Anton Wilhelm Böhme (1673-1722): Studien zum ökumenischen Denken und Handeln eines Halleschen Pietisten 9783666558108, 3525558104, 9783525558102


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German Pages [200] Year 1990

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Anton Wilhelm Böhme (1673-1722): Studien zum ökumenischen Denken und Handeln eines Halleschen Pietisten
 9783666558108, 3525558104, 9783525558102

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V&R

ARBEITEN ZUR GESCHICHTE DES PIETISMUS IM AUFTRAG DER

HISTORISCHEN KOMMISSION ZUR ERFORSCHUNG DES PIETISMUS

HERAUSGEGEBEN VON

K. ALAND, E. PESCHKE UND G. SCHÄFER

BAND 26

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

ANTON WILHELM BÖHME (1673-1722) STUDIEN ZUM ÖKUMENISCHEN DENKEN UND HANDELN EINES HALLESCHEN PIETISTEN VON

ARNO SAMES

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

D i e ersten 16 B ä n d e dieser Reihe erschienen i m L u t h e r Verlag, Bielefeld. A b B a n d 17 erscheint die R e i h e i m Verlag v o n Vandenhoeck & R u p r e c h t in G ö t t i n g e n

CIP- Titelaußiahme der Deutschen

Bibliothek

Sames, Arno: Anton Wilhelm Böhme: (1673—1722); Studien zum ökumenischen Denken und Handeln eines halleschen Pietisten / von Arno Sames. - Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1989 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 26) Zugl.: Halle, Univ., Diss., 1983 I S B N 3-525-55810-4 NE: GT

© 1990 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus Bembo auf Linotron 202 System 4 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

Inhalt Vorwort

7

Abkürzungen

9

Q u e l l e n - u n d Literaturverzeichnis

10

I. Problemfindung

19

1. Probleme aus der Biographie A. W. Böhmes 2. Probleme aus der Forschungsgeschichte a) Die zeitgenössische Literatur Polemische Literatur Apologetische Literatur b) Die hallesche Geschichtsschreibung c) Die biographisch-erbaulich orientierte Literatur d) Die geschichtlich und theologiegeschichtlich orientierte Literatur . . . e) Die ökumenisch orientierte Literatur 3. Probleme aus der Quellenlage und Quellenverwendung 4. Folgerungen fur die Aufgabenstellung der Arbeit

19 22 22 23 32 35 40 41 46 52 54

II. Zwischen Kirche und Separatismus: A. W. B ö h m e s Auseinandersetzung mit dem waldeckischen Konsistorium 1699/1700 . . .

58

1. Die Quellenlage 2. Der Pietismus in der Grafschaft Waldeck um 1700 a) Der Aufbau der Landeskirche b) Die Übergangszeit A. W. Böhmes in Wierborn 1696/97 c) Die Beziehungen des Grafenhauses zu Α. H. Francke d) A. W. Böhme als Informator in Arolsen 3. Der Konflikt A. W. Böhmes mit den Kräften der Orthodoxie a) Der Ablauf der Auseinandersetzung b) Die theologische Position A. W. Böhmes nach dem Protokoll seines Verhörs vom 17. und 18. Januar 1700 c) Die Verurteilung A. W. Böhmes durch seine orthodoxen Gegner . . . 4. Die Bewertung des Streits und seines Ausgangs a) Der Kampf des Alten mit dem Neuen b) Separatismus und Enthusiasmus in Laubach, Berleburg und Biesterfeld 5. Die theologische Position A. W. Böhmes nach seiner Ausweisung aus der Grafschaft Waldeck a) Seine Stellung zu den Enthusiasten

58 64 64 66 72 76 77 77 80 84 87 87 91 96 96

5

b) Übersetzung mystischer Schriften: Katharina von Genua und Peter Poiret 6. Zusammenfassung und Vorblick

100 105

III. Zwischen Anglikanismus und Luthertum: A. W. B ö h m e in E n g land ( 1 7 0 1 - 1 7 2 2 )

107

1. Die Quellenlage 2. Die Eingewöhnungszeit in London a) Der Anlaß der Reise b) Das Verhältnis zu Halle c) A. W. Böhme als Übersetzer hallescher Schriften 3. A. W. Böhme als Prediger an der Hofkapelle St. James in London a) Die Berufung b) A. W. Böhmes Stellung zu den kirchlichen Unionsbemühungen. . . . c) Modalitäten praktischer interkonfessioneller Zusammenarbeit . . . . d) Theologische Grundentscheidungen A. W. Böhmes 4. Zusammenfassung

107 108 108 110 114 118 118 121 124 126 130

IV. Zwischen Aktivität und glaubender Erwartung: A. W. B ö h m e und H. W. L u d o l f über die Allgemeine Kirche

133

1. Problemzusammenhang und Quellenlage 2. Das Bild H. W. Ludolfs in A. W. Böhmes Leichenpredigt a) Das biographische Schema b) Die Interpretation der Wirksamkeit H. W. Ludolfs c) Die theologischen Grundmotive H. W. Ludolfs d) Das Ludolf-Bild A. W. Böhmes: korrekturbedürftig und Korrektiv 3. H. W. Ludolfs Anschauungen von der Allgemeinen Kirche a) Die „Definition" der Allgemeinen Kirche b) Die Verwirklichung der Allgemeinen Kirche c) Allgemeine Kirche und Teilkirchen d) Die Unionsfrage e) Die Allgemeine Kirche als Zentrum der Pläne H. W. Ludolfs 4. Zusammenfassung V. Ergebnisse

.

133 136 136 138 139 141 142 142 144 145 146 147 148 150

Briefanhang

156

Register der Briefe B ö h m e s nach Halle

188

Namenregister

196

6

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Untertitel durch die Bezeichnung „Studien" charakterisiert worden, weil der Versuch, die ökumenische Theologie A. W. Böhmes darzustellen, in drei Anläufen von verschiedenen Ausgangspunkten her unternommen wurde. Dadurch wird weder ein geschlossenes Bild der Persönlichkeit A. W. Böhmes noch eine Synthese seiner Theologie geboten; es werden vielmehr Teile aus beiden Bereichen dargestellt. In diesem Verständnis kann der Name „Studien" auch mit dem Begriff „Vorarbeiten" beschrieben werden. Die Abhandlung hat das Ziel, einen Schritt auf das Gesamtverständnis A. W. Böhmes und damit verbunden des halleschen ökumenischen Denkens zur Zeit Α. H. Franckes hin zu tun. Für die Lösung dieser Aufgabe hat der Briefwechsel zwischen Böhme und Francke große Bedeutung. Er gibt nicht nur über A. W. Böhmes Selbstverständnis und über eine Vielzahl ökumenischer Aktivitäten Auskunft, sondern liefert auch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Stiftungen und zum Verständnis des Halleschen Pietismus. Eine kleine Auswahl aus dem Briefkorpus wird im Anhang wiedergegeben. Dadurch stellt sich die Arbeit auch sichtbar in die Tradition der Erschließungs- und Editionsarbeiten im Archiv der Franckeschen Stiftungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg eingeleitet worden sind, und bietet zugleich einen Beitrag zur Pietismusforschung, die einen Schwerpunkt in der Arbeit des Wissenschaftsbereichs Kirchengeschichte an der Sektion Theologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg darstellt. Im Jahre 1983 ist die vorliegende Untersuchung als Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der theologischen Wissenschaft (Dr. sc. theol.; Promotion B) von der Theologischen Fakultät des Wissenschaftlichen Rates der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommen worden. Sie erscheint hier in fast unveränderter Gestalt. Für viel freundliche Unterstützung möchte ich mich bedanken. Ich danke der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus und im besonderen den Herren Professoren D. Kurt Aland D. D. (Münster/Westfalen) und D. Erhard Peschke (Halle/Saale) für die Aufnahme der Abhandlung in die „Arbeiten zur Geschichte des Pietismus". Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat auf Antrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus einen Druckkostenzuschuß bewilligt und dadurch den Druck möglich gemacht; ich bin dafür sehr dankbar. Ferner danke ich dem Leiter des Archivs und der Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen, Herrn Dipl.-theol. Jürgen Storz, für die gute Arbeitsatmosphäre im Archiv und die 7

fachliche Beratung; er genehmigte auch die Wiedergabe der Briefe im Anhang der Arbeit. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Friedrich de Boor, der mich als Leiter des Wissenschaftsbereichs Kirchengeschichte an der Sektion Theologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg auf vielfältige Weise unterstützt hat. Halle/Saale, 3. Dezember 1988

8

Arno Sames

Abkürzungen AFSt AHE BEBr BESI B E S II B E S III HB HPW JGP MAFSt RL SPCK RVorr I RVorr II

Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle Annales Hallenses ecclesiastici A. W. Böhme: Erbauliche Briefe, 1737 A. W. Böhme: Erbauliche Schriften, 1731 A. W. Böhme: Erbaulicher Schriften Andrer Theil, 1732 A. W. Böhme: Erbaulicher Schriften Dritter und letzter Theil, 1733 Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle Historia Pietistica Waldeccensis Jahrbücher zur Geschichte des Pietismus Missionsarchiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle Reliquiae Ludolfianae Society for Promoting Christian Knowledge J. J. Rambach: Vorrede zu B E S I J. J. Rambach: Vorrede zu B E S II

9

Quellen- und Literaturverzeichnis Die Quellen- und Literaturübersicht ist nicht als eine Bibliographie zu Böhme angelegt, sondern fuhrt das Material auf, das fur die Arbeit benutzt worden ist.

1. Hilfsmittel Zaepernick, Gertraud: Verzeichnis der Handschriftenbestände pietistischer, spiritualistischer und separatistischer Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts in der Landesbibliothek Gotha sowie in anderen Handschriftensammlungen und Archiven in Gotha und Erfurt (Typoskript)

2. Quellen Handschriftliche Quellen in Halle Böhmes AFSt A AFSt C AFSt D MAFSt Andere

Briefwechsel 113. 144. 149. 166. 174. 175. 185. 188a. 193 229. 826. 827. 828. 829. 830 57. 60. 111 I C 1; I C 3; I C 4; I C 5; I C 7; I C 10; II G 16 Quellen

AFSt C 812:12 Kurtze Nachricht von dem was seither 5 Jahren in der Graffschafft Waldeck in der so genanndten causa pietistica passiret ist (undatiert, ohne Namen) AFSt C 812:13 Species Facti in Sachen des Gräffl. Ysenburg. Rath Beckers u. des H. Graffen von Waldeck Hochsei. Ged. (undatiert, ohne Namen) AFStDlla Verzeichnis der Freitischler der Franckeschen Stiftungen 1696—1704 AFSt D 113 Kopierbuch von Briefen Α. H. Franckes AFSt F 30a—k. m; F 31 n; F 32 f. Callenberg, Johann Heinrich: Neueste Kirchenhistorie von 1689 an

10

Handschriftliche

Quellen in der Forschungsbibliothek

Gotha

Chart. A 343

Rauchbar zu Lengefeld, Carl Gottfried von: Historisch-Juristische Deduction in Caussa der von dem nachherigen Canzley-Director zu Graitz, Otto Heinrich Beckern, vornehmlich unterstützten Pietistischen Unruhen im Waldeckischen, usque 1718. incl. Chart. Β 198:164. 165. 167 Briefe Α. H. Franckes an F. Breckling

Handschriftliche

Quellen im Archiv der SPCK

^ P

-

Abstract Letter Book (1708-1723)

^ P

- ^ r

Society Letters (1708-1723)

in London

Über Böhmes Aktivitäten geben ferner Aufschluß die verschiedenen Protokollbücher: Minutes of the S. P.C.K. Special Committee Minutes Minutes from appointment of Subcommittee Standing Committee Book

Gedruckte

Quellen

Annales Hallenses ecclesiastici 1689—1714. Hg. von Kurt Aland. In: Aland, Kurt: Die Annales Hallenses ecclesiastici: das älteste Denkmal der Geschichtsschreibung des Halleschen Pietismus. In: ders.: Kirchengeschichtliche Entwürfe. Gütersloh 1960, (580-649) 598-645 Becker, Otto Henrich: Abgenöthigte A P O L O G I E und Schutz-Schrifft Wieder Eine unter der Rubric HISTORIA PIETISTICA WALDECCENSIS heraus gekommene Schmäh-Schrifft / Worinnen Die in jetzt gedachter Historia enthaltene grobe Unwahrheiten und boßhaffte Verleumbdungen ex ipsis Actis und Original-Uhrkunden / so beym Kayserl. Cammer-Gericht producirt seyn / refutiret worden. Nebst vielen Beylagen / Darunter verschiedene herrliche / Christlichen Obrigkeiten und Consistoriis sehr nützliche responsa, consilia und vota zu finden. Bey dem Hochpreisl. Kayserl. Reichs Cammer-Gericht übergeben Von O t t o Henrich Bekk e r n / Gräffl. Ysenburg. Büdingischen Regierungs- und Consistorial-Rath. [o. O.] Gedruckt im Jahr 1712 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 2., verb. Aufl. 1955 Bender, Wilhelm: Urkunden zur Geschichte des deutschen Pietismus: aus dem Archive des Fürstlich- und Gräflich-Ysenburgischen Gesammthauses zu Büdingen. In: Theologische Arbeiten aus dem rheinischen wissenschaftlichen PredigerVerein. 6. Bd., 1885, 3 3 - 1 0 5 Boehm, Anthony William: Α Short Account of Some Persons w h o have been

11

Instrumental in promoting the most Substantial Points of Religion in some Parts of Germany. London 1707 Ders.: The Faithful Steward: Set forth in a Sermon Preach'd at St. James's, The Third DayofFeb. 1712. On Occasion of the Funeral ofMr. Hen. Will. Ludolf, Heretofore Secretary to His Royal Highness Prince George of Denmark, &c. of blessed Memory; Who Departed this Life at London, on the 25th Day ofJan. in the said Year (London 1712) Böhme, Anton Wilhelm: Erbauliche Schriften: Anfänglich eintzeln, nunmehr aber zusammen, Theils in Teutscher, theils in Englischer Sprache, aus welcher sie mit Fleiß Ins Teutsche übersetzet worden, ans Licht gestellet, Und mit einer Vorrede Von dem Leben des Verfassers begleitet von Johann Jacob Rambach. Altona 1731 Ders.: Erbaulicher Schriften Andrer Theil, Anfänglich eintzeln, Theils in Teutscher, theils in Englischer und Lateinischer Sprache, herausgegeben, Nunmehr aber ins Teutsche übersetzet und zusammen ans Licht gestellet, und mit einer Vorrede von den besonderen Gnaden-Gaben des Verfassers begleitet von D. Johann Jacob Rambach. Altona 1732 Ders.: Erbaulicher Schriften Dritter und letzter Theil, welche vorhero noch nie im Drucke gesehen worden, Jetzo aber zusammen gesammlet, Und mit einer Vorrede begleitet worden von einem Nieder-Sächsischen Theologo. Altona 1733 Ders.: Acht Bücher von der Reformation Der Kirche In England, Und was von dem 1526tcn Jahre an, unter Henrico VIII. und folgenden Königen bis zu Caroli II. Regierung Bey derselben Merckwürdiges sich zugetragen. Jetzo zuerst ans Licht gegeben; Nebst einer Vorrede Jo. Alberti Fabricii. Altona 1734 Ders.: Erbauliche Briefe, welche in teutscher, lateinischer und englischer Sprache von ihm geschrieben worden; mit einer Vorrede, in welcher von dem Herausgeber nach dem Exempel des sei. Verfassers gezeiget wird: Daß man einen jeden müsse sein Recht geniessen lassen, wenn man von ihm urtheilet. Altona und Flensburg 1737 Botterweck, Johann Friedrich: Rettung Seiner Consistorial- und Theologischen Gutachten von denen Ungegründeten Anmerckungen der Theologischen Facultät zu Wittenberg / ihrem Responso in der also genannten Causa Pietistica Waldeccensi einverleibt; Darinn einige von erwehnten Gutachten enthalten / vnd nicht allein eine gründliche Nachricht von dem in d. causa erregten Streit ertheilet/ sondern auch Von verschiedenen wichtigen Theologischen Materien gehandelt wird. Halle 1717 Canstein, Carl Hildebrand von: Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke. Hg. von P. Schicketanz. Berlin-New York 1972 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. III, Bd. 1) Catharina von Genua: Der Göttliche Liebes-Weeg Unter dem Creutz. oder: Ein anmuthiges und erbauliches Gespräch von denen Liebes-Wirckungen Gottes in den Menschen: Zu eifferiger Vollendung der inneren Heiligung und Ablegung der mancherley Befleckungen des Fleisches und des Geistes / in Italiänischer Sprache ursprünglich beschrieben durch Catharinam von Genua. Jetzt aber Wegen seiner Vortrefflichkeit zur Erweckung beydes der Anfänger und Erwachsenen aus des Herrn Poirets Frantzösischer Ubersetzung ins Teutsche überbracht. Nebst der Frau Verfasserin bedencklichen Lebens-Beschreibung. Halle 1701 Francke, August Hermann: August Hermann Franckes Schrift über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozia12

len Neuordnung der Evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts. Der Große Aufsatz. Mit einer quellenkundlichen Einfuhrung hg. von Otto Podczeck. Berlin 1962 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, philolog.-hist. Klasse, Bd. 53, Heft 3) Ders.: Segens-volle Fuß-stapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen GOttes / Zur Beschämung des Unglaubens und Stärckung des Glaubens entdecket durch eine wahrhafte und umbständliche Nachricht von dem WäysenHause und übrigen Anstalten zu Glaucha vor Halle: Welche im Jahr 1701. zum Druck befördert; ietzo aber zum dritten mal ediret / und bis auf gegenwärtiges Jahr fortgesetzet. Halle 1709 Ders.: Pietas Hallensis: Being an Historical Narration O f the wonderful Foot-Steps of Divine Providence In Erecting, Carrying on, and Building the Orphan-House, And other charitable Institutions, at Glaucha near Hall in Saxony, Without any visible Fund to support it. By Augustus Hermannus Franck; Professor of Divinity in the Frederician University of Hall, Pastor of Glaucha, and Director of the Pious Foundations there. Continued to the beginning of the Year MDCII, in a Letter to a Friend. And an Appendix giving a more clear and full View of the Progress of Learning and Christian Piety, both in the Said University, and in the Royal Collegiate Schools. To which is added Several Considerable Papers relating to this Work by the King of Prussia. London 1705 Ders.: An Abstract of the Marvellous Footsteps of Divine Providence, In the Building of a very large Hospital, or rather, a Spacious College, For Charitable and Excellent Uses; And in the Maintaining of many Orphans and other Poor People therein; At Glaucha near Hall, In the Dominions of the K. of Prussia. Related by the Reverend Augustus Hermannus Franck, Professor of Divinity, and Minister of Glaucha aforesaid. With a Preface written by Josiah Woodward, D. D. And Recommended by another Eminent Divine of the City of London. London 1706 Ders.: Pietas Hallensis: Or, an Abstract of the Marvellous Footsteps of the Divine Providence, In the Building of a very large Hospital, Or rather, a Spacious College, For Charitable and Excellent Uses. And in the Maintaining of many Orphans & other Poor People therein; At Glaucha near Hall, In the Dominions of the K. of Prussia. Related by the Reverend Augustus Hermannus Franck, Professor of Divinity, and Minister of Glaucha aforesaid. With a Preface written by Josiah Woodward, D. D. And recommended by some Eminent Divines of the Church of England. To which is added, A short History of Pietism. The Second Edition enlarged. London 1707 Ders.: Project. Zu einem Seminario Universali oder Anlegung eines Pflantz-Gartens, von welchem man eine reale Verbesserung in allen Ständen in und auserhalb Teutschlandes, ja in Europa und allen übrigen Theilen der Welt zugewarten. (1701) In: ders.: Werke in Auswahl. Hg. von E. Peschke. Berlin 1969, 108-115 Ders.: Streitschriften. Hg. von E. Peschke. Berlin-New York 1981 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. II, Bd. 1) Ders.: Werke in Auswahl. Hg. von E. Peschke. Berlin 1969 Geissendoerffer, Theodor (Hg.): Briefe an August Hermann Francke. Urbana (Illinois) 1939 (Illinois Studies in Language and Literature, Vol. 25, nos. 1—2) HISTORIA PIETISTICA W A L D E C C E N S I S , Wie solche Denen in Sachen des aus Hochgräfflich-Waldeckischen Diensten heimlich entwichenen Regierungs-Rath Otto Henrich Beckern / wie auch des aus Arrest entflohenen ConRectoris Johann 13

Henrich Marmors / vom Hochpreislichen Reichs-Cammer-Gericht / auferlegten Berichten / als ein adjunctum sub η. I. benebst ihrer vielen Neben-Adjunctis ä η. I. ad X X I X . inclusive beygefuget / zu der Regierenden Hohen Landes-Obrigkeit / auch ihrer geist- und weltlichen Bedienten / Ehren-Rettung / Gegen alle bißher von ermeldetem Rath Becker / und ConRector Marmor / höchst-fälschlich und gewissenlos geschehene I M P U T A T A . Als einer Tyranney / oder frommer unschuldiger auch still-lebender Seelen/ blutdürstigen Verfolgung / und weniger nicht zu völliger I N F O R M A T I O N denen von dieser Sache nicht gründlich Unterrichteten. Diesem ist beygefuget ein Mandatum Cassatorium & Revocatorium S.C. welches den 17. Junij 1712. auff Anruffen des Herrn Reichs-Fiscalis occasione dieser Händel vom Hochpreislichen Reichs-Cammer-Gericht erkandt. Auff Special gnädigsten Befehl einer Regierenden Hohen Landes-Obrigkeit entworffen / und gedruckt. C O R B A C H / Gedruckt bey Johann Flertmann / Anno 1712 Kramer, Gustav: Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke's: enthaltend den Briefwechsel Francke's und Spener's. Halle 1861 Ders.: Neue Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke's. Halle 1875 Kvacala, Johann: Neue Beiträge zum Briefwechsel zwischen D. E. Jablonsky und G. W. Leibniz. Juijew 1899 Ludolf, Heinrich Wilhelm: Reliquiae Ludolfianae: The Pious Remains of Mr. Hen. Will. Ludolf. . . . To which is added, His Funeral Sermon, Preach'd by Anthony William Boehm, Chaplain to His late Royal Highness Prince George ofDenmark. London 1712 Ders.: Consilium de universae ecclesiae salute procuranda collegit atque illustravit Christianus Pamphilus. (Halle) 1731 Marmor, Johann Henrich: SPECIES FACTI und abgedrungene Schutz-Schrifft / gegen eine voriges Jahr unter der Rubric HISTORIA PIETISTICA W A L D E C C E N S I S heraußgekommene Ehren-rührige Schmäh-Charteque, Darinnen die in gedachter Historia von dem Hoch-Gräfl. Waldeckischen Rath und CammerJunckern Carl Gottfried von Rauchbar / und seinem Helffer Johann Kleinschmieden / Superint. zu Corbach / gottloser Weise ersonnene und Gewissen-loß außgegossene boßhaffte Unwahrheiten und Calumnien / mit unwiedertreiblichen Gründen / Original-Uhrkunden und P R O T O C O L L , so theils bey dem Kayserl. Cammer-Gericht / theils bey der Hoch-Gräfl. Waldeckischen Regierung produciret / und übergeben sind / gründlich widerleget werden. Von Johann Henrich Marmor, [o. O.] Gedruckt im Jahr 1713 Nebelsieck, Heinrich: Zur Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck. In: Geschichtsblätter für Waldeck und Pyrmont 34 (1934), 4 8 - 8 0 Poiret, Peter: Hertzens-Theologie / Oder Einige sehr schöne geistliche Tractätgen / Voll Göttliches Lichts und Erkäntnisses / Dergleichen G O T T reinen und einfältigen Seelen mitzutheilen pfleget / Erster Theil. . . . Anderer Theil / . . . Aus der Frantzösischen Edition des Herrn Poirets ins Teutsche übersetzet. Franckfurt und Leipzig/1702 Ders.: Irenicum Universale, Oder Gründliche Gewissens-Ruhe Aller Frommen Hertzen/ so sich in denen unterschiedlichen Abtheilungen des Christenthums befinden. Begriffen in einer kurtzen Unterrichtung / der Christlichen Lehre / Und insonderheit des Articuls Vom H. Abendmahl/ Worinn zugleich ein Theil des eilfften alsogenandten Pastoral-Brieffs / So neulich wider die Treuhertzige Vermahnungen ausgegeben worden / widerlegt wird / Neben andern hierzu gehöri-

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gen Stücken / Zusammen gefasset durch Petrum Poiret. Anjetzo denjenigen zum besten / so der Frantzösischen Sprache nicht kündig / verteutschet. Amsterdam / Bey Theodor Boeteman. 1702 Reitz, Johann Henrich: Historie Der Wiedergebohrnen / Oder Exempel gottseliger / so bekandt- und benant- als unbekandt- und unbenanter Christen / Männlichen und Weiblichen Geschlechts / In Allerley Ständen / Wie Dieselbe erst von Gott gezogen und bekehret / und nach vielem Kämpfen und Aengsten / durch Gottes Geist und Wort / zum Glauben und Ruh ihrer Gewissen gebracht seynd. Ins Hochteutsche übersetzt. Offenbach am Mäyn / Druckts Bonaventura de Launoy . . . / 1693/ Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698—1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten und Ergänzungen aus späteren Auflagen hg. vonH.-J. Schräder. Tübingen 1982 RESPONSUM THEOLOGICUM U N D JURIDICUM Von der Chur-Sächsischen Universität Wittenberg IN CAUSA PIETISTICA WALDECCENSI Aus denen zu Ende specifice denominirten Actis Originalibus Der Kirchen GOttes und Gemeinem Wesen zum Besten Auf hohen Landes-Herrlichen Gnädigsten SpecialBefehl eingeholet und zum Druck befördert durch Hoch-Gräffliche Waldeckische/ dermahlen zur Regierung und Consistoria verordnete Land-Drost und Räthe. Franckfurt und Leipzig 1715 Seeberg, Erich (Hg.): Gottfried Arnold. In Auswahl herausgegeben. München 1934 Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen. Leipzig 1702ff. (seit 1721 unter dem Titel: Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen) Weigel, Valentin: Ausgewählte Werke. Hg. und eingel. von Siegfried Wollgast. Berlin 1977 Weinitz, Franz: Vier Schreiben an August Hermann Francke und ein Schreiben an seine Gattin Anna Magdalena Francke gerichtet von Mitgliedern des Waldeckischen Grafenhauses. In: Geschichtsblätter fur Waldeck und Pyrmont 15/16 (1916), 82-92

3. Literatur Aland, Kurt: Die Annales Hallenses ecclesiastici: das älteste Denkmal der Geschichtsschreibung des Halleschen Pietismus. In: ders.: Kirchengeschichtliche Entwürfe. Gütersloh 1960, (580-649) 598-645 Barthold, Friedrich Wilhelm: Die Erweckten im protestantischen Deutschland während des Ausgangs des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts; besonders die Frommen Grafenhöfe. Erste Abtheilung. In: Historisches Taschenbuch. Hg. von F. von Raumer. Dritte Folge, dritter Jahrgang. Leipzig 1852, 129—320 Baring, G.: Valentin Weigel und die „Deutsche Theologie". In: Archiv fur Reformationsgeschichte 55 (1964), 5—17 Baumgart, Peter: Leibniz und der Pietismus: universale Reformbestrebungen um 1700. In: Archiv für Kulturgeschichte 48 (1966), 364-386 Beiträge zur Geschichte der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont. Im Namen des Vereins hg. von Louis Curtze. Bd. 1 - 3 , Arolsen 1864, 1869, 1871

15

Benz, Ernst: Die Beziehungen des August-Hermann-Francke-Kreises zu den Ostslawen. In: Festschrift für Dmytro Cyzevskyj zum 60. Geburtstag am 23. März 1954. Berlin (West)-Wiesbaden 1954, 76—99 (Veröffentlichungen der Abteilung für slavische Sprachen und Literaturen des Osteuropa-Instituts [Slavisches Seminar] an der Freien Universität Berlin. Hg. von M. Vasmer. Bd. 6) Beschreibung des Hallischen Waisenhauses und der übrigen damit verbundenen Frankischen Stiftungen nebst der Geschichte ihres ersten Jahrhunderts. Zum Besten der Vaterlosen. Halle 1799 Beyreuther, Erich: August Hermann Francke und die Ökumene. Leipzig 1952. (MS) -Leipzig, theol. Habil., 1953 Ders.: August Hermann Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung. Leipzig 1957 Ders.: Geschichte des Pietismus. Stuttgart 1978 Bohn, Karl: Beiträge zu der Geschichte des alten Pietismus im Solms-Laubacher Land. In: Ich dien: Festgabe zum 60. Geburtstage von Wilhelm Diehl. Hg. von H. v. d. Aue, H. Hassinger, H. Bräuning-Oktavio. Darmstadt 1931, 148-178 de Boor, Friedrich: Art. Francke, August Hermann. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 11 (1983), 312-320 Cramer, Samuel: Art. Poiret, Pierre. In: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 15 (1904), 491 - 4 9 7 Curtze, Louis: Nachrichten über Gelehrte, Schriftsteller und Künstler der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont von der Reformation an bis auf die Gegenwart. In: Beiträge zur Geschichte der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont. Bd. 2, 1869, 1 - 4 8 . 164-220 Dalton, Hermann: Daniel Ernst Jablonski: eine preußische Hofpredigergestalt in Berlin vor zweihundert Jahren. Berlin 1903 Delius, Walter: Berliner kirchliche Unionsversuche im 17. und 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Berlin-brandenburgische Kirchengeschichte 45 (1970), 7—121 Deppermann, Klaus: Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.) Göttingen 1961 Diehl, Wilhelm: Beiträge zur Geschichte des Pietismus in der Obergrafschaft. In: Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde. NF. Ergänzungsheft III: Beiträge zur Hessischen Kirchengeschichte. Darmstadt 1906, 297—322 Duffy, Eamon: The Society of Promoting Christian Knowledge and Europe: the Background to the Founding of the Christentumsgesellschaft. In: J G P 7 (1981), 28-42 Germann, Wilhelm: Ziegenbalg und Plütschau: die Gründungsjahre der Trankebarschen Mission. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus nach handschriftlichen Quellen und ältesten Drucken. Erlangen 1868. Zweite Abtheilung: Urkunden. Erlangen 1868 Goltz, Hermann: Ecclesia universa: Bemerkungen über die Beziehungen H. W. Ludolfs zu Rußland und zu den orientalischen Kirchen (Ökumenische Beziehungen des August-Hermann-Francke-Kreises). In: WZ Univ. Halle 28 (1979), ges.und sprachwiss. Reihe, Heft 6, 19—37 Hinrichs, Carl: Preußentum und Pietismus: der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971 Hirsch, Emanuel: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik: die Dogmatik der Refor16

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I. Problemfmdung 1. Probleme aus der Biographie Anton Wilhelm Böhmes Anton Wilhelm B ö h m e wurde am l . J u n i 1673 in O s d o r f (Grafschaft Waldeck) geboren. Er war der fünfte Sohn des ö s d o r f e r Pfarrers Anton Böhme 1 . Über seine Kindheitsentwicklung gibt es keine Quellen 2 . Erst v o m 1 J. J. Rambach in der Vorrede zu A. W. Böhme: Sämtliche Erbauliche Schriften, Altona 1731 (BES I), 5 f. Der hier gebotene kurze Abriß des Lebens Böhmes stützt sich im wesentlichen auf die von Rambach in dieser Vorrede (abgekürzt zitiert als RVorr I) auf den Seiten 3—56 gebotenen Daten sowie auf seinen zu A. W. Böhme: Erbaulicher Schriften Andrer Theil, Altona 1732 (BES II), 1—22 gegebenen Vorbemerkungen (RVorr II). - Zur Bedeutung Rambachs für die Kenntnis Böhmes vgl. vorliegende Arbeit, S. 35—39. 2 Auf eine Anfrage, die Johann Georg von Wurm im Auftrage Α. H. Franckes zwecks Ergänzung der Biographie Böhmes an dessen Bruder Johann Christoph Böhme geschrieben hatte, antwortete dieser am 26. Mai 1723 aus Biesterfeld und bemerkte in diesem Briefe: „Leute von geringer Abkunfft schreiben außer dem Gebuhrts-jahr u. Orth selten von den Ihrigen etwas merckliches aufP' (AFSt C 229: 91; dieser Brief ist im Briefanhang der vorliegenden Arbeit, S. 157 wiedergegeben worden). Doch weiß RVorr I, 5 f. einige Nachrichten weiterzugeben, die ihm vermutlich aus den Kirchenbüchern in Osdorf durch die Familie mitgeteilt worden waren: (1) Daten über den Vater Böhmes: Er starb im Jahre 1679 im 56. Lebensjahr und hatte sich zum Leichentext die Worte Jakobs Gen 48,21 erwählt; (2) Daten über die Mutter Böhmes: Sie war Anna Catharina Oynhausen, Tochter des ehemaligen Kommandanten von Schloß und Festung Pyrmont, Christoph Oynhausen, und starb 1717 im 77. Lebensjahr; (3) Den Segenswunsch Anton Böhmes für seinen fünften Sohn. Die wenigen Nachrichten, die Rambach über die Familie Böhmes gibt, sind an einigen Punkten durch heimatkundliche Forschungen ergänzt worden: Anton Böhme begann im Jahre 1657, die Kirchenbücher in Osdorf zu fuhren. Die älteren waren im 30jährigen Krieg verlorengegangen (Evangelische Geistliche in Pyrmont seit der Reformation bis auf die neueste Zeit. In: Beiträge zur Geschichte der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont, Bd. 3, 1871, 159). Im Oktober 1679 kam ein anderer Pfarrer nach Osdorf (L. Curtze: Nachrichten über Gelehrte, Schriftsteller und Künstler der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont von der Reformation bis auf die Gegenwart. In: Beiträge zur Geschichte der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont, Bd. 2, 1869, 176, Anmerkung). Marie Catharine Böhme, eine Tochter Anton Böhmes, heiratete Johann Georg Piderit, der später in Pyrmont „Brunnen-Commissar" war (Evangelische Geistliche . . . , 159, Anm. 2). Ein Sohn aus dieser Ehe war im Jahrel707 in Halle (vgl. denBriefJ. Chr. Böhmes an Α. H. Francke vom 4. Mai 1707, AFSt C 229: 69). Johann Christoph Böhme, ein älterer Bruder Böhmes. Er studierte in Rinteln Theologie (Verteidigung einer Dissertation am 6. September 1690) und „ist später Prediger bei dem Grafen von Lippe-Biesterfeld geworden und soll zu Biesterfeld gestorben sein" (L. Curtze: Nachrichten über Gelehrte, Schriftsteller und Künstler . . ., 159. Von ihm sind 2 Briefe bekannt: AFSt C 229: 91 (vgl. Briefanhang der vorliegenden Arbeit, S. 157) und AFSt C 229: 69.

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Beginn des Studiums an3 wird die Überlieferung ausfuhrlicher. „Ohngefähr 1693 ist er", berichtet J. J. Rambach, „auf die zu Halle neu angelegte Universität gezogen" und hat sich dort der Einwirkung August Hermann Franckes ganz geöffnet 4 . Nachdem er in Halle „einen guten Grund in seinem Christentum" gelegt hatte, war er zunächst in verschiedenen adligen Familien als Hauslehrer tätig5, ehe er im Jahre 1698 einem Ruf als Informator an den gräflichwaldeckischen Hof nach Arolsen folgte 6 . Der Aufenthalt in der Grafschaft gipfelte in einem Streit mit der orthodoxen Geistlichkeit und Böhmes Entlassung aus waldeckischen Diensten im Jahre 17007. Da zumindest einige Dokumente dieser Auseinandersetzung erhalten sind8, tritt Böhme hier zum Über die innere Entwicklung Böhmes konnte auch Rambach nichts berichten: „Von den besonderen Umständen seiner Erziehung in seiner Eltern Hause hat man nichts erfahren können." (RVorr 1,7) Die erste Unterweisung des Knaben hat der Vater vorgenommen. „Nach des Vaters Tode wurde er von dem Herrn Weland, ehemaligen Prediger in Lemgo, auf Ersuchen in Kost und Information genommen, alwo er auch das Gymnasium frequentiret, nachgehends aber zu Hameln die Stadt-Schule besuchet." (RVorr 1,7) Das sind alle Daten über die ersten 20 Lebensjahre Böhmes, die überliefert worden sind. Zur Geschichte der Familie Böhmes ist aus anderen Quellen noch nachzutragen: 1. Eine Schwester Anna Elisabeth Böhme, an sie hat Böhme am 14. August s.v. 1703 aus London nach Osdorf geschrieben (AFSt A 166: 15). 2. Z u m Wohnsitz der Familie Böhmes und zu ihrem Verhältnis zur Kirche vgl. vorliegende Arbeit, S. 94f. 3 Johannes Kleinschmidt, Superintendent in Korbach, hat auf Böhmes Verurteilung des studentischen Lebens an den Universitäten Wittenberg, Jena und Rinteln (Historia Pietistica Waldeccensis: Anlage, 32) mit der Formulierung reagiert: „heisset das nach dem Inhalt des vierdten Gebots seine Praeceptores (sintemahl er zu Rinteln studiret hat) ehren?" (so in seinem Gutachten vom 4. März 1700 in: Historia Pietistica Waldeccensis: Anlage, 47). Von einem Studium Böhmes in Rinteln ist sonst nichts bekannt; vielleicht liegt eine Verwechslung mit dem Studiengang seines Bruders Johann Christoph vor (vgl. oben Anm. 2). 4 RVorr 1,7. Leider kann das „Ohngefähr" Rambachs nicht präzisiert werden; denn Böhme ist in der Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg nicht aufgeführt, obwohl in sie auch Studenten aufgenommen worden sind, die vor der offiziellen Eröffnung der Universität (2. Juli 1694) das Studium aufgenommen hatten. Von den alten Matrikelbänden sind zwar die ersten verlorengegangen, so daß fur die Zeit bis zum 3. Juli 1700 die N a m e n aus dem „Catalogus deren Studiosorum, so auf hiesiger Friedrichs Universität immatriculiert worden, nach Ordnung des Alphabets eingerichtet. De Anno M D C X C I I I bis 1744" ergänzt wurden. Da dieser Katalog aber nach dem Urteil der Herausgeber „durchaus den Eindruck der Vollständigkeit und Zuverlässigkeit" macht (Matrikel der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg 1 [1690—1730], Unter Mitwirkung von Franz Zimmermann bearbeitet von Fritz Juntke, Halle 1960, V), ist das Fehlen Böhmes erstaunlich. Die unsichere Angabe über Böhmes Studienbeginn in Halle läßt auch die Frage als müßig erscheinen, ob er in der ersten Hälfte des Jahres 1693 Kontakt mit dem Kreis der Enthusiasten um Ernst Christoph Hochmann von Hochenau hatte (vgl. dazu H. Renkewitz: Hochmann von Hochenau (1670—1721): Quellenstudium zur Geschichte des Pietismus, 1935, 20—38). 5 RVorr 1,8. An welchen Orten und in welchen Familien das gewesen sein könnte, ist nicht überliefert. 6 RVorr 1,8. 7 RVorr 1,8-10. 8 Vgl. zu dieser Frage vorliegende Arbeit, S. 58—64. 77—80.

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erstenmal in eindrücklicher Charakterisierung vor Augen. Die geistig-theologische und charakterliche Entwicklung, die der Siebenundzwanzigjährige bisher genommen hat, sowie theologische Leitvorstellungen, die er eventuell weitertragen wird, werden in diesen Ereignissen gebündelt. Die Streitigkeiten um seine Person in der Grafschaft Waldeck sind der erste durch die Quellen erfaßbare Schwerpunkt im Leben Böhmes. Halle nimmt den Vertriebenen auf und ist auch gleichzeitig der Ausgangspunkt für die nächste Etappe seines Lebens. Der Ruf, dem er folgte, kam aus England 9 . Nach mancherlei Wechselfällen auf der Reise kam er am 7. N o vember 1701 in London an 10 . Zweiundzwanzig Jahre hindurch, bis zu seinem Tode am 27. Mai 1722, blieb London sein fester Wohnsitz. Von hier aus hat er, abgesehen von zwei Reisen auf den Kontinent 11 und kleineren Fahrten innerhalb Englands 12 , unermüdlich als Schüler August Hermann Franckes gewirkt. Er blieb zeitlebens ledig 13 . Böhmes Tätigkeit in London war vielfältig und spielte sich auf verschiedenen Ebenen ab. Nach Rambachs Bericht war die Eingangsphase nach der Fundierung der Sprachkenntnisse durch die Errichtung einer kleinen Schule für deutsche Kinder bestimmt, in ihrer Kümmerlichkeit und finanziellen Misere nur erträglich gemacht durch die Bekanntschaft „mit einigen M e m bris der gottseligen Gesellschaften" und „vielen frommen Leuten", die ζ. T. Heinrich Wilhelm Ludolf, ehemals Sekretär Prinz Georgs von Dänemark, des Mannes der späteren Königin Anna, und nun polyglotter „Weltreisender" sowie u. a. eifriger Korrespondent Α. H. Franckes, vermittelt hat 14 . Ludolf war es auch, der für Böhme eine weitere Wirkungsebene eröffnete, indem er ihn als Prediger an der lutherischen Hofkapelle Georgs von Dänemark vorschlug. Von 1705 an bis zu seinem Tode war Böhme Kaplan an der lutherischen Hofkapelle St. James in London 15 . Durch die Anstellung als Hofprediger hatte Böhme einmal die notwendige materielle Sicherung seines Lebens gefunden, die ihm ein freies Wirken nach außen ermöglichte; zum andern gewann er dadurch den offenen Zugang zum Königshaus und damit verbunden die Möglichkeit, Unterstützung für seine Projekte zu erbitten 16 . Welcher Art sie waren, wird von Rambach summarisch geschildert: „Wie sehr er sich um die Mission in Tranquebar, und um die armen Pfältzer, die über England nach Carolina in America reiseten, verdient gemacht; wird in unvergeßlichem Andencken bleiben. Von seiner allgemeinen und thätigen Liebe gegen die Armen, von 9

RVorr 1,1 Of. w RVorr 1,(11-16)16. 11 RVorr 1,35 und Briefregister zu denjahren 1709 und 1719. 12 Ζ. B. RVorr 1,24; BEBr, 18 (Nr. 10). 13 Auf seinen unanstößigen Lebenswandel weist RVorr 1,35; 11,16 ausdrücklich hin. 14 RVorr I,17f.; vgl. auch 24. 15 RVorr 1,25-30. 16 RVorr 1,31 f.

