Antikerezeption, deutsche Klassik und sozialistische Gegenwart [Reprint 2021 ed.] 9783112595268, 9783112595251


160 39 31MB

German Pages 108 [109] Year 1980

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Antikerezeption, deutsche Klassik und sozialistische Gegenwart [Reprint 2021 ed.]
 9783112595268, 9783112595251

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

SCHRIFTEN D E R WINCKELMANN-GESELLSCHAFT BAND V

Antikerezeption, deutsche Klassik und sozialistische Gegenwart

Herausgegeben von JOHANNES IRMSCHER

AKADEMIE-VERLAG 1979

• BERLIN

Herausgeber der Reihe: JOHANNES IRMSCHER Redaktion dieses Bandes: JÖRG

MILBRADT

Erschienen im Akademie-Verlag, DDR-108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 ©Akademie-Verlag Berlin 1979 Lizenznummer: 202 • 100/243/79 Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Bestellnummer: 753 3242 (2160/5) • LSV8104 Printed in GDR DDR 1 8 , - M

Inhalt Vorwort

VII

1. HELMUT HOLTZHAUERf Das Antikebild der Klassik und seine Bedeutung für die Gegenwart

1

2. WILHELM SENFF Die Bedeutung der Winckelmannschen Lehre vom Schönen für die Gegenwart

9

3. RUDOLF SCHOTTLAENDER Zur Prometheus-Figur des jungen Goethe

15

4. DIETER GÖRNE Antikes Theater in der Vorstellung der Klassik

17

5. WILLY HANDRICK Die produktive Aufnahme antiker Kunstauffassung in die deutsche Klassik, dargestellt am Beispiel von Gottlieb Martin Klauer

31

6. JOHANNES IRMSCHER Philologia perennis?

39

7. REIMAR MÜLLER Aktualität und Historizität in der Forschung der Klassischen Philologie (Rückblick und Ausblick)

45

8. CHRISTOPH TRILSE Antike Stoffe und Stücke auf der sozialistischen Bühne

53

9. WOLFGANG SCHINDLER Antike Kunst und sozialistische Gegenwart

65

10. LIESELOT HUCHTHAUSEN Neue Formen der pädagogischen Umsetzung antiken Erbes

75

11. HORST MÖLLER Rezeptionsbedingungen für Ausgaben antiker Literatur des Reclam-Verlages

81

V

Vorwort Die Sorge um die Gesamtheit der humanistischen und progressiven Kulturtraditionen bildet einen notwendigen Bestandteil sozialistischer Kulturpolitik, erwachsen aus der Erkenntnis, daß, „was Sozialismus ist und für die Menschen bedeutet", sich nur dem tief und dauerhaft erschließt, „der auch mit den Erfahrungen und Zeugnissen der Geschichte lebt" (Kurt Hager). Zu diesen noch heute lebendigen und lebenskräftigen Kulturtraditionen gehören unbestritten wesentliche Teile der Hinterlassenschaft des griechisch-römischen Altertums, der Antike. Dieses antike Erbe ist uns einerseits in der Unmittelbarkeit seiner Kunst- und Literaturwerke gegenwärtig und zum anderen in der Ausformung, Um- und Weiterbildung, die es in der bürgerlichen Klassik des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts erfuhr. In beiderlei Gestalt bedarf es der Rezeption, um in unserer sozialistischen Nationalkultur fruchtbar zu werden. Die Beiträge, die der vorliegende Band vereinigt, sind durch ein Kolloquium ausgelöst worden, das die Winckelmann-Gesellschaft im Jahre 1972 im Schloß Molsdorf nahe Erfurt veranstaltete. Sie sollen Gemeinsamkeiten wie Besonderheiten jener beiden Wege aufzeigen, die von der Kultur des griechisch-römischen Altertums zu der sich rasch entfaltenden und vertiefenden Nationalkultur unserer Deutschen Demokratischen Republik hinführen, und zugleich mit Problemen vertraut machen, die sich bei der produktiven Aneignung dieses bedeutungsvollen Erbes ergeben. Daß dabei interdisziplinäres Zusammenwirken zur unerläßlichen Voraussetzung fruchtbarer firgebnisse geworden ist, wird durch die Sammlung eindrücklich verdeutlicht. Diese kann nicht so sehr auf abschließende Resultate verweisen als vielmehr einen aktuellen Gegenstand in seiner Problematik wie in dem Versuche, ihrer Herr zu werden, zur Diskussion stellen. Angesichts solcher Gegebenheiten vermag sich der Herausgeber mit dem Vorgetragenen nicht bis ins letzte Detail zu identifizieren; er ist jedoch der Überzeugung, daß jedes der vorgelegten Materialien zu seinem Teil geeignet ist, eine notwendige Auseinandersetzung zu fördern und voranzubringen. Johannes Irmscher

VII

HELMUT H O L T Z H A U E R f

Das Antikebild der Klassik und seine Bedeutung für die Gegenwart

Von der Bedeutung des Antikebildes der Klassik für unsere Zeit, besonders für die sozialistische Gesellschaft zu sprechen, heißt, die Kenntnis dieser Bedeutung stillschweigend vorauszusetzen und sie als Fundament und Ausgangspunkt für die Untersuchung ihrer Wirkungs- und Erscheinungsweise zu betrachten. Wie aber, wenn diese Selbstverständlichkeit in Zweifel gezogen wird, wenn das Verständnis sowohl für die Antike als auch für die Klassik, ja sogar die Kenntnis dieser weltgeschichtlichen Erscheinungen fehlt oder sich auf ein Minimum, auf ein Halb- und Viertelwissen beschränkt, das schlimmer als Unkenntnis ist? Wenn sich aus dieser Lage Unbilligkeit, Abneigung und schließlich die skeptische Frage ergibt, ob der moderne Mensch nicht ebensogut oder besser, nämlich ohne entbehrlichen Ballast leben und sich dafür den modernen Erscheinungen der Gegenwart um so intensiver widmen könne? Wir müssen diese Fragen, soweit sie nicht individueller Trägheit im Denken entspringen, ernst nehmen. Sie sind ein Signal, daß in der geistigen Verfassung der Gesellschaft ein Prozeß abläuft, der auf die Disqualifizierung der Antike sowie der Klassik, man darf wohl auch sagen: des kulturellen Erbes überhaupt, hinausläuft. Prozesse dieser Art ziehen sich über lange Zeiträume hin, werden unterbrochen, gemodelt und in ihrer Bedeutung verändert, aber sie laufen so lange ab, bis sie mit vollem Bewußtsein erfaßt, in ihrer hemmenden Wirkung auf den Fortschritt der Gesellschaft erkannt, in offener Auseinandersetzung zum Stillstand gebracht und schließlich durch entgegengesetzte Tendenzen überwunden werden. In der Geschichte beobachten wir derartige Prozesse beim Untergang der Gesellschaftsordnung, die alles hervorgebracht hatte, was heute unter Antike zusammengefaßt wird. Wir finden sie ferner in Gestalt des Barock, der sich bewußt als Antirenaissance zeigte und auch heute vielfach wieder so aufgefaßt wird, der Romantik, die sich als Antiklassik verstand, und im Modernismus, der Dekadenz und Formalismus einschließt. Mit dem Modernismus als Praxis und dem kleinbürgerlichen Radikalismus als Theorie haben wir es vorzüglich zu tun, wenn Klassik und Antike in Frage gestellt werden. Den Zeiten der Zurücknahme, der Gegnerschaft und des Verlustes an Erfahrungen stehen Epochen der Wiedergeburt, der Wertschätzung, des Anknüpfens und Fortführens gegenüber. Die gewaltigste und eindruckvollste dieser Erscheinungen ist die italienische Renaissance und die Ausbreitung ihrer Ideen in großen Teilen Europas. Die gesellschaftliche und ökonomische Konstellation, auf der die Wiederentdeckung der Antike beruhte, soll hier nicht erörtert werden, obwohl sie für unser Thema von großem Interesse ist. Die deutsche Klassik ist ja nicht denkbar ohne die Renaissance, durch deren Prisma gebrochen, aber auch unendlich bereichert, sie vielfach die Antike sah. Für Deutschland ist merkwürdig, daß der größte Teil des Volkes von den Ideen der Renaissance, zumindest ihren künstlerischen Äußerungen, nur unzulänglich erfaßt wurde, wahrscheinlich weil Bauernkriege und Reformation alle Kräfte auf sich zogen. Trotz Humanistenliteratur, prächtigen Bürgerbauten und Dürerschen Kupferstichen bleiben die Ideen der Renaissance auf den verhältnismäßig kleinen Kreis des Frühbürgertums beschränkt. 1

Dagegen hat die zweite, ich möchte sagen, die eigentliche Renaissance der Antike in Deutschland, die wir Klassik nennen und deren geistiger Untergrund die europäische Aufklärung war, einen völlig anderen Charakter. Sie entdeckte die Antike, vor allem die griechische, selbständig und mit ihr zusammen das Zeitalter der Renaissance. Aus diesem Vorgang erklärt sich der Doppelcharakter ihres Antikebildes. Sie entnahm es den Quellen, und sie gewann es über die Renaissance. Die italienischen Maler von Giotto bis zu den Carracci, das Verhältnis zu Dürer und seinen Zeitgenossen, das Aufleben und die Rolle Shakespeares sind Zeugen für diese Erscheinung. Eines ihrer wichtigsten Merkmale aber ist, daß die industrielle Revolution, als sie auch auf Deutschland überzugreifen begann, nicht zuletzt durch ihre technischen Fortschritte im Buchdruck in breiten Kreisen das Antikebild der Klassik bekanntmachte. Lesegesellschaften, Zeitschriften und Zeitungen und schließlich das höhere Schulwesen förderten diese Tendenz. Die humanistische Bildung des Bürgertums etwa hundert Jahre hindurch ist bei aller kritischer Einschränkung ein Zeuge dieser Entwicklung. Die Deutschen bestätigten aber auch, daß die Kunst nicht nur mehrfacher Wiedergeburten fähig ist, sondern daß aus der doppelten Renaissance eine künstlerische Erneuerung sowohl im Theoretischen wie im Praktischen möglich ist. Bei dieser Erneuerung können nicht die Unzulänglichkeiten in faktischer Griechenlandkenntnis zur Debatte stehen — keiner der Wortführer der Klassik setzte seinen Fuß auf griechischen Boden, keiner hatte im entferntesten eine so umfassende Kenntnis des griechischen oder auch des römischen Altertums wie der heutige Archäologe, aber sie verirrten sich auch nicht im Dickicht der Details, sondern bewahrten sich den Blick auf die Hauptwerke und Haupterscheinungen, die damals wie heute im Mittelpunkt des Tatsachenmaterials stehen —, sondern nur das merkwürdig treffsichere Urteil der Klassik über die Antike, das mit den Ergebnissen marxistischer Forschung, vor allem mit deren Urteilen, weitgehend übereinstimmt. Eine Wechselwirkung ist da nicht zu übersehen. Das Antikebild von Marx und Engels fußt zu einem großen Teil auf dem der literarischen, künstlerischen und philosophischen Klassik. Mit seinen modernen Ergebnissen erstattet der Marxist dem Jahrhundert Goethes einen Teil dessen zurück, was er von ihm empfangen hat. Doch zwischen dem Einfluß der klassischen deutschen Philosophie, Kunst und Literatur auf die Entstehung des Marxismus und der heutigen Rezeption der Klassik durch den Marxismus-Leninismus liegt ein Jahrhundert wissenschaftlicher Kritik, in dem die humanistischen und realistischen Grundsätze der Klassik geprüft wurden, in dem auch ihr Antikebild der Kritik standzuhalten hatte, — und es liegt dazwischen ein Jahrhundert einer im Grunde genommen antiklassischen Entwicklung, in der eigentlich nur die Kultur der Arbeiterklasse aufbewahrte, was von der Klassik in den Weltschatz der Kultur eingebracht wurde. Eine solche Behauptung erscheint vielleicht reichlich kühn, wenn auf die unendliche Emsigkeit gesehen wird, mit der gerade deutsche Archäologen die Antike durchforschten, eine Überfülle von Material in Museen, Archiven und Bibliotheken stapelten und einen unbestrittenen ersten Rang einnahmen. Doch wenn es erlaubt ist, sich auf Außenseiter des Faches wie Burckhardt und Gregorovius zu stützen, die ihrem Bildungs- und Erfahrungsgang nach der Zeit vor 1850, d. h. vor der gescheiterten bürgerlichen Revolution in Deutschland, zuzuordnen sind, so sind zwar alexandrinischer Fleiß, doch wenig neue Ideen entwickelt worden, die mit denen der Klassik zu vergleichen wären. Die Klassik sah die Antike — und darin liegt ihre epochemachende Leistung — aus dem Blickwinkel einer revolutionären Klasse, die alles Bestehende nicht nur vor den Richterstuhl der Vernunft bringen und aburteilen lassen wollte, sondern es auf seine Tauglichkeit für 2

eine neue Gesellschaft hin prüfte. Das Bestehende war die feudale Gesellschaft, das Neue die künftige bürgerliche Gesellschaft, die als Menschheit schlechthin gedacht war. Schloß eine Beobachtungsweise dieser Art auch so manchen Irrtum über den Gegenstand, die griechische Kultur, und den Beobachter, also über die wirkliche Rolle des deutschen Bürgertums, ein, so war sie doch überaus fruchtbar, indem sie die schöpferischen und in die Zukunft weisenden Kräfte ebendieses Bürgertums, vor allem natürlich der Dichter, Künstler und Philosophen mobilisierte. Von diesem Entbinden schöpferischer, vorwärtsdrängender Potenzen war kurze Zeit später, als sich das Bürgertum als Bourgeoisie etabliert hatte, nur noch wenig zu spüren. Die Wissenschaft, die sich mit Antike und deutscher Klassik und im weitesten Sinne mit Fragen des gesellschaftlichen Bewußtseins beschäftigte, beschränkte sich in Gestalt des Positivismus auf das Sammeln von Tatsachen, auf die Beantwortung der Frage, „wie es denn gewesen" (Ranke), und auf den Dienst an einer angeblich objektiven, reinen und unparteiischen Wissenschaft, als ob Parteinahme und historische Wahrheit einander ausschlössen. Diese Wendung der Dinge verstärkte die antiklassische Richtung in Deutschland — d. h. den im wesentlichen antihumanistischen und antirealistischen Geist —, wie er von der Romantik vorbereitet worden war. Die beiden wichtigsten Merkmale des Antikebildes der Renaissance, Humanismus und Realismus, erhalten durch die Klassik eine sozial deutlicher determinierte und stärker an die aufstrebende Klasse gebundene Fassung. Bei wem sind die damit verknüpften Vorstellungen bewußter und akzentuierter zu finden als bei Winckelmann und bei Goethe! In beider kunsthistorischen und kunsttheoretischen Untersuchungen, bei Goethe außerdem in seiner gesamten künstlerischen Praxis, sind sowohl die sozialen Bindungen als auch Humanismus und Realismus als Hauptmerkmale der Begriffs- und Anschauungswelt der Zeit tragende Elemente. Beide, der Historiker wie der Künstler, wurden nicht müde, den Gedanken, daß der Mensch dem Menschen der interessanteste Gegenstand sei und daß die Kunst um die vollendete Darstellung dieses Gegenstandes kreise, unter wechselnden Gesichtspunkten zu entwickeln. So sahen sie das Humanistische im Heidnischen nicht etwa im Sinne einer verspielten Rückkehr zum Götterglauben der Antike, sondern im Sinne eines Atheismus, der weder irdischer noch himmlischer Götter bedurfte. „Jene Schilderung des altertümlichen, nämlich des griechischen, auf diese Welt und ihre Güter angewiesenen Sinnes führt uns unmittelbar zur Betrachtung, daß dergleichen Vorzüge nur mit einem heidnischen Sinne vereinbar seien." So Goethe in seiner berühmten Programmschrift „Winckelmann und sein Jahrhundert". Und er fährt fort: „Jenes Vertrauen auf sich selbst, jenes Wirken in der Gegenwart... bilden sich zu einem von der Natur selbst beabsichtigten Zustand des menschlichen Wesens, so daß wir in dem höchsten Augenblicke des Genusses wie in dem tiefsten der Aufopferung, ja des Untergangs eine unverwüstliche Gesundheit gewahr werden. — Dieser heidnische Sinn leuchtet aus Winckelmanns Handlungen und Schriften hervor." Schillers Gedicht „Die Götter Griechenlands" — das übrigens die erste Annäherung an Goethe möglich machte — drückt ähnliche Gedanken aus: „Da die Götter menschlicher noch waren, waren Menschen göttlicher." Die Darstellung des Menschen in der Kunst und die Auffassung vom schönen Menschen leiten Winckelmann und Goethe nun nicht etwa von einer Idee, von etwas Ausgedachtem ab, sondern aus dem Volk, das sie tagtäglich in seinem tätigen Leben beobachteten. Goethes Definition des Schönen als des „gesetzmäßig Lebendigen in seiner größten Tätigkeit und Vollkommenheit", das zur Reproduktion reize und das Gefühl des Lebens sowie höchste Tätigkeit hervorrufe, gehört zu den fruchtbarsten Gedanken des Dichters. Winkkelmann und Goethe sahen im italienischen Volksleben ein Fortbestehen antiker Lebensweise und in diesem menschlichen Leben den Hauptgegenstand der Kunst. Goethe schrieb: „Wenn man die erste poetische Idee, daß die Menschen meist unter freiem Himmel lebten 3

