der letzten Tatsachenverhandlung im vorausgegangenen Verfahren entstanden sind und durch Einspruch nicht mehr geltend gemacht werden können3 (§ 238 Abs. 2 FamFG). Wurde Beschwerde eingelegt, ist die letzte mündliche Verhandlung in der Beschwerdeinstanz maßgeblich; wird die Beschwerde als unzulässig verworfen oder zurückgenommen, ist der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in erster Instanz entscheidend. Hinsichtlich der Tatsachen, die im vorausgegangenen Verfahren bereits 495 vorhanden waren und nicht vorgetragen wurden, tritt somit gem. § 238 Abs. 2 FamFG Präklusion ein und der Antragsteller kann ein Abänderungsbegehren nicht auf diese Umstände stützen, da das Abänderungsverfahren grundsätzlich nicht dazu dient, Fehler der Erstentscheidung zu korrigieren4. Für die Präklusion i.S.d. § 238 Abs. 2 FamFG kommt es nicht darauf an, ab wann eine Änderung voraussichtlich eintritt, sondern darauf, dass die Veränderung tatsächlich eingetreten ist5. Die Präklusion ist bedeutsam insbesondere bei im Vorverfahren nicht vorgetragenen Umständen6. Wird im vorangegangenen Verfahren zB zu vorhandenen Kapitaleinkünften, einem Wohnvorteil oder berufsbedingten Fahrtkosten nicht vorgetragen und wurden diese Umstände in der Entscheidung deshalb auch nicht berücksichtigt, kann der Abänderungsantragsteller ein Abänderungsverfahren nicht auf eine Veränderung dieser Umstände stützen. Dasselbe gilt, wenn im Laufe des Ausgangsverfahrens Einkommensverminderungen eingetreten und nicht vorgetragen werden7. Würde die Wirkung der Präklusion zu einem unerträglichen, grob unbilligen Ergebnis führen8, zB bei Verschweigen oder Verschleiern des tatsächlich vor1 2 3 4 5
6 7 8
BGH v. 2.3.1994 – XII ZR 215/92, FamRZ 1994, 696. Zöller/Lorenz, § 238 FamFG Rn. 14. BGH v. 20.2.2008 – XII ZR 101/05, FamRZ 2008, 872 = FamRB 2008, 170. BGH v. 21.2.2001 – XII ZR 276/98, FamRZ 2001, 1364; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 87. BGH v. 31.10.2001 – XII ZR 292/99, FamRZ 2002, 88 = FamRB 2002, 65, FamRB 2002, 66 und FamRB 2002, 79; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 89; aA OLG Naumburg v. 13.9.2007 – 3 WF 261/07, FamRZ 2008, 797 (bei bevorstehendem Steuerklassenwechsel). Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 218; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 91. BGH v. 12.5.2010 – XII ZR 98/08, FamRZ 2010, 1150 = FamRB 2010, 237; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 92. Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 221.
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Kap. 12 Rn. 496
Verfahrensrecht
handenen Einkommens oder der unterlassenen Mitteilung des Unterhaltsberechtigten über eingetretene wesentliche Veränderungen, tritt die Präklusionswirkung des § 238 Abs. 2 FamFG nicht ein1. 496
Umstände, die im Vorverfahren vorgetragen wurden, dort aber keine Bedeutung erlangt haben, weil das Gericht hierauf nicht abgestellt hat, kann der Abänderungsantragsteller in einem Abänderungsverfahren erneut vortragen, ohne damit präkludiert zu sein2.
497
Präklusion kann jedoch auch eintreten, wenn der Unterhaltspflichtige im Ausgangsverfahren nicht umfassend alle Umstände vorträgt, die für eine Befristung oder Herabsetzung des Unterhaltsanspruchs gem. § 1578b BGB oder § 1579 BGB maßgebend sind. Die Entscheidung, ob ein Unterhaltsanspruch von einem bestimmten Zeitpunkt an zu begrenzen ist, setzt nicht voraus, dass dieser Zeitpunkt bereits erreicht ist; vielmehr reicht es aus, dass die betreffenden Gründe zuverlässig vorauszusehen sind3. Entscheidend ist, ob im Zeitpunkt der Erstentscheidung eine zuverlässige Prognose4 darüber getroffen werden konnte, ob die vorliegenden Tatsachen auch tatsächlich zu einer Begrenzung des Unterhaltsanspruchs geführt hätten. Ist dies der Fall, wäre der Unterhaltspflichtige, der zu einem späteren Zeitpunkt ein Abänderungsbegehren auf den Einwand des § 1578b BGB stützen will, mit seinem Vortrag präkludiert und der Abänderungsantrag zurückzuweisen.
Û
Praxistipp: Umfassender Sachvortrag zu den Kriterien des § 1578b BGB ist unbedingt notwendig; eines Antrags, den Unterhalt zu befristen oder zu begrenzen, bedarf es hingegen nicht. Sowohl der Unterhaltsgläubiger als auch der Unterhaltsschuldner müssen umfassend und substantiiert im Erstverfahren und auch weiteren sich anschließenden Abänderungsverfahren vortragen.
498
Ist zur Unterhaltsbegrenzung oder Befristung (§§ 1578b, 1579 BGB) ausreichend vorgetragen worden und eine zuverlässige Prognose möglich, muss über die Begrenzung oder Befristung bereits im Erstverfahren entschieden werden5. Ist die Entscheidung nicht möglich, weil sich zB noch nicht abschätzen lässt, ob dauerhaft ehebedingte Nachteile bestehen oder nicht, kann die Entscheidung über eine Befristung und Herabsetzung nach § 1578b BGB einem späteren Abänderungsverfahren vorbehalten 1 BGH v. 30.5.1990 – XII ZR 57/89, FamRZ 1990, 1095. 2 BGH v. 3.4.1985 – IV b ZR 19/84, FamRZ 1985, 690; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 93. 3 BGH v. 5.7.2000 – XII ZR 104/98, FamRZ 2001, 905 (906). 4 BGH v. 29.9.2010 – XII ZR 205/08, FamRZ 2010 = FamRB 2010, 357, 1884 Rn. 27; BGH v. 26.5.2010 – XII ZR 143/08, FamRZ 2010, 1238 = FamRB 2010, 262. 5 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 = FamRB 2011, 101 und FamRB 2011, 102.
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Verfahrensrecht
Rn. 499
Kap. 12
werden1. Selbst dann, wenn über die Folgen des § 1578b BGB im Ausgangsverfahren hätte entschieden werden müssen, schließt die Rechtskraft einer Entscheidung, die das spätere Eingreifen der Folgen des § 1578b BGB offenlässt, eine künftige Abänderung nicht aus2. Ist eine abschließende Entscheidung über die Rechtsfolgen des § 1578b BGB noch nicht möglich, darf eine Entscheidung darüber jedoch nicht vollständig zurückgestellt werden3. Vielmehr muss insoweit entschieden werden, als eine Entscheidung aufgrund der gegebenen Sachlage und der zuverlässig voraussehbaren Umstände möglich ist4. Dies gilt insbesondere für eine bereits mögliche Entscheidung über die Herabsetzung nach § 1578b Abs. 1 BGB. Die materielle Rechtskraft einer solchen Entscheidung und die mit ihr verbundenen Präklusionsfolgen gehen dann nur so weit, als die Entscheidung eine abschließende Beurteilung der gegenwärtigen Sachlage und der zuverlässig voraussehbaren Umstände enthält5. Ein auf dieser Grundlage ergangenes Urteil schließt eine spätere Abänderung insbesondere dann nicht aus, wenn zunächst bestehende ehebedingte Nachteile später ganz oder teilweise entfallen sollten6. Auch die Abänderung von Alttiteln aus der Zeit vor dem 1.1.2008 kann 499 wegen Präklusion ausgeschlossen sein. War die Befristung des Aufstockungsunterhaltsanspruchs (§ 1573 Abs. 2 BGB) bereits nach dem bis zum 31.12.2007 geltenden Recht oder aufgrund der Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH durch das Urteil v. 12.4.20067 möglich, scheitert das Abänderungsbegehren, das auf die Änderung des Unterhaltsrechts ab 1.1.2008 gestützt wird, an § 238 Abs. 2 FamFG, weil die Neuregelung in § 1578b BGB lediglich die Kriterien für eine Befristung des Unterhalts im Rahmen des Aufstockungsunterhalts gesetzlich klargestellt hat8. Von dieser Problematik sind die Unterhaltstitel betroffen, in denen nach Veröffentlichung des Urteils des BGH v. 12.4.20069 Aufstockungsunterhalt unbefristet zuerkannt wurde, obwohl eine sichere 1 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 = FamRB 2011, 101 und FamRB 2011, 102; BGH v. 27.5.2009 – XII ZR 78/08, FamRZ 2009, 1300 = FamRB 2009, 335, FamRB 2009, 270, FamRB 2009, 271 und FamRB 2009, 272. 2 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011 = FamRB 2011, 101 und FamRB 2011, 102; BGH v. 29.9.2010 – XII ZR 205/08, FamRZ 2010, 1884 = FamRB 2010, 357; BGH v. 26.5.2010 – XII ZR 143/08, FamRZ 2010, 1238 = FamRB 2010, 262. 3 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 = FamRB 2011, 101 und FamRB 2011, 102. 4 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 = FamRB 2011, 101 und FamRB 2011, 102; BGH v. 14.4.2010 – XII ZR 89/08, FamRZ 2010, 869 = FamRB 2010, 200. 5 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 = FamRB 2011, 101 und FamRB 2011, 102. 6 BGH v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011, 454 = FamRB 2011, 101 und FamRB 2011, 102. 7 BGH v. 12.4.2006 – XII ZR 240/03, FamRZ 2006, 1006 = FamRB 2006, 263. 8 BGH v. 18.11.2009 – XII ZR 65/09, FamRZ 2010, 117 = FamRB 2010, 33 und FamRB 2010, 34. 9 BGH v. 12.4.2006 – XII ZR 240/03, FamRZ 2006, 1006 = FamRB 2006, 263.
Kühner
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Kap. 12 Rn. 500
Verfahrensrecht
Prognose für eine Befristung nach den vom BGH in dieser Entscheidung aufgestellten Kriterien möglich gewesen wäre. Für diese Unterhaltstitel ergibt sich auch aus dem Inkrafttreten des § 1578b BGB am 1.1.2008 keine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse1. Die maßgebliche Änderung der Rechtsprechung im Rahmen der Befristung (zu § 1573 Abs. 5 BGB aF) wurde vielmehr bereits durch die Entscheidung v. 12.4.2006 vollzogen2. 500
Auch § 36 Nr. 1 EGZPO bietet keine eigenständige Abänderungsmöglichkeit, sondern stellt lediglich klar, dass die Gesetzesänderung ein Anwendungsfall des § 323 Abs. 1 ZPO ist. Bereits nach der Gesetzesbegründung handelt es sich bei § 36 Nr. 1 EGZPO nicht um einen eigenen, neu geschaffenen Abänderungsrechtsbehelf3. Das UÄndG berechtigt nur dann zur Abänderung eines bestehenden Titels, wenn bestimmte Umstände erst durch die Gesetzesänderung erheblich geworden sind und diese gegenüber der bisherigen Rechtslage zu einer wesentlichen Änderung führen und die Änderung dem anderen Teil unter Berücksichtigung seines Vertrauens in die getroffene Regelung zumutbar ist4. Mit § 36 Nr. 1 EGZPO soll – und dies gilt auch für § 36 Nr. 2 EGZPO – nur sichergestellt werden, dass Umstände, die erst durch das neue Recht erheblich geworden sind, in das Verfahren eingeführt werden können5. Der in § 36 Nr. 1 EGZPO enthaltene Grundsatz des Vertrauensschutzes ist im Rahmen der nach § 1578b BGB anzustellenden Billigkeitsabwägung zu berücksichtigen6.
501
Die Präklusion des § 238 Abs. 2 FamFG gilt nur für den Antragsteller eines Abänderungsverfahrens. Der Abänderungsantragsgegner hingegen kann zur Rechtsverteidigung gegen das Abänderungsbegehren des Antragstellers auch Tatsachen vortragen, die bereits während des Erstverfahrens vorlagen, dort aber entweder nicht vorgetragen oder deshalb unberücksichtigt geblieben sind, weil sie für die Entscheidung keine Bedeutung hatten7. Mit solchen Tatsachen, die der Abänderungsantragsgegner zur Begründung seines Abweisungsantrags vorträgt, kann er jedoch eine Durchbrechung der Rechtskraft der Ausgangsentscheidung nicht errei1 BGH v. 29.9.2010 – XII ZR 205/08, FamRZ 2010, 1884 = FamRB 2010, 357. 2 BGH v. 29.9.2010 – XII ZR 205/08, FamRZ 2010, 1884 = FamRB 2010, 357. 3 BT-Drucks. 16/6308, 251; BGH v. 8.6.2011 – XII ZR 17/09, FamRZ 2011, 1381 = FamRB 2011, 268; BGH v. 18.11.2009 – XII ZR 65/09, FamRZ 2010, 111 = FamRB 2010, 33 und FamRB 2010, 34; Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 283; Prütting/ Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 108. 4 BGH v. 8.6.2011 – XII ZR 17/09, FamRZ 2011, 1381 = FamRB 2011, 268; BGH v. 18.11.2009 – XII ZR 65/09, FamRZ 2010, 111 = FamRB 2010, 33 und FamRB 2010, 34. 5 BT-Drucks. 16/1830, 33; BGH v. 18.11.2009 – XII ZR 65/09, FamRZ 2010, 111 = FamRB 2010, 33 und FamRB 2010, 34. 6 BGH v. 8.6.2011 – XII ZR 17/09, FamRZ 2011, 1381 = FamRB 2011, 268. 7 BGH v. 28.2.2007 – XII ZR 37/05, FamRZ 2007, 793 = FamRB 2007, 162, FamRB 2007, 196 und FamRB 2007, 197; BGH v. 17.5.2000 – XII ZR 88/98, FamRZ 2000, 1499, BGH v. 21.2.2001 – XII ZR 276/98, FamRZ 2001, 1364.