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seinem unermüdeten Fleiß in Beförderung des Guten, (wie er aus seinen Predigten, besonderen Erbauungsstunden 17 , eigenen erbaulichen Schriften, Übersetzungen anderer erbaulichen Schriften, erwecklichen Briefen und weitläuftigen Correspondenz nach Ost-Indien, Africa, America, Griechenland, und in die meisten Teile Europä etc. hervorleuchtet,)... gedencke ich k ü n f t i g . . . noch etwas zu handeln. " 18 Deutlich ist, daß der Schwerpunkt auf die Tranquebar-Mission und die Unterstützung der Pfälzer gelegt wird, wobei auffallen kann, daß hier die Zusammenarbeit Böhmes mit der Society for Promoting Christian Knowledge nicht genannt wird 19 . Weiter hebt Rambach Böhmes charitative Tätigkeit hervor und seinen „Fleiß in Beförderung des Guten". Was das alles heißen kann, wird inhaltlich nicht gefüllt, sondern mit dem Hinweis auf die Quellen der Selbsterarbeitung empfohlen. Erkennbar aber werden die vielfältigen Kommunikationsebenen Böhmes und der geographisch weit gespannte Horizont seiner Wirksamkeit. Aus dem Lebensabschnitt Böhmes in England ergeben sich als vorläufige Schwerpunkte: die Tätigkeit in der von ihm gegründeten deutschen Schule, seine Wirksamkeit als Hofprediger an der St.-James-Kapelle, sein Engagement in der SPCK, das u.a. mit der Unterstützung der Mission in Tranquebar und der Fürsorge für die ausgewanderten Pfälzer verbunden ist, das auf Erweckung und charitative Hilfe gerichtete Wirken sowie ein bei Rambach nur als Stichwort genannter Aktionsbereich: die Übersetzertätigkeit. Dabei wird auch darauf zu achten sein, welche Bedeutung der Kontakt Böhmes mit H. W. Ludolf für seine Entwicklung und Wirksamkeit hatte. Unter dem Gesichtspunkt der Problembestimmung und der Themabegrenzung ermangelt die Aufzählung der Tätigkeitsbereiche, die sich aus Rambachs „Vorrede von des Auctoris Leben und Schriften" erkennen läßt, noch der Schärfe. Der weiteren Präzisierung der Fragestellung dient die Übersicht über die Entwicklung der Forschung.

2. Probleme aus der Forschungsgeschichte a) Die zeitgenössische

Literatur

Da Böhmes Auftreten und Lehre am gräflichen Hof in Arolsen Gegenstand von Angriffen durch die lutherische Orthodoxie wurden, setzte die 17 Die Erbauungsstunden Böhmes werden bereits RVorr 1,33 erwähnt: „. . . seine erbaulichen Englischen Discourse in den monatlichen Privat-Versammlungen, deren er zwey alle Monat auf Begehren einiger Engländer hielt." Vgl. auch RVorr 11,7: „ . . . da er denn, nach Beschaffenheit der Personen, welchen zum Besten und auf Verlangen solche Stunden geordnet waren, bald in Englischer, bald in Frantzösischer, bald in Teutscher Sprache seinen Vortrag verrichtete." " RVorr 1,34. 19 Vgl. aber RVorr II,8f., w o Böhmes Bedeutung in der Sozietät und das Gewicht derselben in seinen Vorhaben genannt wird.

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Beschäftigung mit seiner Person schon zu seinen Lebzeiten ein. Zuerst traten seine theologischen Gegner mit Veröffentlichungen auf den Plan; die Behandlung seines Falles durch Freunde folgte den Angriffen auf dem Fuße. Polemische Literatur: Die direkte Auseinandersetzung zwischen Böhme und der Orthodoxie in der Grafschaft Waldeck fand in der Zeit zwischen Oktober 1699 und April 1700 statt 20 . Die ersten Zeugnisse davon wurden literarisch mit dem Erscheinen der Historia Pietistica Waldeccensis im Jahre 1712 greifbar 21 . Diese Schrift ist von der waldeckischen Orthodoxie, d.h. von ihren Vertretern in Regierung und Konsistorium, veröffentlicht worden22, um ihr Verhalten gegenüber den Pietisten zu rechtfertigen: Am 23. Juli 1711 war das „Gräfflich-Waldeckische Edict" gegen die „Schwärmer" unterschrieben und am 2. und 9. August von allen Kanzeln verlesen worden23. Die literarische Abrechnung mit dem waldeckischen Pietismus erfolgte durch die HPW ein Jahr danach. Die Polemik der HPW richtet sich hauptsächlich gegen den ehemaligen halleschen Studenten, den Konrektor Johann Henrich Marmor in Korbach 24 und den Kanzler und Konsistorialrat Otto Henrich Becker, der ebenfalls durch den halleschen Pietismus geprägt war 25 . Doch wird auch die Vergangenheit bemüht, um die Gegenwart zu belasten. So passieren alle pietistischen und separatistischen oder auch von ihren Gegnern nur so benannten Bewegungen in der Grafschaft Revue 26 , unter ihnen auch Böhme. Dem polemischen Charakter der Schrift entsprechend ist es ihr Anliegen, Böhme ketzerischer Lehren zu überfuhren. Das geschieht einmal in dem kurzen historisch-polemischen Abriß der HPW, der die pietistischen Aktivitäten in der Grafschaft seit 1689 darstellt27: In ihm hat auch Böhme seinen Platz 28 . Dasselbe Ziel wird zum andern in den Anlagen der HPW durch Wiedergabe des Protokolls eines Verhörs, dem Böhme am 17. und 18. Januar 1700 auf Initiative des Superintendenten Johannes Kleinschmidt unterzogen worden war, und der darauf bezüglichen Gutachten angestrebt 29 . Die Darstellung des Verfahrens gegen Böhme kann sich unter Verweis auf das abgedruckte Material kurz fassen. Sie legt Wert darauf, Böhmes „anabaptistische" Lehrweise im Blick auf die Bewertung des Predigtamtes, der Vgl. dazu diese Arbeit S. 77—80; dort der Ablauf der Auseinandersetzung. Historia Pietistica Waldeccensis . . . , Corbach 1712. 2 2 Vgl. den Titel und die Unterschrift unter die Zuschrift an die Leser: „Gegeben Mengeringhausen den 7. Martij 1712. Gräfflich-Waldeckische / zur Regierung und Consistorio verordnete Cantzlar/ Superintendens und Räthe" (HPW, 6). 2 3 HPW: Anlage, 295 - 3 0 0 : „Gräfflich-Waldeckisches Edict. Publicatum, in der Graffschafft Pyrmont den 2. Aug. in der Graffschafft Waldeck / den 9. Aug. 1711." 2 4 J. H. Marmor: Species Facti und abgedrungene S c h u t z - S c h r i f f t . . o . O. 1713. 2 5 Ο. H. Becker: Abgenöthigte Apologie und Schutz-Schrifft. . . , o. O. 1712. 2 6 HPW, 8. 2 7 HPW, 7 - 6 4 . 2 8 HPW, 9 - 1 1 . 2 9 Das Böhme betreffende Material befindet sich in dem gesondert paginierten Anlagenteil der HPW auf den Seiten 2 9 - 9 4 (HPW: Anlage). 20

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Universitäts-Theologie, der Wassertaufe und des Abendmahls darzustellen 30 und die Rechtmäßigkeit und Milde des Verfahrens gegen ihn zu betonen 31 . Seine Gefährlichkeit wird noch dadurch unterstrichen, daß zu seinem Anhang in der Grafschaft der „inter fanaticos modernos nach der Zeit durch seine Gotteslästerliche und Enthusiastische alvancereyen sehr bekannt gewordenefn] / . . . Schuster[s] Peter Leidning / vulgo der kleine Pyrmontische S c h u s t e r . . . " gehörte 32 . Die HPW begrüßt es, daß Böhme und sein Anhang das Land haben verlassen müssen, so daß die Gefahr fur die reine Lehre zunächst abgewendet zu sein schien33. Die Belege für den „fanatischen" Charakter der Theologie Böhmes werden in den Anlagen gegeben. Es handelt sich dabei 1. um die Antworten, die Böhme auf die 41 Fragen des Superintendenten Johannes Kleinschmidt bei seinem Verhör gegeben hat 34 , 2. um die Widerlegung dieser Antworten, die auch Böhmes ausfuhrliche Begründung seiner theologischen Anschauungen, die er nachträglich eingereicht hat, mit einbezieht35, und 3. um das Responsum des Frankfurter Ministeriums, das der waldeckische Kanzler Johann Scherbaum von dem dortigen Senior erbeten hatte36. Die Gegenschriften sind streittheologische Abhandlungen, die die von Böhme geäußerten Anschauungen mit der Heiligen Schrift und den kirchlichen Bekenntnissen vergleichen, um die Distanz zwischen Böhme und der Kirchenlehre herauszustellen37. Die Widerlegung durch die waldeckischen Theologen rückt ihn in die Nähe der „Fanatiker" Caspar Schwenckfeld, Andreas Oslander und Hermann Rahtmann 38 . Auch Valentin Weigel und Elias Praetorius 39 , Heinrich Horche, Samuel König und Johann Philipp Marquard werden als seine Geistesverwandten genannt 40 . Dieses Urteil wird wie folgt summiert: „So findet sich auch / daß Informator fast durchgehends dem Tockmäuser / welcher sich Christianum Democritum nennet / aber Tippelius ist / in seinen Schrifften ziemlich gefolget / und seine Lästerungen an sich genommen / auch desselben Worte sich bedienet; setzet also die sonst praetendirte Freyheit hindan / und machet sich solchem FladderGeist zum getreuen Sclaven / nur damit er seinen Haß wider die GlaubensHPW, 9. HPW, 10-11. 32 HPW, 11. - Zu Peter Leidning vgl. z.B. W. Irmer: Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck, 58 f. 3 3 HPW, 11. 3 4 HPW: Anlage, 3 0 - 44. 3 5 HPW: Anlage, 4 4 - 7 3 . - Zu Böhmes ergänzenden Erklärungen vgl. HPW, 10; HPW: Anlage, 29. 3 6 HPW: Anlage, 73—94: Responsum des Franckfurtischen Ministerii an Herr Cantzler Scherbaum. Franckfurth am Mäyn / den 26. Maji / 1700. 3 7 HPW: Anlage, 46.74. 38 Ebd. 53. 3 9 Ebd. 56f.58.62. 4 0 Ebd. 70.72. 30

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Bekäntnüssen / Predig-Ambt / Kirchen und Schulen und die Hochwürdige Sacramenta/ sambt allen guten Ordnungen aufeinmahl außschütten möge." 41 Und dann folgt eine noch deutlichere argumentatio ad hominem: „Woraus zu sehen / wie auch sein gantzes Wesen außweiset / daß bey diesem Menschen eine grosse / stoltze Einbildung eines sonderbahren Erkäntnüß sey." 42 Die Frankfurter Theologen stimmen dem Gesamturteil der Waldecker zu, loben das gegen Böhme angewandte Verfahren und nehmen ihr eigenes Urteil gleich am Anfang vorweg, wenn sie formulieren, daß die von Böhme vertretene Anschauung, „wann wir sie nach der Regul göttliches Worts und der reinen Lehre unserer Evangelischen Kirchen / wie sie in unsern Libris Symbolicis erkläret wird / untersuchen / mit keinem überein kommt". Die Entlassung Böhmes war also folgerichtig 43 . Alle Differenzen lassen sich nach Meinung der Frankfurter auf drei Komplexe reduzieren: Die Lehre Böhmes vom Predigtamt, von der Taufe und vom Abendmahl 44 . Bei der weiteren Behandlung dieser Punkte fallen auch Ketzernamen: So sind Böhmes Aussagen zu Kirche und Amt denen Valentin Weigels45, Caspar Schwenckfelds und der Anabaptisten ähnlich 46 . Auch Augustin wird aus antidonatistischen Schriften ausfuhrlich zitiert 47 ; das markiert die Perspektive, unter der das Frankfurter Ministerium Böhme sieht. Im übrigen aber ist Böhme mit seiner Forderung, daß die Glaubensartikel den Studenten so angetragen werden sollen, daß sie immer auf die Kraft und Praxis der Lehre hingewiesen werden, zu spät gekommen; denn Martin Chemnitz und Johann Gerhard haben das in ihren theologischen Büchern längst getan. Er zeigt, wenn er das zum Programm erhebt, nur seine U n kenntnis der orthodoxen Tradition an 48 . Die polemische, manchmal auch ad peiorem partem tendierende Interpretation Böhmes durch die Waldeckischen und Frankfurter Theologen ist zu erkennen. Sichtbar wird ein verschiedener Geist. Die Distanz Böhmes zur Kirchenlehre und seine exponierte Stellung auch im pietistischen Lager wird dadurch unterstrichen, daß seine Gegner zur Widerlegung des öfteren Ph. J. Spener zitieren können 49 . Von hier aus fällt wirklich der Schatten eines gewissen Radikalismus auf Böhme. Forschungsgeschichtlich ist es das Verdienst der HPW, daß sie die Frage nach Böhmes Verhältnis zur lutherischorthodoxen Kirchenlehre in dieser Zeit ausdrücklich gestellt hat. Sowohl Ο. H. Becker als auchj. H. Marmor haben auf die in der H P W 41

Ebd. Ebd. Ebd. 44 Ebd. « Ebd. Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd. 42 43

72. 72. 74. 74. 84. 86. 76.79.81. 85. 51.63.64.78 u.ö.

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erhobenen Anschuldigungen mit heftigen Gegenschriften reagiert 50 . Die waldeckische Regierung hat darauf nicht antworten wollen, sondern, u m d e m Streit auf einmal ein Ende zu setzen, das gesamte Aktenmaterial 5 1 mit einer Fragenliste an die Theologische und an die Juristische Fakultät der Universität Wittenberg zwecks Einholung eines unparteiischen Gutachtens abgesandt 5 2 . In Wittenberg hat man den ganzen Aktenberg fleißig durchstudiert. Das Ergebnis ist ein umfangreiches Responsum Theologicum, datiert v o m 29. Juni 17 1 4 53 , und ein dagegen recht schmales Responsum Juridicum v o m September 1714 54 . Beide Gutachten w u r d e n als ein Werk unter d e m Titel Responsum Theologicum undJuridicum Von der Chur-Sächsischen Universität Wittenberg In Causa Pietistica Waldeccensi im Jahre 1715 gedruckt 5 5 . Das juristische Gutachten greift sich aus d e m Fragenkatalog der waldeckischen Regierung die Frage nach dem Geltungsbereich des landesherrlichen Rechtes in Religionssachen heraus 5 6 . In ihrer A n t w o r t bescheinigen die Wittenberger Juristen d e m Grafen von Waldeck, daß er beim Verdacht irriger Lehre verpflichtet ist, die nötigen Untersuchungen anzustellen. Dieser Satz wird auf B ö h m e angewendet und gefolgert, daß der Graf befugt gewesen ist, B ö h m e aus d e m Dienst zu entlassen 57 . Das Responsum Theologicum n i m m t ebenfalls die Frage auf, ob der Eifer des Grafen gegen die Pietisten „dem allein seeligmachenden Göttlichen Wort / und denen Libris Symbolicis nicht allein, sondern auch denen principiis aller in R o m a n o Imperio recipirten Religionen u n d Reichs-Constitutionibus conform?" sei 58 . Die A n t w o r t ist ein klares „Ja", das dann weitläufig 50 Ο . H. Becker: Abgenöthigte Apologie und Schutz-Schrifft. . . , o. O. 1712; J. H. Marmor: Species facti und abgedrungene Schutz-Schrifft.. o. O. 1713. - Zu beiden Schriften vgl. W. Irmer: Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck, 1912, 3 f. und vorliegende Arbeit, S. 32 f. 51 Wie vollständig die Aktenzusammenstellung wirklich war, wird sich nicht ohne weiteres feststellen lassen. Die polemische Absicht läßt vermuten, daß eine Auswahl getroffen worden ist. Eine zweite Frage ist dann noch, welche Akten bei der Veröffentlichung außerdem ausgesondert wurden. 52 Responsum Theologicum und Juridicum . . . (vgl. Anm. 55), Vorrede, 2f. - Die 6 formulierten Fragen finden sich in dem theologischen Teil des Responsum auf den Seiten 2.251.254f.255f.257.263. 53 Responsum Theologicum und Juridicum . . . (vgl. Anm. 55), 1—264. Das Datum im Inhaltsverzeichnis Vorrede, 10. 54 Responsum Theologicum und Juridicum . . . (vgl. Anm. 55), 267—274. Das Datum im Inhaltsverzeichnis Vorrede, 10. 55 Responsum Theologicum und Juridicum Von der Chur-Sächsischen Universität Wittenberg In Causa Pietistica Waldeccensi. . ., Franckfurt und Leipzig 1715. Das Responsum besteht aus 3 gesondert gezählten Einheiten: 1. Vorrede, 15 Seiten 2. Responsa, 274 Seiten 3. Rotuli Actorum, 45 Seiten Dazu k o m m t noch ein nicht gezähltes Register von 3 Blättern. 56 Responsum Theologicum und Juridicum . . . , 267. s 7 Ebd. 273 f. 58 Ebd. 2.

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unter Hinzuziehung reichen Materials und umfangreicher Lutherzitate begründet wird 59 . Die Vertreter der Wittenberger Theologischen Fakultät wissen, daß ihr Beweisgang erst sein volles Gewicht erhält, wenn sie den Pietisten in der Grafschaft Waldeck irrige Lehren nachweisen können. Deshalb wenden sie sich nach der Rechtfertigung des Grafen theologischen Fragen zu. Dabei wollen sie allerdings nicht „ein gantzes Systema doctrinae pietisticae" entwerfen, sondern nur auf die in der Grafschaft Waldeck aufgeworfenen Fragen eingehen 60 . Unter der Hand aber gerät ihnen diese Darstellung zu einer 15 Punkte zählenden Übersicht theologischer Loci 61 , in denen den Pietisten falsche Lehren vorgeworfen werden 62 . Böhme rückt dabei unversehens in eine zentrale Position: „Und dieweil wir finden / daß so gleich/ nachdem Ihro Hoch-Gräffl. Excellentz in GOtt ruhender Herr Vater den in Actis so offt benannten Herrn Otto Heinrich Beckern zu dero Rath angen o m m e n / die ersten motus sich durch Anthon Wilhelm Böhmen / einen Studiosum Theologiae, Anno 1699. erreget/ und das erste Aergerniß in Ausstreuung und Divulgierung falscher Lehren erwecket worden / . . . " 63 ; Böhme wird gleichsam zum Begründer des Pietismus in der Grafschaft Waldeck, zum - so könnte man das Urteil aus Wittenberg zusammenfassen haeresiarcha Waldeccensis, der die pietistische Entwicklung in Waldeck nach Seiten der Lehre maßgeblich bestimmt hat. Und in der Tat stellt er in 12 von den 15 behandelten Loci den Hauptgewährsmann fur den Nachweis ketzerischer pietistischer Lehrmeinungen dar. Daher wimmelt es nur so von Formulierungen wie „der verführte und verführerische Mensch" 64 , der „verir5» Ebd. 2 . 2 - 2 7 . 6° Ebd. 26. 61 Das Responsum Theologicum undjuridicum . . . zählt insgesamt 16 Loci. Diese Zählung k o m m t dadurch zustande, daß von Nr. XI (S. 159-177) sofort auf Nr. XIII (S. 177-187) übergegangen wird. 62 Es handelt sich dabei um folgende Punkte: I. Vom Wort GOttes oder der H. Schrifft, 2 7 - 4 6 II. Von der wahren Theologie und denen Libris Symb. darinnen solche enthalten ist, 46—75 III. In der Lehre von Gott, 7 5 - 7 7 IV. Von CHristo, 7 7 - 8 5 V. In der Lehre von der Sünde, 85—89 VI. In der Lehre von der Busse und Bekehrung, 90—98 VII. In der Lehre von der Rechtfertigung, 99—117 VIII. In der Lehre von der Erneuerung und Heiligung, 117—132 IX. In der Lehre von der Heil. Tauffe, 132-144 X. In der Lehre v o m Heiligen Abendmahl, 144—159 XI. In der Lehre von der Kirchen und dem Heiligen Predig-Amt, 159—177 XIII. (sie!) In der Lehre vom Gebet, 177-187 XIV. In der Lehre von der weltlichen Obrigkeit, 187-197 XV. In der Lehre v o m heiligen Ehestande, 197-208 XVI. In der Lehre von dem Untergang der Welt, 2 0 8 - 2 1 3 63 Responsum Theologicum undjuridicum . . . , 26 f. 64 Ebd. 32.

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rete Böhme" 6 5 , der „verführte Böhme" 6 6 , der „verführerische Böhme" 6 7 . N u r in den Kapiteln über die Lehre von Gott 68 , über die Lehre vom Gebet 69 und über die Lehre von der weltlichen Obrigkeit 70 wird er nicht als Zeuge genannt. In dem Abschnitt über die Lehre vom Wort Gottes ist es sogar Böhme allein, gegen den sich die Polemik richtet. Wie er von den Wittenbergern klassifiziert wird, soll aus der Fülle der Aussagen an diesem einen Punkte paradigmatisch dargestellt werden. Einen Angriffspunkt bildet u. a. auch Böhmes Aussage, „man könne GOttes Wort betrachten nach dem äussern und innern" 71 . Gegen diese Differenzierung richtet sich die ganze Schärfe seiner Gegner: „Tichtet sich in der That ein zweyfaches Wort mit allen irrigen Enthusiastischen Verführern / als denen alten Gnosticis, Anabaptistis, Schwenckfeldern / Böhmisten/ Hoburgen/ Rathman/ Volckmeyer etc. " 72 U n d u m diese Genealogie noch zu ergänzen, wird dem Satz Böhmes, daß Christus in uns Gestalt gewinnen müsse, der Hinweis hinzugesetzt: „Dieser verdammliche Satz ist des groben Quakers Barclaji Lehre so ähnlich / als ein Ey dem andern. " 7 3 Die Wittenberger Theologen lassen es sich darüber hinaus aber auch nicht entgehen, Gerüchte über Böhme aus der Zeit seiner Wirksamkeit in der Grafschaft Waldeck aufzunehmen. Weil er sich nicht habe weisen lassen „und Betstunden gehalten / die ihm nicht anbefohlen worden / also in ein frembt Amt gegriffen / ", hätten - nach einem Bericht des Pfarrers von O s d o r f - die Leute gesagt: „Böhme glaubet keinen G O t t / keinen Himmel noch Hölle/." 7 4 Während diese Beurteilung Böhmes in ihrer Eindeutigkeit zeigt, daß hier ein Mensch theologisch und persönlich „unmöglich" gemacht werden soll, ist noch die Frage zu beantworten, warum die Wittenberger Fakultät gerade ihn in das Zentrum ihrer Angriffe stellte. Die Antwort kann mit einem Hinweis auf das für eine theologische Beurteilung zur Verfügung stehende Material gegeben werden. Von Böhme war dabei das breiteste Spektrum theologischer Aussagen zur Hand: Es waren das sein Brief vom 13. Oktober 1699 an den Superintendentenjohannes Kleinschmidt 75 , der 16 engbeschriebene Folioseiten umfaßt 76 , das Protokoll des Verhörs vom 17. und 18. Januar ω Ebd. 34. Ebd. 39. 67 Ebd. 43; zusammenfassend ebd. 217. 68 Ebd. 75. Ebd. 177-187. 7 ° Ebd. 187-197. Ebd. 30. Ebd. 31. 73 Ebd. 38. 74 Ebd. 217. 7 5 Vgl. HPW, 9. 76 Responsum Theologicum undjuridicum . . . , Rotuli Actorum, 1.

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1700 in der HPW von 15 Seiten Umfang (gedruckt) 77 und die „so genannte fernere Erläuterung" zu dem Protokoll vom 10. Februar 1700, die aus 52 engbeschriebenen Folioseiten besteht 78 . Da noch dazu anzunehmen ist, daß die Fragen des SuperintendentenJ. Kleinschmidt aus der Praxis der Pietistenbekämpfung genommen worden sind, also gerade die neuralgischen Punkte berührten, waren die Antworten ζ. T. beinahe vorprogrammiert. Von den anderen waldeckischen Pietisten lag so zielgerichtet abgefragtes Material nicht vor; es hatte in Ubereinstimmung mit den verschiedenen Anlässen zum Streit disparateren Charakter 79 . So bot sich Böhme als hauptsächliche Zielscheibe der Polemik an. In der Folgezeit wurden die Aussagen des Responsum Theologicum und Juridicum zusammen mit denen der HPW zum Ausgangspunkt fur die Beurteilung Böhmes durch die lutherische Orthodoxie. In den Unschuldigen Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen werden die pietistischen Auseinandersetzungen in der Grafschaft Waldeck erstmals durch den Abdruck des ,,Gräfflich-Waldeckische[n] Edict[s], wider den Pietismum" vom 23. Juli 1711 kommentarlos erwähnt 80 . Danach aber reißen die Bezugnahmen für eine längere Zeit nicht ab, weil die veröffentlichten Streitschriften zu der pietistischen „Religions-Revolution" in der Grafschaft Waldeck in den „Unschuldigen Nachrichten" rezensiert werden 81 . Hier interessieren die Bezugnahmen auf Böhme. Bei der Anzeige der HPW im Jahre 1712 wird Böhme als Vertreter des „groben Pietismus" genannt und aus dem Protokoll seines Verhörs vom 17. und 18. Januar 1700 die Liste der für orthodoxe Ohren anstößigen Aussagen vorgetragen 82 . In der Reihe der Beschuldigungen wird gleichrangig mit anderen Sätzen auch Böhmes Behauptung genannt, daß es für die Seligkeit des Menschen nicht H P W : Anlage, 30— 42; Responsum Theologicum und Juridicum . . . , Rotuli A c t o r u m , 1. Vgl. H P W , 10. Anlage, 29; Responsum Theologicum und Juridicum . . . , Rotuli A c t o rum, 1. 77

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7 9 Vgl. dazu die Darstellung bei W. Irmer: Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck, 6 2 - 6 8 . 6 8 - 7 7 . 7 7 - 9 7 . 8 0 Unschuldige Nachrichten Von Alten und Neuen Theologischen Sachen . . . Auff das Jahr 1711,832-841. 8 1 So werden die pietistischen Streitigkeiten in: Unschuldige Nachrichten, 1712, 9 8 3 f . bei der Rezension der H P W genannt. — Folgende Streitschriften sind angezeigt und besprochen worden:

(1) Unschuldige Nachrichten, 1712, 9 8 3 - 9 8 8 : H P W (2) Unschuldige Nachrichten, 1713, 1 0 7 3 - 1 0 7 5 : Ο . H. Becker: Apologie wider die Historiam Pietisticam Waldeccensem (Abgenöthigte Apologie) (3) Unschuldige Nachrichten, 1716, 283—291: Responsum Theologicum und Juridicum (4) Unschuldige Nachrichten, 1716, 2 9 2 - 3 1 9 : Ο . H . Becker: Sieg der Wahrheit und U n schuld gegen das untheologische Responsum derer Herren Professorum Theol. zu Wittenberg . . . , Graitz 1715 (war nicht zur Hand) (5) Unschuldige Nachrichten, 1 7 1 7 , 1 2 6 — 1 2 8 : J. F. Botterweck: Rettung Seiner Consistorialund Theologischen Gutachten . . ., Halle 1717. 8 2 Unschuldige Nachrichten, 1 7 1 2 , 9 8 4 . 9 8 6 .

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notwendig sei, sich an eine „äußerliche Religion" zu binden 83 . Hier ist der Ansatzpunkt fur den später immer wieder erhobenen Vorwurf des Indifferentismus gegeben. In der Reihe der Bezugnahmen in den kommenden Jahren 8 4 k o m m t es nur einmal vor, daß B ö h m e in den „Unschuldigen Nachrichten" in Schutz genommen wird. Das geschieht in der Frage des Verhältnisses der Calvinisten zu Johann Arndt 8 5 . Sonst aber wird, auch über seinen Tod hinaus, die besonders durch das Responsum aus Wittenberg eingeschlagene Linie 86 fortgesetzt, so bei der Anzeige seines Todes 1722 (und 1723) 87 , anläßlich der Übersetzung einiger seiner Schriften ins Schwedische 8 8 und dann immer im Zusammenhang mit dem Erscheinen seiner posthum herausgegebenen Werke 89 . Der Gegensatz zwischen Orthodoxie und Pietismus klingt dabei immer an, so z . B . , wenn ihm anläßlich der Veröffentlichung des ersten Bandes seiner „Erbaulichen Schriften" im Jahre 1731 vorgehalten wird: „Von der Widergeburth, Reformation und Erleuchtung, auch eines theils von der Rechtfertigung, schreibet der Herr Autor unlauter, und kurtz zu sagen, er druckt den rechten Hällischen Vortrag aus, wie er Anno 1694. bis Ebd. 986. In folgenden Jahrgängen und zu folgenden Anlässen kommt Böhme in den Unschuldigen Nachrichten vor: (1) Vgl. die folgende Anm. (2) Fortgesetzte Sammlung Von Alten und Neuen Theologischen Sachen (so der Titel der Unschuldigen Nachrichten seit Jg. 1721). Auf das Jahr 1722, 1019; ebd. 1723, 320 f. nach dem Ableben Böhmes mit Berichten über seine Vita und schriftstellerische Tätigkeit. (3) Fortgesetzte Sammlung, 1727, 784 in Zusammenhang mit einem Bericht über den Pietismus in Schweden (ebd. 781—786), in dem auch von der Übersetzung einiger Traktate Böhmes ins Schwedische berichtet wird. (4) Fortgesetzte Sammlung, 1731, 845f.: Rez. von B E S I (5) Fortgesetzte Sammlung, 1732, 318: Rez. von Böhme: Geistreiche Gebete, Altona 1731 (6) Fortgesetzte Sammlung, 1732, 1028ff.: Rez. von B E S II, Altona 1732 (7) Fortgesetzte Sammlung, 1735, 213f.: Rez. von B E S III, Altona 1735 (8) Fortgesetzte Sammlung, 1735, 697—702: Rez. von Böhme: Acht Bücher von der Reformation der Kirchen in England, Altona 1734 (9) Fortgesetzte Sammlung, 1736, 605—611: Rez. von D. P. F. Haneus Historische und Theologische Anmerckungen über A. W. Böhmens 8. Bücher von der Reformation der Kirche in Engelland, Hamburg und Kiel 1735 (10) Fortgesetzte Sammlung, 1738, 313-327: Rez. von BEBr, Altona und Flenßburg 1737. 8 5 Unschuldige Nachrichten, 1718, 445—447: Erinnerung über dasjenige/ was in der zu Bremen edirten Bibliotheca Historico-Philol. Theologica, Fascis. I. p. 111. von der Vertreibung des seel. Joh. Arnds aus seinem Vaterland geschrieben worden (die Schrift war nicht zur Hand). - Böhme nimmt in seiner postum veröffentlichten Abhandlung: Historischer Bericht, Von dem zu London im Jahr 1708. in Lateinischer Sprache gedruckten Arndtianischen Wahren Christenthum, Darinn auf die unglimpffliche Censuren eines Anonymi; Ingleichen Herrn D. Theodosi de Haas, eines Theologi zu Bremen, über dieselbe gestellte Anmerckungen, nach Nothdurfft geantwortet wird. (BES III, 1733, 495-550) dazu Stellung. 8 6 Vgl. Fortgesetzte Sammlung, 1722, 1019f. 8 7 Vgl. Anm. 84 Punkt (2). 8 8 Vgl. Anm. 84 Punkt (3). 8 9 Vgl. Anm. 84 Punkt (4)-(10). Μ 84

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1704. lautete." 9 0 Immer wieder wird der Vorhalt des Indifferentismus erhoben, einer „Kaltsinnigkeit in Religions-Sachen", die, wenn sie Stellung bezieht, die Nonkonformisten favorisiert 9 1 , „die Lutheraner mit ihrer L e y er, und die Papisten mit ihrem Circkul-Glauben, in eine C l a s s e " setzt 9 2 . E s kann nicht überraschen, daß das Urteil Valentin Ernst Löschers über B ö h m e in seinem Vollständigen Timotheus Verinus93 1718 und 1722 sich mit dem in den „Unschuldigen Nachrichten" deckt, die er von 1701 —1720 und wieder seit 1731 herausgegeben hat. Im ersten Kapitel, das „Von d e m General-Kennzeichen des Mali Pietistici" überschrieben ist 9 4 , wird B ö h m e mit den Worten eingeführt: „ I m Jahr 1699. brach Hr. Anton Wilhelm B ö h m e / Reichs-Gräfflicher Waldeckischer Informator gefährlich aus / . " E s folgen dann die bekannten Vorwürfe über ihn mit dem Hinweis auf die H P W und das Wittenberger R e s p o n s u m als Quellen. D e r ganze kurze Abschnitt schließt mit der B e m e r k u n g : „Dennoch ist er an höhere Oerter befördert / und als ein Glaubens Bruder von denen / die das Ansehen hatten / geachtet w o r d e n . " 9 5 Dahinter ist das Urteil der Wittenberger Theologen von 1715 zu hören, das auch in den „Unschuldigen Nachrichten" wiederholt wird, daß die Waldeckischen Pietisten insgesamt „nicht zur Evangelischen Lutherischen Religion gehören" 9 6 . In den weiteren Kapiteln, welche die pietistischen Lehrabweichungen systematisch darstellen, wird B ö h m e als pietistischer „ A n g e k l a g t e r " häufig genannt 9 7 . Wie das Urteil über B ö h m e durch Hinzuziehung neuen Quellenmaterials und dessen sorgfältige Bearbeitung gegenüber der bisher einlinigen Darstellung durch die O r t h o d o x i e differenziert werden kann, zeigt das Beispiel Johann Georg Walchs. Er k o m m t in seiner Historische[n] und Theologische[n] Einleitung in die Religions-Streitigkeiten Der Evangelisch-Lutherischen Kirchen zweimal auf B ö h m e zu sprechen: Einmal i m Rahmen der chronologisch vorgehenden Darstellung der pietistischen Streitigkeiten i m ersten B a n d 9 8 und dann folgerichtig im fünften B a n d desselben Werkes, der bestimmte Kapitel des ersten weiterführt 9 9 . Fortgesetzte Sammlung, 1731, 846. Fortgesetzte Sammlung, 1731, 845f.; 1732, 1028ff.; 1735, 702. 9 2 Fortgesetzte Sammlung, 1735, 214. 9 3 V. E , Löscher: Vollständiger Timotheus Verinus Oder Darlegung der Wahrheit und des Friedens In denen bißherigen Pietistischen Streitigkeiten . . . , Erster Theil, Wittenberg 1718. Zweyter Theil, Wittenberg 1722. 9 4 V. E. Löscher 1,17-143. 9 5 Ebd. 72 f. 9 6 Unschuldige Nachrichten, 1716,287. 9 7 V. E. Löscher 1,259 (Taufe); 268 (Abendmahl); 270.271.272.276 (Gnadenmittel); 335.336 (Predigtamt). 9 8 J. G. Walch: Historische und Theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten Der Evangelisch-Lutherischen Kirchen, 2. Aufl., Bd. 1, Jena 1733, 768 f. und der Bezug auf diese Stelle bei dem Referat über die waldeckischen Auseinandersetzungen (ebd. 906—915) ebd. 907. 9 9 J. G. Walch, Bd. 5, Jena 1739, 1 1 1 - 1 1 7 . - Kapitel 5 handelt „Von den gegen das Ende des siebenzehenden Seculi bis auf die ietzige Zeit entstandenen Streitigkeiten" und in der ersten 90 91

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Die von J. G. Walch v o r g e n o m m e n e n Ergänzungen sind i m Blick auf B ö h m e auch notwendig, weil die Ausführungen in Band 1 nur auf der H P W als Quelle beruhen und sowohl lücken- als auch fehlerhaft sind 100 . Dagegen zeugt die Darstellung in Band 5 von intensiverer Bearbeitung des Themas. Z u r H P W hat er n u n noch die bis 1734 herausgegebenen Schriften B ö h m e s hinzugezogen 1 0 1 , so daß i h m auch die Vorreden J. J. Rambachs und das von Rambach bereitgestellte Material zur Verfügung standen. So gelingt i h m eine sine ira et studio formulierte Biographie Böhmes mit kurzem bibliographischem Anhang 1 0 2 . Daran schließt sich dann die kritische Würdigung der theologischen Anschauungen Böhmes an, für die sich J. G. Walch wieder allein auf die H P W stützt 103 . D o c h ü b e r n i m m t er nicht deren Urteil, sondern formuliert vielmehr, nachdem er die anstößigen Lehrmeinungen nach d e m Protokoll des Verhörs am 17. u n d 18. Januar 1700 sorgfältig aufgezählt und als nicht zu billigen charakterisiert hat, wie folgt: „ M a n siehet wohl, daß er damals nicht alles zur Gnüge eingesehen, und ob w o h l seine Absicht gut gewesen; er gleichwohl in d e m Eifer vor das gute u n d dessen Beförderung aus den Schrancken k o m m e n , und in manchen Stücken die nöthige u n d d e m wahren Christenthum gemässe Vorsichtigkeit bey Seite gesetzet." 1 0 4 So deutet sich hier der Versuch eines Verständnisses und einer Entschuldigung Böhmes an, die darauf beruht, daß eine frühe, unbesonnene Phase von einer späteren u n d abgeklärteren in der Entwicklung B ö h m e s unterschieden wird. Der Zeitraum der polemischen Literatur gegen B ö h m e ist mit diesem Ergebnis abgeschlossen. Apologetische Literatur: Der gräflich-waldeckische Regierungs- u n d Konsistorialrat Otto Henrich Becker105 war aufgrund seiner pietistischen Überzeugung und Tätigkeit sowie seines kirchlichen und politischen Einflusses in der Grafschaft Waldeck die Persönlichkeit, die in der H P W am stärksten angegriffen wurde. Sein N a m e erscheint (neben d e m j . H. Marmors) auf ihrem Titelblatt. Er erwehrt sich der gegen ihn erhobenen Vorwürfe in der Schrift Abteilung „Von den Neuesten, sonderlich so genannten Pietistischen Streitigkeiten an sich selbst überhaupt". § L X X X I V : „ U n d wie im Waldeckischen die Pietistischen Unruhen angegangen." - Über das Verhältnis der Bände 1 bis 3 zu den Bänden 4 und 5 sagt Walch in der Vorrede zu Bd. 4, b l v : „Darauf beruhet überhaupt der Innhalt dieser beyden neuen Theile. Sie sind als eine weitere Ausführung und Fortsetzung der erstem anzusehen. Eben daher bin ich der Ordnung, die ich vorhin beliebet, hier genau gefolget und habe eine iede Materie an gehörigen Ort gebracht. Die Erweiterungen und Zusätze selbst, welche hier geschehen, sind mercklich." 100 J. G. Walch 1,768. Böhme wird hier als Anton Philip Böhm bezeichnet. Denselben Fehler hat auch HPW, 9. 101 J. G. Walch V, 113 f. 102 Ebd. 111-113, 113 f. "'s Ebd. 114-116. 104 Ebd. 117. 105 Z u Ο . H. Becker vgl. L. Curtze: Nachrichten über Gelehrte, Schriftsteller und Künstler der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont von der Reformation an bis auf die Gegenwart. In: Beiträge zur Geschichte der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont, 2. Bd., Arolsen 1869, 2 7 - 4 3 ; W. Irmer, 1 8 - 2 0 .