und sich gelegentlich aus Not in Höhlen zurückzogen, noch realisiert sehen will, so muß man die Gebäude hier herum, besonders auf dem Lande, betreten . . . Hier in Foligno, in einer völlig Homerischen Haushaltung, wo alles um ein auf der Erde brennendes Feuer in einer große Halle versammelt ist, schreit und lärmt, am langen Tische speist, wie die Hochzeit von Kana gemalt wird, ergreife ich die Gelegenheit, dieses zu schreiben ..." Und an anderer Stelle: „Die Meister des 15. Jahrhunderts, welche freilich nicht mehr nackte griechische Wettkämpfer und Ringer, keine römischen Kämpfer beschauen und also Kraft und Schönheit sich nicht vollkommen aneignen konnten, genossen doch des großen Vorteils, dessen wir Nordländer gänzlich entbehren, auf Markt und Straßen mit dem eigentlichen Volk zu verkehren, mit der Masse, die leben will und leben l ä ß t . . . " Denn darin äußert sich der realistische Zug im Antikebild der Klassik, daß sie wie jene den Blick auf das pralle, sinnliche Leben des Volkes richtet und daß sie dieses Wirkliche in der Kunst widergespiegelt sehen will. Dazu traten blauer Himmel, Sonnenlicht, Wärme, Leben im Freien: Diese äußeren Umstände der Kunst werden im Gegensatz zum kimmerischen Norden, zur naßkalten Nebelwelt, wo oftmals kaum der Tag von der Nacht zu unterscheiden sei, als Bedingung großer Kunst hervorgehoben! Zeitweilig wird diese Voraussetzung sogar überbetont, wie ein Vergleich mit den Ergebnissen niederländischer oder auch deutscher Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts zeigt. Das dritte Moment im Antikebild der Klassik nach Humanismus und Realismus ist die Vorstellung von der Vollkommenheit, ja vielleicht sogar der Unübertrefflichkeit der Kunst der Griechen. Auf das polemische Motiv dieser Vorstellung komme ich noch zu sprechen, dagegen muß die Erörterung der Frage, wieweit die Ansicht von der Vollkommenheit griechischer Kunst berechtigt ist, an diesem Ort ausgeklammert werden. Die Antwort darauf in theoretischer und praktischer Hinsicht ist so kompliziert, daß wir sie uns einer besonderen Erörterung vorbehalten wollen. Für die deutsche Klassik stand diese Vollkommenheit jedoch außer Zweifel. Worauf aber hingewiesen werden soll, ist die Folgerung, die aus dieser Vollkommenheit von der Klassik gezogen wurde. Wenn Winckelmann und später Herder und Goethe von der Unnachahmlichkeit der griechischen Kunst sprachen, so ließen sie sich stets von zwei Überlegungen leiten: einmal von der Besonderheit und von der Unwiederholbarkeit der Umstände, unter denen diese Kunst entstand, wozu die klimatischen im allgemeinen, die historischen, sozialen und politischen Bedingungen im besonderen gehören, und zum anderen von der Notwendigkeit, Kunstwerke unter völlig anderen Verhältnissen und Zeiten und damit auch von anderem Charakter hervorzubringen. Auch für Winckelmann, Lessing, Herder, Goethe und Schiller war die griechische Kunst eine historisch abgeschlossene Erscheinung. Die Kunst der Gegenwart mußte unter den eigenen, deutschen Bedingungen hervorgebracht, nicht aber nachgemacht werden. Aber, und das war die zweite Überlegung, es mußten Verhältnisse herbeigeführt werden, die denen der Griechen entsprachen. Bei Winckelmann heißt es: „... eben die Freiheit, die Mutter großer Begebenheiten, Staatsveränderungen und der Eifersucht unter den Griechen, pflanzte gleichsam in der Geburt selbst den Samen edler und erhabener Gesinnungen . . U n d an anderer Stelle schreibt er: „Man muß also in Beurteilung der natürlichen Fähigkeiten der Völker, und hier insbesondere der Griechen, nicht bloß allein den Einfluß des Himmels, sondern auch die Erziehung und Regierung in Betracht ziehen." Mit einem Blick auf Deutschland schreibt er dann weiter: „Wenn ich von der natürlichen Fähigkeit dieser [griechischen] Nation zur Kunst rede, schließe ich dadurch diese Fähigkeit... unter anderen Völkern nicht aus... Denn Holbein und Albrecht Dürer, die Väter der Kunst in Deutschland, haben ein erstaunliches Talent in derselben gezeigt..." Nach Herder mußte, um bedeutende künstlerische Leistungen hervorzubrin4

gen, die denen der Griechen vergleichbar seien, ein gesellschaftlicher Zustand herbeigeführt werden, den er mit Humanität bezeichnete. Insofern lag in der Herausarbeitung des Antikebildes der Klassik ein durchaus aktives, gesellschaftsveränderndes Moment. Es war ihre feste Überzeugung, daß dieses die bestehende Gesellschaft revolutionierende Moment allein das Hervorbringen unnachahmlicher Kunst bewirken konnte. Goethe sprach davon, daß ein Künstler „in der Geschichte seiner Nation große Begebenheiten und ihre Folgen in einer glücklichen und bedeutenden Einheit" vorfinden müsse und daß noch einige weitere Umstände hinzuzutreten hätten, um einen „klassischen Schriftsteller" hervorzubringen. Der gewaltige Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung war in der Tat eine solche „Begebenheit". Gleichzeitig war es die Überzeugung der Klassiker, daß die Kunst eine wesentliche Rolle, vielleicht sogar die entscheidende, in dem gesellschaftlichen Umwandlungsprozeß zu spielen habe. Schiller hat das immer wieder, besonders aber in den Briefen zur ästhetischen Erziehung, zum Ausdruck gebracht, ein charakteristisches Merkmal der Aufklärung. Der vierte Zug, durch den sich das Antikebild der Klassik auszeichnet, ist polemischer Natur. In der Antike, ebenso wie im Zeitalter ihrer Wiedergeburt, im 15. und 16. Jahrhundert, sah sie den menschlichen Fortschritt als einen Gegensatz zur Barbarei oder zum Rückschritt. So setzten die Hauptvertreter der Klassik die Kunst der Antike und die neuere, worunter sie die Renaissance verstanden, dem Mittelalter, ihre eigene dem Barock entgegen. Sie begriffen sehr wohl den dogmatischen wie den gesellschaftlichen Untergrund jeder künstlerischen Äußerung. Ihr Kampf gegen das inhaltsleere Formenspiel des Barock, den sie bis zu seiner Überwindung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts führten, ist ein nicht weniger überzeugender Beweis für diese Einschätzung als ihre spätere, allerdings anders motivierte Auseinandersetzung mit der romantischen Strömung in Kunst und Literatur. Die Wiedergeburt, oder genauer, die Wiederentwicklung der griechischen Kunst und damit verbunden ihre Erhebung zum Vorbild war ein Stoß gegen die alles beherrschende und selbst ins Bürgertum eingedrungene Kunst der feudalen Gesellschaft. So konnte nach Meinung der Dichter und Philosophen der Klassik sich die neue Kunst nur durch eine radikale Absage an die vorherrschende durchsetzen. Die scharfen Urteile der Klassiker über Schwulst und Schnörkelwesen und ihre positive Entgegensetzung sind zu bekannt, als daß sie hier wiederholt werden müßten. Nicht viel anders liegen die Dinge bei dem Verteidigungskampf, der gegen die Antiklassik der Schlegel, Novalis, der Nazarener und verwandter Kreise geführt werden mußte, hier nun, weil sie die Grundlagen der Klassik und ihres Antikebildes angegriffen sahen. Als fünftes und letztes Merkmal des Antikebildes der Klassik ist die Auffassung von der theoretischen Leistung der Antike auf dem Gebiet der Kunst zu nennen. Geleitet von antiken Schriftstellern wie Pausanias oder Plinius, dachte sich die Klassik die griechischen Künstler als Philosophen, zumindest als theoretisch gebildet. Hatte nicht Polyklet den berühmten Kanon über die Proportionen des menschlichen Körpers verfaßt und dazu den Doryphoros geliefert und Lysippos den Apoxyomenos? Stützte sich nicht das berühmte, dem Augustus gewidmete Werk des Vitruvius über die Architektur vom Ende des letzten Jahrhunderts vor der Zeitrechnung auf zahlreiche griechische Quellen, z. B. den Hermogenes aus Priene ? Und in welchem Umfang hatte nicht die Renaissance auf diese Schriften zurückgegriffen und gerade diese Seite künstlerischen und kunstwissenschaftlichen Schaffens wiederaufgenommen? Das Antikebild der Klassik war deshalb auch wesentlich von der Vorstellung des „denkenden Künstlers" geprägt, wie Winckelmann Raphael Mengs bezeichnete. Er reichte ihm damit den schönsten Lorbeer, den die Klassik zu vergeben hatte. Nicht zufällig rannte die 5

Romantik gegen die Bedeutung des Denkens im Schaffen des Künstlers dann auch mit allen ihren Kräften an. Sie erhob das Gefühlte, Geahnte, Intuitive, die Inspiration und den Glauben auf ihren Schild und verlästerte als Rationalismus und Akademismus, was in Wirklichkeit wissenschaftliche Bereicherung des künstlerischen Talents war. Sie schreckte vor Unterstellungen nicht zurück, wie es z. B. Sulpiz Boisseree tat, als er an Goethe schrieb: Aus der Nachahmung von Kunstwerken wird eben nie etwas Echtes hervorgehen, die Vorbilder mögen nun sein, welche sie wollen. Er vertauschte die Vorstellung des Nacheiferns mit der des Nachahmens, obwohl Winckelmann in seiner Frühschrift von 1755 den Inhalt des Begriffs genau genug bezeichnet hatte. Mit dem erneuten Hinweis auf die Romantik werden auch wieder die beiden Kardinalprobleme sichtbar, die uns Heutige bewegen, wenn wir nach der Bedeutung des Antikebildes der Klassik für die Gegenwart fragen und — untrennbar mit der Fragestellung verbunden — nach Erscheinung und Funktion der Antiklassik in allen ihren Spielarten. Mit der Annahme — in der Tat und nicht in bloßen Worten —, ja nur mit der Fähigkeit zum Verstehen des tatsächlich Erreichten in Gestalt von Kunstwerken der Antike, der Renaissance und der Klassik wird mehr als ein Geschmacksurteil abgegeben: Es wird ein Wechsel auf die Zukunft gezogen. Wir wissen, daß die Rezeption von Leistungen in den verschiedenen Kunstgattungen, aber auch in Wissenschaftszweigen nicht gleichmäßig ist. Stets aber zeichnet sich die Aufnahme und geistige Verarbeitung der Vergangenheit dadurch aus, daß keine der schöpferischen Leistungen, durch die eine höhere Stufe in der Entwicklung der Menschheit erreicht wurde, wieder fallengelassen worden ist. Als in der bildenden Kunst beispielsweise Proportionslehre, Perspektive oder Ansätze zum Verständnis des Kolorits einmal entdeckt und erfolgreich angewandt wurden, hat keine fortschreitende Epoche auf die dadurch gegebenen Möglichkeiten wieder verzichtet. Nur regressive Zeiten meinten und meinen, auf das Errungene ganz oder teilweise verzichten zu können. Das Primitive, Infantile, Disproportionierte oder gar die Depravation des Menschen zur künstlerischen Forderung zu erheben und diese Zielsetzung, ja die Darstellung des Häßlichen und Lebensfeindlichen mit der Abweisung und dem Verzicht auf die progressiven Überlieferungen zu verbinden, blieb dem Modernismus vorbehalten. Auch das Leugnen von Gesetzmäßigkeiten und Leitbildern der Kunst gehört zu diesem Verhältnis. Ein weiteres! Solange die Menschheit sich entwickelt, indem sie sich selbst reproduziert und ihren Stoffwechsel mit der Natur fortsetzt, solange wird sie nicht darauf verzichten, über den Sinn dieses Prozesses, über ihre Geschichte nachzudenken. Die Frage nach den Ursachen und nach der Herkunft, das Verlangen, vergleichen zu können, verwandte Situationen zu befragen, gehört zum Wesen des Menschen wie das Denken überhaupt. Wenn nach der Bedeutung der Klassik und nach ihrem Antikebild im besonderen gefragt wird, dann liegt die Antwort vor allem in dem Hinweis auf diesen Wesenszug. Ein geselliges, denkendes und arbeitendes Wesen wie der Mensch, das von den Produkten der Tätigkeit der menschlichen Gesellschaft ständig umgeben ist, wird und kann nicht die Auseinandersetzung mit seiner Umwelt — und das ist zu einem großen Teil Umwelt aus der Vergangenheit — vermeiden. Durch Ignorieren entgeht er dieser Auseinandersetzung am wenigsten. Den in dieser Umwelt gespeicherten Erfahrungs- und Erkenntnisschatz, die Quelle hoher geistiger Vergnügungen schon durch bloßes Nichtbeachten preisgeben zu wollen, heißt ihn der Vernichtung zu überantworten und damit sich selbst einer Wesenseigentümlichkeit zu berauben. „Bei Strafe des Untergangs", um ein gewichtiges Wort Friedrich Engels' zu gebrauchen, wird die Menschheit auf ihre Vergangenheit, auf das Studium dieser Vergangenheit und die kritische Auseinandersetzung mit ihr nicht verzichten können. 6

Häufig wird der Einwand vorgebracht, der Modernismus sei die Frucht einer kritischen Kontroverse mit Klassik, Renaissance oder Antike, nur eben mit negativem Ergebnis. Oft genug tritt ja diese Auseinandersetzung im Kostüm der Revolution auf. Die Entscheidung über diese Frage kann jedoch nur in einer Untersuchung gefällt werden, die sich dem Klassenzusammenhang, den grundsätzlichen Fragen der historisch mit- oder gegeneinander kämpfenden entscheidenden Formationen, mit der gleichen Intensität wie den ästhetischen Fragen zuwendet. Im weltgeschichtlichen Cui bono wird deutlich, daß sich ein positives Verhältnis nicht auf alles, was die Menschheit überhaupt hervorgebracht, bezieht, sondern auf das, was zu tieferer Erkenntnis, zu größerer Beherrschung der Natur und zu einer besseren Ordnung der menschlichen Beziehungen führt. Unter diesen Umständen ist es unvermeidlich, an die menschliche Urteilskraft zu appellieren. „Strenge Urteile", wie Goethe dies nannte und womit er begründete wissenschaftliche Urteile meinte, gehören zur Methode der Aneignung des Geschaffenen nicht weniger als die Fähigkeit des Künstlers, sich selbst schöpferisch, d. h. neuschaffend und nicht nachahmend, nacheifernd und nicht kopierend, zum Vergangenen zu verhalten. Nicht alles, was in Erscheinung tritt, ist gut, schön und wahr. Die wissenschaftliche Kritik übernimmt hier gesellschaftliche Verantwortung. Die Unfähigkeit oder der Unwille zu urteilen jedoch, der weite Bereiche der Kunstwissenschaft auszeichnet, ist eines ihrer größten Gebrechen, ist bereits ein Hinüberwechseln zum Rückschritt. Und so ist auch der Geist, aus dem heraus vom „Staub der Klassik" und ihres Antikebildes, ja überhaupt vom Unnötigen und Unbrauchbaren des Erbes gesprochen wird, in Wahrheit ein Geist des Rückschritts. „Wenn nur die Menschen", so Goethe, „das Rechte, nachdem es gefunden, nicht wieder umkehrten und verdüsterten, so wäre ich zufrieden; denn es täte der Menschheit ein Positives not, das man ihr von Generation zu Generation überlieferte". Und an anderer Stelle, ebenfalls im Gespräch mit Eckermann, heißt es: Der Mensch „bedarf der Klarheit und der Aufheiterung, und es tut ihm not, daß er sich zu solchen Kunst- und Literaturepochen wende, in denen vorzüglich Menschen zu vollendeter Bildung gelangten, so daß es ihnen selbst wohl war und sie die Seligkeit ihrer Kultur wieder auf andere auszugießen imstande sind". Für Goethe und mit ihm für die Klassik waren Antike und Renaissance als fortschreitende Epochen Inbegriffe der Klarheit, Heiterkeit, Gesundheit, der Bildung und der Menschlichkeit. Diese Wesenszüge waren für sie Äußerungen des menschlichen Lebens und Bedingung einer humanistischen Anschauung und Lebensweise, denn „Leben verlangt nach Leben". Und so konnte Goethe den Widersachern einer humanistischen Welt, seinen zeitgenössischen Widersachern wie den künftigen, getrost die Worte entgegenhalten: „Fahrt nur fort, nach eurer Weise Die Welt zu überspinnen! Ich in meinem lebendigem Kreise Weiß das Leben zu gewinnen".

