Antäus: Neuer Aufbau der Lehre Kants über Seele, Freiheit und Gott [Reprint 2021 ed.] 9783112403167, 9783112403150


149 48 8MB

German Pages 146 [156] Year 1882

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Antäus: Neuer Aufbau der Lehre Kants über Seele, Freiheit und Gott [Reprint 2021 ed.]
 9783112403167, 9783112403150

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Antäus. Neuer Aufbau der Lehre

Kants über

Seele, Freiheit und Gott.

Dr. Heinrich Uomundt.

Leipzig, Verlag von Veit & Conip.

Das Recht der Herausgabe von Übersetzungen Vorbehalten.

Dem neuen Deutschland

ein Vermächtnis aus der Vergangenheit für

die Zukunft.

Vorbemerkungen. Das vorliegende Buch entwickelt die Lehre Kants über Seele, Freiheit und Gott auf dem Standpunkte des Begründers, jedoch in

einer neuen, bisher nicht versuchten Weise. Die Lehre ist hier mit gänzlichem Absehen von der überlieferten Form und den leicht mißzuverstehenden Ausdrücken Kants, welche sehr bald ein „Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen

Schriften" nötig gemacht haben, aufs Neue aus ihren Voraussetzungen

abgeleitet worden.

Und sollte es nicht endlich an der Zeit sein der

Philosophie Kants eine solche Gestalt zu geben, daß die kommenden

Geschlechter sie nicht nur, wie dieses erste nun beendete Jahrhundert nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft im Jahre 1781,

von außen aufnehmen und lernen, sondern daß jeder Denkende, der auf den freien Standpunkt Kants gelangt ist, sie selbst immer neu zu entwickeln vermag?

Ist doch die Kantische Lehre nichts Anderes

als das gemeine System der menschlichen Vernunft in schulmäßiger Form, welches seit Menschengedenken im Leben der „großen (für uns

achtungswürdigsten) Menge," um mit Kant, dem Freund des Men­

schen, zu sprechen, aber leider nicht auf den Kathedern ihrer Pro­

fessoren geherrscht hat.

Daß Kant dieses in die Wissenschaft und

damit in die Schule eingeführt hat, ist besonders wegen der krausen, fremdartigen Form, welche Kant der Lehre gegeben hat, bisher nur

von wenigen, vielleicht nur von Kants Zeitgenossen Christian Garve

(und von diesem nur für einen Teil der Lehre), erkannt worden. Wohl aber war Kant selbst sich bewußt das allgemeine natürliche

System der Menschheit zuerst aufgestellt zu haben, wenn er in dem als Motto der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hin-

zugesügten Abschnitt aus dem neuen Organon des Bako von Verulam aussprach, daß er nicht die Grundlagen einer neuen Sekte (der Philo-

sophie), sondern die der menschlichen Wohlfahrt lege. Daß er aber eine andere Gestalt für den Gehalt seiner Lehre als die von ihm gebotene wünsche und erwarte, hat Kant mehr als

einmal ausgesprochen.

Die von ihm gewünschte Unterstützung für

seine Lehre hat er aber nicht bei den talentvollen Männern unter seinen Nachfolgern gefunden.

Man ging vielmehr ehrgeizig zunächst

aus eigene, ungeheuerliche und unerhörte Einfälle und Erdichtungen aus, statt sich in den Dienst der gemeinen Sache zu stellen.

So ist

die Erwartung Kants, daß durch thätige Teilnahme seiner Leser an seinem Unternehmen in kurzer Zeit „der von ihm gebahnte Fußsteig

zur Heeresstraße erweitert" werde, bis jetzt ein Wunsch geblieben. Kant hat die Lehre über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, welche

drei Ideen er als den Zweck aller Nachforschungen der Metaphysik

bezeichnet, in folgenden Schriften: in der Kritik der reinen Ver­ nunft (1781), den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785),

der Kritik der praktischen Vernunft (1788), der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), dar­

gestellt.

Diese Schriften (und so auch die Teile des vorliegenden

Buches) bilden eine zusammenhängende Folge von Gedanken so, daß der letzte ohne das Vorausgehende nicht vollständig verstanden wer­

den kann, die ersten aber ohne die Ergänzung, welche man int Fol­ genden zu erwarten hat, unzureichend erscheinen müssen.

Die be-

Vorbemerkungen.

VII

deutungsvollen Lehren der Kritik der Urteilskraft (1790) gehören nach der Ansicht des Verfassers in diesen Gedankengang nicht hinein.

Von anderen Lehren Kants möchte man hier etwa nur die Lehre von der transscendentalen Idealität bei empirischer Realität von Raum

und Zeit vermissen, mit welcher Kant beginnt und alle Darsteller seines Lehrgebäudes nach ihm.

Man meint neuerdings durch die

volkstümliche Darstellung gerade dieser Lehre den Kantischen Ge­

danken im Volke einheimisch, machen zu

können.

So große Hoff­

nungen kann man auf diese Lehre setzen nur wegen der vermittelst der­ selben zu begründenden Überzeugung: die Welt in Raum und Zeit, zwar Domäne der menschlichen Vernunft und Wissenschaft, ist gerade deshalb nicht die Sache selbst, sondern diese ist und bleibt trotz aller

Erforschung der Natur, die nie zu vollenden ist, uns unbekannt. Der Verfasser ist aber schon vor Jahren, als er Kants Lehre über

Raum und Zeit im akademischen Unterricht behandelte und auf man­

cherlei Weise jüngeren Freunden näher zu bringen versuchte, zu der Überzeugung gekommen, daß diese Wahrheit gemeinverständlich, wenn

überhaupt, begründet werden kann allein in einer Darstellung, in der die Kantischen Lehren von Raum und Zeit nicht vorkommen. Während nun aber einiges von demjenigen, der Worte und Sätze

dieses Buches mit den Kantischen Werken vergleicht, vermißt werden mag, wird derselbe andererseits Lehren finden, denen Entsprechendes

in Kants Werken man vergebens suchen würde,

welche

aber der

Versuch Kants Lehre aufs Neue auf dem Standpunkte des Natur­ forschers auszubauen notwendig machte.

Auf diesem Standpunkt

stand zwar der große Denker selbst, der auch als Schriftsteller zu­

nächst vorzüglich mit Fragen der Naturwissenschaft sich beschäftigt

hat, die Zeit-seines Lebens, ohne jedoch das auf demselben in der Betrachtung sich zunächst Ergebende in den oben genannten Werken

mehr als anzudeuten.

So mußte, um nur einiges anzuführen, die

VIII

Vorbemerkungen.

naturwissenschaftliche Ailffassnng des menschlichen Handelns und die Begründung desselben in der Natur in einiger Ausführlichkeit dar­

gestellt werden, ehe die dadurch nicht ausgeschlossene Weise dieselben Handlungen vonseiten des bloßen Denkens zu betrachten entwickelt

werden konnte, wenn nicht dasselbe Mißverstehen zu fürchten bleiben

sollte, unter dem das Verständnis der Kantischen Sittenlehre so sehr

gelitten hat; dies ist'im dritten Teile geschehen und hat eine vom Wortlaut der Kantischen Schriften freilich sehr abweichende Fassung

der Sittenlehre zur Folge gehabt.

Ferner forderte der Naturforscher

im Menschen in der Religionslehre für das höchste Ideal der Mensch­

heit eine Zerlegung desselben in zwei einander widerstreitende Ge­ stalten, Mensch und Gott, von welcher Zerlegung sich bei Kant, der

von dem Standpunkte des Naturforschers immer aufs Neue nur ausgeht, um sich darüber zu erheben, nicht um daraus zu verweilen,

kaum Andeutungen finden. Endlich schien es nicht unwichtig zu zeigen, wie die allzukühnen,

aber dem Menschen natürlichen Schlüsse, die dem vorsichtigen Natur­ forscher die nubefangene Erkenntnis der Natur allein zu hindern scheinen mögen, dem Interesse unbefangener Naturforschung dienstbar

gemacht werden können; dies ist im zweiten Teile für den Gedanken der Seele, der Freiheit, der Gottheit an Beispielen nachzuweisen

versucht worden. Leipzig, am 2. September 1881.

Der Verfasser.

Inhalt. Seite

Einleitung.

Die Entdeckung Amerikas durch Columbus eine Wirkung,

eben dieselbe eine Ursache der Erneuerung der menschlichen Gedanken­ welt

..................................................................................................................

Erster Teil.

Die menschliche Wahrnehmung Quelle und Grenze des

Wissens von der Natur, nicht Grenze des Denkens........................... Zweiter Teil.

1

9

Die Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine

Elltdeckung.............................................................................................................. 23 Dritter Teil.

Das menschliche Belieben Anfang, nicht Ende des Wollens

Vierter Teil.

Die Welt jenseits der Natur eine Forderung, nicht ein

72

Fund.........................................................................................................................88

Fünfter Teil.

Der Zweifel des Menschen an der Berechtigung und

Erfüllung der Forderung eines Jenseits Anfang, nicht Ende des Glaubens............................................................................................................107 Sechster Teil.

Das Jenseits eine gewisse Hoffnung, nicht eine berechtigte

Forderung, nicht eine begriindete Vermutung........................................... 123 Schluß.

Das Jenseits für den Menschen eine immer zu erneuernde Welt

des Gedankens, nicht eine unveränderliche Thatsache................................ 144

Einleitung. 1. Die Entdeckung Amerikas durch Columbus im Jahre 1492 fügte

zu der alten Welt eine neue und bereicherte das Wissen der euro­ päischen Menschheit durch eine Fülle neuer Anschauungen von Pflanzen, Tieren und Menschen.

Aber mehr als das: sie beschleunigte

die Erneuerung der Gedankenwelt des Menschen, die schon längst vorher begonnen und durch Aufregung aller menschlichen Geisteskräfte den Plan den Osten der alten Welt durch eine Fahrt nach Westen

zu erreichen — den Gedanken nicht bloß des einen Columbus —

geweckt hatte. Ehe man die Bekanntschaft der Jndianerhorden Amerikas machte,

waren bereits zuerst in Italien die Vorstellungen von dem jensefts des Mittelalters

an welches

liegenden römisch-griechischen Altertum erneuert,

man sich als an ein Vorbild eines veredelten mensch­

lichen Daseins nacheifernd anschloß, in dessen Sprache man sich aus­

zudrücken bestrebte.

Neue Schriften der Alten waren im fünfzehnten

Jahrhundert zu den früher bekannten hinzu entdeckt, und die Bücher­ schätze, deren Vervielfältigung durch die neuerfundene Buchdruckerkunst

erleichtert wurde, begannen die Mächtigen und Vornehmen Italiens,

voran die Päpste, in Bibliotheken zu sammeln.

Wichtiger noch als die Verdrängung der herrschenden Ansichten der Geistlichen vom Altertum vonseiten des Romundt, Antäus.

eigenen Standes der 1

2

(Einleitung.

Humanisten - Philologen und die allmähliche

Ersetzung

z. B. der

Wahngestalt des Aristoteles durch ein treueres Bild desselben wurde

die auf eine genauere Kenntnis der Bibel gegründete Erkenntnis vom Christentum.

Die heiligen Schriften waren bisher in der Kirche ohne

Bekanntschaft mit den Sprachen, in denen sie ursprünglich geschrieben

waren, erklärt, und die Verbreitung derselben in den europäischen Volkssprachen war z. B. von einem Papste wie Gregor VII. miß­ billigt.

Nun aber wurde durch Luthers Übersetzung die Bibel einem

jeden aus dem Volke in die Hand gegeben, und die lange und ost

beabsichtigte Läuterung der Kirche an dem klaren Buchstaben der

An die Einführung der deutschen

Schrift konnte ausgeführt werden.

Bibel in den Gemeinden schlossen sich an eine Menge von Änderungen des alten Kirchenwesens.

2. Wie nun die That des Columbus mit ihren Folgen die Vor­ stellungen der Menschheit durch neue, abweichende und doch an das

bisher Bekannte erinnernde Anschauungen von Naturgegenständen er­ frischte und bereicherte, so auch erneuerten Humanisten und Refor­

matoren die Gedanken von menschlichen Angelegenheiten nicht durch bloße Ausbeutung der bisher vorhandenen Begriffe, noch weniger

durch bloße Anstrengung des von den Dingen abgezogenen Geistes, sondern — andere Columbus — durch Entdeckung neuer Welten in den Schriften der alten Zeit, die oft den herkömmlichen Vorstellungen

nicht mehr entsprachen als der Mais, der Truthahn Amerikas den

Verwandten in der alten Welt.

So wenn Luther in der Schrift an

den christlichen Adel schreibt: „sie sprechen, er, der Papst, sei ein Herr der Welt. Das ist erlogen. Denn Christus, des Statthalter und Amt­

mann er sich rühmt, sprach vor Pilatus: „mein Reich ist nicht von dieser Welt."

Es kann ja kein Statthalter weiter regieren denn sein Herr."

(Einleitung.

3

Damit aber unterschied noch eine bedeutsame Eigentümlichkeit die Entdeckungen, welche die Menschheit des 15. und 16. Jahrhunderts

überraschten, von den durch bloße Anstrengung des Geistes erreichten

Neuerungen des Mittelalters.

Man hatte nur nötig, in dieselbe Welt

wie die Entdecker zu reisen (und dazu bedurfte es nicht sowohl be­

sonderer Gaben des Geistes als einer andauernden, besonnenen und

nüchternen Beschäftigung mit den Gegenständen und der Bemächti­ gung derselben durch fleißige Forschung), um dasselbe wie sie mitzu­

bringen, um ihre Berichte zu prüfen und vielleicht zu berichtigen. Es entsprang der Gedanke einer auch den Armen am Geiste zugäng­

lichen wissenschaftlichen Bildung und eines von jedermann

zu erler­

nenden, fortwährender Verbesserung fähigen Verfahrens sich der allen zugänglichen Gegenstände zu bemächtigen.

Die Vorstellungen der Menschen finden ihr Maß nicht mehr in

den Meinungen einzelner angesehener Männer, sondern in den allen vorliegenden Sachen selbst und werden durch immer wiederholtes,

immer tieferes Eindringen in die neueröffneten Welten in einer fort­

schreitenden Bewegung ohne Ende erhalten.

3. Die Alten erzählen von dem Riesen Antäus, daß er im Ringen unüberwindlich war und die in seine Nähe kommenden Fremdlinge bezwang, so lange er mit der mütterlichen Erde in Verbindung blieb

und aus ihr immer neue Kräfte zog.

Den von der Erde Aufgeho­

benen in der Luft zu zerdrücken machte dem Herkules keine Mühe.

So hatten die Gedanken des Menschen lange hoch über den Ge­ genständen geschwebt.

So lange aber stritten Gedanken gegen Ge­

danken ohne Entscheidung und waren mit einander durch die widerstreitende gemeine Wirklichkeit immer wieder ausgelöscht wie Feuer1*

brande im Wasser.

Nun hatte der Geist des Menschen, ein glück­

licherer Antäus, von einem Columbus, von einem Luther geleitet,

die mütterliche Erde wieder berührt, um sich nicht wieder von ihr zu entfernen.

4. Die gryße Veränderung in

dem Verhalten des ^menschlichen

Geistes zu den Gegenständen der Forschung, infolge wovon Natur

und Menschenkunde wie die Lehre von den göttlichen Dingen aufs Neue in Fluß gebracht waren, konnte den aufmerksamen Beobachtern

jenes Zeitalters selbst nicht entgehen.

Und wenn die gleiche Änderung

des Verfahrens so verschiedenen Wissenschaften wie der Naturkunde,

Geschichte, Theologie aufgeholfen hatte, lag es fern eine Erneuerung

aller Wissenschaften auf derselben Grundlage zu planen? Die bereits bewährte Grundlage war aber die Unterwerfung des menschlichen Geistes unter die Überlieferung der Sinne.

Zum Anwalt dieses Planes machte sich der Kanzler von Eng­

land, Bako von Verulam.

Er wird nicht müde in dem 1620 ver­

öffentlichten Teile seiner großen Erneuerung der Wissenschaften, dem neuen Organon, zu lehren: die Natur wird nur durch Gehorsam

besiegt.

Das Verfahren aber, uns der Naturgegenstände im Wffsen

zu bemächttgen, ist nicht aus den Begriffen vom menschlichen Geistes­

vermögen allein abzuleiten, sondem aus demselben im Vergleich mit der Natur der zu erforschenden Gegenstände, und ist diesen in viel

innigerer Weise anzupassen als bisher, so daß mit den Entdeckungen

die Kunst des Entdeckens wächst.

Der Gewinn aber aus der Beu­

gung des Geistes unter die Gegenstände wird eine gründliche Natur­

kunde sein, wie sie nicht möglich ist, solange man das Wissen von

der Natur nur als eine Fähre, um in eine ganz andere Welt über der Natur zu gelangen, sucht und benutzt.

Diese unbefangene Natur-

Einleitung.

5

künde hätte man im griechisch-römischen Altertum auf der Bahn der ältesten Naturforscher mit zunehmender Bescheidung gegen die große

Mutter fortschreitend bereits erreicht, wäre nicht zumal seit Sokrates das Interesse der Erkenntnis einseitig der Frage: was hat der Mensch

zu thun und zu lassen? zugewendet.

Sie konnte noch weniger ge­

deihen im christlichen Weltalter unter der Herrschaft der Theologie

zu einer Zeit, wo ein Augustin aus der heiligen Schrift entscheiden wollte, ob es Gegenfüßler geben könne oder nicht.

Die Aufforderung aber zu unbefangener Naturforschung, welche

Bako von Verulam erließ, durfte bereits seinen Zeitgenossen als un­ nütze Planmacherei erscheinen, da doch schon Männer wie Galilei

auf einem neuen Wege mit dem größten Erfolge vorwärts drangen. Anders stand es mit der von demselben Bako erhobenen, aber von

ihm selbst ebensowenig erfüllten Forderung auch in den Wissenschaf­ ten, welche Vorschriften für das menschliche Verhalten geben: in Denk-, Sitten- und Staatslehre, von einer gründlichen, vorurteilslosen

Erforschung der gegebenen Natur als Grundlage aller weiteren, sich

vielleicht unendlich weit über dieselbe erhebenden Gedanken auszugehen.

5. Es sei z. B. unsere Absicht mit Gewißheit dasjenige, was der Mensch notwendigerweise zu thun und zu lassen hat, zu bestimmen.

Wie man auch meint dies ausfindig machen zu können, die genaue Kenntnis des Menschen in seinen natürlichen Verhältnissen auf der

Erde zu Seinesgleichen wird hierfür nicht unnütz sein, wenn doch

der Mensch sich unter Menschen auf der Erde zu rühren hat, sei es auch für den Himmel.

Und je stärker wir das Auge des Geistes für die Erkenntnis des wirklichen Menschen und der Verhältnisse, in denen er lebt, be-

waffnen, UM so mehr dürfen wir danach hoffen die zu aller Zeit und überall in Wahrheit notwendige, wenn auch nicht immer von

den Mitlebenden als notwendig geforderte, Handlungsweise zu treffen, mehr jedenfalls als bei Unterwerfung unter herkömmliche Irrtümer über die menschliche Natur und das natürliche Verhältnis der Men­

schen unter einander.

Es sei die Überzeugung von jedermann die oft gehörte Ansicht,

es herrsche von Natur ein unbegrenztes Wohlwollen zwischen Mensch

und Mensch, der Mensch sei von Natur zu einer friedlichen Ver­ einigung mit Seinesgleichen bestimmt gleich der Biene und der Ameise.

Diese Behauptung zum Werte einer bloßen anfechtbaren Annahme

herabzusetzen

reicht schon

die eine

gemeine Thatsache

aus,

daß

selbst diejenigen, die sich durch die Einrichtungen für die Sicherheit

aller Bürger geschützt wissen, vor ihren Mitbürgern in der Nacht die

Thüre ihres Hauses und vor ihren Hausgenossen ihre Schränke ver­ schließen. Da aber der eine nicht läßt, was der andere thut, und die am

meisten durch die Erfahrung Gewitzigten unter den Menschen vielleicht

am wenigsten an ein natürliches Wohlwollen der Menschen gegen einander glauben, so dürfen wir hieraus sei es auch nur aus die

Möglichkeit einer ganz anderen Ansicht von der menschlichen Natur als verborgen unter jener schmeichlerischen schließen, auf das Vor­

handensein eines Mißtrauens gegen das scheinbare Wohlwollen der Menschen, das sich nicht immer erhalten hätte, wenn es nicht immer

wieder durch das Leben bestätigt zu werden schiene.

Den dieser An­

sicht zur Begründung dienenden Thatsachen als Anzeichen folgend wür­

den wir zu einem dem goldenen Zeitalter der Dichter am Anfang der Geschichte sehr wenig ähnlichen Naturzustände der Menschen gelangen, dem wir uns etwa nach Aufhebung der bürgerlichen Ordnung wie in den französischen Revolutionen der letzten hundert Jahre wieder

Einleitung.

7

annähern, der sich noch immer unter Wilden findet und der wohl bezeichnet zu werden verdient als ein Krieg aller gegen alle.

Als

Voraussetzung eines solchen Kriegszustandes würden wir aber auch

dem Menschen eine andere Natur zusprechen müssen als jene Ver­ trauensseligen: vielmehr das Verlangen selbst die Güter der Erde

zu genießen und zu besitzen als etwa seinen Mitmenschen den Besitz und Genuß derselben zu verschaffen.

Was sollte aber bei einer sol­

chen Beschaffenheit der menschlichen Natur jeden Einzelnen vor Ein­ führung einer durch Macht unterstützterl bürgerlichen Ordnung zurück­ halten

Anspruch auf

den Besitz

und Gebrauch

sämtlicher Güter

der Erde zu erheben? Freilich würde in diesem Naturzustande auch der Mächtigste in dem Besitz und Genuß der errafften Güter ge­ fährdet sein, selbst durch den Schwächsten, da jeder imstande ist je­

dem, wenn nicht durch Gewalt, so durch List und Gift das Leben, das ist die Voraussetzung alles Besitzes und Genusses, zu nehmen. Um nun der unaufhörlichen Gefahr sein Leben in dem unbe­

schränkten Kampfe um die Güter der Erde zu verlieren sich zu entziehen

würde in dem vorausgesetzten Naturzustande jeder vielmehr kluger­ weise den Anspruch aus alles aufgeben, um sich mit demjenigen zu be­ gnügen, was ihm unter Berücksichtigung der gleichen Ansprüche aller zu fordern übrig bleibt, wenn ihm dieses nur durchaus gesichert würde.

Hieraus folgen nun Gesetze für unser Verhalten, die uns eine andere Weise zu leben als notwendig vorschreiben, als wir am liebsten führen

möchten und ohne Rücksicht auf die natürlichen Verhältnisse der Men­ schen zu einander führen würden: diejenige Handlungsweise etwa,

die sich als notwendig ergiebt, wenn ich mir auferlege, dasjenige an­ deren nicht zu thun, von dem ich will, daß es mir nicht widerfahre.

Denn falls den aus dieser Erwägung sich ergebenden Gesetzen Schutz gegen Verletzungen derselben vonseiten der Maßlosen gewährt wird,

können alle ruhig neben einander leben.

Indessen welche dieser beiden Ansichten von der menschlichen Natur und dem natürlichen Verhältnis des Menschen zu Seinesgleichen auch die richtigere sein mag, diejenige der Vertrauensseligen oder die der

Mißtrauischen, Thomas Hobbes, der Freund des Bako von Verulam,

der nicht nur die Fordemng aufstellte, sondern in der angedeuteten

Weise erfüllte, die Vorschriften für das Thun und Lassen des Menschen

aus einer gründlichen, vorurtellslosen Erkenntnis des Menschen in dem natürlichen Verhältnis zu Seinesgleichen abzuleiten , zeigte damit einen Weg aus dem Beliebigen zum Notwendigen zu gelangen.

Nach

der Benutzung dieses Weges konnte man nicht mehr von der Wissen­ schaft von dem, was der Mensch zu thun und zu lassen hat, sagen wie bisher: sie setze wie in einem Kreise den Anfang nach Belieben und führe von einem beliebigen Anfang zu einem beliebigen Ende.

Das Gebäude der Sittenlehre war nunmehr auf etwas Besseres als Flugsand, auf die wirkliche Natur des Menschen in seinem Ver­

hältnis zu Menschen, gebaut worden; ob freilich die Natur bereits der Felsen ist, auf dem wir vernünftigerweise das Haus unseres

Lebens zu errichten begehren?

Erster Teil. Die menschliche Wahrnehmung Quelle und Grenze des Wissens von der Natur, nicht Grenze des Denkens.

6. Bako und Hobbes schätzten das bloße Nachdenken ohne gründ­ liche, immer neue Prüfung des Stoffes gering und verschmähten bloße

Gedankenbauten als eine Spielerei.

Sie hielten Wissenschaft irgend

welcher Art für unmöglich ohne bedingungslose Unterwerfung aller Geistesvermögen unter das Gegebene als erste unerläßliche Bedingung

für denjenigen, der zum Wissen gelangen will.

Damit jedoch bekannten

sie sich noch nicht zu der Meinung, demjenigen, der sich so unterwerfe,

werde die Wahrheit ohne alle eigene Thätigkeit und Anstrengung ge­ schenkt, als ströme sie von außen aus dem vollen Raume in den Geist des Menschen über wie in ein leeres Gefäß.

Bako und Hobbes

wiesen hin auf die Natur als den Mutterschoß aller Wissenschaften, nicht mußten sie damit schon einen Ursprung der Wissenschaft allein aus der jungfräulichen, unbefruchteten Natur behaupten. Aber wenn wir nun doch über die Forderung zunächst nichts Anderes vorzustellen als was sich vorher unserem Bewußtsein einge­

drückt hat, was wir von innen oder von außen in Empfindungen und Gefühlen ausgenommen haben, hinausgehen müßten zu der Behaup­

tung, daß wir uns durchaus nie etwas Anderes vorstellen dürfen,

(Erster Teil.

10

weil wir uns in Wahrheit trotz aller Anstrengungen doch nichts An­ deres vorstellen können?

Freilich scheint diese Annahme auf der Stelle widerlegt wer­ den zu können.

Denn vermögen wir nicht uns z. B. ein goldenes

Gebirge einzubilden, das doch nirgend auf der Erde sich findet?

Da wir indeß hierbei nichts Anderes thun als daß wir zwei oft bewährte Vorstellungen wie Gold und Gebirge

mit einander

verbinden, so würde-diese Thatsache der gewagten Voraussetzung nicht Widerstreiten. Sie würde nur beweisen, daß sich die von außen in den menschlichen Geist eingeführten Elemente mit einander zu eigen­

tümlichen Gebilden verbinden, die der Natur nicht immer entsprechen. Wie es indeß auch um die Wahrheit jener Behauptung von der

menschlichen Beschränktheit stehe, würde nicht die Voraussetzung, un­

sere Vorstellungen seien in Wirklichkeit auf das den Sinnen Gegebene eingeschränkt, benutzt werden können, um uns vielleicht von einigen

notwendigen und unentbehrlichen Gedanken, jedenfalls von allen will-

kürlichen Erdichtungen zu befreien und zu der verlassenen einfachen

Wahrheit der Natur immer aufs Neue zurückzubringen? Den Vorschlag die angegebene Voraussetzung in der Weise zu verwenden, daß man als eitel und nichtig dasjenige, was durch in­ nere oder äußere Wahrnehmung nicht bestätigt werde, von dem Be­

währten ausscheide, machte im 18. Jahrhundert derselbe Mann, der für diese Voraussetzung selbst kräftig eintrat, der Schotte David Hunie.

Er hoffte von der Befolgung seines Vorschlages eine Reinigung der

menschlichen Gedankenwelt von den Ungeheuern der Einbildungskraft

und des Aberglaubens.

Und in Wahrheit: mit Hülfe dieser viel­

leicht willkürlichen Voraussetzung sind nicht bloß die vorhandenen, durch die Jahrtausende hin vererbten Vorstellungen zu läutern und zu

verbessern nach dem Vorbilde der Natur; wir können sogar, von der Voraussetzung ausgehend: wirklich ist allein, was wir wahrnehmen,

vie-menschliche Wahrnehmung Onelle und Grenze des Wilsens it.

11

vorausbestimmen, wie dasjenige nicht beschaffen sein darf, das wir als wirklich annehmen sollen, und welche vielleicht von jedermann als

wirklich behaupteten Natllrverhältnisse von niemand als solche zuge­

lassen werden sollten. 7.

Ein Beispiel wird dies verdeutlichen. Wir sehen auf einem Billard eine Kugel die andere berühren und danach diese zweite davonrollen.

Die Wahrnehiurmg lehrt ims

Bewegung der zweiten Kugel nach der Berührung durch die erste,

die Wahrnehmung lehrt uns nicht, daß die Bewegung durch die Be­ rührung hervorgerufen ist und hat erfolgen müssen.

Der Beobach­

tung treu folgend werden wir das Überraschende der Bewegung der

zweiten Kugel für uns nicht leugnen und also nicht Notwendigkeit derselben behaupten.

Und was wir nach dem ersten Falle nicht ver­

neinen dürfen, es habe die Kugel ebensowohl liegen bleiben als davon­

rollen oder es habe irgend etwas Anderes geschehen können, sind wir das anzunehmen nach tausend gleichen Fällen mehr berechtigt? Was

unterscheidet denn sachlich die vielen Fälle von dem einen, der uns diese Annahme nicht gestattete?

Für den beobachtenden Menschen freilich ist es nicht dasselbe,

ob er diesen Vorgang auf dem Billard zum ersten oder zum tausend­ sten Male sieht.

Was er neunhundertneunundneunzig Mal sah, wird

der erfahrene Billardspieler auch beim tausendsten ähnlichen Fall im voraus annehmen, wird verblüfft sein, wenn seine Annahme nicht ein­ trifft, und wird daraus selbst entnehmen können, daß er dieselbe Be­ wegung nun für notwendig hielt, die ihm als Anfänger vielleicht als

etwas Zufälliges, was auch ganz anders sein könnte, erschien.

Was

läßt nun den tausendsten ähnlichen Fall uns anders erscheinen als

den ersten?

Es ist die Gewohnheit.

Worauf aber beruht die

Gewohnheit? Auf einer Reihe ähnlicher Erfahrungen, die wiederum

nicht möglich wäre, wenn nicht der Naturlauf sich in einem hohen Grade gleich bliebe.

Aber mögen wir in unserem Vertrauen auf die Gleichmäßig­ keit der Natur nie getäuscht werden und darauf mit Sicherheit un­ sere Voraussetzungen für die Zukunft bauen können — würde damit be­

reits der Gedanke einer notwendigen Folge der Bewegung auf den Stoß berechtigt sein?

Bei strenger Beschränkung auf das den

Sinnen Gegebene werden wir nicht bloß die Annahme einer inneren

Verknüpfung zwischen den genannten Vorgängen für immer und durch­ aus als erdichtet verwerfen, wir haben danach nicht einmal die Be­

rechtigung zu

behaupten,

es komme der Gedanke der notwendigen

Folge bei irgend einem Menschen wirklich vor. diese Notwendigkeit in Worten behaupten.

Mag immerhin einer

Dies würde nur beweisen,

wie weit der Abstand ist zwischen den Worten des Menschen und der probehaltigen Erkenntnis.

8. Aber wenn wir so, uns streng auf das den Sinnen Gegebene beschränkend, nicht einmal feststellcn können, was wir denken, vielleicht können wir mit Gewißheit sogar ausmachen, was wir denken müssen, ob wir es gleich nie zu denken meinen: wenigstens wenn wir aus

der in der menschlichen Rede vorkommenden Form des Bedingungs­

satzgefüges das darin als thatsächlich Behauptete, sei es auch nur als einen Gedanken des Menschen, entnehmen dürfen, z. B. aus den

Sätzen: wenn die Sonnenstrahlen auffallen, so erwärmt der Stein. Durch diese kann ja der Satz: die Sonne macht den Stein warm — umschrieben werden.

In diesen Sätzen wird die notwendige Verknüpfung des zweiten Vorgangs mit dem ersten als Thatsache behauptet, das Eintreten

Vie menschliche Wahrnehmung Ouelle und Grenze des Wissens rc.

13

dieses vorausgesetzt, welches so wenig wie das Erwärmen des Steines

für sich als ein Thatsächliches bezeichnet wird.

Die Behauptung der

Thatsächlichkeit betrifft also nur die notwendige Folge, nichts Anderes. Von dem Bedingungssatz als

einer eigentümlichen Form der Be­

hauptung ausgehend können wir also das Vorhandensein des Be­

griffes der notwendigen Folge, der Ursache und Wirkung im mensch­ lichen Denken darthun, mag er nun auf die gegebene Natur Anwen­

dung finden oder bloß im Gebiete der menschlichen Rede gelten. Da aber der angegebene Satz sich auf eine entsprechende Anschau­

ung als Grundlage und Bewährung bezieht, so folgern wir weiter, daß

diesem Satzverhältnis das Sachverhältnis der Ursache und Wirkung in der Natur entspreche d. h. in unserer Erkenntnis von der Natur.

Bei der Betrachtung des Verhältnisses der Teile in einem Be­ dingungssatzgefüge konnten wir den Inhalt der einzelnen Sätze unbe­

rücksichtigt lassen und demnach auch den Inhalt der entsprechenden Anschauungen, da der Gedanke der Verknüpfung derselbe ist, ob wir nun erfahren, daß der Stein durch die Sonne erwärmt oder durch

den Regen befeuchtet wird.

9. Der Bedingungssatz ist aber nur eine von vielen Formen der Behauptung.

Gab uns dieser den Begriff der notwendigen Folge,

so dürfen wir hoffen durch fortgesetzte Forschung nach anderen For­ men der Behauptung in der Sprache eine vollständige Übersicht über

die Gesamtheit der eigentümlichen Formen des Denkens zu erlangen.

Und dies ist ein keineswegs übermenschliches Beginnen, da wir uns dazu nur auf dasjenige, was in unserem Besitz und in unserer Ge­ walt ist und was täglich gebraucht wird, zu besinnen nötig haben. Zu diesem Zwecke haben wir die Rede nicht in ihre Elemente,

die Wörter, aufzulösen, da einzelne Wörter z. B. Sonne, scheinen.

Stein, warm zwar etwas mehr oder weniger Allgemeines bezeichnen, aber unverbunden keine Behauptung enthalten, nicht -auf ein Dasein

außerhalb der Vorstellung Hinweisen.

Sage ich z. B. Centaur, so

bleibt unentschieden, ob ich damit eine Vorstellung in mir oder etwas außer meiner Vorstellung bezeichne.

Sobald aber die genannten ein­

zelnen Wörter zu Sätzen zusammengesetzt werden wie: die Sonne

scheint, der Stein wird warm, so liegt eine eigentümliche Form der

Behauptung vor. Indem der Begriff der Sonne als unter dem Begriff des Schei­

nens

besaßt behauptet wird, legen wir der Sonne als einem be­

harrenden Gegenstände den vorübergehenden Zustand des Scheinens bei.

Aber nicht bloß das Verhältnis von Gegenstand und Zustand

als eine Form des Denkens lehrt uns die Zergliederung dieses Satzes kennen.

In den Worten: die Sonne scheint, wird zugleich der Vor­

gang des Scheinens als ein wirklicher im Unterschiede von einem bloß möglichen wie von einem sogar notwendigen behauptet.

Und wenn

wir auf die diesem Satze entsprechende Erkenntnis achten, so finden

wir als Eigentümlichkeit derselben, daß wir den Vorgang des Schei­ nens der Sonne wahrnehmen, nicht bloß in Übereinstimmung mit

unseren sonstigen Vorstellungen uns vorstellen können wie das bloß

Mögliche noch auch gar nicht anders als so vorstellen können wie das Notwendige.

Die Verknüpfung mit der Wahrnehmung ist also

für uns das Merkmal des Wirklichen.

Und noch mehr: bejahen wir

nicht in dem Satze: die Sonne scheint, einen Zustand von diesem

Gegenstände und weisen dadurch auf das Dasein dieses Wirklichen hin, während wir der entgegengesetzten Wahrnehmung folgend das Nicht­ sein eines Wirklichen in dem Satze: die Sonne scheint nicht — bezeichnen würden? Und bejahen wir nicht diesen Zustand von einem

einzelnen Gegenstände statt etwa von einer Reihe von Gegenständen

dieser Art, von vielen oder gar von allen?

Die menschliche Wahrnehmung Duelle und Grenze de» Wissen» ic.

15

So enthält der eine Satz: die Sonne scheint, eine Reihe von Formen der Behauptung, von Formen des Denkens.

Wie wir aber die Rede nicht auflösen durften in ihre Elemente, die Wörter, wenn wir die Formen der Behauptung zusammenbringen wollten, so würden wir vielleicht wesentliche Formen des Denkens

zurücklassen bei der Beschränkung ans die Zergliederung des einzelnen Satzes, obgleich ja gewiß jedes Satzgefüge, äußerlich betrachtet, bloß

aus einzelnen Sätzen zusammengefügt ist.

So gab den natürlichen

Ausdruck der notwendigen Folge in der Sprache das Bedingungssatz--

gefüge.

Und woher sollten wir, wenn wir das Einteilungssatzgefüge

z. B. in den Sätzen: entweder ist auf der Erde Tag, oder Nacht ist

über die Erde gebreitet, worin sowohl das Erste wie das Zweite als möglich, aber ein Ganzes, von dem das entweder — oder die ein­ ander wechselseitig ausschließenden Teile sind,

als thatsächlich be­

hauptet wird, vernachlässigen, woher sollten wir dann den Beweis nehmen, daß der Begriff eines aus einander ausschließenden,

aber

zu einer Gemeinschaft zusammengehörigen, Teilen bestehenden Gan­

zen sich im menschlichen Denken findet? Wie der Kölner Dom nichts Anderes als ein Steinhaufen ist, so das Verschränkteste Satzgefüge

nichts als Worte, aber um jenen Ban in den wüsten Haufen zu ver­ wandeln, müssen wir erst dasjenige zerstören, was als ein eigener Geist

im Ganzen lebt und die Teile zusammenhält.

Die den eigentümlichen

Formen der Behauptung, die bei der Auflösung der Rede in Worte

verfliegen, entsprechenden Formen des Denkens in der Erkenntnis nennen wir billig nach dem uns zunächst Liegenden: Behauptungen

(Kategorien).

10. Wie aber ist zu vereinigen das aus den Sätzen Erschlossene mit

dem Ergebnis der strengen Naturbeobachtung? Nicht besser als Wasser

Erster Teil.

16

mit Feuer, wenn dasselbe, was für den Gedanken der notwendigen

Folge dargethan wurde, für alle Behauptungen gilt.

Zum Beispiel

diene der Begriff des cingeteilten Ganzen, den wir dem Einteilungs­

satzgefüge entnahmen.

Danach muß dieser Begriff des selbständigen

Ganzen für die Natur von uns vorausgesetzt werden, und wir wür­

den nicht überrascht sein in der Natur zu finden, was wir suchen.