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Abgenöthigte Apologie und Schutz-Schrijft, die bereits im Jahre 1712, also im Erscheinungsjahr der H P W , gedruckt w o r d e n ist 106 . Einer der gegen Ο . H. Becker erhobenen H a u p t v o r w ü r f e w a r der der Pietistenforderung 1 0 7 . N u n konnte i h m die Berufung B ö h m e s allerdings nicht zur Last gelegt werden, da er erst im Jahre 1701 sein A m t angetreten hatte 108 , und er konnte auch glaubwürdig versichern, B ö h m e vor 1709 nie von Angesicht gesehen zu haben 1 0 9 . Aber bei Böhmes Deutschlandreise i m Jahre 1709 hatte er ihm die Möglichkeit gegeben, mehrmals in der Grafschaft zu predigen 1 1 0 . U n d da die H P W dies wegen der im Jahre 1700 ausgesprochenen „Relegierung" Böhmes für strafwürdig hält, ist Becker, u m sich zu verantworten, in den Prozeß nachträglich mit hineingezogen worden 1 1 1 . Als Jurist geht er bei seiner Verteidigung den Weg, die Unkorrektheit des Verfahrens gegen B ö h m e nachzuweisen, so daß, da dieser keinen o r d nungsgemäßen Rechtsspruch gefunden hat, auch der U m g a n g mit i h m nicht strafbar sein kann. Becker hat zu diesem Zweck aus den Akten der waldeckischen Kanzlei eine Species facti zusammengestellt, die den Ablauf des Vorgehens gegen B ö h m e darstellt 112 . Sie ist ein wichtiges Korrektiv gegenüber der H P W , w e n n es u m die Rekonstruktion des ganzen Verfahrens geht 1 1 3 . Auch die juristische Beurteilung der Verhandlungen durch Becker wird deutlich 114 . Doch er vermeidet es, theologische Fragen zu berühren, o b w o h l er das gesamte Material zur Verfügung hatte. Im Gegensatz zur Polemik der O r t h o d o x i e , die ihre Beschuldigungen gerade aus B ö h m e s theologischen Aussagen ableitete, bleibt dieser Bereich bei Becker ganz ausgespart. Johann Henrich Marmor, bis 1711 Konrektor in Korbach 1 1 5 , hat in seiner Verteidigungsschrift Species facti und abgedrungene Schutz-Schrift (1713) 116 die Angelegenheiten Böhmes nicht berührt. D a f ü r greift der damalige gräflich-

106 Ο . H. Becker: Abgenöthigte Apologie und Schutz-Schrifft Wieder Eine unter der Rubric Historia Pietistica Waldeccensis herausgekommene Schmäh-Schrifft / . . ., o . O . , 1712. 107 HPW, 13: Ο. H. Becker hat „so fort eine sonderliche affection vor die so genannte Sectirische Pietisterey und Neulinge verspüren lassen / hat nicht allein (1.) in conversatione, (2.) in Ecclesiasticis und Schulen / & (3.) politicis, dieselbe allen vorgezogen / sondern ihre principia und heillose Lehre / quocunq; modo angenommen / und nichts versäumet / so zu deren establissement dienet". 108 L. Curtze, 29. 109 Ο . H. Becker: Abgenöthigte Apologie . . . , 76. " 0 Ebd. 7 7 - 7 9 . 111 HPW, 4 1 - 4 4 . 112 Ο . H. Becker: Abgenöthigte Apologie . . . : Beilagen, 8 1 - 8 4 . 113 Vgl. vorliegende Arbeit, S. 7 7 - 8 0 . 114 Ο . H. Becker: Abgenöthigte Apologie . . ., 25 f. W. Irmer, 6 8 - 7 7 . 116 J. H. Marmor: Species facti und abgedrungene Schutz-Schrifft / gegen eine voriges Jahr unter der Rubric Historia Pietistica Waldeccensis heraußgekommene Ehren-rührige SchmähCharteque, . . . , o . O . , 1713.

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waldeckische Hofprediger u n d Konsistorialrat Johann Friedrich Botterweck117 in der Rettung Seiner Consistorial- und Theologischen Gutachten (1717) 118 auch auf die Jahre 1699/1700 und auf das Verfahren gegen B ö h m e zurück. Allerdings geschieht das von seiner Seite sehr ungern, weil er sich „gleichsam mit Haaren" in die waldeckischen Streitigkeiten hineingezogen fühlt 1 1 9 . N a c h Botterwecks Urteil ist das dadurch geschehen, daß die orthodoxe Partei in Waldeck aus Unzufriedenheit mit einem seiner Gutachten in d e m Streit mit den Pietisten „alles, auch v o n vielen Jahren her, herbey gesuchet, u n d meine übrigen in dieser Sache erforderte Gutachten der Theologischen Facultät zu Wittenberg vorgeleget" 1 2 0 . Daher erklärt sich auch der Titel der Schrift Botterwecks, der die Rettung seiner Gutachten gegen das Responsum der Wittenberger Theologen zu seinem Ziel erklärt. Die Wittenberger Theologen haben Botterweck in Z u s a m m e n h a n g mit B ö h m e folgende Beschuldigung vorgehalten: „So will doch gar ein anders sich zeigen / w e n n man bey unpartheyischer perlustration der actorum und gewissenhaffter Z u s a m m e n h a l t u n g dererjenigen Dinge / die ab uno e o d e m que auctore Botterweckio zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben w o r d e n / endlich findet/ daß jetzt erwehnter M a n n / an d e m wir sonst eine feine lection unserer T h e o l o g o r u m und Geschicklichkeit a n t r e f f e n / sich nicht entbrochen / in seinen Consistorial-Votis seinem O r t h o d o x o Collegae u n d Superintendent!, w e n n er auf den Punct des Pietismi, u n d was d e m anhängig / g e k o m m e n / durchgehende zu wieder sprechen / und dahero den k u n d bar irrigen A n t h o n Wilhelm B ö h m e n . . . nichts destoweniger mit allem Ernst defendiret / seine Lehren v o m Worte GOttes / Symbol. GlaubensBüchern / Tauffe und Abendmahl / als excusabel angesehen u n d erachtet / auch dessen angeführten Vortrag von der Busse / Rechtfertigung / der Prediger innerlichen B e r u f f / vor nicht zu verachtende/ sondern d e m Worte G O t t e s gemässe Lehren geachtet / auch dabey von Hertzen g e w ü n s c h e t / daß alle u n d jede Prediger Lutherischer Kirchen sie allbereit auf solche Art tractirten/ . . ." 1 2 1 Hier wird noch einmal der ganze Katalog der gegen B ö h m e erhobenen Vorwürfe sichtbar. Sie alle werden nun auch gegen Botterweck gerichtet. U m so erstaunlicher ist es, daß er in seiner Verteidigung die speziellen theologischen Fragen ganz ausklammert: „ O b H e r r n B ö h m e n s Erkäntniß alle Analogiam Fidei über einen Hauffen werfe, lasse ich anietzo unerörtert, als der ich alle dazu gehörige Schriften nicht in Händen habe." 1 2 2 Er konzentriert sich vielmehr darauf, nachzuweisen, daß i " l . Curtze, 193-215. J. F. Botterweck: Rettung Seiner Consistorial- und Theologischen Gutachten von denen Ungegründeten Anmerckungen der Theologischen Facultät zu Wittenberg / ihrem Responso in der also genannten Causa Pietistica Waldeccensi einverleibt; . . ., Halle 1717. 119 Ebd. 1. 120 Ebd. 2. Ebd. 260. 122 J. F. Botterweck: Rettung Seiner Consistorial- und Theologischen Gutachten . . ., 18. Daß Botterweck aber bereits früher zu Böhmes Theologie Stellung bezogen hat, zeigt die Notiz 118

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B ö h m e nicht als „ein halsstarriger Kätzer" bezeichnet werden könne, weil das gegen ihn eingeschlagene Verfahren an keiner Stelle den Versuch zeigt, ihn in Güte zu belehren 1 2 3 . Auch der gegen Botterweck erhobene Vorwurf, den Pietismus durch seine Voten unterstützt zu haben, sei unrichtig, weil er erst z u m Hofprediger und Konsistorialrat ernannt w o r d e n sei, als das Verfahren gegen B ö h m e bereits abgeschlossen war 1 2 4 . U n d w o er doch zur Frage gehört w o r d e n sei, habe er den Voten des Superintendenten nicht widersprochen, sondern ζ. B. auch d e m durch den Superintendenten J o h a n nes Kleinschmidt verfaßten u n d von anderen Geistlichen gebilligten G u t achten gegen B ö h m e ebenfalls zugestimmt 1 2 5 . Das ist das Material, das sich aus der apologetischen Literatur in Z u s a m menhang mit den pietistischen Streitigkeiten in der Grafschaft zu d e m Verfahren gegen B ö h m e erheben läßt. Es gibt uns entscheidende Hinweise über den Verlauf der Ereignisse und korrigiert in der Frage, ob die O r t h o d o xie in Waldeck gegen B ö h m e in allen Punkten korrekt vorgegangen ist, die Darstellung der HPW 1 2 6 . Deutlich ist aber auch, daß niemand die Verteidigung der theologischen Aussagen Böhmes ü b e r n o m m e n hat. Bei aller Brechung, die seine Aussagen i m Urteil der orthodoxen Streittheologen sicher gefunden haben - die Frage nach d e m O r t seiner Theologie i m Z u s a m m e n hang der theologischen Tradition ist noch offen. b) Die hallesche Geschichtsschreibung D e r erste hallesche „Historiograph", der B ö h m e s Leben dargestellt hat, war Johann Jakob Rambach. Er hatte sich diesem T h e m a nicht aus eigenem Antrieb zugewandt, sondern w a r v o n d e m Verleger Jonas Körte dazu aufgefordert w o r d e n . Als dieser nämlich zu Beginn der 30er Jahre des 18. J a h r h u n derts beabsichtigte, B ö h m e s „das erste mal zusammengedruckte Schriften"

im R e s p o n s u m T h e o l o g i c u m u n d J u r i d i c u m . . ., Rotuli A c t o r u m , 41 f.: „ N u m . 26. Des ehmaligen Visitatoris B o t t e r w e c k s J u d i c i u m w e g e n des Informatoris B ö h m e n s gethanen Glaubens-Bekänntniß." 123 E b d . 15. ™ E b d . 13. 125 E b d . 13f. Es handelt sich u m das a m 4. M ä r z 1700 bestätigte Gutachten gegen die Aussagen B ö h m e s , die er bei seinem Verhör a m 17. u n d 18. Januar 1700 u n d in seiner „ferneren E r k l ä r u n g " v o m 10. Februar 1700 g e m a c h t hat (vgl. H P W , 10; ebd. Anlage, 2 9 . 3 0 - 4 4 u n d 44-73). 126 Dasselbe Urteil wie B o t t e r w e c k vertritt ζ. B. auch der ehemalige waldeckische Regierungsrat C . Schleiffin einem Brief an Graf Friedrich A n t o n Ulrich aus Aurich v o m 27. N o v e m ber 1709 (ehemaliges Fürstliches Kabinettsarchiv 2841; jetzt Staatsarchiv M a r b u r g ) : „ D e r g u t e B ö h m (. . . ) sei, wie er w o h l g e m e r k t habe, bei d e m Grafen v o n Leuten verdächtigt, die w o h l Ursache hätten, stille zu sein u n d nicht Anlaß zu geben, daß das illegale, aus den Akten nachzuweisende Verfahren gegen Böhme aufgedeckt w e r d e . " (Nach der s u m m a r i s c h e n Wiedergabe des Briefes bei H . Nebelsieck: Z u r Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck. In: Geschichtsblätter für Waldeck u n d P y r m o n t 34 [1934], 66 f.)

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vorzulegen 127 , suchte er, das Unternehmen mit einem bekannten Namen zu verbinden und trat an Rambach mit der Bitte heran, die Sammlung der Schriften Böhmes mit einer Vorrede zu versehen 128 . So schrieb dieser für Böhmes Erbauliche Schriften I eine Vorrede Von dem Leben des Verfassers129 wie für Böhmes Erbauliche Schriften II eine Vorrede Von den besonderen Gnaden-Gaben des Verfassers130. Auf die Abfassung dieser Vorreden scheint sich der Einsatz Rambachs fur die Edition beschränkt zu haben, denn er bekennt, aus Zeitmangel nicht in der Lage gewesen zu sein, alle Schriften Böhmes, die in die Ausgabe aufgenommen worden sind, vorher durchzulesen. Daher kann er auch die Verantwortung für ihren Inhalt nicht übernehmen 131 . Das Bild, das Rambach von Böhme gibt, ist oben bereits kurz dargestellt worden 132 . Seine Absicht war, eine biographisch-erbauliche Erzählung zu schreiben 133 . So ist eine Darstellung entstanden, die den Biographien in der „Historie Der Wiedergebohrnen" von Johann Henrich Reitz ähnlich ist 134 . Sie ist bis in die Gegenwart hinein immer wieder als Ausgangspunkt, oft aber auch als einzige Quelle, für Böhmes Biographie benutzt worden 135 . Rambachs Verdienst liegt einmal darin, das Leben Böhmes insgesamt in den Blick genommen zu haben. Er schildert dabei sowohl die waldeckische Periode mit ihren Problemen, die er auf „eine tiefe Einsicht Böhmes in das Verderben des heutigen Christenthums" verbunden mit einem „von der damaligen Jugend begleiteten Eifer" zurückführte 136 , als auch die Wirksamkeit in England mit ihren weltweiten Dimensionen. Die Brücke zwischen beiden Etappen ist der Gedanke von der Providenz Gottes, die Böhme ein Land finden ließ, „da er mit mehrerer Freyheit seines Gewissens im Segen arbeiten solte" 137 . Zum andern hat sich Rambach dadurch um Böhme und die Geschichte der Beziehungen zwischen Halle und England verdient gemacht, daß er sich um die Sammlung von primären und sekundären Quellen BES I, Bl. 3b; RVorr 1,3 f. RVorr 1,4. 1 2 9 RVorr 1 , 3 - 5 6 . 1 3 0 RVorr II, 1 - 2 2 . " ι RVorr 1,55f.; 11,20. " 2 Vgl. vorliegende Arbeit, S. 1 9 - 2 2 . 1 3 3 RVorr 1,4 f. 1 34 Vgl. J. H. Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen/ . . Offenbach am Mayn 1693/ vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile . .. Hg. von Hans-Jürgen Schräder, Tübingen 1982. 1 35 Die Anlehnung an RVorr I und II ist oftmals bis in die Formulierung hinein zu bemerken. Vgl. z.B. Zedier, Johann Heinrich (Hg.): Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Bd. 4, Halle und Leipzig 1733, Sp. 356 und Nöthige Supplementa zu dem Grossen Vollständigen Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Bd. 4, Leipzig 1754, Sp. 15f.; Jöcher, Christian Gottlieb (Hg.): Allgemeines Gelehrten-Lexicon. Erster Theil, Leipzig 1750, Sp. 1169 f.; für unser Jahrhundert: W. Irrner, 2 6 f . 3 2 - 3 4 . 1 36 RVorr 1,8 f. 1 37 Ebd. 10. 127 128

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zu Böhme bemüht hat und in England eine Bibliographie hat zusammenstellen lassen. Diese Arbeit hatte Α. H. Francke bald nach dem Tode Böhmes eingeleitet, wie wir aus einem Briefe Johann Christoph Böhmes vom 26. März 1723 an Johann Georg von Wurm wissen 138 . Doch fand Rambach so wenig Material in Halle vor, daß er von der Niederschrift der Vorreden schon absehen wollte. Er hat dann aber „theils durch eine sorgfältige Correspondence, theils durch gütige Communication einiger eigenhändigen Briefe des seligen Herrn Böhmens" seine Kenntnisse so erweitern können, daß sie für seine Zwecke ausreichten 139 . Über Art und Umfang des Materials, das Rambach bekannt geworden ist, läßt sich aus seinen beiden Vorreden einiges erkennen. Seine Gewährsmänner stammten teils aus Deutschland und teils aus England. In Deutschland scheint er Kontakt mit der Familie Böhmes gehabt zu haben, denn er zitiert mehrmals aus Briefen an den Bruder 140 , an die Schwester 141 und an die Familie insgesamt 142 und weiß auch zu berichten, daß Böhmes Mutter, die 1717 sechsundsiebzigj ährig verstarb, außer durch die Schriften Johann Arndts und Joachim Lütkemanns „durch die Briefe dieses ihres Sohnes, zu einem mehrern Eifer in ihrem Christenthum erwecket worden" 1 4 3 . Vielleicht hat er aus diesem Kreise auch den Brief mitgeteilt bekommen, den Johann Christian Jacobi aus England nach dem Tode Böhmes an dessen Bruder geschickt hatte, aus dem Rambach die anerkennenden Wortejacobis über den Verstorbenen zitiert 144 . Ebenfalls über die Familie hat Rambach wohl auch einige Einzelheiten über Böhmes Kinderzeit im Elternhaus und über seinen Schulbesuch erhalten 145 . Aber das sind nur spärliche Hinweise146. Ein anderes Informationszentrum Rambachs war England, das er via Korrespondenz erreichte. Aus England erhielt er ein Verzeichnis der Schriften Böhmes, das dort „von einem sorgfältigen Freunde mit vieler Mühe gesammlet und aufgesetzet, von mir aber nur in Ordnung gebracht worden" 147 . Wer als Redaktor in Frage kommt, ist nicht auszumachen. Aus den 138

AFSt C 229: 91 (vgl. Briefanhang dieser Arbeit). RVorr 1,4 f. 140 Drei Briefe Böhmes an seinen Bruder: (1) aus Wesel, 10. Oktober 1701 (RVorr 1,12 = AFSt A 166: 13); (2) aus Rotterdam, 29. Oktober 1701 (RVorr 1,13 = AFSt A 166: 14); (3) aus London, 17. November 1701 (RVorr 1,14). 141 Ein Brief an seine Schwester aus London, 14. August 1703 (RVorr 1,18-20 = AFSt A 166: 15). 142 Zwei Briefe „an die Seinigen": (1) aus London, 30. November 1703 (RVorr 1,20-23); (2) aus London, 29. September 1704 (RVorr 1,23-25). 143 RVorr 1,5. 144 RVorr 1,40-42. 145 Ebd. 5 - 7 . 146 A m ausfuhrlichsten der Segenswunsch des Vaters über den Sohn, ebd. 6 f. 147 RVorr, 1,44. Das Schriftenverzeichnis Böhmes selbst wird ebd. 44—54 wiedergegeben. 139

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Namen, die Rambach nennt, könnte einmal auf Johann Christian Jacobi geschlossen werden, der Rambachs Vorrede ins Englische übertragen und 1753 in London herausgegeben hat 148 . Es könnte zum andern aber auch der Übersetzer aus dem Englischen ins Deutsche sein, den Rambach allerdings nicht mit Namen, sondern nur mit der Buchstabenabkürzung „M. G. Κ. P. Z . " bezeichnet 149 . Neben diesen Mittelsmännern wird Rambach auch noch verschiedene andere Informationsträger aus dem Freundeskreis Böhmes in England brieflich erreicht haben, zu denen vermutlich auch der Arzt Dr. Slare gehört hat, in dessen Haus Böhme gestorben ist. Ihm wäre dann die Schilderung der letzten Tage und Stunden Böhmes zu verdanken 150 . Aus Rambachs Darstellung lassen sich folgende Elemente als Informationen aus England erschließen: Böhmes Predigten über die Apostelgeschichte im Mai 1722151, der Nachruf auf ihn in den öffentlichen Zeitungen 152 und die Kenntnis von der Errichtung eines Steines auf seinem Grab im Sommer 1731 und der Aufschrift auf dem Stein 153 . Natürlich war der Kreis der Informanten Rambachs größer. Er hat Kontakt mit solchen Menschen zu finden versucht, „die ihn selbst in seinem Leben gekennet", um „sichre Kundschafft" zu erlangen 154 . Aus diesem unbestimmten Kreis, der sich eventuell auch wieder mit den Gruppen deckt, die etwas genauer darzustellen versucht wurde, bekam Rambach Kenntnis von Lebensumständen Böhmes und weiteres Material. So weiß Rambach, daß er mit denen Briefkontakt knüpfte, die durch ihn erweckt worden waren, und sich „die Mühe einer recht weitläufftigen Correspondentz nicht verdriessen ließ" 155 . Und er weist auch - ein wenig verschwörerisch - auf „gewisse Nachricht" hin, daß Böhme in seinen ersten Londoner Jahren, als er Not litt, vom Waldeckischen Hof unterstützt worden sei156. Bei der Nennung weiterer primärer Quellen Böhmes ergibt sich zwangsläufig die Frage, ob Rambach dessen schriftlichen „Nachlaß" gekannt hat. Eine bejahende Antwort könnte die Aussage im Zusammenhang der waldeckischen Händel nahelegen, daß „unter den Papieren des seligen Mannes eine weitläuftige, aus mehr als viertzig Bogen bestehende, geschriebene Nachricht" über das Verfahren gegen ihn gefunden worden sei, doch hat 148 J. C. Jacobi: Memoirs of the Life and Death O f the late Reverend Mr. Anthony William Boehm . . . Together with A particular Account of his Exemplary Character, and of his Writings. Drawn up by the Reverend John Jacob Rambach . . ., London 1735. 149 RVorr 1,55. Z u r Identifizierung mag weiterhelfen, daß dieser Herr M. G. Κ. P. Z. „Isaac Watts Tod und Himmel übersetzet hat" (ebd.). 150 RVorr 1,35-39. 151 Ebd. 35 f. 152 Ebd. 39 f. 153 RVorr II, 17. Die „Gedächtniß-Schrifft" hat Rambach sich aus dem Englischen übersetzen lassen: „Da nun ein Abdruck derselben in Englischer Sprache mir zugesendet worden, so hab ich solchen ins Teutsche übersetzen lassen." RVorr 11,3. 155 Ebd. 8. 156 RVorr 1,34.

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Rambach „derselben ietzo nicht theilhaftig werden können" 1 5 7 . Ebenso scheint ein Zitat aus B ö h m e s „damaligen Diario" 1 5 8 daraufhinzuweisen, daß er in dessen persönliche Unterlagen Einsicht gehabt hat. Gegenüber der Darstellung Rambachs fällt die Behandlung Böhmes in Johann Heinrich Callenberg: Neueste Kirchenhistorie von 1698 an159 weit ab, sowohl was das Verständnis der Person, als auch was die M e n g e der mitgeteilten Fakten betrifft. Das liegt einmal sicher am Aufbau der Darstellung insgesamt, welche die Geschichte in zeitlich und geographisch getrennte Einzelabschnitte zerlegt. Es hängt aber auch mit der B e w e r t u n g zusammen, die B ö h m e zur Zeit Callenbergs gefunden hat. Zunächst fällt auf, daß Callenberg die pietistischen Streitigkeiten in der Grafschaft Waldeck 1699/1700, die B ö h m e hervorgerufen hatte, nicht erwähnt, o b w o h l er in der jahresweise gegliederten Darstellung unter der „Sectio II: D e malis" nach einem genau gegliederten geographischen Schema eine Fülle von M a ß n a h m e n gegen den Pietismus aufzählt und etwa die mit den Ereignissen in Waldeck zeitlich parallel laufenden Vorgänge in Laubach doch erwähnt 1 6 0 . Weiterhin wird bei Callenberg deutlich, daß sein bevorzugter Gewährsm a n n fur auswärtige Nachrichten nicht Böhme, sondern Heinrich Wilhelm Ludolf ist. Die nach seinem geographischen Schema auch vorgesehenen Berichte aus England werden nach Ludolf-Briefen gegeben. Sogar E r w ä h nungen der Tätigkeit Böhmes gehen nicht auf dessen Briefe zurück, sondern gründen sich auf Ludolf. Nach Ludolfs Tod i m Jahre 1712 werden diese Berichte seltener, bis dann an ihre Stelle die Mission in Tranquebar tritt. Es w u n d e r t daher nicht, daß der Leser von B ö h m e s Abreise und dessen ersten Jahren in England nichts erfährt, o b w o h l ζ. B. die Reise von J o h a n n Christoph Mehder und Jakob B r u n o Wigers nach London ausfuhrlich genannt und durch H i n z u f u g u n g des „Recommendationsschreibens" Α. H . Franckes v o m 8. Februar 1699 ergänzt wird 1 6 1 . So wird B ö h m e zunächst gleichsam verleugnet, wenn Callenberg z u m Jahre 1705 berichtet, daß einige 157

Ebd. 8 f. Ebd. 16. 159 J. H. Callenberg: Neueste Kirchenhistorie von 1698 an, handschriftlich AFSt F 30 a—k.m und F 31 n; F 32 f. 160 J. H. Callenberg, AFSt F 30 g, 487a-490b (zum Jahre 1700). Es handelt sich bei dieser „Darstellung" Callenbergs um die Wiedergabe von drei Briefen Speners, die auf die Vorgänge in Laubach Bezug nehmen. Die späteren Auseinandersetzungen in der Grafschaft Waldeck werden zum Jahre 1711 erwähnt, indem Callenberg, AFSt F 30 k, 149b—154b das waldeckische Edikt gegen die Pietisten wiedergibt (nach Unschuldige Nachrichten, 1711, 832-841) und einige Bemerkungen daran knüpft (ebd. 154b—155a) und zum Jahre 1712 Ο. H. Beckers „Abgenöthigte Apologie" (ebd. 201a—201b) anzeigt. Callenbergs Bemerkungen zeigen, daß er mit der Sache nicht vertraut war. Darüber hinaus nennt er noch zum Jahre 1715 in dem Konzeptband AFSt F 32f., 9 5 a - b Ο. H. Beckers Schrift: Sieg der Wahrheit und Unschuld, gegen das untheologische Responsum deren Herren Professorum Theol. zu Wittenberg, in der so genandten Causa piet. Waldec Graitz 1715 (Titel nach L. Curtze, 43). 161 J. H. Callenberg, AFSt F 30 g, 177a-182a. 158

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Engländer die Übersetzung der „Fußstapfen" Α. H. Franckes wünschten, so daß dann „obgedachte Studiosi", d . h . die beiden genannten Schulmeister, „welche die englische J u g e n d zur Erkänntnis Gottes anfuhreten", sich dieser M ü h e unterzogen 1 6 2 . Da B ö h m e keine englische Schule hatte, kann er nicht gemeint sein. Erst mit d e m Jahre 1707 betritt B ö h m e bei Callenberg die B ü h n e des Geschehens. Er hat, wie der englische Arzt D r . Slare nach Halle berichtete, Z u g a n g bei Prinz Georg von Dänemark 1 6 3 und hat sich, so das Urteil Heinrich Wilhelm Ludolfs aus d e m j a h r e 1708, durch die Herausgabe kleinerer Traktate mit nachdrücklichen Vorreden bei den Engländern bekannt gemacht. Eine Übersicht über Böhmes übersetzerische und editorische Tätigkeit schließt sich an 164 . Z u m Jahre 1709 folgt noch der Hinweis, daß B ö h m e zwei Briefe der Missionare aus Tranquebar in englischer Sprache habe drucken lassen und daß auf diese Veröffentlichung hin bereits Spenden eingegangen seien 165 . Auch in Z u s a m m e n h a n g mit der G r ü n d u n g des „ E n g lischen Tisches" in Halle wird er kurz genannt 1 6 6 . D a m i t ist der K u l m i n a tionspunkt der E r w ä h n u n g e n Böhmes aber bereits überschritten. Z u m j a h r e 1716 wird noch erwähnt, daß er sich während des Aufenthaltes von B a r t h o lomäus Ziegenbalg in London sehr geschäftig gezeigt hätte, „den Missionario zudienen" 1 6 7 . Mit dieser Notiz verschwindet er aus der Callenbergschen Kirchengeschichte. Vorher ist noch, und das war allerdings das einzige Mal, ein Brief von i h m zitiert worden, in d e m er über das Auftreten der Inspirierten in England berichtet hat 168 . Insgesamt bietet Callenbergs Darstellung kein neues Material über B ö h m e und auch nicht interessante Beurteilungskategorien seiner Person. B ö h m e wird in seiner Bedeutung nicht gewürdigt. Der Leser hat den Eindruck, daß er nur so mitläuft. Ein Grund dafür wird äußerlich nicht erkennbar. Er könnte in dem Verhältnis zwischen London und Halle ζ. Z. Callenbergs zu suchen sein.

c) Die biographisch-erbaulich orientierte Literatur Die von einem a n o n y m e n Verfasser in den Nachrichten von dem Charakter und der Amtsjuhrung rechtschaffener Prediger und Seelsorger (1777) 169 gegebene Biographie B ö h m e s hat d e m Zweck der Sammlung entsprechend erbauli162 J. H. Callenberg, AFSt F 30 i, 1 1 7 a - b . 163 J. H. Callenberg, AFSt F 30 i, 242b. i« 4 Ebd. 3 5 9 b - 3 6 2 b . 165 J. H. Callenberg, AFSt F 30 k, 3 1 a - b . "β Ebd. 9b—10a. 167 J. H. Callenberg, AFSt F 32f., 105a. 168 J.J. Callenberg, AFSt F 30 k, 3 0 7 b - 3 1 1 a . Der Brief stammt v o m 26. Februar 1714. Das Original ist in Halle nicht vorhanden, der Briefist abgedruckt BEBr, 3 2 5 - 3 3 5 (Nr. 97). 169 Nachrichten von dem Charakter und der Amtsführung rechtschaffener Prediger und Seelsorger. Bd. 5. Halle 1777, 1 9 8 - 2 1 1 .

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chen Charakter: D e r Leser soll durch die gegebenen Beispiele angeregt werden, „mit Ernst u n d Beständigkeit selbst die Pfade zu wandeln, die jene vor i h m gingen" 1 7 0 . U n t e r diesem Blickwinkel wird B ö h m e s Lebensbeschreibung als besonders geeignet angesehen 1 7 1 . D e m g e m ä ß ordnet sich die gesamte Darstellung d e m Leitsatz zu, daß B ö h m e unermüdet war, „Gutes zu tun u n d das Reich Gottes zu befördern" 1 7 2 . Bis in den Wortlaut hinein ist zu merken, d a ß j . J. Rambach die Grundlage der Darstellung bildet. Doch ist der Verfasser durch Benutzung der nach Rambach herausgegebenen Schriften Böhmes, besonders von B ö h m e , Erbauliche Briefe, 1737, materialmäßig über ihn hinausgegangen 1 7 3 , und er hat auch Einsicht in die handschriftlichen Briefe Böhmes genommen 1 7 4 . Doch das hat nicht zur Erweiterung der vorgegebenen Gesichtspunkte geführt. Die von J. J. Rambach eingeschlagene Linie wird ebenfalls von Louis Curtze in den Nachrichten über Gelehrte, Schriftsteller und Künstler der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont von der Reformation bis auf die Gegenwart (1869) fortgesetzt. In d e m B ö h m e gewidmeten Beitrag 1 7 5 ist das Rambachsche Schema maßgebend, doch hat Curtze den gegebenen Aufriß durch Material aus B ö h m e s Schriften aufgefüllt. Die Schilderung von Böhmes B e r u f u n g z u m Prediger an der königlichen Kapelle z . B . , wie sie Rambach gibt 176 , wird unter Curtzes Feder mit Hinzuziehung der Briefe Böhmes zu einem Bericht über dessen Wirksamkeit als königlicher Hofprediger 1 7 7 . Auch die Bibliographie B ö h m e s kann Curtze ergänzen. Er führt, was die Gesichtspunkte der Beurteilung anlangt, nicht über Rambach hinaus. D o c h ist in seiner Darstellung alles gedruckte Material über B ö h m e nachgewiesen, so daß die theologiegeschichtlich orientierte Forschungsetappe auf der Arbeit von Curtze aufbauen kann. d) Die geschichtlich und theologiegeschichtlich orientierte Literatur Mit Gustav Kramers Werk August Hermann Francke. Ein Lebensbild (1880 und 1882) ist ein Abschnitt in der Francke-Forschung markiert. Auch in der Darstellung B ö h m e s leitet Kramer einen neuen Abschnitt ein. Er behandelt ihn i m Jahre 1882 unter den Schülern Α. H. Franckes, die dessen Einfluß

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Ebd.)(la. Ebd.)(2b—)(3a. 172 Ebd. 203. 173 Ebd. 205. 174 Ebd. 199 findet sich ein Bezug auf einen Brief Böhmes an Α. H. Francke vom 15. August 1701 (AFSt C 299: 84), der nicht gedruckt worden ist. 175 L. Curtze: Böhme. In: Nachrichten über Gelehrte, Schriftsteller und Künstler der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont von der Reformation an bis auf die Gegenwart. In: Beiträge zur Geschichte der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont. Bd. 2. 1869, 176—192. 176 RVorr 1,26-30. 177 L. Curtze, 181. 171

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auszuweiten halfen 178 , zusammen mit Justus Samuel Schaarschmidt und Bartholomäus Ziegenbalg 179 . Die Darstellung ist kurz, Böhme wird im wesentlichen „funktional" gesehen. Doch stellt Kramer zunächst einen kurzen Lebensabriß voran, der als Schwerpunkte die Streitigkeiten Böhmes mit dem orthodoxen Konsistorium in der Grafschaft Waldeck 180 und seine Tätigkeit als Hofprediger in London enthält. Diese Position ermöglichte es ihm, „für das Waisenhaus und die Zwecke, die Francke dabei verfolgte, zu wirken" 181 . Dieses Wirken wird hauptsächlich als Übersetzertätigkeit, vor allem der Fußstapfen, dargestellt 182 . Böhmes Engagement für die pfälzischen Auswanderer wird nur am Rande genannt 183 , während seine Tätigkeit für die Tranquebarmission in Zusammenhang mit dem halleschen Einsatz in Südindien dargestellt wird 184 . Wichtiger sind für Kramer aber die Ergebnisse, die sich aus der Tätigkeit Böhmes für die Stiftungen ergeben: Spenden aus England, englische Schüler, die zur Ausbildung nach Halle geschickt werden, der „Englische Tisch" und das „Englische Haus" 1 8 5 . Obwohl die Darstellung Böhmes bei Kramer auf das Waisenhaus konzentriert ist, weist ihr Wert über die selbst auferlegte Begrenzung hinaus; denn nach J. J. Rambach hat Kramer erstmals wieder das handschriftliche Material im Archiv der Stiftungen, d. h. vor allem den Briefwechsel zwischen Böhme auf der einen Seite und Α. H. Francke und G. H. Neubauer auf der anderen Seite für die Untersuchung herangezogen. Deshalb kann er seiner Darstellung einige Zitat-Tupfer aufsetzen 186 . Aber im Grunde bleiben das nur Hinweise, die erkennen lassen, wieviel umfangreicher und ergiebiger das Briefkorpus sein muß. Kramer beutet es im weiteren Verlaufseines Buches nur für die Illustration der Geschichte des halleschen Pietismus aus 187 . Was er hier an Hinweisen gegeben hat, wird später in zwei Linien aufgenommen: E. Beyreuther löst Böhme aus dem stiftungszentrierten Blick und stellt seine Wirksamkeit in den größeren Rahmen der Beziehungen zwischen Halle, G. Kramer: August Hermann Francke II, 1882, 51 f. G. Kramer, 5 4 - 5 8 (Schaarschmidt); 5 8 - 6 5 (Böhme); 65f. (Ziegenbalg). Die Darstellung ihres Verhältnisses zu Α. H. Francke und ihrer Wirksamkeit im Rahmen seines Werkes hat bei Kramer exemplarischen Charakter, weil sich aus ihr leicht schließen läßt, wie sich Franckes Verhältnis „zu den zahlreichen übrigen Männern gestaltete, die als seine Schüler in den verschiedensten Kreisen, hohen und niedrigen, in seinem Sinne wirkten" (ebd. 53 f.). 1 8 0 Ebd. 58 f. Kramer hält die Beschuldigungen, die von orthodoxer Seite gegen Böhme erhoben wurden, fur übertrieben und begründet das ζ. T. damit, daß die Briefe Böhmes aus dieser Zeit „überhaupt durchaus einen ruhigen Charakter haben und nichts Ueberschwängliches enthalten". >8i Ebd. 60f. I M Ebd. 61 f. i » Ebd. 64. i 8 4 Ebd. 100 f. > 85 Ebd. 62 f. 1 8 6 Z . B . ebd. 136.141 u.ö. > 87 Vgl. ebd. 152, Anm. 2. 157.164.206, Anm. 2. 230.231. 178

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England, D ä n e m a r k , N o r d a m e r i k a usw. 1 8 8 , w ä h r e n d C. Hinrichs die Briefe G. H . N e u b a u e r s an B ö h m e als Quellen f u r seine Darstellung des Verhältnisses zwischen Halleschem Pietismus u n d p r e u ß i s c h e m Staat benutzt 1 8 9 . Beide Forschungsrichtungen w e r d e n bei der F o r m u l i e r u n g der Fragestellung f ü r diese Arbeit beachtet w e r d e n . Z u n ä c h s t aber n i m m t die Forschung m i t der theologiegeschichtlichen Fragestellung einen anderen Weg. Für sie w i r d i m R a h m e n der B e a r b e i t u n g des Pietismus der Streit B ö h m e s m i t der O r t h o d o x i e wieder wichtig. Diese E t a p p e der Forschung soll an zwei Beispielen dargestellt w e r d e n . Albrecht Ritsehl hat B ö h m e in B a n d 2 seiner Geschichte des Pietismus (1884) in d e m Paragraphen „ A b g r e n z u n g der Halle'schen Schule gegen den Radicalismus u n d Separatismus" behandelt. E r will in diesem Abschnitt darstellen, wie A n h ä n g e r des Halleschen Pietismus „ m i t radicalen E l e m e n t e n theils wirklich behaftet gewesen, theils d a f ü r angesehen w o r d e n sind" 1 9 0 , u n d referiert zu diesem Z w e c k e über die pietistischen Auseinandersetzungen u m Aegidius G ü n t h e r H e l l m u n d in Wetzlar, u m O t t o Heinrich Becker in der Grafschaft Waldeck u n d in Greiz s o w i e über den Pietistenstreit in D a r g u n . B ö h m e stellt in diesem Z u s a m m e n h a n g eine „Erscheinung ähnlicher Art, aber v o n geringen D i m e n s i o n e n " dar, die die Reihe e r ö f f n e n soll 191 . D a m i t ist die Fragestellung sehr stark eingegrenzt, u n d es ist zu e r w a r t e n , daß m e h r Ritschis Urteile über die Stellung B ö h m e s in der Geschichte des Pietismus als B ö h m e selbst dargestellt w e r d e n , zumal Ritsehl auch keine neuen Q u e l len erschließt u n d v o n einer engen Quellenbasis ausgeht 1 9 2 . B ö h m e w i r d in der Zeit seiner Auseinandersetzung m i t d e m GräflichWaldeckischen K o n s i s t o r i u m (also 1699/1700) d u r c h den s u m m a r i s c h e n Satz charakterisiert, „daß der j u n g e M a n n [sc. B ö h m e ] die G r u n d s ä t z e der Hallenser m i t einigen E l e m e n t e n A r n o l d ' s c h e r R i c h t u n g v e r b u n d e n hat" 1 9 3 . Für seine spätere Lebenszeit w i r d konstatiert, „daß derselbe die relative H i n n e i g u n g zu radicalen Sätzen abgestreift hat" 1 9 4 . W ä h r e n d aber die B e g r ü n d u n g der ersten T h e s e d u r c h Ritsehl ü b e r z e u g e n d erscheint, h ä n g t die zweite bei i h m in der Luft. D e n n es reicht aus, auf B ö h m e s Verhör v o m 17. u n d 18. J a n u a r 1700 hinzuweisen u n d Aussagen heranzuziehen, in denen er etwa das Bekenntnis zu einer der öffentlichen Religionen als nicht n o t w e n dig f ü r das Heil erklärt, Zweifel an der K i n d e r t a u f e äußert u n d betont, sich 188

Vgl. vorliegende Arbeit, S. 4 7 - 5 0 . Vgl. z.B. C. Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 1971, 84-87.117f. 190 A. Ritsehl: Geschichte des Pietismus II/l, 1884, (424-462) 428f. 191 Ebd. 429. 192 Für das biographische Gerüst Böhmes bietet G. Kramer: August Hermann Francke II, 1882, 58—65 die Grundlage, für die Darstellung seiner Theologie das Verhörsprotokoll vom 17. und 18. Januar 1700 nach HPW, 1712, und die nach ihm gestalteten Aussagen über Böhme in dem Responsum Theologicum und Juridicum, 1715, und in V. E. Löschers: Vollständiger Timotheus Verinus I, 1718, 72f. 193 A. Ritsehl, 429. 194 Ebd. 430. 189

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des Abendmahls zu enthalten, damit er es nicht mit Unwürdigen zusammen genießen müsse, und scharfe Kritik am Luthertum äußert 195 , um daraus auf Böhmes spiritualistische Hinneigungen (sie müssen nicht nur auf Gottfried Arnold bezogen wenden) zu schließen. Als ungenügend begründet erscheint es jedoch, wenn Ritsehl aus dem weiteren Lebensgang Böhmes, seiner Wirksamkeit als Hofprediger in London, seiner Übersetzung hallescher Schriften ins Englische und aus der Herausgabe seiner „Erbaulichen Schriften" durchJ.J. Rambach, also durch einen Hallenser, auf eine Trennung von „radicalen Sätzen" schließt 196 . Das Urteil Ritschis mag gleichwohl richtig sein. Es weist uns in seiner Unsicherheit aber auf die ungenügende quellenmäßige Darstellung des Lebensabschnittes Böhmes in England hin. Das weite Spektrum seiner Tätigkeit, das bereits J. J. Rambach in den Blick genommen hat, entfällt bei Ritschi. Damit wird auch die Frage unter den Tisch gekehrt, welche Elemente seiner Anschauungen von 1700 Böhme eventuell weitergetragen oder in einer anderen Umwelt vielleicht modifiziert hat. Das ist um so erstaunlicher, als Ritsehl durch die postume Kritik der lutherischen Orthodoxie an Böhme anläßlich der Herausgabe seiner Schriften nach 1731, in der der Vorwurf des Indifferentismus regelmäßig wiederkehrt 197 , auf die Problematik hätte aufmerksam werden können. Der Grund für Ritschis Haltung liegt in der Verbindung einer methodischen und einer kritischen Vorentscheidung. Methodisch hat er die Absicht, an den pietistischen Auseinandersetzungen um die Gestalt Otto Heinrich Beckers ein Beispiel dafür zu geben, daß Anhänger Α. H. Franckes zu Unrecht radikal-separatistischer Anschauungen beschuldigt wurden 198 . Kritisch geht er dabei so vor, daß er der orthodoxen Überlieferung über den Pietismus in der Grafschaft Waldeck jeden Quellenwert abspricht und seine Darstellung allein auf den Gegenschriften der Pietisten aufbaut 199 . Das wirkt auf die Darstellung Böhmes insofern zurück, als Ritsehl ihn einmal nur als „Vorspann" in die Abhandlung mit einbezieht und dabei zum andern dem Urteil der Orthodoxie über ihn keine Aufmerksamkeit schenkt. So entläßt die Ritschlsche Darstellung den Leser, der speziell an Böhme interessiert ist, unbefriedigt, weil sie diesen konturenlos erscheinen läßt. Er war in den Jugendjahren ein Hallenser mit einigen radikalen Extravaganzen und ist dann von der Höhe des Lebens ab ein echter Hallenser, der die von der Halleschen Schule gezogenen Grenzen nicht überschritten hat. Aber wer war er als individuelle Persönlichkeit, was war sein Beitrag - wenn er nun einmal Hallenser war - in der Geschichte des Halleschen Pietismus? Diese Frage bleibt völlig unbeantwortet. »95 Ebd. 429. »96 Ebd. 430. 197 Vgl. vorliegende Arbeit, S. 30, Anm. 84. "β A. Ritsehl, 428 f. »» Ebd. 438, Anm. 1; 443.