1490
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 505
Kap. 12
chen mit der Folge, dass er sich auch nur gegen die Abänderung wehren kann. Anderenfalls ist ein Abänderungswiderantrag zu stellen. Mit diesem Ab- 502 änderungswiderantrag ist der Abänderungswiderantragsteller jedoch präkludiert, wenn er den Widerantrag auf Gründe stützt, die bereits im Ausgangsverfahren hätten vorgetragen oder berücksichtigt werden können. Bei mehreren aufeinanderfolgenden Abänderungsverfahren, die zu einer 503 Abänderung geführt haben, ist für die Zeitschranke des § 238 Abs. 3 FamFG ebenfalls auf den Schluss der letzten Tatsachenverhandlung abzustellen1. Hat der Antragsgegner in einem früheren auf Erhöhung des Unterhalts gerichteten Abänderungsverfahren versäumt, die seinerzeit bereits bestehenden, für eine Herabsetzung sprechenden Gründe geltend zu machen, kann er auf diese Gründe keinen neuen Abänderungsantrag stützen. Er ist daher zur Vermeidung der Präklusion in diesem Fall gehalten, im Vorverfahren einen Abänderungswiderantrag zu stellen2. Der Vorbehalt weiteren Vorbringens oder der Erhebung eines Abänderungswiderantrags im Vorprozess ist nicht ausreichend. Wurde in einem vorausgegangenen Abänderungsverfahren der Abände- 504 rungsantrag mit der Begründung zurückgewiesen, es sei nicht hinreichend zu den eigenen Einkommensverhältnissen und zur Frage vorgetragen worden, inwieweit die Unterhaltsberechtigte in der Lage sei, ihren Bedarf durch Ausübung einer Vollzeittätigkeit zu decken, ist der Antragsteller mit einem erneuten auf diese Einwendungen gestützten Abänderungsbegehren nicht präkludiert. Eine Präklusion ist deshalb nicht eingetreten, weil in dem vorausgegangenen Abänderungsverfahren der Antrag nur wegen fehlender Schlüssigkeit zurückgewiesen wurde und somit die Entscheidung keine aktualisierte entgegenstehende Prognoseentscheidung enthält3. Die Abänderung einer gegen den Antragsgegner ergangenen Versäumnis- 505 entscheidung setzt voraus, dass die Gründe, die Anlass zur Abänderung geben, nach Ablauf der Einspruchsfrist entstanden sind4. Die Abänderung der Versäumnisentscheidung ist nur möglich, wenn sich die zum Zeitpunkt des Erlasses der Versäumnisentscheidung vorliegenden tatsächlichen Verhältnisse geändert haben5.
1 BGH v. 1.10.1997 – XII ZR 49/96, FamRZ 1998, 99 (100). 2 BGH v. 1.10.1997 – XII ZR 49/96, FamRZ 1998, 99 (100). 3 BGH v. 7.12.2011 – XII ZR 159/09, FamRZ 2012, 288 m. Anm. Hoppenz = FamRB 2012, 74. 4 BGH v. 21.4.1982 – IVb ZR 696/80, FamRZ 1982, 792; Maurer, FamRZ 2009, 1792; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 96. 5 BGH v. 12.5.2010 – XII ZR 98/08, FamRZ 2010, 1150 = FamRB 2010, 237; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 78.
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Kap. 12 Rn. 506 506
Verfahrensrecht
Für die Abänderung einer Anerkenntnisentscheidung kommt es auf die der Entscheidung zugrunde liegenden tatsächlichen Umstände an1. cc) Darlegungs- und Beweislast
507
Der Abänderungsantragsteller hat die ihm günstigen Tatsachen darzulegen und beweisen.
508
Ihm obliegt die Darlegungs- und Beweislast sowohl für die Umstände, die für die erste Titulierung maßgebend waren2, als auch dafür, dass sich die maßgebenden Verhältnisse insgesamt wesentlich verändert haben und nicht nur einzelne Bemessungsfaktoren3. Stützt der Unterhaltspflichtige sein Abänderungsbegehren auf eine Begrenzung oder Befristung gem. § 1578b BGB, obliegt ihm die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der für eine Befristung oder Herabsetzung sprechenden Tatsachen4. Die Befristung setzt jedoch voraus, dass keine ehebedingten Nachteile vorliegen. Für diese negative Tatsache trifft den Unterhaltsberechtigten eine sog. sekundäre Darlegungslast5, so dass der Unterhaltsberechtigte die Behauptung, ehebedingte Nachteile seien nicht entstanden, nicht nur substantiiert bestreiten, sondern seinerseits darlegen muss, welche konkreten ehebedingten Nachteile entstanden sein sollen. Erst wenn das Vorbringen des Unterhaltsberechtigten diesen Anforderungen genügt, müssen die vorgetragenen ehebedingten Nachteile von dem Unterhaltspflichtigen widerlegt werden6. dd) Abänderungsentscheidung
509
Die Entscheidung ermöglicht keine Neufestsetzung, sondern nur eine Anpassung an die geänderten Verhältnisse unter Wahrung der Grundlagen der abzuändernden Entscheidung7. Es besteht eine Bindungswirkung an die unverändert gebliebenen Tatsachen, und zwar selbst dann, wenn die frühere Tatsachenfeststellung fehlerhaft war8, weil die Abänderungsentscheidung nicht der Behebung von Fehlern der Erstentscheidung, sondern nur der Korrektur von Prognoseentscheidungen dient9. Die Bindung erstreckt sich nur auf die unverändert gebliebenen tatsächlichen
1 BGH v. 4.7.2007 – XII ZR 251/04, FamRZ 2007, 1459 = FamRB 2007, 299; BGH v. 31.10.2001 – XII ZR 292/99, FamRZ 2002, 88 = FamRB 2002, 65, FamRB 2002, 66 und FamRB 2002, 79; Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 102. 2 BGH v. 15.10.1986 – IVb ZR 78/85, FamRZ 1987, 259; BGH v. 5.5.2004 – XII ZR 15/03, FamRZ 2004, 1179 = FamRB 2004, 386. 3 Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 242. 4 BGH v. 24.3.2010 – XII ZR 175/08, FamRZ 2010, 875 = FamRB 2010, 201. 5 BGH v. 24.3.2010 – XII ZR 175/08, FamRZ 2010, 875 = FamRB 2010, 201. 6 BGH v. 24.3.2010 – XII ZR 175/08, FamRZ 2010, 875 = FamRB 2010, 201. 7 Prütting/Helms/Bömelburg, § 238 FamFG Rn. 117. 8 BGH v. 5.7.2000 – XII ZR 104/08, FamRZ 2001, 905. 9 Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 224.
1492
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 511
Kap. 12
Verhältnisse, die bereits im früheren Verfahren festgestellt und denen Bedeutung für die Unterhaltsbemessung beigelegt wurde1. Zulässig ist die Abänderung grundsätzlich ab Rechtshängigkeit des Abänderungsantrags (§ 238 Abs. 3 FamFG).
Û
510
Wichtig: Weder die Anhängigkeit des Antrags2 noch ein Verfahrenskostenhilfegesuch3 für einen beabsichtigten Abänderungsantrag sind ausreichend.
Unter den in § 238 Abs. 3 S. 2, 3 FamFG genannten Voraussetzungen 511 kann der Antrag auf Abänderung einer gerichtlichen Entscheidung auch für die Zeit vor Rechtshängigkeit des Abänderungsbegehrens gestellt werden. Der Unterhaltsgläubiger kann gem. § 238 Abs. 3 S. 2 FamFG eine Erhöhung bereits für die Zeit geltend machen, für die nach den Vorschriften des BGB Unterhalt für die Vergangenheit verlangt werden kann. Die rückwirkende Abänderung kann somit bereits ab dem Zeitpunkt begehrt werden, in dem der Unterhaltsschuldner zur Auskunft über sein Einkommen und Vermögen zum Zwecke der Geltendmachung höheren Unterhalts aufgefordert wurde oder in Verzug gekommen ist, §§ 1360a Abs. 3, 1361 Abs. 4 S. 4, 1585b Abs. 2, 1613 Abs. 1 BGB. Die Abänderung ist sodann ab Beginn des Monats, in den das Auskunftsverlangen oder der Verzug fällt, zulässig. Der Antrag des Unterhaltsschuldners auf rückwirkende Abänderung gem. § 238 Abs. 3 S. 3 FamFG setzt voraus, dass dem Unterhaltsgläubiger ein Auskunfts- oder Verzichtsverlangen zugegangen ist. In diesem Fall ist das Abänderungsbegehren bereits für die Zeit ab dem Ersten des darauf folgenden Monats zulässig, nicht jedoch für eine mehr als ein Jahr vor Rechtshängigkeit liegende Zeit (§ 238 Abs. 3 S. 3, 4 FamFG).
Û
Wichtig: Der Schuldner muss das Abänderungsverfahren zügig einleiten, da er ansonsten damit rechnen muss, überzahlte Unterhaltsbeträge nicht zurückzuerlangen. Zwar kann er bereits ab Anhängigkeit des Abänderungsantrags oder ab Einreichung eines Verfahrenskostenhilfegesuchs die einstweilige Einstellung der Vollstreckung analog § 769 ZPO beantragen (§ 242 FamFG), es besteht jedoch die Unsicherheit, ob dem Antrag tatsächlich stattgegeben wird. Bereits beigetriebene Unterhaltsbeträge können zwar grundsätzlich mit einem Rückforderungsantrag geltend gemacht werden; dem steht jedoch idR der Entreicherungseinwand nach § 818 Abs. 3 BGB entgegen mit der Folge, dass ein Bereicherungsanspruch nicht besteht. Aus diesem Grund war nach alter Rechtslage der Abänderungsantrag mit einem Hilfsantrag auf Rückzahlung des jeweils zu beziffernden Betrags zu ver-
1 Prütting/Helms/Bömelburg § 238 FamFG Rn. 118. 2 BT-Drucks. 16/6308, 258. 3 BGH v. 20.1.1982 – IVb ZR 651/80, FamRZ 1982, 365.
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1493
Kap. 12 Rn. 512
Verfahrensrecht
binden. Dies ist durch die Neuregelung in § 241 FamG nicht mehr erforderlich, allerdings tritt die verschärfte Haftung des Unterhaltsempfängers erst mit Rechtshängigkeit des Abänderungsantrags ein (§ 241 FamFG), so dass schnelles Handeln erforderlich ist.
Û
Praxistipp: Um die Rechtshängigkeit schnellstmöglich herbeizuführen, ist ggf. ein Antrag nach § 15 Nr. 3 FamGKG zu stellen, der eine Zustellung des Antrags ohne vorherige Einzahlung der Verfahrensgebühr gestattet, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht aussichtslos oder mutwillig erscheint und glaubhaft gemacht wird, dass eine Verzögerung einen nicht oder nur schwer zu ersetzenden Schaden bringen würde (§ 15 Nr. 3b FamGKG). In diesem Fall genügt die Erklärung des zum Bevollmächtigten bestellten Rechtsanwalts.
Muster für einen Abänderungsantrag des Unterhaltsgläubigers: In der Familiensache … beantragen wir, den Antragsgegner in Abänderung des Beschlusses1 des Amtsgerichts Hamm vom 15.10.2010 – AZ: 32 F 131/09 – zu verpflichten, an die Antragstellerin ab dem … einen jeweils zum 01. eines jeden Monats im Voraus fälligen Elementarunterhalt in Höhe von monatlich … Euro zu zahlen.
Muster für einen Abänderungsantrag des Unterhaltsschuldners: In der Familiensache … beantragen wir, den Beschluss des Amtsgerichts Hamm vom 15.10.2010 – AZ: 32 F 131/09 – dahingehend abzuändern, dass der Antragsteller ab dem … keinen Ehegattenunterhalt mehr schuldet. Ferner beantragen wir, die Zwangsvollstreckung aus dem Beschluss des Amtsgerichts Hamm vom 15.10.2010 – AZ: 32 F 131/09 – (ohne Sicherheitsleistung) einstweilen einzustellen.
512, 513 Einstweilen frei
1 Oder des Urteils (in Altverfahren).
1494
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Verfahrensrecht
Rn. 519
Kap. 12
c) Abänderung von Vergleichen und Urkunden, § 239 FamFG aa) Zulässigkeit Die Abänderung von Vergleichen oder von vollstreckbaren Urkunden1, 514 die eine Verpflichtung zu zukünftig fällig werdenden wiederkehrenden Leistungen beinhalten, richtet sich nach § 239 FamFG. Mit einem Vergleich i.S.d. § 239 FamFG ist grundsätzlich nur ein gericht- 515 licher Vergleich gem. § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gemeint. Erfasst werden jedoch auch Anwaltsvergleiche gem. § 796a ZPO2. Vollstreckungstitel ist jedoch nicht der Anwaltsvergleich, sondern allein der ihn für vollstreckbar erklärende Beschluss des Gerichts3. Der abzuändernde Vergleich muss wirksam sein4 und einen vollstreckungsfähigen Inhalt haben. Ein Unterhaltstitel mit unbezifferter Anrechnungsklausel „unter Anrechnung bereits gezahlter Beträge“ erfüllt nicht das Bestimmtheitserfordernis, weil daraus mangels Konkretisierung und Bezifferung nicht entnommen werden kann, unter Abzug welcher Beträge der Unterhaltsanspruch jeweils zu vollstrecken ist5.
516
Vereinbarungen und außergerichtliche Vergleiche können nicht gem. 517 § 239 FamFG abgeändert werden. Dies gilt selbst dann, wenn die Vereinbarung die Anwendbarkeit des § 239 FamFG ausdrücklich vorsieht6. Ein Vergleich, der im einstweiligen Anordnungsverfahren abgeschlossen 518 wurde, fällt nicht unter § 239 FamFG. Der Vergleich hat idR nur vorläufigen Charakter, weil durch ihn nichts anderes erreicht werden soll, als eine der beantragten einstweiligen Anordnung entsprechende Regelung7. Ein Vergleich im einstweiligen Anordnungsverfahren kann somit nur gem. § 54 FamFG abgeändert werden, es sei denn, er ist als endgültige Regelung gedacht8. Vollstreckbare Urkunden sind die vor einem deutschen Notar nach § 794 519 Abs. 1 Nr. 5 ZPO errichteten Urkunden. Hiervon erfasst werden auch die Jugendamtsurkunden gem. § 59 Abs. 1 Nrn. 3, 4 und § 60 SGB XII. Auf die Abänderung einer Jugendamtsurkunde, mit der die Erhöhung des titulierten Unterhalts begehrt wird, ist § 239 FamFG nicht nur anwendbar, 1 BGH v. 4.5.2011 – XII ZR 70/09, FamRZ 2011, 1041 m. Anm. Hoppenz = FamRZ 2011, 1647 m. Anm. Volmer = FamRB 2011, 202 (zur Abänderung einer einseitig errichteten Jugendamtsurkunde). 2 Musielak/Borth § 239 FamFG Rn. 1. 3 BGH v. 7.12.2005 – XII ZR 94/03, FamRZ 2006, 261 = FamRB 2006, 76; Prütting/ Helms/Bömelburg, § 239 FamFG Rn. 8. 4 Prütting/Helms/Bömelburg, § 239 FamFG Rn. 15. 5 BGH v. 7.12.2005 – XII ZR 94/03, FamRZ 2006, 261 = FamRB 2006, 76. 6 Keidel/Meyer-Holz, § 239 FamFG Rn. 11; Musielak/Borth, § 239 FamFG Rn. 1; aA Thomas/Putzo/Hüßtege, § 239 FamFG Rn. 5. 7 BGH v. 29.5.1991 – XII ZR 157/90, FamRZ 1991, 1175. 8 OLG Brandenburg v. 2.11.1999 – 9 WF 225/99, FamRZ 2000, 1377.