Auf welchen Naturgegenstand aber auch, Pflanze, Tier, den mensch­ lichen Körper, wir unsere Beobachtung richten, immer haben wir nur getrennte Teile in unserer Hand, welche durch ein geistiges Band zu

einem Ganzen verbunden zu fassen wir zwar nicht unterlassen, aber

demjenigen gegenüber, der etwa im menschlichen Körper nur äußer­

lich verbundene Teile zu finden behauptet, nicht rechtfertigen können. Der Begriff des selbständigen Ganzen wird durch Beobachtung nur widerlegt. Wofür aber sollen wir uns in dem Widerstreit zwischen Wahr­ nehmung und Gedanken entscheiden?

Es mochte einem früheren Geschlecht der Menschen natürlich sein

vorzugsweise für das dem Menschen Näherstehende, die Rede und die darin enthaltenen Formen des Denkens, Partei zu nehmen, um sich erst in dem eigenen Vermögen gegen die andrängende Natur be­

haupten zu lernen, den Teil der menschlichen Gedankenwelt zu er­ gründen, welchen zu finden wir uns nicht aus dem jeweiligen Bor­ stellungsvorrat hinaus zu versetzen und immer aufs Neue mit dem sich

den Sinnen Aufdrängenden zu beschäftigen haben.

Ziemt sich noch

für eine reifere Menschheit diese selbstsüchtige Zurücksetzung der Natur gegen das menschliche Geistesvermögen?

Wer sich aber gar grund­

sätzlich wie wir hier auf das den Sinnen Gegebene beschränken will,

wird alles von uns vorher aus den Behauptungsformen Entnom­ mene für Wahn erklären müssen und mit Recht fordern, daß die

menschliche Rede sich der gegebenen Natur, auf die sie sich als auf

Die menschliche Wahrnehmung GueUe und Grenze des Wissens rc.

17

ihre Begründung bezieht, möglichst anpasse durch Aussonderung oder

naturgemäße Ermäßigung aller Behauptungsformen.

Danach dürfte

man sich z. B. künftig nur noch gestatten das Ausfallen der Sonnen­ strahlen und danach das Erwärmen des Steins auszusagen, nicht

aber Bewirkung dieses Zustandes durch jenen Vorgang zu behaupten.

Wird diese Forderung einer naturgemäßen Ermäßigung, in Wahrheit

freilich Zerrüttung, der menschlichen Rede nicht erfüllt, so würden künftig, da wir auf die einmal erlangte Strenge der Beobachtung nicht werden verzichten wollen, auf das Denken nicht verzichten kön­

nen, gleichsam zwei Welten einander gegeniiberstehen.

Auf der einen

Seite würde behauptet die Wahrnehmung einer bloßen Folge ohne

innere Verknüpfung und höchstens, ans die Gewohnheit wiederholter ähnlicher Folgen gegründet, das Gefühl der Nötigung z. B. von

der Wahrnehmung auffallender Sonnenstrahlen übergehen zu müssen zu der Vorstellung der Erwärmung des Steines, auf der anderen

Seite aber — womit dieses Gefühl jedoch als etwas in mir keine Ähnlichkeit haben kann — dasjenige als außer mir vorhanden ge­

dachte sachliche Verhältnis der notwendigen Folge, worauf wir uns beziehen in dem Satze: die auffallenden Sonnenstrahlen machen den

Stein warm. Bei der absichtlichen Beschränkung auf das beit Sinnen Gege­

bene würden wir indessen zwar genötigt sein nichts Anderes als be­ wiesen anzunehmen als das Erwärmen des Steines nach dem Aus­

fallen der Sonnenstrahlen, aber das heißt noch nicht: den unbestä­ tigten Gedanken der notwendigen Folge in diesem Falle für unwahr

erklären und auf seine Ausscheidung dringen. Aus der willkürlichen Beschränkung auf das den Sinnen Ge­ gebene aber würde eine notwendige, und die Verwerfung des Gedan­

kens als Wahn müßte erfolgen, wenn die Voraussetzung gelten soll, es stamme alles im Bewußtsein Vorhandene aus Eindrücken ab und Rom undt, Antäus.

2

18

Erster Teil.

es müsse folglich jede Vorstellung durch Eindrücke bestätigt werden,

solle sie mehr sein als bloßer Wahn.

Der menschliche Geist würde

nach dieser Voraussetznng einem Wasserbehälter zu vergleichen sein, in welchem sich kein Wasser befindet, wenn es nicht von oben und

von außen

hineingeflossen ist, und aus dem kein Tropfen heraus

kommt, der nicht hineingebracht ist.

Indeß dies ist eine willkürliche, jener Forderung der Beschrän­ kung auf das Gegebene zu Liebe aufgestellte Meinung, die durch die Thatsache der nicht zu bestätigenden Behauptungen (Kategorien) wider­ legt wird.

Denn hiernach wäre der menschliche Geist vielmehr einer leben­ digen Quelle zu vergleichen, die in die Welt hinaus schickt an die

Oberfläche der Erde, was zu ihr von allen Seiten her aus der Tiefe (wer weiß, woher?) zusammensickert. Freilich würde die stärkste Quelle versiegen, wenn nicht immer

wieder Wasser von oben, von außen her in die Erde eindränge; und es wäre nirgend eine lebendige Quelle, wenn nicht das Wasser von

daher zuströmte, woher auch die Regentonne das ihrige empfängt. Und

wer möchte die Behauptung zu vertreten wagen, daß es eigene Be­

griffe des menschlichen Geistes gäbe auch ohne die tiefen Spuren zahl­ loser Eindrücke auf die Empfänglichkeit der einander ablösenden Men­

schengeschlechter durch die Jahrtausende hin? Indeß dies nicht leug­ nen und das nicht durchaus Ursprüngliche und Angeborene an jedem

beliebigen Äußeren messen und je nach dem Ausfall der Prüfung

annehmen oder verwerfen ist zweierlei. Wie nun aber die Quelle von ihrem ersten Ursprünge an sich

mit dem Wasser von der Oberfläche der Erde und vom Himmel her vereinigt untrennbar, ununterscheidbar, so finden sich die Behaup­

tungen (Kategorien) nur im lebendigen Gebrauch der Sprache in der Verbindung von Wörtern; den Wörtern im Satze aber entsprechen

Die menschliche Wahrnehmung (Duelle und Grenze des Wissend ic.

19

Begriffe und Anschauungen in der Vorstellung der 9tatur, deren Eigen­ tümlichkeit wir unberücksichtigt lassen durften, wenn es uns nur auf

Sammlung der Denkformen ankam. Aber wenn wir auch nach dem Absehen von bent Sinn der

Wörter in den Sätzen noch etwas übrig behielten, die Formen der Behauptung, so beweist doch dies noch nicht, daß diese Formen un­ abhängig von jenem mannigfaltigen Inhalt bestehen.

Was ist ein Satz ohne Wörter iuib Begriffe? Wäre dies nicht in

Wahrheit jenes berüchtigte Messer ohne Klinge, an dem das Heft fehlt?

11. Wird aber der Einspruch, den wir wie gegen den Vergleich mit

einem Bassin auch gegen die öfter versuchte Gleichstellung des mensch-

lichen Geistes mit einer unter den Eindrücken der Hand in beliebige Formen zu knetenden Wachsmasse erheben müssen, nicht auch das Verfahren treffen, das für die Erforschung der Dinge ans jener ver­

kehrten Ansicht voni menschlichen Vermögen abgeleitet wurde? Wird es uns nun noch genügen, den Geist von allen Vorur­ teilen gereinigt und unbefangen an die Dinge, vielinehr an die durch Vergrößerungsgläser unterstützte und bewaffnete Wahrnehmung der

Dinge, hingegeben zu haben?

Ja, wenn doch die Formen der Behauptung anzunehmen sind,

obgleich sie durch die Wahrnehmung nicht einmal bestätigt werden können, mit welchen Gründen will man dann noch dasjenige allein

als wahr zulassen, was durch Wahrnehmung bestätigt wird? Heißt das nicht vielleicht dem Oberflächlichen den Preis zuerteilen?

Wäre es nicht geratener allein das, was wir mit Notwendigkeit

denken, auch wenn wir es nicht wahrnehmen, wie früher als wahr anzuerkennen rmd beni durch Wahrnehmung Bestätigten vielmehr alle 2*

20

Erker Teil.

Geltung zu entziehen

und

es in

das

Reich

des Scheinbaren zu

verweisen? So sehen jvir uns durch die berichtigte Lehre vom menschlichen

Vermögen bedroht wieder auf das stürmische Meer der menschlichen Einbildungskraft mit allen seinen Untiefen und Ungetümen zurückge­ worfen zu werden, welchem wir seit dem Wiederaufleben der Wissen­

schaften und seit der strengeren Einschränkung unserer Vorstellungen auf das den Sinnen Gegebene entronnen zu sein uns glücklich schätzten.

Aber ganz davon abgesehen, daß die Forderung der Unterwerfung des Geistes unter

das den Sinnen Gegebene zum Zwecke der Er­

kenntnis der Natur einer nicht unrichtigen, wenn auch einseitigen, An­

sicht

vom

menschlichen

Geiste entspricht,

haben wir

denn,

wenn

unser Zweck Erforschung gegebener Gegenstände ist, rms allein nach

der Beschaffenheit des menschlichen Vermögens zu erkundigen und nicht mindestens ebenso sehr nach der Beschaffenheit der zu erfor­

schenden Gegenstände und dem Verhältnis derselben zum menschlichen

Geiste? Das zu beobachtende Verfahren aber ist nicht ohne Berück­ sichtigung des einen wie des anderen zu bestimmen.

Möchte der

menschliche Geist immer eine Zauberlaterne sein, um die Wand kennen

zu lernen, auf welcher die Bilder erscheinen, würden wir uns nicht

auf die Betrachtung der an die weiße Wand geworfenen bunten Bil­ der beschränken, wenn doch die zu erforschende Mauer etwas von dem Zaubergerät und den Bildern ganz Verschiedenes ist.

Wir würden die Zauberkräfte des Geistes, ganz unberücksichtigt lassen und allein des gesuchten Gegenstandes habhaft zu werden stre­

ben, der Eindrücke desselben auf das menschliche Vermögen, möglichst treu, möglichst nackt, der Eindrücke desselben zuerst als des Beginnes

aller unserer Forschungen nach dem Gegenstände, der Eindrücke des­ selben zuletzt als der unentbehrlichen Prüfung aller unserer Gedanken

vom Gegenstände.

Ihr müßtet denn beweisen, daß beliebige, meinet-

Die menschliche Wahrnehmung Quelle und Grenze des Wissens rc.

21

wegen auch notwendige, Gedanken des menschlichen Geistes schon die Dinge selbst sind.

Von der Überzeugung getrieben, menschliche Vorstellungen seien noch nicht die natürlichen Dinge, eilte die europäische Menschheit, des

Wahnes satt, nach Wahrheit dürstend, im Zeitalter der Reformation

aus den Zaubergärten der Einbildungskraft, in denen sie im Mittel­ alter umhergetrieben war, zu den eröffneten Quellen der Natur, um abgewendet von den noch so schönen und bequemen, scheinbar not­ wendigen, immer willkürlichen, Träumereien von Himmel nnd Erde,

vom'griechisch-römischen Altertume und vom Christentume aus den

Quellen der Überlieferung die einfache natürliche Wahrheit zu erfahren. Und wenn nun von allen Seiten neue, wunderbare Kunde von

den stets genannten Dingen wie eine neue Offenbarung in den Geist

der erstaunten Menschheit einströmte, wer würde sich wundern, wenn

man die früher arg mißbrauchten, weil blindlings angebeteten, leben­ digen Kräfte des Geistes verkannte und verbannte und eine dem Prin­

zip der strengen Beschränkung auf das Gegebene entsprechende, für

den Menschen vielleicht weniger schmeichelhafte, Ansicht vom mensch­ lichen Geiste anstrebte, um vor der Gefahr jemals in den alten Un­ sinn und Aberglauben zurückzufallen gesichert zu sein? Uns aber hat in unseren bisherigen Betrachtungen gerade derselbe Grundsatz nichts Ungeprüftes, Unbestätigtes zuzulassen, dem die will­

kürliche Herabsetzung des menschlichen Vermögens dienen sollte, zur

strengen Unterscheidung des über alle Bestätigung Hinausgehenden im menschlichen Geiste und in der Auffassung der Dinge von allem, was den Sinnen gegeben ist, verholfen. Erst dieser Grundsatz verschaffte uns die richtige Ansicht vom

menschlichen Geiste, zu der Erkenntnis der natürlichen Schwäche und

Abhängigkeit von den Gegenständen eine klare Vorstellung von den Kräften des menschlichen Geistes.

22

Erster Teil.

Die menschl. Wahrnehmung Quelle und Grenze des Wissens rc.

Aber wäre selbst das menschliche Vermögen imstande die Na­

tur noch einmal aus sich hervorzubringen, das Verlangen nach gründ­ licher Erkenntnis des Wirklichen in der räumlichen Natur wie in den

menschlichen Dingen, welches einen Columbus über das Meer führte, welches zur Übersetzung und Verbreitung der Bibel trieb, hinweg aus

dem Dunkel und der Wahnwissenschaft des Mittelalters, dasselbe

fordert uns aus das Prinzip der strengen Beschränkung auf das Ge­ gebene als den Grundsatz aller Wissenschaften von der Körperwelt

wie vom menschlichen Beginnen auftecht zu erhalten, damit wir nicht wieder die Wissenschaft in der Zelle des menschlichen Geistes suchen, sondern in einer größeren Welt.

Zweiter Teil. Die Welk jenseit« bet Natur ein Mebnnte, nicht eine Entdeckung.

12. Wird aber in der größeren Welt Wissen bereits durch bloßes Umschauen und Anschauen, durch Beobachtung, gewonnen, welche wir

immerhin, um der Feinheit der Dinge durch Verfeinerung der Sinne gleich zu kommen, durch Bewaffnung der Sinne mit Röhren und Gläsern aller Art unterstützen mögen?

Angenommen:

wir hätten

durch Beobachtung alles, was gewesen ist und was ist, dem Denken

angeeignet, dieser Besitz verschafft dem Denken des Menschen noch nicht die Herrschaft über die nicht gegebene Natur so,

selbe von uns gedacht wird, dasselbe ist.

daß das­

Um aus den vielen ein­

mal und nicht wieder vorhandenen, wenn auch ähnlichen, Fällen das

immer Vorhandene herauszuziehen, dazu bedarf es einer geschickten Ausbeutung des den Sinnen Gegebenen.

Wie verfährt nun ohne

weitere Schulung der gemeine Menschenverstand, um aus dem Ver­

gangenen ein für die Zukunft gültiges Gesetz zu gewinnen? Ein jeder

schließt natürlicherweise von dem beobachteten Verhalten des Korkes, des Tannenholzes im Wasser auf dasjenige des nicht beobachteten

Korkes und bildet aus dem Verhalten dieser und anderer Körper

im Wasser den allgemeinen Satz: Körper werden, in eine Flüssigkeit

eingetaucht, von dieser mehr oder weniger getragen.

Aber hilft uns

ein allgemeiner Satz von dieser Unbestimmtheit, um für die Zukunft

24

Zweiter teil.

das Verhalten irgend eines anderen Körpers im Wasser im voraus zu bestimmen? Sind nicht Verallgemeinerungen brauchbarerer Art zu erreichen, so werden wir mit Recht vorziehen

bloß von dem Verhalten des

einen Korkes im Wasser auf dasjenige eines anderen ähnlichen ohne

Einschiebung eines allgemeinen Satzes, d. h. von einer einzelnen That­ sache auf eine ebenso einzelne Thatsache, zu schließen.

Wir werden

für zweckmäßiger halten den allgemeinen Satz beiseite zu lassen und aus den aufgesammelten Eindrücken vieler Erfahrungen, wie wir uns z. B. beim Schiffbau zu verhalten haben, damit unser Schiff das

Meer sicher befahren könne, mehr zu ertasten und heraus zu probieren als mit Sicherheit genau voraus zu bestimmen.

Das Verhalten jedes beliebigen Körpers im Wasser würden wir

für die Zukunft im voraus angeben können nur, wenn in genauen Maßen festzustellen wäre, wie viel von den Körpern in allen Fällen

von der Flüssigkeit getragen wird. Zur Erkenntnis eines allgemeinen und doch bestimmten Verhält­ nisses zwischen Körpern und Flüssigkeit gelangt man aber, indem man

z. B. an die eine kürzere Wagschale einer gewöhnlichen Wage zwei

über einander hängende Cylinder hängt, von denen der obere hohl, der untere, welcher genau die Höhlung des oberen füllt, massiv ist.

Auf

die andere Wagschale aber sind so viel Gewichte gelegt,' daß das

Gleichgewicht hergestellt ist.

Darauf wird der untere massive Cylinder

in ein darunter befindliches Bassin mit Wasser vollständig unterge­ taucht.

Da nun, um das damit verlorene Gleichgewicht der Schalen

wiederherzustellen, in den hohlen Cylinder in der Lust gerade so viel von der Flüssigkeit gegossen werden muß als der massive im Wasser aus der Stelle getrieben hat, so folgt, daß von der Flüssigkeit ein

Teil des Gewichtes getragen wird, der dem Gewichte der aus der Stelle getriebenen Flüssigkeit gleich ist.

Da nun ferner der massive

Die Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

25

Cylinder im Wasser durch jeden beliebigen anderen Körper, sei er von Kork, sei er von Eichenholz, ersetzt werden kann, so begründet die ein­

zelne Thatsache dieses Versuchs zusannnen mit den dafür einzusetzen­

den unzähligen ähnlichen Thatsachen ein allgemeines Gesetz für das Verhältnis der Körper znm Wasser, wodurch wir unendlich viele ein­ zelne Naturthatsachen vorwegnehmen und vorausbestimmen.

So er­

heben wir uns von den Eindrücken der Dinge nm uns, welche ver­ schieden sind je nach der Bewaffnung der Sinne und welche die feine

Mannigfaltigkeit der Natnr nach menschlicher Mutmaßung nie ganz

erreichen, durch Versuche zu Gesetzen der durch die Sinne überliefer­ ten Gegenstände.

Diese Gesetze nun wieder ermöglichen ein plan­

mäßiges Herbeiführen von bestätigenden Eindrücken, sei es zum Nutzen, sei es zum Schaden von Menschen.

des verbesserten Verfahrens

Wenn wir auf dieses Ergebnis

der Forschung

sehen,

die Möglichkeit

dasjenige, was noch nicht ist, mit Sicherheit im voraus anzugeben, wie könnten wir da leugnen, daß die zweckmäßigere, besonnenere An­

wendung des menschlichen Erkenntnisvermögens, der Sinne wie des Denkens, uns mit der Welt außerhalb unseres Geistes genauer be­ kannt macht? Nun aber gingen wir von Eindrücken aus, welche, als mit zu­

nehmender Schärfung der Beobachtungsmittel sich verändernd, doch nicht die Sache selbst sind.

Die durch den Versuch gefundenen Ge­

setze aber, z. B. des Verhaltens der Körper zum Wasser, sind nichts als eine Bezeichnung des Verhältnisses solcher Eindrücke.

Also wie­

viel gut begründete, anwendbare und fruchtbare Vorstellungen wir auch durch fortgesetztes Beobachten

und Versuchen noch erwerben,

dadurch je dem alle diese Eindrücke Bewirkenden, der Sache selbst, uns anzunähern würden wir nicht mit Grund annehmen, geschweige

denn sie in unseren Besitz zu bekommen, so, daß wir sie nach Hause

tragen und etwa zwischen die vierundzwanzig Buchstaben des Alpha-

Zweiter Teil.

26

bets, wie sie auch immer gestellt werden mögen, einsperren können. Je unermüdlicher der Forscher die Eindrücke immer aufs Neue prüft

und versucht, um so weniger kann er bei sich den Wahn erhalten bereits dasjenige zu besitzen, was er sucht, ja er wird um so mehr die Hoffnung aufgeben durch noch so rastloses Arbeiten je den Wahn

die Wahrheit zu besitzen, den Glauben seiner Kindheit, wieder zu er­ langen.

Diesen Glauben aber wird er trotzdem in der Stille immer

weiter hegen, sofern jeder, selbst wenn Naturforscher von Beruf, Mensch von Natur ist und bleibt.

Aber wird es wohl gleichgültig sein für die auf dem Grunde

des prüfungslosen Wahns, der sich nicht ans die Eindrücke der Dinge

eingeschränkt meint, erwachsenen, von uralter Zeit her von Geschlecht zu Geschlecht überlieferten und in der Kindheit gläubig aufgenommenen

Vorstellungen,

ob

mit ihnen ein Forschergeist unter einem Dache

haust/ der keine Behauptung ohne probehaltigen Beweis wagt und erträgt? Muß nicht die Gewohnheit einer rückhaltslosen Unterwersimg

unter die Überlieferung der Sinne und das versuchende Denken den Geist schulen für die Betrachtung aller Dinge und mit der Zeit eine gänzliche Erneuerung aller Gedanken des Menschen über alle natür­

lichen und menschlichen Dinge bewirken?

Zwar der Versuch einer Verbesserung aller hergebrachten Vor­ stellungen über alles Mögliche ist nicht erst seit der Reformation

gewagt, geschweige von hellte.

Er ist so alt wie der Zweifel, ob

dasjenige, was uns die Sinne von den Dingen lehren, den Dingen

selbst genau entspreche oder ob uns nicht vielmehr, wie in Europa

zuerst die alten griechischen Denker annahmen, von den Dingen selbst

die so mannigfaltigen, Sinne fernhalten.

wechselnden Eindrücke derselben auf unsere

Erscheint doch derselbe Körper, was sie allerdings

noch nicht wußten, dem einen Betrachter klein, glatt und runb, schär-

seren Augen aber, dem durch ein Mikroskop bewaffneten Auge groß, höckrig und eckig — wer hat Recht? Entscheidest du dich für das Mikroskop, so weißt du nicht, ob ein schärferes Glas dich nicht ganz anderes lehrt. Der Erkenntnis, daß wir durch Auge und Ohr die Dinge selbst nicht erfassen, folgte die Bemühung einzelner, der Kühnste», der Kräftigsten, sich dem Sinnentruge der gemeinen Wirk­ lichkeit und den sich darüber auftürmendeii Fabeln von Göttern und überirdischen Welten zu entziehen durch den Versuch eigene, sinnen= freie, die Sache selbst begreifende Gedanken über die Natur der Dinge zu finden. So entsprangen aus den Köpfen der Begabtesten unter den Men­ schen verschiedene Arten von Gedankenwelten, welche sich ausgabeu für Abbilder der wahrhaften Natur der Dinge, besten Falls in ihren einzelnen Teilen in sich übereinstimmend, fast nie mit dem Gedankenbau des Nachbarn und Nachfolgers, unter einander einig nur in dem einen Punkte: in dem Widerspruch gegen die gemeine Meinung des Volkes, die durch Auge und Ohr uns offenbarte Sinnenwelt sei als solche die Sache selbst. Der Überdruß au dieser in zahllose Sekten und Schulen gespaltenen sogenannten Wissenschaft, deren immer mehr eiutrockneude Nachkömmlinge unter dem Schutze der rö­ mischen Kirche im Mittelalter die Geister der Menschen mit Gewalt unter das Joch ihrer Sätze zu beugen wagten und von der natür­ lichen Quelle alles Wissens fern hielten, trieb die europäische Mensch­ heit im 15. und 16. Jahrhundert die Erneuerung der Gedanken ein­ mal in der entgegengesetzten Richtung zu versuchen. Sollte es nicht möglich sein durch eine strengere Unterwerfung unter die Überliefe­ rung der Sinne zu einer mit der Natur und infolge davon viel­ leicht auch in sich mehr übereinstimmenden nnb mächtigeren Art des Wissens zu gelangen? Denn zugegeben, was nicht zu leugnen ist, daß die Eindrücke auf die Sinne, auf denen alle unsere Kenntnis von

Zweiter Teil

28

Dingen außer lins beruht, uns von den Gegenständen selbst fern halten, so werden wir von diesen doch jedenfalls mehr gewinnen durch

sorgfältigste Benutzung der von ihnen gewirkten Eindrücke als wenn wir uns mit unseren in der Kindheit erworbenen Begriffen für sich be­

schäftigen, ohne zur Quelle derselben immer aufs Neue zurückzukehren. Dieselbe Einsicht führt den durch bittere Erfahrungen Gewitzig­ ten zu dem entgegengesetzten Verfahren wie den vorwärtsstürmenden

Jüngling.

So fließt aus demselben Teich auf der Hochebene das Wasser in erst unscheinbaren, endlich ins Ungeheure angewachsenen Riesen­ strömen entgegengesetzten Weltmeeren zu.

Man hätte indeß das für die Naturerkenntnis allein ersprießliche

Verfahren gewiß schon in Griechenland ausfindig gemacht, wenn nicht Sokrates die bis zur Sinnlosigkeit tollkühnen und einander aufs Schroffste widerstreitenden Behauptungen der alten Denker über die

letzten Gründe aller Naturerscheinungen mit Recht verachtend Ver­ anlassung

gegeben hätte,

die Befriedigung des Bedürfnisses nach

Wissen zunächst nicht in der Erforschung der Natur der Körperwelt,

sondern in der Untersuchung dessen, was der Mensch zu thun und

zn lassen hat, zu suchen.

Auch blieben die ohne gründliche Untersuchung der Natur durch die Zergliederung ihrer Vorstellungen dem Denknotwendigen Zustre­ benden und blindlings auf die vermeinte Wahrheit Losstürmenden

auf ihrem Wege nicht ohne Angriffe.

Diese Angriffe gingen von

solchen aus, die mit jenen übereinstimmend in der Annahme der Be­

schränktheit des menschlichen Wissens von den Dingen auf bloße Ein­ drücke derselben weniger hochmütig von dem bloßen Geistesvermögen

dachten und nicht wähnten durch vermeintes gänzliches Absehen von dem den Sinnen Gegebenen das zu erreichen, was ihnen alle Auf­

merksamkeit auf die natürlichen Dinge nicht zu verschaffen vermochte.

Vie Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

29

So wurde in der Luft über den Köpfen des Volkes weit über

ein Jahrtausend hindurch die Geisterschlacht zwischen den Gelehrten gekämpft mit Wechsel von Sieg und Niederlage auf beiden Seiten,

aber ohne Entscheidung, bis im 15. und 16. Jahrhundert nach vielen

Vorzeichen, die ein Neues der Welt ankündigten, die Wissenschaft wiedergeboren oder vielmehr die neue Wissenschaft geboren wurde. Diese Wissenschaft ist einig mit dem Volke in der Schätzung der

Sinne lind der Eindrücke ans die Sinne als der Quelle aller Wahr­

heit von der Natur - - einig mit den Denkern der Vergangenheit in der Forderung der angestrengtesten Selbstthätigkeit des Geistes, als

wodurch allein aus den Eindrücken brauchbare,

fruchtbare Gesetze

gewonnen werden können — beiden, dem Volk wie den Gelehrten,

widerstreitend durch die Erkenntnis: dem voll den Eindrücken der Ge­

genstände abhängigen Menschengeist ist und bleibt die Wahrheit selbst

verborgen, und es steht uns allein an der Glaube, daß wir uns, wenn auf dem Wege redlicher Forschung, gründlicher Uiltersuchnng vor­ wärts schreitend, auf dem Wege zu der Wahrheit selbst befinden. Mit der Wiedergeburt der Wissenschaft ist nun zwar die Mensch­

heit in das Mannesalter getreten, welches Werke und Früchte verlangt und bringt, und es sind die sicheren Fundamente gelegt zu einem von

den auf einander folgenden Geschlechtern der Menschen unaufhörlich umzubauenden, aber nicht ganz wieder einzureißenden Gebäude der Wissenschaft von allen natürlichen und menschlichen Dingen.

Aber

so lange wir dem gemeinen Wahn die mit den Sinnen erfaßten Dinge als solche für die Dinge selbst zu halten nicht gänzlich für die Betrachtung der Natur entsagt haben, muß, was auch jeder an

Wahrheiten über die natürlichen Dinge sich angeeignet haben mag,

verknüpft sein mit Gedanken, die auf dem Boden des gemeinen Wahns

erwachsen sind, und muß also endigen in Einbildungen, die allem Widerspruch Trotz bieten. So kann z. B. geschehen, daß einer wissen-

30

Zweiter teil.

schaftlichen Theorie von der Entstehung des Regens als Antwort auf

die Frage nach dem letzten Gründe dieser Naturerscheinung der Satz,

den schon das Kind begriff, ohne ihn jedoch verstehen zu können, was

der erwachsene Mensch ebensowenig vermag:

Gott läßt regneii —

angehängt wird, das Ergebnis nicht unähnlich jenen Ungeheuern, deren Pferdeleib endigt in einem Menschengesicht. Angenommen nun:

es sei der Menschheit an derartigen, dem

Wahn entsprungenen und den wissenschaftlichen Lehren an- und auf-

gesetzten, Gedanken in irgend ivelcher anderen Beziehung, die wir hier noch nicht verstehen, gelegen, wenn wir die gemeinen Ergänzungen

unserer Unwissenheit nicht ungeprüft in das Gebiet des Naturwissens zulassen, sprechen wir da über sie bereits das Urteil der Vernichtung? Die neue Wissenschaft unterscheidet sich von der gemeinen Annahme durch die Einsicht, daß der Anfang und das Ende aller unserer For­

schungen über die natürlichen Dinge die Eindrücke derselben auf die

menschlichen Sinne sind, bloße Eindrücke.

Sie läßt also einen Raum

übrig für Gegenstände, durch die vielleicht ganz andersartige Vor­ stellungen des Menschen bewahrheitet werden mögen: die Dinge selbst, von denen allein das Bild im Spiegel des menschlichen Auf­

fassungsvermögens die wissenschaftliche Forschung beschäftigt.

Die

Prüfung bedroht also höchstens Vorstellungen von den Sachen und die

Beweise für diese Vorstellungen, nicht die Sachen selbst, nicht Ge­

danken, die sich auf diese ohne Rücksicht auf Eindrücke, ja vielleicht

im Widerspruch mit denselben, beziehen sollen. Mag also auch bei der Prüfung viel beliebter Wahn der Men­ schen in Stücke gehen, mögen selbstsüchtige Interessen ganzer Klassen

und Stände von Menschen, deren Herrschaft durch Verbindung mit dem Wahne gestützt und befestigt wird, in ihrem Dasein gefährdet werden; für Vorstellungen, die, wenn auch nicht für die Naturerkennt­ nis, für das Leben unentbehrlich sind und an denen als lebenfördernden

Die Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

31

der Menschheit mit Recht gelegen ist, wird Raum gelassen.

Nur

mitten wir ihnen zu, die einfache grobe Wahrheit der Natur neben sich zu dulden.

Wir fordern aber vor unsere Schranken nur diejenigen Gedanken

des Menschen über die gegebene Natur, die auf Grund der natür­ lichen,

aber nicht

vernünftigen,

Annahme,

es sei

uns nicht bloß

eine Reihe voit Eindrücken der Diitge gegeben, aus denen sich all­ mählich durch Menschenarbeit die Systeme der Wissenschaften auf­

bauen, sondern die Dinge selbst, unvermeidlich sind, Schlüsse, die

also auch jeder mit Notwendigkeit zieht.

Sie werden aber alle mit

einander iinb mit der Voraussetzung die eigentümliche Schtväche teilen

unbewiesene und unbetveisbare Behauptungen zu sein, vielleicht zu

bleiben. Oder kannst du beweisen, was du voraussetzest, daß die Dinge in deiner, in der meitschlichen Auffassung, Sonne, Mond und Sterne,

bereits die Dinge selbst sind? Die vorgesorderten Gedanken müssen solche Gegenstände betreffen,

nach welchen die Fragen sich gründen auf ein vielleicht dunkles Be­ wußtsein der von der neuen Wissenschaft eingesehenen Eingeschränkt­ heit der Erkenntnis auf Eindrücke der Dinge, die Antworten aber

auf den

unvermeidlichen und an sich richtigen Gedanken, daß' die

wirklichen Dinge doch noch etwas Anderes als Eindrücke für mich

sind, vielmehr auch von meiner Auffassung unabhängig vorhandene,

selbständige Dinge.

Ist dies aber richtig, so scheinen wir folgern zu

dürfen, daß wir uns in jene Schranken als unübersteigliche fügend

uns mehr als wir sollten einschränken.

Diese Gedanken aber werden

von uns der Prüfung unterzogen, nicht um Frage und Antwort mit

einander zu beseitigen, sondern um nach etwaiger Berichtigung der Fragestellung eine den menschlichen Mitteln entsprechende Beantwor­

tung vorzubereiten.

13. Womit auch immer in der Natur sich unsere Gedanken beschäf­ tigen, sie müssen unter Voraussetzung der gemeinen Annahme natür­

licherweise über die gegebenen Mittel hinausgehen.

Nehmen wir z. B. dasjenige, was einem jeden noch näher liegt als sein Hemd, was wir noch weniger von uns abthun können als unseren Schatten:

dasjenige, was das Subjekt bildet aller mit ich

beginnenden und eine von außen nicht wahrnehmbare Thätigkeit von

dem Subjekt aussagenden Sätze wie z. B.: ich nehme einen Körper wahr, ich fühle Lust oder Schmerz, ich will dies oder jenes thun oder lassen.

Solche von anderen Menschen äußerlich nicht wahrzu­

nehmenden Thätigkeiten sind ja die letzten Anfänge alles meines will­

kürlichen Wirkens auch in der Körperwelt, der eigenen Leibesbewe­ gungen wie der Bewegungen anderer Sachen und Menschen durch

meine Willensäußerungen.

Was ist dieses Ich?

Ich erkenne, ich fühle Lust, ich will — die mannigfaltigsten Zu­ stände und Thätigkeiten, alle flüchtig und der auf sie gerichteten Beob­ achtung nicht standhaltend, werden von dem „ich" ausgesagt, d. h.

von einem Gegenstände, den wir immer mit demselben Worte: ich bezeichnen. Daß wir nun dieses können, beweist entweder: das Zeichen „ich"

ist ein gleichgültiges, ein bloßes Fürwort, oder es ist ein Gleiches gel­ tend, d. h. der damit bezeichnete Gegenstand ist immer sich selbst gleich.

Wenn wir aber den Gegenstand nach den uns gegebenen Zu­ ständen, den rastlos wechselnden, fließenden des Empfindens, Wahr­

nehmens, Fühlens, Wollens, bestimmen sollten, würden wir ihn nur als ein nie Beharrendes, nie sich selbst Gleiches beschreiben können, oder es ist auch das im Sonnenschein fortwährend die Farben wechselnde

Chamäleon sich selbst gleich.

Wir würden hiernach den Gegenstand

Vie Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

33

unseres Selbst mit dem gleichen Worte nur als mit einem inhalts­

losen Fürworte bezeichnen, ohne mit dem Worte: ich etwas über die Beschaffenheit des Bezeichneten anszusagen so wenig wie, wenn wir es er oder es nennen.

Aber sind denn die Zustände, von denen keiner

außer dem, der sie hat, weiß, alle vou einerlei Art?

In dem Satze: ich fühle mich — glücklich oder unglücklich, wird mit dem ich und mich nicht dasselbe bezeichnet: neben dem bald so,

bald anders beschaffenen Gegenstände des Bewußtseins als davon

verschieden der Träger des Bewußtseins. Hiernach scheinen wir unterscheiden zu müssen von dem wechseln­

den Inhalt des Bewußtseins das Bewußtsein selbst, in dem als ei­ nem unveränderten die auf einander folgenden Gefühle des Schmerzes

und der Lust als wechselnde Zustände meiner selbst und ich selbst als Mann von anderem Charakter denn als Jüngling und Kind auf ein­

ander folgen. Mit diesem wechselnden Selbst zusammen aber findet sich in demselben Bewußtsein immer das gleiche Himmelsgewölbe und

eine Welt von trotz der Bewegung und Veränderung beharrenden Körpern um mich her, so daß ich das alles, diese Fülle der Gestalten, denke als einer und derselbe.

Will ich nun den Gegenstand meines Selbst nach dem zusam­ menfassenden Bewußtsein bestimmen, so würde ich ihn als das Viele einigend nur denken können als einheitlich, im Unterschiede von dem

wechselnden Inhalte als sich selbst gleich, gegenüber dem Mannig­ fachen als einfach und, weil unterschieden von dem zusammengefaßten

Inhalt, als selbständig neben diesem, vielmehr über diesem.

Und

während der Inhalt des Bewußtseins z. B. Lust und Schmerz nicht von Zuständen des Körpers zu trennen sind, kann ich das Bewußt­

sein selbst nur denken wie mit allem anderen Inhalt desselben, so mit Körpern nicht vergleichbar, unkörperlich.

Das Wort: ich als Zeichen für dieses Selbst scheint mehr zu R o m u n d t, Antäus.

3

Zweiter teil

34

sein als ein gleichgültiges Fürwort:

ein Sinnbild eines immer sich

selbst gleichen, einigen, einfachen, selbständigen, unkörperlichen Wesens.

Aber wenn nun das wechselnde Selbst, und ebenso das bleibende,

ein Gegebenes wäre, würden wir dann wohl, wie wir thun, nur

ein einziges Selbst annehmen? Das ist erklärlich, wenn wir bloß schließen aus einen Gegen­

stand, der ims selbst unbekannt ist. Wenn wir dagegen zwei durchaus nicht mit einander zu verglei­

chende und gewiß nicht zu vereinigende Gegenstände in der Natur vorfänden, ein niemals und ein immer sich selbst gleiches Wesen, so

könnten dieselben nimmer in ein einziges Ich znsammenfließen.

Bei der strengen Beschränkung aber auf das Gegebene dürfen wir uns weder den einen noch den anderen Schluß gestatten.

Eine andere Frage ist, ob das sachlich zu Verwerfende für den Menschen zu vermeiden ist.

Gewöhnt in der äußeren Natur, der die

ganze Aufmerksamkeit des Menschen natürlicherweise zugewendet ist,

im Wechsel der Zustände beharrende Gegenstände wahrzunehmen imb z. B., wenn an Stelle einer Kirche ans Backsteinen in Jahrhun­

derten eine Kirche aus Quadersteinen durch allmählichen Umbau er­ richtet wird, beide Gebäude als dieselbe Kirche anerkennend, finden

wir nun in uns nichts als durchaus flüchtige Zustände ohne ein Be­ harrendes.

Statt nun aber unsere gänzliche Unbekanntschaft mit dem

Gegenstand unseres Selbst zuzugeben, schließen wir aus Gewohnheit auf einen, wenn auch unbekannten, Gegenstand mit einem solchen Zwange, einer derartigen Regelmäßigkeit, daß wir nicht einmal bloß zu schlie­ ßen, sondern vielmehr das Selbst zu finden wähnen. Und doch findet keiner etwas Anderes als das Wort: ich zur

Bezeichnung des Gegenstandes seiner selbst, welches nur ein eigen­ tümliches, einziges Verhältnis des Redenden zu demselben, das Zu­ sammenfallen des Sprechenden mit dem, wovon gesprochen wird, aus-

Die Welt jenseits der Ucitnr ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

35

drückt, beit andere dagegen je nach ihrer Stellung zu demselben mit du, er bezeichnen, der in Wahrheit für den einen wie für den an­ deren eine unbekannte Größe ist. Auch kann uns das Wort: ich allein als Beweis dafür gelten, daß die Menschen einen Gegenstand zu den Zuständen und der Form des Bewußtseins denken, obgleich es in aller Strenge mir beweist, daß sie von einem solchen reden können. 14.