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In der Beurteilung Böhmes ist die Dissertation von Wilhelm Irmer: Die Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck (1912) 200 von A. Ritsehl beeinflußt. Die „Blütezeit des Pietismus" und den Höhepunkt der Streitigkeiten in den Jahren 1700—1710 verbindet Irmer auf pietistischer Seite mit den Namen des Regierungs- und Konsistorialrates in Waldeck, Otto Heinrich Becker, und des Konrektors am Korbacher Gymnasium, Johann Heinrich Marmor 201 . Einzelheiten der Auseinandersetzung können hier nicht interessieren, nur darauf soll hingewiesen werden, daß sowohl Becker als auch Marmor wesentliche Eindrücke in Halle empfangen hatten und einen Pietismus Hallescher Prägung vertraten 202 . Ihrem Wirken und Streiten in der Grafschaft Waldeck ging die Zeit der „Anfänge des Pietismus in Waldeck" 203 voraus. Den Eingang fand dieser „wie in vielen anderen Territorien über das regierende Haus, einen der ,frommen Grafenhöfe'" 204 , sein erstes Hervortreten war mit den Namen Eberhard Philipp Zühl 205 und Anton Wilhelm Böhme 2 0 6 verbunden, wobei mit Böhme wiederum ein Hallenser benannt ist. Die Darstellung Böhmes konzentriert sich auf zwei Schwerpunkte: auf seinen Streit mit Konsistorium und Regierung der Grafschaft 207 sowie auf die Lehrmeinungen Böhmes, über die er verhört worden war 208 . Darin sind kurze Übersichten über Böhmes Leben bis zu seiner Berufung nach Arolsen 209 und seine weitere Tätigkeit nach Verlassen der Grafschaft und sein späteres Verhältnis zu seiner Heimat 210 eingefugt. Die Beurteilung der Ar200 ψ Irmer: Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck. Diss, theol., Greifswald 1912. Z u r Kritik dieser Arbeit insgesamt vgl. Fr. Salis: Rez. v o n W. I r m e r in: Zeitschrift des Vereins f ü r hessische Geschichte u n d L a n d e s k u n d e 47, N F 37 (1914), 361 —363 u n d H . Schneider: J o h a n n Heinrich M a r m o r (1681 — 1741): Z u r Biographie eines Waldecker Pietisten. In: Geschichtsblätter f ü r Waldeck 66 (1977), 138 - 1 4 0 . 201

W. Irmer, 4 2 - 5 6 , 6 8 - 9 7 . Ο . H . Beckers Aufenthalt in Halle u n d seine P r o m o t i o n z u m D o k t o r der Rechte ist d u r c h die Matrikel der M a r t i n - L u t h e r - U n i v e r s i t ä t Halle-Wittenberg 1 (1690—1730), 22 n a c h g e w i e sen; vgl. auch L. Curtze, 29 u n d H . Schneider, 139. - J . H . M a r m o r hielt sich v o n 1702 bis 1707 in Halle auf, vgl. H . Schneider, 141 u n d die dort gegebenen Hinweise. Einer der H a u p t e i n w ä n d e gegen die Arbeit v o n Irmer besteht darin, daß er „die vielfältigen historischen u n d theologischen Verflechtungen [des Pietismus in Waldeck] mit der allgemeinen Geschichte des lutherischen Pietismus k a u m verdeutlicht" u n d auch die Beziehungen zwischen Waldeck u n d Halle nicht untersucht habe. H . Schneider, der diese Kritik formuliert hat (ebd. 139), weist auf die B e d e u t u n g dieser Fragestellung mit der Tatsache hin, daß ζ. B. in den J a h r e n 1698—1711 nach seiner N a c h f o r s c h u n g 40 j u n g e M ä n n e r aus der Grafschaft Waldeck in Halle studierten u n d von den 16 Kandidaten des v o n Ο . H . Becker gegründeten Flechtdorfer S e m i n a r i u m t h e o l o g i c u m 6—7 Schüler Α. H . Franckes waren. 202

203

W. Irmer, 9. H . Schneider, 138. 205 W. Irmer, 2 2 - 2 6 . 2 °6 E b d . 2 6 - 4 1 . 5 8 . 207 Ebd. 2 7 - 3 2 . 2 °8 E b d . 3 5 - 4 1 . 209 E b d . 26 f. 210 Ebd. 3 2 - 3 5 . 204

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beit W. Irmers soll von der Darstellung der Theologie B ö h m e s ausgehen und dabei wiederum bei dem Gesamturteil ansetzen. Irmer faßt es fur die waldeckische Zeit dahingehend zusammen, daß B ö h m e „sich zu der Kirchenlehre in entschiedenen Widerspruch setzte und Grund z u m Einschreiten gegen ihn in genügendem Maße vorhanden w a r " . D o c h muß dieses Urteil fiir den späteren Lebensweg B ö h m e s ergänzt werden: „ D i e wirklich sektiererischen Ansichten hat B ö h m e später abgelegt und sich in den Bahnen des gesunden, wenigstens nicht antikirchlichen Pietismus bewegt. " 2 n Die Einordnung in den kirchlichen Pietismus wird noch mit dem Hinweis begründet, daß B ö h m e „später sogar ordiniert" wurde 2 1 2 . Diese B e g r ü n d u n g ist falsch; B ö h m e hat sich auch später nicht ordinieren lassen 2 1 3 . Das Gesamturteil über ihn erinnert mit der Unterscheidung einer frühen waldeckischen Phase, die durch einen gewissen sektiererischen Einschlag gekennzeichnet war, und einer späteren kirchlich-pietistischen Phase an das Urteil A. Ritschis über B ö h m e 2 1 4 . Irmer folgt ihm hier 2 1 5 . Für dieses Ergebnis scheinen zwei Gründe maßgebend zu sein. E s ist einmal dieselbe Perspektive, unter der sowohl Irmer als auch Ritsehl B ö h m e sehen: Er stellt für sie nur eine Art zeitlich begrenzten Vorspiels zu den eigentlichen pietistischen Streitigkeiten in der Grafschaft Waldeck dar. D a s verkürzt natürlich den Blick für Leben und Theologie B ö h m e s insgesamt. Z u m andern liegt es an der i m wesentlichen gleichen Quellenbasis, die beide benutzt haben. Z w a r hat Irmer gegenüber Ritsehl einige Titel hinzugenommen, doch geht dieser Z u w a c h s insgesamt auf die Vorarbeiten zurück, die bereits J. J . R a m b a c h geleistet hat. Darüber hinaus werden die Erkenntnisse Rambachs noch durch die Perspektive der Untersuchung Irmers verkürzt, so daß Ergebnisse, die bei Rambach schon ausgesprochen waren, von Irmer nicht beachtet wurden: D i e Verbindung zwischen der waldeckischen Phase und d e m langen englischen Lebensabschnitt, die Frage nach konstanten und variablen Größen i m Leben und in der Theologie B ö h m e s k o m m e n aufgrund der thematischen Zielrichtung der Arbeit nicht in den Blick. Hier ist eine Forschungslücke vorhanden.

e) Die ökumenisch orientierte Literatur Unter d e m Gesichtspunkt ökumenischer Beziehungen zwischen den Kirchen Deutschlands und Englands wird B ö h m e nach d e m zweiten Weltkrieg zuerst in einigen Aufsätzen Martin Schmidts genannt. Was aber die Wirksamkeit B ö h m e s im Dienste des halleschen Pietismus unter den englischen E b d . 41. 212 E b d . 41, A n m . 5 3 . 213 Vgl. vorliegende Arbeit, S. 1 1 8 - 1 2 1 . 214 Vgl. vorliegende Arbeit, S. 43. 2 1 5 Eine Abgrenzung gegen A . Ritsehl vollzieht W. Irmer nur in der Beurteilung des Quellenwertes der H P W , die er positiver bewertet: ebd. 2 f . ; 35, A n m . 45. 211

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Kirchen betrifft, so hatte Schmidt in einem Abschnitt des Buches von Friedrich Schneider: Geltung und Einfluß der deutschen Pädagogik im Ausland (1943) einen Vorläufer. Denn in d e m d e m Pietismus und Α. H. Francke gewidmeten Kapitel 2 1 6 nennt Schneider als wichtigen Vermittler halleschen Gedankengutes nach England B ö h m e , der zwar nicht in seiner eigenen kleinen Schule Erfolg hatte, wohl aber durch die Übersetzung der „Fußstapfen" ins Englische und durch die von ihm verfaßten Vorworte Α. H . Frankkes Gedanken dort verankerte 2 1 7 . Der Ü b e r t r a g u n g der Pädagogik w u r d e nach Schneider auch die Bibelbewegung und die Mission dienstbar gemacht 2 1 8 . Bei Martin Schmidt wird das Verhältnis gerade umgekehrt. Er fragt in seinem Aufsatz Das hallische Waisenhaus und England im 18. Jahrhundert (1951) 219 nach d e m theologischen Einfluß des Pietismus in England und sieht in der halleschen Anstaltsarbeit den Träger praktischen und geistlichen Einflusses. Vermittler ist B ö h m e , einmal durch die Übersetzung der „Fußstapfen" ins Englische 2 2 0 und z u m andern durch die der Übersetzung vorangestellte Vorrede 2 2 1 , in der sich der Pietismus in zurückhaltender Weise, aber doch deutlich, als neue Reformation darstellt 222 . Dabei wird diese R e f o r m a tion als „Ausbreitung der christlichen Religion" verstanden, die nur als ein ökumenisches U n t e r n e h m e n durchgeführt werden kann 2 2 3 . Die wesentlichen Aussagen Martin Schmidts zu B ö h m e werden in seinem Beitrag England und der deutsche Pietismus (1953) wiederholt 2 2 4 . Weitergeführt wird die Böhme-Forschung durch Erich Beyreuther. Seine Arbeiten August Hermann Francke und die Ökumene (1953) und August Hermann Francke und die Anfinge der ökumenischen Bewegung (1957) 225 bedeuteten auch einen neuen Abschnitt in der Interpretation B ö h m e s insofern, als in ihnen dessen ö k u m e 216

F. Schneider: Geltung und Einfluß der deutschen Pädagogik im Ausland, 1943, 43—53. ™ Ebd. 4 6 - 48. 218 Ebd. 44f. 219 M. Schmidt: Das hallische Waisenhaus und England im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zum Thema: Pietismus und Oikumene. In: Theologische Zeitschrift. Hg. von der Theologischen Fakultät der Universität Basel 7 (1951), 3 8 - 5 5 . 220 Ebd. 40. 221 Schmidt stellt getrennt die Vorreden zur ersten und zur zweiten Auflage der Pietas Hallensis dar, ebd. 4 2 - 4 4 ; 45 f. 222 Ebd. 43 f. 22 3 Ebd. 52. 224 M. Schmidt: England und der deutsche Pietismus. In: Evang. Theologie 13 (1953), 205-224. 225 Es handelt sich um die folgenden beiden Arbeiten: E. Beyreuther: August Hermann Francke und die Ökumene. Leipzig 1952 (MS) - Leipzig, theol. Habil., 1953 und ders.: August Hermann Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung. Berlin 1957. - Beyreuther (1957), 287 verweist für ausfuhrliche Quellenbelege auf die Anmerkungen seiner Habilitationsschrift, betont zugleich aber ausdrücklich, daß die Druckfassung der Arbeit über die Ergebnisse der Habilitationsschrift hinausreicht. Die Böhme betreffenden Abschnitte stimmen aber in beiden Fassungen sowohl im Aufbau als auch im Inhalt so sehr überein, daß sich eine gesonderte Behandlung erübrigt. Da die Habilitationsschrift nur schwer zu bekommen ist, wird der Druck

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nisches Denken und Handeln akzentuiert wird. Allerdings wird B ö h m e bei Beyreuther nicht zum selbständigen Thema gemacht, sondern in der Relation zu Α. H. Francke gesehen. Da B ö h m e aber der Vermittler ökumenischer Gedanken und Aktivitäten des halleschen Pietismus war, gewinnt seine Person zwangsläufig einen sehr breiten Raum in der Darstellung 2 2 6 . Α. H. Franckes ökumenische Tätigkeit beruht nach Beyreuther auf einer weitgespannten „Reich-Gottes-Strategie", die er gemeinsam mit H. W. Ludolf entwickelt hat 227 . Die ersten Ziele waren Rußland und der Orient 2 2 8 . Dann lenkte H. W. Ludolf das Interesse Α. H. Franckes auch auf England 2 2 9 . Die Aussendung der Lehrer Jakob Bruno Wigers und Johann Christoph Mehder im Jahre 1699 2 3 0 führte zwar zur Schulgründung in England und zum Kontakt mit der S P C K , schuf aber nicht die Verbindungen, die Α. H. Francke sich gewünscht hatte 231 . Als er dann noch spürte, daß er von führenden Vertretern der S P C K nicht richtig verstanden wurde, faßte er den Entschluß, einen weiteren Sendboten nach England zu schicken, der die Beziehungen auf einen festen Boden stellen sollte 232 . Dieser Bote war Böhme. Ihm gelang es, „eine ökumenische Arbeitsgemeinschaft zwischen den aktiven Kreisen der Kirche von England und Halle auf einer gesunden Grundlage zu entwickeln" 2 3 3 . Unter dem Stichwort „Arbeitsgemeinschaft" entwirft Beyreuther ein ausführliches und eindrucksvolles Bild von der Wirksamkeit Böhmes in London 2 3 4 . Als wichtige Schwerpunkte der ökumenischen Tätigkeit Böhmes werden genannt: seine Wirksamkeit als Hofprediger des Prinzen Georg von Dänemark und seine Stellung zur Frage der Union zwischen Lutheranern und Reformierten auf der Grundlage der anglikanischen Liturgie 2 3 5 , seine Rolle bei der Aktivierung der englischen Öffentlichkeit für die Mission in Tranquebar 2 3 6 und sein Einsatz für die über London nach Nordamerika auswandernden Pfälzer sowie seine Bedeutung für die Entstehung lutherischer Gemeinden in den neuen Siedlungen 2 3 7 . Dies alles schildert Beyreuther als eine mitreißende Bewegung im Rahmen der Reich-Gottes-Strategie. Durch Verwertung reichen Handschriftenvon 1957 der Darstellung zugrunde gelegt und die Seitenangabe der Habilitationsschrift jeweils als Parallele hinzugesetzt. Beyreuther (1953), 1 3 4 - 2 2 2 ; (1957), 1 2 6 - 1 7 9 . 2 2 7 Ebd. (1957), 76.83; vgl. (1953), 1 9 - 5 6 . 2 2 « Ebd. (1957), 6 2 - 8 3 ; (1953), 2 4 - 5 0 . 2 2 9 Ebd. (1957), 83.105; (1953), 5 1 - 5 6 . 2 3 ° Ebd. (1957), 111; (1953), 103. 2 3 1 Ebd. (1957), 1 1 5 - 1 2 1 . 1 2 6 ; (1953), 1 0 3 - 1 2 3 . 2 3 2 Ebd. (1957), 125; (1953), 1 3 1 - 1 3 3 . 2 3 3 Ebd. (1957), 126; (1953), 134.158. 2 3 4 Die „Vorgeschichte" B ö h m e s wird referiert ebd. (1957), 1 2 6 - 1 2 8 ; (1953), 1 5 1 - 1 5 8 . » 5 Ebd. (1957), 1 3 5 - 1 3 9 ; (1953), 1 5 1 - 1 5 8 . 2 3 6 Ebd. (1957), 1 4 0 - 1 5 7 ; (1953), 1 5 9 - 1 9 2 . 2 3 7 Ebd. (1957), 1 5 9 - 1 7 7 ; (1953), 1 9 3 - 2 1 2 .

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materials ist das gebotene Bild farbig und instruktiv 238 . Böhme wird dabei in enger Verbindung zu Α. H. Francke gesehen. Ihre Beziehung kann als Verhältnis gegenseitigen Gebens und Nehmens beschrieben werden. Doch wird es schwer, die Anteile jedes einzelnen daran genau zu erfassen. Böhme hat Bedeutung „für die Klärung und Reifung der ökumenischen Ziele und Gedanken Franckes" und entwickelt die „theologische Begründung" der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft zwischen England und Halle. Doch ist Α. H. Francke der Ausgangspunkt der ökumenischen Aktivitäten; denn „Böhme enthüllt Franckes eigentliche Intention". Α. H. Francke wiederum steht „als der Schweigsame unverkennbar hinter der ökumenischen Gedankenwelt Böhmes". Die Begründung für dieses komplizierte Verhältnis gibt Beyreuther mit dem Stichwort der „ökumenischen ,Geheim-Theologie"' Α. H. Franckes. Böhme hatte „in der freien und gelockerten Atmosphäre Englands die Möglichkeit, die ökumenischen Ziele Franckes auszusprechen. . . . Die ökumenische ,Geheim-Theologie' Franckes, der aus taktischen Gründen sehr wortkarg ist, findet hier ihre Ausformulierung. " 239 Beyreuther hat mit dieser Darstellung den bisher umfangreichsten Einblick in Böhmes Denken und Handeln gegeben. Wie sein Buch „August Hermann Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung" in der Forschungsgeschichte überhaupt seinen Platz als deutlicher Hinweis auf die weltweit ausgerichtete Wirksamkeit des halleschen Pietismus einnimmt 240 , so ist es auch der Ausgangspunkt für weitere Arbeiten über Böhme, weil hier das Zentrum seiner Wirksamkeit anvisiert wird. Das schließt natürlich nicht aus, daß einmal an Beyreuthers Einzelinterpretationen viele Fragen zu richten sind 241 und daß zum andern, wie er es auch selbst betont hat, seine Arbeit nach Spezialuntersuchungen ruft 242 . Für ein Bild von Böhme insgesamt fällt auf, daß Beyreuther Böhmes Theologie in der „vorenglischen" Zeit ganz ausgeblendet hat, so daß sich hier bei dem 238 Eine Schwierigkeit fur die Verifizierung der Zitate ergibt sich allerdings daraus, daß sie z.T. nur global nachgewiesen werden. Vgl. dazu die eigene Beschreibung ebd. (1953), 137, Anm. 4: „Die Nachrichten sind aus dem Böhme-Nachlaß im Archiv der Halleschen Franckestiftungen zusammengestellt. Es handelt sich hierbei u m Briefe Böhmes an Francke und später an Neubauer, die wir nur bei besonders wichtigen Fragen einzeln anfuhren"; ebd. (1953), 179, Anm. 67: „Alle Unterlagen entstammen den Berichten, die A. W. B ö h m e nach Halle gegeben hat und die wir hier zusammengearbeitet haben. Wir verzichten darum häufig auf Angabe der Briefdaten." 239 Ebd. (1957), 179f.; (1953), 215f. - Z u m Stichwort der „Geheimtheologie" vgl. auch ebd. (1957), X . 8 2 f . l 0 9 ; (1953), 214. 240 Vgl. z β ρ Baumgart: Leibniz und der Pietismus: universale Reformbestrebungen u m 1700. In: Archiv für Kulturgeschichte 48 (1966), 365f. 241 Das beginnt bereits mit der Einordnung der Reise B ö h m e s nach England. Beyreuther bringt sie mit Mahnungen H. W. Ludolfs von 1702 zusammen, Francke m ö g e selbst einmal nach London kommen, und läßt B ö h m e demgemäß erst 1703 (statt 1701) ausreisen (E. Beyreuther: August Hermann Francke und die Anfänge der ökumenischen B e w e g u n g , 1957, 125 f.). 242 E. Beyreuther (1957), IX.

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Ü b e r g a n g von der theologiegeschichtlich orientierten zur ökumenisch interessierten Literatur die Frage nach Bruch oder Kontinuität in der E n t w i c k lung B ö h m e s energisch stellt. N a c h der Darstellung Beyreuthers ist kein umfassendes Bild B ö h m e s m e h r entworfen worden. Die weitere Forschung hat im Z u s a m m e n h a n g anderer Fragestellungen den einen oder anderen Akzent gesetzt oder auf weiter vorhandenes Quellenmaterial hingewiesen. Ernst Benz war in der Lage, fur seine Studie Die Beziehungen des August-Hermann-Francke-Kreises zu den Ostslawen (1954) das Archiv der S P C K in London durchzusehen 2 4 3 . Er weist auf B ö h m e als auf den ,,eigentliche[n] Vermittler des Halleschen Pietismus an die angelsächsische Welt" hin. „Aus den Akten der S P C K geht hervor, daß B o e h m durch dieses Vermittleramt eine entscheidende Rolle auf den Sitzungen spielte u n d daß eine Reihe von wichtigen Anregungen von i h m ausging." 2 4 4 Anschließend gibt er dann zwei Briefe aus den Beständen des Archivs der SPCK wieder, die Böhmes Mittlertätigkeit zwischen Halle und London u n d u m g e k e h r t unterstreichen 2 4 5 . Für den Z u s a m m e n h a n g dieser Arbeit bietet der Aufsatz von Benz inhaltlich keine weiterfuhrenden Gedanken. Er weckt aber die Frage nach der Art des „Vermittleramtes", das B ö h m e ausgeübt hat, sowie nach d e m politischen, kirchenpolitischen und theologischen Kontext, in dem er zu wirken hatte. Z u diesen Problemen sind im englischsprachigen Bereich einige j e weils ganz verschieden akzentuierte Arbeiten erschienen. In seinem 1978 veröffentlichten Aufsatz The Failure of the Anglican-Prussian Ecumenical Effort of 1710—1714 geht R. Barry Levis246 der Frage nach, wie sich die Kirchenunionspläne zwischen England, Hannover u n d Preußen, die durch J o h n Sharp, Erzbischof von York, und Daniel Ernst Jablonski, Hofprediger des preußischen Königs, projektiert w o r d e n sind, entwickelt haben und was schließlich zu ihrem Scheitern führte. Das Ergebnis seiner Untersuchung lautet, daß es hauptsächlich politische G r ü n d e waren, die einen positiven Ausgang der U n i o n s b e m ü h u n g e n verhinderten 2 4 7 . D e r Beweis für diese These wird in der detaillierten, z u m großen Teil aus d e m Briefwechsel der beteiligten Personen geschöpften Darstellung der Verhandlungen über das vorgesehene Projekt und seine steigenden oder sinkenden Realisierungschancen i m 243 E. Benz: Die Beziehungen des August-Hermann-Francke-Kreises zu den Ostslawen. In: FS für D m y t r o Cyzevskyj zum 60. Geburtstag am 23. März 1954. Berlin (West); Wiesbaden 1954, 76—99 (Veröffentlichungen der Abteilung fur slavische Sprachen und Literaturen des OstEuropa-Instituts [Slavisches Seminar] an der Freien Universität Berlin; 6); vgl. ebd. 76. 244 Ebd. 78. - Benz weist an derselben Stelle auch daraufhin, daß es notwendig wäre, die Übersetzertätigkeit Böhmes aus dem Deutschen ins Englische und die Wirkungsgeschichte dieser Übersetzungen bis nach Neu England (Cotton Mather) genauer zu untersuchen. 245 Es handelt sich um 2 Briefe Henry Newmans, des Sekretärs der SPCK: 1. an Böhme vom 19. Mai 1712 (Benz, 79f.) und 2. an Α. H. Francke vom 20. Juni 1721 (ebd. 80f.). 246 R. B. Levis: The Failure of the Anglican-Prussian Ecumenical Effort of 1710—1714. In: Church History 47 (1978), 381 - 3 9 9 . 247 Ebd. 381.390 ff. 397 ff.

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Wechsel der politischen Begleitumstände geboten. B ö h m e und der Hallesche Pietismus werden in der Darstellung nicht erwähnt. Es bleibt die Frage, ob und wie die von Levis behandelten Ereignisse sich bei B ö h m e widerspiegeln. Ebenfalls i m Jahre 1978 schrieb Geojfrey F. Nuttall über Continental Pietism and the Evangelical Movement in Britain248. Ausgehend von J o h n Wesleys Aufenthalt in Halle 1738 und seinem Zeugnis, daß der Hallesche Pietismus fur seine Entwicklung große Bedeutung hatte, fragt Nuttall nach d e m Einfluß, der „direkt aus Halle" auf die anderen Führer der anglikanischen E r w e c k u n g ausgeübt w o r d e n ist. In der Reihe der aufgeführten Kontaktpersonen hat auch B ö h m e seinen Platz, und zwar als „Schlüsselfigur". Die Bedeutung, die er für die anglikanische E r w e c k u n g hatte, wird an seiner Rolle als Übersetzer hallescher Schriften ins Englische, an seinem Einfluß in der Society of P r o m o t i n g Christian Knowledge und an seinem Einsatz für die Mission in Tranquebar illustriert 249 . Geographisch erstreckte sich seine Vermittlung bis nach Neuengland zu C o t t o n Mather, konfessionell bis in Dissenterkreise hinein, wie an Isaac Watts verdeutlicht wird 2 5 0 . D a m i t w e r den Tätigkeitsbereiche Böhmes genannt, die ζ. B. bei J. J. Rambach bereits angesprochen w o r d e n sind. Nuttall sieht sie aus englischer Perspektive und unter Benutzung englischer Literatur, w o d u r c h ihre Einordnung in die englische Kirchengeschichte markiert wird. Einen weiteren Gesichtspunkt bringt Eamon Duffy i m Jahre 1981 mit seinem Aufsatz The Society of Promoting Christian Knowledge and Europe251 in den Z u s a m m e n h a n g ein. Sein Einsatzpunkt ist die - zunächst erstaunliche Feststellung, daß J. A. Urlsperger 1779/1780 bei der SPCK keine U n t e r s t ü t zung für seinen Plan fand, eine internationale Organisation zur „Verteidigung u n d Fortpflanzung des christlichen Glaubens gegen Unglauben und Neologie" zu gründen 2 5 2 . U m die Gründe für diese Verweigerung festzustellen, untersucht D u f f y die Beziehungen der SPCK zu Europa von ihrer G r ü n d u n g an und k o m m t dabei auch auf die Kontakte mit Halle und damit auf B ö h m e zu sprechen. Die Parallelität zwischen A r m e n f ü r s o r g e der S P C K und der Arbeit Α. H . Franckes in Halle führte zu gegenseitigem Interesse und über die Anwesenheit v o n j . B. Wigers u n d j . C. Mehder in London zur E r n e n n u n g Α. H . Franckes z u m korrespondierenden Mitglied der Gesellschaft, übrigens z u m ersten außerhalb Englands. Das Verhältnis zwischen London und Halle erhält dann durch die A u f n a h m e Böhmes in die SPCK i m 248 G. F. Nuttall: Continental Pietism and the Evangelical Movement in Britain. In: J. van den Berg; J. P. van Dooren (Hgg.): Pietismus und Reveil. Referate der internationalen Tagung: Der Pietismus in den Niederlanden und seine internationalen Beziehungen, Zeist 18.—22. Juni 1974. Leiden 1978, 2 0 7 - 2 3 6 (= Kerkhistorische Bijdragen; 7). 2« Ebd. 221 f. 250 Ebd. 223 f. 251 E. Duffy: The Society of Promoting Christian Knowledge and Europe: The Background to the Founding of the Christentumsgesellschaft. In: JGP 7 (1981), 2 8 - 4 2 . 252 Ebd. 28.

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Februar 1709 sehr starke Impulse. Böhme ist, „mit den Worten des Sekretärs der SPCK, . . . ,das Leben und die Seele unserer Korrespondenz in religiösen Angelegenheiten mit Deutschland und Dänemark' und vor allem mit der europäischen pietistischen Bewegung, die in Halle ihr Zentrum hat" 253 . Das äußere Bild der Beziehungen zwischen Halle und der SPCK wurde vor allem durch die Unterstützung der dänischen Mission in Tranquebar durch die SPCK bestimmt. Da in Indien Missionare tätig waren, die in Halle ihre Ausbildung erfahren hatten, konnte der Eindruck entstehen, als ob die Gesellschaft pietistische Ziele und Projekte mit ganzem Herzen unterstütze. Das war jedoch nicht der Fall. Die Unterstützung der halleschen Projekte versteht Duffy vielmehr als eine gewisse Überfremdung der ursprünglichen Ziele der SPCK. Sie ist zu Lebzeiten Böhmes noch nicht scharf empfunden worden, wurde aber in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Beginn der englischen Erweckung deutlich spürbar. Der Gegensatz, der sich hier auftut, hat nach Duffy in dem unterschiedlichen „Geist" des Pietismus und des Reformprotestantismus englischer Prägung seinen Grund. Duffy demonstriert überzeugend diesen Tatbestand an der unterschiedlichen Sicht des Heilsweges und an den gegensätzlichen Stellungen in der Frage der Kirchenunion 254 . Die Vermittlerrolle Böhmes erhält bei dieser Sicht ein ganz besonderes Gewicht, und die Frage stellt sich ein, welche synthetische Kraft es war, die fast über ein halbes Jahrhundert hinweg zwei Bewegungen mit eigentlich unterschiedlichen Zielen zu gemeinsamer Arbeit zusammenfuhren konnte. Der Hinweis allein auf die gemeinsamen Programme der europäischen Reformbewegungen dieser Zeit, wie ihn Duffy gibt, kann als Antwort nicht genügen.

3. Probleme aus der Quellenlage und Quellenverwendung Im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle befinden sich zwei u m fangreiche auf Böhme bezogene Sammlungen von Briefen. Die eine von ihnen enthält vor allem Briefe Böhmes aus London an Α. H. Francke, die andere die Antwortbriefe aus Halle an Böhme. Sie werden durch eine größere Zahl von Briefen ergänzt, die einzeln oder in kleineren Gruppen in demselben Archiv zu finden sind. Empfänger der von Böhme nach Halle gerichteten Briefe ist in der ersten Zeit vor allem Α. H. Francke, später immer stärker G. H. Neubauer, Verfasser der von Halle nach London an Böhme gesandten in den meisten Fällen G. H. Neubauer, wobei die Grundlinie der Schreiben vorher mit Α. H. Francke abgesprochen worden ist 255 . 253 Ebd. 3 2 - 3 6 . 254 Ebd. 3 5 - 3 8 . 255 AFSt A 185: 34 (G. H. Neubauer an Böhme, Halle, 30. Oktober 1712): „Aus des H. Professoris Munde thue dieses hinzu."

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Mit dem in Halle vorhandenen Brieffundus liegt authentisches Quellenmaterial vor, das detaillierten Aufschluß über Böhmes Leben und über seine Anschauungen wie auch über das ökumenische Verhältnis zwischen E n g land und Halle gibt. Allerdings macht die Durchmusterung des Archivmaterials bewußt, daß längst nicht alle Briefe, die zwischen B ö h m e und Halle gewechselt wurden, erhalten geblieben sind. Das ist aus dem Briefregister ablesbar. Einen weiteren Hinweis auf den viel reicheren Bestand an Briefen Böhmes gibt — nun im positiven Sinne - der Band mit seinen „Erbaulichen Briefen", der im Jahre 1737 erschienen ist und 152 N u m m e r n enthält. N u r ein Teil dieser Briefe ist handschriftlich in Halle erhalten. Die meisten von ihnen gehen auch im Adressatenkreis weit über Halle hinaus und belegen wenigstens in ganz geringem Maße J. J. Rambachs Aussage von dem weltweiten Briefwechsel Böhmes 2 5 6 . Da B ö h m e im Februar 1709 Mitglied der S P C K wurde, ist auch dort Material über ihn zu vermuten. E. Benz hat bereits einen Hinweis darauf gegeben 2 5 7 . Allerdings sind die bei der Gesellschaft eingegangenen Briefe nicht im Archiv aufbewahrt, sondern nur in den Posteingangsbüchern vermerkt und inhaltlich regestenartig festgehalten worden 2 5 8 . Die Zahl der Briefe Böhmes an die S P C K ist nicht allzu groß gewesen 2 5 9 . Das ist aufgrund seiner regelmäßigen Teilnahme an den Sitzungen, die durch die Protokollbücher ausgewiesen wird, leicht erklärlich 260 . U m so wichtiger sind dann also diese Protokollbücher, wenn die Aktivitäten Böhmes in der S P C K nachgewiesen werden sollen 261 . Z u den handschriftlichen und gedruckten Briefen Böhmes tritt als Q u e l lengrundlage noch die Fülle seiner Predigten, Vorreden, Abhandlungen usw. hinzu, die teils als Einzeldrucke existieren, teils in die Ausgabe seiner AFSt A 185: 67 (G. H. Neubauer an Böhme, Halle, 30. September 1714): Francke bedauert, daß seine Geschäfte die Korrespondenz behindern; er will deshalb, was nötig ist, durch Neubauers Briefe bestellen lassen. 2 5 6 RVorr 1,34. 2 5 7 Vgl. oben Anm. 243-245. 2 5 8 Archiv der Society of Promoting Christian Knowledge (London, Great Portland Street), Abstract Letter Book 1708-1723 (Signaturen: ^ b i s S i i ) . 2 5 9 Bei einer ersten Durchsicht wurden fur die Jahre 1709 bis 1720 achtzehn Briefe Böhmes an die S P C K gezählt, die ζ. T. in den Minutes of the SPCK und im Standing Committee Book wieder auftauchen. In den „Society Letters", den Briefentwürfen des Sekretärs Henry Newman, ist kein Brief an Böhme erhalten (Sign.: ^ p bis . 2 6 0 Aufschluß darüber geben die Minutes of the SPCK, das Standing Committee Book, die Special Committee Minutes (Sign.: ^ und 2 « Minutes of the SPCK, 2 - 4 , S ^ 47™ „Thursday. 3.d Feb." 1708/09 Pres.'.. . Mr. Chamberlayne in the Chair. The Reverend Mr. Boehme being introduced by Mr. Chamberlayne. Subscrib'd to be a Residing Member." Vom Februar 1709 an sind die Protokollbücher also zu vergleichen.

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„Erbaulichen Schriften" aufgenommen worden sind. Die erste Übersicht über sie hat J . J . Rambach gegeben 2 6 2 . Sie ist durch L. Curtze ergänzt worden 2 6 3 . Doch kann die Bibliographie der Schriften Böhmes bisher nicht als vollständig bezeichnet werden 2 6 4 . Der Überblick über den Gang der Forschung zeigt, daß die Quellen nicht gleichmäßig, sondern nach der speziellen Fragestellung in zwei getrennten Strängen ausgewertet worden sind: Während die polemische und die theologiegeschichtlich orientierte Literatur sich hauptsächlich auf die Aussagen Böhmes aus seiner waldeckischen Zeit gestützt hat, ist durch die hallesche Geschichtsschreibung, die biographisch-erbaulich und die ökumenisch orientierte Literatur vor allem sein Schrifttum aus der englischen Periode benutzt worden. Für die gesamte Literatur gilt darüber hinaus, daß die vorhandenen Quellen eher eklektisch als systematisch herangezogen worden sind, so daß sich die Frage stellt, inwieweit die verschiedenen Urteile, die über B ö h m e ausgesprochen worden sind, in der zur Beantwortung der jeweiligen Fragestellung ausgewerteten Literatur mit begründet sind.

4. Folgerungen fur die Aufgabenstellung der Arbeit Die Darstellung Böhmes in der Literatur zeigt eine auffällige Gespaltenheit des Interesses: In der einen Gruppe der Untersuchungen werden seine Anschauungen in der Zeit der Auseinandersetzung mit dem waldeckischen Konsistorium behandelt, wobei dann die englische Periode - wenn sie überhaupt in den Blick k o m m t - als ein bloßer Anhang betrachtet wird, in dem einige radikale Äußerungen der Frühzeit zurückgenommen wurden. Die andere Gruppe hat Böhmes ökumenische Wirksamkeit in England zum Zentrum der Untersuchung gemacht und dabei seine Entwicklung in Deutschland nur als ein unwesentliches Vorspiel angesehen, das für seine Vermittlerrolle in England keine Bedeutung hat. Wenn in der dritten Gruppe doch beide Etappen seines Lebens in den Blick genommen wurden, dann geschah das in erbaulicher Absicht, ohne daß nach dem biographischen und theologischen Zusammenhang dieses Lebens oder nach einem Bruch, der eventuell zu verzeichnen ist, gefragt wurde. So stellt sich als Erfordernis einer Untersuchung über B ö h m e die Aufgabe heraus, das Verhältnis der beiden Etappen seines Lebens zueinander zu bestimmen. Denn wenn es richtig ist, daß sich der menschliche Geist in der Geschichte expliziert, dann sind Böhmes Äußerungen vor dem waldeckiRVorr 1 , 4 4 - 5 4 . L. Curtze, 1 9 0 - 1 9 2 . 2 6 4 Das ist verständlich, weil bisher nur von den veröffentlichten Schriften B ö h m e s ausgegangen worden ist. Als Beispiel einer Ergänzung sei B ö h m e s Aufsatz von 1700 über die Enthusiasten in Waldeck und den angrenzenden Grafschaften genannt A F S t C 229: 75 ( B ö h m e an Α. H . Francke, Pyrmont, 31. August 1700). 262 263

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sehen Konsistorium nicht zu verstehen, ohne daß sein späteres Wirken in England als deren Explikation mit in den Blick genommen wird, und seine englische Tätigkeit wiederum ist nicht ohne die theologischen Voraussetzungen verständlich, die sich in seinen jüngeren Jahren in Deutschland herausgebildet haben. Daher ist das Hauptziel dieser Arbeit der Versuch, eine zusammenfassende, Böhmes Tätigkeit in Deutschland und England miteinander in Beziehung setzende Darstellung zu geben, d. h. die Frage nach der Kontinuität, dem qualitativen Sprung oder dem Bruch in seinem Denken aufzunehmen und zu lösen. Ebenfalls aus der Forschungsgeschichte ergeben sich die inhaltlichen Schwerpunkte, an denen die Antwort auf die gestellte Frage gesucht werden soll. Die Übersicht über die polemische Literatur hat gezeigt, daß die orthodoxen Theologen B ö h m e außerhalb der lutherisch-orthodoxen Tradition gesehen und dies durch beinahe alle dogmatischen Loci hindurch beispielhaft dargestellt haben. Aus der Fülle der damit angeschlagenen Themen hat die ökumenisch orientierte Literatur die Frage des Kirchenbegriffes besonders hervorgehoben. Martin Schmidt fragte 1951, ob sich „Umrisse eines ökumenischen Kirchenbegriffs" bei Α. H. Francke erkennen lassen, und ordnete seiner Antwort die Überlegung zu, wie es u m „ein eigenes ökumenisches Bewußtsein" bei den Vertretern der S P C K bestellt gewesen sei. Die von Schmidt konstatierte Divergenz in den Kirchenvorstellungen Halles und der S P C K 2 6 5 ist von Eamon Duffy im Jahre 1981 noch verdeutlicht worden 2 6 6 . Seine Aufstellungen lassen die interpretierende Formulierung zu, daß wegen der gegensätzlichen Ziele, die in Halle und in der S P C K vertreten wurden, die Zusammenarbeit nur auf einem produktiven Mißverständnis gegründet gewesen sein kann. Diese Formulierung löst noch nicht die Frage, auf welcher theologischen Grundlage die Kooperation zustande gekommen ist. Da der Forschungsbericht gezeigt hat, daß B ö h m e eine wichtige Vermittlerrolle gespielt hat, ist der Frage nach seinem Kirchenbegriff und seinem Ökumeneverständnis hier eine Schlüsselfunktion zuzusprechen. Sie soll deshalb als ein zentrales Thema in Betracht gezogen werden. Weitere inhaltliche Schwerpunkte ergeben sich durch eine Einordnung des Forschungsberichtes über B ö h m e in die Probleme der neueren Pietismusinterpretation. Im Rahmen der Grundsatzdiskussion über die „innere Mitte" des Pietismus ist die Zuordnung von Rechtfertigung, Wiedergeburt und Erneuerung in der Theologie Philipp Jakob Speners intensiv behandelt worden 2 6 7 . Johannes Wallmann hat in diesem Zusammenhang gezeigt, daß einer bestimmten Lehre v o m Heilsweg auch ein adäquates ReformproM. Schmidt: Das hallische Waisenhaus und England . . ., 51—55. E. Duffy: The Society of Promoting Christian Knowledge and Europe . . . , 37 f. 267 Vgl. di e Ubersicht bei J. Wallmann: Wiedergeburt und Erneuerung bei Philipp Jakob Spener: ein Diskussionsbeitrag. In: J G P 3 (1977), 7—31. 265

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gramm entspricht 268 . Für das Verständnis des Kirchenbegriffs Böhmes und seiner Reformvorstellungen erfordert diese These den Rückgang auf dessen Anschauung vom ordo salutis. Mit diesem Schritt kann sowohl ein zentraler Punkt der Theologie Böhmes bloßgelegt als auch ein Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion in der Pietismusforschung geleistet werden. Im Zusammenhang dieser Arbeit wird noch ein anderes Problem der Pietismusforschung behandelt werden, ohne daß es zum eigentlichen Thema gemacht wird. Seit den Forschungen von Carl Hinrichs über „Preußentum und Pietismus" ist die Erkenntnis beinahe zum Allgemeingut geworden, daß nach der Verbindung mit dem brandenburgisch-preußischen Staat aus dem Pietismus als „einer universellen Bewegung gewissermaßen [eine] Staatsreligion" geworden sei 269 . Gegen den Strom dieser Überzeugung schwimmt allein Erich Beyreuther. Nach seiner Interpretation hat der Hallesche Pietismus auch in der engen Verbindung mit seiner „Schutzmacht" Brandenburg-Preußen den „ökumenischen und weltweiten Spielraum" behalten270. Im Jahre 1957 hatte er diese These noch mit der Vorstellung einer „ökumenischefn] ,Geheim-Theologie' Franckes" gestützt, die durch Böhme in England ihre Ausformung gefunden hat 271 . In seiner „Geschichte des Pietismus" aus dem Jahre 1978 hat Beyreuther das Stichwort „GeheimTheologie" aber nicht aufgenommen, sondern, zumindest für die Ausrichtung Α. H. Franckes nach dem Osten, die Zusammenarbeit mit politischen Stellen betont: „Francke fand hier an einer der Nahtstellen der damaligen Weltpolitik das volle Vertrauen der betroffenen Regierungen BrandenburgPreußen, England und Rußland. " 2 7 2 Aber wie die Verwirklichung der ökumenischen Pläne auch vorgestellt sein mag, ob geheim oder mit Unterstützung der politischen Macht, Beyreuther sieht im Gegensatz zu Hinrichs keine politisch bedingte Zurücknahme der weltweiten Reformpläne des halleschen Pietismus. Beide Anschauungen stellen einen kontradiktorischen Gegensatz dar. Den Hinweis auf eine Interpretationshilfe durch Böhme hatte Beyreuther bereits gegeben. Es wird sich zeigen müssen, ob Böhmes Briefwechsel mit Halle und sein Ökumeneverständnis etwas zur Klärung des Problems beitragen können. Die aufgeführten inhaltlichen Schwerpunkte haben bereits angezeigt, daß die gestellte Aufgabe, das Verhältnis der beiden Lebensabschnitte Böhmes zueinander zu untersuchen, nicht durch eine ausgeführte Biographie gelöst E b d . 30. K. Deppermann: Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.), 1961, 153f. - Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke. H g . von Peter Schicketanz, 1972, X f. - H. Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus: Gottesgnadentum und Kriegsnot, 1980, 90f. - C . Hinrichs: Preußentum und Pietismus: der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale R e f o r m b e w e g u n g , 1971, 125. 2 7 0 E. Beyreuther: Geschichte des Pietismus, 1978, 150. 2 7 1 E. Beyreuther: August Hermann Francke und die Anfänge der ökumenischen B e w e gung, 1957, 179. 2 7 2 E. Beyreuther: Geschichte des Pietismus, 1978, 161. 268

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werden soll. Es wird vielmehr die Gestalt von Studien gewählt, die allerdings auch biographische Elemente enthalten werden. Diese Form legt sich einmal von dem vorhandenen und auswertbaren Quellenmaterial her nahe. Es ist insofern lokal begrenzt, als neben den im Druck erschienenen Schriften Böhmes im wesentlichen der Briefwechsel zwischen ihm und Halle den Untersuchungen zugrunde gelegt wird, der sich im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle befindet. Die Studienform empfiehlt sich aber auch deswegen, weil sie eine gezielte Aufnahme der im Forschungsüberblick zutage getretenen Fragestellungen ermöglicht. Im Blick auf die Quellenbenutzung stellt sich die vorliegende Arbeit die Aufgabe, das vorhandene und erreichbare Quellenmaterial möglichst systematisch auszunutzen. Dem dient auch das erarbeitete Briefregister, das nicht nur die in Halle erhaltenen und nach Halle gesandten Briefe Böhmes dokumentieren will, sondern auf Lücken in der Korrespondenz hinweist und so vielleicht den Anstoß zu seiner Ergänzung in anderen Gegenden gibt, in die Böhmes Korrespondenz reichte. In diesem Zusammenhang bietet die gewählte Form der Studien die Möglichkeit zu späterer bausteinartiger Ergänzung des Bildes von Böhme.