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1495
Kap. 12 Rn. 520
Verfahrensrecht
wenn die Höhe des titulierten Unterhalts auf eine Einigung der Beteiligten beruht, sondern auch dann, wenn die Titulierung durch eine einseitig errichtete Jugendamtsurkunde erfolgt ist1.
Û
Wichtig: Der Unterhaltsberechtigte, der an der Errichtung der Urkunde nicht mitgewirkt und deren Inhalt auch nicht zugestimmt hat, kann uneingeschränkt Abänderung auf der Grundlage der aktuellen Einkommens- und Vermögensverhältnisse verlangen, er ist materiellrechtlich nicht an den Inhalt der Urkunde gebunden2.
520
Für die örtliche Zuständigkeit kann auf die obigen Ausführungen zu Rn. 476 verwiesen werden.
521
Auch bei Abänderung eines Vergleichs oder einer vollstreckbaren Urkunde müssen der Verfahrensgegenstand und die Beteiligten des Abänderungs- und des vorausgegangenen Verfahrens identisch sein (vgl. hierzu Rn. 484 ff.).
522
Die Zulässigkeit des Antrags auf Abänderung eines Vergleichs oder einer Urkunde erfordert ebenso wie bei gerichtlichen Endentscheidungen den Vortrag von Tatsachen, die – ihre Richtigkeit unterstellt – eine Abänderung des Titels rechtfertigen3 (§ 239 Abs. 1 S. 2 FamFG). Der Antragsteller muss im Einzelnen die Grundlagen des Vergleichs und die veränderten Verhältnisse vollständig darlegen, auf die er sein Abänderungsbegehren stützt. Kommt der Abänderungsantragsteller dieser Darlegungslast nicht nach, ist der Abänderungsantrag als unzulässig abzuweisen4. bb) Begründetheit
523
Die Abänderung richtet sich gem. § 313 BGB nach den Grundsätzen über die Veränderung oder den Wegfall der Geschäftsgrundlage5. Darauf abzustellen ist, ob derart schwerwiegende Änderungen in den Verhältnissen, die die Beteiligten ihrer Vereinbarung zugrunde gelegt haben, eingetreten sind, dass ein unverändertes Festhalten an den vereinbarten Leistungen gegen Treu und Glauben verstoßen würde und daher dem Schuldner
1 BGH v. 4.5.2011 – XII ZR 70/09, FamRZ 2011, 1041 = FamRB 2011, 202; BGH v. 3.12.2008 – XII ZR 182/06, FamRZ 2009, 314 = FamRB 2009, 67; anders BGH v. 2.12.2009 – XII ZB 207/08, FamRZ 2010, 195 = FamRB 2010, 75; vgl. auch OLG Zweibrücken v. 22.3.2011 – 6 WF 207/10, FamRZ 2011, 1529 = FamRB 2011, 277. 2 BGH v. 3.12.2008 – XII ZR 182/06, FamRZ 2009, 314 = FamRB 2009, 67; BGH v. 29.10.2003 – XII ZR 115/01, FamRZ 2004, 24 = FamRB 2004, 38 und FamRB 2004, 44. 3 BT-Drucks. 16/6308, 258. 4 Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 260. 5 BGH v. 25.11.2009 – XII ZR 8/08, FamRZ 2010, 192 = FamRB 2010, 71; BGH v. 3.12.2008 – XII ZR 182/06, FamRZ 2009, 314 = FamRB 2009, 67.
1496
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Verfahrensrecht
Rn. 526
Kap. 12
nicht zumutbar wäre1. Dies setzt voraus, dass zunächst die Grundlagen, die für die Errichtung des Titels maßgebend waren, anhand des zugrunde liegenden Parteiwillens ermittelt werden und welche Änderungen eingetreten sind und wie sich diese Änderungen auf die Unterhaltshöhe auswirken. Enthält der Vergleich keine Grundlagen, ist im Wege einer für beide Be- 524 teiligte interessengerechten Auslegung zu ermitteln, welche Verhältnisse die Beteiligten bei Vergleichsabschluss als wesentlich angesehen und zur Grundlage ihres Vergleichs gemacht haben2. Ist in einem pauschalen Unterhaltsvergleich keine Geschäftsgrundlage niedergelegt, kann dies bereits für einen Ausschluss der Anpassung an die abweichenden tatsächlichen Verhältnisse bei Abschluss des Vergleichs sprechen3. Die Abänderbarkeit wegen Änderung der Geschäftsgrundlage durch geänderte tatsächliche Verhältnisse oder durch eine Änderung des Gesetzes oder höchstrichterlichen Rechtsprechung ist dadurch aber regelmäßig nicht ausgeschlossen4.
Û
Praxistipp: Anhand der Akten des Vorverfahrens und/oder sonstigem Schriftverkehr können nicht ohne weiteres die notwendigen Feststellungen getroffen werden. Zur Vermeidung von Problemen in einem Abänderungsverfahren ist es grundsätzlich ratsam, im Einzelnen die Grundlagen in dem Vergleich mit aufzuführen5.
Ist in einem Unterhaltsvergleich einem Beteiligten das Recht vorbehalten worden, im Falle einer Abänderung die Befristung des Ehegattenunterhalts geltend zu machen, rechtfertigt der Vorbehalt allein kein Abänderungsbegehren; die Abänderung setzt vielmehr andere Abänderungsgründe voraus6.
525
Für die Abänderung eines Vergleichs über nachehelichen Unterhalt we- 526 gen Unterhaltsbefristung kommt es in erster Linie darauf an, inwieweit der Vergleich im Hinblick auf die spätere Befristung eine bindende Regelung enhält7. Fehlt eine entgegenstehende ausdrückliche oder konkludente vertragliche Regelung, ist jedenfalls bei der erstmaligen Festsetzung des nachehelichen Unterhaltsanspruchs im Zweifel davon auszugehen, 1 BGH v. 28.11.1990 – XII ZR 26/90, FamRZ 1991, 1542. 2 BGH v. 25.11.2009 – XII ZR 8/08, FamRZ 2010, 192 = FamRB 2010, 71; Prütting/ Helms/Bömelburg, § 239 FamFG Rn. 37. 3 BGH v. 25.11.2009 – XII ZR 8/08, FamRZ 2010, 192 = FamRB 2010, 71. 4 BGH v. 25.11.2009 – XII ZR 8/08, FamRZ 2010, 192 = FamRB 2010, 71. 5 So auch Heinemann, FamRB 2010, 184; Prütting/Helms/Bömelburg, § 239 FamFG Rn. 35. 6 OLG Karlsruhe v. 12.11.2009 – 2 UF 95/09, FamRZ 2010, 1253 = FamRB 2010, 177. 7 BGH v. 26.5.2010 – XII ZR 143/08, FamRZ 2010, 1316 m. Anm. Borth = FamRZ 2010, 1238 = FamRB 2010, 262.
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Kap. 12 Rn. 527
Verfahrensrecht
dass die Beteiligten die spätere Befristung des Unterhalts offenhalten wollen1. Es kann jedoch treuwidrig sein, wenn kurze Zeit nach Vergleichsabschluss bereits eine Abänderung der getroffenen Regelung verlangt wird, weil der im Vergleich getroffenen Regelung eine gewisse Mindestdauer zukommen muss, um dem Interesse der Beteiligten an einer rechtssicheren Regelung zu genügen2. Eine nach Abschluss des Vergleichs eingetretene Gesetzesänderung oder Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann auch ohne Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse dazu führen, dass nach den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage eine Anpassung vorgenommen werden muss, weil die Vereinbarung auf der gemeinschaftlichen Erwartung der Beteiligten vom Fortbestand einer bestimmten Rechtslage aufgebaut war3. Auch bei einem beiderseitigen Irrtum der Beteiligten über die Rechtslage bei Abschluss der Vereinbarung kann eine Anpassung wegen Fehlens der Geschäftsgrundlage in Betracht kommen, wenn die Vereinbarung ohne diesen Rechtsirrtum nicht oder nicht mit diesem Inhalt geschlossen worden wäre4. Dies ist im Wege der Auslegung des Beteiligtenwillens festzustellen und sodann eine Anpassung unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen durchzuführen. 527
Die Abänderung des Vergleichs ist rückwirkend zulässig, es sei denn, die Beteiligten haben die rückwirkende Abänderbarkeit ausgeschlossen. Die Erhöhung des Unterhaltsanspruchs richtet sich nach den materiellrechtlichen Voraussetzungen der §§ 1613 Abs. 1, 1360a Abs. 3, 1361 Abs. 4 S. 4, 1585b Abs. 2 und 3, 1615l Abs. 3 und 4 BGB. Der Abänderungsantrag des Schuldners auf Herabsetzung des in einem Vergleich titulierten Unterhalts ist rückwirkend auch für einen länger als ein Jahr vor Rechtshängigkeit des Abänderungsantrags liegenden Zeitraum zulässig, da § 238 Abs. 3 S. 4 FamFG auf die Abänderung eines Vergleichs keine Anwendung findet. Die rückwirkende Abänderung setzt auch keine Aufforderung voraus, auf die Rechte aus dem Titel zu verzichten.
Û
Praxistipp: Es empfiehlt sich jedoch, unter kurzer Fristsetzung vor Einleitung jeden Abänderungsverfahrens die Gegenseite anzuschreiben und aufzufordern, die entsprechende Verzichtserklärung abzugeben. Geschieht dies nicht und der Gegner erkennt den Antrag im gerichtlichen Verfahren an, hat er regelmäßig keine Veranlassung zur Einleitung des Verfahrens gegeben und dem Abänderungsantragsteller werden die Kosten des Verfahrens auferlegt.
1 BGH v. 26.5.2010 – XII ZR 143/08, FamRZ 2010, 1316 m. Anm. Borth = FamRZ 2010, 1238 = FamRB 2010, 262. 2 BGH v. 26.5.2010 – XII ZR 143/08, FamRZ 2010, 1316 m. Anm. Borth = FamRZ 2010, 1238 = FamRB 2010, 262. 3 BGH v. 5.9.2001 – XII ZR 108/00, FamRZ 2001, 1687 = FamRB 2002, 12. 4 BGH v. 5.9.2001 – XII ZR 108/00, FamRZ 2001, 1687 = FamRB 2002, 12.
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Verfahrensrecht
Rn. 536
Kap. 12
6. Vollstreckungsabwehrverfahren gem. § 767 ZPO Das Vollstreckungsabwehrverfahren ist allein darauf gerichtet, die Zuläs- 528 sigkeit der Zwangsvollstreckung aus dem Titel zu beseitigen. Zur Abgrenzung zu einem Abänderungsverfahren vgl. oben Rn. 460. Für das Verfahren ist das Prozessgericht örtlich und sachlich ausschließlich zuständig (§§ 767 Abs. 1, 802 ZPO).
529
Sind in dem Unterhaltstitel Unterhaltsansprüche minderjähriger oder 530 privilegiert volljähriger Kinder geregelt, folgt die ausschließliche Zuständigkeit aus dem vorrangigen § 232 Abs. 2 FamFG, so dass nicht das Prozessgericht, sondern das Gericht ausschließlich örtlich für das Vollstreckungsabwehrverfahren zuständig ist, in dessen Bezirk das oder die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort haben. Ist eine Ehesache anhängig, folgt die ausschließliche örtliche Zuständigkeit für das Vollstreckungsabwehrverfahren aus § 232 Abs. 1 FamFG.
531
Mit dem Vollstreckungsabwehrantrag kann gegen Endentscheidungen in 532 Hauptsacheverfahren und gegen gerichtlich abgeschlossene Vergleiche vorgegangen werden. Das Vollstreckungsabwehrverfahren ist auch anwendbar auf Unterhaltstitel im einstweiligen Anordnungsverfahren, wenn die Zwangsvollstreckung aus dem Titel wegen rechtshemmender oder rechtsvernichtender Einwendungen für unzulässig erklärt werden soll1.
533
Der Vollstreckungsabwehrantrag ist zulässig, solange die Zwangsvollstre- 534 ckung aus dem Unterhaltstitel droht2 und noch eine Vollstreckungsmöglichkeit besteht, ohne dass es darauf ankommt, ob eine konkrete Vollstreckung beabsichtigt ist3. Die Beendigung der Zwangsvollstreckung lässt das Rechtsschutzbedürfnis für ein Vollstreckungsabwehrverfahren entfallen4. Zu den rechtshemmenden rechtsvernichtenden Einwendungen i.S.d. 535 § 767 Abs. 1 ZPO wird auf Rn. 461 verwiesen.
IX. Rechtsmittel und Rechtsbehelfe in Familiensachen 1. Einführung Die allgemeinen Vorschriften über die Rechtsmittel in Familiensachen sind in den §§ 58 bis 75 FamFG geregelt, besondere Regelungen enthalten § 117 FamFG für Ehe- und Familienstreitsachen, die §§ 143 bis 148 1 2 3 4
So auch Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 299. BGH v. 8.2.1984 – IV b ZR 52/82, FamRZ 1984, 470. OLG Hamm v. 8.1.1999 – 5 UF 296/98, FamRZ 2000, 1166 (LS). Wendl/Dose/Schmitz, § 10 Rn. 302.