Daß sie trotz aller Unzulänglichkeit des gegebenen Materials da­ von reden müssen, läßt sich vielleicht ans eine andere Weise darthnn. In der Betrachtung der menschlichen Rede waren wir von Wör­ tern ausgehend, zu eiufacheu Sätzen fortschreitend, bis zum Satz­ gefüge gelangt. Sätze aber finden wir in eigentümlicher Weise ein­ ander über- und untergeordnet so, daß von einem Satzgebäude ge­ sprochen werden kann. Zum Beispiel mögen die Sätze dienen: da alle Menschen sterblich sind, Hieronymus aber ein Mensch ist, so ist Hieronymns sterblich. Hier wird von einer allgemeinen Erkenntnis: alle Menschen sind sterblich — ansgegangen, eine einzelne: Hieronymus ist ein Mensch — dieser untergeordnet und hieraus in dem Schlußsatz für den einen Menschen Hieronymns mit Notwendigkeit abgeleitet, was für alle Menschen behauptet ist, also ein Unbekanntes ans dem Gegebenen er­ schlossen. Das Prädikat der Sterblichkeit vor der Erfahrung als etwas Unausbleibliches auf Grund woher auch immer erworbener Erkenntnis behaupten ist aber etwas durchaus Anderes als dasselbe auf Grund bloßer Beobachtung als etwas, was auch anders sein könnte, hinneh­ men, nachdem er gestorben ist, in dem Satze: Hieronymus war sterblich. 3*

Jenem Verfahren liegt zu Grunde die Voraussetzung, daß aus

einer woher auch immer erworbenen allgemeinen Erkenntnis etwas nicht Gegebenes mit Notwendigkeit abgeleitet werden könne.

Ferner aber wird in dem angeführten Beispiel in dem Satze: alle Menschen sind sterblich — die Eigenschaft der Sterblichkeit mit dem Gegenstände:

Mensch in der Weise verknüpft gedacht, daß sie

aus dem Begriffe: Mensch für alles darunter Begriffene mit Gültig­ keit abgeleitet werden kann: es erscheint also ein Gegenständliches als

letzter Grund eines damit verknüpften Zustandes.

Dies Verhältnis

wird aber in unserem Beispiele für die gegebene Natur behauptet und kann ohne Bedenken behauptet werden, so lange wir, wie bei dem

Satze: alle Menschen sind sterblich, den gewagten allgemeinen Satz mit gegebenen Erkenntnissen, hier der alltäglichen Erfahrung der Jahr­

tausende, die uns zuruft: Vergänglichkeit! dein Name ist Mensch! ver­ gleichen und den Grad der Gültigkeit desselben bestimmen können.

Auch ist ja jener Schluß nut gemäß den genannten Voraussetzungen gemacht und erhebt nicht Anspruch auf die strenge Geltung des Prinzips

selbst, daß Zustände begründet sind im Wesen eines Gegenstandes. Nun aber finde ich in mir Zustände des Selbstbewußtseins, das Bewußtsein selbst ohne Gegenstand.

Gegeben ist uns, wie gezeigt wurde, trotz der Sätze: ich fühle,

ich will nicht einmal die Anknüpfung der Gefühle, der Entschlüsse an ein beharrendes Selbst als einen Gegenstand, und doch kann ich im Hinblicke auf die allgemeine Voraussetzung, Zustände seien aus

einem Gegenständlichen als letztem Prinzip abzuleiten, die Annahme einer von allem Bekannten verschiedenen Art von menschlicher Natur als der letzten Quelle alles Fließenden, das ich in mir wahrnehme,

nicht vermeiden.

Was anderes aber sollte sich wohl zur Ableitung

z. B. der Einheit und Einfachheit des Bewußtseins eignen als ein

durchaus unkörperliches, übersinnliches Wesen, obschon nicht dasselbe

Die Veit jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

37

als Voraussetzung der Zustände des Bewußtseins, der wechselnden

Empfindungen und Gefühle, ausreichen würde? Schön und gnt als Gedanke; aber wo sind die Thatsachen

zur Bestätigung des Gedankens? Unter der gemeinen Annahme freilich, die gegebenen Sinnen­

dinge als solche seien die Dinge selbst, d. h. aber der Inbegriff alles

dessen, was ist, muß, was wir mit Notwendigkeit denken, entweder Hierselbst anzntreffen sein, oder es ist nichts als eine leere Einbildung. Was Wunder nnn, wenn wir in dem auch bloß aus der Form des Bewllßtseins erschlossenen einheitlichen, eiilfachen Selbst bereits das

höchste und letzte umfassende Prinzip aller unsichtbaren Zustände und Thätigkeiten anzutreffen meinen und nun etwa allein durch Absehen

von allem wirklichen Inhalt des Bewußtseins, von wechselnden Emp­ findungen und Gefühlen, gleichsam durch bloßes Kopf-in-den-Sand-

stecken wie Vogel Strauß der einer rein geistigen nnkörperlichen Natiir entsprechenden

Schicksale glauben

werden zu können?

Wir meinen aber andere Schicksale vorauszuahnen

schon

jetzt

unmittelbar inne

als diejenigen, die Bewohnern dieser Welt unter dem Monde bekannt

sind, z. B. Unvergänglichkeit als das Geschick unseres eigentlichen Selbst, während das sinnliche, fühlende, von Leidenschaften bewegte

Selbst mit dem Körper zusammen verachtet und verstoßen von sei­ nem vornehmeren Genossen im Kote der sinnlichen Lüste dem Unter­

gänge sich zuwälzt.

Erwachen wir nun aber aus dem Traume der Menschheit zur Besinnung über die Eingeschränktheit unseres Wissens auf bloße Ein­

drücke der Dinge, so erkennen wir, daß wir statt der Juno eine Wolke umarmt haben.

Aber mag auch für den Menschen als Erfor­

scher der natürlichen Dinge nicht zu rechtfertigen sein, in dem einheit­ lichen, einfachen Selbst mehr die Natur des Menschen erblicken zu wollen als in dem vielfachen, wechselnden, körperlichen Wesen; zu

Zweiter teil.

38

Rechte besteht unvermeidlich und unausrottbar der Gedanke einer

unbekannten, alle wechselnden Zustände umfassenden Natur des Men­ schen, vielmehr einer Einheit des menschlichen Wesens trotz aller Man­

nigfaltigkeit der geistigen wie sinnlichen Zustände und Kräfte, welche

durch die Lebensunistände hervorgelockt und geübt werden, die aber hiernach nur ein Ausstrahlen sind nach allen Seiten von einem ver­

borgenen Mittelpunkte aus. Aus diesen

Gedanken weist

hin der Dichter mit den Worten:

Hab' ich des Menschen Kern erst untersucht, so weiß ich auch sein. Wollen und sein Handeln.

Von diesem

Gedanken, vielleicht

ohne es zu wissen, geleitet,

spricht sich der Geschichtschreiber Leopold von Ranke über den deut­ schen Kaiser Maximilian I., einen Fürsten, „von den: wir zwar viele

Bildnisse haben, doch so, daß selten eins dem andern gleicht — so unbefangen und ganz ergab er sich den Dingen, so wenig herrschte

in ihm eine Beschäftigung, eine Neigung vor" — also aus:

Seine Seele ist Dingen und Entwurf.

lauter

Bewegung,

Freude

an

den

Es giebt kaum etwas, das er nicht kann.

In seinen Bergwerken ist er ein guter Schmer, in seiner Rüstkammer der beste Platner, der andere in neuen Erfindungen zu unterrichten

weiß; die Büchse im Arm überwindet er seinen besten Schützen Georg Purkhard; mit dem groben Geschütz, das er bohren gelehrt, das er auf Räder geschafft, trifft er meist am nächsten zum Ziele; er befeh­ ligt sieben Hauptleute in ihren sieben Sprachen; er wählt und mischt seine Speise, seine Arznei selbst.

In Feld und Flur erst befindet

er sich wahrhaft wohl.---------- Kommt er zurück, so bringt ihm sein

Vogler alle Arten von Singvögeln in seine Stube, so daß man kaum sein eigen Wort hört; oder er besucht einen Diener auf seiner Hoch­ zeit; oder er hört zutraulich die Bitten seiner Unterthanen, oder er

erzählt seinen Räten, seinen Schreibern eine Geschichte, diktiert ihnen

tHe Welt jenseits -er Untur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

39

ein Stück seiner rätselhaften und fast unergründlichen Bucher, eine

Notiz in sein Mcmorienbnch, etwa wie Priester Lasla die Chroniken znsannnenstinunen solle, eine seiner ganz genauen Instruktionen, z. B.

wie man, bei Beutelstein, mit einer Notbüchse übereck schießend, in die

Küche treffen könne, einen Brief.

So ist sein Wesen.

Im Vertrauen auf die Wahrheit desselben Gedankens versucht

E. M. Arndt das Wesen von Scharnhorst in diesen Worten auszudrücken: schlichteste Wahrheit in Einfalt, geradeste Kühnheit in be­

sonderer Klarheit: das war Scharnhorst. Und wie es auch mit der Wahrheit stehen mag, in der Auf­

fassung z. B. der Ophelia int Hamlet, als deren „ganzes Wesen in reifer, süßer Sinnlichkeit schwebe," wie sie Goethe im Wilhelm

Meister giebt, oder des Hamlet selbst als „eines reinen, edlen Wesens

ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht," liegt etwas der Forderung des Denkens Genugthnendes.

Aber etwas Anderes ist

dem Gedanken einer Einheit des menschlichen Individuums nach Art der Goethe nnd Ranke mit Verstand nachgehen, ohne für die Man­

nigfaltigkeit gegebener Zustände und Kräfte blind zu sein, etwas An­

deres den Gedanken eines unsichtbaren, übersinnlichen Selbst als eine

Brücke ansehen, um geschwind in eine andere Welt als die uns in die­ sem Leben zum Wohnplatze angewiesen ist zu gelangen. Es wäre auf den aller Versuche der Bestätigung durch gegebene

menschliche Natur spottenden Gedanken ein Spott zu wähnen, ich brauche

nur das bunte Chaos der natürlichen Welt mir aus dem Kopfe schla­

gend mich auf mich selbst zu besinnen, um meiner als eines über alle Natur erhabenen und im allgemeinen Sterben bleibenden We­

sens gewiß zu werden. So bleibt zulässig allein der Gedanke des über allen meinen Kräften thronenden Wesens als meines wahren Selbst, auch dieses

nicht als eine für die Natur zu behauptende Wirklichkeit, sondern als

40

Zweiter teil.

eine Notwendigkeit des Denkens, welchem Gedanken uns bis auf eine unendliche Ferne in der Erkenntnis und Betrachtung des inneren

Menschen anzunähern wir uns begnügen müssen. Die auf der ersten Stufe unserer Untersuchung betrachteten Begriffe dagegen meinten wir

unmittelbar anzutreffen, z. B. das Verhältnis der Ursache und Wir­ kung, wenn infolge des Aufschlagens von Hagelkörnern eine Fenster­

scheibe zerbricht, in der Aufeinanderfolge der Zustände des Getroffen-

und Zerbrochenwerdens der Scheibe. Ja es bedurfte einiger Anstrengung, um einzusehen, daß wir die innere Verknüpfung, die wir zwischen der Berührung einer Billard­

kugel durch die andere und der nachfolgenden Bewegung der ersteren denken, nicht wahrnehmen, während wir auch ohne alle Besinnung

doch nur mit großer Anstrengung des Gedankens der Seele, des wahren Gegenstandes unserer selbst, in der Wirklichkeit habhaft zu werden wähnen können.

15. Das angeführte Satzgebäude ist aber nicht das einzige dieser Art.

Wir bilden ein durchaus anderes mit Veränderung des allge­

meinen Vordersatzes der Art nach, wenn wir nämlich einen Bedin­ gungssatz zu Grunde legen in dieser Weise: Wenn durch einen ein­

getauchten Körper ein Teil des Wassers aus der Stelle gedrängt ist,

so wird das dem Gewichte des verdrängten Wassers entsprechende Ge­ wicht des Körpers vom Wasser getragen.

Unter dieser Voraussetzung

muß, wenn ein eingetauchtes Stück Kork einen Teil des Wassers von geringerem Umfange als der Kork hat verdrängt, dieser größere Körper statt der verdrängten weniger umfangreichen Wassermasse ge­

tragen werden. Dieser Schluß ist möglich allein, wenn wir ein derartiges Ver­

hältnis zwischen den beiden Sätzen, von denen der erstere eine allge-

Die Welt jenseits -er Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

41

meine Weise des Geschehens bezeichnet, der andere einen einzelnen

Fall, voraussetzen dürfen, daß dieser in jenem seine durchaus zurei­

chende Begründung findet, darin beschlossen wie der Kern in der Nuß. Dann ist der erschlossene Vorgang daraus zu entnehmen, wie z. B. die

Thatsache, daß ein Körper vom Wasser getragen wird, beschlossen ist

in der Thatsache, daß er an die Stelle eines vom Wasser getragenen

Teils der Wassermasse tritt. Wie stimmt nun aber zu dem allgemeinen Gedanken einer voll­ ständigen Begründung,

der aus dem angegebenen Satzverhältnis

erschlossen wird, die den Sinnen gegebene Natur? Die gegenwärtige Bewegung eines Balles auf dem Billard findet

ihre Begründung in vorhergehenden, durch diese aber wieder in noch weiter zurückliegenden Stellungen der Bälle.

Aber dürfen wir unter der gemeinen Voraussetzung, die Sinnen­ dinge seien als solche die Sachen selbst, zugeben, es gehe mit dieser Art von Begründung nach rückwärts immer weiter ohne Aufhören?

Wie wir denn Ursachen jedes Ereignisses, z. B. des Umstürzens der Blumenstöcke im Garten nächtlicher Weile durch die Hände von Buben in ihrer Ungezogenheit, der Ungezogenheit wieder darin, daß sie ohne

alle Erziehung wild aufgewachsen sind, dieses wiederilm in dem leicht­

sinnigen Leben der um das Thiln und Lassen der Kinder unbeküm­ merten Eltern und so weiter in Zuständen der Vorfahren selbst bis

vor tausend Jahren, finden, immer weiter entfernte Ursachen, nie die letzten.

Die Natur ist ja nach der gemeinen Annahme ein selbstän­

dig Vorhandenes, als ein für sich Bestehendes aber, selbst wenn sie

in der Zukunft ohne Aufhören neu wird, so doch ein nach der Ver­ gangenheit Abgeschlossenes.

Denn sonst ist nicht einzusehen, warum

ich z. B. jetzt am Pulte stehe und schreibe, warum nicht erst über tausend Jahre, warum nicht schon vor tausend Jahren, während diese Handlung, den Anfang gesetzt, ihre ganz bestimmte einzige Stelle in

42

Zweiter teil.

der Folge der Ereignisse erhält.

Also ist die Natur, wir können nicht

anders denken, nicht ohne einen allerletzten Zustand am Ansange, von dem die Entwicklung anhebt und sachen vollendet wird.

durch den

die Reihe der Ur­

Und scheint nicht durch diesen letzten Zustand

am Anfänge allererst auch jener allgemeine Gedanke einer vollstän­ digen Begründung, der aus dem Verhältnis der Sätze erschlossen wurde, in der gegebenen Natur verwirklicht zu werden?

Freilich muß dieser letzte dem Verlangen nach Abschluß und Vollständigkeit genugthuende Zustand der natürlichen Dinge gerade als ein solcher ganz anderer Art sein als alles folgende, von dem

wir in unserem Gange nach rückwärts ausgingen, als die Stöße eines Orkans oder die Steinwürfe von jungen Burschen, auf welche wir

zunächst von der Verwüstung int Garten aus geführt wurden.

Denn

alle diese Umstände hängen ja mit begründenden in der Vergangen­ heit, wie dort mit der Witterung vor den: Sturme, hier etwa mit einem nächtlichen Trinkgelage, zusammen.

Giebt es aber am Anfänge der Naturentwickelung solche anders­

artigen, die gegebenen natürlichen Umstände vollendende letzte Ur­ sachen, warunt nicht ebensolche in der Mitte des Naturlaufes, warum nicht allerorten?

Thut uns doch an jedem Punkte der Natur für jedes Ereignis,

sei es der Fall eines Steines voin Dache, sei es der Einfall eines

Witzes in die Gedanken, eine zureichende Begründung not, und thut doch dem Verlangen nach zureichender Begründung, so scheint es, nur

ein von allen bekannten Naturzuständeit Verschiedenes, ein nicht wie diese von Früherem Abhängiges, genug! Ich gebe z. B. in diesem Augenblicke einem mir Untergebenen

eine mürrische Antwort.

Dies hat seine Veranlassung darin, daß

ich Zahnschmerzen habe, vielleicht auch darin, daß ich noch nicht zu Mittag gegessen habe, kurz in meinem ganzen augenblicklichen Zustande

so daß ein anderer bei genauer Kenntnis desselbeir und meiner Nei­ gungen, meines Temperaments, meiner geistigen Fähigkeiten die Be­ schaffenheit meiner Antwort hätte Voraussagen können. Aber was auch an begründenden Umstünden in der Wirklichkeit aufgewiesen wer­ den mag, wir würden die Begründung der mürrischen Antwort als immer noch der Ergänzung nach der Vergangenheit zu bedürftig und fähig, das ist aber als unvollständig, ansehen müssen, wenn nicht, mit den Vorgang der mürrischen Antwort nach der Vergangenheit hin abzuschließen und damit abschließend zn begründen, ein nicht Wahr­ zunehmendes, folglich nicht notwendig mit einem Früheren zu Ver­ knüpfendes, kurz, wenn nicht ein ganz Andersartiges hinzukommt. Ich muß also in Wirklichkeit trotz aller Zahnschinerzen und sonstigen vorausgehenden Veranlassungen eine Lücke in meiner Vorstellung der Begründung dieses Ereignisses finden. Diese zeige ich für den Na­ turforscher freilich mehr an als daß ich sie ansfülle durch den Satz: ich wollte die mürrische Antwort geben, welches „ich wollte" ich zu allen begründenden Naturnmständen der Handlungen meines vergan­ genen Lebens hinzusetze zur Ergänzung. Dadurch allererst rechne ich diese Handlungen nicht mehr den äußeren Umständen, nicht mehr meiner Natur, sondern mir selbst zu, d. h. die Handlung als von einem .Denken, meinem Denken und Wollen, anhebend einem nur gedachten Gegenstände: meinem Selbst. Bedenklich gegen diese Annahme andersartiger Gründe als der Naturzustände kann uns nur das eine machen, daß wir von den unseren Sinnen gegebenen Umständen ausgehend Plötzlich abbre­ chen und zu etwas ganz Andersartigem überspringen, einem bloßen Gedankendinge, das keine Beobachtung bestätigen kann. Dürfen wir danach nicht jeden beliebigen Einfall, der uns durch den Kops fährt, behaupten? Und wenn wir uns nun durch dies Bedenken abhalten lassen, die Reihe der einander folgenden Zustände der Natur nach rück-

wärts abzubrechen, ohne doch die Voraussetzung, die Sinnenwelt sei

als solche die Sache selbst, aufzugeben, so werden wir des durch diese

Voraussetzung als unerläßlich gebotenen Anfangs bedürftig, aber in Wirklichkeit, wie wir einsehen, nicht mächtig, den Abschluß der Gründe

des Entstehens und Vergehens hinauszuschieben genötigt sein.

Und

wenn nun eine Million Jahre mit den zahllosen Naturzuständen, welche darin auf einander folgen können, uns nicht genügen sollte, warum

wollten wir Bedenken tragen beliebige Tausende von Millionen Jahren für die begründenden Naturzustände nach rückwärts zu Hülfe zu neh­

men? Vermeiden wir doch damit um so länger den unserem Verstände

unerträglichen, wenn auch sehr begreiflichen, Gedanken des Anfangs.

Und zugleich wird das Bedürfnis nach einer vollständigen Begrün­ dung, wenn die Geschichte der Vergangenheit bis in unendlich ent­

fernte Vorzeit aufgerollt wird, nicht ganz unbefriedigt gelassen.

Daß

unter der gemeinen Voraussetzung widerstreitende Gedanken über die Begründung des Entstehens und Vergehens unvermeidlich sind, beweist

auch der Jahrtausende alte Streit über die Freiheit und Notwendig­ keit der menschlichen Handlungen als der die Aufmerksamkeit des Men­ schen besonders beschäftigenden Naturereignisse, an dem jeder nachden­

kende Mensch teilnimmt, wenn nicht im Hörsaal und auf der Straße, so in der füllen Betrachtung des eigenen Lebenslaufes. In dem angeführten Beispiel einer mürrischen Antwort mußten

wir diese Handlung trotz aller veranlassenden Umstände, die angeführt werden mögen, für unzureichend begründet halten, bis sie uns nach­

gewiesen wird als hervorgesprnngen, wie Athene in voller Rüstung aus dem Kopfe des Zeus, gleichsam wie herabgefallen aus einer Welt

anderer Ursachen und Kräfte, als die uns bekannt sind.

Wenn wir

nun aber verständigerweise uns scheuen, dasjenige zu behaupten, was

wir nicht wissen, was wir nicht aufweisen können, so werden wir

im Streben nach dem Zulänglichen ohne Aufhören neue begründende

Die Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

45

Umstände in der Natur anfsnchen müssen, weil wir nirgend anders

als hier zn suchen mtb zu finden vermögen.

So begnügt sich der

römische Geschichtschreiber Tacitus bei der Erzählung der Thaten des

Kaisers Tiberius nicht gleich geringeren Geschichtschreibern einen ein­

zigen Beweggrund einer Handlung anzugeben, sondern führt eine Reihe von möglichen Beweggründen, die tvahrscheinlichsten, dürfen wir an­ nehmen, aus der Überlieferung auswühlend, mehrere zurücklassend,

vor den, Leser auf und nähert sich dadurch jedenfalls mehr als jene Ärmlicheren der wirklichen Begründung der Handlungen im Leben an,

der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der Natur auch des geringsten

menschlichen Individuums.

Hier genüge für das Verfahren des Ta­

citus ein Beispiel von vielen:

Am Eick>e des ersten Buches der Annalen (1. 80) berichtet er, daß es zu des Tiberius Weise gehörte die Gewalten der oberen Be­

amten zu verlängern und sehr viele bis zum @nbe ihres Lebens in denselben Heeren und Gerichtsbezirken zu belassen.

Es werden ver­

schiedene Beweggründe, fährt Tacitus fort, angegeben: einige meinen,

aus Scheu vor neuer Sorge habe er einmal Beschlossenes für ewig festgehalten, andere, aus Mißgunst, daß nicht mehrere den Gennß davon hätten, etliche auch, daß, wie sein Sinn verschlagen, ebenso ängstlich sein Urteil gewesen sei.

Denn wie er auf ausgezeichnete

Tugenden nicht achtete, so haßte er doch andererseits Laster: von den

Besten fürchtete er Gefahr für sich, von den Schlechtesten Schande

für den Staat.

In dieser Unentschiedenheit kani er zuletzt so weit,

daß er Personen Provinzen übertrug, bei denen er sich nicht ent­ schließen konnte, sie aus der Stadt gehen zu lassen.

Aber wie nimmermüde wir auch im Streben nach zureichender

Begründung verständigerweise nach aufweisbaren Beweggründen in der Natnr forschen, den Gedanken einer ganz anderen Art von Gründen als wahrhaft die Naturbegründung vollendenden, d. h. von

Zweiter Teil.

46

Gründen nicht der Natur, sondern der Freiheit, können wir nicht aufgeben, so lange wir die Voraussetzung des unabhängigen Daseins

dieser Sinnenwelt, des Ganzen wie aller seiner Teile, als solcher festhalten.

Diese Voraussetzung aber müssen wir als eine unbeweis­

bare Behauptung aufgeben, da wir in Wahrheit in unserer Natur­ erkenntnis auf die Eindrücke, welche unbekannte Gegenstände auf un­

ser Auffassungsvermögen machen, eingeschränkt sind.

Dann aber bleibt

die bis dahin als eine vorhandene, wenn auch schwer aufzufindende und nachznweisende, Thatsache der Natur vielleicht mit Leidenschaft

verfochtene Freiheit des Thuns und Lassens nur ein für Menschen

in der Betrachtung des natürlichen Geschehens notwendiger Gedanke,

den wir nicht aufgeben können.

Die Verwirklichung aber dieses Ge­

dankens im Leben der Menschen, ob sie nun der Gewohnheit nach­

leben, ob sie das Ungemeinste wagen und vollbringen, können wir

mit Grund weder behaupten noch bestreiten. Dieser viele Jahrhunderte hindurch andauernde, durch Macht­

sprüche zeitweilig zur Ruhe gebrachte, immer wieder aufgenommene, nie entschiedene Streit über Freiheit und Notwendigkeit der mensch­

lichen

Handlungen

hätte

Erörterungen

ganz anders

nahmen

zwischen

wir

uns

den

nun

freilich

am Anfänge unserer

erscheinen müssen als jetzt.

Bewegungen

Billard keine innere Verknüpfung an,

zweier

Bälle

Damals auf

dem

weil wir sie nicht wahr­

nahmen, sondern mir eine gewisse Regelmäßigkeit in der Folge,

abhängig jedesmal von der Stellung der Bälle zu einander, die den

Gedanken der Notwendigkeit beim Menschen veranlassen konnte und mußte.

Wie paßt aber zu einander: nicht wissen, wie die Bewegung zweier Bälle zusammenhängt, und andererseits die steife Behauptung, sei es der gänzlichen Abhängigkeit, sei es der gänzlichen Unabhängig­ keit der menschlichen Handlungen von vorangehenden natürlichen Um-

D\t Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

47

stäuben? Ist dies Verhalten nicht ein Beweis für den unverbesser­ lichen Hang des Menschen das Höchste zn unternehmen, ohne das Geringere leisten zn können? Der Wortstreit über Freiheit nnb Not­ wendigkeit würde nicht entstehen, wenn die Menschen die Grenze ihrer wahrhaften Erkenntnis, der Wahrnehnmng, beachten nnb sich inner­ halb derselben halten wollten. Nnn aber mussten wir dein ans dein Bediiignngssatzgefüge zn ent­ nehmenden Begriff der inneren Verknüpfung Raum schaffen für die Statur in unserer Erkenntnis gegen den unberechtigten Widerstand der bloßen Sinne. Indem aber durch Versuche ermittelt Wnrbe z. B., daß das Verhalte» der Körper im Wasser abhängig ist von dem Verhältnis des Gewichts der ans der Stelle getriebenen Flüssigkeit zn dem Ge­ wicht der Körper, würbe ein allgemeines Verhältnis in der Statur aus­ findig gemacht, von dem das Verhalten der Körper im Wasser ab­ hängig ist, d. h. ein allgemeines Gesetz für die Verknüpfung der Vorgänge. Nach diesem Gesetz ist ans dem Vorhandensein dieses Verhältnisses der Körper das Eintreten jenes Verhaltens, eines Na­ turereignisses, wie das Obenaufschwimmen des Korkes, das Untergehen eines Steines im Wasser, vorausznbestimmen. So mußte nns denn der Staturlauf im Fortgänge unserer Be­ trachtungen vielmehr als eine Reihe von aus einander folgenden Zu­ ständen erscheinen, die nach Gesetzen miteinander so verknüpft sind, daß, wer die Verhältnisse der Körperwelt kennt, die Vorausbestim­ mung des Verhaltens in seiner Gewalt hat. Wenn wir aber eine Verknüpfung der gegenwärtigen Zustände mit vorhergehenden nach bestimmten Regeln annehmen, dürfen wir da einen Dieb im Gefängnis nnb feine Bemühungen sich zu befreien anders ansehen als einen in die Höhe geworfenen Stein und das Niederfallen desselben auf den Boden? Folgen nicht jene Bemühungen aus dem Verhältnis des Gefangenen zu den Umständen seiner Ge-

sangenschaft wie der Fall des Steines aus dem Verhältnis des Steines

zu anderen Weltkörpern, zur Erde? Verständig muß dem Naturforscher, dessen Sache wir hier füh­ ren, jener Gefangene erscheinen, der ohne Geld und Einfluß auf seine Befreiung sinnend seinen Kerkermeister nach der harten Behandlung,

die er von ihm erfahren hat, sich so unbeugsam wie den Stein und das Eisen seines Kerkers beifit, der eher Stein und Eisen zu erweichen als die bekannte Gemütsart seines Wächters zu verändern hofft.

Verständig erscheint uns der Gefangene auch noch, wenn er, sein Entkommen sich nicht zu leicht denkend, sich z. B. auf eine ihm noch

nicht bekannte Wachsamkeit und Achtsamkeit seines Aufsehers so gut

wie auf eigentümliche Schwierigkeiten, die in der Natur des Steins und Eisens verborgen sind, gefaßt macht.

Derselbe Gefangene müßte

aber uns seinen Verstand plötzlich verloren zu haben scheinen, sobald

er sich das künftige Verhalten des Wächters zu ihm als von aller ihm bekannten, bisher gezeigten Natur desselben unabhängig, demnach

vielleicht davon abweichend, am liebsten natürlich als ihm, dem Ge­

fangenen, günstig denken wollte. Mit eben so viel Grund möchte er annehmen, daß die Eisenstäbe

zu zerreißen seien wie ein hänfener Strick und die Mauern von Sand­ stein wie Pappe.

Gründe der Freiheit anzunehmen erscheint auf dem Standpunkte

des Naturforschers als ein sinnloser Gedanke. Wir aber mußten die Unvermeidlichkeit beider Annahmen be­ haupten, sowohl der Begründung der Naturvorgänge in vorhergehen­

den Naturverhältnissen d. h. der Naturnotwendigkeit als auch der Ableitung von ganz andersartigen Gründen, unwahrnehmbaren, von letzten Anfängen im Naturlauf, unter der Voraussetzung von jeder­

mann, die gegebene Natur sei als solche ein unabhängig Vorhandenes. Ja, dasselbe Verhalten des Wächters, das der Gefangene nach

Vie Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

49

allen früheren Handlungen desselben und den darin gezeigten Eigen­

schaften meinte vorausberechnen zu können, kann er, können wir mit ihm nicht umhin trotzdem für unabhängig anzusehen von allen Natur­

umständen, auch der dauernden, oft gezeigten Natur des Wächters, als ein Plötzliches, Eigenes, welches dem Manne als ein von ihm

selbst, nicht von seiner Naturbeschaffenheit Ausgehendes zugesprochen wird, wenn anders er bei Sinnen war und nicht als Schlafwandler handelte.

Wie viel begründende Naturumstände wir auch ausfindig

machen und wie weit wir auch die Zustände nach rückwärts verfolgen,

die Begründung wird zulänglich, weil vollständig, nur, wenn wir einen andersartigen letzten Anfang hinzunehmen.

Diesen aber dürfen

wir für die uns gegebene Natur so wenig annehmen wie irgend eine

beliebige Einbildulig. Aber ist, was wir allein fassen und verstehen, das Maß dessen, was ist? Es bleibt ein notwendiger Gedanke Gründe der Freiheit anzu­ nehmen, welchen für wahr zu halten uns zwar unsere Mittel, die

Eindrücke der Gegenstände auf die menschlichen Sinne, nicht gestatten, welchen aber für diese Welt, die doch nicht bloß für mich und für

dich vorhanden ist, in jedem Sinne mit Fug zu leugnen wir bekannt sein müßten mit demjenigen, auf desseu bloße Eindrücke wir einge­

schränkt sind, mit den Dingen selbst.

Den Gedanken der zureichenden Begründung eines

einzelnen

Ereignisses in einem allgemeinen Gesetze als eine Voraussetzung von

jedermann konnten wir aus den Verhältnissen der Bedingungssätze in einem Schlüsse entnehmen.

Sofern wir nun die den Sinnen ge­

gebene Natur als solche für die Sache selbst ansehen, d. h. für den

Inbegriff dessen, was ist, müssen wir dieses begründende Gesetz als

in der Natur, wenn überhaupt, vorhanden behaupten, sei

es

nun, daß wir das Herabfallen eines Apfels vom Baume aus allen Romundt, Antäus.

4

vergangenen Weltzuständen als dem umfassenden Gesetz ableiten, sei

es, daß wir das Denken itiib Wollen eines vorübergehenden Straßen­ jungen, der den Apfel mit einem Steine traf, als das letzte Gesetz­

gebende betrachten.

Nach

der Besinnung

aber uns

auf unseren

Standpunkt bescheidend werden wir uns darauf beschränken, selbst wenn in dem Jungen der Urheber des Vorganges gefunden ist, die Begründung

weiter riickwärts in den Naturverhältnissen,

gang und Erziehung des

Knaben

z.

B.,

zu

suchen.

in Um­

Trotzdem

aber ist nicht zu leugnen, daß der letzte Grund der Handlung des­

selben, und wenn er in einer Diebshöhle ausgewachsen ist, in dem Gedanken und Willen dieser Handlung liegen, dieser Gedanke selbst aber von allem, was geschehen ist, unabhängig, frei, sein mag.

16. Endlich kann der allgemeine Vordersatz eines Schlusses ein Ein­

teilungssatz sein z. B.: vorausgesetzt, daß alle Menschen entweder

männlichen oder weiblichen Geschlechts sind, so ist, wenn der Mensch

Hieronymus nicht weiblichen Geschlechts ist, derselbe männlichen Ge­ schlechts.

Hier wird aus dem Verhältnis, welches in dem Satze ge­

geben ist: der Mensch Hieronymus ist nicht weiblichen Geschlechts,

zu der im Vordersatze: alle Menschen sind entweder männlichen oder weiblichen Geschlechts, enthaltenen allgemeinen umfassenden Erkenntnis,

auf den nicht gegebenen Teil dieses Ganzen mit Notwendigkeit ge­ schlossen: der Mensch Hieronymus ist männlichen Geschlechts.

Dies

aber kann nur unter der Voraussetzung eines derartigen Verhältnisses

zwischen den Teilen und dem Ganzen, daß dieses durch jene und nur

durch sie vollständig ausgemessen wird, geschehen, also unter der Vor­ aussetzung eines alle möglichen Teile als Glieder umfassen­ den Ganzen.

Dieser Anforderung muß somit in unserem Falle

der Satz: alle Menschen sind entweder männlichen oder weiblichen

Die Welt jenseits -er Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

51

Geschlechts, in Bezug auf alles Menschenähnliche entsprechen.

Auf

Grund des im ersten Teil nuferer Unterstichungen besprochenen Be­

griffs vom Ganzen, das ans einander wechselseitig

ausschließenden

Teilen besteht, wird nun z. B. nach der Beobachtung: Der Mensch Hiervnymns ist niännlichen Geschlechts,

da eine bloß

beobachtete Eigenschaft fiir uns nichts Notwendiges,

nicht Wegzudcnkendes ist, der allgemeine Satz gebildet: Der Mensch ist entweder männlichen oder nicht männlichen (z. B.

weiblichen) Geschlechts. Diesem Satze entspricht die Regel in Bezug auf alle noch unbekannten Eigenschaften irgend eines Gegenstandes: einem Gegenstände kann von

jedem Paar entgegengesetzter Prädikate nur eins zukommen: er ist männlich oder nicht männlich (z. B. weiblich), weiß oder nicht weiß (z. B. schwarz).

Welche Aussagen

ihm zukommen,

das

lehrt uns

von einem

Gegenstände der Natur die Beobachtung.

Wie verhalten sich nun aber zu dem jetzt erschlossenen allgemei­ nen Gedanken eines allumfassenden Ganzen als Grund gegebener

Eigenschaften, die daraus als Teil abzuleiten sind,

die gegebenen

natürlichen Dinge?

Um dem Gedanken eines allumfassenden Ganzen als der eine

Teil desselben gemäß zu sein, niüßten sie nicht bloß die Eigenschaften

haben, die wir an ihnen vorfinden, sondern wir müssen in ihnen, so­ fern sie einem Allumfassenden in Wahrheit entsprechen, voraussetzen

von jedem Paar entgegengesetzter Eigenschaften, welche man sich auch vorstelleu mag, die eine. Hiernach also müßten wir jeden Naturgegen­ stand untersuchen nach der Regel: Von jedem Paar entgegengesetzter möglicher Prädikate muß demselben eins zukommen. Danach

wären

für

jeden Gegenstand

der Betrachtung

mehr

Eigenschaften vorauszusetzen als gegeben sind, ja als vielleicht ge4*

geben werden können, und der Satz: jeder Wassertropfen enthält die Unendlichkeit der Schöpfung, wäre nicht die phantastische Behauptung

eines Dichters, sondern enthielte eine notwendige Voraussetzung für die Betrachtung jedes kleinsten und größten Gegenstandes der Natur. Da aber dieser als Grund des Gegebenen vorausgesetzte Inbegriff nicht bloß die vorgefundenen Eigenschaften eines gegebenen Dinges,

sagen wir: eines Wassertropfens, befaßt, sondern zugleich die ent­

gegengesetzten, ferner die Eigenschaften jedes einzelnen Naturgegen­ standes und der Gesamtheit derselben, so ist es der Inbegriff von

allem, was ist, was war und was sein wird, und zugleich die Er­ gänzung, d. h. der Inbegriff alles Möglichen, und ist insofern schon

von aller wirklichen Natur zu unterscheiden. Aber sind wohl in diesen Inbegriff auch diejenigen Aussagen von

den gegebenen Dingen aufzunehmen, die, obgleich sie nur aus einer Vergleichung mit einem beliebigen Maßstabe beruhen, doch von uns den

Naturgegenständen selbst beigelegt werden: das Mehr und Weniger?

Das Steinchen, das einem Ameisenkopf übergewaltig erscheinen

mag, diesen Chimborazo der Ameisen steckt der über den Ameisen­ haufen hintretende Mensch als eine Kleinigkeit in die Tasche.

Ameise

und Mensch haben Recht, ein jedes nach seinem Maßstabe, aber die

Bestimmungen nach diesem Maße gehören nur ihrer Auffassung an, nicht dem Gegenstände, und also auch nicht dem vorausgesetzten In­

begriff der Dinge selbst. — Ferner aber, wenn z. B. ein Mensch sich als nicht wissend erkennt, so geschieht dies auf Grund eines Be­

griffs vom Wissen als eines Maßstabes.

Mit der etwaigen Ver­

änderung des Maßstabes aber bei zunehmender Erkenntnis sehen wir

nur immer mehr ein, wie viel mehr wir nun auch wissen als früher, daß wir nicht wissend sind.

Also gehören auch die Verneinungen nur der menschlichen Auf­

fassung der Dinge an.

Vie Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

53

Wenn nun dem Inbegriff und der Ergänzung von jedem ein­ zelnen Gegenstand uni) von allen weder Größe noch Kleinheit, weder das Mehr noch das Weniger zukommt noch irgend eine Verneinung,

so ist derselbe ein von allem Gegebenen durchaus Verschiedenes.

Das Allumfassende ist im Unterschiede vom bald Seienden, bald

Nichtseienden, Werdenden ein Seiendes,

von dem an einem Orte

int Raume, aber nicht zugleich am anderen Orte Befindlichen, vom

Geteilten, Vielen ein überall Vorhandenes, Einiges, vom Zusammen­ gesetzten ein Einfaches, vom Unvollständigen ein Vollkommenes.