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II. Zwischen Kirche und Separatismus: Anton Wilhelm Böhmes Auseinandersetzung mit dem waldeckischen Konsistorium 1699/1700 Die Überschrift dieses Abschnittes n i m m t nicht schon die Ergebnisse der Untersuchung vorweg. Sie beschreibt vielmehr die beiden theologischen Pole, innerhalb deren spannungsgeladener Beziehung sich B ö h m e während seiner waldeckischen Zeit bewegt hat. Wie stark er von j e d e m Pol affiziert w o r d e n ist, soll die Darstellung zeigen.

1. Die Quellenlage Böhmes Streit mit dem waldeckischen Konsistorium ist in der wissenschaftlichen Literatur bisher aufgrund der i m Druck erschienenen Darstellungen und Quellenwiedergaben geschildert worden. Dadurch wird das historische und theologische Urteil über die Vorgänge i m wesentlichen von der H P W und den auf sie folgenden Streitschriften bestimmt. W. Irmer hat diese methodische Entscheidung mit der Vermutung begründet, daß die Originalakten „fast alle höchstwahrscheinlich der Vernichtung anheimgefallen" sind. Er hält diesen Verlust aber nicht für besonders gravierend, weil der „stoffliche Inhalt" dieser Akten „in den Druckschriften der beiden sich bekämpfenden Parteien . . . fast vollständig erhalten geblieben" ist 1 . Die Beschränkung auf das gedruckte Material hat F. Salis in seiner Rezension der Irmerschen Dissertation kritisiert: „Daß alle Akten über diesen für die Landesgeschichte so wichtigen wie verhältnismäßig naheliegenden Zeitr a u m verschwunden seien, ist trotz der Behauptung des Verfassers nicht gut möglich." Da das Waldeckische Fürstliche Kabinettsarchiv nach M a r b u r g überführt w o r d e n ist, hätte dort gesucht werden müssen; das hat Irmer versäumt. U n d dann gibt Salis noch Hinweise auf einige Faszikel, in denen er durch Stichproben Quellen zu den pietistischen Streitigkeiten in Waldeck festgestellt hat. Allerdings handelt es sich in allen Fällen u m Material, das die Zeit betrifft, in der B ö h m e nicht mehr i m Lande war. Z u s a m m e n g e f a ß t

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W. Irmer: Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck, 1912, 1.

formuliert Salis sein Urteil: „Die ,Geschichte' des Pietismus in Waldeck, die hinter jenen traurigen Händeln liegt, ist allerdings noch zu schreiben." 2 Diese Aussage besteht auch heute noch zu Recht, weil die Aufgabe einer systematischen Zusammenstellung der Quellen zur Geschichte des Pietismus in Waldeck, wie sie Salis vor n u n m e h r fast 70 Jahren gestellt hat, nur punktuell in Angriff g e n o m m e n w o r d e n ist. I m j a h r e 1916 veröffentlichte F. Weinitz aus Privatbesitz fünf Briefe von Mitgliedern des waldeckischen Grafenhauses nach Halle, die für die Beziehungen zwischen der gräflichen Familie und Α. H . Francke wichtig sind, aber nicht den pietistischen Streit oder gar die Rolle Böhmes in Arolsen illustrieren 3 . Erst 18 Jahre später ist die Frage nach den Quellen für die Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck durch H. Nebelsieck wieder a u f g e n o m men worden. Er läßt zunächst einmal Irmer ein wenig mehr Gerechtigkeit widerfahren, indem er darauf hinweist, daß das waldeckische Fürstliche Kabinettsarchiv erst nach M a r b u r g verlagert und zugänglich gemacht w o r den ist, als Irmer seine Arbeit bereits abgeschlossen hatte, so daß er es gar nicht benutzen konnte. Nebelsieck selbst vermutet in den Akten wichtiges Material, das die H P W in ihrem parteilichen Bestreben nicht genutzt hat. Inwieweit das Bild des Pietismus in Waldeck, das Irmer gezeichnet hat, durch die neuen Quellen geändert werden wird, weiß er jedoch noch nicht zu sagen 4 . U n t e r dieser Beschränkung ist auch der Quellenanhang zu sehen, den Nebelsieck seinen Ausführungen beifügt 5 . Doch werden i m m e r h i n einige Akzente neu gesetzt: Das enge Verhältnis zwischen Waldeck und Halle wird ebenso deutlich 6 wie die Parteienbildung in der gräflichen Regierung 7 . Doch findet sich gerade für den „Prozeß" gegen B ö h m e unter den veröffentlichten Quellen kein Material. U n t e r der speziellen Fragestellung nach B ö h m e betrachtet, führt auch der Aufsatz von H. Schneider (1977) 8 nicht weiter, weil nicht so sehr der Pietismus in Waldeck, sondern mit der Gestalt J. H. M a r m o r s „einige Streiflichter aus d e m weiteren Leben eines aus Waldeck emigrierten Pietisten" im Z e n t r u m der Untersuchung stehen 9 . In seiner kritischen Betrachtung der Dis2 F. Salis: Rez. von W. Irmer: Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck, 1912. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 47, N F 37 (1914), 361—363. 3 F. Weinitz: Vier Schreiben an August Hermann Francke und ein Schreiben an seine Gattin Anna Magdalena Francke gerichtet von Mitgliedern des Waldeckischen Grafenhauses. In: Geschichtsblätter für Waldeck und Pyrmont 15/16 (1916), 8 2 - 9 2 . 4 H. Nebelsieck: Zur Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck. In: Geschichtsblätter für Waldeck und Pyrmont 34 (1934), 49. 5 Ebd. 5 5 - 8 0 . 6 Ebd. 5 5 - 5 7 . 5 7 f . 5 8 - 6 1 . 6 2 - 6 5 . 7 Ebd. 6 6 - 6 9 . 8 H. Schneider: Johann Heinrich Marmor (1681 — 1741): Zur Biographie eines Waldecker Pietisten. In: Geschichtsblätter fur Waldeck 66 (1977), 138-159. 9 Ebd. 140.

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sertation von Irmer gibt Schneider jedoch einige wichtige Hinweise auf die engen Kontakte zwischen Waldeck und Halle 10 und auf die Aufmerksamkeit, mit der die Mitglieder des Wetterauer Grafenvereins die Ereignisse in Waldeck registrierten 11 , die für die Beurteilung des Streites um Böhme beachtenswert sind. Wenn die Beziehungen zwischen Waldeck und Halle so eng waren, wie die Forschung betont, ist die Frage zu stellen, welches Quellenmaterial zu Böhmes waldeckischer Auseinandersetzung sich im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle erhalten hat. Darauf ist zunächst in zwei Punkten Fehlanzeige zu erstatten. Der in Halle erhaltene umfangreiche Briefwechsel Böhmes bringt keinen inhaltlichen Aufschluß über seinen Streit mit dem Konsistorium in der Grafschaft Waldeck. Dasselbe ist auch von den 1737 herausgegebenen ,,Erbauliche[n] Briefe[n]" zu sagen. Es entsteht beinahe der Eindruck, als ob einschlägiges Material getilgt worden sei. Denn soviel wird deutlich, daß man in Halle über das, was in Arolsen vor sich ging, sehr wohl informiert gewesen ist, und zwar durch Böhme selbst. In dem Postskriptum eines Briefes vom 31. August 1700 - also bereits nach seiner Ausweisung aus den Grafschaften Waldeck und Pyrmont - erinnert er Α. H. Francke: „Wegen des Theol. Responsi über meinen Process habe hiedurch nochmalige Erinnerung thun wollen, weil ich unterschiedlichen, die mit Begierde darnach gefraget, Hoffnung gemacht habe, daß man mir solches nachschicken werde, welches bald zugeschehen wüntsche." 1 2 In Halle hatte man also ein schützendes theologisches Votum versprochen. Das setzt die Kenntnis der Vorgänge, d. h. die Möglichkeit der Einsicht in die einschlägigen Unterlagen voraus. Dieses Material muß demnach in Halle vorhanden gewesen sein. Und in der Tat finden sich noch zwei Zeugnisse dafür in Böhmes Briefwechsel. Die Herausgabe der HPW im Jahre 1712 scheint ihn angeregt zu haben, sich mit seinem Fall noch einmal zu befassen und um Übersendung des in Halle vorhandenen Materials zu bitten. Dieser Brief, der vielleicht auch etwas über die Beweggründe Böhmes ausgesagt hätte, ist leider nicht erhalten geblieben. Wohl aber ist die Antwort G. H. Neubauers vom 19. Oktober 1712 noch vorhanden. Er muß berichten: „Die dem Waldeckischen Ministerio eingesandte Schrifft weiß nicht zu finden, der H. Prof. Francke auch nicht." Und er begründet diese Fehlmeldung mit einer U m o r ganisierung der Korrespondenzstube, die vorgenommen werden mußte, weil die dort tätigen Studenten angefangen hatten, für sich selbst Kopien herzustellen und zu verschicken. Im Zusammenhang dieser Vorgänge ist das kopierte Schriftgut verlagert worden, und Neubauer weiß im einzelnen nicht, wohin. Er verspricht jedoch, die Sache im Auge zu behalten 13 . Böhme 1° Ebd. 152, Anm. 23. 11 Ebd. 140. 12 AFSt C 229:75 (Böhme an Α. H. Francke, Pyrmont, 31. August 1700); vgl. Briefanhang. ι 3 AFSt A 185: 32 (G. H.Neubauer an Böhme, Halle, 19. Oktober 1712).

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scheint die Angelegenheit dringlich gemacht zu haben; denn Neubauer hat intensiv gesucht und ist fündig geworden. Er schreibt am 30. Oktober 1712: „ A m 23t. huius habe den verlangten brief aus den waldeckischen Actis geschickt." 1 4 N u n wird nicht deutlich, worum es sich bei dem übersandten Brief genau gehandelt hat. Es kann die Erläuterung gewesen sein, die B ö h m e am 10. Februar 1700 als Ergänzung und zur näheren Erklärung der in seinem Verhör gemachten Aussagen der Untersuchungskommission überreicht hat 15 . Sie wird in der Literatur als „Böhmens fernere Erklärung" bezeichnet und soll einen U m f a n g von 14 bis 15 Bögen gehabt haben 16 . Über diese Vermutungen hinaus wird aus den kurzen Bemerkungen N e u bauers aber noch erkennbar, daß in Halle umfangreichere Unterlagen vorhanden waren; denn Neubauer nimmt den Brief „aus den waldeckischen Actis" heraus. Aber von diesem gesamten Material ist im Archiv der Frankkeschen Stiftungen in Halle bisher nichts nachweisbar gewesen. O b dieser Tatbestand in irgendeiner Weise der Unterdrückung der waldeckischen Vorgänge in J. H. Callenbergs Kirchengeschichte korrespondiert 1 7 , kann nicht entschieden werden. U n d nun noch die zweite Fehlmeldung: Zu welchem Zweck sich B ö h m e den genannten Brief hat zusenden lassen, wird nicht deutlich. Vielleicht wollte er sich bereits im Jahre 1712, angeregt durch das Erscheinen der HPW, an die Ausarbeitung der ,,Wahrhafte[n] Vorstellung der im Anfang des 1700. Jahres wider mich ergangenen Hochgräfl. Waldeckischen C o m mission und andrer damit verknüpften Umstände" 1 8 machen, die sich nach J. J. Rambachs Informationen in seinem schriftlichen Nachlaß befunden haben soll. Es handelt sich dabei u m eine recht umfangreiche, mehr als 40 Bögen umfassende Schrift, der aber bereits Rambach „nicht theilhaftig werden" konnte 1 9 . Sie ist auch bis jetzt nicht wieder aufgetaucht. Die subjektiven Stellungnahmen Böhmes zu seinem Prozeß fallen fur die Untersuchung also aus. Doch ist es lohnenswert, sich dem gesamten Themenkomplex „ B ö h m e vor dem Tribunal der Orthodoxie" 1699/1700 erneut zuzuwenden. Denn es gibt zumindest für die Rahmenbedingungen des Streites neues Material. Das sind einmal die Hinweise und Quellen, die Weinitz, Nebelsieck und Schneider namhaft gemacht haben. Das sind zum andern aber und vor allem die Briefe Böhmes, die er kurz vor und bald nach dem Streit in Waldeck geschrieben hat. Sie sind bisher gar nicht beachtet worden. Wenn sie auch, wie bereits betont, über den Verlauf des Streites inhaltlich keine Auskunft geben, so zeigen sie doch etwas von der BetätiAFSt A 185: 34 (G. H. Neubauer an Böhme, Halle, 30. Oktober 1712). Vgl. HPW, 10. 16 Vgl. HPW, 10; Anlagen, 29; Responsum Theologicum und Juridicum . . . , Rotuli Actorum, 1. 1 7 Vgl. vorliegende Arbeit oben S. 3 5 - 3 9 . 1 8 RVorrl, 53 f. 1 9 Ebd. 8 f. 14 15

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gung und Stimmung Böhmes aus der Zeit der Angriffe gegen ihn. Weiter ist auch die Übersetzung der Schrift „Der Göttliche Liebes-Weg unter dem Creutz" der Catharina von Genua mit in die Betrachtung einzubeziehen, die Böhme in enger zeitlicher Beziehung zu den waldeckischen Vorgängen hergestellt hat; 1700/1701 hat er vermutlich die Vorrede dazu geschrieben20. Wenn die Schriften Böhmes aus diesem Zeitraum durchmustert werden, um seine theologische Position zu bestimmen, ist auch auf die fragliche Verfasserschaft für die im Jahre 1700 gedruckte Lebensbeschreibung des bereits oben genannten „kleinen Pyrmontischen Schusters" Peter Leidning „Die Hand Gottes In ihrer wunderbaren Führung" hinzuweisen, die Böhme seit L. Curtze zugesprochen wird. Doch reichen die bisher vorhandenen Kriterien nicht aus, um diese Frage entscheiden zu können 21 . Ebenfalls ist in diesem Zusammenhang auf die Parallelereignisse zu achten. Das soll nicht allgemein temporal verstanden werden; dann wären die Parallelen Legion: Ein Blick in das Register der Kirchengeschichte J. H. Callenbergs zeigt die Fülle der Streitigkeiten, die in zeitlicher Nähe zu den waldeckischen Vorgängen liegen. Auch Α. H. Francke befand sich 1699/ 1700 in Auseinandersetzung mit der halleschen Geistlichkeit. Wohl aber können zeitlich parallele und geographisch in der Nähe geschehene Vorgänge zur Klärung beitragen. Und das trifft für die Ereignisse in Laubach zu. Schneider hat auf das Interesse des Wetterauer Grafenvereins an dem Prozeß in Arolsen hingewiesen. Es ist durch das Wissen um die Ähnlichkeit und den

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Vgl. zu diesem Problembereich vorliegende Arbeit, S. 100—105. Da die Schrift im Original bisher nicht zu erhalten war, sind die Angaben aus der Sekundärliteratur erhoben. L. Curtze: Nachrichten über Gelehrte, Schriftsteller und Künstler . . . In: Beiträge zur Geschichte der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont. Bd. 2, 1869, 188 zitiert den Titel kommentarlos in der Bibliographie Böhmes: Die Hand Gottes In ihrer wunderbaren Führung. Oder: Historische Erzehlung, wie der Herr eine Seele durch einen sonderbaren Prozeß in das Reich des Lichts durchkämpfen lassen - Sammt einem Anhang [einer Predigt] von Gottes Ordnung im Werck der Bekehrung - von Einem ihres Heyls Allzeit Willigen Beförderer [d.h. Anton Wilhelm Böhme]. Gedr. im Jahr Christi 1700. - W. Irmer: Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck, 1912, 58f. hatte ein Exemplar des Druckes in der Bibliothek des Geschichtsvereins in Arolsen nachgewiesen und wie L. Curtze den „Allzeit Willigen Beförderer" mit Böhme identifiziert: „Es wirft auch ein Licht auf Böhme selbst, wenn er das Leben dieses Abenteurers [Peter Leidning] eine wunderbare Führung Gottes nennt" (59, Anm. 6). Ein Beweis fur die Autorschaft Böhmes wird nicht gegeben. - J. H. Reitz hat die Lebensbeschreibung Leidnings auszugsweise in seiner „Historie Der Wiedergebohrnen Bd. 3, 1701, 236—250 aufgenommen (vgl. die Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698—1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang . . . Hg. von Hans-Jürgen Schräder, Tübingen 1982). Reitz formuliert über den Verfasser: „Diese Historie von Peter Leideneck ist Anno 1700. durch einen gottseligen und gelehrten Mann A. W. B. in offenem Druck außgegeben" (236). Der dargebotene Auszug reicht jedoch nicht aus, um eine begründete Entscheidung in der Verfasserfrage treffen zu können. Die Lösung des Problems muß daher auf eine spätere Zeit aufgeschoben werden. - Vgl. aber schon Böhmes Urteil über die Inspiration in vorliegender Arbeit unten S. 9 6 - 9 8 . 21

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Zusammenhang der Vorgänge in Laubach und in der Grafschaft Waldeck bedingt 22 . Es ist aber auch noch einmal auf die offiziellen Quellen zu verweisen, d. h. auf die H P W und die Streitschriften aus der Zeit nach 1712. Sie wurden bisher von der Literatur recht einseitig ausgenutzt: Da die HPW von der historischen Kritik als „Lästerschrift" betrachtet wurde 23 , galt das von Böhme gegengezeichnete Protokoll seines Verhörs vom 17. und 18. Januar 1700 als die einzige amtliche Quelle fur die Beurteilung seiner theologischen Position 24 . Aber auch diese Bewertung muß eigentlich eingeschränkt werden. Denn der Fragenkatalog, den Superintendent Kleinschmidt für das Verhör zusammengestellt hatte 25 , war ja nicht als eine Reihe objektiver theologischer Fragen gedacht, sondern beinhaltet versteckte Fallstricke. Ein Vergleich mit den in dieser Zeit allgemein gängigen Vorwürfen gegen den Pietismus beweist das 26 . Böhme fühlte sich deshalb durch dieses Verhör auch übervorteilt und reichte die „fernere Erklärung" an die Kommission nach 27 . Die parteiliche Darstellung geht also viel weiter als allgemein angenommen wird. In die Reihe der orthodoxen Darstellungen gehört auch die „Historisch-Juristische Deduction in Caussa der . . . Pietistischen Unruhen im Waldeckischen usque 1718. incl." von Carl Gottfried von Rauchbar zu Lengefeld 28 . Diese Abhandlung ist nicht gedruckt worden. Sie wurde von der Literatur bisher auch nicht beachtet. Für die Gesamtbeurteilung der pietistischen Streitigkeiten muß diese Quelle noch ausgewertet werden. Für die vorliegenden Überlegungen ist bedauerlich, daß Rauchbar Böhme nur im Vorübergehen streift 29 . Ein Ausweg aus dieser mißlichen Situation könnte dadurch gesucht werden, daß aus den Zitaten der „ferneren Erklärung", die sich in den Gegenschriften finden, ein objektiveres Bild der Theologie Böhmes zu rekonstruieren versucht wird 30 . Aber es ist von vornherein zu erwarten, daß diese Zitate mit der Absicht ausgesucht wurden, die Anklage zu verstärken. Daher formuliert die HPW, Böhme habe „seine intolerable errores" in der 22

Vgl. vorliegende Arbeit, S. 9 1 - 9 6 . A. Ritsehl: Geschichte des Pietismus II/l, 1884, 443; E. Sachsse: Ursprung und Wesen des Pietismus, 1884, 369. 24 W. Irmer, 35, Anm. 45. 25 HPW, 10. 26 Vgl. ζ. B. die Notae Characteristicae des Pietismus, wie sie in der ,,Hannoversche[n] Consistorial-Verordnung wider den Pietismum" vom 12. Oktober 1710 zusammengestellt worden sind. In: Unschuldige Nachrichten, 1712, 142—152. 27 J. F. Botterweck: Rettung Seiner Consistorial- und Theologischen Gutachten . . ., 15. 28 C. G. von Rauchbar zu Lengefeld: Historisch-Juristische Deduction in Caussa der von dem nachherigen Canzley-Director zu Graitz, Otto Heinrich Beckern, vornehmlich unterstützten Pietistischen Unruhen im Waldeckischen, usque 1718. incl. (Manuskript in der Forschungsbibliothek Gotha, Chart. A 343). 29 Ebd. Bl. 276a-276b. 30 Vgl. z.B. das etwas umfangreichere Zitat i n j . Kleinschmidt u.a.: Widerlegung (HPW: Anlage, 71 f.). 23

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„so genandten ferneren Erläuterung vom 10. Febr. d. a. mit noch grösseren importunität" verdoppelt 31 . Ein objektiveres Bild der Theologie Böhmes ist auf diese Weise also nicht zu gewinnen. Als Fazit ist festzuhalten, daß der Verwerfung der HPW als Quelle im großen und ganzen zugestimmt werden muß. Doch sollte trotzdem nicht unterlassen werden, die Böhme gegenüber kritisch geäußerten Stimmen ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen. Denn trotz ihres polemischen Charakters und der erkennbaren Konsequenzmacherei, wie sie im Forschungsbericht dargestellt worden ist, zeigen sie doch die Zeitstimmung an und bekunden die Angst der Orthodoxie vor der Richtung, in welche die von Böhme vertretene Theologie eventuell abdriften konnte.

2. Der Pietismus in der Grafschaft Waldeck um 1700 a) Der Aufiau

der

Landeskirche

W. Irmer hat die wesentlichen Ergebnisse der Forschung über den Aufbau der waldeckischen Landeskirche, soweit sie für die pietistischen Streitigkeiten in Frage kommen, zusammengestellt 32 . Danach war etwa seit Mitte der siebziger Jahre des siebzehnten Jahrhunderts ein Konsistorium die oberste Verwaltungsbehörde der Kirche; es setzte sich aus mehreren weltlichen (3 oder 4) und geistlichen (zwischen 1 und 3) Räten zusammen. Der Präsident der Landkanzlei (Regierung) war auch der Vorsitzende des Konsistoriums. Die Gemeinden wurden organisatorisch zu sieben Ämtern zusammengefaßt, denen ein Visitator vorstand. Der leitende Geistliche war der Superintendent. Der Bekenntnisstand des Landes war lutherisch 33 . Seit 1696 befand sich die Landkanzlei in Mengeringhausen. Dorthin hatte Graf Christian Ludwig sie berufen, als er seine Residenz von Korbach nach Arolsen verlegte. Er wollte die Regierung geographisch in seiner Nähe haben 34 . In der Zeit, als die pietistischen Streitigkeiten mit Böhme in der Grafschaft begannen, setzte sich die Landkanzlei aus folgenden Räten zusammen: Scherbaum, der zugleich Kanzleidirektor war, Waldeck, Meiße/ Ο . H. Becker, Rigger, Schleiff. Wenn man zu diesem Gremium noch als geistliche Räte den Superintendenten Johannes Kleinschmidt aus Korbach und den Hofprediger Johann Friedrich Botterweck hinzuzählt, ergibt sich das Konsistorium in der Zusammensetzung von 1700/170135. Becker und Botterweck haben immer wieder betont, daß sie in ihre Funktionen in der 31 32 33 34 35

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HPW, 10. W. Irmer, 9-11.16. Ebd. 9 f. Ebd. 16. Ebd. 16f.20; Ο. H. Becker: Abgenöthigte Apologie . . ., 47: „ i s t . . . zu wissen / daß bey

Grafschaft Waldeck erst eingetreten seien, als der „Fall Böhme" bereits entschieden war 36 . Doch besteht hinsichtlich ihrer pietistischen Haltung bzw. Sympathie für den Pietismus, wie die H P W zu Recht betont hat 37 , kein Zweifel 38 . Auf die theologische und kirchenpolitische Stellung der anderen Kollegiumsmitglieder kann dagegen nur aus späterer Zeit zurückgeschlossen werden. Imjahre 1709 verließ der Regierungsrat C. Schleiff den waldekkischen Dienst. Während seiner Abschiedsaudienz bei Graf Friedrich Anton Ulrich war das Gespräch auch auf die Frage des Pietismus gekommen, und der Graf hatte ihn gebeten, seine Ansichten zu diesem Thema schriftlich vorzulegen. Das tat Schleiff in einem Brief vom 27. November 1709 aus Aurich 39 . Für die hier interessierende Fragestellung ist wichtig, daß Schleiff sich zusammen mit Becker und Botterweck als die positive Gruppierung (von den Gegnern als „Koppel" beschimpft) im Kanzlei- und Konsistorialkollegium verstand, der das Wohl der Grafschaft wirklich am Herzen lag. Er rät deshalb dem Grafen, die durch seinen Abgang frei gewordene Stelle wieder mit einem „redlichen" Manne zu besetzen, damit die anderen Mitglieder des Kollegiums nicht bei Abstimmungen ohne weiteres die Majorität erlangen könnten 40 . Die Selbsteinordnung Schleiffs macht den Gruppengegensatz in Kanzlei und Konsistorium sichtbar. Der fuhrenden pietistischen Gruppe mit Becker, Botterweck und Schleiff, zu denen noch Rigger hinzuzuzählen ist41, steht die theologisch und kirchenpolitisch orthodox orientierte um Scherbaum, Waldeck und Kleinschmidt gegenüber. Beide Gruppen kämpften um kirchlichen und u m politischen Einfluß. „Die entgegengesetzten Pole in dieser Behörde [Konsistorium] waren Kleinschmidt und Becker. " 4 2 Schleiff läßt in seinem Briefe durchblicken, daß bei den geschehenen und bei den drohenden Auseinandersetzungen auch persönliche Affekte und Mißgunst mit im Spiele waren. Davon wird manches wegzustreichen sein, wenn die Verhältnisse von 1709 auf das Jahr 1700 zurückprojiziert werden. Der Gegensatz der Gruppen war vielleicht nicht so scharf ausgeprägt, weil sich die späteren Parteihäupter noch nicht gegenüberstanden. Doch spricht der Waldeckischen Cantzley und Consistorio (welche beyde aus eben denselben Personen bestehen / nur daß beym Consistorio 2. Geistl. zugezogen werden) . . . " 36 Ο. H. Becker: Abgenöthigte Apologie . . 43f.76; J. F. Botterweck: Rettung Seiner Consistorial- und Theologischen Gutachten . . . , 7. 37 HPW, 12f.28. 38 Vgl. diese Arbeit, S. 7 7 - 8 0 . 39 H. Nebelsieck, 66—69. Nebelsieck veröffentlicht den Brief aus dem ehemaligen Kabinettsarchiv, 2841. Leider gibt er den Brief nicht wörtlich wieder, sondern referiert nur über weite Strecken. 40 Ebd. 67f. Z u m AbstimmungsVorgang in Regierung und Konsistorium vgl. Ο . H. Becker: Abgenöthigte Apologie.. ., 46: Becker hatte die Verordnung erlassen, daß alle Vorgänge von jedem der Räte gegengezeichnet sein mußten und erst dann nach der Mehrheit entschieden und expediert werden konnten. 41 H. Nebelsieck, 68. 42 W. Irmer, 17.

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Schleiff auch im Blick auf diese Zeit schon von „bösen Schleichern", „die wohl Ursache hätten, stille zu sein und nicht Anlaß zu geben, daß das illegale, aus den Akten nachzuweisende Verfahren gegen Böhme aufgedeckt werde" 43 . Mit diesen scharfen Bemerkungen muß auch der Superintendent Kleinschmidt gemeint sein, der in dem Verfahren gegen Böhme der treibende Keil war 44 . Doch war um die Jahrhundertwende der Gegensatz insofern noch anders gelagert, als das gräfliche Haus seine Sympathie für den Pietismus offen bekundete. Das begann sich nach dem Tode Graf Christian Ludwigs im Jahre 1706 und dem Regierungsantritt Graf Friedrich Anton Ulrichs langsam zu ändern 45 . b) Die Übergangszeit Anton Wilhelm Böhmes in Wierborn 1696/1697

J. J. Rambach überbrückt in der „Vorrede von des Auctoris Leben und Schriften" die Spanne in der Biographie Böhmes zwischen dem Ende seines Studiums in Halle und dem Antritt der Stelle eines Informators am gräflichwaldeckischen Hof in Arolsen mit dem Satz: „Nachdem er hieselbst [in Halle] einen guten Grund in seinem Christenthum und Studien geleget, so hat er eine Zeitlang adeliche und gräfliche Kinder informiret. " 4 6 Diese Aussage ist so von der nachfolgenden Literatur übernommen worden, ohne nach irgendeiner Richtung ergänzt zu werden 47 . In diese Zeit können aber einige Briefe aus dem Archiv der Franckeschen Stiftungen etwas Licht bringen. Es handelt sich dabei um vier Briefe aus den Jahren 1696/1697 an A. H. Francke, von denen der vierte geschrieben worden ist, als Böhme bereits in Arolsen angekommen war 48 . Die genannten Quellen machen allerdings nicht deutlich, in was für einem Dienstverhältnis sich Böhme in dieser Zeit befand. Die ersten drei Briefe sind aus Wierborn geschrieben, einem Ort, der im Jahre 1956 als Wohnplatz mit 150 Einwohnern bezeichnet wurde 49 . Er liegt 2,5 km von Barntrup entfernt, also etwa 10 bis 15 km westlich von Pyrmont, und gehörte zum lippischen Territorium, als Böhme sich dort aufhielt. Einige Merkmale seiner Tätigkeit werden aus den Briefen deutlich. Anfang 1696 scheint er allerdings beruflich nicht so fest gebunden gewesen zu sein, daß er diese Tätigkeit nicht hätte aufgeben können. Denn er berichtet, «

H. Nebelsieck, 66 f. Vgl. diese Arbeit, S. 7 7 - 8 0 . 4 5 H. Nebelsieck, 52. 4 4 RVorr 1,8. 4 7 Vgl. ζ. B. L. Curtze: Nachrichten über Gelehrte, Schriftsteller und Künstler der Fürstent ü m e r Waldeck und Pyrmont. Bd. 2, 1869, 177; W. Irmer, 27. 4 8 AFSt C 2 2 9 : 1 - 3 . 5 . 4 9 Müllers Grosses Deutsches Ortsbuch: vollständiges Gemeindelexikon, Wuppertal-Barmen, 11., vollst. Überarb. Aufl. 1956. 44

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daß er im Frühjahr durch die Gräfin von der Lippe aus dem Hause Brake aufgefordert worden sei, in ihrem Haus einen Dienst anzutreten. Für die Stelle war eigentlich Böhmes Freund Mylius vorgesehen; doch als der nicht zur rechten Zeit einzutreffen schien, hatte die Gräfin den Ruf an Böhme weitergeleitet. Böhme hatte Bedenken, die Stelle zu übernehmen, hat aber nicht eine andere dienstliche Bindung als Hinderungsgrund genannt 50 . Im September 1696 kann er als einen Erfolg melden, daß er zu einigen „Bürgers- und Bauer Leuthen" Zugang gefunden habe und mit ihnen über Fragen des Christentums sprechen könne 51 . Und im Februar 1697 fühlt er sich in Wierborn gebunden, weil ihn Gott unvermutet „an den zarten Hertzen einiger Kinder einen Segen vermercken" läßt, was ihm wie ein Band erscheint, das ihn in Wierborn hält 52 . Es läßt sich jedoch keine institutionelle oder - modern ausgedrückt - dienstrechtliche Bindung erkennen, und auch der Stand der Familie, in der er eventuell tätig gewesen ist, wird nicht deutlich. Doch ist die Aussage Rambachs, daß Böhme in dieser Zeit auch gräfliche Kinder unterrichtet habe, fuglich anzuzweifeln. Die Briefe zeigen, daß er die Verhältnisse eines gräflichen Hofes bis zu seiner Berufung nach Arolsen nicht gewöhnt war. In diese Lebenssphäre einzugehen, scheint der Grund gewesen zu sein, weswegen er bereits zögerte, die Anstellung in Brake anzunehmen. Die Aufgabe in Arolsen schien ihm im Vergleich dazu „unvergleichlich weitläufftiger u. folg. fast gefährlicher" zu sein, so daß er sich selbst wunderte, daß Gott ihn dazu bewegt habe, sich der an ihn ergangenen Aufforderung zu stellen. Er hat es getan, doch seine Stellung kann er nur als einen „gefährlichen Posten" bezeichnen 53 . So steht bereits dieser Dienstantritt von der persönlichen Disposition Böhmes her unter einem schlechten Vorzeichen: Angst und Distanzgefuhl gegenüber der Welt und ihren Verstrickungen sind keine gute Mitgift für einen Hauslehrer. Statt von liebevoller Offenheit gegenüber der weltmännischen Umwelt, in die er hineingestellt worden ist, ließ sich Böhme von seiner ängstlichen Gewissenhaftigkeit beherrschen. Die Frage war nur, in welche Richtung sich seine kritische Haltung zuerst aussprechen würde. Das Bild Böhmes aus dieser Zeit wäre jedoch nicht vollständig, würde er nur von dieser einen Seite her gesehen. Er war daneben auch sehr zielgerichtet und aktiv wirksam. In der Literatur wird er in der Zeit seiner Tätigkeit in der Grafschaft Waldeck oft als junger Mann bezeichnet, dem als Fehler der Jugend noch eine gewisse Unbesonnenheit eigen war 54 . Dieses Urteil ist jedoch insofern einzuschränken, als manche Begabungen und Charakteristi50

AFSt C 229: 1 (Böhme an Α. H. Francke, Wierborn, 15. Juni 1696); vgl. C 229: 3 (Böhme an Α. H. Francke, Wierborn, 19. Februar 1697), w o „die Fr. Gräffin von der Lippe des Haußes Braak" genannt wird. 51 AFSt C 229: 2 (Böhme an Α. H. Francke, Wierborn, 26. September 1696). 52 AFSt C 229: 3 (Böhme an Α. H. Francke, Wierborn, 19. Februar 1697). 53 AFSt C 229: 5 (Böhme an Α. H. Francke, Arolsen, 20. Dezember 1697). 54 Ζ. B. RVorr 1,8; A. Ritsehl II/l, 430; W. Irmer, 27.

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ka, die später dem reifen Mann eigen waren, schon in dieser Zeit sich ausgeprägt hatten: wie ζ. B. die Neigung und Gabe zur Popularisierung der Ansichten und Schriften Α. H. Franckes. Im Herbst 1696 hatte sich Böhme intensiv mit Α. H. Franckes „Anweisung zum Gebet" befaßt 55 und positive Erfahrungen für sein eigenes Gebetsleben mit dem Büchlein gemacht. Er wollte, was er erlebt hatte, auch anderen mitteilen. Da sein geistlicher Umgang in dieser Zeit, wie bereits erwähnt, hauptsächlich mit Menschen bürgerlicher und bäuerlicher Herkunft geschah, erkannte er, daß ein Gesamtdruck der „Anweisung" sowohl finanziell als auch geistig die Möglichkeiten seiner Zielgruppe überschreiten würde. Daher entschloß er sich, aus Α. H. Franckes Schrift einen kleinen Extrakt herzustellen, was ihm auch innerhalb einiger Tage gelang. Sein eigener Beitrag in der Gestaltung bestand in der Kürzung und pädagogischen Einrichtung des Werkes durch Paragraphengliederung und verbindende Übergänge. Das Anliegen des Briefes vom 26. September 1696, in dem Böhme über diese Bemühungen berichtet, ist es, Α. H. Franckes Urteil über das entstandene Traktätlein einzuholen und möglichst dessen Zustimmung zum Druck zu erlangen. Deshalb sandte er seinen Entwurf nach Halle, versicherte Α. H. Francke, daß er sich selbst ganz passiv verhalten wolle, und fügte zugleich berechnend hinzu, daß er sich nach einem eventuellen Druck auch bemühen würde, die „Anweisung" selbst bekannter zu machen, damit deren Verleger nicht mit einem Verlust rechnen müsse 56 . Von einer Reaktion Α. H. Franckes auf Böhmes Angebot ist nichts bekannt. Fünf Monate später hatte Böhme noch kein Echo gehört. Er erinnerte deshalb Α. H. Francke in einem Brief vom 19. Februar 1697 an das Vorhaben und wies wie in dem vorangegangenen Brief noch einmal daraufhin, daß die Absicht damit verbunden sei, den Leuten die Kurzfassung der „Anweisung" unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, damit sie etwas zu ihrer Erbauung hätten 57 . Es läßt sich jedoch nicht sagen, wie die Angelegenheit ausgegangen ist. Sie kommt in den Quellen nicht mehr vor. In dem eben zitierten Brief vom 19. Februar 1697 k o m m t die Frage des Druckes der „Anweisung" nur noch unter den Erinnerungspunkten vor. Ein anderes Anliegen beschäftigt Böhme in dieser Zeit stärker: Es ist der geplante Bibeldruck in Lemgo. Seine Stellungnahme in dieser Sachfrage zeigt, daß er die Lage des Pietismus sehr wohl einzuschätzen wußte und taktischer Überlegungen und Reaktionen fähig war. 55 Gemeint ist „M. Aug. Hermann Franckens . . . Schrifftmässige Anweisung recht und Gott wolgefallig zu beten . . ." Halle 1695 (vgl. Α. H. Francke: Werke in Auswahl. Hg. von E. Peschke, Berlin 1969, 370). 56 AFSt C 229: 2 (Böhme an Α. H. Francke, Wierborn, 26. September 1696). 57 AFSt C 229: 3 (Böhme an Α. H. Francke, Wierborn, 19. Februar 1697). O b der Extrakt, den Böhme hergestellt hat, mit der Kurzfassung der „Schrifftmässigen Anweisung" zusammenhängt, die Α. H. Francke in der Traktatsammlung „Christliches Leben" herausgegeben hat (vgl. Α. H. Francke: Werke in Auswahl. Hg. von E. Peschke, Berlin 1969, 370), kann hier nur als Frage genannt werden.