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1499
536
Kap. 12 Rn. 537
Verfahrensrecht
FamFG für Scheidungs- und Folgesachen, die §§ 197 Abs. 3 S. 1, 198 Abs. 3 S. 1 FamFG für Adoptionssachen und § 228 FamFG für die Versorgungsausgleichssachen. 537
Für die Anfechtbarkeit von Entscheidungen im Verfahren der einstweiligen Anordnung gilt die Sonderregelung des § 57 FamFG, die obigen Vorschriften sind nicht anwendbar.
538
In allen Familiensachen ist einheitlich die befristete Beschwerde das grundsätzliche statthafte Rechtsmittel gegen die in erster Instanz ergangenen Endentscheidungen (§ 58 FamFG), da in Familiensachen auch in der Hauptsache nicht mehr durch Urteil, sondern durch Beschluss entschieden wird. Die Beschwerde übernimmt als einheitliches Hauptsacherechtsmittel im FamFG die Funktion der Berufung in der ZPO und anderen Verfahrensordnungen1.
538a Geklärt ist inzwischen, dass für Verfahren, die vor dem 1.9.2009 in erster Instanz eingeleitet wurden, auch das Rechtsmittelverfahren nach dem früher geltenden Recht durchgeführt werden muss, weil Verfahren i.S.d. Art. 111 Abs. 1 FGG-RG als Ganzes und damit einschließlich eines möglichen Instanzenzuges angesehen werden2. 539
Ist ein einheitlich ergangenes Verbundurteil teilweise durch Berufung, Beschwerde, Revision oder Rechtsbeschwerde angefochten worden, kann sich jeder Ehegatte dem Rechtsmittel des anderen Ehegatten anschließen. Mit der Anschließung kann der Scheidungsausspruch und auch jede andere Folgesachenentscheidung unter den Voraussetzungen des § 145 FamFG angefochten werden. Die Anschließung ist bis zum Ablauf eines Monats nach Zustellung der Rechtsmittelbegründung, bei mehreren Zustellungen bis zum Ablauf eines Monats nach der letzten Zustellung, zulässig (§ 629a Abs. 3 aF ZPO) mit der Folge, dass sich der Eintritt der Rechtskraft erheblich verzögert, selbst wenn nur eine oder mehrere Folgesachen, nicht aber der Scheidungsausspruch selbst angefochten wurde (vgl. ausführlich Rn. 594 ff.).
540
Die Berufung bzw. befristete Beschwerde ist binnen eines Monats bei dem Beschwerdegericht einzulegen und binnen zwei Monaten ab Zustellung der in vollständiger Form abgefassten Endentscheidung, spätestens jedoch fünf Monate nach Verkündung der Entscheidung (§ 520 Abs. 2 S. 1 ZPO), zu begründen. Die Frist kann ohne Einwilligung des Berufungsbzw. Beschwerdegegners um bis zu einen Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder der Berufungs- bzw. Beschwerdefüh1 BT-Drucks. 16/6308, 203. 2 St. Rspr. des BGH: BGH v. 18.11.2009 – XII ZR 65/09, FamRZ 2010, 111 = FamRB 2010, 33 und FamRB 2010, 34; BGH v. 25.11.2009 – XII ZR 8/08, FamRZ 2010, 192 = FamRB 2010, 71; BGH v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357 = FamRB 2010, 69.
1500
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Verfahrensrecht
Rn. 546
Kap. 12
rer erhebliche Gründe darlegt (§ 520 Abs. 2 S. 2 ZPO). Eine weitere Verlängerung der Begründungsfrist kann nur mit Einwilligung des Berufungs- bzw. Beschwerdegegners erreicht werden. Für die nach dem 31.8.2009 eingelegten Rechtsmittel gilt in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit jedoch neues Kostenrecht (§ 63 Abs. 1 FamGKG), auch wenn die Verfahren noch nach altem Rechtsmittelrecht zu führen sind.
541
2. Anfechtung von Endentscheidungen a) Beschwerde Das Rechtsmittelsystem wurde mit Inkrafttreten des FamFG völlig neu 542 konzipiert. Grundsätzlich findet gegenüber allen im ersten Rechtszug ergangenen Endentscheidungen in allen Familiensachen unterschiedslos das Rechtsmittel der (befristeten, § 63 FamFG) Beschwerde statt (§ 58 FamFG). aa) Statthaftigkeit der Beschwerde Endentscheidungen sind nach der Legaldefinition in § 38 FamFG die Ent- 543 scheidungen, die den Verfahrensgegenstand in der Instanz ganz oder teilweise abschließend erledigen1. Auch ein Verbundbeschluss stellt eine Endentscheidung dar; Teile der Verbundentscheidung können ebenfalls mit der befristeten Beschwerde angefochten werden. Versäumnisentscheidungen in Familienstreitsachen oder Ehesachen2 544 können nicht mit der Beschwerde, sondern nur mit dem Einspruch angefochten werden (§§ 338 ZPO, 143 FamFG), es sei denn, es ist eine zweite Versäumnisentscheidung ergangen, die darauf gestützt wird, dass eine Säumnis nicht vorlag (§§ 113 Abs. 1 FamFG, 514 ZPO). Anerkenntnisentscheidungen können mit einer Beschwerde nur angefochten werden, wenn ein Restitutionsgrund i.S.d. § 580 ZPO vorliegt, die Voraussetzungen für eine Abänderung eingetreten sind oder die Berufung auf das Anerkenntnis gegen Treu und Glauben verstoßen würde3.
545
Eine ausdrückliche Regelung enthält § 62 FamFG, der unter bestimmten 546 Voraussetzungen die Möglichkeit eröffnet, eine Entscheidung mit der Beschwerde überprüfen zu lassen, wenn sich die Hauptsache zwischenzeitlich erledigt hat4. Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann im Einzelfall ein Bedürfnis nach einer gerichtlichen Entscheidung 1 BT-Drucks. 16/6308, 203. 2 Anm.: Versäumnisentscheidungen nur gegen den Antragsteller zulässig!. 3 BGH v. 17.3.1993 – XII ZR 256/91, NJW 1993, 1717 (1718); OLG Rostock v. 8.6.2004 – 10 UF 57/04, FamRZ 2005, 119 (120); OLG Hamm v. 22.9.1992 – 3 UF 22/92, FamRZ 1993, 78. 4 BT-Drucks. 16/6308, 205.
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1501
Kap. 12 Rn. 547
Verfahrensrecht
fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage besonders geschützt ist1. Nach dem Wortlaut des § 62 Abs. 1 FamFG setzt die Statthaftigkeit der Beschwerde voraus, dass vor Erledigung der Hauptsache die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts bereits angefochten war. Aus der Gesetzesbegründung2 geht jedoch hervor, dass die Anfechtungsmöglichkeit besteht, wenn sich die Hauptsache zwischenzeitlich nach Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung erledigt hat. Im Hinblick darauf, dass der Gesetzgeber die Anfechtung nach Erledigung der Hauptsache ausdrücklich unter Bezugnahme auf die Entscheidung des BVerfG3 ermöglicht hat, kann § 62 FamFG nur so ausgelegt werden, dass die Beschwerde bereits statthaft ist, wenn sich die Hauptsache nach Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung vor Einlegung der Beschwerde erledigt hat, um den erstinstanzlichen Beschluss trotz Erledigung der Hauptsache mit ordentlichen Rechtsmitteln anfechten zu können und die Feststellung treffen zu lassen, dass die erstinstanzliche Entscheidung rechtswidrig war4. 547
Die Statthaftigkeit setzt ferner voraus, dass die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat und dass er ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat, ferner, dass er einen Feststellungsantrag stellt (§ 62 Abs. 1 FamFG). Liegt ein durch einen entsprechenden Antrag des Beschwerdeführers manifestiertes Interesse an der Feststellung nicht vor, ist die Sache dagegen nach den allgemeinen Regeln nach Erledigung der Hauptsache abzuschließen5.
548
Ein berechtigtes Interesse liegt regelmäßig vor, wenn entweder schwerwiegende Grundrechtseingriffe vorliegen oder eine Wiederholung konkret zu erwarten ist (§ 62 Abs. 2 FamFG). bb) Zuständigkeit
549
Zuständig für die Beschwerde in Familiensachen ist das Oberlandesgericht (§ 119 Abs. 1 Nr. 1a GVG). Dies gilt für alle Familiensachen, die in § 111 FamFG aufgeführt sind. Das Oberlandesgericht ist durch die Erweiterung des Katalogs der Familiensachen somit auch zB für die sonstigen Familiensachen, für die nach altem Recht die Zivilsenate zuständig waren, und für Adoptionssachen zuständig. Funktionell zuständig sind die jeweiligen Familiensenate. Der Senat kann das Beschwerdeverfahren durch Beschluss einem seiner Mitglieder zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen; § 526 ZPO gilt mit der Maßgabe entsprechend, dass eine Übertragung auf einen Richter auf Probe ausgeschlossen ist (§ 68 Abs. 4 1 BT-Drucks. 16/6308, 205 unter Bezugnahme auf BVerfG v. 5.12.2001 – 2 BvR 527/99, NJW 2002, 2456. 2 BT-Drucks. 16/6308, 205. 3 BVerfG v. 5.12.2001 – 2 BvR 527/99, NJW 2002, 2456. 4 Maurer, FamRZ 2009, 465 (475). 5 BT-Drucks. 16/6308, 205.
1502
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 553
Kap. 12
FamFG). Eine Übertragung auf den Einzelrichter kommt in Betracht, wenn – die angefochtene Entscheidung von einem Einzelrichter1 erlassen wurde, – die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, – die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und – nicht bereits im Haupttermin zur Hauptsache verhandelt worden ist, es sei denn, dass inzwischen ein Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenbeschluss erlassen wurde (§ 526 Abs. 1 ZPO). cc) Beschwerdebefugnis Die Beschwerdebefugnis in Familiensachen ist in § 59 FamFG geregelt. 550 Die Beschwerde steht demjenigen zu, der durch den Beschluss in eigenen Rechten beeinträchtigt ist (§ 59 Abs. 1 FamFG). Beschwerdeberechtigt sind die materiell Beteiligten i.S.d. § 7 Abs. 2 FamFG2. Der Antragsteller (§ 7 Abs. 1 FamFG) ist beschwerdebefugt, wenn seinem Antrag nicht stattgegeben wurde. Wenn durch Beschluss in einem Arrestverfahren der Antrag zurückgewiesen wurde, ist nur der Antragsteller beschwerdebefugt (§ 59 Abs. 2 FamFG). Der Antragsgegner ist beschwerdebefugt, wenn er mit seinem Abwei- 551 sungsantrag nicht oder nicht vollständig durchdringt oder wenn die Abweisung des Antrags als Verfahrens- und nicht als Sachentscheidung ergangen ist3. Auf die Beteiligtenstellung in erster Instanz kommt es demgegenüber 552 nicht an, so dass es unerheblich ist, ob der Beschwerdeberechtigte tatsächlich Beteiligter des erstinstanzlichen Verfahrens war oder aufgrund seiner Rechtsbetroffenheit hätte hinzugezogen werden müssen4. Umgekehrt ist ein im erstinstanzlichen Verfahren Beteiligter nicht beschwerdeberechtigt, wenn er vom Ergebnis der Entscheidung in seiner materiellen Rechtsstellung nicht betroffen ist5. Besteht eine verfahrensrechtliche Befugnis zur Ausübung des Beschwer- 553 derechts, besteht auch weiterhin die Möglichkeit, in eigenem Namen Beschwerde einzulegen6. Dies betrifft insbesondere die Fälle der gesetzlichen Verfahrensstandschaft nach § 1629 Abs. 3 S. 1 BGB (vgl. Rn. 428). Für das Beschwerdeverfahren gelten insoweit dieselben Grundsätze wie für das Verfahren in erster Instanz. Endet die Verfahrensstandschaft durch 1 2 3 4 5 6
In Familiensachen entscheidet in erster Instanz stets der Einzelrichter. Maurer, FamRZ 2009, 465 (470). Zöller/Feskorn, § 59 FamFG Rn. 10. BT-Drucks. 16/6308, 204. BT-Drucks. 16/6308, 204. BT-Drucks. 16/6308, 204.
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1503
Kap. 12 Rn. 554
Verfahrensrecht
Volljährigkeit des Kindes vor der Rechtsmitteleinlegung, ist nur das Kind beschwerdeberechtigt. Bei Beendigung der Verfahrensstandschaft durch Volljährigkeit des Kindes nach Einlegung des Rechtsmittels durch den Verfahrensstandschafter tritt ebenfalls ein Parteiwechsel ein und das Kind muss das Verfahren selbst weiter betreiben. 554
Auch Behörden können beschwerdebefugt sein (§ 59 Abs. 3 FamFG). Die Beschwerdebefugnis der Behörden, zB des Jugendamts, ist – für Kindschaftssachen in § 162 Abs. 3 FamFG, – für Abstammungssachen in § 176 Abs. 2 FamFG, – für Adoptionssachen in § 194 Abs. 2 FamFG, – für Ehewohnungssachen in § 205 Abs. 2 FamFG oder – für Gewaltschutzsachen in § 213 Abs. 2 FamFG ausdrücklich geregelt.
555
In den einzelnen Familiensachen sind folgende Personen beschwerdebefugt:
556
(1) In Ehesachen ist nicht nur der Ehegatte beschwerdebefugt, dessen Antrag zurückgewiesen wurde, sondern auch der Ehegatte, der die Scheidung beantragt hat und dessen Antrag stattgegeben wurde. Eine Beschwer ist im Interesse der Aufrechterhaltung der Ehe nicht erforderlich, wenn Beschwerde eingelegt wird, um die im ersten Rechtszug erklärte Zustimmung zur Scheidung zu widerrufen und die Abweisung des Scheidungsantrags zu erreichen oder um auf den Scheidungsantrag zu verzichten1. Beide Ehegatten sind befugt, gegen den Scheidungsausspruch Beschwerde einzulegen, wenn das Familiengericht Folgesachen aus dem Scheidungsverbund rechtsfehlerhaft abgetrennt hat; die Abtrennung wird also inzidenter im Beschwerdeverfahren überprüft. Die Beschwerdebefugnis ist selbst dann gegeben, wenn sich der Beschwerdeführer gegen die Scheidung als solche nicht wehren will2.