Wir erkennen in diesem notwendigen Gedanken, der uns bei der Betrachtung eines jeden Naturgegenstandes leitet und die Erforschung

desselben über alles Gegebene hinaustreibt, den Gedanken alter grie­

chischer Denker wieder, das Eine, Seiende der Eleaten.

Dieses hat

Parmenides im Sinne, wenn er spricht: zu denken, daß etwas ist und daß nicht ist das Nichtsein, das ist

der Pfad der rechten Überzeugung, denn dabei ist die Wahrheit. —

während er als auf den Weg der Lüge hinweist auf die gemeine Mei­ nung des Sinnenmenschen, der sich von der gegebenen Natitr nicht los­

reißen kann, auf die Meinung, daß etwas auch nicht sei und daß sein müsse auch Nichtsein.

Unter der gemeinen Voraussetzung aber, die

Sinnenwelt sei die Sache selbst, muß der Inbegriff alles Möglichen

in oder hinter der gegebenen Natur gefunden werden als etwas, von dem der Fluß des Werdens, des Entstehens und Vergehens, ausgeht als von seiner Quelle. Wo aber bietet sich uns in der Welt ein Seien­ des, Einiges, Allumfassendes außer in dem freilich bloß erschlossenen

Selbst des die Außenwelt und alle Zustäitde des Gemüts umfassenden

menschlichen Bewußtseins, von welchem Ich alle bewußte Veränderung der Dinge durch Menschenthnn, eine zweite Welt des Werdens neben der Natur, ausgeht? Wenn wir das Denkende im Menschen nicht zu Hülfe nehmen,

54

Zweiter Teil.

so verzichten wir auf die Möglichkeit die notwendige Voraussetzung

aller Dinge in ihrem Verhältnis zum Entstehen und Vergehen der natürlichen Welt deutlich zu denken.

Da wir aber das Denkende nur in Verbindung mit einem mensch­

lichen Leibe (jeder in Wahrheit nur einmal in sich selbst) vorfinden, so würde, wer einen denkenden Geist annahm als Grund der Natur und diesem Geist nicht Wohnung in einer Menschengestalt gab, nur

willkürlicher und phantastischer, nicht etwa verständiger handeln als derjenige, der den allumfassenden Geist sich nur unter dem Bilde des

Menschen vorstellen kann und will als das Auge, welches alles sieht, als das Ohr, welches alles hört.

So endet das menschliche Denken

unter der gemeinen Voraussetzung bei dem Gedanken Gottes als des Urhebers aller Dinge. Läßt aber die Natur Raum für den Gegenstand dieses Gedan­ kens? Das immer Gegenwärtige des Weltalls ist für unser Denken ein

Nebeneinander von Zuständen, die auf ein Früheres zurückweisen, aus

dem die Gegenwart hervorging.

In der Veränderung ohne Aufhören

giebt es kein Bleiben: wir steigen nicht zwei Mal in denselben Fluß. Und wenn auch die Gestalten der heute wie vor Jahrtausenden

leuchtenden Gestirne zu beharren scheinen, so sind doch die Stoffe derselben andere geworden.

Sofern aber dieses All ein unabhängig

Vorhandenes, also Abgeschlossenes, ist, können unsere Gedanken nicht

fülle stehen bei der Annahnie eines letzten wahrnehmbaren Zustandes

am Anfänge der unendlichen Reihe von Zuständen der Welt, zu dem uns die Gewohnheit treibt immer aufs Neue ein Früheres zu fordern. Das Denken ruht erst in dem Gedanken eines unsichtbaren letzten Anfangs aller Weltentwickelung, der die begründenden Zustände voll­ endet, nicht wie den Wasserfaden des Flusses die Quelle, sondern

wie die Ursprünge der Quelle in der verborgenen Tiefe der Erde. Wenn wir nun aber dieses Letzte, wie jenes Höchste, die Gott-

Die Welt jenseits der ilntur ein Kedanke, nicht eine Entdeckung.

55

heil, für ein unabhängig von der Natnr über der Sinnenwelt Borhandenes anznnehmen haben, sollten wir nns noch besinnen dürfen für das Letzte, zu dein unsere Gedanken von dem Gegenwärtigen aus rückwärts schreitend sich anfschwingeu, die Gottheit, jenen der Natnr aus der Höhe des Gedankens entgegengetragenen höchsten Ge­ genstand, zu halten? So erscheint der Gedanke der Gottheit, bei dem die Wege ans der Tiefe und ans der Höhe znsammentreffen, als ein doppelt notwendiger, dieselbe als ein Bleibendes, Unveränder­ liches im Wechsel fester und zuverlässiger als die unaufhörlich ver­ fließende Natur, gewisser auch als die in den Strom der wechselnden Zustände des menschlichen Inneren vielfach eiutaiicheudeii Gedanken der Seele und der Freiheit des Thuns und Lassens. Diese werden als in die Natur hiueiugehöreiid der Uuvollkommeuheit des Natür­ lichen teilhaftig. Der Gedanke der Gottheit dagegen schwebt mwermischt mit dem Natürlichen hoch darüber, ruhend wie ans einem Felsen ans der Überzeugung von dem selbständigen Dasein der Natnr und unter dieser Voraussetzimg so viel gewisser als die Natur, daß wir zwar immer noch einmal uachforschen werden, ob, was wir im Vorübergehen für eine Schildkröte ansahen, nicht etwa ein Feldstein ist, nicht aber eines Beweises bedürfen für das Dasein der unsicht­ baren Schildkröte, welche das Weltall trägt. Wie nun aber, wenn wir uns fügen in die uns gesetzten Schran­ ken unserer Naturerkeimtnis, die Eindrücke der Dinge auf die mensch­ lichen Sinne? Sollten wir selbst Bedenken tragen den Gedanken des unsicht­ baren Selbst, welchen ich Zweifler sogar gebrauche, um anderen mitzuteilen: ich zweifle, beit Gedanken der Freiheit, der mich bei allem Thun und Lassen nicht verläßt, sofern ich es nicht bloß als Äußerungen meiner Natnr, sondern als mein Handeln betrachte, dieses mit den Eindrücken, mit Empfindimgeu und Gefühlen, tausend-

Zweiter teil.

56

fällig Verknüpfte für bloße Gedankendinge zu halten, so ist doch Gott

für denjenigen, der die Schranken der Naturerkenntnis anerkennt, un­ zweifelhaft ein bloßer Gedanke, wenn auch ein unvermeidlicher Ge­

danke.

Diesen Gedanken aber mit dem verborgenen Gegenstand selbst,

worauf er weist, zu verwechseln verhindert allein wirksam die grund­

sätzliche Bescheidung des Naturforschers, welche Bescheidung wiederum auch allein wirksam sich der Anmaßung entgegenstellt dasjenige, was

für mich und meine Erkenntnis nur ein Gedanke ist und bleibt, damit zu einem bloßen Gedankendinge in jedem Sinne herabzuwürdigen.

Wie sollte sich wohl dessen erkühnen, wer eingedenk ist, daß

seine Wissenschaft darin besteht die Spuren dessen, was ist, wieder aufzuspüren? Nur in einem stimmen überein der Mensch vor der Wissenschaft

und der Forscher: in der Gewißheit, mit der jener das Dasein der Gottheit, dieser den Gedanken des Daseins der Gottheit behauptet. Daraus folgt, daß es uns vor der Besinnung unnötig scheinen muß das Dasein einer allweisen Gottheit aus der Beschaffenheit der Natur­ gegenstände zu erweisen, da wir nach der Voraussetzung ein Wunder

an Weisheit in jeder Mißgeburt sehen müßten, welches zu finden

wir doch bei gesundem Verstände nicht erwarten können noch wollen.

Umgekehrt muß es nach der Besinnung als ein willkürliches und wenig vernünftiges Beginnen erscheinen den über alle Begriffe er­

habenen Gedanken einer allweisen Gottheit durch die zufälligen, viel­

leicht mangelhaften Eindrücke der Dinge, d. h. durch die Einrichtungen der Natur, bestätigen zu wollen.

Ebensowohl, scheint es, könnten wir

den Ursprung der Welt aus dem Hainberge bei Göttingen ableiten.

Zwischen der besinnungslosen unerschütterten Annahme des Daseins der Gottheit über der Natur, wie wir sie finden z. B. in den Ge­ dichten des Homer, wo der oberste Gott Zeus nicht weit von den Menschen über der Erde auf dem Olymp thront und, wenn er sich

Vie Veli jenseit? der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

57

die Kämpfe bei Troja in größerer Nähe betrachten will, die Rosse mit den goldenen Mähnen vor den Wagen spannt, die goldene Peitsche

nimmt und vom Olymp zum Berg Ida hiniiberfährt, und dem Zeit­ alter des sich zunächst grundsätzlich, doch ohne Anmaßung ans das

Nahe und Geringe beschränkenden Naturforschers in der Mitte gab es nun eine Zeit des ungewissen Zweifels.

Diese beginnt in Grie­

chenland mit Sokrates und erfüllt in Europa etwa zwei Jahrtausende

mit ihrer wesentlich unfruchtbaren, mir an menschlichen Einfällen fruchtbaren, Unruhe. Man hatte angesangen an der Wahrheit der natürlichen Dinge

zu zweifeln im Bewußtsein, daß wir auf Eindrücke der Dinge ein­

geschränkt sind, und man konnte nicht zweifeln an dem, was wir sehen und hören, ohne die bloß erschlossenen Grundlagen dieser

Sinnenwelt, ohne das Dasein der Gottheit anzutasten.

Was Wunder, daß unter diesen Zweiflern bald ein kühner Mann

wie Protagoras in Athen im Zeitalter des Perikles bei dem Satze anlangte: Von den Göttern kann ich nichts wissen, weder daß sie sind noch daß sie nicht sind.

Freilich wurde die Schrift des Protagoras über die Götter, welche mit diesen Worten begann,

von Staatswegen

verbrannt.

Der Verfasser, als Gottesleugner verfolgt, mußte Athen verlassen.

Der Zweifel aber drang aus der Schule auf die Straße. Unter denen nun, welche in Athen die Angriffe auf das Dasein

der Gottheit abwehrten, war Sokrates.

Von ihm hat uns sein Schü­

ler Lenophon in den Denkwürdigkeiten ein merkwürdiges Gespräch aufbewahrt, in welchem Sokrates einen jungen Mann namens Aristo­

demos zu dem verlorenen Glauben an das Walten einer Gottheit in

der Natur zurückzubringen versucht.

Wenn Männer wie Prota­

goras die Natur für einen Vorhang ansahen, welcher die Gottheit

dem Menschen verhülle, so daß nicht festzustellen sei, ob wir von

der Gottheit redend von einem wirklich Vorhandenen reden, so faßte

dagegen Sokrates zuerst den kühnen Gedanken gerade in der Natur eine Offenbarung der Gottheit zu erblicken.

nung des Naturlaufes,

wie jedermann

Denn geht die Ord­

ohne viel Nachdenken

an­

nimmt, von. einem denkenden Wesen aus, so müssen sich, scheint

es, die Spuren der Wirksamkeit eines solchen auch in der Natur­ einrichtung auffinden lassen. Ist dem aber so, dann ist es ungefährlich für den Gedanken

des Daseins der Gottheit auf alle geschwinden Schlüsse auf ein solches

Wesen, auf alle überlieferten Vorstellungen von einem solchen zu

verzichten und uns der Erforschung der gegebenen Natur hinzugeben, da wir am Ende der Naturforschung wieder finden müssen, was wir

am Anfang anfgegeben haben.

In diesem Vertrauen werden wir uns durch Mißgeburten und andere Unzweckmäßigkeiten nicht irre machen lassen.

Vielmehr werden

wir diese zunächst als thatsächliche Gegenbeweise gegen jene Voraus­

setzung neben dem uns sogleich als weise und planvoll Einleuchtenden

hinnehmen und durch jenes Vertrauen uns nur anspornen lassen un­

sere Auffassungsvermögen unermüdlich zu verbessern, die Beobachtung zu schärfen, das Schließen strenger zu machen, damit die verborgene Weisheit immer mehr auch uns offenbar und alle Welt durch unbe­ fangene Naturforschung des Ruhmes der Gottheit voll werde. Diese gründliche Erforschung der Natur ist aber nur unter der

einen Bedingung des Verzichts auf die eigenen Gedanken von der

Gottheit der Natur gegenüber zu erreichen.

So hätte Sokrates schon

fast zweitausend Jahre vor der Wiedergeburt der Wissenschaften durch seinen Gedanken, die Natur bezeuge den Ursprung von einem den­

kenden Wesen, eine unbefangenere, alle Geisteskräfte des Menschen anspannende Erforschung der Natur veranlassen können.

Aber eine

solche rücksichtslos vertrauensvolle Naturforschung hätte, da sie das

Die Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

59

dem Menschen planlos Erscheinende als planlos ansehen mußte, wenn auch nicht ohne die Zuversicht die anscheinende Unvernunft int Fort­ gang der Forschung als verborgene Weisheit zu enthüllen, nicht auf

der Stelle zur Bekämpfung der Gottesleugner verwendet werden

können.

Auch war die vollständige Hingabe an die Erforschung der

Natur von einem Sokrates wenigsteits nicht zu erwarten, der von der Naturforschuug als einem übermenschlichen Beginnen abrief zur

Beschäftigung mit der Betrachtung des Thuns und'Lassens der Men­ schen, von einem Manne, der, wie uns sein Schüler Plato erzählt,

nicht iits Freie ging, da er von Bättmeu und Sträitchern nichts ler­ nen könne.

Demjenigen, der die Einsicht iit die Natureinrichtung für

ein der Anmaßung des Menschen Versagtes ntid das Versagte nicht

einmal für ein Gut hielt, blieb allein übrig, um diese Natureitirichtung trotzdem als Offenbarung einer Gottheit zu erweisen, besonders zweck­

mäßige Einrichtungen in der eingestandenermaßen nicht verstandenen

Natttr herauszusuchen.

So hebt Sokrates in jenem Gespräch die

Lage der Augen und der Nase am menschlichen Körper in der Nähe

des die Speisen einführenden Mundes und die weite Entfernung von

dem Ausführungskanal des Afters als eine weise Einrichtung, welche

ihren Meister lobe, hervor.

Aber würde wohl einer, der es mit der

Wahrheit nur ein wenig genauer nimmt als Sokrates, durch diese und ähnliche Erscheinungen das Dasein der Gottheit für bewiesen erachten können?

Würde er nicht vielmehr mit dem pingen Aristo­

demos, den zum Glauben an das Dasein der Gottheit zurückznbrin-

gen Sokrates, hierin der erste aller Pastoren, in Bezug auf die Drittel nicht wählerisch war,

das Dasein derselben nur dann für

daraus erwiesen annehmen, wenn er sie bei der Arbeit angetroffen hätte?

Wer auf Grund willkürlich herausgesuchter, anscheinend plan­ voller Natureinrichtungen wie Sokrates mehr behauptet, als er ver-

Zweiter Teil.

60

antworten kann, wird der sich noch besinnen ein anderes Mal zur

Ehre seines Götzen Planmäßigkeit und Zweckmäßigkeit anzunehmen, auch wo er nicht alles in Ordnung findet? Ja, ist derjenige, der an­

nimmt, die Natur beweise ihre Herkunft von einer Gottheit, nicht genötigt gegen das Zeugnis seiner Sinne und seines Verstandes Plan­

mäßigkeit der Natureinrichtung über sein Verständnis hinaus zu be­ haupten, wenn er nicht seine vielleicht zufällig geringe Einsicht in die Natur zum Maß' dessen, was ist, machen will?

Nun setzt freilich

auch das Volk, wenn es das Dasein der Gottheit blindlings behauptet, voraus, daß alle anscheinende Unzweckmäßigkeit und Unweisheit im

Laufe der Natur nicht hindere alles und jedes für in Wahrheit weise und gnt eingerichtet zu halten, jedoch ohne daß wir damit genötigt

sein sollen den natürlichen Tod eines talent- und hoffnilngsreichen Jünglings am Ende seiner Ausbildung von unserem Standpunkte aus

für ein Wunder an Zweckmäßigkeit zu erklären. Aber es ist allch etwas Anderes wie Sokrates aus der Ein­

richtung der Natur das Dasein der Gottheit entnehmen und beweisen zu wollen, etwas Anderes mit dem Volke das vorausgesetzte Dasein

der Gottheit durch ausgewählte Beispiele von zweckmäßiger Einrich­ tung der Natur sich veranschaulichen und jenes unbegreiflich hohe

Wesen durch das Lob dieser Thaten feiern zu wollen.

Dies läßt den

Sinn und Verstand, die einfache Naturwahrheit, unangetastet, da uns

freisteht nicht zu verwenden, was uns nicht passend erscheint, jenes wird sich nur gestatten, wer die Schranke der Naturwahrheit nicht als die Schranke seiner Behauptungen anerkennt, ein Verächter der

Natur wie Sokrates. Was aber Sokrates anfing, das hörte mit seinem Tode nicht

auf.

Man ließ nicht wieder davon ab das Dasein der Gottheit

aus der Natur erweisen zu wollen, und wenn man in der Folge

ergreifendere Beispiele von zweckmäßigen Natureinrichtungen,

nach

Die Welt jenseits -er Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

61

menschlichem Ermessen, auffand, so konnte man doch andererseits auch nicht unterlassen die anscheinenden Unzweckmäßigkeiten in der Natur­

einrichtung, nach menschlichem Urteil, zu berücksichtigen.

Der Vogel baut ein Nest für Junge, die er noch nicht kennt, der Hamster sammelt Vorräte für den ihm unbekannten Winter, und

mancher ist leicht fertig diese Handlungen der Tiere, welche augen­ scheinlich das Zukünftige nicht in Gedanken vorausnehmen wie der

Mensch, der Leitung eines übermenschlichen menschenartigen Wesens irgendwie zuzuschreiben.

Aber wie weit geht die Vorsorge der Gott­

heit für die lebendigen Geschöpfe? Würde sie uns nicht größer erschei­

nen müssen nach menschlichem Ermessen, wenn sie z. B. die Motte an­ leitete sich vor der Flamme in Acht zu nehmen, der sie so elend erliegt?

Von einem denkenden Menschen mögen wir erwarten, daß er bei der Einrichtung eines Gebäudes nach einem Plan verführt, fer­ ner daß zur Ersparung zweckloser Mühe ähnliche Zwecke durch ähn­

liche Mittel erstrebt werden und daß nichts Unnützes darin ange­

bracht wird. Nun lehrt die Anatomie, daß die Hand des Menschen, gemacht zum Greifen und Berühren, der Vorderfuß des Maulwurfes, bestimmt die Erde zu graben, gerade wie das Bein des Pferdes, der Schwimm­

fuß der Schildkröte und der Flügel der Fledermaus, alle nach dem­

selben Grundplan construiert sind, d. h. ähnliche Knochen in der gleichen Stellung zu einander enthalten.

Was bedürfen wir noch, um

eine nach einem Plane wie ein Mensch schaffende Gottheit anzunehmen?

Aber wie'viel Plan sollen wir annehmen, wenn wir doch bei

manchen Gattungen von Tieren verkümmerte Organe antreffen, die für die damit versehenen Individuen von gar keinem Gebrauche sind,

z. B. rudimentäre Brustdrüsen bei fast allen männlichen Säugetieren, die sich zuweilen sogar entwickelt und Milch ausgeschieden haben? Handelt das göttliche Wesen nach einem Plan, so scheint dieser

Zweiter Teil.

62

doch kein menschenähnlicher zu sein.

Und wenn wir den Urheber

der Natur nur nach den von ims vorgefundenen Spuren des Denkens

in der Natur nach menschlichen Begriffen bestimmen wollten, so fragt sich, ob wir der Bemerkung Lichtenbergs mit Fug würden wider­

sprechen können: „ich glaube kaum, daß es möglich sein wird zu er­ weisen, daß wir das Werk eines höchsten Wesens lind nicht vielmehr

zum Zeitvertreib von einem sehr unvollkommenen zusammengesetzt worden sind."

So brauchen wir nur unbefangener und allseitiger die Natur­

erscheinungen zu berücksichtigen, nm inne zu werden, daß wir durch die Erforschung der Natur nie dasjenige lvieder erreichen, wovon wir doch vor aller Forschung ausgingen: ein höchstes Wesen als Schöpfer

und Herrscher der Natur. Aber warum sollte denn auch der höchste sein, der vielleicht nicht

der letzte Urheber alles Daseins ist, sondern nur, wenn wir so sagen dürfen, ein Handlanger von diesem? Und wie wollten wir wohl zwin­

gend beweisen, eingeschränkt auf den Naturlauf, in dem wir keinen Zustand finden, dem nicht ein früherer vorangeht, daß die anders­

artige Ursache aller Weltzustände, auf die wir schließen, ein Aller­

letztes ist und nicht vielmehr mit diesem eine neue Reihe von einan­

der bedingenden Ursachen nach rückwärts anhebt? Wenn aber die Welt weder von einem höchsten noch auch nur

von einem selbständigen letzten Wesen ihren Ursprung nimmt, welche

Berechtigung haben wir für dieses einzige und einzig geartete Uhr­

werk der Welt einen Ursprung anzunehmen wie für unsere Uhren, Häuser und Schiffe, deren Herstellung in der Wirklichkeit freilich ein

Denken vorhergeht, in einem menschenähnlichen denkenden Wesen? Der Geist des Menschen, der diese Dinge erfindet, entspringt, erstarkt und ermattet in der Natur und würde selbst vielleicht keinen Plan

machen ohne die Vorbilder in der Natur, und warum muß die schaf-

Die Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

63

sende Kraft der einzigen, unvergleichlichen Natnr so beschaffen sein

und so wirken

wie dieses eine unter dein Geschaffenen, der Geist

des Menschen?

Sollte der Schöpfer nicht anderer Art sein als das

Geschöpf?

So werden wir den Fußtapfen des Sokrates folgend,

wenn wir es mit der Wahrheit nur ein wenig genauer nehmen als Sokrates, die Hoffnung anfgeben je zu erreichen, was er bewiesen

zu haben wähnte, das Dasein der Gottheit. Aber beweist nun diese Leugnnng des Daseins der Gottheit wie

jene Behauptung auf Grund bloßer Natnrbetrachtung das Geringste

für Sein und Nichtsein der Gottheit in der Welt? Die übermäßige Schätzung der Beweise für das Dasein der Gott­ heit hat Sokrates veranlaßt.

Volkstümlich war sie nicht vor ihm, und

ist sie nach ihm nie geworden.

Der Mensch nimmt auf Grund der

Voraussetzung das Dasein der Gottheit an über allen Sinn und Ver­ stand hinaus.

Für den Forscher aber, der sich in der Erkenntnis

der natürlichen Dinge grundsätzlich beschränkt auf die ihm gegebenen

Mttel, die Eindrücke der Dinge, ist das Dasein der Gottheit nur

ein notwendiger Gedanke, ein Gedanke,

dem für die Natnr allen

Gegenstand zu bestreiten nicht notwendig, aber für das Wissen von der Natur gleichgültig ist. 17.

Die hohen Gegenstände der Seele, der Freiheit, der Gottheit in und hinter der Natur zu entdecken bedurfte es nicht einer Schär­

fung der Sinne; vielmehr war diese für sie so gefährlich wie die aufsteigende Sonne für den Nebel, sie zu finden brauchten wir nur

die gemeine Voraussetzung, die gegebene Natur sei als solche ein selbständig Vorhandenes, recht fest zu halten.

Dann lagen die letzten

allumfassenden Gründe der Naturerscheinungen wie vor unseren Füßen.

Von der Gottheit und ihren übermenschlichen Eigenschaften erschöpfend

zu handeln macht keine Mühe demselben Menschen, dem die Natur

eines Sandkorns, über welches er Hintritt, unergründlich ist und bleibt.

Aber freilich:

Das Sandkorn wird von mir gesehen, betastet,

und jene Welt unsichtbarer Gegenstände ist nur in meinen Gedanken. Daß diese Gedankendinge in der Natur nicht gefunden werden, was

sollte uns hindern dies anzuerkennen?

Die Anforderung

auf unsere Vorstellungen zu verzichten zu

Gunsten dessen, was wir wahrnehmen, ist uns nicht mehr ungewohnt.

So wurde gleich bei unserem ersten Gange der Verzicht aus den ge­ meinen Begriff der Ursache und Wirkung verlangt, weil dieser durch

Wahrnehmung nicht streng zu bewähren ist.

Aber die Ausschließung dieses Begriffs und verwandter war durchzusetzen nur, so lange wir mit dem Zweifler David Hume an­ nahmen, wahrhaft vorhanden sei in der Natur nur das Wahrge­ nommene. Sobald wir die Willkürlichkeit dieser Annahme einsahen, erhielt

der mit der wahrgenommenen Folge verbundene Begriff des Erfolgens, der Ursache und Wirkung, als ein nicht wahrnehmbares Verhältnis der in der Gegenwart vorhandenen Weltzustände zu den vorhergehen­

den wieder Znlaß, und die Anfechtung desselben erschien ebenso will­ kürlich wie die dem Hnme beliebende Voraussetzung dieses Zweifels.

Ist nun vielleicht die Ausscheidung der Gedanken der Seele, der Freiheit, der Gottheit aus der Natur nicht mehr berechtigt als

jenes müssige Bedenken gegen den gemeinen Begriff der Ursache und Wirkung? Daß dieses auf Willkür beruhte, verriet schon die Mühe, welche es machte, den Zweifel an der Zulässigkeit des gemeinen Begriffs der

Ursache und Wirkung zu erwecken, verriet die Übereinstimmung aller

Welt über den Begriff des Erfolgens als ein allgemeines Naturver­

hältnis bis zu jener mit Hülfe einer willkürlichen, einseitigen Vor-

Die Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

65

aussetzung künstlich bewirkten Anfechtung durch einen Zweifler wie David Hume.

Dagegen berichtet die Geschichte aller Zeiten und Völker von

einem Streit über die Natur des menschlichen Selbst, ob dieses von anderer Beschaffenheit sei als der Körper und ob ihm ein anderes Schicksal als diesem bevorstehe oder nicht, und wir hören aus dem Künsten und Gedanken aller Art Freiheit gönnenden Athen zur Zeit

des Perikles so gut von Anklagen wegen Gottesleugnnng wie aus

der von Priestern überwachten Finsternis des christlichen Mittelalters. Ja, man darf fragen, ob nicht die Bestreitung des unsichtbaren

Wesens der Seele und der Gottheit eben so laut würde auf den Gassen wie die Behauptung, wenn nur die Leugner mit ihrer Ansicht eben so frei sich

wie die Verteidiger.

Schon dies

die unsichtbaren Dinge

ohne weitere

hervorwagten

muß uns bedenklich machen

Rechtfertigung wieder in die Natur einzulassen.

Freilich können wir nicht die Annahme vermeiden,

daß die

sichtbare Welt in eine unsichtbare hinüberragt wie die Gipfel einer Alpenkette in die Wolken.

Die unvollkommene Erkenntnis des Ge­

genstandes meiner selbst, der Ursachen alles meines Thuns, der Mangel

an einer nmfassenden und beherrschenden Einsicht in die Gründe der Weltveräuderungen fordern zur Ergänzung z. B. ein unsichtbares, be­

harrendes Wesen meiner selbst, das Ich über allem Wechsel der Zu­ stände, und dieselbe Unvollkommenheit der Selbsterkenntnis macht zu­ gleich, daß diese Ergänzung gegen alle Anfechtungen von gegnerischer

Seite siegreich verteidigt werden kann.

Ich bin ich, und ich bin keine

Wasserflasche. Da wir, beschränkt auf die Eindrücke der Dinge, die Sachen selbst

nicht kennen, so ist es ganz unmöglich den Glauben des Volkes an eine unsichtbare Welt, zu der der Mensch gehöre wie die Gottheit, zu vernichte». Romundt, Ailtäus.

5

Zweiter Teil.

66

So mag denn, wie die gesunde Vernunft natürlicherlveise an­ nimmt, der Mensch eine Seele haben uni) in seinen Handlungen frei

sein, die Welt aber von einer Gottheit regiert werden. Diese Behauptungen sind eben so unerschütterlich wie die Vor­

aussetzung eines unabhängigen Daseins der natürlichen Dinge, aus der sie bei der natürlichen Schwäche unserer Naturerkenntnis mit Not­ wendigkeit folgen.

In dieser letzteren Voraussetzung liegt nun aber eine unvernünf­

tige Übertreibung, wenn wir sie, wie gemeiniglich geschieht, auf die

gegebene Natur als solche anwenden und von der Natur in unserer Erkenntnis behaupten, was wir von ihr bloß glauben dürfen, daß

sie von den Sachen selbst nicht verschieden sei. Damit werden auch jene Behauptungen zu Annahmen eines vernünftigen Glaubens herabgesetzt. Aber selbst bei diesem vernünftigen Glauben nicht zu beharren,

sondern nur das allein Beweisbare, die Eingeschränktheit der Er­ kenntnis von der Natur aus bloße Eindrücke der Dinge, zuzulassen

und keine unnachweisbaren Behauptungen zu dulden, um das Ge­

wisse über die gegebene Natur mit Gewißheit zu erreichen, liegt im Interesse des Wissens der Menschheit.

Hieraus folgt, daß für die Wissenschaft von der Natnr und

für das Interesse des Wissens die Schlüsse auf die Gegenstände einer unsichtbaren Welt nicht mehr Möglichkeiten sind tote für den gemeinen

Verstand, sondern aus einer Überschätzung des Gegebenen beruhende

Trugschlüsse. Diese aber, obgleich eine ganze Welt über der Welt, dürfen wir als Naturforscher nicht anstehen gegen die geringste be­ gründete Beobachtung aus dem Leben eines Eingeweidewurms für

nichts zu achten.

Aber begnügen wir uns nicht mit zu Geringem,

wenn wir uns in unserem Wissen auf die Eindrücke der Natur be­

schränken, während die menschliche Wissenschaft vor Jahrtausenden damit anfing die letzten Gründe der Natur zn erforschen?

Dir Welt jenseits -er llntur ein Gednnke, nicht eine Entdeckung.

67

Ten Vorwurf der Niedrigkeit des Strebens würde man mit Recht demjenigen machen, der die menschliche Wissenschaft etwa auf eine Reihe von Beobachtungen einschranken will. Was aber ist dem­ jenigen vorzuwerfen, der durch Verbesserung des Verfahrens zu schlie­

ßen, dnrch Unterstützung des Denkens mit Versuchen sich zu Gesetzen zu erheben sich bemüht, z. B. zu dem von uns angeführten Prinzip des Archimedes, welches das Verhältnis aller Körper zum Wasser allgemein und doch bestimmt angiebt? Uuter diesem allgemeinsten Ge­ setze für alle Körper sind aber als unter einem Prinzip begriffen die Verhältnisse der einzelnen Arten von Körpern zum Wasser, das des

Korkes wie des Eichenholzes wie des Eisens, als für diese Gegen­ stände gültige Gesetze, so daß wir von der Beobachtung des Ver­ haltens dieses und jenes Körpers im Wasser fortschreiten zu dem Ge­ setz dieses nud jenes Verhaltens und endigen in dem alle noch so verschiedenen Verhältnisse umfassenden Prinzip.

Und sollte ein Prinzip wie das des Archimedes bereits das letzte Erreichbare sein und der Gedanke, den Alexander von Humboldt im Kosmos als dem Entwurf einer physischen Weltbeschreibnng auszu­ führen versuchte, die Erscheinnngeu der körperlicheu Diuge in ihrem allgemeinen Zusammenhang, die Natur als eiu dnrch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes anfznfassen in das Reich der Chimären zu verweisen sein? Hat nicht lauge vor Hninboldt Isaak Newton, der Entdecker des Prinzips der Gravitation, indem er lehrte, daß die Quantität der Materie in jeglichem Weltkörper das Maß seiner anziehenden Kraft

auf die anderen Weltkörper giebt, mit glücklichem Gelingen den ganzen uranologischen Teil des Kosmos dnrch die Annahme einer einigen, alles

beherrschenden Grnndkraft der Bewegumg in dem ursächlichen Zusam­ menhänge seiner Erscheinungen zu erfassen versucht? und damit auch ein die irdischeit Erscheinungen beherrschendes Gesetz, welches den 5*

Schlüssel giebt unter, unteren zn periodischen Bewegungen im Ocean nnd in der Atmosphäre, aufgef unten? Jedenfalls ist der Versuch des Alexander von Humboldt das Messen und Anffinden numerischer Ver­ hältnisse, die sorgfältigste Beobachtung des Einzelnen als eine Vor­ bereitung zu behandeln zu der höheren Kenntnis des Naturganzen und der Weltgesetze ein sinnigeres und verständigeres Verfahren dem von jedermann vorausgesetzten Inbegriff aller Natur durch Natur­ forschung allmählich im Laufe der Jahrtausende uns anzuuähern als das leichtfertige Beginnen des Sokrates das nicht aus dem Sinn gelassene Dasein der Gottheit au§ den ihm zweckmäßig dünkenden Einrichtungen der Natilr im Handumdrehen zu beweisen. Dies Verfahren wird eine mehr erleuchtete Nachwelt weniger als ein Forschen nach Wahrheit bezeichnen denn als vergleichbar dem Spiel der Knaben von einem beliebig gewählten Punkte 'aus das Schwarze einer Scheibe, die sie vor sich aufgestellt haben, zu treffen. Nur erscheint jenes Unterfangen des Sokrates gegen dies Spiel der Knaben kinderleicht, da Sokrates immer beharlpten mochte, aber nie beweisen konnte, daß er das Ziel getroffen habe. Wie das Porcellan­ kind des Mädchens einmal ersetzt werden soll durch eine lebendige Puppe, wie der Sohn der göttlichen Thetis, Achilleus, einen Alexander den Großen zum Nachfolger hat, der göttliche Heros der Sage den menschlicheren, darum nicht geringeren, Helden der Geschichte, so dürfen die ersten Gedanken über die Natur des Menschen, über die letzten Gründe seines Thuns und Lassens, über den Zusammenhang und den Grund aller Naturerscheinungen nicht die letzten bleiben, die Fabeln müssen auch hier weichen vor der Wahrheit. Die Zurückdränglmg der natürlichen Annahmen im Interesse des Wissens be­ zweckt demnach nicht eine gänzliche Beseitigung derselben, sondern nur eine vollständige Veränderung ihrer Form. Sie sollen nicht länger wie bisher als etwas der Naturerkenutnis Widerstreitendes dastehen,

Die Welt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

69

als etwas, was man wie Unsterblichkeit und Freiheit des Menschen wohl blindlings annehmen, aber nicht beweisen kann, wir wollen sie

ernten vielmehr als eine Frncht der höchsten Anstrengungen der Beob­

achtungsgabe und des Nachdenkens.

So werden wir mehr als in

den steifen Behauptungen und Gegenbehauptungen der philosophischen und theologischen Sekten über das unsichtbare Wesen der menschlichen Seele und über die Freiheit des Menschen eine Verwirklichung der

hohen Vorwegnahmen in der Auffassung einer menschlichen Persön­ lichkeit durch einen großen Scha'uspieler, eines Richard des Dritten durch einen Garrick, und in der Darstellung eines Lebenslanfes durch einen großen Geschichtschreiber, wie der Regierung des Tiberius durch

Tacitus, finden.

So wenig wie die anatomische Zerlegung einer nur im Äußeren menschenähnlichen Puppe für die Erkenntnis der Natur des mensch­

lichen Körpers einbringt, so wenig wirkliches Wissen verschafft die Beschäftigung mit den gemeinen Gedanken von der Seele und Seelen­ unsterblichkeit und von der Gottheit, in welchen wir vor der Be­ sinnung freilich eine vielleicht tiefe Wahrheit verborgen wähnen mußten.

Immerhin zwar lehrt die Untersuchung der Lehren von Seele und Gottheit in ihrer oft abenteuerlichen Gestalt uns einiges über die sonderbaren Leute, welche diese Annahmen hegten.

Solange die Gegenstände der übersinnlichen Welt im Puppen­ zustande nicht aus der Wissenschaft von den natürlichen Dingen gänz­

lich verbannt und in die Rumpelkammer geworfen sind als keinerlei Beachtung verdienend, so lange fehlt der Beschäftigung mit der Natur der Körper und des Menschen der Stachel, der sie treibt sich, nach dem Vorbilde von Goethe, von Tacitus und Alexander von Humboldt,

von der Niederung in die Höhe zu einem Überblick über das Reich der Natur aufzuschwingen, das Geringe nicht gering zu achten, aber das Größere zu wollen.

Zweiter Teil

70

Wenn aber die Wissenschaft wie billig die ersten Gedanken über die letzten Gründe der Dinge nicht für die besten halten soll, viel-

mehr für nicht vorhanden, so wäre es doch voreilig die Gedanken

über das Übernatürliche selbst in ihrer gemeinen ersten Form für in jedem Sinne wertlos zu erklären.

Sie bleiben, auch ausgeschie­

den aus der Naturerkenntnis, die notwendigen Annahmen auch des

Natlirforschers, sofern er noch anderes nnd inehr ist als ein Natur­

forscher, des Menschen.

Und welches Interesse sollte uns bewegen

deit Gedanken der Seele, einer andersartigen, vom Körper verschie­

denen Beschaffenheit unseres eigentlichen Selbst und seiner Schicksale, aus den Köpfen der Menschen zu vertreiben, wenn doch unsere Stel­

lung zur Natur uns diese Annahme gestattet? wenn doch nichts uns berechtigt zu leugnen, daß wir, eingeschränkt im Wissen auf die Ein­ drücke der Dinge, in Wahrheit noch einer anderen Welt als der

Sinnenwelt angehören mögen? Dasselbe, was dem Angriff auf das Herabziehen der libersinnlichen Dinge in die gemeine Wirklichkeit die siegende Kraft giebt, die grundsätzliche Einschränkung auf das

Wahrnehmbare und das mit dem Wahrgenommenen unzertrennlich Zusanlmenhängende, dasselbe setzt dem Angriff, wenn er sich zur

Leugnung des Daseins der übersinnlichen Dinge versteigen sollte,

unübersteigliche Schranken.

Diese erkennen wir an. durch die Ein­

räumung der Möglichkeit der übersinnlichen Dinge in der gemeinen

Form.

Aber wenn doch Seele, Freiheit, Gottheit für die Naturerkennt­ nis ohne Bedeutung sind, was sollen toir mit diesen Gedankendingen

anfangen?

Hat etwa das für die Naturerkenntnis Wertlose

eben darum für den Menschen des Daseins

Wert?

Die bloße Möglichkeit

der Gottheit rechtfertigt die Vorsicht in der Beur­

teilung des Gedankens, rechtfertigt nicht die Aufnahme, nicht die

dauernde Aufbewahrung desselben in unserem Gedankensystem.

Wie

Vic Wrlt jenseits der Natur ein Gedanke, nicht eine Entdeckung.