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Böhme berichtet über den Zusammenhang folgendes 58 : Auf „Verlangen einiger wohlgesinneten Hertzen" ist der Plan entstanden, in Lemgo eine Bibel aufzulegen und drucken zu lassen. Die Gräfin von der Lippe-Brake hat, um das Unternehmen aus dem Stadium der Planung in die Verwirklichung überzuleiten, als kräftigen Anstoß dem Verleger 400—500 Taler vorgeschossen, fur die sie nach Fertigstellung des Druckes, so vermutet Böhme, das Äquivalent an ausgedruckten Bibelexemplaren übernehmen wollte. Zugleich hat sie sich auch, gleichsam als „Hauptaktionärin" des Unternehmens handelnd, das Recht vorbehalten, über die Einrichtung der Ausgabe zu entscheiden. Über ihre Pläne hat Böhme in einem Gespräch mit der Gräfin erfahren, daß sie vorhatte, die wichtigsten Fehler in der Übersetzung Luthers, die auf einer Differenz zum Urtext beruhen, anmerken und am Ende eines jeden Kapitels verbessert beidrucken zu lassen. Dieses Unternehmen hat Böhme insgesamt begrüßt, gegen die Art der Durchführung aber der Gräfin seine Bedenken vorgetragen. Die Einrükkung der Änderungen an den Schluß eines jeden Kapitels könne den Eindruck einer Neuerung hervorrufen und dadurch zur Ablehnung führen und zumindest unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt zu einem Fehlschlag führen. Deshalb ist Böhmes Gegenvorschlag: 1. die Verbesserungen allein für das Neue Testament auszuarbeiten, weil der Arbeitsaufwand für das Alte Testament unter den Umständen zu groß wäre; 2. die Verbesserungen so knapp zu fassen, daß sie nur einen kurzen Traktat bilden, der in die Bibel eingelegt werden kann; dadurch solle auch die Möglichkeit erhalten bleiben, die Bibel ohne den Anhang zu erwerben. Der Gräfin hat diese Anregung sehr gut gefallen. Böhme möchte aber sichergehen und wendet sich an Α. H. Francke, um einmal dessen Urteil zu hören und zum andern ihn in die Arbeit mit einzubeziehen. Deshalb richtet er gleich die Frage nach Halle, ob Α. H. Francke nicht über die Stellen hinaus, die er in den „Observationes biblicae" bearbeitet habe, einige Verbesserungen zusammenstellen könnte. Die Gräfin von der Lippe-Brake, dessen ist sich Böhme gewiß, würde sich über diesen Beitrag freuen. Als auf einen Nebeneffekt weist er noch auf die Tatsache hin, daß Halle durch die Lemgoer Bibel etwas aus dem Schußfeld der Gegner geraten würde, wenn zu erkennen wäre, „wie auch an andern Orthen erkant würde daß unsere Version eine Verbeßerung zu laße". In dem erhalten gebliebenen Briefwechsel Böhmes taucht die Lemgoer Bibelausgabe nicht noch einmal auf. O b und wie Α. H. Francke Böhme gegenüber reagiert hat, kann deshalb nicht gesagt werden. Doch war Α. H. Francke auch von anderer Seite über den geplanten Bibeldruck informiert worden. Die Gräfin von der Lippe-Brake, von der Böhme gesprochen hatte, war nämlich Dorothea Elisabeth, eine Tochter des Grafen Christian Ludwig von Waldeck, die Rudolf Graf von der Lippe58

Böhme gibt die Relation in dem oben Anm. 57 genannten Brief.

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Brake geheiratet hatte. Sie war die Gründerin des Waisenhauses in Pyrmont und stand nicht nur über ihren Pfarrer oder Hauslehrer Mylius 59 und Böhme, sondern auch persönlich mit Α. H. Francke in Verbindung. Das zeigt ein Brief Α. H. Franckes vom 16. Januar 1698 an sie60. In diesem Brief geht er zunächst auf die Gründung des Waisenhauses ein, dankt für einige Spenden und sagt der Gräfin mit volltönenden biblischen Wendungen geistlichen Zuspruch zu 61 . Dann kommt er auf das Bibel vorhaben zu sprechen 62 . Doch bezieht er sich in seinen Ausführungen nicht auf Böhme, sondern auf Informationen, die er durch Mylius erhalten hat. Mylius hatte mitgeteilt, daß es bei dem Bibeldruck an einem guten Korrektor fehle, und hatte, da zugleich auch das Konrektorat am Gymnasium in Lemgo bald neu zu besetzen sei, eine Verbindung beider Stellen vorgeschlagen. Α. H. Francke, der einen geeigneten Kandidaten in Aussicht hat, wünscht dem „gantzen Bibelwerck" Gottes Segen. Dann fährt er fort: „Machet mich G O T T tüchtig etwas beyzutragen, so bin ich von Hertzen begierig dazu. N u r fehlet es mir an der Zeit, daß ich furchtsam bin vieles zu zu sagen. " 6 3 Das erinnert an Böhmes Antrag zur Mitarbeit. Es kann hier aber auch gut eine Absprache zwischen Böhme, Mylius und der Gräfin vorgelegen haben. Α. H. Franckes vorsichtige Formulierung läßt allerdings vermuten, daß er sich an der Materialerarbeitung für die Bibelausgabe nicht beteiligt hat. Doch hat Böhmes Korrektur des gesamten Planes zur Folge gehabt, daß er sich mit dem Unternehmen identifizieren konnte. Die späteren Bibelausgaben in Halle zeigen, daß Α. H. Francke bei der Textkonstituierung der Bibel mit Veränderungen gegenüber der Luther-Version sehr zurückhaltend gewesen ist64. Deshalb konnte ein Bibeldruck, wie er nun in Lemgo durchgeführt wurde, seine volle Zustimmung in dem Maße finden, daß er selbst Bibeln von dort bestellt hat: „Es wirdt mir wol so am liebsten seyn, wann ich N . Testamenter nebst dem Ps. Davidts 6. oder 7. vor einen Rthl. bekomme; denn solche hat mann immer vielmehr alß gantze Bibeln von nöthen. " 6 5 Vier Jahre darauf, im Januar 1702, kaufte Α. H. Francke dann 1000 der in Lemgo gedruckten Vollbibeln von der Gräfin von der Lippe-Brake zusammen mit

59 Über Mylius, der in den Briefen Böhmes mehrmals vorkommt, ist nur seine Anstellung in Brake und seine enge Verbindung mit Böhme und Halle bekannt. Aus dem Material im AFSt war darüber hinaus nichts über ihn zu erfahren. 60 AFSt D 113, 6 3 - 7 3 (Α. H. Francke Ad comitissam Doroth. Elisabeth ä Waldeck nat. de Lippe, Glaucha. 16. Jan. 1698 [Abschrift]); wieder abgedruckt bei H. Nebelsieck, 5 8 - 6 1 . 61 A F S t D 113, 6 3 - 6 9 . 62 Ebd. 70f. (= H. Nebelsieck, 60f.). 63 Ebd. 71 (= H. Nebelsieck, 61). 64 Vgl. fur diesen Zusammenhang B. Köster: Die erste Bibelausgabe des Halleschen Pietismus: eine Untersuchung zur Vor- und Frühgeschichte der Cansteinschen Bibelanstalt. In: JGP 5 (1979), 105-163. es A F S t D 113, 69f.

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dem Recht der Neuauflage für 583 Reichstaler und 8 Groschen und gab sie mit einem eigenen Titelblatt und Vorreden versehen in Halle heraus 66 . Es ist schade, daß Böhme in den späteren Phasen der Geschichte des Lemgoer Bibeldrucks nicht mehr in Erscheinung tritt. Soviel aber wird gesagt werden müssen, daß er zu den geistigen Initiatoren der Lemgoer Bibel gehört und dadurch mit in die Tradition der ersten halleschen Bibelausgabe von 1702 zu stehen kommt. Die Frage nach dem Zentrum des geistlichen Lebens Böhmes in dieser Zeit kann nicht leicht beantwortet werden. Doch läßt er gerade in seinem ersten erhaltenen Brief (vom 15. Juni 1696) eine Erkenntnis gewinnen, die einen Vorblick auf sein ganzes Leben möglich macht. Böhme schreibt an Α. H. Francke, daß er sich seit einiger Zeit intensiv mit dem 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes befaßt habe, so daß dieses Kapitel „fast meine tägl. Seelen Speiße gewesen" 67 . Für den Zusammenhang ist hier nicht so wichtig, daß er in Halle um nähere Erklärungen des Textes nachsucht, als vielmehr die Tatsache, daß durch längere Textmeditation der unauflösliche Zusammenhang von Glaube und Liebe, das tiefe Bewußtsein von der Wertlosigkeit des Glaubens ohne die Liebe, innerster geistlicher Besitz und bestimmende Lebenskraft Böhmes geworden sind. Was J. J. Rambach über die liebevolle Zuwendung Böhmes zu den Armen gesagt hat 68 , findet hier seinen Grund. Noch weiter geht E. Beyreuther in seiner Interpretation. Er sieht in Johann Arndts Auslegung von 1. Korinther 13 in seinen „Vier Bücher[n] vom wahren Christenthum" nicht nur die mystische Komponente bestätigt, sondern erkennt darin auch Anzeichen sozialpolitischer Aktivität aus humanistischer Tradition. „Das neue Menschenbild des homo societatis taucht auf." Er folgert daraus weiter auf die sozialen, missionarischen und ökumenischen Zielsetzungen des Pietismus 69 . Wenn dieser Schluß auch zu schnell gezogen wird, indem die ausgeprägten Erscheinungsformen einer geistigen und gesellschaftlichen Bewegung auf ihre Frühzeit aufgelegt werden, so ist der Hinweis Beyreuthers doch beachtenswert. Denn er stellt die Frage nach den Wirkkräften, welche die tätige Liebe bei Böhme als Ausdruck des Glaubens die landeskirchlichen Grenzen überschreiten und weltweite Dimensionen gewinnen ließ. Bei den Untersuchungen in dieser Richtung ist sicher auch der Einfluß A. H. Franckes mit zu veranschlagen. Denn die Briefe Böhmes aus seiner Frühzeit zeigen deutlich, wie sehr er sich (ebenso wie sein Freund Mylius) in der halleschen Tradition fühlte. Alle Projekte werden, wie oben dargestellt wurde, mit Α. H. Francke beraten und von dessen Zustimmung abhängig 66

B. Köster, 121-127.132, Anm. 122. AFSt C 229: 1 (Böhme an Α. H. Francke, Wierborn, 15. Juni 1696). 68 RVorr 11,9-14. 69 E. Beyreuther: August Hermann Francke und die Anfange der ökumenischen Bewegung, 35 und Anm. 11. 67

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gemacht 70 . Informationen aus Halle werden erbeten 71 , und die Entwicklung der halleschen Anstalten aufmerksam verfolgt und nach Kräften gefördert 72 . Doch kann das Verhältnis Böhmes zu Α. H. Francke nicht als unselbständige Abhängigkeit verstanden werden. Die Projekte, mit denen sich Böhme befaßte, hatte er selbsttätig entwickelt. Daß er sie mit den Bestrebungen des Pietismus insgesamt, d. h. mit der von Halle ausgehenden Bewegung, in Übereinstimmung zu bringen versuchte, zeugt neben der Dankbarkeit dem Ort seiner geistlichen Geburt gegenüber von praktischem Verstand. Auch darin ist Böhme ein Schüler Halles. Zugleich ist aber auch im Blick auf sein weiteres Leben bereits von den ersten Quellenzeugnissen aus, die wir von ihm besitzen, die Frage nach seinem eigenen Beitrag für die Entwicklung des Halleschen Pietismus zu stellen.

c) Die Beziehungen Grafenhauses

des

zu Α. Η.

waldeckischen Francke

Im Anschluß an die Forschungen von F. W. Barthold (1852/1853) 73 hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß der Pietismus auch in der Grafschaft Waldeck den Eingang über das Herrscherhaus gefunden hat. W. Irmer weist in diesem Zusammenhang besonders auf die beiden Frauen des Grafen Christian Ludwig (1635—1706) hin: Anna Elisabeth, geb. Gräfin von Rappolstein (1644—1676), und Johanna, geb. Gräfin von Nassau-Saarbrück zu Idstein (1657—1733)74, sowie auf die Töchter Christian Ludwigs aus erster Ehe: Dorothea Elisabeth, vermählte Gräfin von der Lippe-Brake (1661 -1702), und Charlotte Sophie (1667 -1723), die 1705 ihr Amt als Äbtissin des Klosters Schaken niederlegte und dem ehemaligen halleschen Studenten und damaligen Informator in Schaken, Johannes Junker, außer Landes folgte und ihn im Jahre 1707 heiratete 75 . Irmer betont auch die Übereinstimmung zwischen Graf Christian Ludwig und Gräfin Johanna in der positiven Beurteilung des Pietismus, die dazu führte, daß Studenten der pietistischen Universitäten Halle, Gießen, Erfurt als Informatoren in das Land gerufen wurden. Der Graf „stand in Briefwechsel und Verkehr mit Francke, berief zahlreiche Pastoren, die in Halle sich dessen Ideen zu eigen 70 Z.B. AFSt C 229: 2: „Ich will mich hiebey mere passive verhalten u. MhochHM. concilium erwarten." ι Ζ. B. AFSt C 229:3. 72 Vgl. ebd. 73 F. W. Barthold: Die Erweckten im protestantischen Deutschland während des Ausgangs des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts; besonders die Frommen Grafenhöfe. In: Historisches Taschenbuch 3. Folge, 3 (1852), 129-320; 4 (1853), 169-390. Zu den waldeckischen Verhältnissen vgl. 3 (1852), 246-248; 4 (1853), 186-188. 74 W. Irmer, 12f. (vgl. für die Fragestellung die S. 12—22);J. Ch. K. Hoffmeister: Historischgenealogisches Handbuch über alle Grafen und Fürsten von Waldeck und Pyrmont seit 1228, Cassel 1883, 61-71. 75 Zu den Schakischen Händeln vgl. W. Irmer, 62-68.

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gemacht hatten, in seine Dienste, und besetzte in den Jahren 1700—1706 die meisten Regierungsstellen mit Pietisten, die die gesamte Verwaltung und Gesetzgebung dieser Jahre beeinflußten. Auch in dem Gange der Erziehung seiner Kinder kam seine Sympathie für die hallischen Grundsätze zum Ausdruck." 7 6 Dieses Urteil Irmers muß zeitlich eingeschränkt werden. Im Zuge seiner Darstellung wird es fur die Jahre nach 1700 bis zum Tode Graf Christian Ludwigs belegt. Für die Zeit vor 1700 hat Irmer bedauerlicherweise keine Quellenhinweise gegeben, die seine Zusammenfassung aufschlüsseln würden. Doch gibt es einiges Material, das etwas Licht auch in diese Zeit bringt. Zwar ist kein Stück des Briefwechsels zwischen Graf Christian Ludwig und Α. H. Francke, von dem Irmer gesprochen hat 77 , in Halle erhalten geblieben, doch zeigt bereits der erste Brief Böhmes vom 15. Juni 1696 an Α. H. Francke 78 , in dem er über seine Berufung nach Brake berichtet hat, daß zumindest mittelbar über ihn Beziehungen zwischen einem Glied der gräflich-waldeckischen Familie und Halle bestanden. Böhmes Bericht über das Lemgoer Bibelprojekt zieht Α. H. Francke auch namentlich in die Verbindung hinein 79 . Und Franckes Brief an die Gräfin Dorothea Elisabeth von der Lippe-Brake zeigt, daß dieser Kontakt wirklich geknüpft worden ist80. Doch hatte Α. H. Francke bereits 14 Tage vor seinem Brief an die Gräfin Dorothea Elisabeth an ein anderes Mitglied der gräflich-waldeckischen Familie geschrieben, an die Gräfin Eleonora (1670—1717)81. Wie er zu dieser Adresse gekommen ist, zeigt Böhmes erster Brief aus Arolsen. Francke hatte, vermittelt durch Böhme, der Gräfin Eleonora einen Brief mit Bericht über die halleschen Anstalten zugesandt, auf den sie mit einer Beisteuer fur das Waisenhaus reagierte. Für die Antwort bediente sie sich Böhmes als Überbringer. In dem Gespräch mit ihm hatte sie auch angedeutet, daß sie gern selbst an Francke schreiben würde, sich aber scheue, ihn in seiner vielfältigen Beschäftigung zu belästigen. Deshalb wollte sie zunächst an Franckes Frau schreiben, mit der sie durch die gemeinsame Teilnahme an einer Kindstaufe bereits bekannt war. Böhme macht ihr Mut zur direkten Kontaktaufnahme, und ihr Brief war es dann auch, den Francke Anfang 1698 erhalten und am 2. Januar beantwortet hat. Seinem Brief hat er ein Schreiben seiner Frau an die Gräfin beigelegt. Auch das geht auf eine Anregung Böhmes zurück, der vorgeschlagen hatte, daß Anna Magdalena Francke in der Korrespondenz der Gräfin zuvorkommen möchte 82 . Die Verbindung 76

W. Irmer, 13. Ebd. 13. 78 A F S t C 229:1. 79 AFSt C 229:3. 80 AFSt D 113, 6 3 - 7 3 . 81 AFSt D 113, 33—38 (Α. H. Francke an Eleonora Gräfin von Waldeck, Glaucha, 2. Januar 1698 [Abschrift]) = H. Nebelsieck, 55—57. Sie ist die Tochter Graf Christian Ludwigs aus erster Ehe, Eleonore Catharina 0. Ch. K. Hoffmeister, 66). 82 AFSt C 229: 5 und AFSt D 113, 3 3 - 3 8 . 77

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zwischen den beiden Frauen scheint länger bestanden zu haben. Jedenfalls ist ein Brief der Gräfin Eleonora aus dem Jahre 1702 an Franckes Frau erhalten geblieben, der von einem intensiven und beinahe familiären Kontakt zwischen ihnen zeugt 83 . An den Brief Α. H. Franckes an Gräfin Eleonora vom 2. Januar 1698 schließt sich in der Abschriftensammlung von Francke-Briefen, in der er erhalten ist, ein ohne Ort und Datum wiedergegebener Brief „An die Fr. Abbatissin Stifftsschacken, Gräffin v. Waldeck" an 84 , von dem H. Nebelsieck vermutet, daß er an die Äbtissin des Klosters Schaken Charlotte Sophie gerichtet sei 85 . Diese Identifizierung könnte ihre Bestätigung in einem Brief der Äbtissin vom 6. Juli 1698 finden, in dem sie Α. H. Francke für „die Christliche erinderung, in Deßen letzes schreiben" dankt 86 . Die genannten Briefe sind frömmigkeitsgeschichtlich insofern von besonderem Interesse, als sie zeigen, wie Α. H. Francke positiv auf die exaltierte Frömmigkeit der Gräfinnen eingegangen ist und in seinen Antworten einen mit biblischer Sprache gesättigten Ton anschlägt, der streckenweise auch an die Brautmystik anklingt 87 . Im Blick auf Böhme zeigen die Briefe seine Vermittlerrolle in den Beziehungen zwischen Waldeck und Halle. Für die Frühzeit des Pietismus in der Grafschaft ist über die beiden Frauen Graf Christian Ludwigs ein engerer Kontakt zu Ph. J. Spener anzunehmen 88 . Das erste Hervortreten des Pietismus in Waldeck, das mit der Tätigkeit Eberhard Philipp Zühls verbunden ist, der im Jahre 1689 Hauslehrer in Kleinern war, wo Graf Christian Ludwig zu dieser Zeit Hof hielt, weist nach Gießen, wo Zühl seine theologische Ausbildung erfahren hatte 89 . Quellenmäßig belegbar setzt die Verbindung zu Halle erst mit der Wirksamkeit Böhmes ein. Parallel dazu kann auch die literarische Wirksamkeit der halleschen Bewegung ihren Beitrag geleistet haben. Denn 1696/1697 sind ζ. Β. Α. H. Frankkes „Einleitung zur Lesung der Heiligen Schrift" und seine „Anleitung zum Christentum" - vermutlich in Lemgo - gedruckt worden 90 . Von hier aus könnte auch versucht werden, auf die Verbreitung des Pietismus in der Bevölkerung zu schließen, wonach H. Schneider gefragt hat 91 . Aber das Interesse des Grafenhauses für Halle scheint doch wesentlich durch Böhme angeregt worden zu sein. Jedenfalls bestehen vom Jahre 1698 an feste Beziehungen zwischen der 8 3 Eleonore D. W. [Herrin (zu) Waldeck] an Anna Magdalena Francke, Arolsen, 18. April 1702, abgedruckt bei F. Weinitz, 8 7 - 8 9 (die Originale der Briefe befanden sich ζ. Z . der Veröffentlichung des genannten Beitrages im Besitze des Verfassers, vgl. ebd. 82). « AFSt D 113, 3 9 - 4 1 . 85 H. Nebelsieck, 37 f. 8 6 Charlotte Sophie an Α. H. Francke, Arolsen, 6. Juli 1698, abgedruckt bei F. Weinitz, 83f. AFSt D 113, 3 3 - 3 5 . 3 9 - 4 0 ; H. Nebelsieck, 56f.58f. β» W. Irmer, 13. 89 HPW, 8; ebd.: Anlage, 2 7 - 29; W. Irmer, 2 2 - 2 6 . 9 0 AFSt C 229: 3 (Böhme an Α. H. Francke, Wierborn, 19. Februar 1697). 9 1 H. Schneider, 139 f.

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gräflichen Familie von Waldeck und Francke. Im Jahre 1700 trat Carl Christian Ludwig in das Paedagogium Regium ein 92 , 1701 folgte ihm sein ältester Bruder Ernst Heinrich Georg als Student nach Halle 93 . Der Jüngere, Carl Christian Ludwig, ist in Halle negativ aufgefallen. Seine Mutter, Gräfin Johanna, schrieb im Jahre 1702 an Α. H. Francke und bemerkte u.a., daß sie zwei Schreiben von ihm empfangen habe, die meldeten, daß ihr Sohn „dem Herrn Professor deplaisir macht" 94 . Worum es sich dabei gehandelt haben mag, zeigt ein Brief des „ungeratenen Schülers" an Francke, in dem er sich wegen eines Faustschlages entschuldigt, den er einem Kameraden beim Possentreiben gegeben habe 95 . Z u m Ende des Jahres hat er Halle bereits verlassen und bedankt sich brieflich aus Arolsen bei Francke für die erfahrene Ausbildung 96 . Ein Brief Ernst Heinrich Georgs aus dem Jahre 1714 an Α. H. Francke zeigt schließlich, daß der Kontakt auch in der Zwischenzeit ständig gepflegt worden ist97. Denselben Tatbestand auf breiterer Ebene bestätigen auch die Aufstellungen H. Schneiders, daß in den Jahren 1698—1711 vierzig junge Männer aus der Grafschaft Waldeck in Halle studierten und unter den sechzehn Kandidaten des Flechtdorfer Seminars, in dem die Ausbildung der Theologen nach der praktischen Seite hin ergänzt werden sollte, 6 bis 7 ehemalige Hallenser waren 98 . Aus der Reihe der gräflich-waldeckischen Familienmitglieder, die den Pietismus begünstigten, fällt der Nachfolger Christian Ludwigs, Graf Friedrich Anton Ulrich (1676—1728) heraus, der 1706 die Regierung selbständig übernahm. Er entwickelte sich zu einem entschiedenen Gegner des Pietismus 99 . Daß die Entscheidung, wie seine Parteinahme ausfallen würde, im Jahre 1709 noch nicht gefallen war, zeigt der oben bereits besprochene Brief des Regierungsrates C. Schleiffan ihn 100 . Zusammenfassend kann für die Zeit der Wirksamkeit Böhmes in Arolsen gesagt werden, daß er am gräflichen Hofe eine dem Pietismus geneigte Stimmung vorfand, die er dann im Interesse Halles aus- bzw. sogar aufbaute. Die guten Beziehungen zu Halle wurden auch durch die pietisti92 H. Freyer: Programmata, 1737, 727 (Nr. 169). Zu Carl Christian Ludwig (1687-1734) vgl. J. Ch. K. Hoffmeister, 67. 93 W. Irmer, 11 nennt das Jahr 1700 als Jahr der Immatrikulation. Zu Ernst Heinrich Georg (1683-1736) vgl. J. Ch. K. Hoffmeister, 67. 94 Johanna Gräfin von Waldeck an Α. H. Francke, o. O., 14. April 1702, abgedruckt bei F. Weinitz, 84 f. 95 Carl Christian Ludwig an Α. H. Francke, o. O. u. J., abgedruckt bei F. Weinitz, 85. 96 Carl Christian Ludwig an Α. H. Francke, Arolsen, 6. November 1702, abgedruckt bei Th. Geissendoerffer: Briefe an Α. H. Francke, 202 f. 97 Ernst Heinrich Graf von Waldeck an Α. H. Francke, Bergheim, 19. September 1714, abgedruckt bei F. Weinitz, 86 f. 98 H. Schneider, 152, Anm. 23. Zu dem Seminarium theologicum in Flechtdorf vgl. W. Irmer, 5 2 - 5 5 . 99 J. Ch. K. Hoffmeister, 6 9 - 7 1 ; W. Irmer, 15 f. und dann passim; Η. Nebelsieck, 52. 100 Ygi vorliegende Arbeit, S. 65.

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sehen Unruhen, die Böhmes Auftreten in der Grafschaft verursachte, nicht gestört.

d) Anton Wilhelm Böhme als Informator in Arolsen

Unter dem 20. Dezember 1697 übersandte Böhme an Α. H. Francke „die Erstlinge von einem Gräfflichen Hoffe", d. h. seinen ersten Brief aus Arolsen 101 . Er hatte, als er den Brief abfaßte, „nun schon etliche Wochen" die Stelle inne, so daß er sie etwa Oktober/November 1697 angetreten haben mag. Nach diesem Selbstzeugnis ist die v o n j . J. Rambach initiierte und nach ihm immer wiederholte Aussage zu korrigieren, daß er 1698 „nach Arolsen an den Hochgräflichen Waldeckischen Hof berufen" worden sei102. Leider lassen die Quellen nichts über den Berufungsvorgang Böhmes erkennen. W. Irmer vermutet, daß Α. H. Francke der Vermittler gewesen ist 103 . Es ist aber ebenso möglich, daß die Gräfin Dorothea Elisabeth von der Lippe-Brake den Anstoß zur Auswahl des Hauslehrers fur zwei ihrer Stiefschwestern gegeben hat. Böhmes Aufgabe in Arolsen bestand darin, zwei Töchter aus der zweiten Ehe des Grafen Christian Ludwig zu unterrichten. Ihre Namen werden nicht genannt. Es könnte sich um die Gräfinnen Christine Eleonore Louise (1685-1737) und Sophie Wilhelmine (1686-1749) gehandelt haben 104 . Darüber hinaus hatte er auch die täglichen Betstunden zu übernehmen. Das Ziel seiner pädagogischen und psychagogischen Bemühungen war, die beiden jungen Gräfinnen, „welche bißhero in Holland gelebet und in den Lüsten der Jugend auffgewachsen", Christus als dem Hirten und rechten Bischof ihrer Seelen zuzuführen 105 . Das sind bereits alle Angaben, die Böhme über seine Informatorentätigkeit gemacht hat. Es hing wohl nicht direkt mit seiner Aufgabe am gräflichen Hof zusammen, daß er auch ab und an gepredigt hat 106 . Ausführlicheren Berichtes wert ist ihm - wie er an Α. H. Francke schreibt - der „Beruff vor ihre Armen zu sorgen". Mit dieser Aufgabe ist eine Konstante im Leben Böhmes erfaßt, die seine Tätigkeit lebenslang bestimmt hat. Ihre biblische Begründung durch 1. Korinther 13 ist bereits erwähnt worden 107 . N u n werden ihre praktischen Auswirkungen sichtbar. Der Anteilnahme der Gräfin Eleonore wurde bereits gedacht 108 . Böhme nennt noch andere Beispiele, die alle auf seine Werbetätigkeit für das hallesche Waisenhaus zurück101

AFSt C 229: 5. RVorr 1,8. 103 W. Irmer, 27, Anm. 12. 104 Vgl. J. Ch. K. Hoffmeister, 67. 105 AFSt C 229: 5. 106 J. Kleinschmidt u. a.: Widerlegung (HPW: Anlage, 61). 107 Vgl vorliegende Arbeit, S. 71. los Vgl. vorliegende Arbeit, S. 73 f. 102

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gehen. Unter ihnen ist hier die Verbindung zu Dr. med. Georg Keil (Cunaeus) zu erwähnen, weil Böhme mit ihm bis zu dessen Tode im Jahre 1712 in Kontakt geblieben ist 109 .

3. Der Konflikt Anton Wilhelm Böhmes mit den Kräften der Orthodoxie a) Der Ablauf der

Auseinandersetzung

Böhmes eigene Darstellung seiner Auseinandersetzung mit der lutherischen Orthodoxie in der Grafschaft Waldeck ist - wie bereits dargetan wurde - nicht erhalten geblieben. Der Ablauf des Streites muß daher aus dem Bericht der Historia Pietistica Waldeccensis 110 und den kritischen Korrekturen, die Ο. H. Becker 111 und J. F. Botterweck 112 angebracht haben, rekonstruiert werden. Diesen Weg ist W. Irmer gegangen 113 . Nicht deutlich wird aus den Quellen und Darstellungen, worin der Anlaß des Streites gelegen hat. Die HPW berichtet kurz, daß Böhme als Informator neben der eigentlichen Information auch die täglichen Betstunden mit Schriftauslegung zu halten hatte und dabei „das Predigt-Ambt und desselben Beruff schimpflich anstöchelte", unter den Pfarrern der Grafschaft nicht vier rechtschaffene zu finden behauptete und sie alle als „BaalsPfaffen" titulierte 114 . Ihr kann sicher nicht in allen Punkten Glauben geschenkt werden, zumal da sie sich schon am Eingang ihrer Darstellung als ungenau und oberflächlich erweist, indem sie Böhme mit den Vornamen „Anthon Philipp" belegt und ihn seinen Dienst in Arolsen erst 1699 statt bereits 1697 antreten läßt 115 . Doch wird als sicher anzunehmen sein, daß Böhmes Kritik an der Lebensführung der Pfarrer der Ansatzpunkt fur die Gegenmaßnahmen der orthodoxen Theologen gewesen ist. In dieser Weise sieht auch J. J. Rambach den Anlaß des Streites: „Wie er nun damals eine tiefe Einsicht in das Verderben des heutigen Christenthums hatte, und dabey von einem zwar geheiligten, aber doch von der damaligen Hitze der Jugend begleiteten Eifer, dem es insgemein bey Anfängern an gnugsamer Weisheit fehlet, getrieben wurde: also ließ er etwa in seinem Vortrage manches Saltz mit einfliessen, das andere nicht vertragen konnten." 1 1 6 Die109

AFSt C 229: 5. HPW, 9 - 1 1 . 111 Ο . H . Becker: Abgenöthigte Apologie . . .: Beilagen, 8 1 - 8 4 (Nr. 9). 112 J. F. Botterweck: Rettung Seiner Consistorial- und Theologischen Gutachten . . ., 12-18. 113 W. Irmer, 2 6 - 4 3 . 114 H P W , 9. 115 H P W , 9. 116 RVorr 1,8. 110

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ses Urteil stimmt sehr gut mit der Haltung Böhmes überein, wie sie sich aus den Briefen dieser Zeit zeigt. Als Graf Christian Ludwig von der Kritik des Informators seiner Töchter am orthodoxen Pfarrerstand hörte, versuchte er, die Angelegenheit ohne Aufsehen beizulegen, indem er J. F. Botterweck auftrug, „die Sache abzumachen". Botterweck aber hatte zu dieser Zeit kein öffentliches kirchliches Amt in der Grafschaft, sondern war als Informator zweier Söhne des Grafen angestellt. Folgerichtig mußte er den Auftrag ablehnen und den Grafen auf den Superintendenten verweisen, dem diese Aufgabe eigentlich zukäme. Im Auftrage Graf Christian Ludwigs gab er dann sogleich die Angelegenheit brieflich an den Superintendenten Johannes Kleinschmidt weiter, nicht ohne zugleich noch Böhme darüber zu informieren, was auf ihn zukäme. Dabei mußte er die Erfahrung machen, daß die ganze Angelegenheit gar nicht mehr so unbekannt war, wie er gedacht hatte. Denn Böhme wies ihn darauf hin, daß er dem Superintendenten in einem Briefe seine Anschauungen bereits dargelegt habe, und beklagte sich dabei, „daß man heimlich hinter ihm her wäre, gegen ihn aber sich nichts mercken liesse, noch ihm die Irrthümer zeigte, er wolte sich aber weisen lassen" 117 . Hier wurde nun deutlich, daß bereits geschehen war, was Graf Christian Ludwig hatte verhindern wollen: Die Angelegenheit Böhmes war in den politischen und kirchenpolitischen Parteiengegensatz in der Grafschaft Waldeck hineingeraten und wurde in ihrem weiteren Verlaufe durch ihn bestimmt. Während der Superintendent mit allen Kräften darauf zusteuerte, Böhme zu verurteilen, versuchte Botterweck immer wieder, ein gerechtes Verfahren gegen Böhme durchzusetzen, d. h. ihn ernsthaft zu hören und zu belehren und nicht von Anfang an als Angeklagten anzusehen bzw. den Fall durch Überweisung der Akten an eine unparteiische Universität für die Gegensätze in der Grafschaft Waldeck zu neutralisieren. Er war dabei auch der Unterstützung des Grafen gewiß. Doch setzte sich Superintendent Kleinschmidt mit seiner Absicht, die Gegensätze auf die Spitze zu treiben, durch. Dabei scheute er sich auch nicht, Kommissionsbeschlüsse und Anweisungen des Grafen zu hintertreiben 118 . Der Ablauf des Streites soll hier nicht in seinen einzelnen Etappen dargelegt, sondern nur unter dem Gesichtspunkt der entstandenen schriftlichen Zeugnisse und seines Ausganges skizziert werden: Als Superintendent Johannes Kleinschmidt von Böhmes scharfer Kritik an der waldeckischen Kirche und ihren Geistlichen gehört hatte, stellte er ihn im Oktober 1699 deswegen zur Rede. In dem Gespräch legte Böhme seine Anschauungen dar. Da er aber gespürt hatte, sich aus Zeitmangel nicht deutlich genug erklärt zu haben, schrieb er unter dem 13. Oktober 1699 einen Brief an 117

J. F. Botterweck, 14; vgl. W. Irmer, 20 (zu Botterwecks Stellung in der Grafschaft). Diese Sicht der Dinge ergibt sich nach J. F. Botterweck, 14—17. - Es wäre hier interessant, die Kräftegruppierungen zu kennen, auf die sich Johannes Kleinschmidt bei seinem taktisch zwar verschleierten, aber praktisch wirksamen Ungehorsam stützen konnte. 118

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Kleinschmidt, in dem er seine Überzeugungen weitläufiger erklärte. Der Superintendent hat diesen Brief nicht beantwortet, sondern die Sache vor das Konsistorium gezogen und so präpariert, daß es am 17. und 18. Januar 1700 zu dem Verhör Böhmes kam. Zur Vorbereitung dieses Verhörs hatte er aus dem Briefe Böhmes einige Fragen formuliert, deren Anzahl er unter Hinzuziehung anderer theologischer Streitfragen der Zeit auf 41 brachte. Böhme wurde über diese Fragen vernommen. Das Protokoll darüber ist erhalten 119 . Im Ergebnis des Verhörs ist Böhme „in seiner Stube mit Arrest beleget worden" 1 2 0 . Erst als das Verfahren soweit gediehen war, ist Botterweck in die Kommission berufen worden, die sich mit Böhme befaßte. Er trug den Mitgliedern u. a. Böhmes Klage vor, „daß man ihn bey denen ersteren Verhören übereilet hätte", und erlangte so die Gelegenheit für ihn, eine „fernere Erklärung" seiner Anschauungen einzureichen 121 . Zusammen mit dem Protokoll des Verhörs bildete sie die Grundlage für die hauptsächlich von Kleinschmidt verfaßte und von den Senioren mitunterzeichnete Widerlegung Böhmes 122 . Botterweck hatte diese Gegenschrift in der Hoffnung begrüßt, daß sie den Ausgangspunkt einer Belehrung Böhmes bilden würde. Darin sah er sich jedoch getäuscht. Denn sie wurde trotz gräflicher Anweisung dem Angeklagten nicht zur Kenntnis gebracht, sondern nach Unterzeichnung am 4. März 1700 am 19. März dem Grafen mit der Schlußfolgerung vorgetragen: „Daß ob sie wohl befugt wären / denen Rechten nach hart mit Böhmen zu verfahren / jedoch am rathsambsten seyn mögte / denselben schlechterdings zu dimittiren." Den Pietisten gelang es dann nur noch, das Urteil zu mildern: „Hierauff ist auff Herrschafftl. Befehl dem Herrn Böhmen angedeutet / Daß er hiemit seine Dimission haben / und er / nechster Gelegenheit nach / ausser dero Landten sich erheben / und anderswo sein Glück suchen solte / jedoch mit gegebener Hoffnung / wofern er sich hinfuhro solcher massen bezeugen würde / daß er ins Ministerium genommen werden könte / daß er sich alsdann gnädigster Willfahrung gewärtigen solte. " 123 Es ist verständlich, daß Böhme sich diesem widersprüchlichen Urteil nicht unterwerfen wollte. Da das Verfahren gegen ihn eingeleitet worden war, schien ihm die Entlassung vor der Urteilsfindung nicht annehmbar. Doch konnte oder wollte ihn die gräfliche Familie nicht so unterstützen, wie er es erwartet hatte. Der Gräfin Johanna wirft er in einem Briefe vom 19. März 1700 vor, daß sie beim Nachdenken über seinen Fall nur „biswei119

HPW: Anlage, 3 0 - 4 4 . J. F. Botterweck, 15 berichtet als einziger diesen Tatbestand. 121 HPW: Anlage, 29: „Böhmens fernere Erklärung, so der Commission den 10. Febr. 1700 praesentiret worden." Diese Schrift ist, ebenso wie der Brief Böhmes vom 13. Oktober 1699, bisher nicht nachgewiesen worden. 122 HPW: Anlage, 4 4 - 7 3 . 123 Ο . H. Becker: Beilagen, 82; HPW, 11. 120

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len gerade auf das C e n t r u m und Mittel-Punct der göttlichen Wahrheiten ziele" und sich öfter durch die Vernunft v o n der rechten Erkenntnis ablenken lasse 124 . Dieser V o r w u r f zeigt, daß Böhmes „fernere Erklärung" auf die Gräfin also keinen überzeugenden Eindruck gemacht hatte u n d daß er die erhoffte Unterstützung von Seiten der gräflichen Familie nicht erlangt hatte 125 . So schürzte sich der Knoten schließlich derart zusammen, daß B ö h m e Arolsen verlassen mußte. Zunächst hielt er sich noch einige Zeit in Mengeringhausen bei K a m m e r r a t Reineck auf, doch gelang es seinen Gegnern, am 19. April 1700 den Befehl zu erwirken, daß er innerhalb v o n 24 Stunden die Grafschaft zu verlassen habe 1 2 6 .

b) Die theologische Position Anton Wilhelm Böhmes nach dem Protokoll seines Verhörs vom 17. und 18. Januar 1700 Die H P W betont zwar, daß das Verhör Böhmes „ohne einige Übereilung" durchgeführt w o r d e n sei. B ö h m e habe dabei die Gelegenheit gehabt, die i h m gestellten Fragen zu wiederholen und seine A n t w o r t e n ins Protokoll zu diktieren 1 2 7 . Doch ist dem entgegenzuhalten, daß B ö h m e sich subjektiv überrumpelt gefühlt hat und das entstandene u n d auch von i h m unterzeichnete Protokoll nicht als angemessene Widerspiegelung seiner Anschauungen verstanden wissen wollte 1 2 8 . Da seine „fernere Erklärung" zu diesem Protokoll bisher nicht auffindbar gewesen ist, besteht der Wert dieses Protokolls jedoch in der ersten umfangreicheren Darstellung „seiner" theologischen Ansichten und kann bei zurückhaltender u n d kritischer Sichtung als Quelle genutzt werden 1 2 9 . Es ist schwer, aus den A n t w o r t e n B ö h m e s auf eine bunt zusammengestellte Fragenreihe den zentralen Gedanken zu erheben. Das Protokoll geht ja eben nicht nach der Logik der Theologie Böhmes vor, sondern trägt im Gegenteil Fragen an seine Theologie heran. Es ist deshalb zu rechtfertigen, bei der Darstellung der theologischen Gedanken, die B ö h m e in d e m Protokoll geäußert hat, von einem Gesichtspunkt auszugehen, den die vorliegende Arbeit vorgibt, und zwar von d e m Problem der Entstehung eines ö k u menischen Kirchenbegriffs (M. Schmidt). In diesem Z u s a m m e n h a n g ist Frage 21 des Verhörs und die von B ö h m e gegebene A n t w o r t von besonderem Gewicht: „Ob nicht nöthig seye daß man sich an einen äusserlichen Religions-Hauffen binde? A n t w o r t : Es ist dieses nicht 124