557
(2) In Kindschaftssachen (§ 151 FamFG) steht die Beschwerdeberechtigung den Eltern und Pflegeeltern zu. Beschwerdeberechtigt ist ferner das minderjährige Kind, dessen Beschwerderecht gesondert in § 60 FamFG geregelt ist. Erfasst sind alle die Person des Kindes betreffenden Angelegenheiten (§ 60 S. 1 FamFG) sowie alle sonstigen Angelegenheiten, in denen das Kind vor einer Entscheidung des Gerichts angehört werden soll. Das Beschwerderecht des minderjährigen Kindes setzt ferner voraus, dass das Kind beschränkt geschäftsfähig ist, aber das 14. Lebensjahr vollendet hat.
1 BGH v. 26.11.1986 – IXb ZR 92/85, FamRZ 1987, 264; Zöller/Feskorn, § 59 FamFG Rn. 14. 2 BGH v. 8.5.1996 – XII ZR 4/96, FamRZ 1996, 1333; OLG Hamm v. 1.12.2006 – 12 UF 168/06, FamRZ 2007, 651 (652).
1504
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Verfahrensrecht
Rn. 563
Kap. 12
(3) Für Abstammungssachen ist die Beschwerdebefugnis ausdrücklich in 558 § 184 Abs. 3 FamFG geregelt. Die Beschwerde steht idR dem Vater und dem Kind zu, soweit sie in ihren Rechten beeinträchtigt sind. Darüber hinaus steht auch demjenigen die Beschwerde zu, der an dem Verfahren beteiligt war oder zu beteiligen gewesen wäre. Diese Erweiterung der allgemeinen Regelung erfolgt im Hinblick darauf, dass auch der Mutter des Kindes, die durch den in Abstammungssachen ergangenen Beschluss nicht zwingend unmittelbar in ihren Rechten beeinträchtigt ist, ein Beschwerderecht ermöglicht werden soll1. Nur mittelbar in ihren Rechten beeinträchtigte Personen, wie zB die Großeltern im Hinblick auf ein Umgangsrecht mit dem Kind, sind hingegen nicht beschwerdeberechtigt2. In Kindschafts-, Abstammungs- und Adoptionssachen steht die Be- 559 schwerdebefugnis auch dem Verfahrensbeistand zu, der im Interesse des Kindes Rechtsmittel im eigenen Namen einlegen kann (§§ 158 Abs. 4 S. 5, 174 S. 2, 191 S. 2 FamFG)3. (4) In Ehewohnungssachen sind Vermieter, Grundstückseigentümer und Arbeitgeber, soweit sie in ihren Rechten beeinträchtigt sind, beschwerdebefugt (§ 204 Abs. 1 FamFG).
560
(5) In Versorgungsausgleichssachen regelt sich die Beschwerdebefugnis nach § 59 Abs. 1 FamFG, wonach auch weitere Beteiligte beschwerdebefugt sind, wenn sie in ihren Rechten beeinträchtigt sind, zB die Versorgungsträger.
561
(6) In Familienstreitsachen ist der Beteiligte beschwerdebefugt, dessen Antrag nicht oder nicht in vollem Umfang stattgegeben wurde. Der Antragsteller ist ferner beschwerdebefugt, wenn die Verurteilung keinen vollstreckungsfähigen Inhalt hat4.
562
dd) Beschwerdewert/Zulassungsbeschwerde (1) Beschwerdewert Die Zulässigkeit der Beschwerde in vermögensrechtlichen Verfahren 563 setzt voraus, dass die Beschwerdesumme erreicht worden ist oder die Beschwerde von dem erstinstanzlichen Gericht zugelassen wurde (§ 61 FamFG). Der Beschwerdewert von 600 Euro entspricht der Regelung für die Statthaftigkeit der Beschwerde gem. § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO5. Für die Bestimmung des Beschwerdewerts kommt es nicht auf die in erster Instanz gestellten Sachanträge an. Der Wert der Beschwerdesumme ist vielmehr in zwei Schritten zu ermitteln: Zunächst wird die Beschwer durch 1 2 3 4 5
BT-Drucks. 16/9733, 295. BT-Drucks. 16/9733, 295. Maurer, FamRZ 2009, 465 (471). Zöller/Feskorn, § 59 FamFG Rn. 14. BT-Drucks. 16/6308, 204.
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1505
Kap. 12 Rn. 564
Verfahrensrecht
Vergleich zwischen den zuletzt gestellten Anträgen und dem Umfang des Unterliegens in der anzufechtenden Entscheidung ermittelt. Die Beschwerdesumme ermittelt sich sodann aus den Beschwerdeanträgen, mit denen die ganze oder teilweise Beseitigung der erlittenen Beschwer verlangt wird1. Maßgebend für die Berechnung ist der Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels2. 564
Wird nach Einlegung des Rechtsmittels der Beschwerdeantrag später eingeschränkt und ist dadurch die Beschwerdesumme nicht mehr erreicht, ist die Beschwerde nur unzulässig, wenn die Beschränkung willkürlich erfolgt, dh. wenn sie nicht aus einer Veränderung der Sachlage geboten oder nahe liegend ist3. Dies beurteilt sich aber erst nach dem in der mündlichen Verhandlung verlesenen Antrag, weil dieser bis dahin auch wieder erweitert werden kann. Keine willkürliche Teilrücknahme des Rechtsmittels ist gegeben, wenn der Rechtsmittelführer seine Anträge dem Umfang der bewilligten Verfahrenskostenhilfe anpasst4.
565
Die Beschwerde gegen Endentscheidungen in vermögensrechtlichen Familiensachen ist nur zulässig, wenn der Beschwerdewert 600 Euro übersteigt (§ 61 Abs. 1 FamFG).
Û
Wichtig: In Unterhaltssachen richtet sich der Beschwerdewert nicht nach dem Gebührenstreitwert des FamGKG, sondern nach § 9 ZPO. Zugrunde zu legen ist der 3,5-fache Jahresbetrag. Dies bedeutet, dass die Beschwerdesumme bei laufendem Unterhalt dann erreicht ist, wenn die Differenz zwischen dem titulierten Unterhalt und dem Beschwerdeantrag 14,29 Euro monatlich beträgt (14,29 Euro × 42 Monate = 600,18 Euro).
Beispiel: M wird mit Beschluss vom 2.10.2011 für die Zeit ab 1.3.2011 zur Zahlung von Trennungsunterhalt in Höhe von monatlich 600 Euro verpflichtet. Er legt fristgerecht Beschwerde ein mit dem Ziel, nicht mehr als 550 Euro monatlich zahlen zu müssen. Der Beschwerdewert ist erreicht (50 Euro × 42 Monate = 2100 Euro). Abwandlung: Am 30.10.2011 wird der Scheidungsausspruch rechtskräftig. M will Beschwerde einlegen mit dem Ziel, nicht mehr als 550 Euro monatlich zahlen zu müssen. Der Beschwerdewert ist nicht erreicht (50 Euro × 8 Monate = 400 Euro). Die Beschwerdesumme wäre jedoch erreicht, wenn die Beschwerde bereits vor Rechtskraft des Scheidungsausspruchs eingelegt worden wäre, weil in diesem Fall die Beschwerdesumme 2 100 Euro betragen hätte und die nachträgliche Minderung der Beschwer-
1 Zöller/Heßler, § 511 ZPO Rn. 13. 2 BGH v. 8.10.1982 – V ZB 9/82, MDR 1983, 388 = NJW 1983, 1063. 3 BGH v. 8.10.1982 – V ZB 9/82, MDR 1983, 388 = NJW 1983, 1063; Zöller/Heßler, § 511 ZPO Rn. 14. 4 OLG Koblenz v. 4.9.1995 – 13 UF 330/95, FamRZ 1996, 557.
1506
Kühner
Verfahrensrecht
Rn. 568
Kap. 12
desumme durch den Eintritt der Rechtskraft des Scheidungsausspruchs für die Zulässigkeit des eingelegten Rechtsmittels grundsätzlich unschädlich ist1.
Auch in Ehewohnungs- und Haushaltssachen muss die Beschwerdesum- 566 me 600 Euro übersteigen2. Der Wert der Haushaltsgegenstände bestimmt sich nach deren Zeitwert und der der Ehewohnung nach deren Mietwert entsprechend § 9 ZPO3. Bei vorläufigen Regelungen für die Trennungszeit bestimmt sich die Beschwer nach dem Nutzungswert bis zur Rechtskraft der Scheidung4. Für Versorgungsausgleichssachen gilt gem. § 228 FamFG die Mindest- 567 beschwer nur im Fall der Anfechtung einer Kostenentscheidung, da eine Mindestbeschwer in Versorgungsausgleichssachen jedenfalls für Rechtsmittel der Rentenversicherungsträger nicht sachgerecht ist5. Für die Anfechtung des Ausspruchs in der Hauptsache bedarf es daher keiner Mindestbeschwer. In Familienstreitsachen sind für die Ermittlung des Beschwerdewerts die 568 §§ 2 bis 9 ZPO anzuwenden6. Ist der Antragsgegner in einer Unterhaltsoder Zugewinnausgleichssache zur Erteilung einer Auskunft oder zur Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung verpflichtet worden, kommt es für die Beschwer darauf an, in welchem Umfang er durch die Erteilung der Auskunft belastet ist. Der Wert des Beschwerdegegenstandes bemisst sich nach dem Aufwand an Zeit und Kosten für die Erteilung der Auskunft, wobei daneben auch ein Interesse des Antragsgegners an einer Geheimhaltung der zu offenbarenden Verhältnisse bei der Bemessung des Werts berücksichtigt werden kann7. Kann die Auskunft ohne Einschaltung von Hilfspersonen (zB Steuerberater) erteilt werden, ist nur von dem konkreten Aufwand an Zeit und Arbeit auszugehen, den die sorgfältige Erteilung der Auskunft erfordert8. Das Interesse des Antragsgegners, den von der Auskunft betroffenen Hauptanspruch nicht erfüllen zu müssen, bleibt außer Betracht. In diesen Fällen wird die Mindestbeschwer von 600 Euro idR nicht erreicht, so dass die Beschwerde unzulässig ist. Der Auskunftsberechtigte, dessen Antrag auf Auskunftserteilung abgewiesen wird, ist in seinem materiellen Recht betroffen und daher beschwerdebefugt. Für die Bestimmung des Werts der Beschwer ist sein Interesse an dem geltend zu machenden Anspruch maßgeblich, das sich in Güterrechtsverfahren nach dem wirtschaftlichen Interesse des Anspruchsstellers an der Erteilung der Auskunft richtet9. Dieser beträgt idR nur einen 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Zöller/Heßler, § 511 ZPO Rn. 14. Maurer, FamRZ 2009, 465 (472). Maurer, FamRZ 2009, 465 (472). Maurer, FamRZ 2009, 465 (472). BT-Drucks. 16/6398, 254. Maurer, FamRZ 2009, 465 (471). BGH v. 24.7.2002 – XII ZB 31/02, FamRZ 2003, 597. BGH v. 10.7.1996 – XII ZB 15/96, FamRZ 1996, 1543 (1544). BGH v. 12.10.2011 – XII ZB 127/11, FamRZ 2011, 1929 = FamRB 2012, 33.
Kühner
1507
Kap. 12 Rn. 569
Verfahrensrecht
Bruchteil des geschätzten Leistungsanspruchs iHv. 1/10 bis 1/4 1. Zur Wertermittlung ist anhand des Tatsachenvortrags des Anspruchstellers danach zu fragen, welche Vorstellungen er sich vom Wert des Leistungsanspruchs gemacht hat2. Dieselben Grundsätze gelten für die Verpflichtung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung3. (2) Zulassungsbeschwerde 569
Ist der Beschwerdewert nicht erreicht, setzt die Zulässigkeit der Beschwerde die Zulassung durch das erstinstanzliche Gericht voraus (§ 61 Abs. 2 FamFG). Die Beschwerde ist nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Beschwerdegerichts erfordert. Dies ist dann der Fall, wenn dem Rechtsstreit eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt oder wenn das Gericht des ersten Rechtszugs in einer Rechtsfrage von einer obergerichtlichen Entscheidung abweicht bzw. eine obergerichtliche Entscheidung der Rechtsfrage noch nicht erfolgt ist und Anlass besteht, diese Rechtsfrage einer Klärung zugänglich zu machen4.
570
Hat das erstinstanzliche Gericht die Beschwerde zugelassen, ist die Zulassung für das Beschwerdegericht bindend (§ 61 Abs. 3 S. 2 FamFG). Die Beschwerde kann somit nicht mit der Begründung als unzulässig verworfen werden, das erstinstanzliche Gericht habe zu Unrecht die Voraussetzungen für die Zulassung der Beschwerde angenommen5.
571
Die Nichtzulassung der Beschwerde ist nicht anfechtbar.
Û
Wichtig: Hat das erstinstanzliche Gericht den Streitwert auf über 600 Euro festgesetzt, hält aber das Beschwerdegericht diesen Wert nicht für erreicht, muss das Beschwerdegericht, das insoweit nicht an die Streitwertfestsetzung des Erstgerichts gebunden ist, die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Beschwerde nach § 61 Abs. 3 FamFG erfüllt sind6.
1 BGH v. 12.10.2011 – XII ZB 127/11, FamRZ 2011, 1929 = FamRB 2012, 33; BGH v. 24.1.2009 – XII ZB 146/08, FamRZ 2009, 594 (595); BGH v. 25.1.2006 – IV ZR 195/04, FamRZ 2006, 619. 2 BGH v. 12.10.2011 – XII ZB 127/11, FamRZ 2011, 1929 = FamRB 2012, 33; BGH v. 31.3.1993 – XII ZR 67/92, FamRZ 1993, 1189. 3 BGH v. 4.5.2005 – XII ZB 202/04, FamRZ 2005, 1066. 4 BT-Drucks. 16/6308, 205. 5 BT-Drucks. 16/6308, 205. 6 BGH v. 14.11.2007 – VIII ZR 340/06, FamRZ 2008, 257.