7

WILHELM SENFF

Die Bedeutung der Winckelmannschen Lehre vom Schönen für die Gegenwart

Die Lehre von Schönen, wie sie seit der deutschen Klassik als ein in sich geschlossenes Ganzes vor uns steht, bildete sich im 18. Jahrhundert heraus, als in den führenden Ländern Europas das aufstrebende Bürgertum den herrschenden Feudalklassen mit der Zielsetzung gegenübertrat, die gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwälzen. So mußte ein neues Weltbild, im besonderen ein neues Menschenbild erarbeitet und durchgesetzt werden. Als häßlich galt das den Menschen Entwürdigende, als schön das Erstrebte. Angeknüpft wurde an Prinzipien, die in den humanistisch orientierten Strömungen der Antike und der Renaissance entstanden waren. Der schöne Mensch — das sollte sein die menschliche Persönlichkeit, die sich durch Gerechtigkeit, Edelmut, Weisheit und Tapferkeit auszeichnet. In Deutschland erreichte das Ringen um das Neue um 1760 eine hohe Stufe. Zu den Denkern, die an der Spitze jener Bestrebungen standen, gehören Lessing und Winckelmann; in der humanistisch-revolutionären Bewegung, wie sie für das damalige Deutschland typisch war, nahmen sie einen hervorragenden Platz ein. Wenden wir uns Winckelmann zu! Er ist als Begründer der modernen Kunsthistorie in die Geschichte eingegangen, war aber auch ein Theoretiker von Format. Von seinem Hauptwerk, der „Geschichte der Kunst des Altertums", sagte er, sie müsse als „Versuch eines Lehrgebäudes" studiert werden1. In der dort entwickelten Systematik ist die Lehre vom Schönen das Kernstück. Das Grundlegende hatte Winckelmann bereits in Nöthnitz geklärt, als er sich damit beschäftigte, den Inhalt des Wortes „schön" genau zu bestimmen. Hier sein Resultat: Es gibt Begriffe, wie z. B. den des Nützlichen, sie sind abstrakt, drücken Allgemeines, Wesentliches aus. Und es gibt Bezeichnungen — wie z. B. das „Artige" oder Gefällige —, die nur auf das Sinnlich-Konkrete der Erscheinungen bezogen sind. Das Schöne hingegen umfaßt beide Seiten. Es ist artig und nützlich, einzeln und allgemein, sinnlich-konkret und abstrakt, Erscheinung und Wesen2. Es ist ein Begriff, doch liegt das Wesentliche darin, daß beide Seiten (um einen von Winckelmann gern verwendeten Ausdruck zu zitieren) in eins gebracht worden sind, wobei zu beachten ist, daß die Fixierung (im Unterschied zum wissenschaftlichen Bereich) in Prozessen der Formgebung bzw. Gestaltung erfolgt. Damit leistete der Forscher einen Beitrag zur Begründung der Ästhetik als wissenschaftlicher Disziplin, der hoch einzuschätzen ist, auf jeden Fall höher als der von Baumgarten beigesteuerte. Was den letzteren auszeichnete, war die Verankerung der Kunsttheorie in der „niederen Erkenntnis" im Sinne der Wölfischen Philosophie. Diese Beschränkung wurde durch Winckelmann überwunden. Hier heißt es: Wo es um ästhetisches Gestalten geht, geht es um Vergeistigung der Materie, die „Hervorbringung neuer und verfeinerter Ideen"3. 1

2

3

2

J- J- Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, Weimar 1964 (Abkürzung im folgenden GKA), S. 7. Winckelmann, Kleine Schriften und Briefe, Weimar 1960 (Abkürzung im folgenden KSB), S. 17. 25. G K A , S. 135. Antikerezeption

9

In der „Geschichte der Kunst des Altertums" wurde in den Bemühungen, eine wissenschaftlichen Anforderungen Genüge leistende Erklärung des Schönen zu finden, insofern ein weiterer Schritt vollzogen, als in der Auswertung physiologischer und morphologischer Erkenntnisse über die in der Natur existenten Organismen konstatiert wurde, daß die Bezüge zwischen Form und Z w e c k Berücksichtigung erheischen. Daraus wurde der spezielle, vom allgemeinen Begriff „das Schöne" abgesonderte, lediglich auf Körperformen bezogene Begriff der S c h ö n h e i t abgeleitet. Ein Körper ist schön, wenn seine Ganzheit, die Gestalt, wie jedes seiner Glieder die „Übereinstimmung des Geschöpfs mit dessen Absichten"4 wahrnehmbar macht. Überwunden wurden in gleicher Weise die Strömungen, die als Verfechter klassizistischer Lehrmeinungen Aristoteles huldigten, aber nicht vermochten, sich von den scholastischen Auslegern des antiken Philosophen zu lösen. Erinnert sei an den Franzosen Chambray, der die These vertrat, nach einem mathematischen Formeln entsprechenden Kanon solle bestimmt werden, ob ein Organismus schön ist oder nicht5. Winckelmann indessen bewies, daß Schönheit „nicht unter Maß und Zahl fällt" und daß im Kunstschaffen die Einhaltung der Proportionen keineswegs die Entstehung von Meisterwerken garantiert6. Die Wiedergabe des objektiv Gegebenen ist unerläßlich, und dazu gehört die Proportionalität (Karl Marx sprach später vom „Maß jeder Species", dem „inhärenten Maß"). Aber zum Schönen gehört auch das, was wir das Innere nennen, Geistiges, Psychisches. Das zu sehen, erfordert Erkenntnis des Menschen. Begriffen wurde, daß dieser selber ein Geschöpf der Natur, gleichzeitig jedoch ein Schöpfer ist, wie die Natur, wie die Götter in der Mythologie oder wie Prometheus Schöpfer sind. Das führte schnell zu neuen Erkenntnissen. Klarheit entstand darüber, daß die aus abstrakten Überlegungen gewonnenen Thesen nicht ausreichen, vollgültige Aussagen über das Wesen des Menschen zu machen. Auf besagte psychische Kräfte muß die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Und wenn von Bezügen die Rede ist, dann kommen zuerst in Frage die zwischen Körper und Geist, dem Äußeren und Inneren. An diese Problematik wird Goethe gedacht haben, als er, in den „Maximen" auf das Werden der Rose hinweisend, schrieb, das Schöne sei eine „Manifestation geheimer Naturgesetze", erforderlich sei „ein Gesetz, das in Erscheinung tritt"7, und in der „Kampagne in Frankreich", das spezifisch Menschliche hervorkehrend, ergänzte: „Das Schöne sei, wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Tätigkeit und Vollkommenheit schauen, wodurch wir, zur Reproduktion gereizt, uns gleichfalls lebendig und in höchste Tätigkeit versetzt fühlen." 8 Winckelmanns Verdienst bestand in der Erarbeitung der Konzeption, eben des Lehrgebäudes. Dort haben wir in der Tat alle Momente der klassischen Ästhetik vor uns. Am Anfang steht das Prinzip der reinen oder höchsten Schönheit, also (was wir schon andeuteten) das der „reinen" Form. In den bildenden Künsten hat es die Bedeutung eines Gebots: Wehe dem Künstler, der dagegen verstößt! Aber muß er sich darauf beschränken? Auf keinen Fall. Wer sich nur mit dem Äußeren befaßt, gerät in die Untiefen der Abstraktheit, die höchste Schönheit ist abstrakt. Eine „philosophische Kenntnis" des Menschen würde entfallen. Nötig ist die stetige Auseinandersetzung mit dem, was sich im Inneren des 4 5 6

7 8

10

G K A , S. 129. 130. Vgl. K S B , S. 373. 374.1 K S B , S. 130; G K A , S. 151. 366; vgl. K . Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: K . Marx / Fr. Engels, Werke, Erg.-Bd. 1, Berlin 1968, S. 517. J . W. v. Goethe, Werke (Berliner Ausgabe), Bd. 18, Berlin/Weimar 1972, S. 502. 671. 672. Ebenda, Bd. 15, Berlin/Weimar 1972, S . 2 2 6

Individuums abspielt. Da ist alles konkret, lebendig. In diesem Rahmen maß Winckelmann den Leidenschaften eine besondere Kraft bei; gemeint war die dem Menschen „eingeborene" Wesenskraft, die Karl Marx einmal (in einer Charakteristik des philosophischen Materialismus Bacons) als Eigenschaft der lebendigen Materie, „als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual — um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen — der Materie" bezeichnete9. Sie gehen gesetzmäßig in alle psychischen Prozesse und alle Aktionen ein. Mithin ist die menschliche Gestalt nicht nur „reine" Form, sondern zugleich Ausdruck. Im weiteren Verlauf der Erörterungen ist Winckelmann freilich über die Formulierung des Grundsätzlichen nicht hinausgekommen. Das lag daran, daß er hier das Schöne, als Begriff gesetzt, ausklammerte und mit der Begründung, es erstrecke sich „auf alles, was gedacht, entworfen und ausgearbeitet wird", der Philosophie überließ10. Die Folge war, daß im Künstlerischen die Zwecksetzung (wenigstens vorübergehend) auf die Schönheit, das Gefällige der „reinen" Form reduziert werden mußte11. Nun konnte es nicht anders sein: es wurde schwer, den Bereich Ausdruck organisch in das System der Theorie einzugliedern. Dieser gefährdete die Schönheit. Trotzdem ist der Forschende nicht müde geworden, seine Hochschätzung des Expressiven zu verteidigen. Am besten ist ihm das an den Stellen geglückt, wo das Theoretische in Beschreibungen einzelner Kunstwerke einmündet. Heraushebung verdienen immer wieder die der LaokoonGruppe. Gewiß, das die Kunstgeschichte Betreffende ist veraltet, ja falsch. Jenes Werk entstand nicht in der klassischen Periode der griechischen Plastik, sondern im Hellenismus, sogar im späten. Aber der theoretische Gehalt, in dem auch ideologische Gesichtspunkte — nicht zu übersehen die dem Verfasser eigene Stellungnahme zu den Problemen seiner Zeit — sich finden, ist heute beachtenswerter denn je. Laokoon ist als Schmerzensmann gestaltet; aber er ist stark genug, seine Würde zu behaupten. „Wir wünschten", so heißt es im 1754 geschriebenen Text, „wie dieser große Mann das Elend ertragen zu können" 12 . Wir — das sind auch die im 18. Jahrhundert von absolutistischen „Schindern der Völker" gedemütigten Untertanen. Sie leiden, aber sie resignieren nicht. Später, in der „Geschichte der Kunst des Altertums", wurde das alles noch bewußter ausgesprochen. Nicht mehr vom stillen Dulden ist die Rede, jetzt lesen wir: Die Künstler bildeten „mit großer Weisheit . . . den Streit zwischen Schmerz und Widerstand"13. Daß dem leidend Kämpfenden sogar der Sieg beschieden sein kann, bewiesen dann die Beschreibungen des Torso (auf Herakles bezogen). Über allem steht der Triumph des Apollo. Kein Zweifel — zum menschlichen Schönen, das mehr als „Schönheit" umfaßt, gehören die Werte, wie sie der im Humanismus fundierten Ideologie teuer sind. Gerechtfertigt ist so das große Lob, das Goethe im Jahre 1805 Winckelmann zollte, als er schrieb, jener sei wie Kolumbus ein Entdecker gewesen; uns gezieme es, das, was er begann, fort- und immer fortzusetzen14. Nach ihm richten wir uns, indem wir den Hinweis, unsere Blicke auf das zu seiner Zeit Begonnene zu lenken, unterstreichen und so das Lob in eine Mahnung umwandeln. Auszuwerten ist nicht alles Hinterlassene, ausschlaggebend ist das jeweils neu Erarbeitete. Aus dem Gesagten ergibt sich die Notwendigkeit, einmal das zusammenzustellen, was in diesem Sinne heute noch fortzusetzen ist. Können wir wirklich auf dem Boden der bis herigen Winckelmannüteratur verharren, die sich mit der Feststellung begnügt, der 9 10 11 12 13 14

2*

Marx / Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1958, S. 135. KSB, S. 153. GKA, S. 124, 144, 374 f. KSB, S. 44. GKA, S. 277. Goethe, Werke (Berliner Ausgabe), Bd. 19, Berlin/Weimar 1973, S. 495 und 516. 11

Schöpfer der „Geschichte der Kunst des Altertums" sei ein Repräsentant des deutschen Klassizismus und der Künder der edlen Einfalt und stillen Größe gewesen? Auf die Würdigung der Lehre vom Schönen zurückgreifend, halte ich es für wichtig, auf einige Probleme aufmerksam zu machen, die zunächst in der Weimarer Klassik, dann im kritischen und im sozialistischen Realismus einen breiten Raum eingenommen haben und aktuell geblieben sind. Sie betreffen in erster Linie 1. den Begriff bzw. die Kategorie des Schönen, 2. den Gegenstand der Ästhetik, 3. die Rolle der Leidenschaften für das Kunstschaffen. Dazu einige Bemerkungen! Nach dem Ausklang der Weimarer Klassik war es schwer, an dem von Winckelmann geprägten Begriff des Schönen festzuhalten. Im allgemeinen Sprachgebrauch gilt das als schön, was als Erscheinung gefällt, das Moment Wesen kommt kaum zur Geltung. So kann ein Gegenstand, wie der Sowjetwissenschaftler Moissej Kagan in einer Vorlesung richtig bemerkte, „sowohl gut als auch schön, er kann aber auch gut und unschön, schön und ungut sein, und ebenso kann ein hervorragender Mensch häßlich und ein schöner gemein sein" 15 . Dem muß Rechnung getragen werden. Der sozialistische Realismus arbeitet mit dem Begriff des Ästhetischen, der alle Merkmale enthält, die den klassischen Begriff des Schönen auszeichneten. Interessant ist, daß es eine Stelle gibt, wo vom Schönen noch immer im Sinne der Klassik gesprochen wird. Wenn es in der Terminologie marxistisch-leninistischer Ideologen, darüber hinaus im Vokabular der Volksmassen heißt, die Welt des Sozialismus werde schöner sein als die vom Imperialismus beherrschte, so wird ausgedrückt, daß nicht nur die Momente der Erscheinung, sondern auch die des Wesens der Gesellschaftsordnungen richtig eingeschätzt werden. Die These, nach der der Mensch der eigentliche Gegenstand der Ästhetik (und der Kunst) ist, bedurfte und bedarf stetig der Ausweitung. Dieser Prozeß ging bereits in der Weimarer Klassik vonstatten. Erinnert sei an eine Reflexion Goethes, wo es heißt, daß wir immer „die Welt" im Blickfeld haben müssen, natürlich „im Bezug auf den Menschen" 16 . Gewiß kam es dem Dichter darauf an, das humanistische Anliegen des menschlichen Denkens und Handelns zu unterstreichen. Aber'auch auf die Universalität des Objektiven wollte er aufmerksam machen. An einer solchen Einstellung ändert sich in der dem Sozialismus eigenen Weltanschauung nichts. Erforderlich ist es, in der Ausweitung keinen Stillstand eintreten zu lassen. Zum Gegenstand gehören auch alle Formen, alle Gestaltungen des gesellschaftlichen Lebens, z. B. jedes Kollektiv, jede Gesellschaftsordnung, jeder Staat, alle Staatenbünde usw., ebenso alle Vorgänge, die eine Veränderung gesellschaftlicher Zustände bewirken. Den Satz vom Ästhetischen der Oktoberrevolution des Jahres 1917 zu sprechen, wagte der sowjetische Pädagoge und Schriftsteller A. S. Makarenko 17 . Nach einem Ausspruch Joh. R. Bechers sind die Menschen „vor allem" dadurch schön, „daß sie sich eine menschliche Ordnung geschaffen haben" 18 . Hinzuzurechnen sind in gleicher Weise alle von Menschen geschaffenen — gestalteten — Dinge: vom einfachen Werkzeug und Gerät bis zu komplizierten Apparaten und Einrichtungen, in Arbeit und Freizeit, im häuslichen Leben und in der Öffentlichkeit. Von Grund auf ist alles, da es menschliche Wesenskräfte offenbar macht und der Höherentwicklung des Menschseins dient, schön und gut. Das Häßliche wird real, wenn auf der Seite des Wesens, wie in den auf Ausbeutung und Unter15 16 17 18

12

M. Kagan, Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik, 3. Aufl. Berlin 1974, S. 11. Goethe, Werke, Berliner Ausgabe, Bd. 18, S. 634. Vgl. Kleine pädagogische Enzyklopädie, Berlin 1960, S. 33—36. Zit. nach: Sinn und Form, Zweites Sonderheft: Joh. R. Becher, Berlin o. J., S. 491. 492.

drückung beruhenden Ordnungen, der Status der Entfremdung (Alienation) eintritt. Dem Faktor Leidenschaften haben wir bisher zu wenig Interesse entgegengebracht. Und doch besitzt er für die Kunst, wo der Ausdruck hoch im Kurs steht, dieselbe Bedeutung wie alles auf Erkenntnis Bezogene. Nicht darum geht es, Sachliches emotional anzureichern, ebensowenig darum, dem Expressionismus der ersten Dezennien unseres Jahrhunderts Konzessionen zu machen. Es geht um die Anerkennung jener Werte, die wir oben unter Berufung auf ein Wort von Karl Marx als Lebensgeist, Spannkraft der Materie deuteten. Wir kommen so nicht umhin zuzugeben, daß die Lehre vom Schönen Elemente enthält, die über die Grenzen des Klassischen hinausreichen. Darüber ist Klärendes noch zu erarbeiten. Wie dem auch sei — den Ideen, die Winckelmann vorschwebten, „entsprechen" nicht nur die Werke eines Canova, Carstens oder Thorvaldsen, sondern auch, vielleicht sogar noch mehr die solcher neueren Künstlerwie Barlach, Masereel und Käthe Kollwitz. Das mag auf den ersten Blick befremden, doch nur auf den ersten Blick. Was die Winckelmann-Ausleger gewöhnlich unter edler Einfalt verstehen, suchen wir gewiß vergeblich in ihrem Schaffen. Aber der Sinn des Wortes vom Streit zwischen Schmerz und Widerstand hat sich erfüllt. Aus dem allgemeinen Prinzip des Schönen ist das besondere der Parteilichkeit hervorgegangen. Und weitere Probleme wollen beachtet sein. Ganz im Vordergrunde steht das der Vergeistigung des künstlerischen Bildes, darüber hinaus jeder ästhetischen Formierung, damit auch das der Überwindung des „Naturalismus". Wir wiederholen: Das Wichtigste und Höchste ist die Erzeugung neuer, verfeinerter Ideen, die der Mensch im Bemühen um ein glückliches Leben braucht. Erwähnt seien ferner die Zügelung der Leidenschaften (wo Spinozas Ideen zur Wirkung kamen), die Auseinandersetzung mit dem Häßlichen und die Frage nach der Einheit des Ästhetischen mit dem Ethischen, besser: die Eingliederung des Ästhetischen in die allseitige Bildung der Menschen. Auf jedem Gebiet sind ernste Auseinandersetzungen zu führen. In der Welt des Verfalls gibt es seit langem eine Krise des Häßlichen19. Da gefallen sich Politiker, Ideologen, Philosophen und Künstler in der strikten Ablehnung des Klassischen, wobei in der Argumentation im einzelnen Buntheit und Vielfalt herrschen. Die Skala beginnt mit der Glorifizierung des Anti- und Ahumanismus, des Gemeinen, der Brutalität. Überall macht sich dort die Abkehr vom Gegenständlichen, Realen und bewußt Gestalteten breit. (Typisch war in den letzten Jahrzehnten die Malerei des „Informellen", der „Nichtform".) Das klassische Erbe wird dem Spott preisgegeben, man sucht das „Absurde". Doch gehören auch Publikationen in diese Reihe, die dem Begriff des Schönen wohl Reverenz erweisen, ihn aber nur in Verbindung mit Piatos Ideenlehre und Kierkegaards pastörlichen Anschauungen gelten lassen20. Das bedeutet: Sein Wesen wird in einer „fiktiven Welt", dem "absolut Seienden" verankert, so daß das Ringen um die Vermenschlichung der Welt, ihrer Verhältnisse und Gestaltungen als zweitrangig, ja minderwertig erscheint. Darum behalten die Erkenntnisse, die die klassische Lehre vom Schönen vermittelt, ihren Wert. Wirsollten die (natürlich durch und durch kritische) Auswertung ihrer Grundsätze und, nach Goethes Ratschlag, ihre Fortentwicklung nach wie vor ernst nehmen.