BEBr, 3 (Böhme an [Johanna] Gräfin von Waldeck, Arolsen, 19. März 1700). 125 Vgl. BEBr, 2 (Böhme an [Johanna] Gräfin von Waldeck, Arolsen, 15. Februar 1700). 126 Responsum Theologicum undjuridicum . . . : Extractus actorum, 31. 127 H P W j IQ. 128

Ο . H. Becker, 81; J. F. Botterweck, 15. Das Protokoll wird wiedergegeben in HPW: Anlage, 30—44; W. Bender: Urkunden zur Geschichte des deutschen Pietismus. Aus dem Archive des Fürstlich- und Gräflich-Ysenburgischen Gesammthauses zu Büdingen. In: Theologische Arbeiten aus dem rheinischen wissenschaftlichen Prediger-Verein, 6. Band, 1885, 6 8 - 8 1 . 129

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absolute nöthig / und hat ein H a u f f e vor dem andern nur diesen Vortheil / daß er nicht so viel praejudic[i]a und Hindernüssen zur Wahrheit zu gelangen hat / als der andere." 1 3 0 Z u r Rechtfertigung dieses Satzes könnte auf die Konkordienformel hingewiesen werden, in deren Vorrede ausgesagt wird, daß auch außerhalb der lutherischen Kirche „viel f r o m m e r , unschuldiger Leute" sich befinden würden 1 3 1 , u m die Ü b e r e i n s t i m m u n g B ö h m e s mit der lutherischen Tradition herauszustellen. Doch wäre das zu schnell und zu kurz geschlossen. Bereits ein oberflächlicher Vergleich der Kontexte und der Ziele der jeweiligen Aussagen beweist das. Die Konkordienformel hofft für die Z u k u n f t darauf, daß sich die Menschen, die derzeit noch außerhalb der lutherischen Kirche sind, „durch Anleitung des Heiligen Geistes zu der unfehlbaren Wahrheit des göttlichen Worts mit uns und unseren Kirchen und Schulen begeben und wenden werden" 1 3 2 . Diese Formulierung zeigt, daß die Autorität und der grundsätzliche Wahrheitsanspruch der lutherischen Kirche absolut feststehen. Bei B ö h m e ist dagegen der Relativismus des Kirchenverständnisses bereits mit der B e m e r k u n g angezeigt, daß sich die einzelnen Konfessionen nur dadurch voneinander abheben, daß sie den Weg zur Wahrheit verschieden stark behindern. Die Beurteilung ist also grundsätzlich auf der negativen Seite angesetzt. Dieses Bild wird noch deutlicher, wenn es durch B ö h m e s konkrete Beurteilung der lutherischen Kirche ergänzt wird. Frage 37 n i m m t mit den Worten Warum ich die Lutherische Religion ein altes Sectirisches Lutherthum nenne?133 seine eigene Formulierung auf; er kann daher die benutzten Termini in seinem Sinne positiv in die A n t w o r t einfügen: Er nennt das Luthertum alt, weil in i h m wenig Menschen enthalten sind, „die in Christo zu neuen Menschen . . . wiedergebohren sind", und „sectirisch", weil m a n einmal so viel Wert auf den N a m e n „des Luthertums" legt, „welches doch ein heilloser N a m e ist", und z u m andern alle die, die mit der lutherischen Lehre und O r d n u n g nicht übereinstimmen, verketzert und v e r d a m m t . In diesem Z u s a m m e n h a n g macht B ö h m e auch seine Vorstellung von den wahren Christen deutlich: Es sind „diejenige wenige . . . / die unter solchem H a u f f e rechtschaffen s i n d / " . Sie haben mit d e m N a m e n „Lut h e r t u m " überhaupt nichts zu tun, sondern hängen an Christus als d e m H a u p t seiner Gemeinde und schöpfen allein aus ihm Saft u n d Kraft z u m Wachstum ihres inwendigen Menschen 1 3 4 . Der kritischen Haltung gegenüber d e m Luthertum entspricht Böhmes Kritik an der Gestalt Luthers selbst. Er unterscheidet bei i h m eine frühere 130

Protokoll, Frage 21 (HPW: Anlage, 36). Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 2. verb. Aufl. 1955, 756. 132 Ebd. 756 f. Vgl. zu dem Hinweis auf die Konkordienformel J. Kleinschmidt u.a.: Widerlegung (HPW: Anlage, 61 f.). 133 Protokoll, Frage 37 (HPW: Anlage, 41). 134 Ebd. 41 f. 131

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Phase von einer späteren, die er „vor einigen Verfall / und Schwachheit / des lieben Mannes / in welche er nach und nach durch das hefftige disputiren mit denen Papisten verfiel", hält, so daß als Urteil über seine Schriften gilt, daß er „zu A n f a n g in unterschiedlichen Dingen viel lauterer geschrieben hat / als hernach". Deshalb müssen sich auch Luthers Aussagen der prüfenden Frage stellen, ob sie dem Sinne Christi gemäß sind 135 . B ö h m e wendet diese Regel ζ. B. i m Blick auf die Wertung der Taufe an, w e n n er sagt, daß Luthers Formulierung im Kleinen Katechismus, die Taufe bewirke die Vergebung der Sünden, Erlösung von Tod u n d Teufel u n d die ewige Seligkeit, als theologische B e g r ü n d u n g für den Satz, daß die Taufe ein Mittel der Wiedergeburt sei, nicht ausreiche 136 . Diese Distanz gegenüber Luther setzt sich fort in einer kritischen Haltung zur theologischen Literatur im allgemeinen und den Symbolischen Büchern des Luthertums i m besonderen, die nur insoweit Geltung haben, als sie „mit der Schrifft und mit d e m Sinne Christi überein k o m m e " 1 3 7 , und gewinnt seine volle Schärfe d e m ganzen Lehr- und Studienbetrieb der O r thodoxie, d e m Lebenswandel der Professoren und Pfarrer 1 3 8 und d e m G o t tesdienst der „Maur-Kirchen" gegenüber 1 3 9 . Von den Professoren an den Universitäten Wittenberg, Jena und Rinteln sagt B ö h m e , daß „der Teuffei durch sie lehre", und begründet diesen Vorwurf mit dem Hinweis auf „das wilde ungebundene und m e h r als viehische Leben derer die sie lehren" 1 4 0 . Von hier aus sind auch ohne viel Phantasie die Beschuldigungen vorstellbar, die er an die Pfarrer in der Grafschaft Waldeck gerichtet haben mag. Wir haben sie in seinen eigenen Ausführungen nicht mehr vorliegen. Aber da er in Frage 25 aufgefordert wurde, die N a m e n der Pfarrer zu nennen, die seiner M e i n u n g nach in der Grafschaft Waldeck den würdigen Wandel / der auff die Tauffe folgen muß/ kaltsinnig/ oder fast gar nicht vortragen?1*1, ist zu vermuten, daß seine V o r w ü r f e in dieser Richtung gelegen haben. Fragt m a n nach dem Z e n t r u m , aus d e m sich die Kritik B ö h m e s an der Kirche seiner Zeit ergibt, u n d versucht man zugleich, seine konkreten kritischen Ausführungen zu verallgemeinern, dann ergibt sich der Eindruck, daß er die Differenz zwischen seinem Verständnis der Schrift sowie des Sinnes Christi und der A u s f o r m u n g der Kirche in Gestalt, Leben und Lehre als untragbar e m p f u n d e n hat, so daß es von seiner Seite zur kritischen Distanzierung k o m m e n mußte. Er hat auch einige Konsequenzen aus dieser Spannung gezogen, indem er sich des Predigtamtes in dieser Kirche

»5 Protokoll, Frage 36 (HPW: Anlage, 41). " 6 Protokoll, Frage 22 (HPW: Anlage, 36). 137 Protokoll, Frage 2.3.7 (HPW: Anlage, 30f.32). 138 Protokoll, Frage2.8-12.19.25 (HPW: Anlage, 30.32f.35.37). Protokoll, Frage 20 (HPW: Anlage, 35f.). κ· 0 Protokoll, Frage 8 (HPW: Anlage, 32). 141 Protokoll, Frage 25 (HPW: Anlage, 37).

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enthielt 142 , nicht z u m Abendmahl ging 1 4 3 und seine Unsicherheit in der Tauffrage offen aussprach 1 4 4 . B ö h m e hatte als die Prinzipien seiner Theologie die Schrift und den Sinn Christi zu erkennen gegeben. Die kirchliche Tradition kann interpretierend hinzutreten, sofern sie mit den Primärprinzipien übereinstimmt 1 4 5 . Es bleibt dabei die Frage, woraus der Glaube oder Theologie u n d Kirche ihre Gewißheit gewinnen. Sie weist die Untersuchung auf das Problem des Verhältnisses von Wort und Geist. B ö h m e m u ß t e auf zwei Fragen aus diesem Komplex antworten: Frage 5: Ob ich den Sinn des Geistes von dem geschriebenen Worte absondere / und das Wort nur vor eine äussere Rinde halte? und Frage 6: Ob ich das geschriebene Wort GOTTES vor ein kräjftiges lebendig und seeligmachendes Mittel halte? Für die A n t w o r t e n auf beide Fragen ist die Unterscheidung v o n objektiver u n d subjektiver Betrachtungsweise tragend. Das geschriebene Wort der Bibel ist objektiv gesehen Gottes Wort, das den Sinn des Geistes in sich trägt, wird jedoch durch Einbeziehung des Predigers in die Betrachtung die subjektive Seite betont, dann ist der Sinn des Geistes nicht gewährleistet, lautet die A n t w o r t auf die Frage 5. Bei Frage 6 leitet er von der Objektivität des göttlichen Wortes auf die Subjektivität des hörenden Menschen über: der Mensch dürfe nicht beim äußeren Worte stehen bleiben, sondern müsse durch dasselbe hindurch zu Christus eingehen 1 4 6 . Hier wird deutlich, daß B ö h m e die Logik des orthodoxen Gedankenganges durchbrochen hat, indem er die Frage nach der objektiven Wirksamkeit des Wortes Gottes gar nicht zu Ende fuhrt, sondern die subjektive Seite betont, indem er den empfangenden Menschen dazwischen schiebt. Aber das ist eben logisch formal wie auch sachlich das C h a rakteristische; dadurch wird deutlich, daß B ö h m e die Objektivität der Wirksamkeit des Wortes Gottes nur bedingt anerkennen kann. Folgerichtig m u ß sich auch die Frage nach der Gewißheit des Glaubens verschieben: B ö h m e verlagert sie in die Person des Predigers. Er hat eine dreifache Salbung nötig: „(1.) Die kräfftige Ausgiessung des heiligen Geistes in seine Seele. (2.) Eine wahre Heiligung aller seiner ihme geschenckter Gaben. (3.) D e n innerlichen B e r u f f / den er von G O t t haben m u ß . " 1 4 7 Auf die Frage nach d e m E r w e r b der wahren Theologie gerichtet heißt das: Wahre Theologie besteht nicht so sehr in der aktiven Z u w e n d u n g z u m Studium, sondern vielmehr im passiven Erleiden der Wirkung des Heiligen Geistes, damit der Geist die Geheimnisse des Reiches Gottes im innern Grunde der Seele offenbaren kann 1 4 8 . Mit diesem Theologieverständnis 142

Protokoll, Protokoll, 144 Protokoll, 145 Protokoll, " « Protokoll, 147 Protokoll, 14 « Protokoll,

Frage 40 (HPW: Anlage, 43). Frage 2 9 - 3 6 (HPW: Anlage, 38-41). Frage 22.23 (HPW: Anlage, 36). Frage3.36 (HPW: Anlage, 30f.41). Frage 5.6 (HPW: Anlage, 31). Frage 13 (HPW: Anlage, 33). Frage 11 (HPW: Anlage, 32f.).

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kann eine Erweiterung des Personenkreises begründet werden, der berechtigt ist, sich geistlich zu betätigen. Böhme hat diese Konsequenz ausdrücklich bejaht. Zu den Kennzeichen, die seiner Meinung nach den Verfall in den „Maur-Kirchen" seiner Zeit im Vergleich zur apostolischen Zeit beweisen, gehört die Beschränkung der Rechte für die Laien im Gottesdienst: sie dürfen nicht reden und Fragen stellen, wozu viele von ihnen aufgrund ihrer geistlichen Erfahrung wohl in der Lage wären 149 . Mit diesen Ausführungen ist nicht der ganze Kreis der Fragen abgeschritten worden, über die Böhme verhört worden ist. Doch zeigt sich von dem Ausgangsproblem her ein geschlossenes Bild. Die Frage, ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession heilsnotwendig sei, hat Böhme verneint. Der Ton liegt dabei auf dem Adjektiv „bestimmt". Denn praktisch ergibt sich natürlich die Zugehörigkeit zu einer der verschiedenen Kirchen aus den Lebensumständen des Christen. Aber sie ist für das Heil eigentlich nicht relevant. Was für das Heil notwendig ist, wird durch die Konfessionsbestimmtheit des Christen nicht berührt oder höchstens insofern, als es durch sie gehemmt wird. Heilsnotwendig ist es, mit dem „Sinn Christi" übereinzustimmen. Das aber ist ein Geschehen, das sich zwischen Gott und dem glaubenden Menschen ohne die vermittelnde Instanz der Kirche abspielen kann, indem Gott in Verbindung mit dem Wort der Schrift in den Seelen der Menschen wirkt, so daß sie den Gottesdienst „im Geist und in der Wahrheit" halten kön-

c) Die Verurteilung Anton Wilhelm Böhmes durch seine orthodoxen Gegner

Die Quellengrundlage für diesen Abschnitt bilden die Widerlegung Böhmes durch die waldeckischen Theologen (1700)151, das „Responsum des Franckfurtischen Ministerii" (1700)152 und das „Responsum Theologicum und Juridicum" der Wittenberger Universität (1715)153. Eine Durchsicht dieser Gegenschriften zeigt, daß die Widerlegung Böhmes zu den einzelnen theologischen Loci für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit von geringem Interesse ist, da sie im wesentlichen eine Explikation der orthodoxen Dogmatik darstellt. Weiterfuhrend erscheint die 149 Protokoll, Frage 20 (HPW: Anlage, 35). ι™ Protokoll, Frage 20 (HPW: Anlage, 35). 151 J. Kleinschmidt u. a.: Widerlegung (HPW: Anlage, 4 4 - 7 3 ) . 152 Responsum des Franckfurtischen Ministerii an Herr Cantzler Scherbaum (HPW: Anlage, 73-94). 153 Responsum Theologicum und Juridicum Von der Chur-Sächsischen Universität Wittenberg In Causa Pietistica Waldeccensi . . . 1715. Vgl. zu den hier und in den Anm. 151 und 152 genannten Titeln vorliegende Arbeit, S. 23—29.

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theologiegeschichtliche - oder besser ketzergeschichtliche - Einordnung Böhmes, die seine orthodoxen Gegner vornehmen. Aus ihr sollen parallel zum voranstehenden Abschnitt einige Gesichtspunkte dargelegt werden. Böhmes Antwort auf die Frage, ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession heilsnotwendig sei, resümieren die Wittenberger Theologen wie folgt: „Er hält davor: Daß ein jeder in jedweder Secte könne seelig werden / wenn er nur die von Pietisten vorgeschriebene Art / wie Christus in uns kommen solle / recht observire. Er glaubet vest / daß G O T T unter allen Secten und Religionen noch einen heiligen Saamen habe." 1 5 4 Da diese Formulierungen sich nicht - wie die Wittenberger richtig urteilen - auf die unsichtbare Kirche beziehen, zeihen sie B ö h m e des Indifferentismus. Den Ursprung dieser Anschauung sehen sie bei Robert Barclay gegeben, der im Wittenberger Responsum zu vielen theologischen Lehrpunkten gleichsam den „Vater der L ü g e " abgeben muß 1 5 5 . Barclay habe gelehrt, daß Gott bei allen Menschen seinen Samen und seine innerliche Kraft, die mit Christus identisch ist, ins Herz gelegt hat. Er kann sie nach seinem Ratschluß und Willen jederzeit aktivieren und so die Menschen zur Wiedergeburt und zur Seligkeit fuhren, ohne daß sie mit Predigt, Taufe und Abendmahl auch nur in Berührung gekommen seien. Das führe zu einem Indifferentismus gegenüber den Heilsmitteln und folgerichtig dann auch gegenüber der Kirche 156 . Im Blick auf das Kirchen Verständnis rücken die Wittenberger Theologen B ö h m e ganz in die Nähe der quäkerischen Tradition, wenn sie formulieren, er hätte aus Gottfried Arnold die Vorstellung gefaßt, „als ob kein Hauffe derselben [der alten Kirche] näher käme / als dererjenigen / die sich zu den Quäckern schlagen / und Kirchen / Altäre / Tauffstein / Predigt und alles übrige abschaffen/ hingegen vertrauliche privat-Zusammenkünffte davor halten und anstellen" 157 . Das Frankfurtische Ministerium sieht B ö h m e bei V. Weigel Anleihen machen, wenn er die systematische und polemische Literatur für unnötig hält, und betont dagegen den notwendigen Zusammenhang von ernsthaftem Studium mit Gebet und der Geistsalbung eines Predigers 1 5 8 . Gegen Böhmes Unterscheidung von äußerem und innerem Wort legen die Frankfurter auf die objektive Wirkung des Wortes alles Gewicht 1 5 9 . In dieser Frage engagieren sich auch Superintendent J. Kleinschmidt und sein Anhang sehr energisch. Sie zitieren zur Verdeutlichung aus Böhmes „fernem Erleuterung . . . / daß das äussere Wort nur dazu diene / daß es anzeige / w o das Kindlein J E s u s zu finden sey / das äussere Wort müsse verlassen werden / und dem innern (dem Sinn Christi / wann derselbe durch seinen Geist 154 155 156

^ 158

Responsum Theologicum undjuridicum . . ., 71. Vgl. ζ. B. ebd. 7 0 - 7 2 . Ebd. 72 f. Ebd. 160. Responsum des Franckfurtischen Ministerii. . . (HPW: Anlage, 84—86). Ebd. 7 5 - 8 3 .

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in der Seelen offenbahret wird) allein Raum und Platz gegeben werden" 160 . Ausfuhrlich wird dann die These dargelegt, daß „wir das Wort nicht vom Geiste / noch den Geist vom Wort trennen" können 161 . Daß Böhme mit den „fanatici" insgesamt, speziell dann mit C. Schwenckfeld, A. Oslander, H. Rahtmann und V. Weigel in Verbindung gebracht wird, ist bereits gesagt worden 162 . Die Wittenberger Theologen weisen fur die Genealogie der Unterscheidung von äußerem und innerem Wort wieder auf Barclay hin: „Vermutlich aber stecket unter diesem Christo noch ein ander Geheimniß der Pietisten/ weil sie durch das innerliche Wort/ welches im Hertzen seyn soll/ Christum verstehen/ und mit Barcelajo einen innern Saamen nennen." 1 6 3 Sie vermuten weiter, daß unter dem „innern Wort", ähnlich wie bei anderen „Irr-Geistern" der „dritte, wesentliche Theil des Menschen" verstanden wird 164 . Böhmes Aussagen über das „innere Wort" werden von den Wittenberger Theologen theologisch weiter verfolgt und mit seiner Sündenlehre in Verbindung gebracht. Er war von J. Kleinschmidt über die im Menschen nach dem Fall verbliebenen Kräfte 165 und nach seiner Definition von Erbsünde 166 befragt worden und hatte ausgeführt, daß die Wahrheit Gottes nach dem Fall „noch als ein tieffer Othem von dem Leben GOttes in der Seelen übrig ist", der in der Buße durch Christus wieder erweckt und erneuert wird 167 . Von dieser Aussage aus erscheint im Responsum aus Wittenberg Böhmes Bestimmung der Erbsünde als „der Saame des Teuffels oder der Schlangen" nicht radikal genug, sondern des Barclayschen Pelagianismus verdächtig, „da der Mensch den freyen Willen hat / ob er will den Saamen des Teufels / oder den Saamen GOttes / so in ihm lieget / die Oberhand behalten lassen" 168 . Von seinen theologischen Gegnern sind Böhmes theologische Bekenntnisse auf V. Weigel, C. Schwenckfeld, H. Rahtmann, G. Arnold, A. Oslander, R. Barclay und J. C. Dippel zurückgeführt worden, und sie sind, wenn man sich der Mühe unterzieht, sicher noch auf eine Reihe anderer Theologen, Mystiker, Separatisten und Spiritualisten rückfuhrbar. Die Vielzahl der angeführten Namen weist auf die Fülle und Buntheit des geistigen und theologischen Lebens der Zeit hin, das insgesamt das Reservoir bildete, aus dem Böhme geschöpft hat. Bezieht man auf der Grundlage dieser Erkenntnis noch die schmale Quellengrundlage in die Überlegung mit ein, dann will es fast unmöglich erscheinen, Böhme theologiege160

J. Kleinschmidt u. a.: Widerlegung (HPW: Anlage, 53). Ebd. 55 (vgl. 53-56). 162 Ebd. 53. Vgl. vorliegende Arbeit, S. 24. 163 Responsum Theologicum und Juridicum . . ., 31. 164 Ebd. 32. 165 Protokoll, Frage 17 (HPW: Anlage, 34). 166 Protokoll, Frage 18 (HPW: Anlage, 35). 167 Protokoll, Frage 17 (HPW: Anlage, 34). 168 Responsum Theologicum und Juridicum . . ., (85—87) 87. 161

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schichtlich exakt festzulegen. Mit jedem der geistigen Ahnen, den ihm die Orthodoxen vorhielten, hatte er etwas gemeinsam - und doch deckt keiner der Namen das ab, was Böhme gemeint hat. Denn als Ketzernamen waren die aufgezählten Theologen zu Klischees geworden. „Als Weigelianismus, das heißt mit Valentin Weigels Namen, wurde fast 100 Jahre jede Richtung innerhalb der evangelischen Kirche bezeichnet, deren Meinungen im Gegensatz zur orthodoxen Lehre standen." 169 In ähnlicher Weise werden auch die anderen Benennungen verwendet: Anklänge gelten als Identität und Beweis genealogischen Zusammenhangs. Darüber hinaus kann auch daran erinnert werden, daß manche geistigen Bewegungen zum Gemeingut einer Zeit werden können. E. Seeberg sagt in diesem Sinne, daß „in allen Pietisten ein Stück Mystik" stecke 170 . Für die Kenntnis einer Persönlichkeit ist es daher wichtiger, ihre Stellung im Kräftespiel der Zeit zu erkennen, als die Herkunft der einzelnen K o m ponenten in ihrer Gedankenwelt genau festzulegen. Bei Böhme läßt sich aufgrund des bisher dargestellten Quellenmaterials und unter Berücksichtigung der Beurteilung durch seine Gegner - eine gewisse Neigung zum Separatismus erkennen. Er hat seine theologische Ursache in der besonderen Bestimmung des Verhältnisses von Wort und Geist, die zu einer Loslösung der Verbindung mit Christus von den kirchlichen Heilsmitteln fuhrt. Es kann hier zunächst aber nur von einer Neigung gesprochen werden: Einmal weil der Separatismus wiederum durch einen konfessionellen Indifferentismus relativiert wird, zum andern weil die bisher dargestellte Entwicklung Böhmes durch seine Ausweisung aus der Grafschaft Waldeck unterbrochen worden ist. Es waren Ansätze erkennbar. Die Zukunft muß zeigen, wie diese Ansätze ausgelebt wurden.

4. Die Bewertung des Streits und seines Ausgangs a) Der Kampf des Alten mit dem Neuen

Das Ergebnis des Verfahrens gegen Böhme hat keine der beteiligten Parteien befriedigt. Böhme selbst wurde des Landes verwiesen, ohne daß sein Prozeß rechtskräftig abgeschlossen und Schuld oder Unschuld festgestellt worden waren 171 . Graf Christian Ludwig hat einen ihm genehmen Hauslehrer entlassen müssen und konnte die Absicht, ihn wieder ins Land zu ziehen, nur konditional für die Zukunft aussprechen, daß, „wann er sich nemlich bessern / und dann Früchte zeigen würde / man nach befundenen Umständen Ihn zu recipiren/ und in sein Vatterland einen Dienst zu ge169 G. Baring: Valentin Weigel und die „Deutsche Theologie". In: Archiv für Reformationsgeschichte 55 (1964), 5. 170 E. Seeberg: Gottfried Arnold. In Auswahl herausgg., 1934, 2. 171 Vgl. Ο. H. Becker, Beilagen, 82.

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ben / allenfalls versprechen wollen" 172 . Die orthodoxe Gruppe um Superintendent J. Kleinschmidt schließlich hatte Böhme zwar verdrängen können, mußte sich aber „mit noch allzugelinden gnädigster Sinceration" des Urteils abfinden und dadurch die Gefahr einer Rückkehr Böhmes in Kauf nehmen 173 . Böhme hatte der Auseinandersetzung seinen Namen leihen müssen. Dabei war er aber nur der Exponent von Machtinteressen, die auf den Widerstand der lutherischen Orthodoxie gestoßen waren. Es stellt sich folglich die Frage nach den machtpolitischen Hintergründen für den Kompromiß, der in dem Urteil gegen Böhme seinen Ausdruck gefunden hatte. Die Antwort auf diese Frage kann (noch) nicht eindeutig gegeben werden. Das hat seinen Grund darin - und daraufhat H. Schneider (1977) bereits hingewiesen174—, daß die Rolle des Pietismus in der Grafschaft Waldeck im Blick auf seine Bezüge zu den einzelnen Schichten der Bevölkerung noch nicht erhellt worden ist. Der Versuch, die Richtung einer möglichen Antwort wenigstens anzudeuten, soll durch die Verbindung von zwei methodisch zu unterscheidenden Arbeitsschritten unternommen werden: einmal durch eine Projektion von Kräftekonstellationen in Brandenburg-Preußen auf die kleineren Verhältnisse in der Grafschaft Waldeck und zum andern durch einen Rückschluß von den pietistischen Streitigkeiten in Waldeck um O. H. Becker, die mit dem antipietistischen Edikt vom 23. Juli 1711 endeten, auf das Jahr 1700 175 . In Brandenburg-Preußen hatten sich staatliche Gewalt und Pietismus im Kampf gegen die Orthodoxie und die mit der Orthodoxie verbundenen Landstände zusammengefunden. Ihre Ziele waren verschieden: Die brandenburgisch-preußischen Herrscher arbeiteten in erster Linie auf die Durchsetzung des Territorialismus hin, während es den Pietisten um Freiheit von den Fesseln der Orthodoxie zwecks Realisierung lebendigen geistigen Lebens mit dem Endpunkt einer umfassenden Reform von Staat und Kirche ging. Den Weg auf diese Ziele zu konnten Pietismus und Staat in der Verbundenheit des Kampfes gegen den gemeinsamen Gegner eine Strecke weit zusammen gehen 176 . Bei einem Vergleich der brandenburgisch-preußischen Verhältnisse mit denen in der Grafschaft Waldeck bietet sich als positiver Anknüpfungspunkt zunächst nur die Tatsache an, daß in beiden Gebieten die Landesherren den Pietismus beförderten und die Orthodoxie zusammen mit den Landständen sich diesen Plänen widersetzte. Doch lassen darüber hinaus die Quellen erkennen, daß es sich bei dem Streit nicht nur um theologische Fragen gehandelt hat. H. Schneider hat bemerkt, daß die „pietistischen Händel in Waldeck . . . von den Mitgliedern 172 174 175 176

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HPW, 10. Ebd. 10. H . Schneider, 140. Z u den Streitigkeiten u m Ο . Η. Becker vgl. HPW, 4 1 - 4 3 ; W. Irmer, 7 7 - 1 0 1 . Vgl. H. Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus, 8 6 - 9 1 .

des Wetterauer Grafenvereins, zu dem auch Waldeck gehörte, sorgfältig registriert" worden sind 177 . So konnte Kanzler J. Scherbaum im Jahre 1700 berichten, „daß auff dem letzten Graffen-Tage vor gut gehalten worden / die Pietisten zu admoniren/ und in der Stille auszuweisen" 178 . Das Interesse des Wetterauer Grafenvereins sagt zunächst nur etwas über die politische Komponente des pietistischen Streites aus, nichts jedoch über seine Zielrichtung. Diese kann in den verschiedenen Grafschaften durchaus verschieden gewesen sein; die Entscheidung des Grafentages widerspricht ja auch den Interessen des Grafen Christian Ludwig von Waldeck. An dieser Stelle vermag die bisher nicht ausgewertete handschriftliche „HistorischJuristische Deduction" Carl Gottfried von Rauchbars zu Lengefeld einen weiterfuhrenden Hinweis zu geben 179 . Die Schrift will ihrem Titel nach über die pietistischen Unruhen in der Grafschaft Waldeck bis einschließlich 1718 handeln, wendet sich diesem Thema aber erst auf Seite 275a der Handschrift zu, also erst im letzten Drittel der gesamten Abhandlung. Vorher werden die Verdienste der waldeckischen Grafen um die Erhaltung der Kirche von Widukind an geschildert. Von Interesse fur die genannte Frage ist der engere Kontext. Direkt vor der Darstellung des „Falles Böhme" handelt Rauchbar von dem Widerstand des waldeckischen Konsistoriums gegen die Aufnahme von Reformierten (Hugenotten) in die Grafschaft, die der Graf beabsichtigt hatte, dann aber doch nicht durchführte 180 . Nicht deutlich wird bei Rauchbar, ob diese Auseinandersetzung zwischen dem Grafen und dem Konsistorium neben der kirchenpolitischen auch eine staatspolitische und ökonomische Komponente gehabt hatte. Zu dieser Frage gibt es für Waldeck noch keine Vorarbeiten. Aber es wäre - wenn auch vielleicht zunächst nur unter heuristischem Gesichtspunkt - denkbar, daß Graf Christian Ludwig mit dem Einwanderungsprojekt auch ökonomische Interessen verband, die bei den Ständen der Grafschaft auf Widerstand stießen, so daß sich also eine kirchliche und eine politische Opposition gegen den Grafen zusammenschließen konnte. Ihr Engagement richtete sich dann vereint gegen den Pietismus Böhmes, weil der von ihm vertretene konfessionelle Indifferentismus dem Grafen mit theologischen Argumenten hätte Schützenhilfe leisten können. Rauchbar weist jedenfalls daraufhin, daß der Landesherr über die Angelegenheit Böhmes „so wohl nach Politischen und Theologischen principiis genau berichtet worden" sei181. Diese Bemerkung zeigt, daß die politische Seite des Pietismus - was immer in dem speziellen Fall Waldeck darunter zu verstehen sein mag - immer auch im Blick gewesen ist. 177

H. Schneider, 140. Ο. H. Becker, Beilagen, 83. 179 C. G. von Rauchbar zu Lengefeld: Historisch-Juristische Deduction in Caussa der . . . Pietistischen Unruhen im Waldeckischen, usque 1718. incl. (Ms. Forschungsbibliothek Gotha, Chart. A 343). 180 Ebd. 266a-274b. 181 Ebd. 276b. 178

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Die eben angestellten Überlegungen besitzen keinen überfuhrenden Erkenntniswert, sondern markieren zunächst eine Richtung, in der eine Antwort auf die Frage nach den Kräftegruppierungen und ihren Zielen in dem pietistischen Streit in der Grafschaft Waldeck gesucht werden kann. Zu ihrer Ergänzung sollen in einem zweiten Gedankengang Erkenntnisse, die sich aus dem Streit um Ο. H. Becker in Waldeck ergeben haben, auf die Auseinandersetzung mit Böhme angewendet werden. Mit der Berufung Beckers in die Regierung im Jahre 1701 setzte zunächst der Siegeszug des Pietismus in Waldeck ein. Anhänger des Pietismus fanden in der Grafschaft ein Amt, neue Gesetze und karitative Aktivitäten zeugen von dem Charakter der Bewegung 182 . Es ist bisher noch nicht herausgearbeitet worden, inwieweit diese Reformen dem Programm des Halleschen Pietismus entsprechen 183 . Man könnte alle diese Bemühungen als Versuche verstehen, das kirchliche und gesellschaftliche Leben im Interesse der staatlichen bzw. einer allgemeinen Reform - die Akzentsetzung ist in Abhängigkeit von dem leitenden Gesichtspunkt jeweils verschieden - zu disziplinieren. Schon bei Böhme zeigen sich Ansätze eines Reformprogramms „von oben nach unten": „Die Obersten und Fürnemsten müssen erst aus dem Verderben, so wird Land, Leute, Kinder, und was sie haben in einer wunderbaren Suite folgen." 184 Der Gegenschlag erfolgte unter Graf Friedrich Anton Ulrich. Einige Gründe für den Umschwung lassen sich punktuell verdeutlichen. Man furchtet einen Bruch der kirchlichen und ständischen Ordnung: Handwerker und Bauern behalten während des Gottesdienstes in der Korbacher Kirche die Mützen auf 185 ; der Informator in Stift Schaken, Junker, und der Stiftsverwalter, Grünewald, heiraten adlige Damen, Junker sogar eine Schwester des regierenden Grafen Friedrich Anton Ulrich 186 ; und Ο. H. Becker soll zu diesen Vorgängen gesagt haben, daß vor Gott alle Menschen gleich seien 187 . Im Verlaufe dieser Unruhen versicherten die Landstände den Grafen ihrer Unterstützung gegen den Pietismus 188 , so daß nun der Graf, die orthodoxe Geistlichkeit und die Landstände gemeinsam gegen die neue Bewegung standen. Das Ergebnis dieser Koalition war das antipietistische Edikt 189 . Anders als in Brandenburg-Preußen hatte der Pietismus in Waldeck bereits im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts die Unterstützung durch den regierenden Herrscher verloren. Die Folge war seine Niederlage. Damit 182 183 184

185 186

Vgl. W. Irmer, 4 2 - 5 6 . H. Schneider, 140. BEBr, 5 (Böhme an Gräfin [Johanna] von Waldeck, Arolsen, 19. März 1700). H P W i

2 3 f.

Ebd. 39 f. 1 87 Ebd. 40. iss HPW: Anlage, 243 f. i 8 9 Ebd. 295-300.

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waren zugleich die - zunächst allerdings nur vermuteten - staats- und kirchenpolitischen Vorhaben Graf Christian Ludwigs abgebrochen. Das Alte hatte sich gegen das Neue noch einmal behauptet.

b) Separatismus

und Enthusiasmus

Berleburg

und

in

Laubach,

Biesterfeld

Es ist nun noch die Frage zu behandeln, warum der pietistische Anlauf, den Böhme in den Jahren 1699/1700 genommen hatte, gestoppt werden konnte, obwohl der Landesherr das Unternehmen unterstützte. Oben ist die Vermutung geäußert worden, daß der Widerstand aus den verbündeten Lagern der Landstände und der Orthodoxie so stark war, daß der Grafsich gegen sie nicht durchsetzen konnte. Zu diesem Argument tritt noch die Tatsache hinzu, daß Vertreter des Pietismus ihre Bewegung auf eine Weise bloßstellten, die der Graf in den Extremen nicht verteidigen wollte und konnte. Die spiritualistische, separatistische Komponente im Denken Böhmes allein ist schon ein Beweis dafür. Verstärkt wurde der Hinweis auf die Gefahren der neuen Bewegung durch die dem pietistischen Streit in der Grafschaft Waldeck gleichzeitigen Vorgänge in Laubach, Berleburg und Biesterfeld. Der Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen ist nicht nachträglich konstruiert, sondern war bereits den Zeitgenossen bekannt. Die von der Historia Pietistica Waldeccensis betonte Verbindung zwischen Böhme und Peter Leidning weist ζ. B. darauf hin 190 . Auch Ο. H. Becker wird der Umgang mit Schwarmgeistern vorgeworfen, so daß er sich dagegen verteidigen mußte, „daß Schwartzenau-Berleburg- und Wittgensteinische Consort e n . . . jemals in solchen seinen Bethstunden oder Übungen gewesen seyn". In diesem Zusammenhang fallen die Namen von König, Bautner, Hochmann, Hoffmann, Castel, Pündtner und Aschoff 191 . Die Benutzung von Akten aus dem Gräflich Wittgensteinschen und dem Gräflich Berleburgischen Archiv durch das Responsum Theologicum undjuridicum der Wittenberger Universität belegt denselben Tatbestand 192 . Zwar bezieht sich die Mehrzahl dieser Hinweise auf die Zeit nach Böhmes Ausweisung aus der Grafschaft Waldeck, doch unterstreicht der Hinweis aufJ. Ph. Marquard und die Laubacher Vorgänge, den J. Kleinschmidt in der Widerlegung Böhmes von 1700 gibt, daß die Beziehungen schon zur Zeit Böhmes bestanden 193 . Der Strom der Informationen warjedoch nicht einseitig. Was in Waldeck vorging, wurde in den anderen Grafschaften ebenfalls verfolgt. So ist auch eine Abschrift des Verhörs Böhmes in das Archiv des Fürstlich- und GräflichYsenburgischen Gesamthauses zu Büdingen gelangt 194 . 190 H P W > 191 192 193 194

Ο. H. Becker, 45. Responsum Theologicum undjuridicum . . . , 1715, Vorrede, 10. J. Kleinschmidt u. a.: Widerlegung (HPW: Anlage, 70.72). Veröffentlicht von W. Bender, 68-81.

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Ein eindrückliches Bild von den enthusiastischen Vorgängen in Laubach, Berleburg und Biesterfeld hat H. Renkewitz in seiner Darstellung über Hochmann von Hochenau gegeben 195 , auf die der Vergleich sich weitgehend stützen kann. Dabei kommt es hier nicht auf eine detaillierte Darstellung der Ereignisse an, sondern auf die Herausstellung einiger Parallelen, die Böhmes theologische Position von 1699/1700 und die Bedeutung der Auseinandersetzung in Waldeck zu verdeutlichen vermögen. Interessant ist schon die Überschrift, unter der Renkewitz die Laubacher Vorgänge darstellt: „Der erste Ansturm auf die Kirche und auf die Gesellschaftsordnung in Laubach 1699—1700." Der kirchenpolitische und der politische Akzent erscheinen in einer zusammenfassenden Formulierung. Sie gründet sich aufJ. C. Dippels Forderung, daß das von der Obrigkeit eingesetzte geistliche Amt durch das .„geistliche Priestertum' wiedergeborener Christen" ersetzt werden müsse 196 . Als erstes wird die Kritik an der bestehenden Kirche sichtbar. Die beiden 1699 nach Laubach zugewanderten Handwerker Johann Conrad und Martin Schäfer äußerten sich dazu in einem Verhör: Luther hätte den Gebrauch der Sakramente nicht zur Pflicht gemacht, sondern ihn freigegeben. Die Kindertaufe sei ζ. B. nicht notwendig. Die Abendmahlspraxis der Kirche sei ihnen anstößig, weil alle ohne Unterschied zugelassen werden. „Sie bevorzugten statt dessen die Gemeinschaft der Kinder Gottes, wo alle, die den Geist haben, lehren können . . . ,Sie hätten die Kirche innerlich in sich, die äußerliche sey nirgends geboten.'" 1 9 7 Ihre Anschauungen wurden durch den Separatisten Balthasar Klopfer wirkungsvoll vertreten, so daß auch der Laubacher Hofprediger Johann Philipp Marquard unter ihren Einfluß geriet 198 . „Er selbst bekennt sich noch zur äußerlichen Konfession, der sog. lutherischen Religion, aber es kommt allein darauf an, Jesum im Herzen zu haben, und die lutherische Religion ist keinesfalls die alleinseligmachende." 199 Gegen solche Gruppierungen und Äußerungen traten theologische und politische Gegenkräfte auf den Plan 200 . Mitten in dem entstehenden Streite, „ - am 11./21. Februar [1700] - geschah nun das Außerordentliche, daß Magister Marquard sein Pfarramt niederlegte". Er führte diese Entschei195 H. Renkewitz: Hochmann von Hochenau (1670-1721): Quellenstudien zur Geschichte des Pietismus, 4 4 - 1 7 8 . 196 Ebd. 44. 197 Ebd. 58f.; vgl. auch W. Bender, 53f. 198 H. Renkewitz, 5 9 - 6 1 . 6 2 - 6 5 . - Z u J. Ph. Marquard vgl. auch K. Bohn: Beiträge zu der Geschichte des alten Pietismus im Solms-Laubacher Land. In: Ich dien: Festgabe zum 60. Geburtstage von Wilhelm Diehl, 1931, 155. - Der Aufsatz von K. Scheig: Die Wetterauer Inspirantenbewegung: ihre Entwicklung und Bedeutung. In: Aus Theologie und Kirche: Beiträge kurhessischer Pfarrer als Festgabe zum 60. Geburtstag von Professor D. Hans Freiherr von Soden (Beiträge zur Evangelischen Theologie, 6), München 1941, 7 3 - 1 0 6 trägt fur die hier behandelte Fragestellung nichts aus. i " H. Renkewitz, 65 f. Ebd. 6 5 - 7 6 .