1508
Kühner
Verfahrensrecht
Û
Rn. 574
Kap. 12
Praxistipp: Das erstinstanzliche Gericht entscheidet aufgrund freier Überzeugung, ob die Beschwerde zugelassen wird. Ein Antrag ist somit nicht erforderlich, aber als Anregung empfehlenswert1.
ee) Beschwerdefrist Die Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen Endentscheidungen beträgt 572 einen Monat (§ 63 Abs. 1 FamFG). Sie beginnt jeweils mit der schriftlichen Bekanntgabe des Beschlusses an die Beteiligten (§ 63 Abs. 3 S. 1 FamFG). Der Ablauf der Frist ist für jeden Beteiligten individuell zu bestimmen, wie sich aus dem Wortlaut des § 63 Abs. 3 S. 1 FamFG ergibt, wonach die Frist jeweils mit der schriftlichen Bekanntgabe beginnt2. Ausnahmsweise beträgt die Beschwerdefrist zwei Wochen, wenn sich die 573 Beschwerde gegen eine einstweilige Anordnung (vgl. Rn. 286) oder einen Beschluss richtet, der die Genehmigung eines Rechtsgeschäfts zum Gegenstand hat (§ 63 Abs. 2 FamFG). Voraussetzung für den Beginn der Frist ist eine ordnungsgemäße Zustellung3.
Û
Wichtig: Ist der Beteiligte anwaltlich vertreten, wird der Zeitpunkt der Zustellung durch die Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses nach § 174 Abs. 4 ZPO dokumentiert. Wird ein anderer Anwalt mit der Einlegung des Rechtsmittels beauftragt, obliegt dem erstinstanzlichen Anwalt die Prüfung, rechtzeitig vor Fristablauf zu klären, ob der mit der Rechtsmitteleinlegung beauftragte Anwalt den Auftrag innerhalb der Rechtsmittelfrist bestätigt. Bleibt die Bestätigung aus, hat er die Sachlage rechtzeitig vor Ablauf der Frist durch Rückfrage zu klären. Die gleiche Pflicht trifft den Korrespondenzanwalt4.
Für den Fall, dass die schriftliche Bekanntgabe an einen Beteiligten nicht 574 bewirkt werden kann, beginnt die Frist spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach Erlass des Beschlusses (§ 63 Abs. 3 S. 2 FamFG). Der Beschluss ist erlassen, wenn die Übergabe an die Geschäftsstelle erfolgt oder die Beschlussformel verlesen ist (§ 38 Abs. 3 S. 3 FamFG). Diese Regelung knüpft inhaltlich an § 517, 2. Halbs. ZPO an, stellt aber nicht auf die Verkündung der Entscheidung, sondern nur auf deren Erlass ab. Maßgeblich ist, ob die schriftliche Bekanntgabe an einen Beteiligten nicht bewirkt werden kann. Ist die Bekanntgabe unterblieben, obwohl sie möglich gewesen wäre, ist § 63 Abs. 3 S. 2 FamFG nicht anwendbar. In diesem Fall kann derjenige, der von dem Beschluss in seinen Rechten be-
1 2 3 4
Schürmann, FamRB 2009, 24 (26). Schürmann, FamRB 2009, 24 (25). Zöller/Heßler, § 517 ZPO Rn. 8. BGH v. 16.7.1997 – XII ZB 64/97, FamRZ 1998, 97 (98).
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Verfahrensrecht
einträchtigt und daher beschwerdebefugt ist, am erstinstanzlichen Verfahren aber nicht beteiligt war, nur fristgemäß Beschwerde einlegen, bis die Frist für den letzten Beteiligten abgelaufen ist1. 575
Die Rechtsmittelfrist ist gewahrt, wenn die Beschwerde am letzten Tag des Fristablaufs bis 24:00 Uhr bei dem erstinstanzlichen Gericht eingeht. Die Übermittlung per Telefax ist zulässig, jedoch mit erheblichen Risiken verbunden, falls die rechtzeitige Übertragung innerhalb der Frist scheitert2. ff) Einlegung der Beschwerde
576
Die Beschwerde ist innerhalb der Beschwerdefrist bei dem erstinstanzlichen Gericht einzulegen, dessen Beschluss angefochten wird (§ 64 Abs. 1 FamFG)3. Die Einlegung erfolgt gem. § 64 Abs. 2 S. 1 FamFG in FG-Familiensachen durch Einreichung einer Beschwerdeschrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle. Damit kann ein Beteiligter in diesen Familiensachen selbst Beschwerde einlegen und auch durchführen, da in FG-Familiensachen weder in erster noch in zweiter Instanz Anwaltszwang besteht (§ 114 Abs. 1 FamFG). In Ehesachen und in Familienstreitsachen hingegen ist die Einlegung der Beschwerde zur Niederschrift der Geschäftsstelle ausgeschlossen (§ 64 Abs. 2 S. 2 FamFG). Damit ist klargestellt, dass in diesen Verfahren Anwaltszwang besteht.
Û
Wichtig: Der Anwaltszwang gilt in Folgesachen uneingeschränkt für den Beschwerdeführer, für den Beschwerdegegner allerdings dann nicht, wenn er in einer Folgesache, zB elterliche Sorge, Umgangsrecht oder in einer Haushaltssache, keinen eigenen Antrag in Form einer Anschlussbeschwerde stellen, sondern nur die angefochtene Entscheidung verteidigen will.
577
Die Einlegung des Rechtsmittels bei einem unzuständigen Gericht führt grundsätzlich zur Unzulässigkeit. Das Gericht ist jedoch aus verfahrensrechtlicher Fürsorgepflicht gehalten, die Rechtsmittelschrift umgehend im normalen Geschäftsgang unter Hinweis auf die Eilbedürftigkeit an das zuständige Gericht weiterzuleiten, um einer Fristversäumung vorzu-
1 BT-Drucks. 16/9733, 289. 2 Vgl. auch BGH v. 6.4.2011 – XII ZB 701/10, FamRZ 2011, 1050 = FamRB 2011, 275 (zur Versäumung der Berufungsbegründungsfrist wegen Unerreichbarkeit des Empfangsgeräts des Berufungsgerichts); Zöller/Greger, § 233 ZPO Rn. 23, Stichwort: Telefax; vgl. auch Zöller/Heßler, § 519 ZPO Rn. 18 f. m. zahlreichen Nachweisen. 3 In allen familiengerichtlichen Verfahren, die vor dem Inkrafttreten des FamFG anhängig waren und erst nach dem 1.9.2009 entschieden wurden, ist das Rechtsmittel bei dem zweitinstanzlichen Gericht einzulegen.
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Rn. 579
Kap. 12
beugen1. Geht die Rechtsmittelschrift noch fristgerecht bei dem Rechtsmittelgericht ein, ist die Zulässigkeit gewahrt. Ist die Rechtsmittelschrift so rechtzeitig bei dem unzuständigen Gericht eingegangen, dass die fristgerechte Weiterleitung an das zuständige Gericht im ordentlichen Geschäftsgang erwartet werden konnte, unterbleibt aber die Weiterleitung, so kann ausnahmsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. vertiefend Rn. 628) gegen die Versäumung der Beschwerdefrist bewilligt werden2. Unverschuldet ist die Fristversäumung, wenn sie weder vorsätzlich noch 578 fahrlässig erfolgt ist, Prüfungsmaßstab ist § 276 Abs. 2 BGB3. Das Verschulden des Bevollmächtigten hat sich der Beteiligte wie eigenes Verschulden zurechnen zu lassen4.
Û
Praxistipp: Aus haftungsrechtlichen Gründen ist es notwendig, die richtige Adressierung sorgfältig zu prüfen, insbesondere dann, wenn das Rechtsmittel kurz vor Ablauf der Rechtsmittelfrist eingelegt wird, da für diesen Fall nicht mehr damit gerechnet werden kann, dass die an ein unzuständiges Gericht gerichtete Rechtsmittelschrift rechtzeitig bei dem zuständigen Beschwerdegericht eingeht. Die Beschwerde wäre als unzulässig zu verwerfen; Wiedereinsetzung kann nicht gewährt werden5.
Kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden, ob das Amtsgericht als Fami- 579 liengericht oder als allgemeines Prozessgericht entschieden hat, gilt zugunsten des Rechtsmittelführers das Meistbegünstigungsprinzip, wonach wahlweise das Rechtsmittel bei einem der in Frage kommenden Rechtsmittelgerichte, also Landgericht oder Oberlandesgericht, eingelegt werden kann6. Das Meistbegünstigungsprinzip findet auch Anwendung, wenn das Familiengericht seine Entscheidung inhaltlich statt auf das gem. Art. 111 Abs. 1 FGG-RG fortgeltende frühere Recht fehlerhaft auf das neue Verfahrensrecht gestützt hat und gegen diese Entscheidung dann Beschwerde gem. § 64 Abs. 1 FamFG bei dem Amtsgericht eingelegt wird7. Das Meistbegünstigungsprinzip findet auch Anwendung, wenn die Entscheidung der Form nach unrichtig ist. In diesem Fall kann sowohl 1 BGH v. 15.6.2011 – XII ZB 468/10, FamRZ 2011, 1389 = FamRB 2011, 310 (zur Weiterleitung einer Rechtsmittelbegründung oder eines entsprechenden Verlängerungsantrags); BGH v. 24.9.1997 – XII ZB 144/96, FamRZ 1998, 285 (286). 2 BVerfG v. 20.6.1995 – 1 BvR 166/93, FamRZ 1995, 1559; BGH v. 1.12.1997 – II ZR 85/97, NJW 1998, 908; BGH v. 24.9.1997 – XII ZB 144/96, FamRZ 1998, 285. 3 Zöller/Greger, § 233 ZPO Rn. 12. 4 Vgl. die umfangreiche Kasuistik bei Zöller/Greger, § 233 ZPO Rn. 23 f. 5 BGH v. 18.1.2006 – XII ZB 224/04, FamRZ 2006, 543. 6 BGH v. 7.12.1994 – XII ZB 202/94, FamRZ 1995, 351 (352). 7 BGH v. 29.2.2012 – XII ZB 198/11, FamRZ 2012, 783; BGH v. 6.7.2011 – XII ZB 100/11, FamRZ 2011, 1575 = FamRB 2011, 308; BGH v. 6.4.2011 – XII ZB 553/10, FamRZ 2011, 966.
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Kap. 12 Rn. 579
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das eigentlich statthafte Rechtsmittel als auch das Rechtsmittel eingelegt werden, das nach der Entscheidungsform zulässig wäre.
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Wichtig: In Familiensachen tritt häufig das Problem auf, dass für das Beschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe beantragt werden soll. Hier besteht ein hohes Haftungsrisiko, wenn die Einlegung der Beschwerde unter den Vorbehalt der Verfahrenskostenhilfebewilligung gestellt wird, da eine nur bedingt eingelegte Beschwerde grundsätzlich unzulässig und kostenpflichtig zu verwerfen ist1. Die Einlegung der Beschwerde ist als Verfahrenshandlung bedingungsfeindlich2. Sind allerdings die gesetzlichen Anforderungen an die Beschwerdeschrift (oder Begründung) erfüllt, kommt eine Deutung, dass der Schriftsatz nicht als unbedingte Beschwerde oder als Beschwerdebegründung bestimmt war, nur dann in Betracht, wenn sich dies aus den Begleitumständen mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Deutlichkeit ergibt3. Eine derartige eindeutige Erklärung und damit ein unzulässiges Rechtsmittel liegt vor, wenn zeitgleich mit der Beschwerdeschrift ein Schriftsatz mit der Erklärung eingeht, die Beschwerde werde nur für den Fall der Verfahrenskostenhilfebewilligung eingelegt4. Der bedürftige Beteiligte, der beabsichtigt, ein Rechtsmittelverfahren durchzuführen, hat folgende Möglichkeiten: Für das beabsichtigte Beschwerdeverfahren wird innerhalb der Rechtsmittelfrist ein isolierter Antrag auf Verfahrenskostenhilfe eingereicht und sodann nach Bewilligung der Verfahrenskostenhilfe binnen zwei Wochen (§ 18 FamFG bzw. § 234 Abs. 1, Abs. 2 ZPO) das Wiedereinsetzungsgesuch gestellt und zugleich die versäumte Verfahrenshandlung nachgeholt, dh. Beschwerde eingelegt. Es ist empfehlenswert, zugleich mit dem Antrag auf Verfahrenskostenhilfe Ausführungen zur Erfolgsaussicht des Rechtsmittels zu machen. Die Verfahrenskostenhilfeunterlagen müssen vollständig sein. Wird Verfahrenskostenhilfe bewilligt, ist regelmäßig auch bereits die Frist zur Begründung des Rechtsmittels abgelaufen, so dass sowohl Wiedereinsetzung für die Versäumung der Einlegungsfrist als auch der Begründungsfrist beantragt werden muss. Das Wiedereinsetzungsgesuch ist an das Beschwerdegericht zu richten, da gem. § 237 ZPO das Gericht über den Antrag auf Wiedereinsetzung entscheidet, dem die Entscheidung über die nachgeholte Prozesshandlung zusteht5. Die Wiedereinsetzungsfrist für die Beschwerdebegründung, die mit Zustellung des Bewilligungsbeschlusses zu laufen beginnt, beträgt nur einen
1 BGH v. 18.7.2007 – XII ZB 31/07, FamRZ 2007, 1726 = FamRB 2007, 361; BGH v. 20.7.2005 – XII ZB 31/05, FamRZ 2005, 1537; BGH v. 19.5.2004 – XII ZB 25/04, FamRZ 2004, 1553. 2 Zöller/Heßler, § 519 ZPO Rn. 1. 3 BGH v. 18.7.2007 – XII ZB 31/07, FamRZ 2007, 1726 = FamRB 2007, 361. 4 BGH v. 20.7.2005 – XII ZB 31/05, FamRZ 2005, 1537. 5 BGH v. 17.8.2011 – XII ZB 50/11, FamRZ 2011, 1649 = FamRB 2011, 338 (entschieden für einen Wiedereinsetzungsantrag in einer Familienstreitsache).