19 20

Vgl. M. Lifschitz, Krise des Häßlichen. V o m Kubismus zur Pop-Art, Dresden 1971. Vgl. E . Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike, Köln 1962.

13

RUDOLF SCHOTTLAENDER

Zur Prometheus-Figur des jungen Goethe 1

Einer meist allzusehr im Hintergrund bleibenden Seite des frühgoethischen PrometheusBildes gilt mein Diskussionsbeitrag; ich stütze mich dabei auf einige Ergebnisse meiner im Weimarer Goethe-Jahrbuch 1972 veröffentlichten Abhandlung „Goethes Formen der Hindeutung auf das Schöpferische'"2. Das „Prometheische", soweit Goethe zu den Merkmalen dieses Begriffs etwas beigesteuert hat, ist uns vor allem aus der Prometheus-Ode von 1773 und der Pandora-Dichtung von 1808 vertraut. Aus der Ode des Vierunzwanzigjährigen tritt uns der in seiner Person die Menschheit verherrlichende Verächter der Götter entgegen, aus der Festspielfigur des Neunundfünfzig jährigen der Erfinder der praktischen Künste und Wortführer der Werktätigen. Menschenerschaffer, Menschenvater ist er hier wie dort; aber gerade diese Eigenschaft ist es, die uns eingefleischten Adepten der biologischen Evolutionslehre am wenigsten bedeutet. Goethe konnte das Wort seines Prometheus „Hier sitz' ich, forme Menschen nach meinem Bilde" weder aus Hesiod noch aus Aischylos entnehmen; denn dort ist Zeus, nicht Prometheus, der Vater der Menschen, der sie auch vernichten kann, ja will, wogegen der Aischyleische Titan Prometheus mit Erfolg Einspruch erhebt (Prometheus Desmotes V. 231—236). Wahrscheinlich kannte Goethe den Prometheus als Menschenerschaffer zunächst aus Ovids „Metamorphosen", wo im 1. Buch (V. 78—83) offengelassen wird, ob der höchste Gott selbst oder ob der Iapetossohn Prometheus den Menschen geschaffen hat. Mit Sicherheit war ihm Lukians Dialog „Prometheus oder Kaukasos" bekannt, wohl über den Lukianverehrer Wieland. Bei Lukian erst taucht der charakteristische Zug auf, daß Prometheus die Menschen nach sich, nach seinem eigenen Bilde schafft, während es bei Ovid heißt: „Er gestaltete sie nach dem Bilde der alles lenkenden Götter" (V. 82: Finxit in effigiem moderantum cuncta deorum). Interessant nun und, wie mir scheint, noch zu wenig beachtet ist der Vergleich, durch den der junge Goethe das Prometheische wiederfindet im Dichter. In der Form einer beiläufigen Bemerkung taucht der Vergleich schon bei Shaftesbury in dessen Schrift „Soüloquy or Advice to an author" vom Jahre 1710 auf. Der „poet" — Shaftesbury setzt voraus, daß seine Leser die Herkunft des englischen Wortes vom griechischen noielv („machen") kennen, — als „maker" lebensvoller und lebenswahrer menschlicher Gestalten heißt dort „ein zweiter Prometheus unter Jupiter". Herder hat diese Andeutung auf Shakespeare bezogen, was Shaftesbury, der seinem großen Landsmann ziemlich reserviert gegenübersteht, nicht getan hatte. Um das Schöpferische an Shakespeare hervorzuheben, bringt Herder (in einem Brief an Gerstenberg) die Begriffe „Schöpfer" und „Dichter" sogar in einen Gegensatz: „Hier ist kein Dichter! ist Schöpfer!" Worte wie „Dichter" oder „Künstler" empfindet er offenbar als allzumenschlich, als allzusehr an willkürliches Machen erin1 2

Auf die Beschäftigung Goethes mit dem Prometheus-Stoff geht auch D. Görne, Antikes Theater in der Vorstellung der Klassik, in diesem Band S. 17—29, bes. S. 26 f. ein. Goethe-Jahrbuch, Bd. 89, Weimar 1972, S. 6 2 - 8 0 . 15

nernd. Nein, Shakespeare wird von Herder als „Sohn der Natur", als „glücklicher Göttersohn" bezeichnet, darum scheint auf ihn nur das Wort „Schöpfer" zu passen, das man im 18. Jahrhundert noch bewußt auf Gott und Gottähnlichkeit bezog. Goethe nun zeigt sich 1771 sowohl von Shaftesburys Prometheus-Gleichnis als auch von Herders ShakespeareEnthusiasmus inspiriert, wenn er in seiner „Rede zum Shäkespears T a g " ausruft: „Natur, Natur! nichts so Natur als Shakespears Menschen" und sogleich hinzufügt: „Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug um Zug seine Menschen nach" 3 . Der Vergleichspunkt zwischen Shakespeare und Prometheus, auf den es dem zweiundzwanzigjährigen Goethe ankommt, liegt darin, daß aus einer Art von absoluter Ursprünglichkeit — Prometheus' Menschen sind die ersten überhaupt! — die Naturhaftigkeit der lebendigen Geschöpfe folgt, die der dramatische Dichter hinstellt und außer ihm kein Künstler, denn nur seine Gestalten bewegen sich beseelt und leibhaftig auf der Bühne (die des Plastikers z. B. scheinen nur zu leben!). 1771 wagt Goethe es noch nicht, sich selbst als Dichter mit Prometheus als Schöpfer zu vergleichen. Shakespeare am ehesten unter den Dichtern scheint ihm diese Ehre zu verdienen. Zwei Jahre später wird er auf einen Wesenszug des schaffenden Dichters aufmerksam, den er an sich selber findet und in Prometheus wiederfindet. Sehr viel später, nach weiteren vierzig Jahren, nimmt er in „Dichtung und Wahrheit" darauf Bezug. Er bringt dort, im 15. Buch, sein „produktives Talent" in einen Zusammenhang mit der Prometheus-Fabel 4 . Als er nämlich — so berichtet er — das (schließlich Fragment gebliebene) Drama „Prometheus" in Angriff nahm, durchlebte er eine Periode, in der er, „auf sich zurückgewiesen, sich nach Bestätigung seiner Selbständigkeit umsah". Mochte er auch noch so vieles von anderen empfangen haben — ihm allein eigen war sein „produktives Talent", auf dessen unaufhörliche Ergiebigkeit er sich damals verlassen konnte. Nicht nur die Menschenfreundlichkeit des Titanen der Sage — seine Einsamkeit vor allem ist es, die ihn an Prometheus zum Vergleich reizt und zur Nachahmung auffordert: , , . . . die alte mythologische Figur des Prometheus fiel mir auf, der, abgesondert von den Göttern, von seiner Werkstätte aus eine Welt bevölkerte. Ich fühlte recht gut, daß sich etwas Bedeutendes nur produzieren lasse, wenn man sich isoliere." Daß darin etwas Paradoxes liegt, spürt er selbst, sagt er doch: „Meine Sachen, die so viel Beifall gefunden hatten, waren Kinder der Einsamkeit" 5 . Bei Lukian wird die Einsamkeit des Menschenvaters gar nicht betont, es kommt da nur auf seine überzeugende Selbstrechtfertigung gegenüber der von Hermes vorgetragenen Anklage des Zeus an. Das Einsamkeitsmotiv wiederum, noch ohne das der Menschenerschaffung, ist im „Prometheus" des Aischylos als tragisches Leiden verstanden und im Monolog des im Kaukasus angeschmiedeten Menschenfreundes gestaltet. Goethe verbindet die Einsamkeitssituation mit dem Schöpfungsgedanken. Wer schöpferisch zu sein sich zutraut, muß auch imstande sein, zeitweise sogar, wie Goethe — er, der Geselligsten einer! — es autobiographisch ausdrückt, „die Hilfe der Menschen abzulehnen, ja, auszuschließen", nicht aus individualistischem Überstolz, sondern um der Zukunftsbedeutung willen, die allein er, außer ihm aber kein noch so wohlwollender Nichtkreativer, dem werdenden Werk einzuschaffen vermag. Nach der Vollendung erst wird er die Mitwelt rufen, so wie Prometheus zum Olympos hinaufruft: „Sieh nieder, Zeus, Auf meine Welt: sie lebt !" 6 3 4 5 6

J. W. v. Goethe, Sämtliche Werke (Jubiläums-Ausgabe), Bd. 36, Stuttgart / Berlin o. J., S. 6. Goethe, Jubiläums-Ausgabe, Bd. 24, S. 231. A. a. O., S. 232. Goethe, Jubiläums-Ausgabe, Bd. 15, S. 19, V. 243f.

16

DIETER GÖRNE

Antikes Theater in der Vorstellung der Klassik

I. An Goethe, der „den Deutschen zuerst die Erhabenheit der griechischen Tragödie gezeigt" habe, sendet am 17. Januar 1804 der Eutiner Historiker Gottfried Gabriel Bredow vertrauensvoll seine Bearbeitung der „Elektra" des Sophokles. Er sei überzeugt, fährt er in seinem Begleitbrief 1 fort, daß das von Goethe geleitete Weimarer Theater die besten Voraussetzungen für eine Aufführung des Dramas besitze und bitte — auch dann, wenn eine Aufführung nicht zustande kommen sollte — um Goethes Urteil, um ein „Paar kurze Zeilen Antwort". Soweit wir sehen, sind Bredows Hoffnungen unerfüllt geblieben: Sein Stück ist nicht aufgeführt worden — und geschrieben hat ihm Goethe auch nicht. Dennoch sind wir über die Meinung des Dichters informiert. Bredows „Elektra"-Bearbeitung sei, heißt es nämlich im Brief an Schiller vom 8. Februar 1804, ein „abermals verunglückter Versuch, ein griechisches Trauerspiel heranzurücken". Besonders erscheint Goethe „der an den alten, für uns vielleicht zu schweren Schritt des Trimeters ohne Vermittlung angeknüpfte gereimte Chor sehr unglücklich"2. Schiller antwortet noch am selben Tag. Im Gegensatz zu Goethe, dessen Kritik nur dem speziellen Stück galt, formuliert Schiller jedoch allgemein und lapidar: „Mit den griechischen Dingen ist es eben eine mißliche Sache auf unserem Theater und, unbesehen des Werks, würde ich schon dagegen raten"3. Damit ist — 1 2

3

Nationale Forschungs-u. Gedenkstätten / Goethe-Schiller-Archiv, Goethe, egg. Briefe, Nr. 43. J. W. v. Goethe, Werke (Weimarer Ausgabe — Abkürzung im folgenden WA), Abt. IV, Bd. 17, S. 61. Schiller an Goethe am 8. 2. 1804 in: Schillers Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Fritz Jonas, Bd. 7, Stuttgart 1896, S. 122. Mit dieser Bemerkung — das muß ergänzend gesagt werden — wendet sich Schiller nicht grundsätzlich gegen die Aufführung antiker Dramen in der Gegenwart. Vielmehr beklagt auch er in erster Linie die miserable Qualität der verschiedenen vorliegenden Bearbeitungen antiker Stücke. Schiller selbst unternahm mit seiner „Braut von Messina" den Versuch, sich „auch einmal mit den alten Tragikern in ihrer eigenen Form zu meßen, und zugleich die Dramatische Wirkung des alten Chors zu erproben" (Brief an Wilhelm Gottlieb Becker vom 2. 5. 1803, Schillers Briefe, a. a. O., S. 37). Dieser Versuch fand seit der Uraufführung des Werkes am 19. März 1803 im Weimarer Theater beim Publikum außerordentlichen Beifall. Dennoch äußerte sich Schiller schon am 22. April 1803 in einem Brief an August WilhelmIffland skeptisch: „Bei der Braut von Messina habe ich (...) einen kleinen Wettstreit mit den alten Tragikern versucht, wobei ich mehr an mich selbst als an ein Publicum außer mir dachte, wiewohl ich innerlich überzeugt bin, daß bloß ein Dutzend lyrischer Stücke nöthig seyn würden, um auch diese Gattung, die uns jetzt fremd ist, bei den Deutschen in Aufnahme zu bringen, und ich würde dieses allerdings für einen großen Schritt zum Vollkommenen halten. Uebrigens aber werde ich es vor der Hand dabei bewenden lassen, da Einer allein nun einmal nicht hinreicht, den Krieg mit der ganzen Welt aufzunehmen." (Schillers Briefe, a. a. O., S. 34 f.)

17

mindestens für den Briefwechsel der beiden Freunde — die Angelegenheit erledigt; Goethe läßt Schillers skeptische Formulierung ohne Widerspruch. Heißt das: er stimmt ihr zu? Ein Blick auf den Spielplan des Weimarer Theaters, für den Goethe in der Zeit bis zum April 1817 wesentlich verantwortlich war, scheint diese Vermutung zu bestätigen: In all den Jahren wurde kein einziges Werk von Aischylos inszeniert; die „Antigone" des Sophokles erlebte (in der Bearbeitung von Johann Friedrich Rochlitz) fünf und der „Ion" des Euripides (in der Bearbeitung August Wilhelm Schlegels) ganze sechs Aufführungen. Auch Werke anderer, neuerer Autoren, die hinsichtlich ihrer Handlung und ihres Anliegens der Antike verpflichtet waren (etwa Christoph Willibald Glucks Oper „Iphigenia in Tauris", Georg Bendas Melodrama „Medea" oder Ernst August Klingemanns „Oedipus und Jokaste"), tauchen nur selten im Repertoire auf, und selbst Goethes „Iphigenie" erreicht insgesamt nicht mehr als achtzehn Aufführungen. Angesichts dieses Tatbestandes drängt sich natürlich die Frage auf, ob wir der Aussagekraft der eben genannten Zahlen wirklich trauen dürfen, ob es gelingen kann, auf dem Wege einer solchen statistischen Betrachtungsweise den erwünschten Aufschluß darüber zu erlangen, in welchem Umfang das Drama der Antike — inhaltlich und formal — tatsächlich Bedeutung für das Denken der deutschen Klassik und für das eigene schöpferische Wirken ihrer bedeutendsten Repräsentanten gewann. Im folgenden soll dieses Problem etwas eingehender untersucht werden. Dazu ist jedoch eine Vorbemerkung unerläßlich: Das aufgeworfene Thema in seiner Gesamtheit zu behandeln, ist unter den gegebenen Umständen vor allem aus Raumgründen unmöglich. Um dennoch einen gültigen Eindruck von der Rezeption des antiken Theaters in der Epoche der deutschen Klassik vermitteln zu können, werde ich versuchen, den Einfluß zu charakterisieren, den die drei großen Tragiker Griechenlands — Aischylos, Sophokles und Euripides — auf Goethe ausübten. Selbstverständlich werden dabei — vor allem im Hinblick auf theoretisch-ästhetische Fragen — ebenfalls Probleme der Aristotelischen „Poetik" eine Rolle zu spielen haben und — im gleichen Zusammenhang — auch der Gedankenaustausch Goethes mit Schiller. II. Erwachsen aus den zu Ehren des Gottes Dionysos dargebotenen kultischen Gesängen, eroberte sich das Theater sehr rasch eine ganz außergewöhnlich wichtige Stellung im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Polis, des griechischen Staatswesens. Allein die Tatsache, daß jede Aufführung von mehreren tausend Menschen gesehen und gehört wurde (im Dionysos-Theater in Athen konnten 15000 bis 17000 Besucher zugleich Platz finden), ließ jede auf der Szene vorgetragene Handlung zum Politikum werden. Entsprechend intensiv waren die Förderungs- und Unterstützungsmaßnahmen, die der Staat dem Theater angedeihen ließ. So hatte grundsätzlich jeder freie Bürger das Recht, das Theater zu besuchen. Um auch den weniger Bemittelten die Wahrnehmung dieses Rechtes tatsächlich zu ermöglichen, kam der attische Staat in der Zeit seiner höchsten Blüte sogar für den Verdienstausfall auf, der dem Theaterbesucher in den Tagen des „tragischen Agon" entstand. Die jährliche Durchführung dieses „tragischen Agon" wurde auf solche Art regelrecht zum Staatsakt. Von den fünf Tagen, die ein derartiger künstlerischer Wettstreit stets dauerte, war der erste Tag ausschließlich damit ausgefüllt, die um den Siegespreis ringenden Dichter vorzustellen. Die folgenden drei Tage galten dann ganz dem künstlerisch-dramatischen Wettbewerb, und am fünften Tag fand schließlich eine große Volksversammlung statt. Jeweils zehn von den freien Bürgern gewählte Preisrichter verfolgten den Wettbewerb und entschieden am Schluß durch Abstimmung darüber, welchem Werk 18