71

wollten wir lins sonst weigern an eine Chimäre zu glauben: vorne Löwe, in der Mitte eine Ziege nnd hinten ein Drache? Nachdem wir von der Erkenntnis der gegebenen Natur und bem Interesse der Erkenntnis gehandelt nnd hier keinen Platz für die gemei­ nen Annahmen von der übersinnlichen Welt gefunden haben, können wir eine anders lautende Beantwortung unserer Frage nach dem Dasein der übersinnlichen Welt nicht erwarten, wenn wir nicht vorher etwaige andere Arten von Thätigkeit des Menschen und die wesentlichen Erfordernisse dieser nntersncht haben. Die Beantwortung der Frage aber, wie sie auch ausfallen mag, wird, das steht bereits fest, keine Bedeutung haben für die Naturerkenntnis der Menschheit, wenn nicht eine sehr mittelbare, sofern der Naturforscher ein Mensch ist und vielleicht selbst für seine Thätigkeit als Naturforscher nicht gleichgültig ist, was für ein Mensch, mit was für Ansichten und Überzeugungen. Aus den bisherigen Erörterungen aber nehmen wir eins, was der strengere Geist der neuen Sachwissenschaft forderte, als einen nicht wieder preis zu gebenden Gewinn mit hinüber in unsere Betrachtung der übersinnlichen Welt. Was auch sich als notwendig erweisen mag in Bezug auf Seele, Freiheit, Gottheit, diese notwendigen Gedanken haben neben sich zu dulden eine andere Wissenschaft voni Menschen, von der Natur des Menschen und der Geschichte seines Thuns und Lassens, wie von der Körperwelt, die sich in einem fortwährenden Wechsel befindet, und haben sich mit dieser als der Welt der Wahr­ heit für den Menschen in Übereinstimmung zu erhalten.

Dritter Teil. Das menschliche Belieben Anfang, nicht Ende des Wallens.

18. Die hohen Gegenstände einer übersinnlichen Welt, zu denen das

Denken im Fluge gelangt, mußten zu Gunsten einer gründlichen Ein­

sicht in die gegebene Natur der Körperwelt und des Menschen, welche nicht ohne Aufbietung aller Mittel der Beobachtung und des dem

Naturwirken nachahmenden Versuchs zu erwerben ist und auch dann nicht ohne unermüdliches Wiederprüfen des Gewonnenen, aus der

Welt des Wissens entfernt werden.

Damit aber sind sie aus der

Welt selbst des Naturforschers als eines Menschen gänzlich aus­

geschieden nur, wenn derselbe sich beschränken will auf das Wissen von den Dingen.

Und selbst dann hat niemand mehr Veranlassung die Möglich­

keit einer anderen Natur der Dinge bei gänzlichem Unvermögen un­ sererseits darüber begründete Aussagen zu machen einzuräumen als der Naturforscher, je strenger er sich in seinen Behauptungen auf

die bloßen Eindrücke der Gegenstände einschränkt und eingeschränkt weiß.

Folglich mag gerade er mehr als ein anderer, wenn er am

Abend ausruhen will von dem Geschäft der Naturerforschung und

Das menschliche Lelieben Anfang, nicht Ende des wollens.

73

die Waffen, mit denen er die Natur angriff, weggeränmt hat, sich

der Dinge einer übersinnlichen Welt, von denen die vielgestaltigen,

bunten Überlieferungen der Völker in Dichtung und Sage zu berichten wissen, wie einer wirklichen erfreuen; — er mag wie ein anderer Mensch aus dem, was er darüber hört,

Mut schöpfen, nm sein

Leben auf der Erde vielleicht anders zu führen, als er meist am lieb­

sten möchte, ja, um die Obliegenheiten des Berufs der Naturforschung

mit größerem Eifer und mit strengerem Verzicht auf gegenwärtige

Bequemlichkeit zu erfüllen, als er ohne die erhabenen Vorbilder aller Tugenden ans einer anderen Welt zu vermögen meint. Freilich wird es nun nicht gleichgültig sein, welcher Überlieferung

über das Menschen verborgene Dasein er sein Ohr leiht.

Homer

läßt den Achill, einen Fürsten über die Toten, dem Odysseus bei dessen Aufenthalt in der Unterwelt sagen: Nicht mir rede Vom Tod ein Trostwort, edler Odysseus, Lieber ja wollt' ich das Feld als Tagelöhner bestellen

Einem dürftigen Mann ohn' Erb' und eigenen Wohlstand Als die sämtliche Schar der geschwundenen Toten beherrschen —

denselben Achill, den Homer bei Lebzeiten dem Odysseus die Erklärung abgeben läßt: Nichts sind gegen das Leben die Schätze mir, nichts, >vas Verbeut auch

Ilios barg, wie man sagt, die Stadt voll prangender Häuser.

Den Ausspruch bei Homer über das Leben nach dem Tode verdammt

aber der Schüler des Sokrates, Plato, da er den Menschen int Leben feige mache und an diesem Leben klammernd, als sei es das wahre

und höchste Dasein. Aber von welcher Ansicht über das Leben nach dem Tode der

Naturforscher auch die Führung seines Lebens abhängig machen will,

Dritter Teil.

74

das Interesse des Geschäftes der Naturforschung hindert ihn nicht be­ liebige Meinungen darüber anzunchmen, wenn sie nur scharf von allen:

Naturwissen geschieden werden.

Ja, dieses Interesse mag ihn selbst

die Annahme eines seinem Verhalten in diesem Leben, in seinem Beruf

und außerhalb seines Berufes, entsprechenden Schicksals nach dem Tode zu gebieten scheinen.

Dafür, daß eine unbefangene, scharfe und

reine Auffassung der Naturvorgänge möglich ist, trotzdem man aller

Orten Wesen einer anderen Welt auf der Erde auftreten und sich in die menschlichen Angelegenheiten einmischen läßt, geschweige bei einem

sorgfältigen Auseinanderhalten dieser Welten, dafür können die Ge­

dichte des Homer zum Beispiel dienen.

Dieser Dichter läßt z. B.

die Göttin Athene auf demselben Wagen mit Diomedes diesem Hel­ den Hand und Lanze gegen den hcranstürmenden Gott Ares führen und weiß doch andererseits die Verwundungen seiner Helden mit der

Genauigkeit eines Naturforschers zu beschreiben. Aber wer wie der Naturforscher die Eindrücke der Dinge für die Grenze seines Wissens hält, wird, wie gläubig er sich auch gegen die Überlieferungen verhalte, wie kein anderer den Abstand bemerken

müssen z. B. bei einem Kampfe gegen mächtige Gegner, den er zu

führen hat zur Erhaltung seiner selbst, zwischen der Veranlassung

zu dem Kampfe, die er in seiner Stellung, seinen Verhältnissen sieht, und der Aufforderung zu kämpfen, die er aus der Höhe der Wolken

zu empfangen meint, sei es durch den Mund von Priestern, sei es

durch ein Buch. Und sollte derjenige, der seine Behauptungen über Naturgegenstände und Naturvorgänge auf das Nachweisbare beschränkt, der die

übersinnliche Welt aus dem Wissen als einen Wahn ausscheidet, selbst wenn er will, imstandesein für die Anordnung seiner Handlungen die natürlichen Verhältnisse für nichts zu achten und für das Leben sich gläubig wie ein Kind, wie ein Bauer den Überlieferungen über

Das mcnsdilidjc belieben Anfamj, nidjt Ende des Wollrng.

75-

ein Dasein nach diesem Leben hingcbcn können? Sollte er sich durch

die Erzählung etwa vom Schicksal des Giganten Tityos, des Sohnes der Erde, den Odhsseus auf den Boden ausgestreckt sah, 900 Fuß bedeckend, wie zwei Geier ihm die Leber, den Sitz der Leidenschaft,

abfraßen zur Strafe dafür, daß er die Leto, die Gemahlin des Zeus, als sie gen Pytho ging, mißhandelt und entehrt hatte, in seiner Ruhe

aufschrecken lassen? Oder wird er durch Ansichten wie die des Achilleus

bei Homer zu leichtfertigeren!, bequemerem Lebensgenuß, als er ohne dies stöhnen würde, sich verleiten lassen? Mag immer der Mensch sein Haupt bis in die Wolken erheben,

so wird doch der Naturforscher nicht einen Vorzug des Menschen

darin sehen, daß er im Nebel wandelt, so lange er die Füße auf die Erde setzt.

Der klare Sonnenschein vergönnt uns bei jedem Schritt,

den wir thun, das Woher, das Wohin deutlich zu erkennen, und wir

sollten diese Gunst nicht benutzen? Hier ist Rhodus, hier ist zu tanzen. Aber auch zngestanden, daß einer die Antriebe zu seinen Hand­

lungen den Berichten über eine andere Welt entnehmen mag; die Be­ gründung der geschehenen Handlungen wird der Naturforscher viel­

leicht in dem Wahne von einer anderen Welt, keinesfalls aber in

dieser anderen Welt selbst, die für ihn allein in das Bereich der

Möglichkeiten gehört, suchen.

Ja, derjenige, der sich mit der Er­

forschung der äußeren Natur, mit der Körperwelt und ihren Ver­ hältnissen, einzig beschäftigen will, muß annehmen, daß die äußerlich wahrnehmbaren Handlungen des Menschen in vorhergehenden äuße­

ren Naturumständen begründet sind,

aus

diesen nach allgemeinen

Gesetzen hervorgehen gerade so tote die Entzündung des Zündholzes aus beut Reiben desselben ant Feuerzeng. mit

allem,

was wir

tut

ihm

Denn gehört der Mensch

wahrnehmen, nicht

hinein in diese

sichtbare Welt als ein Teil derselben und wärmn dann nicht ihren

Gesetzen unterworfen?

76

Dritter Teil.

Ein Professor verläßt allsommerlich, sobald die Ferien beginnen, Bücher und Studien, um die höchsten Spitzen der Alpen zu er­ klimmen.

Was veranlaßt

ihn

dazu?

Ist es

nicht die Ermat­

tung aller Glieder und Sinne durch das Stubensitzen?

Die Empfin­

dung dieses Unbefindens verursacht eine Bewegung seines Körpers nach der andern, bis der Gipfel des Berges erreicht ist.

Bedarf

es also mehr als des Umstandes der Ermattung, um die Alpettreise

zu erklären?

Aber in dem gleichen Zustande der Ermattung nach gleich an­

gestrengtem Lehren und Lernen befindet sich ein Freund, ein Kollege Auch er empfindet die Ermattung von der Arbeit

jenes Reisenden.

wie jener, und er empfindet sie, ohne sich, obgleich übrigens in den­ selben Verhältnissen wie jener lebend, aus der Stadt zu entfernen,

da er vielmehr in der Ruhe und in der ruhigen Geistesbeschäftigimg seine Erholung sucht. Umstände und Wahrnehmung sind dieselben, auch die Kräfte

des Körpers und des Geistes, die für die Bewegungen erforderlichen,

mit denen uns der Naturforscher bekannt macht, seien dieselben; aber wo ist dasjenige, was nicht bloß den Handlungen im Äußeren vor­

hergeht, wie bei beiden die Ermattung, sondern was trotz der gleichen Verhältnisse den einen treibt in die Welt hinaus zu fahren, den an­

deren die Ruhe zu Hause zu suchen, beide aber in den Naturlauf bestimmend einzngreifen, da auch der zu Hause bleibende dort blei­

ben will?

Dies Bestimmende muß etwas Anderes sein als die gegebenen Naturilmstände.

jedem

Wären diese selbst zuwider unserer Annahme bei

von beiden

andere, so müßten wir,

wenn unsere Helden

nicht bloß verschieden handeln, sondern Verschiedenes wollen, also

denken, den

Gedanken der

Veränderung des

Lebens bei

dem

Reisenden, bei dem anderen den Gedanken des Ausruhens in der

Das menschliche Belieben Anfang, nicht Ende des Wollen».

77

gewohnten Umgebung als hinüberleitend von den äußeren Umständen

zil den äußeren Handlungen fordern. Wie aus einer

Woher aber dieser vorauszusetzende Gedanke?

Übereinstimmung mit den gewohnten Verhältnissen bei dem zu Hause Verbleibenden, so bei dem Reisenden aus einer Nichtübereinstimmung,

die wir Unlust, Schmerz, Unzufriedenheit nennen mögen wie jene Übereinstimmung Lust und Zufriedenheit.

So angenehm aber, so nützlich dem Reisenden trotz aller Stra­ pazen die Bergfahrt erscheint, gleich nützlich und angenehm erscheint

das ruhige Lebe« in den Ferien seinem Freunde.

Was den einen

wie den anderen zur Thätigkeit aufreizt, das ist das Gutdünkende. Wenn wir also Lust und Unlust, ein durch die Eindrücke der äußeren Ereignisse im Menschen Gewirktes, zil Hülfe nehmen als etwas, das

in

Widerspruch tretend zu dem

Naturlauf eine Anspannung der

Kräfte je nachdem zur Erhaltung oder Veränderung des herkömm­ lichen Zllstandes veranlaßt,

so verstehen wir,

was uns ohne dies

wie das Zusammenschießen der Figuren in einem Kaleidoskop er­

scheinen muß: das der Menschen,

so unendlich mannigfaltige Thun und Treiben

so verschieden unter den gleichen Verhältnissen, so

gleich unter den verschiedensten Verhältnissen.

Die Handlungen sind

nicht verschiedener als das Interesse der Menschen an den natürlichen

Verhältnissen, und dies ist so mannigfaltig wie Natur, Schicksal und Bildung der Menschen.

Wo aber finden wir Lust und Unlust, diese

von uns geforderten Beweggründe aller Handlungen des Menschen? Dem bloß auf die äußere Natur gerichteten Sinn des Naturforschers

als eines Physikers müssen sie, wenn nicht als ein Eingebildetes, so

doch als ein Flüchtiges,

Nichtiges gegenüber dem Greifbaren und

Faßlichen, dem Beharrenden der Körperwelt erscheinen.

Sobald aber

der Naturforscher als Historiker seinen Blick auf die Handlungen der Menschen richtet,

wird er Lust und Unlust,

ob er sie gleich

Dritter Teil.

78

nirgend vorfindet, als Anfang menschlicher Handlungen nicht mehr

entbehren können. Anders sind also die Anforderungen des menschlichen Verstandes an die Handlungen des Menschen als an die übrigen Vorgänge der

Körperwelt, die Anforderungen, denen die menschlichen Handlungen entsprechen müssen, um uns als begründet, als natürlich zu erscheinen.

Der Menschenverstand des Geschichtsforschers

ist von

dem Welt­

verstand des Naturforschers durch die Aufnahme der Lust unb Unlust,

des Interesses, in die Begründung der Ereigitisse unterschieden.

Was

werden tvir nun von diesem Standpunkte aus etwa in der Erklärung

menschlicher Handlungen als natltr- und denkwidrig ausscheiden und,

wenn von Menschen trotzdeni mit Aufrichtigkeit hartnäckig behauptet, als auf Schein beruhend ansehen müssen?

19. Nehmen wir als Beispiel, was sich täglich ereignet, daß ein Krämer einen Knaben, welcher bei ihm Alabasterkügelchen zum Spielen

kauft, ehrlich bedient wie nur einen Erwachsenen.

Wir würden ver­

stehen, daß er so handelt, wenn Vergnügen an der Handlung, etwa aus Neigung zu dem kleinen Käufer, nicht anzunehmen ist, in der Er­ wägung, daß nicht bloß dieses Kind bei ihm kauft und eine unredliche

Bedienung selbst eines Kindes (wer kaun wissen, wie?) ihn« Schaden

thun könnte. Wir würden auch verstehen, daß er sich sagt, es solle jeder jeden redlich bedienen und ihm das Seine geben: geschähe dies all­ gemein, so würde jeder seine Wünsche mehr erfüllt sehen, als wenn

ein jeder versucht, was er ohne Rücksicht aus andere an sich raffen kann, und daß er sich weiter sagt, er wolle seinerseits zur Herbei­

führung eines solchen Zustandes das ©einige thun, selbst wenn die

andere» es nicht thun, auch Mitwirken, daß ein solches Verhalten allgemein werde. Er würbe bei dieser Erwägung sein eigenes Wohl nicht aus dem Auge verlieren, weint es ihm auch ferner geriickt wäre. Aber nicht verstehen würden wir die Behauptung, er habe den Kleinen ehrlich bedient ohne alle Riicksicht auf das eigene Wohl, ohne alles Interesse. Das würbe für uns so viel heißen als: er handelte ohne Beweggrund. Freilich würden Wir ganz wohl verstehen, daß der Krämer meinen kaun ohne alles Interesse gehandelt zu haben. Könnte er doch mit dieser Handlung sein eigenes Interesse mit Bewußtsein geschädigt haben, wenn er z. B. die darin vielleicht nicht verständigen Angehörigen des kleinen Knuden durch seine Handlungsweise wissentlich gegen sich aufgebracht hätte und demnach annchmen müßte, Über­ vorteilung und Betrügen des Kunden würde ihm in diesem Falle mehr Nutzen gebracht haben als ehrliches Bedienen. Er hat trotz­ dem anders gehandelt aus Grundsatz, in Erwägung des allgemeinen Besten. In diesem Falle würde er meinen können nicht mit Rücksicht auf das eigene Wohl gehandelt zu haben, obgleich in Wahrheit dies sein Leitstern trotz allem war. Nehmen Wir hinzu, daß der Meusch sich an eine bestimmte Hand­ lungsweise gewöhnt und in der Folge die einzelnen Handlnngen ohne Bewußtsein der Gründe für diese Handlungsweise thut, so kann in diesem Falle der Krämer wohl sich einbilden, er habe den Kunden ohne alle Rücksicht auf das eigene Wohl redlich bedient, er habe also diese Handlung ohne Beweggrund gethan. Freilich daß je ein Mensch diese Meinung wirklich hegte, dies zu behaupten berechtigt uns noch nicht das häufige Gerede von nninteressierten, selbstlosen Handlnngen. Aber selbst wenn der Wahn eine Thatsache wäre, ja, wollte einer die Reinheit seines Thuns von eigenem Interesse beschwören, so dürfte

80

Dritter Teil.

uns dies nicht bewegen Uninteressiertheit des Handelns als eine That­

sache anzunehmen.

Denn es könnte wohl fein, daß der Mensch sich

für besser hält, als er ist.

Wer sieht in sein eigenes Herz?

So wollen wir nicht bestreiten, daß Menschen meinen ohne alles Interesse zn handeln, wir bestreiten aber, daß sie dies zu meinen

berechtigt sind. Anders freilich wäre es, wenn wir Menschen in einem Zustande

lebten, wie ihn die Dichter als das goldene Zeitalter der Welt ge­ priesen haben: wo die Menschen nicht nötig hatten sich mit Kleidern

und Häusern gegen die Kälte zu versehen, wo die Bäche voll Wein und Milch flössen, die Eichen Honig gaben, wo nicht bloß Stürme

und Ungewitter aus der Natur verbannt waren, sondern auch das, was Unwetter und Stürme in der menschlichen Gesellschaft veranlaßt,

dem menschlichen Herzen unbekannt war: Habsucht, Ehrgeiz, Grau­

samkeit,

Eigennutz, wo vielmehr die einzigen Triebfedern in den

Gemütern der Menschen herzliche Liebe und Mitleiden waren und der Unterschied zwischen Mein und Dein noch unbekannt war.

Da

möchte die Meinung ohne einen Gedanken an das eigene Vergnügen dem Bruder eine Freude gemacht zu haben die Thatsächlichkeit des selbstlosen Handelns beweisen.

Denn der allgemeine Überfluß an

allem Wünschbaren läßt keinen Anlaß übrig den anderen zu be­ schenken, um selber beschenkt zu werden.

Nun aber in der Welt

unter dem Monde kommt der Mensch als das hülfloseste Geschöpf, nackt, ohne Waffen, auf eine Erde, deren kärgliche Güter von vielen

verlangt werden, in welchem Wettstreit einer gegen viele, und wäre er der Gewaltigste, nicht hoffen kann das, was er wünscht, zum

geringsten Teile zu erlangen, geschweige leicht, geschweige vollständig. In einer solchen Welt bedarf es für den Menschen nur geringen Nachdenkens, um einzusehen, daß er klüglicher Weise auf das Meiste, wonach sein Herz verlangt, wird verzichten müssen, um nur ein Ge-

Das menschliche Belichtn Anfang, nicht Ende des Wollens.

ringes zu

erlangen.

81

Er muß sich sagen, daß er den Zweck der

Befriedigung seiner selbst aus dem kürzesten Wege nicht so vollstän­

dig erreichen wird, als wenn er auf einem Umwege, wie die eine Hand die andere wäscht,

um selbst gewaschen zu werden,

seinem

Ziele zustrebt.

Deni Sinne, der nur das Eigene sucht, Widerstand zu leisten, reicht so dieselbe Selbstsucht ans, so bald sie sich der Leitung des

Verstandes unterwirft.

Die gleiche Handlungsweise bei anderen aber werde ich nicht bloß schätzen müssen, weil der Handelnde dabei das Vergnügen an­ derer, darunter etwa auch das meinige, auf Kosten seines eigenen be­ rücksichtigt, sondern auch, sofern wir, über andere so urteilend wie

über uns selbst, von ihnen dieselbe Unterordnung unter verständige Erwägung verlangen. Und liegt es mir nicht näher die Handlungen eines anderen mehr

vonl Standpunkte der Betroffenen, der Mehrheit, aus zu beurteilen und dieselben, je

nachdem

das

Interesse dieser dadurch gefördert

oder geschädigt wird, zu schätzen — aus einer Art von Sympathie mit dem allgemeinen Vorteil, wozu auch der meine gehören kann —

als in Rücksicht auf das Vergnügen, welches die Handlung dem Han­

delnden selbst bereitet? Wenn aber so verständige Erwägung der Na­ turverhältnisse ausreicht, unt denjenigen, der nur den eigenen Vor­ teil sucht, zu jeder Art scheinbar interesselosen Handelns zu bewegen,

und wir nur zu der selbstsüchtigen Leidenschaft den Verstand hinzu­ zunehmen brauchen, um die Schätzung des interesselosen Handelns zu

erklären, so würden wir mit der Einräumung der Möglichkeit wahr­

haft interesselosen Handelns etwas ebenso Unnötiges wie Unverständ­ liches annehnien.

Und gewiß würden wir damit gegen das Beste des

Menschenverstandes, der natürlichen Erklärung menschlichen Thuns und Lassens, handeln. Romundt, Antäus.

6

20. Wenn aber das Verfahren des Krämers gegen das Kind, mag es übrigens auf dem Grundsätze desselben beruhen in allen Fällen so zu verfahren wie gegen das Kind, mit diesem Grundsätze zusammen

von der Rücksicht auf seinen Vorteil abhängt, unvermeidlich nur, falls dieser gewahrt werden soll, hängt da die Bewegung der Menschen­

welt nicht wie an einem Faden? — Schneidet den Faden ab, und der Hampelmann, dessen lebhafte Bewegungen Euch eben noch be­ lustigten, liegt zusammengeklappt regungslos am Boden.

Der Grundsatz mag unserm Krämer noch eine Weile die gewohn­

ten Handlungen ohne alles Interesse fortsetzen lassen, wie lange? Mag der Mann sich durch Nachdenken und Erfahrung davon

überzeugt haben, daß die noch so geheim gehaltene, versteckte Ver­ letzung der begründeten Ansprüche auch des Geringsten, Wehrlosesten unter den Menschen sich endlich nach Jahrzehnten ganz unerwartet an ihm

unverhältnismäßig

schrecklich

rächen

kann,

und

deshalb

die Erfüllung aller begründeten Ansprüche als das ihm selber Vor­

teilhafteste sich zum Gesetze machen; er höre auf seinen eigenen Vor­ teil zu wollen, und er muß aufhören für den Vorteil anderer zu sorgen; so ist es, so bleibt es, aber können wir es uns so denken?

Der Krämer besümmt sein Verfahren für die gegenständliche

Welt, die vermeintlich als solche unabhängig von seiner Auffassung

vorhandene: noch eine Weile, und dasjenige, was er jetzt bloß denkt, wird weiterwirkend dem Zusammenhang der unabhängig vorhandenen Natur angehören: er wird das Kind redlich bedient haben, oder er ist

ein Betrüger gewesen. So gedacht aber steht dieselbe Handlung nicht mehr, wie etwa vorher, so lange sie bloß in seinem Kopfe war, in Beziehung bloß

zu seinem eigenen Wohl und Wehe, sondern im Verhältnis zu den

Vas menschliche Belieben Anfang, nicht (Eitle des Wollens.

83

Wünschen nnd Ansprüchen anderer Menschen, unzähliger, die dies Verfahren als auch einmal gegen sie geübt ansehen können.

Freilich nimmt ja gerade ans diese Eventualität für seinen eigenen Vorteil der finge Kaufmann Rücksicht nnd giebt sich die größte Mühe durch sein Verhalten gegen die Einzelnen die Menge an sich zu ziehen. Aber etwas Anderes ist die Handlung als z>l den Anforderungen

aller und zu meinen eigenen nur unter diesen im Verhältnis stehend zu denken nnd sie von diesem allgemeinen Standpunkte aits zu wollen,

etwas Anderes die Handlung nur für meinen eigenen Vorteil mit

verständiger Berücksichtigung der Thatsache, daß der Vorteil des Han­ delnden von dem Vorteil der von deut Verfahren Betroffenen abhängt,

erwägen.

Wenn ich aber die Handlung will genau so, wie ich sie nun als ein Sachliches denke, so will ich sie in Rücksicht auf meinen Vorteil

nicht niehr als auf den anderer, oft werde ich dasjenige, was ich zu meinem Vorteil wollte, als bloß in meinem Interesse, aber nicht

in dem gemeinen aller, zu wünschen, nicht niehr wollen, mitunter etwas dem gemeinen Interesse Dienendes statt des mir am meisten

Vorteilhaften nnd Bequemen wollen.

So werde ich, wenn ich aller­

dings im Geheimen wünschte auch ohne entsprechendes Verdienst in eine höhere Stelle int Staatsdienst aufznrücken, diesen Wunsch, für den nur mein Begehren, aber nicht der vernünftige Wunsch anderer spricht, vom Standpunkt dieser aus zurttckziehen, also den Anwalt meines eigenen Vorteils zur Mäßigung in seinen Forderungen ermahnen.

Dagegen aber, wenn ich z. B. mich auf die Erfüllung übernommener Amtspflichten, auf buchstäbliche Pflichterfüllung und Amtstreue zu be­ schränken wünschte, die Mußestunden aber dem Vergnügen zu opfern

im Sinn hatte, so werde ich nun vom Standpunkt des gemeinen

Vorteils aller aus den Wunsch fassen müssen, es möge

auch die

Mnßezcit nicht ilngenützt vorübergehen, also werbe ich mich zur Er6*

Weiterung meiner Teilname an den Bestrebungen für Wissenschaft

und Kunst, an öffentlichen Angelegenheiten anstacheln. Aber selbst wenn ich mich in der günstigen Lage befinde an

dem Verfahren, so wie ich es blindlings will, auch nach der Besinnung nichts ändern zu müssen, so ist doch dieselbe Handlung vor und nach der Besinnung nicht dieselbe.

Durch das Absehen von meinem eigenen Interesse an der Handlung, von den Beziehungen derselben zu meinem Wohl und Wehe, wird das heftige Verlangen nach der Verwirklichung wie die

Angst vor der Ausführung, die Leidenschaft, abgekühlt, und wir voll­ bringen dasselbe nun gleichmütig mit Ruhe als ein Notwendiges, was vorher hin und herbewegt vom Sturm der Leidenschaft. Als eine einmalige, flüchtige, vorübergehende Erscheinung tritt

vor das innere Auge des Hülflosen, Verlassenen, Hinausgestoßenen durch den Mord und die Beraubung seines schlimmsten Feindes, der eine große Summe Geldes auf einsamem Wege bei sich führt, sein

Schicksal zu verbessern.

Aber dem ruhig Erwägenden muß dieselbe

Handlung klar und deutlich in allen ihren Beziehungen als ein in

der Natur Vorhandenes und Weiterwirkendes, als ein für jedermann

Vorhandenes, als ein von anderen etwa gegen ihn Verübtes und, wenn als jedermanns Handlung, als eine allgemeine Weise zu handeln

sich aufdrängen. Würde er die Handlung nun noch wollen, so müßte er den einmaligen Vorgang als eine Weise, als ein Gesetz für alle wollen, für sich selbst, auch wenn er sich an Stelle seines Opfers

befände.

Sollte der Mensch nicht mit Ruhe, sei es thun, sei es

lassen, was ihn nun nicht mehr als Millionen vor ihm, nach ihm

angeht?

So tritt beim Durchbrechen der Morgensonne die Land­

schaft klar und leuchtend aus dem hinter Bäume, Häuser und Strom schrittweise zurückweichenden Nebel.

Was wir aber bis hierher als eine neben derjenigm des Natur-

Das menlchliche Belieben Anfang, nicht Ende des Wollens.

85

forfchers mögliche Auffassung der Handlungen ansahen, das ist die dem Menschen natürliche, sofern er die gegebene Natur als solche, zu der auch als eine Art von Naturereignissen die Handlungen der

Menschen gehören, als ein unabhängig Vorhandenes natürlicherweise

ansieht.

Dann aber will der Mensch von Natur jede Handlung als

eine Weise um eines dadurch bewährten, für jedermann geltenden Ge­

setzes willen und muß jede Handlung beurteilen und schätzen, sofern sie einem allgemein gültigen Gesetz entspricht.

Es muß aber so viele

Gesetze geben, als es Verhältnisse des Lebens giebt, weil so viel mögliche

Arten des Verhaltens.

Diese Gesetze aber können nicht aufgefaßt

werden als ein von dem Belieben jedes Einzelnen je nach seinem

eigenen Geschmack imd Vorteil Festgesetztes, da sie vielmehr dieses

Belieben oft zu

großer Beschwerde

des am liebsten rücksichtslos

seinem Glücke Nachjagenden einzuschränken dienen.

Sie scheinen also

nicht der Überlegung und Wahl des Einzelnen überlassen zu fein; vielmehr müssen wir meinen die in der Natur der Verhältnisse des

menschlichen Lebens begründeten Handlungsweisen nur der gemeinen Ansicht aller, die sich in herkömmlichen Sitten und Gebräuchen eines

Landes, einer Stadt, eines Standes ausdrückt, entnehmen zu dürfen, wenn sie sich überall in der Natur vorfinden.

Und gewiß ist die

Lebensweise eines Volkes nicht willkürlich gemacht wie die Statuten einer sich plötzlich bildenden Gesellschaft und befolgenswerter als diese. Der nach dem Herkommen lebende Mensch aber thut nichts

Anderes, als daß er in seinem Verhalten ein Beispiel liefert zu einem Gesetz,

das er selbst nicht gab, das aber die Völker in alter Zeit

nicht selten auf mehr als menschliche Gesetzgebung, auf eine Stiftung göttlicher Wesen zurückzuführen liebten. Und so kann es denn kommen,

daß der Europäer nach dem Herkommen der Malayen auf Java den Kopf zum Bezeigen, der Achtung bedeckt, den er zu demselben Zweck

in Deutschland entblößte, daß er in China bei einem Trauerfall die

Haare wachsen läßt, die andere Völker zum Zeichen der Trauer sich abscheeren. Wenn nun aber mancher, der das Landes- und Ortsübliche genau

beobachtet und mitmacht, damit groß thut vor dem, der nach seiner

Willkür davon sich Abweichungen erlaubt, würde er nicht bei einiger Selbstprüfung als Beweggrund jur Beobachtung einer lästigen und

veralteten Sitte die Annehmlichkeit, die er sich von der Unterwerfung unter dieselbe verspricht, finden, die Annehmlichkeit, die er dem Sonder­

ling als Beweggrund der Unterlassung zum Vorwurf macht? Nicht der Gedanke der Alpenreise als solcher veranlaßte den Gelehrten in den Ferien hinauszusahren, nur diese Reise als ein

Gutdünkendes, und wenn einer nicht gezwungen wird die Sohlen

auf den spitzen Steinen dünn zu tragen, wenn er sie nicht etwa willenlos trägt, weil sie ihm von seinem Schuster so geliefert werden,

so kann er die Mode, die irgend ein Geck in Paris erfand, nur mit­ machen und nur mitzumachen meinen, weil sie ihm gut dünkt. Warum aber sollte Kirchengehen und Wirtshausgehen verschieden geschätzt

werden, wenn das Vergnügen an der Handlung zu dem einen wie

zu dem anderen treibt?

Sie sind insofern gleichwertige Handlungen.

Auf das Vergnügen als den natürlichen Beweggrund aller mensch­ lichen Handlungen wurde man aber erst aufmerksam, als man aus die Eindrücke der Dinge als auf das einzig Gegebene sich zu be­ schränken bedacht war und als man der gegebenen äußeren Natur

gegenüber die menschlichen Meinungen und das auf Meinungen Be­ ruhende gering zu schätzen anfing. Da erkannte man einen Widerspruch zwischen demjenigen, was

der Mensch natürlicherweise am liebsten thut, rind dem Herkommen. Das Gesetz erschien als ein Gewaltherrscher, welcher die Menschen

zwingt vieles zu thun, was wider die Natur ist. Das wahre Naturgesetz aber nannten die Freunde der Natur

Das menschliche belieben Anfang, nicht Ende des Wollens. das des Vorteils des Handelnden.

87

So kluge Männer in Griechen­

land, die Sophisten, znr Zeit des Sokrates. Und wieder hören wir im achtzehnten Jahrhundert die klugen Männer in Frankreich, welche der Spur des Bako von Verulam

folgten, des Lobredners der Naturwissenschaft als der Mutter aller Wissenschaften, den AM Condillac das Gefühl der Lust und der

Unlust als einzigen naturgemäßen Bewegungsgrund menschlicher Hand­

lungen bezeichnen, Helvetius aber verkünden, es sei nicht zu verlangen, daß der Mensch interesselos handele.

Aber wenn auch der Naturforscher, ein preisenswerter Befreier des menschlichen Geistes vom Joche des Herkommens und des Wahns, mit Recht keinen anderen Beweggrund menschlichen Thuns kennt und anerkennt als die Lust und das Angenehme, ist damit der Versuch

des Menschen

die so begründeten Handlungen der gemeinen Auf­

fassung der Dinge gemäß zu denken und so, wie er sie nun denken

muß, zu wollen bereits als eine Verkehrtheit zu verwerfen? wir aber soeben

neben

Indem

die naturwissenschaftliche Betrachtung der

menschlichen Handlungen die natürliche stellten, wurde in der Unter­ suchung der Handlungen genau unterschieden, was doch in Wirklich­

keit nie geschieden ist, vielleicht zum Besten der menschlichen Thätigkeit

nicht geschieden sein darf.

Leuchtet doch das Licht nur in der Dunkelheit!

Vierter Teil. Die Welt jenseits der Natur eine Forderung, nicht ein Fund. 21. Wie aber?

Wir sollten berechtigt sein den gestirnten Himmel

mit allen seinen Wundern für ein bloß in Eindrücken unbekannter Gegenstände auf unsere Sinne Bestehendes zu halten und anderer­ seits den Gedanken auch einen Teil der Mußestunden, die uns der

Beruf übrig läßt,

nützlich zu verwenden als ein unabhängig von

aller menschlichen Wahrnehmung vorhandenes Gesetz anzusehen? um ihn danach, mit dem Römer Marcus Porcius Cato, dem Censor,

denkend, der rechte Mann müsse sich über seine freie Zeit nicht minder Rechenschaft geben als über seine Geschäftszeit, mit Zurücksetzung eigenen Vergnügens, eigener Bequemlichkeit zu verwirklichen? Eine Geltung,

die wir der sich allen Sinnen aufdrängenden

Natur versagen, sollten wir dem bloßen Gedankenbilde menschlicher Handlungen zuerkennen? Freilich wurde die Berichtiglmg der gemeinen Auffassung der

Natur nur zu Gunsten der Erforschung der gegebenen Naturgegen­ stände gefordert, damit die Vorstellungen von der Wirklichkeit in fort­

währender Annäherung an die Wahrheit sich erhalten. Warum also sollten wir nicht, absehend von dem Bedürfnis nach Naturwahrheit, die Welt und in chr die Handlungen des Menschen

als ein unabhängig von der Vorstellung Vorhandenes, als ein Sach­

liches denken, wie wir natürlicherweise thun?

Die Welt jenseit» der llntut eine Forderung, nicht ein Fund.

89

Wenn wir doch durch dieses Denke» den Plan der Handlungen

verbessern; — verbessern? was heißt das? Wenn ich, statt der natürlichen blinden Neigung gehorsam die

arbeitsfreie Zeit zu

vertrinken, zu verspielen, dem Gedanken einen

Teil der Mußezeit der Fortbildung in edlen Wissenschaften und Kün­

sten zu widmen Folge leiste, so wird ohne Zweifel nach dem ersten schweren Entschluß diese Zeitanwendnng als mir selbst und anderen

nützlicher mir besser gefallen als die vorher ohne Besinnung zuge­

lassene Zeitverschwendung. licher sein.

Wage weise zu sein, und du wirst glück­

Aber würde diese Erfahrung, daß ich mit der Zeit an

der Tugend Geschmack finde, mich berechtigen anzunehmen, ich habe

mich dem Gedanken dieser Handlung unterzuordnen, weil die Folgen der neuen Lebensweise und damit diese selbst mir gefallen, mir an­ genehm und reizvoll erscheinen? Hieße das nicht das helle Denken der Gewalt der dunklen Natur

unterwerfen?

Herakles dem

Dienste des Eurystheus?

Schätzt Ihr

doch den Baum höher als die Früchte eines Herbstes, schätzt Ihr ihn doch auch trotz des Mangels an Früchten in einem schlechten

Jahr, den Ihr freilich abhauen und ins Feuer werfen würdet, wenn er niemals Früchte brächte.

Mögt Ihr einen Luxus nennen, das

Denken in Eurem Leben zum Führer zu nehmen, und die Opfer an

eigener Bequemlichkeit, an eigenem Genuß zu bringen, die dieses Euch

zumutet, ist es ein verwerflicher Luxus? Ist es nicht das Licht, dem Ihr die Finsternis und die Werke des Dunkels opfert, dasselbe Licht, welches Euch in Euren Wissenschaften das Weltall beleuchtet?

Freilich könnten wir jenem Engländer nichts erwidern, der sagte, es sei ihm zu kostspielig ein Gewissen zu halten, wenn er anders

unter dem Gewissen die Herrschaft des Gedankens über das Thun und Lassen des Menschen verstand. Daß wir dieses Gewissen halten,

daß wir es halten können

trotz aller Anfechtungen es uns zu entreißen,

muß uns

genügen,

wenn wir die Scheidewand zwischen den stürmischen, unruhigen For­ derungen unseres Beliebens

und den

allgemein gültigen und not­

wendigen Gesetzen des Gedankens aufrecht erhalten wollen.

Aber

wenn wir, den Geist und die Kraft durch die That beweisend, die Fackel hoch voran tragen dürfen, um unsere Schritte vorwärts zu

erleuchten, so liegt doch das Leben hinter uns wieder im Dunkel, und wenn auch die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß unseren Krä­

mer der Gedanke den Kunden rechtlich zu bedienen bei seinem Ver­ halten dem Kinde gegenüber geleitet hat, so kann doch nicht einmal er

selbst entscheiden, ob die Erwägung seines Vorteils nicht im Geheimen mitgewirkt hat.

er

Man erzählt von Struthahn von Winkelried, daß

1386 in der Schlacht bei Sempach, als die Eidgenossen lange

an der eisernen Mauer der österreichischen und schwäbischen Lanzen

auf- und abschwankten, ohne einbrechen zu können, mit den Wor­ ten: treue,

liebe

Eidgenossen,

sorgt für mein

Weib und

Kind,

so will ich Euch eine Gasse machen — behende einen Arm voll Spieße faßte; „den sinen macht er ein gassen, End".