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Verfahrensrecht
Rn. 579
Kap. 12
Monat. Die Wiedereinsetzung ist innerhalb einer Überlegungsfrist von drei bis vier Werktagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu beantragen und die versäumte Verfahrenshandlung nachzuholen1. Bei Ablehnung des Verfahrenskostenhilfegesuchs ist zu überlegen, ob das Beschwerdeverfahren gleichwohl auf eigene Kosten durchgeführt wird. Wenn dies nicht geschieht, entstehen nur Kosten des eigenen Anwalts für das Verfahrenskostenhilfeprüfungsverfahren. Eine andere Alternative besteht darin, uneingeschränkt Beschwerde einzulegen, diese fristgerecht zu begründen und parallel dazu Verfahrenskostenhilfe zu beantragen. Das Problem der Wiedereinsetzung stellt sich hier nicht. Wird Verfahrenskostenhilfe nicht bewilligt, ist zu überlegen, ob das Beschwerdeverfahren auf eigene Kosten durchgeführt oder die Beschwerde zurückgenommen wird. In diesem Fall müssen allerdings nicht nur die Kosten des eigenen Anwalts gezahlt, sondern auch die des Gegners erstattet werden. Ein nicht unerhebliches Haftungsrisiko besteht für diese Vorgehensweise insbesondere deshalb, weil die Vollständigkeit des Verfahrenskostenhilfeantrags und der Belege von dem Anwalt zu überprüfen ist. Um einer Haftung zu entgehen, kann es sich empfehlen, unbedingt Beschwerde einzulegen, diese dann iHv. 600,01 Euro zu begründen und hierfür und für eine beabsichtigte Erweiterung der Beschwerde einen Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe zu stellen. Für eine beabsichtigte Erweiterung der Beschwerde nach Bewilligung oder Versagung von Verfahrenskostenhilfe gelten die obigen Ausführungen in gleicher Weise. Soll die Einlegung des Rechtsmittels oder seine Begründung mit einem Antrag auf Verfahrenskostenhilfe verbunden werden, sind die Anträge wie folgt zu formulieren: Formulierungsvorschlag: „… legen wir hiermit namens und kraft Vollmacht des Antragstellers/Antragsgegners gegen den Beschluss des Amtsgerichts – Familiengerichts – … vom …, zugestellt am …, AZ: …, Beschwerde ein. Ferner beantragen wir, dem Antragsteller/Antragsgegner für das Beschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe (unter Beiordnung der/des Unterzeichneten) zu bewilligen.“
Alternativ besteht die Möglichkeit, einen isolierten Verfahrenskostenhilfeantrag für die Beschwerde zu stellen.
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Wichtig: Ungeklärt ist, bei welchem Gericht der isolierte Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das beabsichtigte Beschwerdeverfahren gestellt werden muss.
1 BGH v. 31.1.2007 – XII ZB 207/06, FamRZ 2007, 801.
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Kap. 12 Rn. 580
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Teilweise wird die Auffassung vertreten, das Verfahrenskostenhilfegesuch sei bei dem Gericht zu stellen, das auch in der Sache über das Rechtsmittel entscheiden müsse, in Familiensachen also bei dem Oberlandesgericht1. Nach anderer Auffassung sei der Antrag grundsätzlich bei dem Ausgangsgericht, also bei dem Gericht zu stellen, bei dem das Rechtsmittel einzulegen sei2. Nach vermittelnder Auffassung soll das Ausgangsgericht jedenfalls bis zur Weiterleitung der Verfahrensakten an das Beschwerdegericht zur Entscheidung über das Rechtsmittel zuständig sein3. Die Frage ist bisher nicht höchstrichterlich geklärt. Der Aufassung, die die generelle Zuständigkeit des Ausgangsgerichts befürwortet, ist mE nicht nur aus Gründen der Rechtsklarheit der Vorzug zu geben, sondern auch wegen § 117 Abs. 1 S. 1 ZPO, wonach ein Verfahrenskostenhilfegesuch bei dem Gericht anzubringen ist, bei dem der Rechtsstreit schwebt oder anhängig gemacht werden soll4 und das Ausgangsgericht für die Einlegung der Beschwerde zuständig ist. 580
War die Beschwerde oder die Beschwerdebegründung durch die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe bedingt und somit noch nicht wirksam erhoben, kann der Rechtsmittelführer die Bedingung nach der Entscheidung über den Verfahrenskostenhilfeantrag innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO durch auslegungsbedürftige Erklärung gegenüber dem Beschwerdegericht zurücknehmen5. gg) Beschwerdeschrift
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Die Mindestanforderungen, die an den Inhalt der Beschwerdeschrift zu stellen sind, regeln § 64 Abs. 2 S. 3 und 4 FamFG. Der angefochtene Beschluss muss unter Angabe von Aktenzeichen, Verkündungsdatum und Datum der Zustellung genau bezeichnet werden.
Û
Praxistipp: Es sollte grundsätzlich dafür Sorge getragen werden, dass der Beschwerdeschrift eine Ablichtung des angefochtenen Beschlusses beigefügt wird, weil damit die angefochtene Entscheidung eindeutig identifiziert werden kann und selbst die Angabe zB eines falschen Aktenzeichens in der Beschwerdeschrift unschädlich ist6.
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Aus der Beschwerdeschrift, zumindest aus beigefügten Unterlagen7, muss auch ersichtlich sein, für wen und gegen wen die Beschwerde eingelegt
1 2 3 4 5 6 7
Eckebrecht/Gutjahr, § 1 Rn. 102. OLG Bamberg v. 22.8.2011 – 2 UF 154/11, FamRZ 2012, 49 = FamRB 2011, 373. OLG Bremen v. 12.1.2011 – 4 UF 123/10, FamRZ 2011, 912. Zöller/Geimer, § 117 ZPO Rn. 1. BGH v. 18.7.2007 – XII ZB 31/07, FamRZ 2007, 1726 = FamRB 2007, 361. BGH v. 11.1.2006 – XII ZB 27/04, FamRZ 2006, 543. BGH v. 14.5.2003 – XII ZB 154/01, FamRZ 2003, 1176.
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Kap. 12
werden soll1. Insbesondere bei Unterhaltstiteln, die von mehreren Antragstellern (zB der geschiedenen Ehefrau und minderjährigen Kindern) erwirkt wurden, muss aus der Beschwerdeschrift hervorgehen, ob sich die Beschwerde nur gegen einen, mehrere oder alle Antragsteller richtet. Die Beschwerdeschrift muss ferner die Erklärung enthalten, dass gegen den genau bezeichneten Beschluss Beschwerde eingelegt wird (§ 64 Abs. 2 S. 3 FamFG). Ausreichend ist, wenn sich das Ziel, ein Rechtsmittel einzulegen, zweifelsfrei aus dem Inhalt der Beschwerdeschrift ergibt, der Gebrauch des Wortes „Beschwerde“ ist nicht notwendig2. Die Beschwerde muss von dem Beschwerdeführer oder seinem Bevollmächtigten unterzeichnet werden (§ 64 Abs. 2 S. 4 FamFG).
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hh) Beschwerdebegründung (1) In FG-Familiensachen Die Begründung der Beschwerde in FG-Familiensachen ist nicht zwin- 584 gend vorgeschrieben. Die Beschwerde soll, muss aber nicht begründet werden (§ 65 Abs. 1 FamFG). Eine Beschwerde, die nicht begründet worden ist, kann nicht als unzulässig verworfen werden3. Es ist jedoch anzuraten, die Beschwerde sachlich zu begründen und im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen der angefochtene Beschluss einer Überprüfung nicht standhält. Eine umfassende Begründung kann insbesondere in Verfahren betreffend die elterliche Sorge oder das Umgangsrecht dazu führen, dass das Beschwerdegericht aufgrund des Sachvortrags weitere Ermittlungen anstellt, die ohne die Beschwerdebegründung unterblieben wären. Unabhängig davon ist es in den besonders sensiblen Sorgerechts- und Umgangsrechtsverfahren insbesondere für den Mandanten nicht nachvollziehbar und auch kaum begreiflich zu machen, wenn Beschwerde eingelegt, diese aber nicht begründet wird. Wird Beschwerde gegen eine Verbundentscheidung mit der Maßgabe eingelegt, dass lediglich eine (FG-) Folgesache gem. § 137 Abs. 2 Nrn. 1, 3 oder Abs. 3 FamFG angefochten wird, ist auch in diesen Folgesachen eine Beschwerdebegründung nicht zwingend. (Zu den damit verbundenen Auswirkungen vgl. Rn. 623) Wird die Beschwerde nicht begründet, kann das Gericht nach § 65 Abs. 2 585 FamFG eine Frist zur Begründung setzen; die Beschwerde wird jedoch nicht unzulässig, wenn die Aufforderung zur Beschwerdebegründung nicht befolgt oder die Begründung nicht fristgerecht eingereicht wird, da weiterhin der Amtsermittlungsgrundsatz gilt und das Gericht auch ohne Begründung der Beschwerde die angefochtene Entscheidung überprüfen muss4. 1 BGH v. 11.10.2005 – XI ZR 398/04, FamRZ 2006, 116. 2 BGH v. 19.11.1997 – XII ZR 1/96, FamRZ 1998, 286; Schürmann, FamRB 2009, 24 (26). 3 BT-Drucks. 16/6308, 206. 4 Schürmann, FamRB 2009, 24 (27).
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Kap. 12 Rn. 586 586
Verfahrensrecht
Ob die Beschwerdebegründung in FG-Familiensachen bei dem erstinstanzlichen Gericht oder dem Beschwerdegericht eingereicht werden muss, geht aus dem Gesetz nicht hervor. § 64 Abs. 1 FamFG bestimmt lediglich, bei welchem Gericht die Beschwerde einzulegen ist. Im Hinblick darauf, dass in sämtlichen Familiensachen keine Abhilfebefugnis des Erstgerichts besteht, ist die Beschwerdebegründung, sofern sie nicht in der Beschwerdeschrift enthalten ist, bei dem Beschwerdegericht einzureichen1, zumal auch nach Einlegung der Beschwerde die Akten unverzüglich an das Beschwerdegericht zu übersenden sind und deshalb bei Eingang der Begründung bei dem Erstgericht dort wahrscheinlich nicht mehr vorliegen würden. (2) In Ehe- und Familienstreitsachen
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Die Beschwerde in Ehe- und Familienstreitsachen muss in Abweichung von § 65 Abs. 1 FamFG begründet werden (§ 117 Abs. 1 S. 1 FamFG). Die Beschwerdebegründung ist, sofern sie nicht bereits in der Beschwerdeschrift enthalten ist, bei dem Beschwerdegericht einzureichen (§ 117 Abs. 1 S. 2 FamFG). Wird die Beschwerdebegründung zwar innerhalb der Begründungsfrist, aber entgegen § 117 Abs. 1 S. 1 FamFG bei dem Ausgangsgericht eingereicht, ist die Beschwerde nur zulässig, wenn die Beschwerdebegründung durch Weiterleitung des Ausgangsgerichts noch innerhalb der Begründungsfrist bei dem Beschwerdegericht eingeht. Geht die Beschwerdebegründung jedoch trotz pflichtgemäßer Weiterleitung erst nach Fristablauf dort ein, ist die Beschwerde unzulässig und Wiedereinsetzung nur zu gewähren, wenn die fristgerechte Weiterleitung an das Beschwerdegericht im ordentlichen Geschäftsgang erwartet werden konnte2 (vgl. auch Rn. 577). Die allgemeinen Vorschriften der ZPO über die Berufung in Ehe- und Familienstreitsachen sind nicht anwendbar, lediglich § 520 Abs. 2 S. 2 und 3 ZPO sowie § 522 Abs. 1 S. 1, 2 und 4 ZPO gelten nach § 117 Abs. 1 S. 2 FamFG entsprechend. Entsprechend anwendbar sind auch die §§ 514, 516 Abs. 3, 521 Abs. 2, 524 Abs. 2 S. 2 und 3, 528, 538 Abs. 2 und 539 ZPO (§ 117 Abs. 2 S. 1 FamFG). Die Beschwerde erfordert einen bestimmten Sachantrag, der zu begründen ist. Der Sachantrag muss bezeichnen, in welchem Umfang und mit welchen Gründen die erstinstanzliche Entscheidung angegriffen wird3.
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Wichtig: Die Beschwerdebegründung muss nicht den Anforderungen des § 520 Abs. 3 ZPO genügen, da nach § 117 Abs. 1 S. 4 FamFG nur § 520 Abs. 2 S. 2 und 3 ZPO, nicht aber § 520 Abs. 3 ZPO entsprechend anwendbar ist. Es dürfte jedoch zweckmäßig sein, zumindest entspre-
1 Schürmann, FamRB 2009, 24 (27); aA Prütting/Helms/Abramenko, § 65 FamFG Rn. 2. 2 BGH v. 17.8.2011 – XII ZB 50/11, FamRZ 2011, 1649 = FamRB 2011, 338; Zöller/ Greger § 233 ZPO Rn. 22b. 3 BT-Drucks. 16/6308, 225.
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Rn. 589
Kap. 12
chend § 520 Abs. 3 Nr. 3 ZPO konkrete Anhaltspunkte zu bezeichnen, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Beschluss begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten, und neue Angriffs- und Verteidigungsmittel zu bezeichnen (§ 520 Abs. 3 Nr. 4 ZPO)1. Die Frist zur Begründung der Beschwerde beträgt zwei Monate und be- 588 ginnt mit der schriftlichen Bekanntgabe des Beschlusses, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach dessen Erlass (§ 117 Abs. 1 S. 3 FamFG), d.h. in Ehe- und Familienstreitsachen nach ordnungsgemäßer Verkündung2. Aufgrund der entsprechenden Anwendbarkeit des § 520 Abs. 2 S. 2 und 3 ZPO kann die Begründungsfrist auf Antrag ohne Einwilligung des Beschwerdegegners um einen Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Beschwerdeführer erhebliche Gründe darlegt. Erhebliche Gründe können zB Arbeitsüberlastung, Erkrankungen des Personals, Urlaube, fehlende Informationen oder Beschaffungsschwierigkeiten bei Beweisurkunden oder Gutachten oder eine noch notwendige Rücksprache mit der Partei sein3. Dem Antrag muss sich zumindest im Wege der Auslegung entnehmen lassen, bis zu welchem Datum die Frist verlängert werden soll, anderenfalls kann er zurückgewiesen werden4. Die weitere Verlängerung setzt die Zustimmung des Beschwerdegegners voraus, mit deren Erteilung nicht ohne weiteres gerechnet werden darf5.
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Wichtig: Soll eine nochmalige Verlängerung der Begründungsfrist gem. § 520 Abs. 2 S. 2 ZPO beantragt werden, sollte bei dem Beschwerdegegner rechtzeitig schriftlich die Zustimmung erbeten werden. Die Zustimmungserklärung ist dem Verlängerungsantrag beizufügen, alternativ ist es idR ausreichend, wenn anwaltlich versichert wird, dass die Zustimmung zur Verlängerung bis zu dem Zeitpunkt, der im Verlängerungsantrag genannt ist, erteilt wurde.
Der Verlängerungsantrag muss noch vor Ablauf der Frist, spätestens am 589 Tag des Fristablaufs, bei dem Beschwerdegericht eingegangen sein.