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dung auf eine göttliche Anweisung zurück und schied von der Kirche als „von dem eusserlichen kirchwesen, ja von dem kirchenzwang, da man den geist der freyheit nicht herschen läst, sondern alles in gewisse Satzungen einschrenckt, denen man nachleben soll vnd muß, es sey des H. geistes trieb vnd krafft da, oder n i c h t . . . Der Herr hat mir die äugen geöffnet vndt mich alle greuel im kirchwesen vnd die schreckliche mißbräuche unter lehrern vnd Zuhörern, bey tauffen, predigen, absolviren, abendmahl halten, die auch nicht abzusondern sind, so lang die lehrer nicht die völlige Salbung vnd den geist der prüffung haben, ein sehen lassen, auch durch innerliche vnd eusserliche starcke Überzeugungen, die mir von gott bekannt sind, mich ergriffen, daß ich nicht länger unter dem zwang stehen können." 2 0 1 Mit diesem Schritt Marquards war allerdings der Höhepunkt der Bewegung am Solms-Laubacher Hof überschritten. Graf Friedrich Ernst, der persönlich eine pietistische Haltung vertrat, setzte die Autorität der Obrigkeit gegen die Separatisten wieder durch. „Die freiere Stellung der Laubacher Schloßecclesiola ist als das Hauptergebnis des Sturmes anzusehen. " 202 Ihr Geistlicher blieb Marquard als Hofprediger der Gräfinmutter Benigna 203 . Bei einem Vergleich der Aussagen von Conrad, Schäfer und Marquard mit den Formulierungen, die Böhme nach seinem Verhör unterzeichnet hat, fallen die Parallelen in die Augen: die Kindertaufe, das Abendmahl, das Kirchgehen, die Rolle des Amtes, die Zugehörigkeit zu einer Konfession und die Notwendigkeit der subjektiven Geisterfahrung werden gleich bewertet. Und die Rolle, die bei Marquard der Verzicht auf die Ausübung des Pfarramtes spielt, vertritt bei Böhme, wie sich später zeigen wird, die Scheu, ein Pfarramt mit Sakramentsverwaltung zu übernehmen. Interessant wäre es auch, das Gutachten der Frankfurter Geistlichkeit gegen die Laubacher Vorgänge vom 10. Februar 1700 mit dem zu vergleichen, das sie gegen Böhme verfaßt hat 204 . Beide könnten inhaltlich weitgehend übereinstimmen. Wenn Renkewitz den Abschnitt, in dem er Marquards Austritt aus der Kirche schildert, unter die Uberschrift stellt „Der Ubergang vom Enthusiasmus zum Separatismus" 205 , dann kann aufgrund der Parallelen in den Anschauungen von Marquard und Böhme daraufgeschlossen werden, wo die orthodoxe Partei in Waldeck Böhme theologisch - mit Recht beheimatet sehen konnte. Als die Bewegung in Laubach Anfang Februar 1700 ihrem Höhepunkt 201

Zitiert nach H. Renkewitz, 75; vgl. auch W. Bender, 59—61 (Renunciatio M. Marquards geschehen den 11. Febr. 1700 in der Kirch vor dem Puldt). 202 H. Renkewitz, 80. 203 K. Bohn, 153-155. 204 Gutachten des Frankfurter Seniors und der ev. Prediger daselbst, 1700 Januar 10. (H. Renkewitz, 75, Anm. 109). - H P W : Anlage, 7 3 - 9 4 . 205 H. Renkewitz, 77.

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zutrieb, befand sich Hochmann inmitten anderer Ereignisse in Berleburg 206 , wo in der Zeit von Oktober 1699 bis Ende April 1700 „der Enthusiasmus in der Grafschaft seine größte Zeit hatte". Wie Renkewitz herausgearbeitet hat, ist diese Bewegung wesentlich durch Samuel König und Hochmann bestimmt worden, die ihrerseits wiederum durch Heinrich Horche literarisch beeinflußt worden sind. Ihr Ziel war, das „Privileg der Geistlichen auf Wortverkündigung" zu brechen 207 und ein neues melchisedekisches Priestertum einzusetzen 208 . Für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist einmal von Interesse, daß die Einsegnung der neuen Priester in ekstatisch-enthusiastischen Versammlungen im April 1700 vor sich ging 209 . Böhme hat zur Frage des Enthusiasmus ausfuhrlich Stellung bezogen 210 . Z u m andern läßt aufhorchen, daß in der Liste der neuen Priester und der Gläubigen an andern Orten, für die in dem von Berleburg ausgehenden Kreis bruderschaftlich verbundener Gemeinden 211 Fürbitte geleistet wurde, sich auch Namen aus der Grafschaft Waldeck befanden. In der von Renkewitz zusammengestellten Reihe fallen auf: „die Äbtissin und Gräfin Eleonore von Waldeck; der Pfarrer Böhm zu Arolsen; das ,Haus Obed Edom zu Pyrmont'; Mirjam, Böhms Schwester" 212 . Während das Haus „Obed Edom" nicht zu identifizieren ist, handelt es sich bei der Gräfin Eleonore um dieselbe, die Böhme in seinem Brief vom 20. Dezember 1697 an Α. H. Francke „unsere liebe Gräffin Eleonore" nennt 213 . Der „Pfarrer Böhm zu Arolsen" kann nur Anton Wilhelm Böhme sein, weil kein Pfarrer gleichen Namens zu dieser Zeit in Arolsen bekannt ist 214 . Bei „Mirjam, Böhms Schwester", handelt es sich vermutlich um Böhmes Schwester Anna Elisabeth Böhme, deren Name in Böhmes Briefwechsel vorkommt 2 1 5 . Vielleicht ist es dieselbe Schwester, an die Böhme später einmal schrieb, sie möge von ihren Reisen ablassen und ihre Seligkeit in der Stille suchen. Doch ist das unsicher 216 . Ihr Nebenname „Mirjam" ist aus der Übung der „philadelphischen Gemeinden", die sich um Berleburg scharten, leicht erklärbar: Einsegnung und Namengebung gehörten zu ih-

Ebd. 78, Anm. 116. ° Ebd. 91 f. 2 °8 Ebd. 9 4 - 9 6 . 209 Vgl. den ausführlichen Bericht ebd. 117-126. 210 Vgl. vorliegende Arbeit, S. 9 6 - 1 0 0 . 211 Vgl. H. Renkewitz, 97 f. 122f. 212 Ebd. 123, Anm. 103. 213 AFSt C 229: 5; vgl. vorliegende Arbeit, S. 73. 214 Vgl. Evangelische Geistliche in Pyrmont seit der Reformation bis auf die neueste Zeit. In: Beiträge zur Geschichte der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont, Bd. 3, 1871, 158—165. 215 Vgl. AFSt A 166: 15 (Böhme an seine Schwester Anna Elisabeth Böhme in Osdorf, London, 14. August s.v. 1703). O b Anna Elisabeth dieselbe Schwester ist, an die die Briefe „An des Autoris Schwester" in BEBr gerichtet sind, ist nicht auszumachen. Es wäre auch die oben im Text im Anschluß an diese Anmerkung gemachte Konstruktion möglich. 216 BEBr, 6 (Nr. 4) (Böhme „An des Autoris Schwester", London, 30. März s. v. 1702). 2 7

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rem Brauch 217 . Der Name zeigt, daß sie die Segnung empfangen hatte und vermutlich in einem geistlich intimeren Verhältnis zu der Gruppe um Hochmann gestanden hat als ihr Bruder. An dieser Stelle mag gleich hinzugesetzt werden, daß die separatistische Neigung in der Familie „Böhme" sich mindestens bis in das Jahr 1712 fortgesetzt hat. In Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Historia Pietistica Waldeccensis war auch der dem kirchlichen Pietismus zuzurechnende Magister Johann Philipp Seip 218 aufgefordert worden, über „die im Pyrmontischen sich bishero befindlichen Sakramentsverächter und Separatisten" zu berichten 219 . Er tat das unter dem 1. November 1712 und wies daraufhin, „daß Georg. Cunaeus Med. Doct. daselbst [in Pyrmont] wohnhafft nebst seinen Hauß-Genossen / Anthon Böhmens / Pastoris, nachgelassenen Wittib und Töchtern in vielen Jahren zum Heiligen Abendmahl nicht gegangen / aus Vorwand einiger Gewissens-Scrupeln" 220 . Mit dieser Praxis seiner Angehörigen soll Böhme nicht belastet werden. Aber die Tatsache des Vorhandenseins separatistischer Neigungen um 1712 kann einen Hinweis auf die Tiefe des Eindrucks vermitteln, den die Berleburgischen Separatisten im Waldeckischen hinterlassen hatten. Und festzuhalten ist, daß Böhme auch zu ihrem bruderschaftlichen Kreis gehörte. Diese Beobachtung zeichnet ein Stück seiner theologischen Haltung - oder doch theologischen Neigung - und erklärt auch das harte Urteil der Orthodoxie über ihn. In Biesterfeld hatte Hochmann in Graf Rudolf Ferdinand von der LippeBiesterfeld einen treuen und opferfreudigen Gefolgsmann gefunden 221 , der dem enthusiastischen Wesen in sich selbst und auf seinem Besitze Raum gab. Unter dem Gesichtspunkt der geographischen Verquickung des Separatismus und Enthusiasmus in den Herrschaftsgebieten der Mitglieder des Wetterauer Grafenkollegiums ist der Hinweis zu nennen, daß an einer Versammlung am 17. Juni 1700 in Biesterfeld auch Leute aus Osdorf (Pyrmont) teilnahmen 222 . Einige der Versammlungsteilnehmer wurden gefangengenommen. Das Verhör erbrachte die Beschuldigungen, „daß sie das Predigtamt verachteten", die öffentlichen Zusammenkünfte verwürfen, Taufe und Abendmahl fur unnötig hielten, die christliche Ordnung und den äußerlichen Gottesdienst für Baalswerk erklärten, keine andere christliche Gemeinde außer der, die sie für eine Gemeinschaft wahrer Kinder 217

Vgl. H. Renkewitz, 97. Über ihn vgl. A. Seip von Engelbrecht: Mag. Johann Philipp Seip. In: Geschichtsblätter für Waldeck und Pyrmont 37 (1937), 1 2 - 2 0 . 219 Responsum Theologicum undjuridicum . . . : Anhang, 41. 220 Responsum Theologicum u n d j u r i d i c u m . . ., 146. - Zu Georg Cunaeus vgl. auch A. Seip von Engelbrecht, 16f.; AFSt C 229: 5 (Böhme an Α. H. Francke, Arolsen, 20. Dezember 1697). 221 H. Renkewitz, 153-178. 222 Ebd. 158. 218

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Gottes hielten und die zu ihrer .Bruderschaft' gehöre, anerkennten und endlich der Obrigkeit alle Macht in kirchlichen Dingen versagten 223 . Die Mehrzahl dieser Aussagen ist auch aus dem Verhör Böhmes bekannt. Das Umfeld seines Denkens und seine „theologische Gruppenzugehörigkeit", d. h. die kirchenkritischen und separatistischen Elemente seines Denkens auf der Grundlage der persönlichen Geisterfahrung, sind durch die parallelen Ereignisse in Laubach, Berleburg und Biesterfeld verdeutlicht worden. Zugleich wurde auch sichtbar, daß Graf Christian Ludwig von Waldeck gar nicht anders konnte, als auf die Vorwürfe der Orthodoxie gegen Böhme einzugehen. Die sachlich gravierenden Anschuldigungen, das die kirchliche Ordnung bedrohende Verhalten der Pietisten/Separatisten bewegten ihn ebenso wie seine Nachbarn Graf Friedrich Ernst von Solms-Laubach 224 , Graf Rudolph zur Lippe-Brake, der die vormundschaftliche Regierung über den berleburgischen Teil der Grafschaft Wittgenstein führte 225 , und Graf Friedrich Adolf von Lippe-Detmold, zu dem Versuch, die separatistische Bewegung in den Raum der kirchlichen Autorität zurückzudrängen 226 .

5. Die theologische Position Anton Wilhelm Böhmes nach seiner Ausweisung aus der Grafschaft Waldeck a) Seine Stellung zu den

Enthusiasten

Der Ausweisungsbefehl an Böhme erstreckte sich auf die Grafschaften Waldeck und Pyrmont 2 2 7 , die beide der Herrschaft Graf Christian Ludwigs unterstanden 228 . Wo sich Böhme bis zum Beginn seiner nächsten Lebensetappe, die ihn nach England führte, überall aufgehalten haben mag, ist nicht eindeutig auszumachen. Doch scheint das Aufenthaltsverbot für Waldeck/Pyrmont nicht konsequent durchgeführt worden zu sein; denn es sind drei Briefe von August/September 1700 überliefert, die er aus seiner Heimat Pyrmont geschrieben hat 229 . In einem von ihnen berichtet er auch, daß der Graf „sich fast vergnügt bezeuget haben" soll, als er von seinem Aufenthalt erfuhr, und das auch einigen der Widersacher Böhmes deutlich zu erkennen gegeben habe 230 . 223

Ebd. 160. Ebd. 70-85. 225 Ebd. 90.132-146. 226 Ebd. 152 f. 160. 227 Vgl. vorliegende Arbeit, S. 79f. 228 Vgl ψ Irmer: Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck, 12. 229 AFSt C 229: 75 (Böhme an Α. H. Francke, Pyrmont, 31. August 1700); C 229: 6 (Böhme an Α. H. Francke, Pyrmont, 1. September 1700); C 229: 85 (Böhme an H. J. Elers, Pyrmont, 20. September 1700). 230 AFSt C 229: 85 (Böhme an H. J. Elers, Pyrmont, 20. September 1700). 224

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Im Blick auf seine Theologie zeigen die Briefe eine gewisse vorsichtige Abgrenzung gegenüber dem Enthusiasmus. In der Zeit zwischen Frühling und Sommer 1700 ist Böhme in Halle gewesen 231 . Er hat dort mit Α. H. Francke über seinen Prozeß und ein Gutachten der Theologischen Fakultät zu seinen Gunsten gesprochen 232 und dabei auch, es kann in einem solchen Falle gar nicht anders sein, den gesamten Komplex seiner Theologie berührt und vielleicht auch manche Korrektur erfahren. W. Irmer jedenfalls deutet so etwas an, ohne allerdings einen Beleg dafür zu nennen 233 . Den Quellen nach scheint sich Francke mit Böhme in weitgehender Übereinstimmung gefunden zu haben, so daß er ihm auftrug - oder war das vielleicht nur eine geschickte pädagogische Maßnahme - , nach seiner Rückkehr einen Bericht über den Enthusiasmus nach Halle zu senden. Dieser „Aufsatz" ist leider nicht erhalten. In dem begleitenden Briefe stellt Böhme ihn Francke auch zur Veröffentlichung anheim und vollzieht eine Abkehr von den Auswüchsen des Enthusiasmus, d. h. vor allem von dem mit aller Kraft erzwungenen Geschrei und Gebet und den körperlichen Äußerungen. Die Bemerkung, daß die Anhänger dieser Bewegung durch ihre Heftigkeit sich gleichsam vermauern, so „daß die Welt nicht zu ihnen, noch sie zu der Welt kommen können", deutet auf seine Übereinstimmung mit dem inneren, dem geistlichen Anliegen der Bewegung hin 234 . Es fällt, das kann festgehalten werden, keine kritische Bemerkung über die theologische Begründung des Enthusiasmus, wie sie etwa in der Verhältnisbestimmung von Geist und Schrift hätte vollzogen werden können. In diesem, die enthusiastischen Auswüchse abwehrenden Sinne, ist Böhme nach seiner Rückkehr nach Pyrmont auch abklärend tätig gewesen. So kann er am 20. September 1700 an H. J. Elers berichten, daß die enthusiastischen Eiferer Pyrmont verlassen hätten, bis auf Peter Leidning, den Schuster, den er selbst aber „durch Vielfältige Vorstellungen zu einiger Nüchternheit wiedergebracht" hätte. Aber wiederum ist die Formulierung sehr zurückhaltend, wenn Böhme die Worte Leidnings selbst aufnimmt und von einem „unvorsichtigen Gebrauch seiner Gaben" spricht, wodurch „dem Reich Christi wenig Erneuerung" geschehen sei235. Leider läßt der schmale Quellenhintergrund keine eindeutigere Aussage zu. Größere Klarheit wäre auch für eine genauere Kenntnis von Franckes Position wünschenswert: „Wir wissen nicht, wie sich August Hermann Francke stellte. " 236 Von Spener dagegen erfahren wir, daß er sich gegen den laubachschen und berleburgischen Enthusiasmus entschieden abgegrenzt 231

AFSt C 229: 75 (Böhme an Α. H. Francke, Pyrmont, 31. August 1700) „bey meinem Da-seyn". 232 Ebd. 233 W. Irmer, 41. 234 AFSt C 229: 75 (Böhme an Α. H. Francke, Pyrmont, 31. August 1700). 235 AFSt C 229: 85 (Böhme an H. J. Elers, Pyrmont, 20. September 1700). 236 H. Renkewitz, 129.

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hat. Seine Lebenserfahrung fuhrt ihn zu der Überzeugung, den Glauben auf den ordentlichen Dingen zu begründen und die außerordentlichen solange für Versuchungen zu halten, „biß alles unwidersprechlich göttlich zu seyn dargethan ist". Die extraordinären Ereignisse der letzten 30 Jahre hätten alle keinen Bestand gehabt 2 3 7 . So klar hat sich B ö h m e nicht geäußert. Vermutlich wäre Speners Aussage auch ihm als ein Korrektiv entgegenzuhalten. Doch entdeckt er in dieser Zeit noch ein Geheimnis seines Innern, das u m so aussagekräftiger ist, als es sich dabei nicht u m irgendeine abgeforderte Aussage handelt, sondern u m ein freies, ganz persönliches Bekenntnis. Nach seinem schon erwähnten Besuch in Halle im Frühling/Sommer 1700 238 bewegten B ö h m e die unterschiedlichen Urteile über das Waisenhaus in Halle, die ihm auf seiner Reise zu Ohren gekommen waren, Α. H. Francke aufzufordern, einen wahrhaftigen Bericht über die Anstalten zu veröffentlichen, u m dadurch alle Mißverständnisse auszuräumen. Die Begründung dieses Antrags an Halle wurde in seiner Feder zu einer ausfuhrlichen Darstellung seines christlichen Gemeinschaftsverständnisses 2 3 9 . B ö h m e hatte auf seiner Reise erkennen müssen, daß auch Anhänger des Pietismus den Zweck und den Nutzen des Waisenhauses nicht immer richtig verstanden hatten. Dadurch sah er die Gefahr von Mißverständnissen auch unter den Kindern Gottes gegeben, die sich jedoch nicht zerstreiten, sondern „in einem Sinn das rechtschaffene Wesen befordern . . . wollen und sollen". U n d dann zählt er in sechs Punkten Gründe für mögliche „Collisiones, Mißverständnisse, Argwöhne etc." auf, die dadurch entstehen, daß jemand seine geistliche Erfahrung in Bekehrung, Einsicht, Lebensführung usw. auch für andere Christen zur Regel machen und sie ihnen aufzwingen will und sich nicht durch die Liebe die Relativität seines eigenen Standpunktes vor Augen führt. In eindrücklicher Weise wird die paulinische Darstellung der Ämtervielfalt (1. Korinther 12 und 14) auf die Fülle der geistlichen Gaben und die ihnen entsprechenden Lebensweisen in der pietistischen Gemeinde übertragen: Es gibt eine bestimmte Ordnung der Bekehrung - aber eben auch eine andere Ökonomie Gottes für andere Menschen; es gibt ein kritisches Durchschauen des Verderbens in allen Ständen und in der Kirche, das zur Absonderung führt - aber eben auch die Gegenwart Gottes „mitten in dem Verfall" mit dem Auftrag an Menschen, Gott in der Kirche zu dienen; es gibt den Dienst Gottes in der verfaßten Kirche aber eben auch die Möglichkeit, in Stille und Verborgenheit durch das Gebet den K a m p f der Kirche mitzutragen; es gibt den heftigen Eifer für das 2 3 7 Zitiert aus Speners Briefen nach J. H. Callenberg: Neueste Kirchenhistorie von 1689 an. A F S t F 30g (1698-1700), 4 8 9 a - 4 8 9 b ; vgl. auch insgesamt ebd. 4 8 7 a - 4 9 0 b . - H. Renkewitz, 127 f. 2 3 8 Vgl. oben A n m . 231. 2 3 9 AFSt C 229: 6 ( B ö h m e an Α. H. Francke, Pyrmont, 1. September 1700). Dieser Brief ist auch für die folgenden Ausführungen heranzuziehen.

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Werk des Herrn — aber eben auch den sanften Liebeseifer „in einer süssen Temperature", usw. Manches von dem, was Böhme an der herangezogenen Briefstelle formuliert hat, scheint wie eine Selbstkorrektur seines eifernden Verhaltens in der Grafschaft Waldeck zu klingen. Sicher hält er sich mit diesen Worten auch selbst einen Spiegel vor. Diese kritische Selbstbeobachtung ist jedoch begrenzt. Die Front gegenüber der Orthodoxie wird nicht erweicht. Denn gegen „das falsche Maul-Christenthum" muß geeifert werden, die „Kriege des Herrn" sollen gefuhrt werden. Dazu muß die Phalanx der Kinder Gottes gegen die Macht der Finsternis fest zusammenhalten und sich nicht durch unnütze Reibereien untereinander schwächen. Daher ist es notwendig, daß „sie sich in gemeinschafftlicher Liebe vergliedern und verbünden". Bei der Beschreibung dieses Zieles gewinnt Böhmes Sprache eine h y m nische Form. Die Stelle ist so interessant, daß sie hier ausführlicher wiedergegeben werden soll: „Der Herr aber lasse alles zu mehrerer Verherrlichung seines Nahmens und Erweiterung seines Reichs gedeien, und lasse zu dieser kümmerlichen Zeit, die Zerstreueten und ungleichen Steine, die an dem Neuen Tempel sollen zusammengefuget werden, bald in eine heilige Liebes-Fuge geordnet werden! Er gebe den Geist der Einigkeit in aller Hertzen, auff daß durch dessen Liebes-Zucht wir alle zu einerley Glauben auffsteigen und dadurch alle Sayten durch welche das neue Lied angestimmet und gespilet werden soll, in eine süsse Harmonie gesetzet werden! Die zu hoch gehen, die lasse er einsehen die heilige Oeconomie dieser Zeit, auff daß sie gelindere Sayten auffziehen, und nicht nur im Geist der Krafft, sondern auch der Liebe und der Zucht (σωφρονισμού) einhergehen, u m b einem jeden das Seine zu rechter Zeit alß kluge Hauß-halter darzureichen: Die aber zu nidrig gehen, die wolle er selbst so stimmen und stellen, daß sie mit der auffgehenden kleinen Krafft getreu seyn, auff daß sie weder durch Menschenfurcht // [6 1] noch unordentliche Menschen-Gefälligkeit ihre Krafft und Erkentniß verbergen, und sich einer grössern Gnade unfähig machen." Diese Ausführungen Böhmes lassen drei wichtige Stichworte bzw. Vorstellungen seines Denkens erkennen: Harmonie 240 , Vielfalt des Wirkens Gottes, Liebe. Wenn sie geordnet werden, ordnet sich auch sein Verhalten in denjahren 1699/1700: Gott wirkt durch seinen Geist auf vielfältige Weise in den Menschen, wodurch der Mensch auch zu persönlicher Freiheit von den kirchlichen Ordnungen, d. h. zur Betonung separatistischer Elemente oder zum Separatismus geführt werden kann. Es gilt, „daß ein jeder in seinem Theil und Beruff der Führung Gottes Wohl warnehme, und derselben ohne Beurtheilung eines andern von Hertzen gehorsam werde". Die 240

Das Stichwort „Harmonie" fällt ebenfalls AFSt C 229: 85 (Böhme an H. J. Elers, Pyrmont, 20. September 1700).

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Liebe befähigt den Menschen, sich als Teil an einem Bauwerk zu verstehen und sein Verhalten der gemeinsamen Auferbauung einzuordnen. Sie beschneidet den Subjektivismus und fuhrt zur Abwehr enthusiastischer Auswüchse. Sie ist also die Ursache dafür, daß die Vielfalt der Wirkungen Gottes in den Leben der verschiedenen Menschen sich zu einer Harmonie zusammenschließt, die allerdings nicht ästhetischen Kriterien unterliegt, sondern vielmehr aktivistischen; denn diese Harmonie ist zugleich vereinte Kraft gegen das Reich der Finsternis und fur das Reich Christi.

b) Übersetzung mystischer Schriften: Katharina von Genua und Peter Poiret

Böhme hat für den Christen die Freiheit des „Auszugs" aus der verfaßten Kirche postuliert und für sich selbst teilweise in Anspruch genommen. Doch braucht der Mensch auch eine feste Bindung auf dieser Erde. Dieser Bezugspunkt war für ihn Α. H. Francke und dessen Werk in Halle. Die Briefe aus Wierborn und Arolsen hatten seinen tätigen Einsatz für die halleschen Anstalten gezeigt. Sein Versuch, zur Aufklärung über sie und damit zum Abbau von Mißverständnissen beizutragen, beweist seine persönliche Einbindung in die halleschen Angelegenheiten. Der Brief vom 1. September 1700 mit der diesbezüglichen Aufforderung an Α. H. Francke und der Überstellung eines 13 Punkte umfassenden Fragenkatalogs im Blick auf die Stiftungen 241 fiel in die Zeit, in der Francke nach Abschluß des Streites mit der halleschen Stadtgeistlichkeit sich auf die Visitation des Waisenhauses durch eine Regierungskommission vorbereitete 242 und zu diesem Zwecke auch einen schriftlichen Bericht über die Entstehung und den Nutzen der Anstalten ausarbeitete, aus dem im Jahre 1700 die „Fußstapfen" hervorgingen 243 . Ähnlich wie bei der ersten halleschen Bibelausgabe war Böhme seinem geistigen Engagement nach auch an der Entstehung der halleschen „Fußstapfen" beteiligt. Bei dieser Verbindung zwischen Böhme und „Franckens Stiftungen" nimmt es nicht wunder, daß man sich in Halle auch Gedanken über seine Zukunft machte. Α. H. Francke hatte fiir ihn eine Arbeit in England vorgesehen und mit ihm vielleicht bereits bei seinem Besuch darüber gesprochen. Auf eine (nicht erhaltene) briefliche Aufforderung antwortete Böhme, daß er hoffe, gegen Ende Oktober 1700 in Halle zu sein244. Zwar 241 AFSt C 229: 6 (vgl. Briefanhang der vorliegenden Arbeit). - Vgl. G. Kramer: August Hermann Francke 1, 1880, 214, Anm. 1. 242 Vgl. G. K r a m e r l , 201f.211-215. 243 Vgl. Α. H. Francke: Werke in Auswahl, 30; ders.: Segensvolle Fußstapfen . . . , 1709, 39—46 (Ursachen / Welche zur Edirung gegenwärtiger wahrhaften und umständlichen Nachricht Anlaß gegeben). 244 AFSt C 229: 85 (Böhme an H. J. Elers, Pyrmont, 20. Septemberl700; vgl. Briefanhang der vorliegenden Arbeit).

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verstummt sein Briefwechsel dann für fast ein Jahr, doch ist die Zeitdauer seines Aufenthaltes in Halle ungefähr festzulegen. Denn in dem Verzeichnis der Freitischler der Franckeschen Stiftungen lesen wir: „Anton Wilhelm Böhme, Pyrmontan. Westphalus, accessit. d. 20. Novembr. ann. 1700. dicessit. d. 17 Augusti äo. 1701. " 2 4 5 Die hallesche Tradition schreibt ihm fur die Zeit seines Aufenthaltes die Aufsicht über einen Freitisch zu 2 4 6 . D a diese Pflicht ihn nicht ausfüllte, hat er sich auch mit der Übersetzung mystischer Schriften befaßt. Diese Tätigkeit erstreckte sich bis in das erste Londoner Jahr hinein und bedeutet damit die Übergangsphase von Böhmes deutscher zu seiner englischen Lebensetappe. J . J. Rambach berichtet in der Bibliographie Böhmes: „Es wird ihm auch zugeschrieben eine teutsche Ubersetzung der Hertzens-Theologie, 1702. und der Catharinae von Genua Tr. von dem Liebes-Wege GOttes unter dem Creutz, 1701. . . ," 2 4 7 Die Übersetzung des „Liebes-Weges" 2 4 8 wird durch Böhmes Briefwechsel bestätigt. Er läßt im September 1702 H. J . Elers mitteilen, daß P. Poiret diese Übersetzung gebilligt habe 2 4 9 . Dahinter steht folgender Tatbestand: B ö h m e hatte in der Zeit 1700/1701 den „Göttlichen Liebesweg" der Katharina von Genua aus der französischen Ausgabe P. Poirets übersetzt, so daß das Buch noch 1701 im Verlag des Waisenhauses erscheinen konnte 2 5 0 . Mehrere Exemplare davon hatte er auf seine Reise nach England mitgenommen und unterwegs verteilt, so daß er u m Nachschub bitten mußte. Als er im Oktober 1701 auch Poiret in Rijnsburg besuchte, hat er ihm vermutlich auch ein Exemplar übereignet und in einem nachfolgenden Briefwechsel die Anerkennung seiner Übersetzungsarbeit gefunden 2 5 1 . Während die Übersetzung des „Liebes-Weges" Böhme zugeschrieben werden kann, ist diese Frage bei der „Hertzens-Theologie" nicht so einfach 2 4 5 A F S t D I I a , S. 73. E s handelt sich u m das Verzeichnis der Freitischler 1 6 9 6 - 1 7 0 4 , das den Anfang und das E n d e der Freitischzeit angibt und ζ. T. auch eigenhändige Lebensläufe aufweist. - D i e Matrikel der Martin-Luther-Universität 1 (1690—1730), 40 hat das Eintrittsdatum falsch übernommen: „acc. 20. 10. 1700". - B ö h m e s Freitischzeit wird auch in der halleschen Geschichtsschreibung notiert: Z u m Jahr 1700 heißt es in den A H E : „d. 20. N o v . ward Hr. Anton Wilhelm B ö h m e , Pyrmontanus an den Tisch recipiret und hat den 17. Aug. 1701. valedicirt." (Annales Hallenses ecclesiastici. H g . von K . Aland. In: Ders.: KirchengeschichtlicheEntwürfe, 1960, 616). 2 4 6 Beschreibung des Hallischen Waisenhauses und der übrigen damit verbundenen Frankischen Stiftungen nebst der Geschichte ihres ersten Jahrhunderts, 1799, 177. 2 4 7 RVorr 1,46. 2 4 8 Catharina von Genua: Der Göttliche Liebes-Weeg Unter dem Creutz . . ., Halle / in Verlegung des Wäysen-Hauses 1701. - Ü b e r die Vorlage, die französische Übersetzung Poirets, vgl. M . Wieser: Peter Poiret: der Vater der romanischen Mystik in Deutschland, 1932, 95.336. 2 4 9 A F S t C 229: 80 ( B ö h m e an Α. H . Francke, London, 7. September 1702). 2 5 0 Vgl. A n m . 248. 2 5 1 A F S t A 166: 14 ( B ö h m e an seinen Bruder 0 · C. Böhme], Rotterdam, 29. Oktober 1701); A 193: 12 ( B ö h m e an Η . J . Elers, London, 17. N o v e m b e r 1701).

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zu beantworten. In der Vorrede zum „Liebes-Weg" hat Böhme bemerkt, daß bei entsprechender Nachfrage auch die von Poiret veranstalteten Ausgaben der „Theologie de la Croix" und der „Theologie du Coeur" übersetzt werden sollten 252 . In seinem Briefwechsel spricht Böhme aber immer nur von seiner Übersetzungsarbeit an der „Kreuzestheologie" 253 . Die „Kreuzestheologie" ist jedoch allem Anschein nach nicht in deutscher Sprache erschienen 254 . Das bedeutet, daß Böhmes Übersetzung Manuskript geblieben ist. Dagegen ist die „Theologie du Coeur" im Jahre 1702 in deutscher Übersetzung erschienen. Ein Problem wirft bei dieser Ausgabe allerdings die Angabe des Verlagsortes mit „Franckfurt und Leipzig" auf 255 . In dem Vorbericht an den Leser wird jedoch ausdrücklich auf die Übersetzung des „Liebes-Weges" Bezug genommen: „Wir haben / bey Herausgebung des Göttlichen Liebes-Weges der Catharina von Genua/ versprochen/ mit der Zeit auch die andern Mystischen Werckgen/ so der Hr. Poiret gesammlet und ans Licht gegeben / in teutscher Sprache darzulegen." 256 Das läßt den Schluß zu, daß auch die Übersetzung der „HertzensTheologie" auf Böhme zurückgeht und vermutlich in Halle gedruckt worden ist. Die Bestätigung dafür liefert die Liste der Druckerzeugnisse aus dem Waisenhaus in der englischen Übersetzung der „Fußstapfen" von 1705. Aus Gründen der Tarnung wäre der Verlagsort dann verschleiert worden, ein Verfahren, das in Halle zumindest beim Bibeldruck auch in Erwägung gezogen worden ist 257 . Wenn dabei vorausgesetzt wird, daß Böhme die Übersetzung der „Hertzens-Theologie" noch während seines Aufenthaltes in Halle erstellt hat, wäre auch erklärt, warum sie im Briefwechsel nicht mehr erwähnt wird. Neben dem bibliographischen Interesse, das die Frage nach den Übersetzungen Böhmes finden kann, ist sie auch von biographischem und theologie- und geistesgeschichtlichem Belang, insofern sie auf Böhmes geistige Verwurzelung hinweist. In Krisensituationen wendet sich ein Mensch Dingen zu, für die er eine innere Affinität besitzt, so daß Kontakt und Bestätigung direkt möglich sind. Böhmes Übersetzungstätigkeit mystischer Schriften nach seiner Vertreibung aus Arolsen bis in die Zeit hinein, in der 252

Catharina von Genua: Der Göttliche Liebes-Weeg: Vorbericht, 25 f. AFSt C 229: 80 (Böhme an Α. H. Francke, London, 7. September 1702); A 193: 12 (Böhme an H. J. Elers, London, 17. November 1701). 254 Vgl. M. Wieser, 336. 255 Hertzens-Theologie . . . (2 Teile), Franckfurt und Leipzig /1702. 256 Ebd.: Vorbericht, l f . 257 Α. H. Francke: Pietas Hallensis . . ., 1705, XL VI: The Heart-Theology, or a Collection of some Mystical Pieces. Done out of Mr. Poirets French Edition. - Z u r Frage der Verschleierung des Druckortes vgl. Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke. Hg. von Peter Schicketanz, 1972, 562f. (Nr. 567). - Wie aufmerksam Gegner des halleschen Pietismus die Drucke mystischer Schriften in der Waisenhausdruckerei verfolgten, zeigt die Bezugnahme J. F. Mayers (vgl. Α. H. Francke: Gründliche und Gewissenhaffte Verantwortung . . ., 1707. In: Α. H. Francke: Streitschriften. Hg. von E. Peschke, 1981, 291-355). 253

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er in London heimisch zu werden versuchte, hat wohl auch eine solche Bestätigungsfunktion gehabt. Es darf bereits von dieser rein formalen Seite her geschlossen werden, daß die Mystik ein wichtiges Element seines Denkens bedeutet. Die direkten inhaltlichen Bezugnahmen Böhmes sind verhältnismäßig gering. Er macht .eine Einschränkung gegenüber den Mystikern, wenn er daraufhinweist, daß „deren Expressiones aber bey jeder Gelegenheit nicht allemal dörffen gebrauchet werden" 2 5 8 . Aber gerade durch die Einschränkung wird der positive Bezug betont: Zwar ist gegenüber der Begriffswahl der Mystiker Vorsicht geboten; im Inhalt der Aussage besteht jedoch Übereinstimmung. Einige Beobachtungen bestätigen diesen Schluß. B ö h m e ist von Poiret fasziniert. Er bestaunt die „ungemeine Mystiqve Bibliotheqve". Poiret gilt ihm als „ein tieffer Mysticus", und er fühlt sich mit ihm einig und bestätigt in der Verurteilung der „heutigen Bewegungen". Er berichtet an seinen Bruder, Poiret hätte ihm gesagt, „Demuth sey die edelste Gabe, die wir von Christo zu erbitten hätten, die Sinnlichkeit aber nicht zubegehren, weil sich viel frembde Geister neben eindrängen" 2 5 9 . Man kann hier den Z u s a m menklang mit bereits ausgeführten Grundzügen der Theologie Böhmes und mit seiner Verurteilung der Auswüchse des Enthusiasmus förmlich spüren. B ö h m e konnte aber auch auf anderen Gebieten die Übereinstimmung mit Poiret empfinden, etwa in dem Verständnis von Kirche und Konfession. Es ist zu vermuten, daß er Poirets „Irenicum Universale" 2 6 0 kannte. Der Inhalt dieser Schrift soll hier kurz durch ein Zitat von S. Cramer 2 6 1 mit Ergänzung der Quellenbelege wiedergegeben werden: Poirets „Irenicum Universale" „bezweckt keineswegs ein Zusammengehen, ebensowenig eine Mischung der Eigentümlichkeiten der verschiedenen Konfessionen: sie sieht vielmehr von allen Konfessionen gänzlich ab 2 6 2 . In allen Kirchen

AFSt C 229: 80 (Böhme an Α. H. Francke, London, 7. September 1702). AFSt A 166: 14 (Böhme an seinen Bruder [J. C. Böhme], Rotterdam, 29. Oktober 1701). - Im Kampf gegen den Enthusiasmus konnte Böhme auch bei den Mystikern Anleihen machen. 1713/1714 hatte Α. H. Francke ihn gebeten, über das Wirken der Inspirierten in England zu berichten. Böhme entledigt sich dieser Aufgabe in einem Briefe vom 26. Februar 1714 (AFSt A 113, Bl. 170-172; Abschrift bei J. H.Callenberg, AFSt F 30h, [307b-311a] 308a; gedruckt BEBr, 325—335 [Nr. 97]) und berichtet u.a., daß er den Inspirierten nach ihrem ergriffenen Zustand empfohlen habe, zur Immunisierung Catharina von Genuas Liebes-Weg, S. 127—129 der deutschen Ausgabe zu lesen, wo vor den Gefahren solcher Empfindungen gewarnt wird. - Vgl. auch AFSt C 193: 12 (Böhme an H. J. Elers, London, 17. November 1701). 260 ρ Poiret: Irenicum Universale, Oder Gründliche Gewissenssuche Aller Frommen 1702. Die französische Ausgabe erschien 1687 (vgl. M. Wieser, 331 f.). 2 6 1 S. Cramer: Art. Poiret, Pierre. In: RE 3 15 (1904), 494f. - Vgl. zu Poirets Vorstellung von der „ewigen Religion" M. Wieser, 199. 2 6 2 P. Poiret: Irenicum Universale . . . . 4.7 f. 156 f. 164.167 f. 173 f. 258

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sei die übergroße Majorität eitel Namenchristen 2 6 3 , in allen aber seien auch, wenngleich nur spärlich, solche zerstreut, welche und zwar außerhalb irgendwelchen Verhältnisses zu ihrer Konfession, des bonnes ämes, fiir Gottes Wahrheit empfänglichen Seelen seien 264 . Diese sollen sich in geistigem Verkehre unter sich zusammenschließen, aber nicht von ihrer Kirche trennen, noch weniger eine neue organisierte Gemeinschaft gründen 2 6 5 ; vielmehr soll jeder in seiner Kirche verbleibend, deren Gutes zu seiner Erbauung anwenden, ihr Böses vermeiden. " 2 6 6 Dieser Extrakt der Anschauungen Poirets klingt wie eine Zusammenfassung von Aussagen Böhmes, die er in seinem Verhör gemacht und in dem Briefwechsel mit Α. H. Francke präzisiert hat. A u f die Übereinstimmung ist nicht hingewiesen worden, u m die Theologie Böhmes genealogisch festzulegen. Das wäre so einlinig sicher gar nicht möglich. Es sollte aber das geistliche Umfeld deutlich gemacht werden, in dem er lebte und Bestätigung erfahren konnte. Die Affinität zwischen Poiret und ihm soll noch an einem direkten Poiret-Zitat verdeutlicht werden: „ U n d wenn der Mensch, es sei durch diese Mittel oder durch andere, zu seinem Inwendigen gekommen ist und das göttliche Licht, welches darin scheinet, ihn da erleuchtet und gereinigt hat: so bedarf er dieser Dinge nicht mehr, welche alsdann alle aufhören, so daß nichts im Himmel und auf Erden übrigbleibt als die große und ewige Religion oder die wesentliche Verbindung unserer Seele mit Gott, die Liebe oder die Übergabe eines reinen Herzens an das Licht und die Bewegungen des Heil. Geistes." 2 6 7 Es kann hier nur von Affinität, nicht von Identität gesprochen werden. Doch weist das Zitat auf den Zusammenhang von mystischem Spiritualismus und Religionsverständnis, der auch für B ö h m e nachweisbar ist. Z u m Abschluß dieses Abschnittes soll B ö h m e mit zwei zentralen Gedanken seiner Theologie noch einmal selbst zu Wort kommen. Fragt man nach dem Grund seines Kirchen- und Konfessionsverständnisses, dann bietet sich zur Erklärung der abstrakte Geistgedanke an: „Die lebendige Erkentnisse wird von dem HErrn selbst durch seinen Geist als ein göttlich und himmlisch Liecht in der Seele angezündet." 2 6 8 Dieser spiritualistische Grundzug seines Denkens ist mit einem Ordnungsgedanken verbunden, der dem natürlichen Menschen unbekannt ist: „Es bringet aber diese Ordnung mit sich eine thätige Außübung des Willens G O t t e s . " 2 6 9 Jeder Q u i e tismus ist abgewehrt; das auf die Erkenntnis folgende Tun wird betont. In der Zusammengehörigkeit von Erkenntnis und Tun hat B ö h m e auch 263 Ebd. Ebd. 2 ο 3 (Ν (Ν ο ο 2 ο (Ν Ο f j J _) hJ hJ



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