Aber selbst

sin leben hat ein

der redliche Erforscher

bei dieser That wird

des Vergangenen, um nicht Schatten nachzujagen, eine selbstlose Hin­

gabe des Winkelried für die Seinigen ohne einen Gedanken an seinen eigenen

Namen

nicht weiter

zulassen,

als

zuverlässige Gewährs­

männer ihn nötigen.

Hängt doch die Möglichkeit des immer erneuten Versuchs den Gedanken der Tugend zu fassen und zu verwirklichen nicht von dem Zugeständnis ab, es habe'jemals dieser Gedanke in seiner Reinheit einem Menschen vor der Seele gestanden.

Hat bis heute keiner den

Gedanken reiner Tugend gefaßt, so sei du heute der erste! Nur eine

Erwägung würde den Menschen in diesem Streben zu lähmen im­

standesein,

eine Erwägung,

die sich uns mit zunehmendem Alter

Bit Welt jenseits der Natur eine Forderung, nicht ein Fund.

immer mehr aufdrängt.

91

Ist nicht vielleicht das Streben nach reiner

Tugend ohne Rücksicht auf äußeren Erfolg den wagehalsigen Aben­

teuern zuzuzählen, deren Gedächtnis Geschichte und Dichtung aufbe­

wahrt haben? Wenn nttn dies Bestreben so schniählich endet wie der Flug

des Ikarus, an dessen Flügeln, als er der Sonne zu nahe kam, die Wärme das Wachs schnwlz, so daß er ins Meer sank nnd ertrank,

dürften wir desselben doch nicht müde werden? Hat nicht die fleischgewordene Vernünftigkeit, der Philister, der

Maß hält im Arbeiten wie int Genießen nnd bei genügendem Ein­

kommen dem Ende seines Daseins znschlendert, mehr Recht als der­ jenige, der mit Hingebung persönlicher Vorteile und Bequemlichkeiten einer dauernd nützlichen Arbeit der Wissenschaft Gesundheit und

Kräfte opfert ohne alle Rücksicht auf das Gefallen derer, für die er

arbeitet?

Will dieser Forscher nicht, daß sein Eifer erkaltet, daß ihm seine

Arbeit zuerst als eine Schwärmerei, zuletzt als eine müssige Lieb­ haberei erscheint, endlich ganz aufgegeben wird, so scheint von dem

Versuch nicht abgelassen werden zu dürfen die vom Gedanken ge­ forderte Thätigkeit als ein in der Natur der Welt und des Menschen Begründetes, in höherem Grade Begründetes als das Streben nach gegenwärtigen sinnlichen Genüssen und nach dem nächsten Vorteil, nach­

zuweisen.

Der Mensch würde,

scheint es, sich den Vorwurf der

Leichtfertigkeit nicht ersparen können, wenn er nicht nach einer Be­ gründung suchte für das Streben nach Reinigung des Handelns von

allem Interesse und wenn er sich in dieser Bemühung mit Geringerem begnügte als mit demjenigen, welches dieses Streben zu einer unaus­ weichlichen Notwendigkeit macht.

Daß allein der Gedanke der bloßen Möglichkeit der Reinigung

des Handelns vom Interesse im Andrange der Leidenschaften, der

92

vierter Teil.

Begierde zu genießen, zu haben, zu herrschen uns nicht rein zu machen

und zu erhalten vermag, wer ist ein Mensch und kann daran zweifeln? Was ist im Hochwasser ein Strohhalm für den Ertrinkenden?

22. Wo könnten wir nun, von der Naturforschung herkommend, eine

Begründung des Strebens, dem Gedanken nachzuleben, suchen, wenn nicht in demjenigen großen Ganzen, dem der Mensch, der Träger

jenes Gedankens, selbst angehört, durch eine besonnene Erwägung der

Stellung

des Menschen in der Natur und zu

den Mitmenschen?

Läßt sich aber hieraus das Streben nach uninteressiertem Handeln nicht begründen, so sei der schwindlige Tugendwahn Herr gewesen. Nun mag uns natürlicherweise

am

angenehmsten sein, keine

Blume am Lebenswege ungepflückt zu lassen und selbst für ein kleinstes Vergnügen einen großen Abweg nicht zu scheuen; wird uns nicht,

da wir voraussichtlich nicht bloß diesen einen Tag leben, schon die

Erwägung der Krankheit und Hinfälligkeit infolge der Ausschweifungen der Wollust ein mäßigeres Leben, als wir führen möchten, empfehlen,

also eine Einschränkung unserer Neigungen durch Abwendung vom Augenblicklichen und Heftigen zum Sanfteren und Dauernden? Und

wenn wir auch natürlicherweise vor allem und nach allem für unser

eigenes Vergnügen und Wohlergehen besorgt sind, so muß doch die Erwägung, daß wir mit anderen in Gesellschaft zu leben haben, mit

solchen, die uns auf mancherlei Weise schaden und nützen können,

uns veranlassen ihnen Dienste zu leisten, kleiner Vorteile größere zu gewinnen.

um durch Aufopferung

Ja, wir mögen mit Rücksicht

auf das eigene Interesse für zweckmäßig halten zu thun, was wir

im Allgemeinen als das Beste für die Gesamtheit ansehen, selbst

wenn wir im einzelnen Falle Schaden davon haben.

Hiernach wür-

Die Welt jenseits der Natur eine Forderung, nicht ein Fund.

93

den wir ein arbeitsameres, aufopferungsvolleres, friedfertigeres Leben

mit anderen znsammeit führen, als wir im Innersten natürlicherweise wünschen.

So möchten wir auch ferner dafür halten, daß die wahrsten, innigsten, wünschenswertesten Vergnügungen die Genüsse des Gau­

mens und des Geschlechts sind, und würden doch die dauernde Geistes­

ruhe, die Freiheit von Angst und Einbildung, die Freuden der Er­

innerung >md der immer erneuerten und

fortgesetzten Unterhaltung

mit Freunden für dem Menschen, der nicht rasch wie die Eintags­

fliege wieder vergeht, wichtiger und wesentlicher anseheit und als solche empfehlen.

So niöchten wir immer das Selbstkosten, Selbst­

haben, Selbfcherrschen für das höchste natürliche Gut des Menschen

halten,

für den schwachen, allen Unbilden der Menschen preisge­

gebenen Einzelnen würde sich mehr empfehlen sich die anderen zu Freunden zu machen und zu erhalten, um ein wenn auch nur beschei­

denes Maß seiner Wünsche wirklich zu erreichen.

Die ruhige Erwägung der Stellung des Menschen in der Natur

schein! also zur Ermäßigung der selbstsüchtigen Neigungen und Leiden­ schaften aufzufordern, ja zur Abtötung dieser 9tatur in uns bis zu einem hohen Grade, da die Nichtbefriedigung derselben doch nur un­

zufrieden macht.

Das selbstlose Verhalten, nennen wir es Tugend,

erscheint so als eine Vollendung der Natur mit Hilfe ruhiger Be­ trachtung, aus jener aufsteigenb wie die Blume aus dem Weine.

Aber auch die einem solchen Verhalten entsprechende selbstlose Gesinnung? Und ein gründlich selbstloses Verhalten, welches Opfer zu bringen vermag? Nicht nur hat derjenige, welcher bloß mit Rück­ sicht aus die Zukunft auf augenblickliche Vergnügungen und auf Be­

nachteiligung anderer verzichtet, keine Veranlassung so zu denken, wie er handelt; er darf selbst mit geheimem Neid auf das Leben eines Genossen blicken, der sich wie ein Schwein behaglich im Kote der

sinnlichen Genüsse wälzt, da dieser ja dem wahrhaft Wirklichen nach­ jagt und es auch für einen Augenblick erfaßt.

Konnte doch das Herz

unseres Weisen trotz aller klug erwählten Mäßigkeit und Dienstfertig­ keit des äußeren Betragens das einer Bestie bleiben.

Weit verkehrter aber als dieser verabscheute und im Geheimen geliebte Leichtsinn der zügellosen Natur muß ihm

erscheinen:

die

eigene Ruhe und das eigene Wohlbefinden für das Gemeinwohl eines

Staates zu opfern, ohne sich je genug zu thun, wie ein Perikles,

seit er an die Spitze Athens trat, nicht gesehen wurde, wenn nicht

auf dem Wege nach dem Rathause, zur Volksversammlung, die Stadt Athen zur mächtigsten und angesehensten in Griechenland machte und starb, ohne daß sein Vermögen um eine Drachme, sagt man, zuge­ nommen hatte. Gar als einen Wahnsinnigen aber wird er den bemit­

leiden, der sich einer Wissenschaft so völlig hingiebt wie Archimedes, der Verteidiger von Syrakus, der Kreise im Sande ziehend dem auf ihn zustürzenden feindlichen Soldaten zurief,

er solle ihm seine Kreise

nicht stören, und starb. Eine solche Hingabe an eine Wissenschaft, an das Wohlbefinden

Fremder begründet zu finden müßten wir uns in eine andere als die uns zugängliche Welt der Sinne versteigen.

Freilich daß wir gerade bei strenger Einschränkung unserer Er­ kenntnis auf die Eindrücke der Dinge die Möglichkeit einer ganz anderen

Ordnung der Welt als der uns bekannten nicht leugnen können, ent­ ging auch nicht dem Epikur, der im Zeitalter Alexanders des Großen

die Ableitung der Tugend aus der Natur versuchte.

Aber für un­

sinnig hielt er diesen Raum mit Schreckgespenstern zu bevölkern, die

uns in diesem Leben eine Arbeit aufdrängen, der wir uns gerade ent­ ziehen möchten.

Vernünftiger scheint zwar die Möglichkeit des Daseins über­ menschlicher, göttlicher Wesen einzuräumen, aber nur als ungefähr-

95

Die Welt jenseits -er Natur eine Forderung, nicht ein Fund.

licher Puppen, denen wir keine Einwirkung auf Welt und Menschen­ schicksal zu gestatten brauchen.

Aber kann nun int Ernst die Einschränkung des selbstsüchtigen Verhaltens, die ans der Stcllnng des Menschen in der Natnr ab­

geleitet wttrde, dem Gedanken der selbstlosen Mäßignng und Hin­

gebung verglichen werben? Sie ist mir eine Fratze derselben, ihr nicht mehr gleich als ein Orang-Utang dem Apoll von Belvedere.

Der Versuch die Tugeitd als Gesinnung ans den äußeren Ver­ hältnissen des Menschen in der Natur abzuleiten konnte nicht ge­

lingen, da aus Äußerem höchstens die Geberde eines Inneren, nicht

dieses selbst hervorgehen kann.

Da aber dem Naturforscher ein Handeln ohne Interesse nicht

anders als ein Handeln ohne Beweggrund erscheinen kann, so ist nicht einzusehen, wie der Physiker für dasjenige, was er vorkommendeit Falls doch leugnen müßte, nach einer Begründung suchen sollte.

Freilich leugnet, wer die Wirklichkeit der Tugend, noch nicht den Gedanken.

Und diesen mindestens scheinen wir als ein Wirkliches ein­

räumen zu müssen, ehe wir uns nach einer Begründung und Stützung

der Ttigend umsehen.

Was für eine wunderbare Thatsache ist aber

dieser Gedanke des selbstlosen Handelns? Der Krämer hält für notwendig das Kind gleich wie einen Er­ wachsenen redlich zu bedienen, er thue es nun gern oder mit Wider­

streben, diese Handlung erscheint als eine unabänderliche, in der Sin­

nenwelt zu verwirklichende Sache, seine Neigung oder Abneigung als ein von dem Gedanken der Sache Abhängiges, Unwesentliches.

Und

während die Lust, die Unlust mir ein durch die Sache Gewirktes sind, ein Leiden, ist der Mensch in dem Denken der Handlung als einer ohne Rücksicht auf das Interesse auszuführenden selbstthätig.

Wenn nun dieser Gedanke das Wirkliche ist, können Vergnügen und Schmerz, das gesamte Interesse des Menschen, wohl anders be­

zeichnet werden denn als ein Wesenloses, Gleichgültiges, welches nur

dadurch Bedeutung bekommt, daß es niedergetreten wird und daß wir den Gedanken der selbstlosen Handlung ihm gegenüber aufrecht erhallen und durchsetzen? Geißelhiebe

Spartanische Knaben mußten

ertragen lernen,

ohne zu zucken,

am Altar

um ihrer selbst, der

zur Unterwerfung bestimmten Natur in ihnen, mächtig zu werden.

Wenn nun der Krämer die redliche Bedienung des Kindes ohne

sein Interesse will, also als etwas für alle in gleichen Verhältnissen Gültiges, als eine Handlungslveise, als ein Gesetz, scheint da nicht

der Gedanke der selbstlosen Handlung als

ein Wirkliches im In­

neren des Menschen auf eben so wirklichen allgemeinen Gesetzen in der

Natur der Menschen und Dinge zu beruhen, die wir im Thun und

Lassen auszusühren haben? Wer diese Gesetze nicht des menschlichen Beliebens, vielmehr für

das menschliche Belieben, nicht kennt, wie kann er Tugend üben?

Und wenn nun unser Krämer seinen Kunden zu Gunsten des eigenen Geldbeutels benachteiligt, er würde es nicht gethan haben, wenn er

die Gesetze besser gekannt hätte. Der rechtschaffene Kaufmann führt aber in seinem Verhalten nicht bloß ein Gesetz aus, er sieht bei der redlichen Bedienung des

Kunden, wer er auch sei, hinaus über den Umkreis seiner eigenen Person, er lebt für die Interessen anderer Menschen, für einen wei­

teren Kreis.

Dies also scheint das andere Merkmal selbstloser, den

Gesetzen entsprechender Handlungen zu sein: Thätigkeit für einen grö­ ßeren Kreis.

Tugendhafter wird hiernach der Mann sein, der für

seine Familie, für seine Vaterstadt wirkt, als der für sich

allein

lebende, vollkommen aber erst der für die ganze Welt sorgende und

denkende, der Weltbürger.

Armer Steineklopfer!

Die Welt jenseits der Natur eine Forderung, nicht ein Fund.

97

Eröffnet uns aber so der Gedanke des selbstlosen Handelns als

eine einzigartige Thatsache der Natur den Zugang zu einer Welt von Gesetzen für das Thun und Lassen des Menschen, so dürfen wir von

der zunehmenden Erkenntnis dieser Gesetze eine zunehmende Unter­

drückung des tierischen und sinnlichen Selbst und eine Reinigung der Handlungen von allem eigenen Vergnügen und Nutzen des Handeln­ den erwarten.

Schließlich werden wir Vergnügen und Schmerz für-

weniger als nichts achten und andererseits nicht bloß am Wohl un­

serer Familie, unserer Stadt, unseres Volkes, sondern an dem der ganzen Menschheit thätigen Anteil nehmen.

Wie lange? Behalten wir, wenn die Neigungen erstorben sind und wir Lust

und Schmerz als doch der Vernichtung geweiht nicht wieder auf­ kommen lassen, noch etwas übrig zu bändigen?

Unsere Mäßigung würde danach nur noch die des Schauspielers sein, weirn er den weisen Nathan spielt. Und wer Lust und Schmerz in sich so gering achtet, wird er

das Vergnügen anderer an den Gegenständen höher schätzen und für

die Befriedigung derselben mit aufrichtiger Hingebung

thätig

sein

können?

Höchstens wird er diese Hingebung einem anderen zn predigen Lust und Eifer behalten. Zeno aus Citium auf Cypern unternahm,

etwa zu gleicher

Zeit mit dem vorher erwähnten Versuch des Epikur, aus der That­

sache des Gedankens des selbstlosen Handelns diesem zu Grunde liegende Gesetze der Natur, nach welchen der Mensch sein Leben zu ordnen habe, abzuleiten.

Aber weder von ihn, noch auch von seinen

Nachfolgern in Griechenland, den Stoikern, hören wir, daß sie etwas

Anderes als Lehren und Predigen geübt haben.

Auch fanden sie den

Staat über den Wolken, für den sie allein mit Aufrichtigkeit hätten Romundt, Antäns.

.

7

Vierter Teil.

98

wirken können, nirgend vor: den Staat ohne Ehe, ohne Familie, ohne

Tempel, ohne Gerichtshöfe, ohne Turnhallen, ohne Münze — kurz: den Staat des Menschen ohne die verachteten menschlichen Bedürfnisse.

Wenn nun die Tugend des Epikur, ein Äußerliches, der Tugend selbst, dem Gedankengleichen, nicht mehr ähnelte als der Affe dem Menschen, so verhält sich die Tugend der Stoiker, ein Lebloses, zu der Tugend selbst, dem jede neue Handlung ursprünglich gestaltenden

Gedanken, wie ein Gipsabdruck zir einem lebendigen Menschen. Mit Fug wird von den Stoikern das Handeln ohne Interesse

als der Gedanke der Tugend gefeiert, aber sie nehmen die Veran­

lassung und Gelegenheit zu solchen Handlungen, weil sie Lust und

Schmerz, das Interesse des Menschen, geringschätzen und damit die un­ erschöpfliche, lebendige Quelle aller Thätigkeit des Menschen verschütten.

Dies aber hätten sie nicht gethan, wenn sie den Gedanken des

interesselosen Handelns, der gar nicht hoch genug geschätzt werden kann, wenn sie den Gedanken der Tugend nicht überschätzt hätten: als

eine vorzufindende Thatsache des menschlichen Bewußtseins, und er ist doch nur ein möglicher Gedanke des Menschen.

Von diesem

Gedanken dürfen wir nicht einmal behaupten, daß ihn je im Laufe der Jahrtausende ein Mensch gefaßt, geschweige in Handlluigen ver­

wirklicht hat. Nur so, der Wahrheit gemäß,

als

ein immer Ersterbendes,

immer wieder zu Belebendes angesehen, bleibt der gewagte Gedanke der Tugend der beweglichen Flamme zu vergleichen, welche die Holz­ stücke verzehrt und verwandelt, welche aber immer neuer Nahrung

durch Holzstücke bedarf, um nicht zu erlöschen.

23. Die Epikuräer und die Stocker, in allem uneinig, stimmen mit

einander überein in dem Bemühen den Menschen nicht da zu lassen,

wo er steht; indem die einen ihn zum Diener desjenigen erniedrigen, welches er doch vielmehr zu beherrschen bestimmt ist, des Vergnügens, die andern ihn zn vornehm machen, als daß er ferner seine Hände mit Arbeiten für das gemeine Bedürfnis von Menschen beschmntzen dürfte. Ihr gemeinsamer Fehler ist Unkenntnis des Gegenstandes, mit dessen Ableitung aus der Natur des Weltalls, des Menschen sie geschwind bei der Hand sind: der Tugend. Wenn sie den Menschen ans den Versuch eingeschränkt gesehen hätten die Handlungen, zu denen Lust und Vorteil treiben, ohne Rücksicht auf Lust und Vorteil zu denken und danach alle Kräfte anzustreugeu, um den Gedanken in Handlungen zu verwandeln, so möchten sie immerhin die Meiunug gefaßt haben, der Mensch habe mit zunehmender Lebenserfahrung und Weltklugheit sich allmählich gewöhnt zu seinem eigenen daneruden Nutzen vorläufig von seinem Vorteil abzusehen und sogar auch, er lebe, wenn er für andere lebe, mehr für sich wie auch mehr in Übereinstimmung mit der wahr­ haften, verborgenen Natur des Weltalls. Sie würden sich erst ge­ fragt haben, ob jener doch nicht unmögliche Versilch zn denken, der Gedanke der Tugend, nicht vielleicht verdorben wird durch Anknüpfung an immer ungewisse, der Veränderung bedürftige und fähige Meinun­ gen über die Natnr des Menschen und der Dinge. Wir würden zwar leicht machen, was schwer ist, aber auch das Ungemeine, von dem doch der Gassenkehrer nicht weiter entfernt ist als der König aus dem Throne, wertlos. Die prächtigen Gedanken­ gebäude der Philosophen, in welche man die Menschen hinein leitete, um sie zur Tugend zu verführen, liegen in Trümmern; — durch die Jahrtausende täglich und stündlich mögen sich Menschen bemüht haben das, was ihnen gefiel, zn thun, ohne an ihr Gefallen zu denken, ohne zu fragen, warum. Ein junger Kaufmann kommt die Straße daher den Kopf voll

100

Vierter Teil.

von Gedanken über ein Geschäft, welches er in einem anderen Stadt­ teil abzuschließen hat; als er über eine Brücke geht, sieht er im Flusse einen Mann in Lebensgefahr.

Er wünscht dem Manne das Leben

zu erhalten, der Fluß ist tief: was soll er thun? Er würde keine Tugend beweisen, wenn er kopflos ins Wasser spränge, ohne schwim­ men zu können, und zwei Leben statt eines unnütz in Gefahr brächte;

da er des Schwimmens kundig ist, so weiß er, was das Richtige

ist, was er von allen in gleicher Lage gethan wünschen, wenn nicht verlangen, würde.

Er springt ins Wasser und hat einen Säufer,

der sich ertränken wollte, vielleicht für ein unnützes Dasein gerettet.

Die That preisen alle, nicht füglich der Retter, der nicht wissen

kann, wie weit ihn der Gedanke der Notwendigkeit der Handlung allein bestimmt hat. Welche Veränderung aber ist an der Handlung, zu der unseren

Kaufmann das Mitgefühl gegen die Stimme der Selbstsucht antrieb,

durch die Besinnung vor der That veranlaßt? Äußerlich dieselbe ist sie nur für das Denken eine andere: er

soll jetzt das Leben des Ertrinkenden retten, vorher wollte er es nur.

An sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu, sagt Hamlet.

Wie aber? Unser Kaufmann, gutherzig, wünschte dem Ertrin­ kenden das Leben zu erhalten.

Weniger gutherzig, wäre er weitergegangen, den Mann ruhig seinem Schicksal überlassend.

Ist ihm ein Vorwurf daraus zu machen, wenn er von Natur

weniger gutherzig als ein anderer ist? Er sah den Mann mit den Wellen kämpfen, er selbst will leben

und kann wissen, daß alle gern leben; von Natur gutmütig oder nicht, er ist ein Mensch und kann daher wissen, daß der Mann, wenn

möglich, zu retten ist.

Von seinem Pudel erwartet der Kaufmann

Die Well jenseits der Natur eine Forderung, nicht ein Fund.

nicht, daß er atis eigenem Antriebe ins Wasser springt,

101 um den

Menschen zu retten. Aber der Kaufmann war in Aufregung über ein für ihn vor­ teilhaftes Geschäft, das er vielleicht über dem Aufenthalt auf seinem

Wege versäumt, dessen Abschluß ihm über große Verlegenheiten weg­ helfen würde: ist von dein Aufgeregten zu verlangen, was von dem

in aller Riche Müßigstehenden? Das ruhige Erwägen und Beschließen mag dem durch die Vorstellung des drohenden Geschäftsverlustes Er­

regten schwerer werden, aber wer will beweisen, daß irgend welche Eindrücke, Vorstellungen, Gefühle das Denken der Handlung ver­

hindern, daß es dem Menschen im Sturme der Gefühle unmöglich ist sich das Gesetz seines Thuns und Lassens zu geben?

Die Ein­

geschränktheit unserer Erkenntnis auf die Eindrücke der Dinge erlaubt uns die Möglichkeit der Gesetzgebung für uns selbst in allen Lagen,

wenn wir nur wissen, wo wir sind und was wir thun, wenn wir nur bei uns sind, zu behaupten, d. h. die.Freiheit des Wollens.

Aber ein anderes ist: ein Gesetz geben, ein anderes: ein Gesetz

in Handlungen ausführen. Wenn aber unser Held trotz der Aufregung, in der er sich be­

findet, nach unbefangener Erwägung seiner Kräfte, dem Manne beizuspringeu für geboten erachtet, haben wir nicht anzunehmen, daß derselbe Gedanke auch alle Mittel, die den: Menschen zur Verfügung

stehen, aufzubieten vermag, so daß er kann, was er will? Auf dem Standpunkte des Naturforschers wenigstens können wir dem Denken, von dem er nichts weiß, nichts wissen kann, diese Macht

nicht absprechen und werden sie ohne Beweis annehmen müssen, um

thun zu können, was wir wollen. So haben wir nun dem Gedanken eines Anfangens ohne Vor­ aussetzung, ja int Widerstreit zu dem Vorhergehenden, zu allen Ge­

fühlen der Stift, zu allen Vorstellungen vom Vorteil, welchen wir

102

vierter Teil.

für die Naturbetrachtung weder vermeiden noch zulassen konnten, für

das Wollen und Vollbringen der Handlungen Platz eingeräumt. Für den Geschichtsforscher aber wird damit nichts geändert.

Er

wird bei der Betrachtung der That des Winkelried, dieselbe als wirk­ lich geschehen vorausgesetzt, unter den Beweggründen den Gedanken

an Nachruhm nicht ausschließen können, den doch Winkelried selbst,

wenn er war, der er sein soll, nicht zulassen konnte. So gleicht der Mensch auf seinem Lebenswege dem Schiffe, das die Wogen vor sich immer aufs Neue teilt und durchschneidet, hinter

ihm aber schlagen sie zu einer Furche wieder zusammen. Wenn aber das Schiff nach vielfachen Allsbesserungen ausge­

dient hat, wird es abgetakelt; mag nun der Mensch, der sich der Herrschaft der Besinnung unterwirft, im Kainpfe gegen den alten, immer neuen Widerstand der Neigungen, der Bequemlichkeit, seiner

selbst immer mehr mächtig werden und fähiger zu selbstlosem Thun, wird ailch er endlich, wenn er Schiffbruch leidet, wenn seine Kräfte abgenutzt sind, am Strande liegen wertloser als am Anfang, ohne

Gewinn und ohne Hoffnung? Niemand lveiß, ob er nicht in der näch­ sten Stunde dllrch deil Tod mitten ans der Arbeit abgerufen wird,

und warum dann die Arbeit beginnen? Es genügt uns also nicht die Zuversicht anfangen zu sönnen jeden Augenblick zu wollen und zu thun, was wir sollen; wir müssen

auch die Gewißheit haben, daß demjenigen, was tvir anfangen, nicht die Fortsetzung fehlt bis zur Vollendung, selbst wenn der Faden,

den wir spinnen, vor unseren Augen plötzlich wie von einer unsicht­ baren Hand durchschnitten wird.

Kein Mensch nun kann von einem Dasein nach dem Tode wissen,

kein Naturforscher kann die Behaliptung eines solchen außer für die Natur bestreiten, jedem aber steht frei, um beharren zu können in

dein Anfangen der Tugend ohne Aufhören, von dem Gedanken eines

Pie Welt jenseits der Untur eine forbernnij, nicht ein Fund.

103

unsichtbaren übersinnlichen Selbst Gebrauch zu machen, dessen

Dasein wir erhalten und fördern durch diese Bemühungen auf der Erde. Für den Naturforscher aber wird nach wie vor der Mensch, wenn er gestorben ist, zur Erde.

Das Schiff ist für die Fahrt über das Meer gebaut und wird, wenn es nicht von Anfang an paßte, diesem einzigen Zwecke, wofür es bestimmt ist, durch Verbesserungen mehr angepaßt. Wozu aber ist der Mensch bestimmt, dieser Inbegriff der niannig-

faltigstcn Bedürfnisse und Kräfte, dieser Inbegriff der mannigfaltig­ sten Schwächen der natürlichen Vermögen, gemessen an den ihm ge­

stellten Aufgaben? Sahen wir doch nicht Jahrhunderte, sondern Jahrtausende ver­ gehen, bis die Menschheit znni Erwerb gründlicher Natnrerkenntnis

ihre Beobachtungsvermögen und ihre Deukkräste zweckmäßig anwen­

den lernte. Durch Unterwerfung des Thuirs uud Lassens unter die Besin­

nung mag der Mensch jeden seiner Schritte fest und sicher machen,

so daß er ruhig eiuhergehen kann in der Überzeugung, von möglichen Jrrtüniern und Versehen abgesehen, habe keiner den Fuß anders

setzen können als er, aber bringen diese Schritte ihn dem Ziele näher, das sich zu setzen er nicht unterlassen kann, der Befriedigung seiner

natürlichen Bedürfnisse und Wünsche, seinem Glücke?

Bemühe ich

mich so zu handeln, wie ich wollen kann, daß die anderen in der­ selben Lage handeln, so darf ich zwar erwarten, daß andere Men­

schen dies Bemühen höher schützen, als wenn ich rücksichtslos meinem

eigenen Vorteil nachjage.

Aber die Achtung der Menschen und die

daraus entspringenden Ehr- und Gunsterweisungen mögen zwar der

rechtlichen Gesinnung gelten, werden aber bereits für rechtliche Hand­ lungen gespendet, und die meisten Annehmlichkeiten würden, scheint es, demjenigen zuteilwerden, der mit deni Schein der unerschütter-

Vierter Teil.

104

lichen Biederkeit die Übervorteilung aller schlau zu verbinden wüßte; wenn er nur klug ist! Der Ertappte aber muß für einen Stümper

gelten.

Der wahrhafte Weltweise ist nicht der einfach edle Mann,

der nicht gut scheinen, sondern sein will, vielmehr wer das, was ihm Tugend ist, zweckmäßig den Verhältnissen und den Meinungen

der Leute anzupassen und sein Lebensschiff zeitig in dem sicheren Hafen

zu bergen weiß. So muß für denjenigen, der das natürliche Verlangen nach Glück

nicht anfgeben will und weiß weiß, schwarz schwarz sein läßt, der Gedanke des selbstlosen Handelns für diese Welt im Preise sinken.

Er wird die Last, die er bis dahin getragen hat, nicht sofort ge­ wissenlos sich erleichtern wollen, aber er wird sich nach dem Ende des Weges als nach einer Erlösung sehnen und mit geheimem Wider­

streben weiterkeuchen.

Durften wir nun nicht, um der Wahrheit wie um der Tugend willen, den Gedanken der Tugend an Lust und Vorteil anknüpfen

lassen, so würde nicht weniger verkehrt sein unnötiger Weise den Haß gegen die Tugend in der Brust des Menschen als Genossen des Strebens nach Tugend zu belassen.

Können wir uns mit dem Ende des Cesare Borgia, welches die

Geschichte berichtet, nach den Greuelthaten desselben zufrieden geben? Dieser Unmensch zog, wie erzählt wird, trotz der mutmaßlichen Ab­ sicht nach seinem Vater, Alexander VI., den päpstlichen Stuhl zu

besteigen und den Kirchenstaat als weltlichen Staat zu behaupten, in

dem erschrockenen Rom des Nachts mit seinen Garden umher, um seiner tollen Mordlust ein Genüge zu thun, vielleicht an ganz Un­ bekannten,

er vergiftete sich aber zugleich mit seinem Vater, dem

Papst, im Jahre 1503 mit einem schneeweißen, angenehm schmecken­ den Pulver, indem er zufällig von dem für einen reichen Cardinal bestimmten Konfekt genoß.

Ist aber diese zufällige Selbstvernichtung

ein angemessener Lohn für solche Ruchlosigkeiten? So auch genügt uns als Menschen, als vernünftigen Menschen von Verstand und Sinn, nicht für den Rechtschaffenen das Bewußtsein seines rechtschaffenen Lebens, das er sich aufrichtiger Weise nicht einmal ohne Bedenken gestatten darf, geschweige das Leid als Lohn, vielleicht wegen der Un­ zulänglichkeit seiner natürlichen Kräfte zur Verwirklichung seines Wollens, vielleicht wegen der Verkehrtheit der Verhältnisse und der Menschen, unter denen er lebt, wie die Hinrichtung des Sokrates für die ein Leben lang fortgesetzte Bemühung die Tugend vom Herkommen unabhängig zu machen. Da wir nun aber, beschränkt auf die Eindrücke, die Natur der Dinge selbst nicht kennen, so steht uns frei den Gedanken einer über der Natur stehenden Gottheit, als welche die Schicksale der Menschen mit ihren Verdiensten auf der Erde auszugleichen vermag, wenn nicht in diesem Leben, so in einem Dasein nach dem Tode, als ein Wirk­ liches anzunehmen, um beharrlich bis ans Ende unseres Lebens trotz alles Mißgeschicks die Bemühung um ein tugendhaftes Leben erneuern zu können. Für den Geschichtsforscher aber schlief Cesare Borgia, von dem der venezianische Gesandte Paolo Capello im Jahre 1500 meldet, ganz Rom zittere von dem Herzog Cesare ermordet zu wer­ den, da man jede Nacht zu Rom 4 oder 5 Ermordete finde, nämlich Bischöfe, Prälaten und andere, ruhiger in seinem Bett als die Rö­ mer, es sei denn, daß er anderes berichtet findet. So nahmen wir Freiheit des Wollens und Vollbringens, Unvergänglichkeit der Seele, Herrschaft eines gerechten und allmächtigen Gottes nur an, um auf dem unermeßlichen Meer des Lebens immer wieder mutig von der Küste abfahren und unterwegs unseren Kurs ruhig halten zu können, mögen wir nun die uns vorschwebende andere Küste erreichen oder auf hoher See in den Wellen begraben werden. Für denjenigen aber, der nicht den Versuch macht sich selbst

106

vierter Teil. Die Welt jenseits der Natur ic.

das Gesetz seines Thuns zu geben und alle Kräfte zur Ausführung dieses Gesetzes anfzubieten, ist Freiheit als ein Durchbrechen der Kette

der Naturereignisse ein Wort ohne Sinn, und wie sollten Leben nach dem Tode und Gottheit für ihn etwas Anderes sein als von den Wolken verdeckte Sterne?

Den aus der Natur verwiesenen Gedankendingen ist bis jetzt Geltung wieder verschafft nur für die Menschen, welche frei sein wollen, nicht für die Sklaven ihrer Natur, nicht für alle Menschen.

Fünfter Teil. Der Zweifel des Menschen nn der Berechtignng miD Erfüllung der (yovbciiiiu'j eines IensciIö Anfnng, nicht Ende des Glaube ii s.

24. Der Krämer, der sich bewußt ist jung imd alt gleich redlich bedient zu haben,

mag insofern mit Ruhe in die bimste Zukunft

nach diesem Leben hinanssehen, jedoch mir, wenn er sich das Zeugnis

geben darf, er habe die von ihm geiibte Redlichkeit im Handel als solche ohne irgend einen Gedanken an sein eigenes Wohl und Wehe

gewollt. Wie aber muß über die Redlichkeit der menschlichen Gesinnung der aufrichtige Geschichtsforscher urteilen?

Sein Bestreben ist ja

durch den von der Unwissenheit über die Vergangenheit des mensch­ lichen Geschlechts gebreiteten Nebel hindurchzudringcn, nm nmnche

im Nebel riesig erscheinende Gestalt zu ihrer wahrhaften Bedeutungs­ losigkeit zu verkleinern.

Nur die Sage läßt die Geschichte Roms

mit dem Göttersohne Ronmlus an der Spitze einer Reihe von Königen beginnen, nur für denjenigen, welcher der Sage anhängt, ist Rom an einem Tage erbaut worden, nicht für Mommsen.

Öfter noch mag es

unbefangener Geschichtsforschung gelungen sein unscheinbare Umstände

als die wahren Ursachen wichtiger Ereignisse ans dem Versteck hervorzuziehen. Tank den Bemühungen der Geschichtsforscher treten nun klar in

ihrer ganzen Scheußlichkeit hervor nicht bloß Männer wie der Papst Alexander VI.,

dem man zutrauen konnte,

er hätte auch die noch

übrigen reichen Cardinäle und Prälaten aus der Welt geschafft, um sie zu beerben, wenn er nicht mitten in den größten Absichten für seinen Sohn im Jahre 1503 dahingerafft wäre; sondern Schurken

wie dieser Sohn des Papstes, Cesare Borgia, selbst, dessen Augen, wie man vom Tiger sagt, größer waren als sein Appetit. zwar die gleichen Frevelthaten sind von

Nicht

den stillen Gelehrten zu

berichten, welche sich vor dem Gift der Borgias in eine Landstadt

zurückzogen.

Aber wenn die Überlieferung ihr Leben vor uns aus­

breitete wie das jener Scheusale, würde der Geschichtschreiber nicht vielleicht zu urteilen haben,

daß sie nicht als Schuldlose an dem

ihnen beigebrachten Pulver gestorben sind?

Ja, wenn ein solcher

mitten unter seinen Büchern starb, ohne je gelogen und betrogen zu haben, um etwa durch Ränke in eine Stellung zu gelangen, die sei­ nem Verdienst versagt blieb, waren es nicht vielleicht nur der gute

Name in diesem, die gehoffte Seligkeit in einem anderen Leben, für

die er unterließ, was er ohne diese Rücksicht auf sein Behagen täg­ lich, stündlich versucht hätte? Der den

Gründen

menschlicher Thaten

Nachforschende

wird

demjenigen, der für die Selbstlosigkeit des menschlichen Thuns eintritt,

der natürlichen Eingeschränktheit seines Wissens von der Natur be­ wußt, zwar nicht

die Möglichkeit

derselben bestreiten.

Aber, da

selbstloses Handeln für uns so viel ist wie unbegründetes, so wird er, unterstützt durch die Enthüllungen der strengeren Erforschung der

Vergangenheit, bei allem Anscheine der Selbstaufopferung die Mög­ lichkeit einer von uns

vor uns selbst versteckten Rücksicht auf die

eigene Annehmlichkeit als das Natürlichere behaupten, so lange bis,

was nicht nachgewiesen werden kann, ihm nachgewiesen ist: die Rein­

heit der Gesinnung.

der Forderung eines Jenseits Anfang, nicht Ende des Glaubens.

109

Wenn nun aber andererseits der Verteidiger der Tugend für das Leben die Möglichkeit reiner Tugend für die Zukunft dem Wahr­

heitssinn des Geschichtsforschers, mag er ihm auch alle Heldenthaten

der Vergangenheit zur Vernichtung überlassen, nicht preisgeben will und darf bei der Beschränktheit der menschlichen Einsicht, so bleibt

für den Menschen,

der beides, Wahrheit nnd Tugend, will, nur

übrig die Möglichkeit einer Thatsache ganz neuer Art für

die

Menschheit anzunehmen. Da der Mensch, welcher wollen kann, was er als recht erkannt

hat, nicht im Willen von der Bahn des Rechten abweichen kann

ohne seinen Willen, so ist der Mangel an Reinheit der Gesinnung dem Freund der Wahrheit nicht einzuräumen, ohne daß wir nicht etwa,

woran der Naturforscher denken würde, eine Verderbtheit der mensch­

lichen Natur, sondern vielmehr eine, wie immer im Menschen versteckte, Bereitwilligkeit behaupten, wenn auch nicht in der äußeren Art und Weise des Handelns, so doch im Wollen derselben, vom Gedanken des

Rechten abzuweichen und das Notwendige ans Belieben thun zu wollen. Demnach mag ein Mensch ruhig in seinem Bette sterben,

er

sei sich auch nicht bewußt ein Unrecht gethan nnd etwas Rechtes unterlassen zu haben, er wisse nur, daß er z. B. jemals die Wahrheit sagen wollte

aus Liebe zur

Wahrheit oder daß er übernommene

Amtspflichten je aus Vergnügen an dem Berufe erfüllen wollte —

nnd vielleicht erfüllte er die Obliegenheiten des Berufes sogar besser, indem er sie sich leichter machte!