und welchem tragischen Dichter der erste Preis gebührte. Daß die in solchem Rahmen ausgezeichneten Stücke in Inhalt und Form gänzlich den Interessen der im Zuschauerrund versammelten Volksmenge entsprechen mußten, ist selbstverständlich. Alle diese Gesichtspunkte zusammen lassen es durchaus berechtigt erscheinen, wenn zahlreiche Forscher immer wieder den in hohem Grad demokratischen Charakter des klassischen griechischen Theaters hervorheben — wobei der Begriff „Demokratie" in diesem Zusammenhang natürlich mit der für den Sklavenhalterstaat unumgänglichen Einschränkung zu verstehen ist. Der erste der ganz großen Sieger im tragischen Agon ist Aischylos, Verfasser von 90 Tragödien, von denen leider nur sieben vollständig überliefert sind. D a über Aischylos' Leben und über seine Weltanschauung so gut wie keine Nachrichten existieren, ist die Analyse allein auf die Texte seiner Tragödien angewiesen. Aus ihnen allerdings ist die religiöse und politische Überzeugung des Dichters mit großer Sicherheit abzuleiten. Denn so verschieden die Beweggründe, die Ausgangspunkte und die Folgen der Handlungen der einzelnen Helden des Aischylos auch sein mögen — grundsätzlich ringen alle, unter Einsatz ihres eigenen Lebens, darum, die Welt der Götter, die Vielfalt der den Menschen unerklärlichen und gefährlichen Erscheinungen in Natur und Gesellschaft mit den Interessen der menschlichen Gemeinschaft in Übereinstimmung zu bringen. In diesem oft heroischen Kampf verlieren die von Aischylos gestalteten Persönlichkeiten niemals ihre menschlichen Züge. Sie „sind keine Heiligen, wenngleich sie zu einer gerechten Gottheit Zuflucht nehmen. Sie begehen Fehler, verwirrt von der Leidenschaft. Sie werden von ihr mit fortgerissen, werden gewalttätig. Aber sie alle besitzen irgendwelche große menschliche Tugenden. Alle den Mut, mehrere die Liebe zur Heimat, die Menschenliebe, viele die Liebe zur Gerechtigkeit und den Willen, ihr zum Siege zu verhelfen. ... sie sind Menschen, die auf der Höhe der Menschlichkeit stehen und durch ihren Kampf und ihre Taten die unglaubliche Fähigkeit des Menschen verkörpern, allem Mißgeschick Widerstand zu leisten, das Unglück in menschliche Größe und Freude zu verwandeln — und dies für die anderen Menschen, in erster Linie für die ihres Volkes." 4 Diese Helden, ihre Gedanken und ihre Handlungen sprachen den Zuschauer unmittelbar an. Ihr Schicksal forderte zum Vergleich mit dem eines jeden einzelnen heraus, und indem der Zuschauer begriff, daß der tragische Held für die Verbesserung der Welt und des menschlichen Lebens in ihr kämpfte, wurde er selbst angeregt und aufgerufen, ebenfalls seine ganze Kraft in den Dienst dieser Aufgabe zu stellen — und das auch dann, wenn (wie so häufig in den vorgeführten Tragödien) die Hindernisse, die von göttlichen Kräften der schöpferischen Tat des Menschen entgegengestellt wurden, sich zunächst als unüberwindlich erwiesen. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Handlung im mythologischen oder ausschließlich im Bereich der menschlichen Gesellschaft spielte. Allerdings war der letzte Fall selten, und es konnte durchaus geschehen, daß der Dichter, der (wie z. B. Aischylos mit seinen „Persern") eine Tragödie aus einem zeitgenössischen Stoff formte, heftigen Angriffen ausgesetzt war 5 . Unabhängig davon wurden jedoch auch die mythologischen Stoffe dazu benutzt, Aussagen zu ganz konkreten gesellschaftlichen Ereignissen zu treffen. Das war um so leichter möglich, als die Mythen im Prinzip allen Besuchern ebenso gut bekannt waren wie den Schauspielern: Das Schicksal und die Geschichte des von Tantalos stammenden 4

6

A. Bonnard, Die Kultur der Griechen, Bd. 1: Von der Ilias zum Parthenon, Dresden 1962, S. 200f. Vgl. dazu A. G . Kuckhoff, Das Drama der Antike (Die Tragödie), in: Schriften zur Theaterwissenschaft, Bd. 2, Berlin 1960, S. 65.

19

Geschlechts war den Theaterbesuchern der Antike in allen schrecklichen Details ebenso geläufig wie die Biographie und die Taten des Oidipus. Wenn dennoch alle großen Tragiker diese und andere Stoffe ganz oder teilweise behandelten, galt die Spannung der Zuschauer also von vornherein nicht so sehr dem bekannten einfachen Gang der Handlung, sondern vielmehr der Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wurde. Die Interpretation der dem Stück teilweise zugrundeliegenden Ideen zu verschiedenen Zeiten durch verschiedene bedeutende Dichter — das war es, worauf das antike Publikum in jedem Fall seine konzentrierte Aufmerksamkeit richtete. Dem derart kritischen Betrachter erschließt sich in den Dramen des Aischylos eine im wesentlichen intakte Welt — Ausdruck und Widerspiegelung der sich kontinuierlich festigenden gesellschaftlichen und politischen Situation des attischen Staatswesens. Auf den ersten Blick scheint dieser These ein Stück wie der „Gefesselte Prometheus" allerdings durchaus zu widersprechen — wird doch darin Prometheus, der als Freund und Wohltäter der Menschen den Göttern das Feuer stahl und auf diese Weise den von Zeus schon beschlossenen Untergang des Menschengeschlechtes verhinderte, aufs fürchterlichste für diese humane Tat bestraft. Der Willkür und dem Haß des Götterfürsten scheinen keine Grenzen gesetzt. Und dennoch: Prometheus ist zwar geschlagen — aber er ist nicht besiegt worden! Denn er wußte, bevor er die Tat wagte, wie schrecklich die Folgen für ihn sein würden. Er weiß aber zugleich, daß die von ihm den Menschen gebrachten Wohltaten (denn aus dem Besitz des Feuers erwuchsen folgerichtig weitere Errungenschaften menschlicher Zivilisation) unverlierbar sein würden. Deshalb kann er alle ihm auferlegten Qualen heroisch erdulden — zumal er auch weiß, daß ihnen einst auf Grund nur ihm allein bekannter, für Zeus jedoch überaus wichtiger Geheimnisse ein Ende beschieden sein wird. Das Stück endet also nicht schlechthin mit Prometheus' Vernichtung auf seiner donnernden Fahrt in die Tiefe. Vielmehr bleibt über allem momentanen Greuel die optimistische Gewißheit einer künftigen möglichen Versöhnung zwischen Prometheus und den Göttern. Es ist bekannt, daß Aischylos die Versöhnung in einem verloren gegangenen Stück, dem „Befreiten Prometheus", auch selbst gestaltet hat. Die wenigen Angaben über dieses Werk (das wahrscheinlich das Schlußstück einer ganzen „Prometheus"-Trilogie war) reichen gerade aus, um annehmen zu können, daß Zeus einwilligte, seiner Laune für die Frau, deren Name Prometheus bekannt war, zu entsagen. Wenn er Verzicht leistete, so nur, um die Welt nicht in neue Unordnung zu stürzen! Der Entschluß zeigt ihn der Würde wert, hinfort der Herr und Hüter des Universums zu bleiben. Dieser erste über sich selbst errungene Sieg hatte einen weiteren zur Folge: Zeus bezwang den Zorn, mit dem er Prometheus verfolgte, und gewährte auf diese Weise der Gerechtigkeit Genugtuung. Prometheus unterwarf sich seinerseits und bedauerte ohne Zweifel das Stück Irrtum und Stolz, das in seiner Revolte wirksam war. So neigte er sich vor dem Herrn der Götter, der würdig geworden war, es zu sein. So willigten die Gegner, die sich beide innerlich besiegt hatten, in eine Beschränkung ihrer verwirrten Leidenschaften. Sie opferten sie einem höheren Ziel: der Ordnung der Welt. 6 Von der gestörten und schließlich auf höherer Ebene wiedererrungenen Ordnung der Welt handelt auch die gewaltige Trilogie der „Oresteia". Ganz offenbar steht hinter der Handlung ein welthistorischer Prozeß: die Entwicklung des Staates, der von Aischylos und seinen Zeitgenossen „als die höchste sittliche Macht des menschlichen Lebens"7 betrachtet wird. Und auch in diesem Drama gewinnt der Held — Orest — seine Größe aus der Tatsache, daß er nicht aufhört, zu handeln und für Recht und Gerechtigkeit zu s 7

20

Bonnard, a. a. O., S. 212. Ed. Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. 3, Stuttgart 1901, S. 453.

kämpfen — auch wenn er sich selbst damit die schlimmste Pein bereitet. Es ist wiederum Ausdruck der ungebrochenen Stellung des Aischylos zur Weltanschauung und Gesellschaftsordnung des attischen Staates, wenn auch am Ende dieser Dramenfolge alle bisher scheinbar auf ewig, gesetzmäßig und unversöhnlich verfeindeten Parteien zu einem für jeden einzelnen, vor allem aber für die Gemeinschaft der Polis nutzbringenden Kompromiß gelangen. Als etwa 30 Jahre später Sophokles die Arena der großen dramatischen Wettspiele betritt, hat sich die Situation bereits entscheidend verändert. Nach der Not, in die Athen durch die Perserkriege gestürzt worden war, hatte der Staat nach dem in letzter Minute erfochtenen Sieg in einem beispiellosen Aufschwung höchste Macht und Größe errungen. Die Sklavenhaltergesellschaft war endgültig etabliert und garantierte jedem freien Bürger ein bisher nicht gekanntes Maß demokratischer Freiheit. Der Preis für diese Freiheit war jedoch hoch: Er bestand in den mit allem äußeren Erfolg zugleich ständig wachsenden gesellschaftlichen Widersprüchen. Ohne die klassenbedingten Ursprünge dieser Widersprüche zu erkennen, spürten sie alle, spürte sie selbstverständlich auch der erfahrene, feinfühlige Staatsmann Sophokles. In seinen Tragödien verleiht er diesen Konflikten künstlerischen Ausdruck. Der Mensch hat auf Grund seiner Leistungen an Selbstbewußtsein gewonnen. Voll berechtigten Stolzes glaubt er sich nun im Stande, dem Schicksal jederzeit entgegentreten zu können. Doch er wird in der Realität immer wieder einem Schicksal konfrontiert, das er weder erkennen noch begreifen kann. Auf gänzlich neuer Ebene wird deshalb der Kampf des Menschen mit dem Schicksal zu einem Kampf um den Bestand menschlicher Werte schlechthin. Die Überzeugung, daß das Schicksal nach allen Leiden und Anfechtungen für das Individuum wie für die Gemeinschaft schließlich dennoch die Aussicht auf eine positive Entwicklung eröffnen werde, wird im Verlauf dieses Ringens immer öfter zweifelhaft. Gerade in solchen Situationen kann aber der einzelne Mensch wiederum leicht zur Selbstüberhebung und Anmaßung, zur „Hybris", verleitet werden — wodurch das Schicksal abermals und besonders herausgefordert wird. So vermag der Mensch seine Errungenschaften nicht unangefochten zu genießen. Der Freude über das Erreichte gesellt sich sofort die Sorge um ein mehr oder weniger als willkürlich gefürchtetes künftiges Schicksal. Und dennoch vermag der Mensch auch unter solchen Belastungen als Mensch und Persönlichkeit zu bestehen. Gestalten wie König Oidipus oder Antigone geben dafür — ohne daß auf ihre Entwicklung hier im einzelnen eingegangen werden könnte — den schönsten Beweis. Das Bild einer nicht mehr intakten Welt vermitteln dagegen fast alle Dramen des Euripides. Sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht wird deutlich, daß die Verhältnisse noch unsicherer geworden sind. Angesichts des die Existenz Athens bedrohenden Peloponnesischen Krieges wird klar, daß ein ungewisses Schicksal jetzt nicht mehr nur das einzelne Individuum bedroht, sondern auch den Bestand der Gemeinschaft. Als Ausdruck einer zwar den einzelnen möglicherweise vernichtenden, den Entwicklungsprozeß der Gattung zuletzt aber immer vorantreibenden Macht hatte Aischylos das Schicksal begriffen. Sophokles vermochte diesen ungebrochenen Optimismus bereits nicht mehr zu teilen — wenngleich auch er den Bestand der Gesellschaft als gesichert, die Entwicklung also insgesamt untragisch sah. Euripides stellt nun auch dieses Letzte, bisher für sicher Erklärte in Zweifel. Indem jedoch die Gemeinschaft aller Menschen einem nicht mehr überschaubaren Schicksal unterworfen ist, erhält das Schicksal des einzelnen um so mehr zufälligen Charakter — eine Tatsache, welche allerdings gleichzeitig dem Individuum in bisher weder möglichem noch erforderlichem Maß die Fähigkeit zur höchsten Entfaltung aller seiner Kräfte gibt. Oidipus wird — mit vielen anderen Helden bei Sophokles und Aischylos — objektiv 21

schuldig, obwohl er subjektiv völlig unschuldig ist und selbst keinerlei Möglichkeit hat, das ihm von den Göttern vorherbestimmte Los zu beeinflussen. Anders die Helden des Euripides! Sie besitzen die Chance zur subjektiven Entscheidung und werden damit in ganz anderem Umfang als alle ihre Vorgänger tatsächlich für ihr Schicksal, für ihre Biographie im umfassenden Sinn des Wortes selbst verantwortlich — gleichgültig, ob wir dabei an Ion oder Medea, an Alkestis oder Iphigenie denken. Die Macht der Götter verliert in gewisser Weise an Bedeutung — und der berühmte Satz des Protagoras „Der Mensch ist der Maßstab aller Dinge" gewinnt unter diesen Umständen für die Euripideischen Tragödien zentrale konzeptionelle Bedeutung. III. Im Brief an Zelter vom 6. November 1827 gebraucht Goethe eine Formulierung, die für die Charakteristik seiner Beziehungen zur Antike als eine Art Leitmotiv gelten kann: „... ich für meine Person bin in dem Falle, daß mich das Anschauen des Alterthums in jedem seiner Reste in den Zustand versetzt, worin ich fühle ein Mensch zu seyn." 8 Indirekt ist damit zugleich eine Frage aufgeworfen, die für Goethes Denken und Schaffen in immer neuer künstlerischer Form zum zentralen Bezugspunkt geworden ist: die Frage nach dem Sinn des Lebens inmitten der gegebenen gesellschaftlichen Realität. Sobald es nun bei der Suche nach einer gültigen Stellungnahme zu diesem menschheitsbewegenden Problem um einen Vergleich mit dem klassischen Altertum geht, ist Goethe fest überzeugt, daß der Mensch seines, also eines späteren Zeitalters zwar „gar manches durch zweckmäßigen Gebrauch einzelner Kräfte", gelegentlich auch „das Außerordentliche durch Verbindung mehrerer Fähigkeiten" leisten kann, „aber das Einzige, ganz Unerwartete leistet er nur, wenn sich die sämmtlichen Eigenschaften gleichmäßig in ihm vereinigen. Das letzte war das glückliche Loos der Alten, besonders der Griechen in ihrer besten Zeit"9. Jedoch bleibt Goethe bei der Feststellung dessen, was der Mensch unter bestimmten, besonders günstigen Bedingungen zu leisten vermag, nicht stehen. Vielmehr wird im gleichen Zusammenhang auch genau fixiert, welchen Zielen diese höchste menschliche Fähigkeit allein diente: Die Griechen „fühlten . . . ihre einzige Behaglichkeit innerhalb der lieblichen Gränzen der schönen Welt. Hierher waren sie gesetzt, hiezu berufen, hier fand ihre Tätigkeit Raum, ihre Leidenschaft Gegenstand und Nahrung" 10 . Und Eckermann notiert am 29. Januar 1826: „Man spricht immer vom Studium der Alten, allein was will das anderes sagen als: Richte dich "auf die wirkliche Welt und suche sie auszusprechen; denn das taten die Alten auch, da sie lebten." 11 Der bekenntnishafte Charakter dieser Feststellungen ist nicht zu übersehen. Angesichts der revolutionären Umwälzungen in der eigenen gegenwärtigen Gesellschaft gewinnt die Antike in den Augen Goethes und zahlreicher seiner Zeitgenossen vorbildhafte Bedeutung : Sie wird zum Maßstab der Bewertung für alle Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens, der Wissenschaft und der Kunst. Für den Dichter bedeutete das zunächst, daß er bei jeder Beschäftigung mit antiker Literatur über die Auseinandersetzung mit dem einzelnen Autor und seinem Werk hinaus auch die spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen genau zu ergründen hatte, unter denen dieser Autor arbeitete; denn „den 8 9 10 11

22

W A IV, Bd. 43, S. 148. Goethe, Winckelmann, W A I, Bd. 46, S. 21 f. A. a. O., S. 22. Goethe zu Eckermann am 29. 1. 1826, in: J. P. Eckermann, Gespräche mit Goethe, Berlin 1956, S. 224.