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Praxistipp: Durch geeignete Organisationsmaßnahmen muss der Rechtsanwalt sicherstellen, dass nach Stellung eines Antrags auf Verlängerung der Begründungsfrist und Ausbleiben der Reaktion des Gerichts hierauf noch vor Ablauf der beantragten verlängerten Frist dort Nachfrage ge-
1 Maurer, FamRZ 2009, 465 (474). 2 BGH v. 19.10.2011 – XII ZB 250/11, FamRZ 2012, 106 = FamRB 2012, 50; BGH v. 13.4.2011 – XII ZR 131/09, FamRB 2011, 242. 3 Zöller/Heßler, § 520 ZPO Rn. 19. 4 Zöller/Heßler, § 520 ZPO Rn. 16. 5 BGH v. 4.3.2004 – IX ZB 121/03, FamRZ 2004, 867.
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Kap. 12 Rn. 590
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halten wird, ob und in welchem Umfang dem Antrag stattgegeben wurde; kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, wird spätestens zu dem Zeitpunkt, zu dem er eine klärende Antwort auf die Nachfrage erhalten hätte, die Monatsfrist des § 234 Abs. 1 S. 2 ZPO in Gang gesetzt1. 590
Aus der Beschwerdebegründung muss hervorgehen, in welchem Umfang der Beschluss angefochten und welche Abänderung verlangt wird. Aus der Beschwerdebegründung muss deutlich werden, welche Erwägungen des angefochtenen Beschlusses aus welchen Gründen angegriffen werden2. Wird die Verpflichtung zur Zahlung nur teilweise angefochten, ist dies deutlich zu machen. Formulierungsbeispiel: … beantragen wir, den Beschluss des Amtsgerichts … vom … mit der Maßgabe abzuändern, dass der Antragsgegner nur verpflichtet ist, an die Antragstellerin nachehelichen Unterhalt (alternativ: Elementar, Altersvorsorge- oder Pflegevorsorgeunterhalt) in Höhe von monatlich … Euro zu zahlen, und im Übrigen den Antrag abzuweisen.
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Wichtig: In Familienstreitsachen kann die sofortige Wirksamkeit der Endentscheidung nach § 116 Abs. 3 S. 2 FamFG mit der Folge der sofortigen Vollstreckbarkeit nach § 120 Abs. 2 S. 1 FamFG angeordnet werden. In diesen Fällen stellt sich die Frage nach der Einstellung der Zwangsvollstreckung. Die einstweilige Einstellung der Vollstreckung in der Beschwerdeinstanz kommt jedenfalls dann in Betracht, wenn die Gründe, auf die der Antrag gestützt wird, im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem erstinstanzlichen Gericht nicht vorlagen oder aus anderen Gründen nicht vorgetragen und nicht glaubhaft gemacht werden konnten3. Nicht zuletzt aus haftungsrechtlichen Gründen sollte jedoch bereits in erster Instanz der Vollstreckungsschutzantrag gem. § 120 Abs. 2 S. 2 FamFG gestellt und glaubhaft gemacht werden. Die Vorschrift des § 120 Abs. 2 S. 2 FamFG ist § 62 Abs. 1 S. 3 ArbGG nachgebildet4. Für diesen Vollstreckungsschutzantrag wird teilweise in der Rechtsprechung und Literatur die Auffassung vertreten, er müsse bereits in erster Instanz gestellt werden5 (vgl. Rn. 446).
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BGH v. 13.10.2011 – VII ZR 29/11, FamRZ 2012, 126. Prütting/Helms/Feskorn, § 117 FamFG Rn. 23. Giers, FamRB 2009, 87 (88). BT-Drucks. 16/6308, 226. Giers, FamRB 2009, 87 (88) mwN.
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Verfahrensrecht
Rn. 593
Kap. 12
Aufhebung des Beschlusses und Zurückverweisung erfolgen nur auf An- 591 trag (§ 538 Abs. 2 ZPO). Dieser Antrag ist nur dann zu stellen, wenn auch die Voraussetzungen des § 538 Abs. 2 ZPO vorliegen (zB wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels). Ansonsten ist bei teilweiser Anfechtung der Endentscheidung der Antrag auf Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung zu stellen. Eine Erweiterung des erstinstanzlich gestellten Antrags ist in zweiter In- 592 stanz nach den Vorschriften über die Antragsänderung (§ 263 ZPO) auch noch nach Ablauf der Begründungsfrist zulässig1. Zulässig ist eine Erweiterung der Beschwerde innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist. Davon zu unterscheiden ist die Beschwerdeerweiterung, die nach Ablauf der Begründungsfrist nur zulässig ist, wenn und soweit sie sich im Rahmen der Beschwerdebegründung hält und von ihr gedeckt ist2. Beispiel: Der Antragsgegner ist vom Familiengericht zur Zahlung von monatlich 800 Euro verpflichtet worden und begehrt in der Beschwerdebegründung eine Abänderung des Urteils, soweit mehr als 400 Euro zugesprochen wurden. Nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist stellt er den Antrag auf Abweisung in vollem Umfang und stützt sich hierbei auf die Gründe, die in der Beschwerdebegründung bereits vorgetragen wurden. Diese Beschwerdeerweiterung ist zulässig. Unzulässig ist sie jedoch, wenn die Entscheidung, in der laufender und rückständiger Unterhalt zugesprochen wurde, in der Beschwerdebegründung nur wegen des laufenden Unterhalts angefochten wird und später der Abweisungsantrag in vollem Umfang gestellt, dh. auch die Verpflichtung zur Zahlung rückständigen Unterhalts angegriffen wird.
Eine Beschwerdeerweiterung liegt nicht vor, wenn lediglich weitere 593 Gründe nachgeschoben werden, ohne dass eine Änderung des Antrags erfolgt. Das Nachschieben von Gründen in Ehe- und Familienstreitsachen kann allenfalls dann zurückgewiesen werden, wenn dadurch die Erledigung des Verfahrens verzögert würde und die Verspätung auf grober Nachlässigkeit beruht (§ 115 Abs. 1 S. 1 FamFG), ansonsten sind sie zuzulassen, die §§ 530, 531 ZPO sind nicht anwendbar. Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sind insbesondere Tatsachenbehauptungen, das Bestreiten von Behauptungen, Einwendungen und Einreden oder Beweismittel und Beweiseinreden3; Antragsänderung oder Widerklageanträge hingegen sind neue Streitgegenstände, die nicht wegen Verspätung zurückgewiesen werden dürfen4.
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Wichtig: Das Problem der Präklusion stellt sich in Ehe- und Familienstreitsachen erst dann, wenn die Angriffs- und Verteidigungsmittel inner-
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BGH v. 24.2.1988 – IVb ZR 45/87, FamRZ 1988, 603 (604). BGH v. 18.10.1989 – IVb ZR 89/88, FamRZ 1990, 260 (261). Prütting/Helms/Helms, § 115 FamFG Rn. 7. BGH v. 17.4.1996 – XII ZB 60/95, FamRZ 1996, 1071; Prütting/Helms/Helms, § 115 FamFG Rn. 7.
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Kap. 12 Rn. 594
Verfahrensrecht
halb der Beschwerdebegründung hätten vorgebracht werden können, jedoch erst außerhalb der Begründungs- oder Erwiderungsfrist vorgetragen werden. ii) Anschlussbeschwerde 594
Jeder Beteiligte, der nicht selbst Beschwerde gegen die Endentscheidung eingelegt hat und mehr erreichen will als die Verwerfung oder Zurückweisung des Hauptrechtsmittels, muss sich der Beschwerde anschließen. Die Anschlussbeschwerde ist allerdings unselbständig und vom Schicksal des Hauptrechtsmittels abhängig mit der Folge, dass sie mit der Rücknahme der Beschwerde, deren Verwerfung oder Zurückweisung gegenstandslos wird, und zwar selbst dann, wenn sie innerhalb der Beschwerdefrist eingelegt wird1. Die Anschlussbeschwerde setzt keine Beschwer voraus mit der Folge, dass selbst eine wegen fehlender Beschwer, Nichtzulassung oder Nichterreichung der Beschwerdesumme unzulässige eigene Beschwerde als Anschlussbeschwerde zulässig ist2.
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Jeder Beteiligte hat die Möglichkeit, sich der Beschwerde anzuschließen (§ 66 S. 1, 1. Halbs. FamFG). Eine Beschränkung auf bestimmte Verfahrensgegenstände sieht das Gesetz nicht vor. Gleichwohl wird die Anschlussbeschwerde regelmäßig nur in den Fällen in Betracht kommen, in denen sich die Beteiligten mit widerstreitenden Anliegen gegenüberstehen3.
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Die Vorschrift ist auf alle Familiensachen anwendbar, für die Ehe- und Familienstreitsachen gilt ergänzend § 117 Abs. 2 S. 1 FamFG (vgl. Rn. 598).
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Die Anschließung erfordert die Einreichung einer Beschwerdeansschlussschrift bei dem Beschwerdegericht (§ 66 S. 1, 2. Halbs. FamFG). Eine Begründung ist nicht erforderlich, und zwar weder in den FG-Familiensachen oder Abstammungssachen noch in Ehe- und Familienstreitsachen, da § 117 Abs. 2 S. 1 FamFG nicht auf § 524 Abs. 3 ZPO verweist. Das Beschwerdegericht kann jedoch eine Frist zur Begründung setzen, deren Nichteinhaltung aber keine rechtlichen Folgen nach sich zieht4.
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Praxistipp: Insbesondere in den Familienstreitsachen ist nicht zuletzt aus haftungsrechtlichen Gesichtspunkten die Begründung der Anschlussbeschwerde zu empfehlen5.
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In Ehe- und Familienstreitsachen ist über § 117 Abs. 2 S. 1 FamFG, der § 524 Abs. 2 S. 2 ZPO für entsprechend anwendbar erklärt, die Anschluss1 2 3 4 5
Prütting/Helms/Abramenko, § 66 FamFG Rn. 13. Zöller/Feskorn, § 66 FamFG Rn. 2. BT-Drucks. 16/6308, 206. Maurer, FamRZ 2009, 465 (468). So auch Maurer, FamRZ 2009, 465 (468).
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Verfahrensrecht
Rn. 600
Kap. 12
beschwerde grundsätzlich bis zum Ablauf der dem Beschwerdegegner gesetzten Frist zur Erwiderung auf die Beschwerde einzureichen. Eine Ausnahme gilt für Unterhaltssachen, jedoch nur, wenn die Anschließung eine Verpflichtung zu künftig fällig werdenden wiederkehrenden Leistungen zum Gegenstand hat. Insoweit gilt § 524 Abs. 2 S. 3 ZPO über § 117 Abs. 2 S. 2 FamFG entsprechend, so dass die Anschließung bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung möglich ist, ohne dass die zur Begründung vorgetragenen Umstände erst nach der letzten mündlichen Verhandlung in erster Instanz entstanden sein müssen1. Die Anschlussbeschwerde ist insbesondere in Unterhaltssachen ein pro- 599 bates Mittel, den Beschwerdeführer mit dem Ziel unter Druck zu setzen, dass er die Beschwerde zur Verhinderung einer Verschlechterung zurücknimmt. Hinzu kommt, dass sie idR keine Kostenfolgen nach sich zieht, da im Falle der Rücknahme des Hauptrechtsmittels der Beschwerdeführer die Kosten zu tragen hat. Kosten fallen dem Anschließenden nur dann zur Last, wenn über das Hauptrechtsmittel und die Anschlussbeschwerde entschieden wird. Ist die Anschlussbeschwerde bereits eingelegt und das Hauptrechtsmittel wird als unzulässig verworfen, hat allerdings der Beschwerdegegner die Kosten der Anschließung selbst zu tragen.
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Praxistipp: Dieses Problem kann umgangen werden, indem die Anschlussbeschwerde bedingt für den Fall eingelegt wird, dass dem in erster Linie gestellten Antrag auf Verwerfung oder Zurückweisung der Beschwerde nicht entsprochen werden sollte, sog. Hilfsanschlussbeschwerde2.
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Wichtig: In Unterhaltssachen ist stets zu prüfen, ob zur Vermeidung der Präklusion (§ 238 Abs. 2 FamFG) in einem späteren Abänderungsverfahren Anschlussbeschwerde eingelegt werden muss.
Dem Beschwerdegegner, zu dessen Gunsten oder Lasten nach Schluss der 600 mündlichen Verhandlung erster Instanz eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse eingetreten ist, steht kein Wahlrecht zu3, diese Veränderungen entweder im Wege der Anschließung durch Antragserweiterung oder mit einem selbständigen Abänderungsantrag geltend zu machen4. Vielmehr muss der Beschwerdegegner in diesem Fall zur Vermeidung der Präklusionswirkung des § 238 Abs. 2 FamFG Anschlussbeschwerde einlegen5. Hat der Unterhaltsschuldner Beschwerde eingelegt, sind alle nach 1 BGH v. 28.1.2009 – XII ZR 119/07, FamRZ 2009, 579 = FamRB 2009, 178 und FamRB 2009, 138. 2 BGH v. 10.11.1983 – XII ZR 72/83, NJW 1984, 1240 (1241); Zöller/Heßler, § 524 ZPO Rn. 17. 3 Zöller/Vollkommer, § 323 ZPO Rn. 13. 4 BGH v. 6.11.1985 – IVb ZR 74/84, FamRZ 1986, 43 (44). 5 BGH v. 16.3.1988 – IVb ZR 36/87, FamRZ 1988, 601 (602).
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Kap. 12 Rn. 601
Verfahrensrecht
Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz eingetretenen wesentlichen Änderungen im Wege der Anschlussbeschwerde geltend zu machen1, anderenfalls wäre er mit einem nach Abschluss des Beschwerdeverfahrens erhobenen Abänderungsantrag präkludiert. 601
Wird die Beschwerde zurückgenommen, entstehen dem Anschließenden keine Rechtsnachteile. Er kann anschließend die veränderten Umstände im Wege eines selbständigen Abänderungsverfahrens erstinstanzlich geltend machen, und zwar bereits für die Zeit ab Zustellung der Anschlussbeschwerde2. Somit muss Anschlussbeschwerde eingelegt werden von – dem Unterhaltsgläubiger, der als Beschwerdegegner ein auf veränderte Verhältnisse gestütztes Erhöhungsverlangen geltend machen will, – dem Unterhaltsschuldner, der wegen wesentlicher Veränderung der Verhältnisse eine weitere Herabsetzung