Damit stieß er auf einen Grund­

satz als auf ein lebendiges Wasser in der Tiefe seines Inneren, von

dem anzunehmen, es sei der in der Tiefe verborgene Quell

aller

seiner noch so tugendhaften, preisenswerten und gepriesenen Hand­ lungen, er nicht ferner verweigern kann,

den Grundsatz sich

das

Schwere leicht zu machen und seine Schulden mit nicht ganz voll­

wichtiger Münze für berichtigt zu halten.

Wie muß uns jetzt aber die Bemühung der Epikuräer und der Stoiker erscheinen, die wir, über alles einander widerstreitend, einig

fanden nur darin eine Begründung der Tugend, welche die Menge

übt, ohne sich um die Begründung zu kümmern, zu suchen zu dem Zwecke die Tugend natürlicher, leichter und allgemeiner zu machen?

O Eitelkeit, aller Eitelkeiten Eitelkeit! Wenn sie aber ohne Scham zwar in ihren Gärten und Hallen,

doch an der Straße thaten, was sich sonst einer nur im Geheimen erlaubt, wenn sie es thun dursten, ohne daß man mit Fingern auf sie wies, vielmehr unter dem Beifall und Zulauf der Zeitgenossen,

so war die um Bildung sich bemühende Welt von Athen ihrer wert. Konnte sie doch ein Bestreben, das gegen die reine Tugend streitet, für vernünftig halten.

Und ist diese Welt nicht auch die Nachwelt, als

welche durch die Jahrtausende hindurch die Überlieferung dieser Ver­

suche einer Tugendlehre erhalten und teilnehmend gepflegt hat? Wer

ist hier ohne Schuld?

Der abenteuerlichen Wissenschaft der Epikuräer

und Stoiker blieb die Menge des Volkes fern, die mis der gemeinen

Straße des Lebens unter Fallen und Aufstehen hinzog.

Aber wenn

sie doch nicht weniger der Versuchung durch den Anwalt der eigenen Lust und des Eigennutzes, der im Inneren eines jeden wohnt, unter­

lag, so waren jene Philosophen, welche die Erkenntnis der Gründe der Tugend suchten und gefunden zu haben wähnten, auch der Ein­ sicht in die Gruudverkehrtheit dieses menschlichen Beginnens und da­

mit der Heilung von diesem schweren Übel näher als diejenigen, welche,

ohne die Frucht der Erkenntnis gekostet zu haben und in

Folge des Genusses heftig erkrankt zu sein, den Keim der Krankheit

in sich verwahrten. Wie aber muß uns, sobald wir auf diese als im Innersten

des menschlichen Herzens

versteckt notwendigerweise anzunehmende

Denkungsart das Rechte ohne den Gedanken des Rechten thun zu

der Forderung eines Jenseits Anfang, nicht Ende des Glaubens.

111

wollen aufmerksam geworden sind, der Gedanke der Freiheit erscheinen? Zwar nicht als eine willkürliche Erdichtung des Menschen, aber doch

als eine schmeichlerische Einbildung, wodurch die Menschheit sich über die Knechtschaft unter den Neigungen der Natur, in welcher jeder freiwillig lebt und leidet, hinwegtäuscht. Jenen Mönch aber aus

der Bretagne, welcher einst, um den Menschen Mut zu eigener ernst­

licher Anstrengung zn machen, die Freiheit des Menschen das Rechte zu wollen und zu thun verfocht, den Pelagius, müssen wir in Über­ einstimmung mit dem Kirchenvater Augnstin verdammen als den Ver­ fechter eines den Menschen an der Erkenntnis der bitteren Wahrheit

und des ihm notwendigen Heilverfahrens verhindernden Wahns.

Mit der Freiheit aber verschwinden auch wieder die durch diese

heraufgeführten leuchtenden Gestirne des übersinnlichen Daseins meiner selbst auch in einem Leben nach dem Tode und der gerecht vergel­ tenden imd den Tugendhaften krönenden Gottheit hinter den Wolken. Sie verschwinden aber nicht, ohne den ungewissen Gedanken eines Daseins nach diesem Leben in der Brust des Menschen zurückzulassen

und die Angst, es möge die Vergeltung eines gerechten Gottes der wirklichen Denkungsart und den Thaten des Menschen entsprechend eine andere sein,

als sie der im Tugendwahn Befangene erträumt.

Die Furcht vor dem mit allen Schreckgestalten der Einbildungskraft bevölkerten Jenseits kann so groß werden, daß die armen Gequälten alles, was man von ihnen an irdischen Schätzen verlangt, hinzugeben

bereit sind.

Die Opfer der Arnmt in Pfennigen und Thalern in

Empfang zu nehmen sind aber immer Leute bereit, wie z. B. im christlichen Mittelalter die römischen Päpste, darunter ein Alexander VI.

Borgia, ihren Ruf schwere Sünden mit vorzüglicher Kraft tilgen zu können benutzten, um solche Opfer, sei es unter dem Namen eines

Almosens für Kreuzfahrer oder unter welchem Namen auch immer, sich zuzuwendcn.

Dem bloßen Geschichtsforscher genügte das Thun und Lassen

der Menschen aus dem durch Natur und Umstände bestimmten Inter­

esse des Handelnden abzuleiten.

Mit einem anderen Auge aber blickt

auf das menschliche Leben der Mensch, der zugleich die Möglichkeit

der reinen

Tugend

verteidigt, zugleich der Wahrheit ergeben die

Wirklichkeit der reinen Gesinnung bezweifelt bis zum Leugnen, mit

einem anderen Auge auch, als dem Menschen, der Tugendanwalt und

Wahrheitsforscher — beides, keines — sein will, natürlich ist für die Betrachtung der eigenen Vergangenheit.

Denn wie sieht der Mensch sein Leben natürlicherweise an?

25.

Man erzählt von einem italienischen Hirten, der sich nicht damit begnügte von dem Ertrage der Herde, die er weidete, zu leben, son­

dern mit seinen Genossen vorüberziehende Reisende überfiel, erschlug

und ausplünderte, ohne sich aus diesen Unthaten ein Gewissen zu machen. Diese Unbekümmertheit würde vielleicht der in jener Zeit lebende,

um 1500

geborene Arzt

Cardano

von Mailand gebilligt haben.

Dieser bekennt sich nämlich in seiner Lebensbeschreibung zu dem Grund­

sätze: nichts zu bereuen, und das, indem er von sich berichtet, er — dessen Lebenslauf damit begann, daß seiner Mutter die versuchte Ab­ treibung der Leibesfrucht nicht gelang — sei ein falscher Spieler, rach-

süchtig, absichtlich verletzend im Reden gewesen; er bekennt dies ohne Frechheit wie ohne fromme Zerknirschung, ja, ohne damit interessant werden zu wollen, vielmehr mit dem einfachen, sachlichen Wahrheits­

sinn des Naturforschers.

Nicht dieselbe Ruhe den Unthaten der Vergangenheit gegenüber wird dem Hirten der Anwalt der reinen Tugend erlauben.

Er wird

der Forderung eines Jenseits Anfang, nicht Ende des Glaubens.

HZ

vielmehr ein Losreißen aus den Banden der Selbstsucht fordern, mit welchen der Räuber sich selbst die Hände gebunden hat, und Aufbietung

aller Kräfte, damit er sich in Znknnft von ihnen nicht wieder um­ stricken lasse und nicht wieder geschehe, was geschehen ist, und als

Anfang dieser Besserung, aber auch nur als solchen, eine jene Ge­ sinnung von Grund aus anfsaugende Rene über das Geschehene.

Jener Hirte aber erschien, wie weiter berichtet wird, lange nach jenen Mordthaten voll Angst im Beichtstuhl, um durch den Mund

des Priesters Lossprechimg luotioit zu erlangen? Davon, daß ihm wäh­ rend der Fasteit beim Käsemachen ein paar Tropfen Milch in den Mund gekommen seien.

Die Mordthaten als etwas Landesübliches

mußte der sittenkundige Beichtvater bei diesem Anlaß erst aus dem

Manne herausfragen. Wenn aber durch jene Verletzung des Fastengebots, einer will­

kürlichen Satzung, wirklich ein neben Freveln gegen Gut und Blut der Mitmenschen nennenswertes Unrecht begangen wltrde, wozu das

reuige, peinvolle Bekenntnis des Schuldigen vor einem anderen Men­ schen und das Lossprechen von der Schuld int Falle ernster Reue durch diesen?

Kann doch Gesinnung allein Gesinnung ersetzen und

das Halten des Fastengebots das Brechen, jeites Gethue aber könnte

den Losgesprochencn leicht veranlassen die Besserung des Wandels weniger ernst zu betreiben ititb den gerechten Gott abzuspeisen mit nicht viel mehr, als was einst die Griechen an Dunst für die Götter

bei ihren Opfern bestimmten. Mehr als Dunst znr Entschüdignng für begangenes Unrecht gab

auch nicht, wer sich etwa deut Zuge der Büßenden angeschlossen hatte, der 1260 jenseits und diesseits der Alpen gesehen wurde, bei Tage

und bei Nacht nmherziehend, bis auf den Gürtel entblößt, mit ver­ hüllten Häuptern, unter Bußgesängen sich geißelnd bis aufs Blut. Denn der Schmerz über das vergangene Leben ist vernünftiger Weise

Romundt, Antäu?.

114 fünfter Teil.

Der Zweifel de» Menschen an der Berechtigung und Erfüllung

zu schätzen allein als Vorbereitung und Beginn einer neuen, besseren Thätigkeit in den gemeinen Verhältnissen des Lebens.

Daß aber der Wahn in tiefem Schmerz und Selbstpeinigüng

gleichsam wie im eigenen Blute die Flecken der Seele abwaschen zu können schwinde, dazu mochte man im Reformationszeitalter für nötig

halten zu wünschen, Gott möge recht bald das Fegefeuer aufheben,

dessen Qualen für uns zu verringern wir uns in diesem Leben etwas unter Schmerzen entziehen.

Uns muß, um das Fegefeuer für alle

Zeit zu löschen, zu genügen scheinen die Unterwerfung unter den Grundsatz des Naturforschers, daß ein nicht durch Wahrnehmung Bestätigtes in der Natur nicht vorhanden ist.

Wollen wir aber jen­

seits der Natnr ein solches Feuer erdichten, so steht uns frei auch

das Wasser hiuzuzudichten, welches den Brand unschädlich macht.

Woher aber jene Verhärtung des Cardano gegen alle Reue, woher die Einbilditug, sei es durch Zahlung von etwas Sündengeld,

sei es durch die Bluttaufe der Geißel, sei es die Annahme der Recht­ fertigung durch irgend wen und irgend was, die Vergeltung für unser hiesiges Leben

im Jenseits uns annehmlicher machen zu können,

woher endlich bei dem italienischen Hirten die größte Gleichgültigkeit gegen wirkliche Verbrechen verbunden mit unbezwinglicher Angst bei der geringsten Verletzung willkürlicher Satzungen?

Von allen diesen

Erscheinungen ist der Grund einer und derselbe: Beschränkt im Wissen auf die sichtbare Natur, in der unser

Leben entspringt und verschwindet, wünschen wir nichts so sehr als ruhig und leicht unter möglichster Befriedigung aller unserer Bedürf­

nisse, d.h. glücklich, auszuleben, so viel als möglich den Zugang weh­ rend dem Gedanken eines anderen Daseins, als welcher uns nur int

ruhigen Genuß des Lebens stören könnte.

Wenn wir aber wider

unseren Willen, und nicht immer, wie das Beispiel unseres Hirten lehrt, mit gutem Grunde, aus unserer Ruhe durch das Bewußtsein

-er Forderung eines 3cnscit5 Anfang, nicht Ende des Glaubens.

115

unserer Thaten aufgeschreckt werden, suchen wir möglichst leicht, mög­ lichst geschwind in den verlassenen Zustand zurückzukehren, sei es, daß

wir mit dem Naturforscher deu Gedanken eines anderen Daseins als

einen Wahn verjagen, sei es, daß wir, schwächeren Geistes, von Ein­

bildungen geschreckt uns mit Einbildungen helfen, wie der Ertrinkende

nach jedem Strohhalm greift. Aber die Stellung des Menschen, die wir ihm am liebsten an­ weisen, ist nicht diejenige, die er notwendiger Weise einnimmt.

Mag

er die Eindrücke der Dinge auf seine Sinne immer als die Grenze

seiner Behauptungen über die Natur anerkennen, so darf er sich doch durch seine Handlungsweise als Bürger einer anderen Welt als der­ jenigen, die er allein kennt, bewähren.

Das Dasein jener besseren

Welt zu leugnen genügt nicht der Grund der Unbekanntschaft mit derselben,

welche Unbekanntschaft jedoch

im Fall der Übertretung

dessen, was recht ist, uns nicht ermächtigt die Berichtigung und Recht­ fertigung unserer Vergehen in irgend welchen an sich gleichgültigen und wertlosen

Begehungen,

peinigungen zu suchen.

in

unnützen Büßungen

und Selbst­

Wahrheit und Tugend sind die beiden Säu­

len des Herkules, über deren: nicht weiter! auf unserer Lebensfahrt

uns hinanswagend wir uns über die Vernunft hinauswagen.

26. Aber wenn der Verteidiger der Tugend die Reue über das Ver­ gangene allein als Vorbereitung und Anfang eines besseren Wandels

in der Zukunft und nichts außer diesem vom Hirten fordert, müssen wir nicht vielleicht im Denken über diese Forderung hinausgehen? Die Angst des Hirten

über die Verletzung des Fastengebots

durfte uns als eine gründ- und nutzlose Vermehrung menschlichen

Elends auf Erden erscheinen; aber auch die Angst desselben Mannes,

8*

116 fünfter Teil.

Der Zweifel des Menschen an der Zerechiignng und «Erfüllung

wenn er ruhig einen Tag nach dem andern unter seinen Herden ge­

lebt hätte, ohne harmlose Reisende mit seinen Genossen ju überfallen, aber sich bewußt, obschon nicht Dieb, nicht Betrüger,

doch nicht

immer, nicht durchaus wie für das Seine für die ihm anvertraute

Herde als ein treuer Knecht gesorgt zu haben?

Da doch das Be­

wußtsein nicht einer Versäumnis in der äußeren Pflichterfüllung zu

Gunsten seiner Bequemlichkeit, nur in der Pflichtgesinnung, mag er sich auch der höchsten Zufriedenheit seines Herrn erfreuen, mögen

seine Dienste nach allen Seiten hin von Herdenbesitzern begehrt wer­ den, ihm eine verkehrte, unreine Denkungsart in seinem Innern ver­

rät, von der er nicht weiß, wie weit gerade sie ihn zu dem allerseits beliebten und begehrten Diener gemacht hat.

So weit aber und so

lange er nicht gewiß ist, ob seine Schritte das Belieben lenkt oder

die Notwendigkeit, so lange ist er selbst seiner Rechtschaffenheit nicht sicher, da ihm einmal gefallen könnte die für seine Schafe bestimm­

ten Ausgaben in seine eigene Tasche abfließen zu lassen.

Gesetzt

nun, der Knecht bemühe sich, von dem Bewußtsein der Unzuverlässig­

keit seiner selbst erschreckt, sofort die Herde mit dem Auge des Herrn anzusehen, mit jenem Auge, welches die Tiere fett macht, und lasse

nicht ab von Tage zu Tage sich in eine noch genauere Pflichterfüllung, an der er es schon vorher nicht fehlen ließ, hineinzugewöhnen, was hilft es ihm, wenn er nicht die Gewißheit erlangt, daß jene tiefver­

steckte Selbstsucht nicht mehr wie ein Funke unter der Asche fort­ glimmt,

daß vielmehr von

anderswoher ein neuer Brand an die

Stelle des ausgelöschten gebracht ist? Ohne die gänzliche Umwand­

lung und Erneuerung der Denkungsart bleibt der Mensch mit allen

seinen guten Absichten uni) Handlungen einem Wanderer zu vergleichen, der munter auf seinem Wege fortschreitet, aber der rüstigere Schritt

führt ihn nur weiter in die Irre.

Welches aber ist das Ziel, das

der Wanderer ins Auge fassen und im Auge behalten muß, ehe und

der Forderung eines Jenseits Anfang, nicht Ende des Glaubens.

117

Wenn er die Füße in Bewegung setzt? Wenn für jeden Menschen die gleiche Verkehrtheit anzunehmen ist, als welche in der ihm selbst vielleicht verborgenen nnd nnergründlichen Bereitwilligkeit des Men­ schen besteht das Notwendige znm Belieben zn machen und das Schwere leicht, so ist auch das zn erstrebende Ziel dasselbe für alle Menschen, welches auch ihre Vergangenheit, welcher Art auch ihre Stellung in der Welt fein mag: es ist dasselbe für den Knecht wie für den König, für den Freiherrn wie für den Manu in der Zücht­ lingsjacke. Ist dieses Urbild des Menschen, dem nacheifernd der eine auf dem Throne, der andere in der Hütte ein Vorbild aller wird, nicht scheint, etwa der Weise des Epiknr? Dieser zog vor und verstand im Verborgenen zu leben, statt au den Geschäften des Marktes, an Handel nnb Wandel wie an der Besorgung des gemeinen Wohls teilzunehmen, er konnte, wenn es sein mußte, bei Wasser nnb Brot zufrieden leben nnb erwarb das Geringe, was er, mit Freunden in ruhigen Gesprächen zusammenlebend, bedurfte, am liebsten durch Unterricht. Nachdem diesem Vorbild entsprechend Epikur in seinem Garten in Athen in Gemeinschaft mit gleichgesinnten Männern nnb Frauen, die sich der gemeinen Bestimmung des Weibes entzogen, gelebt hatte, starb er so ruhig, wie er gelebt hatte, zweumdsiebenzigjührig, nicht ohne die Beschwerden und Schmerzen der letzten Krankheit mit großer Standhaftigkeit ertragen zn haben. Wie sehr wir aber auch die Selbstbeherrschung des Epikur im Schmerz wie im sinnlichen Genuß bewunbern mögen, zumal bei einem Manne, der diesen letzteren in der Stille immer als das höchste, leider mit Gefahren für Leib und Seele verbundene, Gut des Menschen verehrte, was berechtigte ihn seine Kräfte der Gemeinschaft der Men­ schen nnb den Bedürfnissen der Gemeinschaft, in die er hineingeboren

war, grundsätzlich zu entziehen? Und ist es wahr, daß das Ver­ langen nach ruhigem Lebensgenuß, nach bequemem Ausleben als die letzte unübersteigliche Schranke unseres Wollens und Vollbringens

angesehen werden muß? Die Überschätzung des Vergnügens vermied der Weise der Stoiker, der als seine Aufgabe ansah vielmehr Hunger und Durst zu ertragen, freilich nicht bloß zur Übung auch in dieser Fertigkeit für vorkom­

mende Verlegenheiten, sondern um sein Erhabensein über den Schmerz

zu beweisen.

Er billigte auch nicht die Einschränkung des Epikur

auf ein verstecktes Gartenleben.

Vielmehr nahm der Stoiker, ohne

selbst den Vorsatz zeitweiliger Erholung und Abspannung in den Plan seines Lebens aufzunehmen, sich vor einen Menschen zum Freund zu machen, um ihn in der Krankheit pflegen zu können, an den öffent­ lichen Geschäften des Staates auf dem Markt, im Felde teilzunehmen,

um mehr als ein müßiger Privatmensch zu sein, für das Wohl der Menschheit, des Erdkreises Sorge zu tragen, um sich als ein Weltbürger zu bewähren: d. h. ein vorhandenes Naturgesetz, nach

dem unbewußt der ein Weib heimführende, Kinder zeugende und er­

ziehende Staatsbürger verfährt, mit klarem Bewußtsein nur als solches zu erfüllen.

Nicht aber mutete sich der Stoiker zu diesem

Zwecke zu liebevolle Schätzung der Bedürfnisse und Wünsche des

anderen, der Landsleute, des Menschengeschlechts.

Wenn aber der

Weise der Stoa die natürlichen Bedürfnisse und Wünsche seiner selbst

und der anderen Menschen verachtete, wie konnte er sich große An­

strengungen zu ihrer Befriedigung zumuten, wie hätte er nicht viel­ mehr am liebsten sich aus dem Gewühl der Menschen ganz zurück­

ziehen sollen, um einzig die erhabenen Gesetze des menschlichen Han­

delns zn erforschen und dieselben höchstens zu lehren, statt sie unter günstigen wie ungünstigen Verhältnissen zu üben?

Wurde aber dem weltentrückten Weisen die dem Gedanken der

der Forderung eines Zenfeits Anfang, nicht Ende des Glaubens.

119

Tugend gegenüber gering zu achtende, die verachtete Natur aufdring­

lich und lästig, was konnte ihn hindern sich aus ihr durch Selbstmord zu entfernen, wie der Stifter der Philosophie der Stoa, Zeno, sich er­

hängte, als er in hohem Alter gestranchelt war und sich dabei einen

Finger verrenkt hatte? Diesen Zeno, der, unverheiratet, zurückgezogen und mäßig lebend,

nach langen Vorbereitungen anfing sich mit Freunden auf- und ab­ gehend zu unterhalten

über die Verpflichtung des Menschen

nicht

bloß für sein eigenes Vergnügen zn leben, haben die Athener öffentlich

belobt, sie haben ihn bei Lebzeiten durch Übersenden eines goldenen

Kranzes und durch Aufstellen seiner Bildsäule ausgezeichnet und noch

über den Tod hinaus dadurch geehrt, daß sie dem Lebenden mit einem Begräbnisplatz int Kerameikos ein Geschenk machten.

Werden wir

aber, Menschen, nicht Griechen, natürlicher wie bescheidener Weise

uns gestatten grundsätzlich die körperliche Natur, in der unser Leben entsteht und vergeht, mit ihren Bedürfnissen und Wünschen so niedrig anzuschlagen wie Zeno, daß wir sie nur gut genug halten, imt ge­ treten zu werden? Werden wir aber auch den Gedanken des selbst­

losen Handelns als Menschen bescheidener Weise so gering achten wollen, daß wir uns die Meinung erlauben mit den stets Tugend tmd Gesetz im Munde führenden Stoikern, es seien irgend welche

Lebensverhältnisse zn verächtlich oder ztt schwierig, als daß sie der

Notwendigkeit im Wollen und Vollbringen vym Menschen unterworfen

werden könnten? Raubt doch der Tod die Gelegenheit nicht nur zunt Leiden, auch zum Siegen.

Der Weise der Stoiker sieht mit Recht das Denken der Hand­

lungen ohne Interesse und das demgemäße selbstlose Wollen und Voll­

bringen als die Aufgabe des Menschen an.

Diese verfehlt derjenige

gänzlich, der auch nur aus Vergniigen thun will, was er ohne Rück­ sicht auf dieses gewollt hat.

Aber wegen der bescheidener Weise an-

zunehmenden geheinien Hingebung unserer Gedanken an den Dienst des Vergnügens müssen wir, übet die Forderung der Stoiker hinaus,

über die immer erneuerten einzelnen Bemühungen selbstlos zu handeln, die Entschließung zu einem selbstlosen Lebenslauf verlangen nicht vor

den Augen anderer, Menschen oder Götter, sondern eines jeden Men­ schen vor sich selbst.

Mit Recht sieht andererseits der Weise des Epikur die natürlichen

Bedürfnisse eines jeden als ein ihm vor andern gewährtes und anvertrautes Fleckchen der Natur an, welches ein jeder zunächst anzubauen

und zu Pflegen hat, so daß anderen das von der Welt abgeschiedene Fürsichleben eines jeden nachahmenswert erscheinen darf. Aber damit dieser Platz nicht ein sorgsam eingefriedigter Garten in der Wildnis

werde, dazu bedürfen wir der Erinnerung daran, daß wir, einge­ schränkt in unserem Wissen auf die Eindrücke der Dinge, nicht dem geheimen Hange nachzugeben berechtigt sind

die nächste natürliche

Schranke unserer Bemühungen für die letzte, unübersteigliche zu halten

und allein auf Befriedigung der eigenen Wiinsche zil sinnen.

Aber ist danach nun der König auf dem Throne, der, mit allen

Mitteln der Macht und des Reichtums ausgestattct, den rauschenden Festen des Hofes nicht die Beschäftigung mit edler Kunst und Wissen­

schaft anfopfert, der ein selbstloses Leben in hingebender Arbeit für die

Bedürfnisse seines Volkes als der erste Diener seines Staates zu füh­ ren sich bemüht wie etwa der große Friedrich von Preußen, das Vor­ bild der Hohen und Geringen des Volkes, das wir suchen?

Gewiß ist

schwieriger als Herr über vieles jeder Lebenslage gerecht zu werden als

die täglichen Wege eines Briefträgers zu machen, ohne einen auszu­

lassen.

Aber wenn es schwieriger ist den Vorsatz eines reinen Lebens

in der unverdienten Not und dem Elend zil erhalten und auszuführen,

so ist das höchste Bild des Menschen, der Sohn des Menschen, den jeder, König wie Bettler, in sich zu erziehen hat, nicht der weise Salomo

der Forderung eines Jenseits Anfang, nicht Ende des Glaubens.

in aller seiner Herrlichkeit.

121

Vielmehr dieser Menschensohn ist ein

Mensch von der höchsten leiblichen nnd geistigen Kraft, der, nicht in

der Ehe geboren, eines arme» Zimmermanns Sohn, obgleich von un­ gewöhnlicher Einsicht, die er in Fragen nnd Antworten zum Staunen

der Gelehrten gelegentlich offenbart, seine Jugend nicht zubringt in den hohen Schicken, auf den Turnplätzen der vornehmen Jugend des Landes, sondern seinem Vater unter Entbehrungen bei schwerer und wenig lohnender Arbeit zu helfen hat.

Dieser arme Mensch aber

hält, ohne Aufsehen damit zu machen, fest au dem Vorsatz ein reines, selbstloses Leben zil führen und läßt sich darin auch nicht irre machen, als er wie Gyges, der Hirte des Lyderkönigs, in den Besitz eines

Ringes kommt, der den Träger, wenn er den Kasten nach der Hand­

fläche und nach sich zu dreht, unsichtbar niacht, so daß er straflos alles dessen, was das Herz sich wiinscht, sich bemächtigen kann, wie jener

Gyges nach der Entdeckung der Wnndertraft des Ringes mit als Bote zum Könige ging, die Königin verführte, mit ihr im Bunde den König tötete und sich selbst zum König machte.

Ja, er bleibt seinem

Vorsatz treu, als ihm ohne die Zumutung irgend eines Verbrechens die unter lauter Unwürdigen ihn« gebührende, aber nach dem Herkommen

ihm nicht zufallende Königsherrschaft angeboten wird, unter der einzigen Bedingung, daß er aufhöre den Gedanken des reinen Lebens in That und Gesinnung als das Höchste zu verehren.

Aber mm wird er des

Strebens gerade nach derjenigen Herrschaft, die er abgelehnt hat, von seinem Versucher lind den Anhängern desselben angeklagt und erleidet

für seine Treue das Schicksal, das er verdient hätte, wenn er seiner

Gesinnung untren geworden wäre, ein Schicksal demjenigen ähnlich, das einst Plato als die Prüfung bezeichnete, in welcher der wahrhaft gerechte Mensch sich zu bewähren habe: „er wird gegeißelt, gefoltert,

in Ketten gelegt, durch Ausbrennen beider Augen beraubt, zuletzt ans Kreuz geschlagen."

122 Fünfter Teil. Der Zweifel des Menschen an der Zerechtigung und Erfüllung ic.

Aber nach einem schimpflichen Tode am Krenze mitten unter Mördern herrscht der des Strebens nach der Königsherrschaft fälschlich

Beschuldigte als dem Vorsatz des reinen Lebens unter allen Versuch­ ungen und Drangsalen getreu bis in den Tod als der wahrhafte

König fortan über alle Menschen ans Erden, sofern ihm als dem wah­

ren Menschen alle, hoch und niedrig, ein jeder sein eigenes Krenz ans sich nehmend, nachfolgen müssen.

Sechster Teil. Das Jenseits eine gewisse Hoffnung, nicht eine berechtigte For­ derung, nicht eine begründete Vermutung.

27. Aber ist der König, der nicht hat, wohin er sein Haupt lege, mehr als ein Bild dessen, was jeder sein soll?

Ist er der wahre Mensch

selbst? Wer nicht einen anderen Schauplatz menschlicher Handlungen anerkennt als die Natur, in der wir leben; wer demgemäß ein anderes

Leben zumeist der armen Witwe, welche sich und ihre Kinder durch die Arbeit ihrer Nadel zu ernähren hat, ein anderes der Fürstin an

der Seite des Beherrschers eines großen Reiches, muß dies leugnen. Jenes Bild des königlichen Menschen im Elend, der am Kreuze endet,

ist ihnen zu nichts nütze, wenn sie sich nicht dadurch anregen lassen den Vorsatz eines reinen Lebens in dem Schmutz und der Niedrigkeit

des Daseins, das gerade ihnen zuteilwird, zu fassen und zu behaupten. Daß aber je Sklaven, Handwerker, Frauen, um von den Vor­

nehmen und Mächtigen zu schweigen, den Gedanken eines unanstößigen

Wandels in den steinigen Niederungen des Lebens in ihre Gesinnung ausgenommen haben, das ist ebensowenig jit behaupten, wie wir die Verwirklichung dieses höchsten Gedankens der Menschheit anzutreffen

meinen dürsten in der Überlieferung von dem Leben etwa eines Zimmer­ mannssohns, der wie jener reine Mensch unseres Bildes lebte, litt und

starb.

Die Möglichkeit auch nur eines fehlerfreien äußeren Wandels,

Srdjftcr Teil. Das Jenseits eine gewisse ijoffmntg,

124

geschweige einer durchaus lauteren Gesinnung, in der Natur zuzugeben

gestattet uns nicht der Wahrheitssiiin des Naturforschers.

Mit dein

Einräiunen der Wirklichkeit des Gegenstandes unseres Bildes würden

wir aber auch dem Gedanken diejenige Geltung rauben, die wir ihm dadurch zu retten wähnen mögen: die Magnetnadel zu sein, auf die

hiublickend wir auf unserer Lebensfahrt, wie wir auch von Wellen

und Stürmen hin uni) hergeworfen werden, die Richtung nach dem Ziele innehalten, so nachgiebig und beweglich wie das flüssige Element

selbst und so fest wie die Richtung der Nadel — der königliche Ge­ danke des reinen Lebens als der rechtmäßige Herrscher des gemeinen Lebens der Menschen.

Der wahre Weise, den wir in der Geschichte anträfen wie andere ausgezeichnete Menschen, wie alle die Großen: Alexander und Friedrich,

könnte so wenig wie diese ein Vorbild sein für Menschen, die in dem

ewigen, ununterbrochenen Flnsse der Natur sich befindend immer neu gegen immer neue Wellen und Winde ankämpfen müssen, nicht aber eine Rolle, die irgend ein ausgezeichneter Künstler vor ihnen geschaffen hat, nicht den großen Pompejus noch seinen Koch, auf dem Theater

des Lebens nachznspielen haben.

Derselbe Weise, der als ein Ge­

danke den Sklaven in seinen Ketten frei macht, macht, als eine Person

der Geschichte verehrt, freie Männer zu Sklaven, was sage ich? zu Affen.

Sofern aber der Mensch den Gedanken des reinen Lebens im

Glück wie im Elend als Vorsatz unentreißbar in seine Gesinnung auf­ nimmt itiib diesen Gedanken von der Tiefe her wie an unsichtbaren Zügeln alle seine Schritte leiten läßt, erlangt er in der Aufnahme dieses Vorsatzes und soweit wieder, was er verloren hat.

Vor der Wahrheit bestand nicht zu Rechte die zur Ausführung der selbstlosen Handlungen geforderte Freiheit des Wollens und Voll­

bringens, da wir mit Aufrichtigkeit dem Menschen den Willen zum selbstlosen Handeln, den guten Willen, nur absprechen konnten.

Hin-.

nicht eine berechtigte Forderung, nicht eine begründete Vermutung.

125

fällig ist damit auch jeder etwa beliebende Versuch die Menschen in

zwei Klassen: der natürlich Freien und der natürlich Unfreien, der Adligen und der Unedlen, einzuteilen, auch wenn diese Unterscheidung

scheinbar durch eine geringere natürliche Begabung und Tüchtigkeit der kleinen Leute unterstützt wird oder durch Zugehörigkeit der Un­

freien zrl einer anderen Menschenrasse wie bei der Negersklaverei in Afrika und Amerika.

Nun aber wird durch Einsenkung des Grund­

satzes ein reines Leben zu führen in die innerste Gesinnung der Mensch,

sofern er an diesem Gedanken im Wollen und Vollbringen trotz aller

Schwierigkeiten, trotz alles Mißlingens sesthält, welches auch sein bis­ heriger Lebenswandel war, derjenige, welcher nie weder Gut noch

Blut gestohlen hat, wie der Mörder, indem er sich jii befreien versucht,

in dieser.Bemühung der verlorenen Freiheit des Wollens wieder teilhaftig.

Sie war ja nur durch die grundsätzliche, aber freiwillige

Unterwerfung unter das Belieben verloren gegangen.

Diese im Suchen und Ringen wiedererworbene Freiheit geht aber wieder verloren, sobald der Mensch sie nicht jeden Tag aufs Neue

durch die Erneuerung der Gesinnung itnb der Thaten der Tugend ver­ dient.

Sofern nun ein Mensch sich unermüdlich zn befreien sucht aus

den Banden der Neigungen der Natur, wird der Mensch das, wofür

man ihn fälschlich von Natur bestimmt halten würde: sein eigener freier Bildner und Überwinder.

Auch wenn zum Tiere entartet, kann

er nun zum gottähnlichen Wesen sich wiedergebüren. Nun erst ist er nicht mehr ein Tier, das ans dem Mutterleibe mitbringt, was es haben soll, und wähnt sich nicht mehr einen höheren

Geist, der von Anfang an ist, was er in Ewigkeit sein wird: er hat

eine Entwickelung, ein Wachsen nach freiem Willen, Keime eines all­ artigen Lebens in sich.

Der Name Mensch weist nun auf ein Wesen

anderer Art als den homo sapiens der Naturgeschichte.

Daß die Sonne leuchtet, wenn sie ununterbrochen ihre Strahlen

herniedersendet und alles Lebende erwärmt und erfreut, bezweifelt nie­

mand; aber leuchtet uns nicht dieselbe Sonne, wenn sie vom Morgen bis Zum Abend unter strömendem Regen hinter Wolken verborgen ist?

Für den Naturforscher freilich, der seine Behauptungen auf das

Nachweisbare einschränkt, ist die Möglichkeit der Befreiung des Men­ schen und der Erneuerung des Lebens durch tägliches, stündliches Los­ reißen aus den Fesseln der natürlichen Neigungen ein sinitloses Wort,

die Erlösung sinnloser noch als das Lossein von der Natur.

Und darf

der Tugendanwalt, die Wirklichkeit der unermüdlichen Selbstbefreiung

des Menschen eingeräumt, diese nie vollendete Ablösung der vollstän­ digen Freiheit des Wollens von allen Neigungen gleichsetzen und gleich­

schätzen?

Was für den Naturforscher nichts ist, die unermüdliche Selbst­

befreiung ohne Vollendung, das muß der bloße Tugendanwalt als ein Nichts verachten: Lumpenpapier für edles Metall. Der Mensch aber, die natürliche, wenn auch nicht notwendige,

Unreinheit des Wollens mtb Vollbringens erkennend, sieht ein, daß Menschen in Wahrheit zu schätzen sind, weil so allein mit Gerechtig­

keit, nicht nach den Handlungen der Tugend, seien es Werke der Liebe

oder der Erkenntnis, nicht nach der Gesinnung der Tugend, sondern allein danach, wie sich ein jeder ohne Ermüden, ohne Nachlassen um

die Läuterung der Gesinnung bis zum Abdruck derselben in Werken und Thaten bemüht hat. Aber wenn nun der Mensch immer nur frei werden kann, ohne je

frei zn sein, woran sollen wir, ein jeder in sich, die Befreiung erkennen, da der von jedem natürlicher Weise gehegte Wahn frei zu sein und frei zu handeln für nichts zu achten ist? Das Anfängen der Erneuerung

können wir mit Gewißheit ohne die Fortdauer' des neuen Lebens nicht

behaupten, wir können es behaupten nur, wenn wir bei einem Ver­ gleich unseres gegenwärtigen Wandels mit dem früheren eine Läuter-

nicht eine berechtigte Sortierung, nicht eine begründete Vermutung.

127

mig der Handlungen und Gesinnungen beobachten, so daß uns z. B. gegenwärtig als Lug und Trug erscheint, was wir einst für eine harm­

lose Flunkerei ansehen wollten.

Dann, aber auch nur dann, darf der

Tugendanwalt in uns unter Erwägung der Stellung des Menschen in der Natilr den Anfang eines neuen, reinen Lebens in uns anzu­

nehmen gestatten, ein Anfängen also mir, sofern es durch die Fort­

setzung, durch das Fortwirken bis zu selbstlosem äußerem Wandel verbürgt wird.

Der Vergleich von jetzt und einst fügt aber der Ge­

wißheit des Anfangs die Hoffnung hinzu auf gleichen Fortgang bis zur Annäherung an die Vollendung auf unendliche Ferne.

So uns der Gegenwart getröstend, der Zukunft vertrauend, wie

thun wir dem gerechten Gotte genug für die Vergangenheit unseres Lebens, als wir noch nicht angefangen hatten ein neues, reines Leben zu führen?

Oder bleiben wir für diese Schuld, für welche als ein

Unendliches an Ungerechtigkeit kein äußerer Maßstab ausreicht, einer

gleich unermeßlichen Strafe verfallen?

Wie hoch wir dann auch

die Umkehr zu einem anderen Ziele schätzen mögen, das in einem

künftigen Dasein zu erwartende Schicksal könnte uns hier nur mit Furcht und Zittern erfüllen.

Aber wenn nun der Mensch anders

anfing, als er hätte thun sollen, so konnte er nicht umkehren, ohne

daß, was ihm Lust war, ihm Leid wurde, ein Leid, welches der dem neuen Leben zugewendete Mensch über sich selbst als den alten

Menschen trägt, welches Leid sich mit der täglichen Erneuerung des

alten Menschen in dem neuen Menschen täglich erneuert, um so bitterer, je inniger und auftichtiger von ihm der Vorsatz eines neuen Wandels in die Gesinnung ausgenommen ist. Dieser Schmerz des Menschen über sich selbst, des neuen Men­

schen über den alten, mag dem Naturforscher, dem das Vergangene

gewesen ist, als eine sinnlose Selbstquälerei erscheinen, er mag von dem Verteidiger der Tugend allein geschätzt werden als der Mutter-

Sechster Teil. Das Jenseits eine gewisse Hoffnung,

128

schoß guter Vorsätze, der seine Stellung in der Natur erkennende

und erwägende Mensch muß diese Last, welche er als sich bessernder für sein ungebessertes Selbst trägt, für das Einzige ansehen, wodurch

er vor der Gerechtigkeit Gottes die unendliche Schuld der Vergangen­ heit sühnen kann, genugthnend als ein anderer und doch derselbe,

schuldlos schuldig, für dasjenige, was, einmal von ihm gethan, nicht wieder ungethan zu machen ist.