echten Dichter wird niemand kennen, als wer dessen Zeit kennt."12 Diese Einordnung des einzelnen Kunstwerkes in den Gesamtprozeß der geschichtlichen Entwicklung gewinnt auch insofern große Bedeutung, als es dem Dichter auf diese Weise leichter wird, dem klassischen Kunstwerk gegenüber einen eigenen Standpunkt zu finden und zu vertreten. Denn — diese Überzeugung findet sich bei Goethe ebenso wie bei Schiller und anderen bedeutenden Zeitgenossen wiederholt ausgesprochen — das klassische griechische Altertum in gesellschaftlicher oder künstlerischer Hinsicht ohne eigenen Standpunkt kritiklos und blind zu bewundern oder vielleicht sogar zu kopieren, wäre gleichbedeutend mit dem Ende jeglichen Schöpfertums. Mit den schärfsten Worten weist Goethe immer wieder auf diese Gefahr hin; und er wird nicht müde, einer solchen dogmatisch-sterilen Betrachtungsweise seine eigene produktive Auffassung gegenüberzustellen : Angesichts der hohen Vollendung griechischer Kunstwerke müsse man, um von deren Größe nicht eingeschüchtert und schließlich „vernichtet" zu werden, „dem Vortrefflichen unserer Vorfahren" die eigene „productive Kraft entgegen zu setzen"13 sich immerfort aufs neue bemühen. Unter diesem produktiv-schöpferischen Aspekt beschäftigten sich Goethe und Schiller, man darf sagen, lebenslang auch mit den Werken des griechischen Theaters. Die Fülle der brieflichen Äußerungen und Tagebucheintragungen gibt davon ein ebenso anschauliches Bild wie ihr dichterisches Schaffen insgesamt. Es stehen also in diesem Zusammenhang nicht nur die kompletten Übersetzungen antiker Dramen und die nach antiken Stoffen frei gestalteten eigenen Dichtungen zur Debatte, sondern zugleich auch die vielfältigen indirekten Wirkungen, die von der antiken Tragödie und Dichtung ausgingen und die weltanschaulich-künstlerischen Positionen der deutschen Klassik entscheidend prägten. Insbesondere hat dieser gewissermaßen latente Einfluß die Auffassung Goethes über das Tragische und — damit aufs engste zusammenhängend — über die Stellung des Menschen in der Gesellschaft bestimmt. Seiner Bedeutung wegen soll dieses Problem herausgegriffen und etwas ausführlicher behandelt werden. Im Briefwechsel mit Schiller findet sich die interessante Feststellung, daß es Goethe „ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse ... niemals gelungen" sei, „irgend eine tragische Situation zu bearbeiten". Er habe sie „daher lieber vermieden als aufgesucht", und er sei „beynahe überzeugt", daß ihn der bloße Versuch, eine Tragödie zu schreiben, „zerstören könnte"14. Dazu muß zunächst gesagt werden, daß Goethe, wenn er hier von der möglichen zerstörerischen Wirkung der Tragödie auf ihn selbst spricht, an Tragödien denkt, die (wie meist in der Antike) von unversöhnlichen, unauflösbaren Konflikten bestimmt sind. Denn — deshalb muß eine solche eingrenzende Begriffsbestimmung vorgenommen werden — Goethe hat ja ebenfalls durchaus tragische Konflikte künstlerisch gestaltet — sei es in den „Wahlverwandtschaften" oder im „Faust", um nur diese beiden von vielen möglichen Beispielen zu nennen. Jedoch geht er dabei stets davon aus, daß eine Verabsolutierung des Tragischen im Hinblick auf den historischen Prozeß der Menschheitsentwicklung undenkbar ist. Dem möglichen tragischen Einzelschicksal steht nach Goethes entschiedener Überzeugung die untragische, optimistisch vorwärtsweisende Entwicklung der Menschheit insgesamt gegenüber. Diese Überzeugung fand sich, wie schon erwähnt, im Kern auch bei einem Autor wie Aischylos, sie wird jedoch, verbunden mit dem Wissen und dem historischen Selbstbewußtsein der aufstrebenden bürgerlichen Klasse, bei Goethe und, wie wir hinzufügen dürfen, beiden meisten seiner Zeitgenossen in 12 13 14

Goethe, Von Knebels Übersetzung des Lucrez, W A I, Bd. 41, S. 361. Goethe, Philoktet, dreifach, W A I, Bd. 42 2 , S. 465. Goethe an Schiller am 9. 12. 1797, W A IV, Bd. 12, S. 373f.

23

weit stärkerem Maße konzeptionsbestimmend wirksam. In diesem Sinn wird in dem Aufsatz „Über epische und dramatische Dichtung" hervorgehoben, daß die „Gegenstände" der Tragödien „rein menschlich, bedeutend und pathetisch" sein sollten: „... die Personen stehen am besten auf einem gewissen Grade der Cultur, wo die Selbstthätigkeit noch auf sich allein angewiesen ist, wo man nicht moralisch, politisch, mechanisch, sondern persönlich wirkt." Ganz folgerichtig berufen sich Goethe und Schiller an dieser Stelle auf die Antike: „Die Sagen aus der heroischen Zeit der Griechen waren in diesem Sinne den Dichtern besonders günstig." 15 Wenn dann aber unter den anschließend aufgeführten fünf möglichen tragischen Motiven ausdrücklich auch ,,Vorgreifende" genannt werden, „die dasjenige, was nach der Epoche des Gedichts geschehen wird, anticipiren"16, so ist damit abermals genau der entscheidende, über die Tragikauffassung der Antike hinausweisende Akzent gesetzt. Bei dem Versuch, den Ursprung tragischer Konflikte zu fixieren, geht Goethe zunächst ebenfalls von Werken der Antike aus, wenn er feststellt, daß die „größten Qualen .., welchen der Mensch ausgesetzt sein kann, ... aus den einem jeden inwohnenden Mißverhältnissen zwischen Sollen und Wollen, sodann aber zwischen Sollen und Vollbringen, Wollen und Vollbringen" 17 erwachsen. Dabei sei in den „alten Dichtungen" das „Unverhältniß zwischen Sollen und Vollbringen" das Bestimmende. Das heißt: Goethe sieht in den antiken Tragödien ein unausweichliches „Sollen" gestaltet, „das durch ein entgegenwirkendes Wollen nur geschärft und beschleunigt wird. Hier ist der Sitz alles Furchtbaren der Orakel, die Region, in welcher ödipus über alle thront. Zarter erscheint uns das Sollen als Pflicht in der Antigone, und in wie viele Formen verwandelt tritt es nicht auf. Aber alles Sollen ist despotisch. Es gehöre der Vernunft an: wie das Sitten- und Stadtgesetz, oder der Natur: wie die Gesetze des Werdens, Wachsens und Vergehens, des Lebens und Tqdes. Vor allem diesen schaudern wir, ohne zu bedenken, daß das Wohl des Ganzen dadurch bezielt sei."18 Es ist auf den ersten Blick überraschend, daß Goethe diesem „despotischen Sollen", in dem er den Hauptgrund für die Größe und Stärke der antiken Tragödie sieht, das die modernen Tragödien vor allem bestimmende, scheinbar die menschliche Entscheidungsfreiheit unterstreichende „Wollen" in durchaus negativer Bedeutung gegenüberstellt. Bei genauerer Prüfung wird jedoch klar, daß Goethes Kritik in diesem Fall lediglich den zahlreichen pseudotragischen Dramen verschiedener moderner Dichter gilt, denen es an wirklich bedeutenden Charakteren und Konflikten gänzlich mangelt und die auf solche Weise an die menschliche „Schwachheit" appellieren, der es angenehm ist, „wenn wir nach peinlicher Erwartung zuletzt noch kümmerlich getröstet werden"19. Die bereits zitierte Goethesche Auffassung, daß eine Verabsolutierung des Tragischen nicht denkbar sei, hat mit dieser kompromißlerischen Haltung natürlich nicht das geringste zu tun. Was Goethe an die Stelle des unversöhnlichen, rein tragischen Konfliktes (der ihm, wie er an Zelter schrieb, „ganz absurd"20 vorkam) setzen möchte, geht bereits aus dem schon mehrfach angeführten Aufsatz „Shakespeare und kein Ende", geht aber besonders deutlich aus seiner Auseinandersetzung mit Aristoteles hervor: Die tragische Handlung müsse „nach einem Verlauf ... von Mitleid und Furcht mit Ausgleichung solcher Leidenschaften ihr Geschäft"21 abschließen. Ebendiese „aussöhnende Abrundung, welche eigentlich 15 1S 17 18 19 20 21

24

Goethe / Schiller, Über epische und dramatische Dichtung, W A I, Bd. 41/2, S. 221. A. a. O., S. 222. Goethe, Shakespeare und kein Ende, W A I, Bd. 41/1, S. 59. A. a. O., S. 60 f. A . a . O., S. 61. Goethe an Zelter am 31. 10. 1831, W A IV, Bd. 49, S. 128. Goethe, Nachlese zu Aristoteles Poetik, W A I, Bd. 41/2, S. 247 f.

von allem Drama, ja sogar von allen poetischen Werken gefordert" 22 werde, begreife Aristoteles als Katharsis. Diese sehr freie Übertragung der berühmten Tragödiendefinition aus dem 6. Kapitel der „Poetik" ist wiederum höchst charakteristisch für Goethe, der sich zwar immer wieder nachdrücklich zum griechischen Gedankengut als dem Ausgangspunkt auch seiner Überlegungen bekennt, der aber dennoch — ungeachtet der Größe dieser Ideen — nicht unkritisch übernimmt, sondern stets bewußt die eigenen zeitgenössischen Erfahrungen in seine Arbeiten einfließen läßt. Das bestimmt auch seine Interpretation antiker Dramen, die er in diesem Zusammenhang zum Beleg heranzieht, sei es die „Oresteia" oder der „Oidipus auf Kolonos". Besonders das letztgenannte Werk erscheint ihm charakteristisch, indem darin „ein halbschuldiger Verbrecher, ein Mann, der durch dämonische Constitution, durch eine düstere Heftigkeit seines Daseins, gerade bei der Großheit seines Charakters, durch immerfort übereilte Thatausübung den ewig unerforschlichen, unbegreiflich folgerechten Gewalten in die Hände rennt, sich selbst und die Seinigen in das tiefste unvorstellbarste Elend stürzt und doch zuletzt noch aussöhnend ausgesöhnt und zum Verwandten der Götter, als segnender Schutzgeist eines Landes eines eigenen Opferdienstes werth, erhoben wird" 23 . Demzufolge stimmt Goethe auch gänzlich darin mit Aristoteles überein, „daß man den Helden der Tragödie weder ganz schuldig noch ganz schuldfrei darstellen müsse"24, daß er aber auf jeden Fall den „Charakter des Großartigen, des Tüchtigen, des Gesunden, des Menschlich-Vollendeten, der hohen Lebensweisheit, der erhabenen Deutungsweise, der reinkräftigen Anschauung" 25 besitzen solle. Prinzipiell ist also — und darin entsprechen die Grundauffassungen Goethes völlig denen der Antike — jede fatalistische Resignation mit dem Goetheschen Tragikbegriff unvereinbar. Vielmehr kommt auch in der Gestaltung tragischer Konflikte Goethes Überzeugung zum Ausdruck, daß der Mensch allein verantwortlich für sein Schicksal ist. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt ein tragischer Konflikt tatsächlich weder vom einzelnen noch von der Gemeinschaft gelöst werden kann. Im Gegenteil: gerade angesichts solcher Situationen vertritt der Dichter die feste Überzeugung, daß es späteren Generationen gelingen wird, durch überlegtes und produktives, das Interesse der Gemeinschaft vor allem berücksichtigendes Handeln tragisch angelegte Konflikte auf untragische Weise zu überwinden. Sowohl die generell optimistische Weltsicht des Aischylos, der den kontinuierlichen Fortschritt der Menschheitsentwicklung niemals in Zweifel setzte, als auch die Auffassung des Euripides von der Verantwortlichkeit des einzelnen für sich und für die mit ihm lebenden Menschen sind in dieser Überzeugung Goethes schöpferisch aufgehoben. Wenn nun noch zu einzelnen Werken gesprochen werden soll, in denen sich Goethe direkt mit antiken Vorbildern auseinandersetzt, so muß notwendigerweise auch hier die Konzentration auf das Wesentlichste vor der Detaildarstellung und manchmal die knappe Behauptung vor der genaueren Beweisführung rangieren. Betrachten wir unter dieser Voraussetzung, in welchem Umfang Goethe seine Aufmerksamkeit dem Schaffen der drei großen attischen Tragiker im speziellen widmete, so fällt zunächst auf, daß er alle drei in gleichem Maße auf höchste schätzt — auch wenn die Intensität der Beschäftigung mit ihren einzelnen Werken zu verschiedenen Zeitpunkten durchaus unterschiedlich ist. Dabei weiß er sehr wohl die besondere Eigenart eines jeden zu erkennen und zu würdigen — eine 22 23 24 25

3

A . a. O., S. 248. A. a. O., S. 249. Ebenda; vgl. dazu das 13. Kapitel der „Poetik". Goethe zu Eckermann am 3. 5. 1827, in: Eckermann, Gespräche mit Goethe, S. 325f. Antikerezeptioa

25

Feststellung, die vor allem im Hinblick auf Euripides Geltung hat, den Goethe gerade deshalb für einen „unschätzbaren"26 Dichter hält, weil er verstanden hatte, „nach Aischylos und Sophokles seiner Zeit genug zu thun"27, das heißt, zu einem seiner Zeit gemäßen eigenen Stil zu finden. Darüberhinaus ist es außerordentlich interessant, daß Goethes Urteil über Aischylos, Sophokles und Euripides im wesentlichen über alle Jahre seines langen, erfahrungsreichen Lebens hinweg das gleiche geblieben ist. So kann von einer Entwicklung seiner Auffassungen in qualitativer Hinsicht wohl nur insofern gesprochen werden, als er — immer auf dem gleichen Fundament einer gesicherten geistigen Wahlverwandtschaft zwischen seinem und dem Gedankengut der Antike aufbauend — im Verlauf stets erneuter Beschäftigung mit einzelnen Stoffen und Problemen zu stets tieferen Einsichten mit allen sich daraus für das eigene Schaffen ergebenden Konsequenzen gelangt. Ein hervorragendes Beispiel für diese Art der Auseinandersetzung bildet der PrometheusMythos. Rückblickend schildert Goethe im 15. Buch von „Dichtung und Wahrheit", wie er zunächst, „ohne weiter nachgedacht zu haben"28, angefangen habe, nach der alten Fabel des Prometheus ein Stück zu schreiben, „worin das Mißverhältnis dargestellt ist, in welches Prometheus zu dem Zeus und den neuen Göttern geräth, indem er auf eigne Hand Menschen bildet, sie durch Gunst der Minerva belebt und eine dritte Dynastie stiftet"29. Der Dichter wendet sich dann der berühmten Ode zu, die — als Bestandteil des Dramas konzipiert — durch Jacobis Indiskretion für sich veröffentlicht und, als wahres „Zündkraut einer Explosion"30 wirkend, zum Anlaß für den berühmten Spinoza-Streit wurde. Diese Wirkung kam natürlich nicht von ungefähr: Goethe hatte sich einen Helden gewählt, der bereits in Aischylos' Gestaltung zu den rebellischsten gehörte. Dieser so unerschrocken gegen Willkür und Gewalt kämpfende, das Recht sowie die physische und psychische Freiheit und Selbständigkeit des Menschen so nachdrücklich vertretende Prometheus mußte im 18. Jahrhundert zum Sinnbild bürgerlich-aufklärerischer Opposition gegen die feudale Reaktion in allen ihren Spielarten werden. „So ward die PrometheusOde der intensivste, weiteste weltanschauliche Vorstoß in der Sturm-und-Drang-Poesie, spinozistisches Bekenntnis zu menschlicher Diesseitigkeit, Absage an die himmlischen Götter und deren christliche wie irdische Analoga, Autonomieerklärung der Natur wie des Menschen, Prometheus, als poetische Anfangsgestalt menschlicher Geschichte, göttlich gesteigerter Urmensch ist die anfänglich scheiternde Gestalt als tragischer Held, der den Anspruch des künftigen Sieges als geschichtliche Perspektive kündet: 'Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte, die du nicht gebaut.. .'." 31 In dem Fragment gebliebenen Festspiel „Pandora" tritt Prometheus erneut auf — nun aber tatsächlich als Vertreter einer nachrevolutionären Epoche. Der Sieg ist errungen, Prometheus und seine Menschen leben in einigermaßen sicheren Verhältnissen. Zwar bleibt diese Sicherheit nicht unangefochten — aber gerade im Moment feindlicher Bedrohung 26 27 28

29 30 31

26

Goethe an Zelter am 23. 11. 1831, W A IV, Bd. 49, S. 146. Tagebucheintragung v o m 13. 11. 1831, W A III, Bd. 13, S. 170. W A I, Bd. 28, S. 3 1 2 ; vgl. dazu auch den Diskussionsbeitrag von R. Schottlaender, Zur Prometheus-Figur des jungen Goethe, in diesem Band S. 15 f. W A I, Bd. 28, S. 312. A . a. O., S. 313. W . Heise, Bemerkungen zur Funktion und Methode der Antikerezeption in der klassischen deutschen Literatur, Wissenschaftl. Zeitschr. der Friedrich-Schiller-Univ. Jena, Gesellschaftsu. sprachwiss. Reihe, 18, 1969, H. 4, S. 53.

wird deutlich, daß die Menschen inzwischen (unter Prometheus' Leitung) auch gelernt haben, sich selbstbewußt zu verteidigen, das von ihnen Aufgebaute mit eigener Kraft zu schützen. Daß Goethe die hier geschaffene Situation zugleich nützt, die Gefahr eines möglichen Mißbrauchs der gewonnenen Macht anzudeuten, spricht für seinen außerordentlichen politischen Scharfblick. Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß hinter dem Prometheus des Festspiels die Persönlichkeit Napoleons steht, und mit Recht ist das ganze Drama als Antwort Goethes auf das Erscheinen Napoleons in Deutschland, als dichterische Stellungnahme und Mahnung verstanden worden 32 . Im Rahmen unseres Themas können diese komplizierten Gedankengänge im einzelnen weder untersucht noch dargestellt werden. Sie mußten aber Erwähnung finden, weil sich an ihrem Beispiel abermals ein für Goethes Schaffensweise charakteristischer Grundzug besonders anschaulich nachweisen läßt: Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen (zu ihnen gehört zum Beispiel der Versuch, den nur bruchstückhaft überlieferten Euripideischen „Phaethon" im antiken Sinn zu ergänzen und zu rekonstruieren), bezieht Goethe gegenüber den aus der Antike überlieferten bekannten Stoffen und Ideen eine von bürgerlichem Selbstbewußtsein geprägte aktive Position. Er begnügt sich also nicht mit der einfachen Übertragung einzelner Werke, sondern begreift sie stets als Anregung für die eigene künstlerische Tätigkeit. Dabei ist er — ein äußerst wichtiger Umstand — auch durch diese produktive Aufnahme des kulturellen Erbes den verehrten Vorbildern geistig aufs engste verbunden, verhielten sich doch Aischylos, Sophokles und Euripides zu den ihnen überlieferten Mythen der Vergangenheit selbst keineswegs anders, wenn sie im Gewände der alten, bekannten Fabeln aktuelle Probleme ihrer Zeit zur Sprache brachten. Eine wichtige Voraussetzung, auf der Goethes schöpferisches Verhältnis zur Antike beruhte, muß allerdings in diesem Zusammenhang noch hervorgehoben werden: die übereinstimmende humanistische Grundhaltung. Sie wurde — unabhängig davon, wie weit Goethe den vorgefundenen Stoff inhaltlich oder formal variierte — niemals angetastet, sie bestimmt die Konzeption des Goetheschen Werkes ebenso wie die des antiken. Das gilt für Goethes Auseinandersetzung mit dem Prometheus-Stoff ebenso wie für die schöpferische Rezeption des „Iphigenie"-Dramas. Goethes „Iphigenie auf Tauris" steht zwischen den Fragmenten des „Prometheus'VDramas und des Festspiels „Pandora", und zwar sowohl zeitlich als auch hinsichtlich des geistigen Gehalts. Wolfgang Heise weist darauf hin, daß mit der „Iphigenie" nicht einfach die Sturmund-Drang-Rebellion zurückgenommen oder auch nur beruhigt worden wäre33. Goethe hat in „Dichtung und Wahrheit" selbst hervorgehoben, daß er auch „Tantalus, Ixion, Sisyphus" als seine „Heiligen" betrachte, deren schweres Schicksal er — in Übereinstimmung mit den Griechen — als wahrhaft tragisch anerkannte. Und er ist überzeugt, daß der Erfolg der „Iphigenie" auch mit darauf zurückzuführen sei, daß er diese „Heiligen" als „Glieder einer ungeheuren Opposition im Hintergrunde" 34 der Handlung deutlich hervortreten ließ. Selbstverständlich bleibt die (über die antike Vorlage weit hinausgehende) alles versöhnende Menschlichkeit der Goetheschen „Iphigenie" als Gesellschaftsmodell Utopie. Aber diese Utopie war nicht traumhaft-irreal, sondern sie basierte auf der unerschütterlichen Überzeugung des Dichters, daß die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft — ungeachtet aller Rückschläge — grundsätzlich gesetzmäßig progressiv verlaufe. 32

33 34

Vgl. dazu H. J. Geerdts, Zu Goethes Festspiel „Pandora", in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft, Bd. 24, Weimar 1962; Heise, a. a. O.; C. Träger, Prometheus in Frankreich und Deutschland — unmittelbare und mittelbare Erzeugung des Fortschritts, in: Träger, Studien zur Literaturtheorie und vergleichenden Literaturgeschichte, Leipzig 1970. Heise, a. a. O., S. 54. WA I, Bd. 28, S. 314.

3*

27

Auch wenn er gelegentlich die mögliche Aussagekraft der „Iphigenie" in Beziehung setzt zu den hungernden Strumpfwirkern in Apolda35, auch wenn er später, Schiller gegenüber, beinahe abwertend feststellt, dieses Werk sei „ganz verteufelt human"36, so gibt er dennoch diese optimistische Überzeugung nicht preis. Lediglich die spezielle Form der in der „Iphigenie" gestalteten Utopie wird in diesen Äußerungen hinsichtlich ihrer möglichen Realisierung mit einem Fragezeichen versehen. Einen, wenn nicht überhaupt den Kulminationspunkt Goethescher Auseinandersetzung mit dem Gedankengut und den gesellschaftlichen Gegebenheiten des griechischen Altertums bilden die Klassische Walpurgisnacht und der Helena-Akt in „Faust" II. Doch natürlich ergibt sich an dieser Stelle sofort die Frage, ob es berechtigt sei, im Rahmen einer Arbeit, die sich das Ziel gestellt hat, Einflüsse des antiken Theaters auf Goethes eigenes literarisches Schaffen zu untersuchen, diese beiden Akte überhaupt zu erwähnen. Denn eine antike Tragödie, die — in welcher Form auch immer — als Einzelwerk maßgeblichen Einfluß speziell auf diesen Teil der „Faust"-Dichtung ausgeübt hätte, gibt es nicht. Aber ist es nicht so, daß gerade in die Gestaltung dieser beiden Akte alle im Hinblick auf die Antike gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse Goethes eingeflossen sind? Ganz davon abgesehen, daß berühmte Tragödiengestalten des klassischen Altertums hier erneut die Bühne betreten und daß, was den unmittelbaren Einfluß griechischer Dramatik auf Goethes Dichtung überhaupt anlangt, die Tragödie „Faust" in vielfältigster Hinsicht ein Musterbeispiel für die schöpferische Aufnahme und Verarbeitung humanistischer Traditionen der Vergangenheit darstellt. In den Gesprächen mit Eckermann ist gelegentlich davon die Rede, daß die einzelnen Stationen, die Faust im Laufe seiner Lebensentwicklung zu passieren hat, im Grunde „lauter für sich bestehende kleine Weltenkreise" sind. In jedem dieser mannigfaltigen „Weltenkreise" sammelt Faust neue Erfahrungen, und jeder einzelne wird — durch „einen leisen Bezug zu dem Vorhergehenden und Folgenden"37 dem Ganzen verbunden — für die Gesamtentwicklung unentbehrlich. Einer der besonders wichtigen „Weltenkreise" umfaßt den zweiten und dritten Akt des „Faust" II, die Begegnung Fausts mit der Antike. Aus dieser — dramatisch ungemein wirkungsvoll gestalteten — aktiven Begegnung mit antikem Leben und Denken zieht Faust nicht nur subjektiven Nutzen, sondern auch im Hinblick auf die von ihm repräsentierte Entwicklung der Menschheit gewinnt die Auseinandersetzung mit der griechisch-antiken Gesellschaftsform außerordentliche Bedeutung. Zur Vermittlerin zwischen der nordischen Renaissance-Welt Fausts und der Antike wird Helena. Ihre Schönheit, die sie für Faust so begehrenswert macht, gewinnt damit über den subjektiv-individuellen Bereich hinaus zugleich objektive Bedeutung als eine produktive, für die Entwicklung der Menschheit unentbehrliche schöpferische Kraft. Goethe hat diese „leistende" Rolle der Schönheit selbst immer wieder hervorgehoben — zum Beispiel in der „Kampagne in Frankreich 1792", wenn er schreibt: „Das Schöne sei, wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Thätigkeit und Vollkommenheit schauen, wodurch wir zur Reproduction gereizt uns gleichfalls lebendig und in höchste Thätigkeit versetzt fühlen. . . . das Schöne ist nicht sowohl leistend als versprechend, dagegen das Häßliche, aus einer Stockung entstehend, selbst stocken macht und nichts hoffen, begehren und erwarten läßt." 38 Allerdings erweist sich der von Faust unternommene Versuch einer 35 36 37 38

28

Goethe an Charlotte v. Stein am 6. 3. 1779, WA IV, Bd. 4, S. 18. Goethe an Schiller am 19.1.1802, WA IV, Bd. 16, S. 11. Gespräch vom 13. 2.1831, in: Eckermann, Gespräche mit Goethe, S. 588. WA I, Bd. 33, S. 234.

direkten, unmitttelbaren Verbindung dieser „schönen" Vergangenheit mit seiner Gegenwart als unmöglich, als Illusion. Die um Euphorion und sein Schicksal konzipierten Szenen beweisen das ebenso eindringlich wie jener höchst prägnante Auftritt der Erichtho, aus dem hervorgeht, daß die vor Fausts Augen erstehende antike Welt nur das Traumgebilde einer Nacht ist, das zudem noch dort seine trügerisch vorübergehende Realität gewinnt, wo vor Jahrhunderten im Kampf zwischen Cäsar und Pompejus die republikanische Freiheit der Macht und Gewalt eines Diktators unterlag. Und dennoch bleibt das Erlebnis dieser Welt für Fausts weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung: Erst die Begegnung mit der Antike befähigt ihn zur wirklich großen befreienden Tat in der Gegenwart, ermöglicht das Entstehen jenes letzten, höchsten Planes, der dem Wohl eines nach Millionen zählenden Volkes auf freiem Grunde dienen soll. Daß dieser gewaltige Plan eine die Grenzen sowohl des antiken, als auch des Goetheschen Zeitalters sprengende, weit in die Zukunft weisende realistische Vision bleibt, bleiben muß, läßt noch einmal die Größe und doch auch zugleich die Grenzen der beide Zeitalter verbindenden Weltanschauung deutlich werden. IV. Kehren wir an den Ausgangspunkt der Unertsuchung zurück! Die eingangs aufgeworfene Frage, ob aus einer bloß statistischen Betrachtung der unter Goethes Leitung in Weimar aufgeführten Dramen Einblick in Goethes und Schillers tatsächliches Verhältnis zur Antike zu gewinnen sei, darf nun eindeutig negativ beantwortet werden. Und wenn Schiller davon spricht, daß es „mit den griechischen Dingen ... eine mißliche Sache" auf dem Theater seiner Zeit sei, dann geht es nicht um den Gehalt und das Anliegen der zur Debatte stehenden klassischen Tragödien, sondern um eine Vielzahl (hier nicht im einzelnen zu erörternder) subjektiver und objektiver Faktoren, die sowohl die Qualität des zeitgenössischen Theaters als auch den Bildungsstand des Publikums betreffen. Mit der Einstellung Goethes und Schillers zur Antike und ihrem Theater und mit dem Einfluß dieses Theaters auf die deutsche Klassik hat das alles grundsätzlich nichts zu tun. Es darf, diesen Einfluß abschließend nochmals zu charakterisieren, ein bereits zitiertes Bekenntnis Goethes wiederholt werden: „... ich für meine Person bin in dem Falle, daß mich das Anschauen des Alterthums in jedem seiner Reste in den Zustand versetzt, worin ich fühle ein Mensch zu seyn."

29

WILLY

HANDRICK

Die produktive Aufnahme antiker Kunstauffassung in die deutsche Klassik, dargestellt am Beispiel von Gottlieb Martin Klauer

Bewunderung erregt noch heute die künstlerische Leistung jener jungen Dichter der siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts in Deutschland, die sich als Sprecher des aufstrebenden Bürgertums leidenschaftlich-gegen das feudalistische System auflehnten. „Jedes bemerkenswerte Werk dieser Zeit atmet einen Geist des Trotzes und der Rebellion gegen die ganze deutsche Gesellschaft, wie sie damals bestand.. Z'1 Der herrschenden höfisch-französisch orientierten Kultur des Adels wurde der Kampf angesagt mit dem Ziel, im Bündnis des bürgerlichen Intellektuellen mit dem Bauern und Plebejer eine mit dem Volke verbundene und dem Volk dienende Kultur zu schaffen. Das große Vorbild hierfür war das von Winckelmann geprägte Antikebild, wonach, im Gegensatz zu den höfisch-adligen Vorstellungen von der Antike, Freiheit und Demokratie die kulturellen Hochleistungen Griechenlands begründet hatten. In dieser Phase der deutschen Aufklärung, von Goethe zu Recht als „literarische Revolution" charakterisiert, erkannten ihre führenden Vertreter Herder und Goethe die Notwendigkeit, sich nicht auf Dichtung und Publizistik zu beschränken, sondern auch die bildende Kunst in die Vorbereitung einer bürgerlichen Revolution einzubeziehen. Während Herder die hierfür notwendigen theoretischen Grundlagen schuf, übernahm Goethe die Aufgabe, die neuen ästhetischen Erkenntnisse unmittelbar in die Praxis einzuführen. Im Mai 1778 erscheint Herders „Plastik", eine Abhandlung, die als Ergebnis ästhetischer Studien zum größten Teil in den Jahren 1768 bis 1770 entstanden war. Zu Problemen des plastischen Schaffens hatten sich in diesem Zeitraum bereits Winckelmann mit seinem epochalen Werk „Die Geschichte der Kunst des Altertums" (1764) und Lessing in seiner kunsttheoretischen Schrift „Laokoon" (1766) geäußert. Auf ihren Erkenntnissen aufbauend, unterzieht Herder die höfische, von Frankreich her beeinflußte Plastik in Deutschland einer scharfen Kritik. Seine demokratischen ästhetischen Anschauungen münden in der Forderung nach einer volksverbundenen nationalen Kultur, deren Vorbild die griechische Antike sein müsse. Goethe wird Herders „Plastik" 2 mit großem Interesse aufgenommen haben, da er den Inhalt dieser Schrift im wesentlichen schon kannte; denn wir können sicher sein, daß er in seiner Straßburger Zeit von Herder selbst die bis dahin vorliegenden Ausarbeitungen entweder als Ganzes kennengelernt oder wenigstens die darin zum Ausdruck gebrachten Gedanken des Autors erfahren hat. Herders „Plastik"-Veröffentlichung und die Entdeckung eines für bildhauerische Zwecke geeigneten Kalksteins in der Nähe Weimars3 im gleichen Jahr gaben Goethe die Anregung, sich intensiv mit Problemen der künstlerischen Praxis der Bildhauerei und Plastik zu beschäftigen. 1

2 3

Fr. Engels, Deutsche Zustände. Brief I (The Northern Star, Nr. 415 vom 25. Oktober 1845), in: K . Marx / Fr. Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1958, S. 567. Ein Exemplar des Buches befindet sich in Goethes Bibliothek (Katalog-Nr. 2386). Goethe an Merck am 5. 8. 1778, in: J. W. v. Goethe, Werke (Weimarer Ausgabe — Abkürzung im folgenden WA), Abt. IV, Bd. 3, S. 240.

31

In dem Weimarer Bildhauer Gottlieb Martin Klauer4 fand der Dichter einen Künstler, dessen Talent die Voraussetzungen dafür bot, den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Klauers künstlerische Entwicklung in Weimar vollzog sich von 1778 bis etwa 1783 unter direkter Einflußnahme Goethes. Dadurch bietet sich uns die Möglichkeit, in den Schaffensprozeß Einblick zu nehmen und zu untersuchen, zu welchen Resultaten die Verbindung des Künstlers mit Goethe als einem der führenden Ideologen seiner Zeit geführt hat. Das zentrale Problem hierbei ist die Rezeption der Antike unter den Bedingungen der vorrevolutionären Bewegung in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Goethe hatte in Klauer einen Künstler entdeckt, dessen besondere Begabung das Porträtfach war und den er als geeignet fand, auf seine Auffassungen von Inhalt und Form eines Kunstwerkes einzugehen. Deshalb gilt unser Interesse dem Entstehen der von Goethe in Auftrag gegebenen und unter seinem Einfluß entstandenen Bildnisse. „Lies meine Büste von Klauern versuchen", notiert der Dichter Ende September 1778 in sein Tagebuch5. Zu Beginn des neuen Jahres ist die in Kalkstein ausgeführte Büste fertig, das erste vollplastische Bildnis, das wir von Goethe kennen. Noch war die Arbeit an dieser Büste in vollem Gange, als Klauer von ihm den Auftrag erhielt, den siebenjährigen Fritz von Stein zu porträtieren. Ebenfalls in Oetterner Kalkstein ausgeführt, wurde die lebensgroße Statue im Frühjahr 1779 fertiggestellt. Noch im gleichen Jahr wurden auch der Herzog Carl August und im Jahr darauf seine Mutter Anna Amalia porträtiert. Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte der Dichter im Sommer 1780 die Anfertigung der Büste Adam Friedrich Oesers, wobei er beim Modellieren aus seinem Lustspiel „Die Mitschuldigen" vorlas. Später kam sein eigenes in Gips ausgeführtes Bildnis hinzu. Im darauffolgenden Jahr schuf Klauer die Büsten Wielands und Karl Ludwig von Knebels sowie eine von Herder, der 1783 noch einmal porträtiert wurde. Durch Goethes Vermittlung entstand 1782 ein Bildnis von Anna Amalias Hofdame Luise von Göchhausen und 1783 das der Herzogin Luise. 1784 modellierte Klauer Friedrich Heinrich Jacobi aus Düsseldorf, der zu einem Besuch Goethes nach Weimar gekommen war. Die wenigen hier genannten Bildnisse genügen vollauf, um nachzuweisen, wie befruchtend die Rezeption der Antike in Weimar auf die Entwicklung einer realistischen Plastik in der vorrevolutionären Phase der Aufklärung in Deutschland gewirkt hat. Entsprechend der von Herder in seiner „Plastik" erhobenen und von Goethe unterstützten Forderung nach einer wahrheitsgetreuen Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit im Interesse der fortschrittlichen bürgerlichen Klasse gestaltete Klauer das neue Menschenbild, jene Auffassung, wonach der Mensch der Schöpfer seiner selbst sei; ein realistisches und humanistisches Menschenbild, wie es der griechische Philosoph Protagoras formuliert hatte: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge." Im produktiven Anknüpfen an den humanistischen Ideengehalt antiker Plastik schuf Klauer seine Bildnisse. Es lag nicht in Goethes Absicht, Klauer zu einer lediglich formalen Nachahmung antiker 4

6

32

Er wurde 1742 in Rudolstadt (Thüringen) geboten, fand hier bei einem Holzbildhauer seine künstlerische Ausbildung und begab sich danach auf die Wanderschaft, die ihn vermutlich nach Dresden und Berlin geführt hat. Nach seiner Ernennung zum weimarischen Hofbildhauer 1773 siedelte Klauer vier Jahre später nach Weimar über. V o n 1778 bis zu seinem Tode 1801 schuf der Künstler rund 60 Bildnisse v o n Persönlichkeiten des klassischen Weimar und ihnen nahestehenden Personen, ausgeführt als Büsten in Gips oder Kalkstein, und betrieb eine Werkstatt für kunsthandwerkliche Arbeiten in Gips und gebranntem Ton. Goethe, W A III, Bd. 1, S. 70.