Wer kann zweifeln, daß das schuldlose Leiden des neuen Men­

schen, der doch auch der alte ist und bleibt, von einer gerechten Gott­ heit als Sühne für die Schuld der Vergangenheit angenommen werden

muß, wer will behaupten, daß die Traurigkeit, wie gefühlt und wahr­

haft sie auch sei, der Verschuldung gleichkomme? unsere Hoffnung auf das Zerreißen

Dann aber ruht

der Rechnung für das,

was

geschehen ist, allein auf der göttlichen Gnade, welche zu leugnen

und zu bestreiten demjenigen, der daran glauben will, wir Gott, von dem wir nichts wissen, genau kennen müßten.

So blickt nach

der demütigenden Einkehr des Menschen in sich selbst das Antlitz

des über die

Thaten ittib

Gesinnungen des Menschen zürnenden

Gottes, der sich hinter düsteren Wolken verbarg, des nun Versöhnten,

aus dem zerrissenen Wolkenschleier inilde und gnädig lächelnd hervor. Gott, der gerechte Richter, erscheint dem Menschen als der gütige

Vater, der nicht mehr von den Menschen fordert, als sie leisten können. So steigt am Nachthimmel des Lebens ein Stern nach dem anderen wieder auf,

um nicht wieder zu verschwinden, es sei denn, daß der

Mensch, der Mensch ward, sich wieder entmenscht.

Das der Freiheit

in Wahrheit gleich zu schätzende Bemühen um Befreümg ließ uns, so­

fern wir uns bewußt sind, nachdem wir einmal aufbrachen, als un­

ermüdliche Wanderer dem Ziele unserer Wanderung zugeschritten zu

sein, nicht länger ungewiß bangen vor der Gerechtigkeit Gottes.

Und

wir dürfen nun von ihm als dem allmächtigen Beherrscher der Natur,

der von seinen Geschöpfen alles, was sie leisten können, aber nicht mehr fordert, uns getrosten, daß er mit dem Bemühen um Befreiung verknüpfe, was wir für verbunden halten mußten mit der Freiheit: Vergeltung der Thaten auf Erden in einem Leben nach dem Tode, nun aber nicht mehr zugemessen nach einem angeblichen Verdienst des Menschen, sondern ohne Verdienst, um der bloßen Bemühung willen. Diese Vergeltung, sie sei nun groß oder gering, ist für den Menschen, der bis in das Innerste der Gedanken rein zu sein schuldig ist, immer ein Geschenk, unverdiente Seligkeit. Gott der Vater — die unermüdliche Bemühung um Läuterung seiner selbst, ein Göttliches — dazwischen das Bild des Menschen, des schllldlos leidenden: drei höchste Dinge in einer untrennbaren Einheit, eine wahrhafte Dreieinigkeit! In dieser Dreieinigkeit aber ist enthalten die Möglichkeit der Befreiung des Menschen. So sind die Gedankendinge der Freiheit, des übersinnlichen Daseins meiner selbst, der Gottheit, welchen wir uns nur von ferne annäherten in der Naturforschung, ohne sie in der Gestalt, in der sie uns vor aller Forschung vorschwebten, zu erreichen, deren Vor­ handensein wir forderten, um reine Tugend dauernd üben zu können, welche wir aber als Menschen mit Unrecht beanspruchten, da wir die Bedingung nicht erfüllen die Tugend in reiner Gesinnung üben zu wollen, für die Dauer des Menschenlebens auf Erden gewonnen als eine gewisse Hoffnung für jeden Menschen. Freilich muß er den Vorsatz eines reinen Lebens, selbst unter den ungünstigsten Ver­ hältnissen, gefaßt haben und denselbeil, wie oft er auch gefallen ist, ohne Ermüden in allem Thun und Lassen, in allem Dichten und Trachten zu verwirklichen suchen. Dieses ist die Bedingung, auf der wie auf einem Felsen jene Gedanken ruhen, fest nnd unerschütterlich, als wären es Thatsachen der Natur. Mit solchen jedoch werden wir sie als ganz anders betRoinnnbt Antäns. 9

130

Sechster Teil. Vas Jenseits eine gewisse Hoffnung,

gründet nicht gleichstellen, da wir sie durch Beobachtung müßten er­ reichen können, um von ihnen zu wissen.

Um aber selbst dem Wissen

zum Trotz die Ueberzeugung von dem Dasein einer anderen Welt

mit Gewißheit aussprechen und behaupten zu können, müßten wir selbstlos wollen.

Zieht jenen Felsen darunter weg, rind der Mensch

muß zu Gunsten der Tugend, der Wahrheit aufrichtig ergeben, die Annahme der Freiheit int Thun und Lassen für einen leichtfertigen

Wahn erklären, der das Streben nach reiner Tugend niederhält, da

ja alles zu Erstrebende bereits erreicht scheint, infolge welches zer­

störenden Angriffes auf die natürliche Einbildung der Freiheit der Mensch vor dem künftigen Leben unter der Herrschaft eines gerechteit

Weltrichters sich nur ängstigen kann.

Der Naturforscher aber, um

ein genaues, bewährtes Wissen von der Natur besorgt, wird vollends

die Spukgestalten aus einer anderen Welt in Dünste auflösen, die aus dieser Erde aufgestiegen sind, und den zu ihnen verirrten Menschen­

geist auf Staub und Wasser Hinweisen: das ist deine Welt!

28. So wäre denn das wahrhaft menschliche Leben vielleicht dasjenige jenes Antonius in Aegypten, von dem erzählt wird: er schenkte um das Jahr 270 nach Christus seine Güter den Armen und zog sich

in ein Grabmal, dann in ein verfallenes Kastell des Gebirges zurück, um einen furchtbaren Kampf gegen sich selbst als einen Kampf gegen

den Satan zu kämpfen, der ihn bald als ein reizendes Weib, bald in Gestalt von Bestien und Ungeheuern ängstete.

Er durchwachte

viele Nächte, aß nur Brot und Salz, oft erst am dritten Tage und verschämt, daß ein unsterblicher Geist dies bedürfe.

Und selbst dieser

Heilige mußte hören, daß in Ägypten einer lebe, vollkommener als er: Paulus von Theben, der in einer Höhle der Wüste wohnte; eine

nicht eine berechtigte Forderung, nicht eine begründete Vermutung.

131

Palme gab ihm Nahrung, Schatten und Kleidung, 90 Jahre waren vergangen, ohne daß Menschen von ihm wußten.

Erlauben wir nicht einem jeden mit der gleichen Selbstverwerfung,

die wir von ihm fordern, eine gleiche Selbstverherrlichung, wenn doch

der Mensch, sofern er durch den in die innerste Gesinnung aufge­

nommenen Vorsatz eines reinen Lebens sich selbst zu befreien nicht aufhört, der Freiheit teilhaftig werden soll und der Seligkeit? Heißt das aber nicht den Acker von Disteln reinigen, um ihn der Onegge preiszugeben?

Wie können wir, wenn in Wahrheit der Grundsatz das Rechte aus Belieben zu thun unsere Gesinnungen zu nnterst verkehrt gemacht

hat, meinen durch den Vorsatz eines reinen Lebens und die daraus folgenden eigenen Bemühungen jene verborgene Selbstsucht auszu­ rotten nnd nicht vielmehr die Selbstsucht des sich selbst für seine

Bosheit strafenden und peinigenden Menschen bis zur Selbstver­

götterung des vermeintlichen Selbstbezwingers aufznblasen? Und wenn nun aus jener Selbstverachtnng als aus einem sumpfigen Grunde Tugenden in Fülle aufsprießen, wie von jenem heiligen Antonins berichtet wird, daß er während der Christenverfolgung 311 aus der

Wüste nach Alexandrien ging, die Bekenner vor Gericht stärkte, den Gefangenen diente, muß uns nicht das Belügen und Betrügen an­ derer Menschen als etwas Unschuldiges und Reines erscheinen neben

dem Selbstbetrug dieses Mutes und dieser Aufopferung, wenn sie als Vollkommenheiten des Handelnden geschätzt sein wollen?

Bleibt also dem Menschen nur die Selbstbefreiung durch die unermüdliche Bemühung um Läuterung der Denkungsart, um zur

Freiheit zu gelangen, so steht diese immer unerreichbar weit über ihm, weil er sich durch jene Selbstbefreiung nur immer unrettbarer in die

Netze der Selbstsucht verstrickt.

Ohne die Befreiung aber von der

Selbstsucht ist reine Tugend, das höchste Gut der Menschen auf 9*

Sechster Teil. Da» Jenseits eine gewisse Hoffnung,

132

Erden, ein Schatten aus einer anderen Welt.

Reine Tugendgesinnung

wird nur dadurch erreicht, daß die Gesinnung des leidenden Gerechten an die Stelle des verkehrten Menschensinnes tritt.

Sie wird nur

dadurch erreicht, müssen wir jetzt hinzufügen, daß der leidende Ge­

rechte nicht bloß ein Gedanke und Vorbild des Menschen ist, sondern,

damit er den von der Selbstsucht unterjochten Menschen von seiner

Zwingherrin mit Gewißheit befreien könne, eine in der Welt außer­ halb des menschlichen Gemütes leibhafttg anwesende Person. Der königliche Mensch im Elend aber, dessen Bild wir als ein

Beispiel des wahren Weisen zu zeichnen versuchten, der arme und

hülflose, der sich selbst nicht helfen kann, wie sollte er einem anderen, wie dem menschlichen Geschlechte verhelfen können zur Reinigung

der innersten Gesinnung und einem dieser entsprechenden schuldlosen

Leben? Ein König in Lumpen, kehrte einst Odysseus heim zu seinem

Weibe Penelope. Von einem leidenden Gerechten würden wir nun so Großes wie

die Errettung des Menschengeschlechts von der Verkehrtheit der Gesin­ nung erwarten können nur, wenn sich unter dem Zimmermannssohn der das Weltall selbst beherrschende Gott verborgen hätte oder, da

wir den Beherrscher des Weltalls selbst nicht wohl mit dem armen, leidenden Menschen in der Welt gleichzusetzen vermögen, ein dem Vater

gleiches Wesen, der Sohn Gottes.

Danach aber ändert sich nun die

Auffassung des leidenden Menschensohnes in der Weise, daß gerade durch die Lücken des armen Menschenlebens wie durch die Löcher eines Bettlermantels die göttliche Gestalt hervorglänzt. So enthüllt uns der Makel der nicht ehelichen Geburt des Men­

schensohnes nur das Geheimnis einer mehr als natürlichen Zeugung; wie konnte der Sohn Gottes der eheliche Nachkomme eines Zimmer­

manns sein?

nicht eine berechtigte Forderung, nicht eine begründete Vermutung.

133

Das angenommene Kind eines armen Zimmermannes war von

der hohen Bildung der Vornehmen seines Volkes natürlicher Weise ausgeschlossen; aber der Sohn Gottes mußte, auch ohne Unterricht erhalten zu haben, schon als zwölfjähriges Kind durch seine klugen

Fragen nnd Antworten die Gelehrten und Lehrer beschämen.

Der

arme Zimmermannssohn wurde in Versuchung geführt seinem Vor­ satz des reinen Lebens untren zu werden, als Gottessohn aber mit

einiger Aussicht auf Erfolg nur, wenn die Sucht nach Belieben über alles irdische Vermögen zu herrschen, welcher zugleich alle Mittel ihrem

Belieben zu willfahren zu Gebote stehen, selbst Fleisch ward und dem

Gottessohn zur Verführung vom Wege des reinen Lebens alle Reiche und Reichtümer der Welt anbot.

Mit einem schimpflichen Tode am

Krenze mochte endlich das Leben des gerechten Menschen enden, nicht so das des Menschen, der zugleich der Sohn Gottes ist.

Er muß nach dem Tode wieder auferstehen und von der Erde,

wo er eine Zeit lang die Gestalt und die Schicksale eines armen

Menschen ertrug, dahin auffahren, wo der für die Gottheit bestimmte Aufenthaltsort ist: über der Welt. Vor allem aber muß dieser Gottmensch, damit er die Menschheit

reinigen und heilmachen könne, nicht ein Gedanke des Menschen sein wie der leidende Gerechte, sondern ein in der Welt, wenn auch für

uns nicht sichtbar, leibhaftig Vorhandenes.

Nur dann kann er durch

seine Kraft dem im Grunde seiner Gesinnung verderbten Menschen

helfen, kann ihn rein und des Lohnes der Reinheit teilhaftig machen, vorausgesetzt, daß der Mensch nach der Abwaschung seiner Schuld sich eines guten Lebenswandels befleißigt. . Dies aber kann nicht mehr

schwer sein, nachdem die Hauptsache, die Reinigung des Herzens,

von einem Gotte gethan ist, welche für das ganze Menschengeschlecht

geschehene Leistung sich ein jeder nur zuzueignen braucht, um sie zu haben.

Sechster Teil. Das Jenseits eine gewisse Hoffnung,

134

Auf diese Weise wird der Mensch in den Stand der Unschuld zu­

rückgetragen ohne sein Verdienst durch die Gnade des Sohnes Gottes, durch die Gnade Gottes selbst, der diesen in die Welt gesandt hat.

So leidet die einfältige menschliche Aufrichtigkeit, welche die natürliche Schwäche des Menschen kennt und anerkennt, nicht Scha­

den durch Allfnahme des Gedankens vom wahren Menschen als dem Urbilde des wahrhaften menschlichen Lebens, und der Gottessohn

wehrt dem schwärmerischen Selbstbetrug, daß Menschen sich ein Ver­

mögen einbilden selbst aus eigener Kraft ein neues, reines Leben an­ fangen zu können.

Aber nimmt das Vertrauen auf die Thaten Gottes

uns nicht gar die Selbstbemühung ab bis auf die nicht allzu mühevolle Anerkennung der gütigen Bemühung eines anderen, des Gottessohnes,

für uns?

Nun aber ist und bleibt die Voraussetzung der Beseligung in einem anderen Leben die Befreiung von der Grundverkehrtheit der

Gesinnung dadurch, daß ich den Vorsatz eines reinen Lebens fasse und festhalte.

Und diese Umwandlung des eigensten Selbst des Men­

schen kann der allmächtige Gott selbst, und wenn er eigens dazu auf

die Erde käme, deni Menschen nicht schenken, weil sie Wert hat allein

als eigene That des Menschen. So steht denn Behauptung gegen Behauptung.

Muß der Mensch um der Wahrheit willen die Selbsterlösung für einen Trug ansehen und die Notwendigkeit der Reinigung und

Heilung durch einen anderen behaupten, so muß derselbe Mensch als

Tugendantvalt als das Einzige, was not thut, unersetzbar wie unent­ behrlich, wieder und wieder fordern:-die Aufnahme des Vorsatzes

ein reines Leben zu führen in die innerste Gesinnung.

Aber ist die

Gefahr durch alle Selbstbemühung und Selbstentäußerung nur noch

mehr in den Dienst der Selbstsucht zu geraten dem Tugendanwalt

in uns vergebens angezeigt?

nicht title berechtigte Forderung, nicht eine begründete Vermutung.

135

Läßt nicht unser eingeschränktes Wissen von der Natur Raum für die Gegenwart eines Gottessohnes hier und da, allüberall, wo

seine Hülfe von erlösungsbedürftigen Menschen angerufen wird?

Und wenn ich nun mir glaube bezeugen zu können, daß ich ge­ genwärtig der Wahrheit mehr anhänge und diene als vor Jahren,

und dieses dem ernsten Vorsatz in allen Lagen, gegen jedermann,

mich als einen reineren Menschen zu bewähren zn verdanken meine,

darf ich annehmen so tief in mein eigenes Herz, die Werkstätte meiner

Eirtschlüsse, zu sehen, daß ich die stille Mitwirkung eines anderen, eines allgegenwärtigen Gottessohnes, bei allem, was mir gelang, aus­ schließen darf?

Für die Zukunft mag ich immerhin alle Arbeit von mir allein

fordern.

So benutzt zur Verzichtleistung auf das eigene Verdienst

bei einer solchen Anstrengung aller Kräfte, als wäre niemand da uns beiznspringen, dient der Wink des Freundes der einfältigen

Natur uns in Demut thätig zu erhalten, immer bemüht endlich ein­ mal durch eigene Anstrengung zu werden, was bisher immer nur durch die Hulse Gottes geworden zu sein, wenn wir etwas geworden

sind, wir bescheidener Weise anzunehmen haben. Das sich versteinernde Heiligenbild regt sich, bewegt sich, wird lebendig durch den Anruf:

Mensch, gedenke, daß du ein Mensch bist. Aber sind die beiden Parteien, die gegen einander kämpfen unter den Zeichen des Menschensohnes und des Gottessohnes in einem Men­ schenherzen, in mir, in dir, nicht einer und derselbe Mensch?

Du mußt dir dein Leben vorstellen als das eines Gerechten, der,

, was ihn auch abseits locke nach rechts und nach links, auf dem schmalen Wege bleibt, ob er über Klippen, ob er durch Sümpfe führe: und

vor dir steht das Bild des königlichen Menschen mit der Dornenkrone,

der Tugend treu bis zum unverdienten Tode am Kreuz.

Und wieder mußt du dir diesen leidenden Gerechten, das Urbild

Zechster Teil. Das Jenseits eine gewisse Hoffnung,

136

deines Lebens, denken, auf daß er siege und du mit ihm, als den all­

mächtigen Gottessohn, der so, wie er von dir erfaßt wurde, unver­

ändert und unveränderlich dasteht wie die Vorzeichnung auf der Tafel, auf welche die zeichnenden Schulkinder hinschauen.

Dort Leben und Leiden, hier Sieg und Stillstand.

Aber ist

nicht das eine Bild wie das andere nur ein Gedanke des Menschen?

Im Sonnenschein spiegelt sich die hoch über die Stadt aufragende

Kirchturmspitze im vorüberfließenden Strom, in den Fenstern der Häu­

ser und den Augen der Menschen, tausende von Bildern eines einzigen Gegenstandes.

So hat jeder Mensch ein anderes Bild des leidenden

Gerechten je nach den Leiden und Beschwerden seines eigenen Lebens. Dieses Bild aber ist ihm das Abbild eines außer seinen Gedanken

in der Welt vorhandenen Gottmenschen, den alle suchen als den Ge­

genstand zu ihrem Bilde, den alle gefunden haben wollen in ihrem Abbilde, den keiner gefunden hat.

Wenn ich Recht habe, muß mein

Bruder Unrecht haben, der nicht so meint wie ich?

Das Gemeine mag sein im Vertrauen auf den Grundirrtum, die Vorstellungen von den Dingen seien die Dinge selbst, seine eigene,

wenn auch noch so dürfüge, Vorstellung vom Gottmenschen, die viel­

leicht genau mit der von hohen Behörden und Versammlungen be­

gutachteten übereinstimmt, als die wahre zu behaupten und festzuhalten, wenn auch ohne Leben und Fruchtbarkeit, und demnach das abwei­ chende Bild des Nächsten vom wahren Menschen als falsch zu ver­ dammen.

Einen verständigeren und fruchtbareren Gebrauch macht

aber von dem Jedermannsgedanken des Gottmenschen, wer, wie z. B.

der Kirchenliedsdichter Angelus Silesius, sich immer aufs Neue in die Niedrigkeit des eigenen, des gemeinen Lebens versenkt, um das Elend

desselben innig empfindend im Gegensatze dazu die Herrlichkeit des Ge­ rechten

bestimmt zu erkennen und zu preisen, wie in dem Verse

des Silesius:

nicht eine berechtigte Forderung, nicht eine begründete Vermutung.

137

Sein Reichtum läßt sich nicht ergründen,

Sein hoch nnd heilig Angesicht,

Und was von Schmuck um ihn zu finden,

Verbleichet und veraltet nicht. Ein jeder liebe, was er will, Ich liebe Jesum, der mein Ziel.

oder wie in einem anderen Liede desselben Scheffler, worin die Seele

den Cupido von sich jagt und ihr Herz dem Jesuskinde entblößt, es heißt: Du bist verblendt und toll Uttd böser Lüste voll,

Ein Herr der Herzendiebe; Mein Knab' ist rein,

Keusch, sehend, fein: Ein Gott der wahren Liebe.

Wer so immer aufs Neue den Versuch macht selbst denkend

den höchsten Gedanken aller zu denken, darf eher erwarten auf neue Art das, was allgemein gültig zu sein verdient, auszusprechen, als

wer gar nicht auf das Schwarze der Scheibe zielt und doch meint: „ich habe es getroffen".

29. Und so sollte ein jeder seine Vorstellung vom wahren Menschen, wenn dieselbe mit rücksichtsloser Aufrichtigkeit gesucht und behauptet wird, als die Vorstellung vom wahren Gotte geltend machen dürfen?

Und der höchste Gegenstand aller Bestrebungen des Menschen ist und bleibt ein bloßer Gedanke?

Dann ist, wenigstens für den Menschen, sofern er nach Natur­ erkenntnis ernstlich strebend als wirklich anerkennt nur das durch Be­

obachtung Bestätigte und das mit dem Wahrgenommenen in not­ wendiger Verbindung Stehende, der Gedanke des Gottmenschen nicht

verschieden von dem der Chiniäre.

Er ist ein Wahn, wenn auch viel­

leicht ein heilsamer, segensreicher Wahn, gesetzt, daß er für das Leben

Sechster Teil. Äas Jenseits eine gewisse Hoffnung,

138

der Menschen, für ihre Tüchtigkeit wie für ihr Glück, je von einiger

Bedeutung war.

Kann nicht auch ein Rausch den Menschen selig

machen? Aber annehmen kann der Mensch, sofern er die Wahrheit

will und sucht, diesen beseligenden Gedanken nur mit Widerwillen so lange, bis der Gegenstand dieses Gedankens, der wahre Mensch

und Gott, auf der Erde, ein Mensch unter Menschen, gefunden ist. Dann erst, wenn der höchste Gedanke zugleich ein geschichtlich

Gegebenes ist, darf er als der unzweifelhaft höchste Gegenstand der

Verehrung aller Menschen bezeichnet werden. Wäre nun die Überlieferung von einem solchen Wesen, das in irgend einer fernen Vergangenheit unter einem entlegenen, unange­

sehenen Volke gelebt hat, von einem Gottmenschen, in einer verständ­ lichen Sprache vorhanden, so wäre damit auch die Erhaltung des höchsten Gedankens in der Menschheit für alle Zukunft, so lange

wenigstens die Überlieferung von Mund zu Mund oder gar durch Schriften dauert, gesichert.

Ohne diese Befestigung aber in der Ge­

schichte und in Urkllnden möchte der Gedanke immer wieder wie die Flamme im Winde verweht und ausgelöscht werden.

Der Anschluß an die in einfältigen Worten erzählte Geschichte

von dem Leben und Sterben eines gerechten, reinen Menschen würde ermöglichen den Gedanken vom wahren Menschen selbst in den Un­

mündigen und geistig Unreifen zu wecken und so alle, groß und klein, zur Freiheit zu führen. Und wenn nun jene Geschichte in der Sprache der Kinder dasselbe, was wir in den vorangehenden Betrachtungen aus

der menschlichen Vernunft im Verhältnis zur Natur mit in Umrissen

entwickelt haben, in der unerschöpflichen Fülle und Mannigfaltigkeit

des Lebens offenbart, so würde der Beschäftigung aller, auch der Gebildeten und Gelehrten, mit dem Gedanken dadurch, daß die feste

Überlieferung

den schweifenden Meinungen Halt geböte, in unauf­

hörlichem Hin- und wiedergehen zu den Schriften, welche von jenem

nidjt eine berechtigte Forderung, nicht eine begründete Vermutung.

Leben erzählen, wahre Gründlichkeit verschafft werden.

139

So könnten

sich die Menschen aller Stände und jedes Alters im Anschluß an

die Überlieferung von einem wahren Menschen, wahren Gott ver­

einigen zur genieinschaftlichen Pflege und Erhaltung des höchsten Ge­ dankens in der Weise, daß sie bei regelmäßigen Znsamnienkünften die

Überlieferung der gemeinsamen Betrachtung zu Grunde legen würden,

nm den Gedanken vom wahren Menschen, den immer alten immer neu, zu entwickeln.

Die Überlieferung aber würde allen niedrigen

menschlichen Auffassungen und Verschlimmbesserungen wehren und könnte benutzt werden den etwa verunreinigten Gedanken immer aufs

Neue nach einem hohen iiitb faßlichen Vorbilde zu reinigen. Die Vereinigung von Menschen zur gemeinschaftlichen Pflege des Gedankens vom wahren Menschen würde aber außer den Vorschriften zur Aufrechterhaltung der Ordnung in einer wozu auch immer ver­

einigten und sich versammelnden Menge bestimmte Bräuche fordern, welche dienen z. B. die Aufnahme von Neulingen in die Vereinigung

zu bezeichnen. Andere Einrichtungen würden nötig sein, um den Auf­

genommenen in der Gemeinschaft zu erhalten, ihn zum Festhalten an dem Gedanken in seiner Reinheit, zum Hineinwachsen mit Leib iinb

Seele in den Gedanken zu stärken. Die regelmäßige, gemeinschaftliche Pflege des Gedankens aber unter festgesetzten Formen an bestimmten Orten und zu bestimmten Stunden würde den Menschen immer aufs

Neue in dem alltäglichen Drängen der Geschäfte wie der Erholungen von der Arbeit daran mahnen, daß er für seinen Wandel auf Erden nicht auf den Affen und die nnvernünftigen Wesen unter ihm zurück­

zublicken hat.

Sein Vorbild kann nur derjenige Bruder sein, der

vor ihm war und nach ihm sein wird.

An sich betrachtet ist das

Kirchengehen eine wertlose Handlung.

Ermöglicht nun so gerade die Unterwerfung unter die geschicht­ liche Erscheinung etwa des armen Lebens und Sterbens eines Zimmer-

Sechster Teil. Das Jenseits eine gewisse Hoffnung,

140

mannssohnes, der deni Grundsatz eines reinen Wandels in der Ver­ borgenheit trotz der größten Versuchungen zum Abfall treu bleibt bis zum unverdienten Tode am Kreuz mitten unter Verbrechern, als

eine Verkörperung des höchsten Gedankens vom wahrhaft menschlichen

Leben, die Hingabe des ganzen Menschen, die aufrichtige, an den Dienst dieses Gedankens und dadurch eine größere Gründlichkeit in

der Pflege desselben vonseiten des Einzelnen und eine Vereinigung der Bemühungen aller in diesem Dienst, wie haben wir zu entscheiden?

Müssen wir nicht die Ansprüche des ganzen Menschen, des dem Er­

kennen wie dem Schaffen zugewendeten, höher schätzen als den Ein­ spruch des bloßen Tugendanwalts?

Dieser mag immerhin behaupten

und mit Recht, der Gedanke des wahren Menschen, des leidenden

Gerechten, verliere für die Ordnung unseres Lebens allen Wert, wenn wir ihn zu einem Standbilde versteinern, welches so, wie es

geschaffen ist, unverändert, unveränderlich, stehen bleibt. Wo aber finden wir nun die geschichtliche Überlieferung, die

wir suchen?

Und

wenn

eine

uns

etwa

angebotene

Überlieferung

vom

Leben eines armen Zimmermannssohnes dem Gedanken vom wahren

Menschen genug thut,

so daß

wir diesen Menschensohn als den­

jenigen anerkennen, der jeden Menschen zur Freiheit führen kann,

wird diese Überlieferung uns durchaus, wird sie uns immer ge­

nügen? Wie, wenn dieselbe als einer unwissenschaftlichen Zeit nnd Ge­ sellschaft entstammend sich abergläubischer Annahmen nicht so erwehrt

hat, wie strenge Wissenschaft fordert?

Ein

darin

hervortretendes

Verlangen

nach

Vorgängen

und

Handlungen, die nach dem gemeinen Naturlauf nicht möglich sind,

und dem entsprechende Leichtgläubigkeit würden wir doch nicht deshalb

billigen müssen, weil uns an dem Menschen, dem man den, Zauber-

nicht eine berechtigte Forderung, nicht eine begründete Vermutung.

141

mantel umgehängt hat, der sich vielleicht mit Widerstreben den Zauber­ mantel hat umhängen lassen, gelegen ist. Aber gesetzt sogar, daß der Bericht den strengsten Ansprüchen

unserer Zeit nnd Wissenschaft

gering thut, die Allgemeingültigkeit

der Überlieferung im Ganzen oder int geringsten Teile für jedermann und für alle Zeit zu behaupten würde uns nicht die gleiche Über­

zeugung von Jahrhunderten, von Jahrtausenden, nicht die von Millio­ nen von Menschengeschlechtern berechtigen; denn worauf wollten wir

für einen Bericht über nie notwendige, immer nrangelhafte Ereignisse der Geschichte eine solche Behauptung gründen?

Und selbst wertn dem Lebenslauf eines Menschen in irgend einer Zeit der Wert der vollen, pünktlichert Übereinstinrmung mit dem Ge­ danken vom wahrhaft menschlichen Leben beizulegen wäre, so würde

derselbe doch als etwas, was zufälligerweise, wenn nicht geworden, so doch mir bekannt geworden ist, nur als ein Mittel zum Zwecke der gründlichen Pflege des Gedankens vom wahren Menschen im

Denken und int Leben zu schätzen sein.

Als die Geschichte eirtes

Heiligen wäre er eine heilige Geschichte, deren Inhalt und Über­

lieferung dem ungeachtet nicht anders als die von Alexander dem Großen zu behandeln die Wissenschaft sich nicht verbieten lassen darf, gerade wenn sie mehr und Höheres will als Feststellung von That­

sachen.

Ist doch mit der Beseitigung irgend eines Irrtums und

Wahns aus der heiligen Geschichte vonseiten der Wissenschaft dem

höchsten Gedanken der Menschheit, dem Gedanken vom wahren Men­ schen, ein Dienst erwiesen.

Alexander der Große verlangte von den

Griechen für sich göttliche Verehrung und erlangte diese von Knechten, die, während sie den Himmel hüteten, die Erde sich nicht entgehen

lassen wollten.

So Großes wie von jenem Erforscher der heiligen

Geschichte würden wir jedoch von dem Geschichtsforscher nicht rühmen können, dem es gelungen wäre ans der Lebensbeschreibung Alexanders

ZechKer Teil. Bas Jenseits eine gewisse Hoffnung,

142

Wahn und übernatürliche Abenteuer zu entfernen.

Wird nun das

Leben des Gottmenschen so als ein immerhin unentbehrliches Mittel zum höchsten Zwecke der Menschheit angesehen, so wird der Mensch das Annehmen dieser Geschichte als einer Verwirklichung des höchsten

Gedankens, das freiwillige Annehmen um der menschlichen Schwäche

willen,

und die Teilnahme an den äußeren Bräuchen zur Pflege

dieses Gedankens sich weniger hoch anrechnen und sich weniger zu­

muten als den Gebrauch dieser unentbehrlichen Mittel zum Zweck

eines wahrhaft menschlichen Lebens.

Gewiß aber nicht wird er die

Unterwerfung unter die Geschichte, zu welcher er sich bescheidener­ weise aus freien Stücken versteht und welche er wegen der damit

ermöglichten Gemeinsamkeit der höchsten Bestrebungen mit Recht von allen wünschen mag, anderen als ein Joch aufhalsen wollen und die Widerstrebenden verdammen.

Den Menschen nach seiner Teil­

nahme an kirchlichen Bräuchen und am kirchlichen Glauben schätzen

und nicht nach seiner Rührigkeit im Leben heißt den Menschen wie einen Schauspieler beurteilen nach dem, was er darstellt, nicht nach dem, was er ist.

Ist diese Schätzung der Geschichte, an welche wir den Gedanken

vom wahrhaft menschlichen Leben anknüpfen, als eines unentbehrlichen,

wertvollen Mittels zum höchsten Zweck der Menschheit die natürliche

und vernünftige, für welche Auffassung wir von jedermann Achtung

mit Recht verlangen und von Besonnenen erlangen werden, so mögen wir uns immerhin noch eine andere Schätzung je nach

unserem

Charakter und unserer Einsicht für uns selbst und für den Kreis unserer Gesinnungsgenossen

gestatten.

Die einen werden die wie

auch immer von der Wissenschaft angegriffene, angreifbare Geschichte

des Gottmenschen mit Dankbarkeit als ein Gut von unvergleichlichem Werte ansehen, als etwas Göttliches, ohne dessen Besitz sie sich den höchsten Gedanken weder zu finden noch zu erhalten getrauen. Andere,

nicht eine berechtigte Forderung, nicht eine begründete Vermutung.

143

weniger ängstlich, weniger dankbar, mögen denselben Bericht mehr wie einen anderen von irgend einem großen Manne der Weltgeschichte betrachten, von der Verbindung mit welchem sie den Gedanken des

wahrhaft menschlichen Lebens nnd die Pflege dieses Gedankens ganz

frei zn machen meinen bestrebt sein zu müssen.

Denn nur so sei das

Schicksal desselben von demjenigen, welches der vielleicht aus Irrtum

und Wahrheit unauflöslich znsannuengewebten geschichtlichen Überlieferung unter dem Messer der prüfenden Wissenschaft etwa droht, zn trennen.

Diese Schätzung der Geschichte, die übermäßige nach

entgegengesetzten Richtungen,

bei verschiedenen verschieden,

ist nie­

mandem aufzudrängen und steht da als ein Beispiel für die entgegen­ gesetzten äußersten Enden der Beurteilung des Gegebenen, zwischen

denen sich die gemeine menschliche Schätzung, die öffentliche von jedermann, vernünftigerweise in der Mitte hält.

Der Auffassung

der Geschichte vom Heiligen als einer menschlichen grundsätzlich zu­ gethan, bei welcher allein diese Überlieferung ein Mittel bleibt für

den Gebrauch der menschlichen Vernunft, erhält der Mensch besonnener­ weise sich der Eingeschränktheit seines Wissens auf bloße Eindrücke

von den Dingen bewußt.

Dann aber wird er sogar die Möglich­

keit einer höheren Natur der Überlieferung vom Gottmenschen sowie,

daß auch das in diesem Bericht über die Natur Hinailsgehende wie etwa die Speisung von fünftausend Mann durch den Gottmenschen mit fünf Broten und zwei Fischen, wobei alle satt werden und noch

zwölf Körbe voll Brocken ausgehoben werden, wirklich so geschehen sein mag, obgleich für den Menschenverstand des Naturforschers un­

begreiflich, nicht leugnen dürfen, ohne freilich auf diese bloße Möglich­

keit für Menschen auf menschlichem Standpunkte Gewicht legen zu dürfen.

Schluß. Das Jenseits für den Menschen eine immer zu erneuernde Welt des Gedankens, nicht eine unveränderliche Thatsache.

30. Am Ende unserer Betrachtungen sahen wir uns genötigt die Pflege des höchsten Gedankens der Menschheit an ein geschichtliches

Ereignis anzuknüpfen.

Wir mußten etwa in der Lebens- und Leidens­

geschichte eines Zimmermannssohnes etwas erblicken, was der unbe­

fangene Geschichtsforscher nicht darin zu entdecken vermag, ein Urbild

menschlichen Lebens, während er etwa, sei es kriegerische Tüchtigkeit,

sei es staatsmännische Weisheit, unter den Tugenden des Heiligen

vermißt.

Wir mußten ferner als nicht unmöglich zulassen, was, selbst

wenn es berichtet ist, wie die Äußerung göttlicher, übernatürlicher Kräfte, z. B. eine solche Herrschaft über Wind und Meer, daß diese

durch Worte bedroht stille werden, der Naturforscher nicht als wirklich

zugeben darf.

Dahin aber gelangten wir, indem wir zunächst nur das durch

Wahrnehmung Bestätigte als wirklich anerkannten. Dann aber mußten wir als unwahr selbst dasjenige ausscheiden, was jeder annimmt, ohne es doch wahrzunehmen: z. B. das Verhältnis der Ursache und

Wirkung. Aber wir durften uns nicht weigern das für den gemeinen Ge­ brauch in der Naturerkenntnis, in der Bestimmung des Thuns und

.Schlich.

145

Lassens unentbehrliche Denken wieder aufzunehmen, so weit es mit dem Gegebenen in Zusammenhang steht.

So erhoben wir uns bis

zu dem höchsten Gedanken des Menschen, dem des leidenden Gerechten. Diesen jedoch konnten wir als Menschen festhalten und für das Leben fruchtbar machen allein, indem wir um der Wahrheit willen, die

für uns gilt, die Anknüpfung des Gedankens an ein sinnlich Gegebenes

suchten und bereitwillig einem sich als rein und heilig bewährenden Leben in der Geschichte der Vergangenheit den Glauben schenkten,

dessen wir bedürfen. Wie aber, wenn diese Geschichte das übernatürliche Ansehen, das wir ihr zum Heil der Menschheit im Dienste dessen, was nicht sicht­

bar ist, bewilligten, das ihr ein jeder für sich zu bewilligen hat, von allem Gebrauch, den Menschen davon machen, abgesehen, gleichsam

als eine wunderbare Erscheinung, die aus einer höheren Welt auf

die Erde versetzt ist, ein Heiliges,

Unantastbares, von uns bean­

sprucht und, falls wir uns weigern das Geforderte zu gewähren,

ertrotzen will?

Nachdem wir die überlieferte Geschichte als ein Mittel von dem Zwecke der wahrhaften Menschlichkeit, zu der ihre Annahme uns ver­

helfen kann, unterschieden haben, kostet diese Geschichte aufzllgeben

mitsamt dem Ansehen, welches sie einer tausendjährigen Verwendung zum menschlichen Heile verdanken mag, nicht den Verzicht auf die

Reinigung und Heiligung des Lebens selbst.

Diese würde von Men­

schen vielleicht nicht ohne das Mittel einer solchen Geschichte erreicht werden, sie ist aber nicht einzig an dieses eine Mittel, das vielfach bewährte, gebunden, so wenig wie die Kraft des Magneten an das gerade magnetisierte Eisen. Die hohen Bestrebungen der Menschheit sind unabhängig ge­

worden von den Mitteln, welche uns unentbehrlich waren und sind, um sie zu erreichen. Romundt, Antäus.

Schluß.

146

Die eigenen früheren Versuche der Menschheit weiterzukommen sind nicht ferner, wie bisher so oft, das größte Hindernis des Weiter-

koinmens, wie die von tausendjährigem Wahn befreiende Rückkehr

zu dem einfachen Buchstaben der Bibel als dem reinen Wort Gottes, im 15. Jahrhundert, bei evangelischen Christen in eine starre Be­ schränkung auf den Buchstaben auszuarten droht.

Die mit der Entdeckung Amerikas durch Columbus anhebende Erneuerung der Gedankenwelt des Menschen hat zn der Erfindung

eines Verfahrens geführt,

mit Hülfe dessen wir wie mit einem

Schwamm immer wieder die mit allerlei Gesetzen nnd Satzungen vollgeschriebene Tafel unseres Geistes rein wischen können, ohne da­ nach darum verlegen zu sein, wie wir sie aufs Neue ansüllen.

178111881