Kunstwerke zu bewegen 6 . Sie etwa in „knechtischer Folge" zu kopieren, hatte schon Winckelmann7 verurteilt. Goethe teilte Herders8 Überzeugung, wonach die Werke der Antike „nur Freunde sein und nicht Gebieter, nicht unterjochen, sondern ... Vorbild sein" sollten, Vorbild den zeitgenössischen Künstlern bei der Lösung ihrer Aufgaben zur Entwicklung einer nationalen Kunst. Für Klauer bestimmte Goethe die künstlerische Gestaltung der Wirklichkeit zur Grundlage seines Schaffens in dem Sinne, wie sie bereits in der Antike zu hoher Meisterschaft gebracht worden war. Über die ersten Ergebnisse seines kunstpädagogischen Bemühens höchst befriedigt, bemerkt Goethe Ende November 1779 in einem Brief an Lavater, Klauer sei ein Bildhauer, „der sich täglich durch das Studium der Natur und der Antike bessert"9. Diese Briefstelle ist für uns besonders wichtig, weil hier unmißverständlich zum Ausdruck gebracht wird, daß die Rezeption der Antike nicht, wie oft fälschlich behauptet wird, als ein lediglich formales Kopieren antiker Kunstwerke aufgefaßt wurde, sondern als eine schöpferische Methode, die dazu diente, noch besser die künstlerische Gestaltung der Wirklichkeit zu meistern. Dem Studium der Wirklichkeit (von Goethe im Zitat als Natur bezeichnet) boten sich keine objektiven Schwierigkeiten, aber wie sah es mit dem Studium der Antike aus? Kupferstiche mit Darstellungen antiker Skulpturen und Bildnisse konnten in jener Zeit vom Kunsthandel erworben werden, doch bot sich Klauer auch die Möglichkeit, in Weimar selbst antike Plastik in Abgüssen studieren zu können, denn Goethe hatte sich davon schon eine kleine Sammlung zugelegt10. Diese wenigen Exemplare reichten jedoch für Klauers künstlerische Weiterbildung nicht aus, und so beschloß der Dichter, den Künstler zum Studium des berühmten Antikensaales nach Mannheim reisen zu lassen. Die finanziellen Mittel dafür verschaffte er ihm aus der herzoglichen Kasse. Von Mai bis Herbst 1769 hielt sich Klauer in Mannheim auf, um hier die vielen Einzel- und Gruppenstatuen sowie die reiche Sammlung an Bildnissen zu studieren. Mit den von ihm geschaffenen Bildnissen erbrachte Klauer den Beweis der Richtigkeit der von Herder und Goethe erhobenen Forderung, zur Entwicklung einer nationalen Plastik in Deutschland das Wesen der klassisch-antiken Kunst schöpferisch aufzunehmen, weil es ihm gelang, den humanistischen Gehalt antiker Kunst mit der Gestaltung des Menschenbildes seiner Epoche in Übereinstimmung zu bringen. Goethes Interesse an Klauers Tätigkeit galt nicht der Ausführung von Denkmälern und ähnlichen Bildhauerarbeiten, sondern den Porträtdarstellungen des Künstlers, in der Erkenntnis, daß in der Auseinandersetzung mit 6

7 8 9 10

Durch Abgüsse war dem Dichter antike Porträtplastik schon sehr früh gut bekannt geworden. Als Student hatte er sie bei Oeser in Leipzig kennengelernt und sie später (1769 und 1771) im Mannheimer Antikensaal studieren können. Wie vor ihm Lessing und Herder und später Schiller, war auch er voller Bewunderung den hier ausgestellten Werken antiker Plastik entgegengetreten. In seinen Beiträgen für Lavaters Physiognomische Fragmente (1774) hatte er sich anhand einer Büste mit dem Kopf Homers befaßt, die Köpfe der als Scipio, Brutus, Cäsar, Titus und Tiberius benannten Bildnisse hatten ihm in Kupferstichen vorgelegen. Vgl. M. Wegner, Goethes Anschauung antiker Kunst, 2. Aufl. Berlin 1949; E. Grumach, Goethe und die Antike, 2 Bde., Potsdam 1949. J. J. Winckelmann, Werke, hrsg. von C. L. Fernow, Bd. 1, Dresden 1808, S. 245. J. G. Herder, Plastik, bearb. u. eingel. von S. H. Begenau, Dresden 1955, S. 55. Goethe, W A IV, Bd. 4, S. 142. Es ist durchaus möglich, daß er die Köpfe des Laokoon und seiner Söhne sowie die der Niobetöchter von Frankfurt mit nach Weimar gebracht hat. Sie befanden sich jedenfalls damals in seinem Besitz. Der Kopf des Apoll von Belvedere war in Weimar hinzugekommen. Solche Abgüsse wurden in jener Zeit von italienischen Händlern in Deutschland vertrieben. Außer Goethe besaßen noch Wieland und der Herzog Carl August Abgüsse von antiken Statuen und Büsten.

33

der feudalen Klasse die Gestaltung eines neuen Menschenbildes die wichtigste Aufgabe einer neuen, einer bürgerlichen Kunst sei. „Der Mensch ist der höchste, ja der eigentliche Gegenstand bildender Kunst", so formuliert Goethe 1798 in der Einleitung zu den „Propyläen"11 jenen Gedanken, den er schon Jahre zuvor in der Praxis mit Klauer zu verwirklichen gesucht hatte. Auch Herder vertritt diese Ansicht und verweist dabei auf die Kunst der Antike. „Der Mensch auf ihrem Altar, ihm ist die Bildsäule heilig", heißt es in seiner „Plastik"-Abhandlung12. Und wenn er die Feststellung trifft, daß in der griechischen Plastik nicht abstrakte, sondern individuell faßbare Menschen dargestellt seien und daß das Hauptaugenmerk der Künstler darauf gerichtet war, das Wesen des Menschen darzustellen, so stellt sich uns die Frage, wieweit Klauer es vermocht hat, diesen Forderungen, „einen menschlichen Charakter zu erfassen, wie er ist"13, nachzukommen. Schon mit dem ersten Porträt Goethes (Abb. 1), in Kalkstein ausgeführt, stellt sich Klauer als ein Bildhauer vor, der das Besondere in der Persönlichkeit dieses Menschen erkennt und es künstlerisch zu gestalten vermag: ein mit sparsamen Mitteln geformter Kopf mit einem Antlitz, dessen kräftige Nase und Kinn in Verbindung mit den Wülsten der Augenbrauen und den feinen Fältchen an den Mundwinkeln konzentrierte Energie und kritische Betrachtung der Umwelt zum Ausdruck bringen. Durch das straff nach hinten geführte Haar und das locker gefältelte, vorn mit einer Schließe zusammengefaßte Gewand, ähnlich einer Tunika, erhält die Büste einen gebundenen, an die Antike erinnernden Formcharakter. Dieser Bezug wird bei der zweiten Goethe-Büste unter Verwendung eines Togagewandes und einer Tänie im Haar, nach Klauers Aufenthalt in Mannheim entstanden, noch deutlicher, vor allem jedoch durch die Ruhe und Gelassenheit, die das Antlitz ausstrahlt. Klauer schuf das Bild in jener Zeit, in der Goethes Prosafassung der „Iphigenie" entstanden war und der Dichter sich selbst in einen Griechen verwandelte, wenn er in der Aufführung des Stückes den Orest spielte. Die beiden Herder-Büsten (vgl. Abb. 2), die sich wenig voneinander unterscheiden, gehören mit zu Klauers besten Leistungen, weil es ihm hier besonders gut gelang, Charakter und Geisteshaltung einer bedeutenden Persönlichkeit in einer würdevollen Haltung zum Ausdruck zu bringen, in den einzelnen Teilen ebenso wie in der Geschlossenheit der Gesamtform. Das Besondere an dieser Büste mit ihren flächig gehaltenen Gesichtspartien und den sich deutlich abzeichnenden Jochbeinen beruht auf der Dichte und Rundheit des Kopfes, dessen innere Spannung sich dem Betrachter mitteilt. Mit dem leicht angehobenen Haupt bei der Kalksteinbüste unterstreicht der Künstler das Selbstbewußtsein und die stolze, kämpferische Haltung Herders. Goethe hielt die 1781 entstandene Büste für eine „vortreffliche" Leistung durch die „wahre Unwahrheit"14 ihrer realistischen Darstellung. Herder selbst fand dieses Bildnis „so häßlich und untreu", daß man beschloß, ein neues anfertigen zu lassen. Seinem negativen Urteil fügte er jedoch die Bemerkung hinzu, Klauer trüge daran keine Schuld, es läge an ihm selbst, daß das Bildnis ihm nicht gefalle15. Die Wiederholung des Bildnisses 1783 ließ ihn weiterhin unzufrieden sein. Der große Theoretiker und vorzügliche Kenner griechischer Skulptur verhielt sich seinem eigenen Bildnis gegenüber nicht objektiv. 11 12 13 14 16

Goethe, W A I, Bd. 47, Herder, a. a. O., S. 51. A. a. O., S. 75. Goethe an Lavater am Herder an Jacobi am H. Düntzer u. F. G. v.

34

S. 12.

22. 6 . 1 7 8 1 , W A IV, Bd. 5, S. 149. 6. 9. 1783, in: Aus Herders Nachlaß. Ungedruckte Briefe, hrsg. von Herder, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1857, S. 250.

Auch Wieland fand an seinem Bildnis wenig Freude, obwohl Klauer bemüht gewesen war, das Charakteristische der Persönlichkeit Wielands in einem klugen und ausdrucksvollen Gesicht, dessen Mund und Nase ein leises Lächeln umspielt, festzuhalten. Wieland war 48 Jahre alt, als Klauer ihn porträtierte. Den Dichter dürften besonders das kahle Vorderhaupt, durch die Nachvornneigung des Kopfes deutlicher als sonst sichtbar, die buschigen, steil aufragenden Augenbrauen und das vom Alter gezeichnete Gesicht mit seiner langen fleischigen Nase gestört haben. In der Büste des Adam Friedrich Oeser zeigt uns Klauer das Porträt des in Weimar gern gesehenen und ob seiner Liebenswürdigkeit geschätzten Künstlers aus Leipzig. Der Kopf ist ein wenig vorgeneigt, mit einem sinnenden und nachdenklichen Ausdruck des Gesichtes, das trotz der vielen Merkmale des Alterns frisch und lebendig wirkt und so die geistige Regsamkeit des Künstlers gut zum Ausdruck bringt. Mit Geschick modelliert Klauer als Ausgleich zu dem faltenreichen Gesicht Hals und Brust mit kräftiger Muskulatur und straffer Haut, Partien, die mit ihrem Spiel von Licht und Schatten an antike Statuen erinnern. Mit dem Bildnis Karl Ludwig von Knebels lehnt sich Klauer eng an die römische Porträtplastik an. Der auf einem schlanken, muskelstraffen Hals ruhende Kopf mit dem kurzen, nach vorn gestrichenen Haar, den schmalen Wangen, den eng zusammengepreßten Lippen und harten Zügen des Gesichtes verleiht dem Porträt ein Übermaß an Strenge und Willensstärke. Durch die scharfen Stege der Toga wird dieser Eindruck noch verstärkt. Unzufriedenheit mit seiner Stelle als Prinzenerzieher und Enttäuschung über das Fehlen einer dem Fortschritt dienenden Aufgabe hatten eine Übersteigerung des Selbstbewußtseins bei Knebel aufkommen lassen, die Klauer in dieser Büste festgehalten hat. Sehr realistisch erfaßt ist auch das wenig schöne, aber kluge und energische, ein wenig männliche Gesicht der Luise von Göchhausen (Abb. 3), Anna Amalias verwachsener Hofdame, die ihren körperlichen Mangel durch Neigung zu feinem Spott und geistreicher Ironie auszugleichen wußte. Die Bewegtheit der hohen Stirn, der konzentrierte Blick der großen Augen und ein scharfgeschnittener Mund prägen die Züge des herben, aber ungemein geistvollen Gesichts. An antike Bildnisköpfe erinnert das in eine schlichte, wohlgeformte Frisur zusammengefaßte Haar, dessen Schönheit durch das andeutend wiedergegebene antike Gewand des kleinen Bruststücks unterstrichen wird. Mit diesem Bildnis gelang es Klauer, eine der künstlerisch schönsten Frauenbildnisse der deutschen Klassik zu gestalten. Das dem Porträtisten sich stets von neuem stellende Problem, Wesen und Erscheinung des Menschen in bestmögliche Ubereinstimmung zu bringen, löste Klauer im Bildnis des Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi (Abb. 4) auf hervorragende Weise, indem er einen geistig-schöpferischen Menschen als eine harmonische, allseitig entwickelte Persönlichkeit darstellte. Goethes Jugendfreund war ein schöner Mann, ein Faktor, den Klauer auch zu nutzen verstand. Eine zeitgenössische Beschreibung von Jacobis äußerer Erscheinung verblüfft durch ihre Übereinstimmung mit Klauers Bildnis: Jacobi „stellte den Philosophen und feinen Weltmann dar von der edelsten Physiognomie, im schönsten Ebenmaß der Teile, mit schön gewölbter bedeutender Stirn, fein gebogener Nase, höchst geistvollem Blick, mit großer Milde im Ausdruck, einen leichten Zug von Ironie um die feinen Lippen, von einer hohen schlanken Gestalt."16 Einen Abguß der Büste Jacobis ließ Goethe für seine eigene Sammlung anfertigen. In Klauers Bildnissen lernen wir Menschen kennen, die als Angehörige des Bürgertums Anteil nahmen an den gesellschaftlichen Veränderungen ihrer Zeit, nur wenige Porträts 16

W. Geese, Gottlieb Martin Klauer, Leipzig 1935, S. 102.

35

zeigen uns Vertreter des Adels, der damals als „polirte Nation" mit ihren „schönen Herren und Damen"17, als die herrschende Klasse verstanden wurde. Klauers antifeudale Haltung zeigt sich darin, daß er beim Porträtieren adliger Personen seine realistische Schaffensweise beibehält, ohne zu schmeicheln, und sie so darstellt, wie er sie sah, ohne Pose, Prunk und repräsentative Geste, trotz einer gewissen Abhängigkeit des Künstlers vom Hofe. Die 1779 geformte Büste des Herzogs Carl August, mit kleinem Bruststück ohne Gewandung, zeigt uns den Kopf mit einem quadratischen Schädel und einem dumpfen und derben Gesichtsausdruck. Neben der kurzen, breiten Nase fällt besonders unangenehm der trotzig geschlossene Mund mit der wulstig aufgeworfenen Oberlippe auf. Die mit einem waagerechten Schnitt zu kurz gestutzten Haare vervollständigen den unangenehmen Eindruck auf den Betrachter. Sicher hat diese Büste bei Carl August wenig Anklang gefunden; denn bei der Übertragung in Kalkstein, ein Auftrag für den Herzog von Dessau, mildert der Künstler das Abstoßende im Ausdruck und umgibt das große Bruststück mit einem römischen Panzer, drapiert mit einem togaähnlichen Gewand über der rechten Schulter, und verleiht dem Porträtierten dadurch den Anschein eines römischen Imperators. In der Bildnisbüste der Herzoginwitwe Anna Amalia porträtierte der Bildhauer eine mürrisch dreinblickende Frau in mittleren Jahren mit einer breiten, klobigen Nase, einem kleinen Mund mit dünn zusammengepreßten Lippen und großen hervorquellenden Augen. Während die Haare in einer sich hoch auftürmenden Rokokofrisur festgehalten werden, umgibt er das Bruststück mit einem leichten Gewand in antiker Fältelung, vorn mit einer runden Schließe zusammengehalten, ähnlich der bei Goethes Kalksteinbüste verwandten Gewandung, vermutlich eine Verlegenheitslösung. Kühl und verschlossen, so kannten die Zeitgenossen die Herzogin Luise-, deshalb war es für Klauer besonders schwierig, im Bildnis dieser Frau etwas von ihrem Wesen festzuhalten. Ihr Äußeres, ein schmaler Kopf auf schlankem Hals, ein gutgeschnittenes Gesicht, vor allem ihre gerade Haltung, veranlaßten den Künstler, sich darauf zu konzentrieren. In der formalen Gestaltung erinnert diese Büste an Frauenbildnisse der römischen Antike. Sicher ist dies dem Einfluß Goethes zuzuschreiben, der Klauer sehr unterstützt hatte, mit dem Ergebnis aber nicht ganz zufrieden war. „Wir haben viel Plage damit gehabt, und ich hätte gar noch länger daran arbeiten lassen", schreibt er nach Fertigstellung der Büste im Mai 1783 an Knebel. Hinsichtlich der Behandlung des Gewandes finden wir bei Klauer eine enge Anlehnung an die Antike. War ein kleines Bruststück vorgesehen, wurde in den meisten Fällen auf ein Gewand überhaupt verzichtet, bei einem großen Bruststück blieb die togaähnliche Gewandung, in der Faltengebung immer wieder variierend, die bevorzugte Art der Bekleidung, abgesehen von den ersten Büsten (Goethe, Anna Amalia und Herder), die mit einem dünnen, leicht gefältelten und auf der Brust von einer Schließe gehaltenen tunikaähnlichen Gewand versehen wurden. Nur wenige Bildnisse sind im Kostüm der Zeit wiedergegeben worden, darunter mehrere Angehörige des Adels. Das „zeitlose" Gewand einer Toga gab dem Künstler ein Mittel in die Hand, den Blick des Betrachters auf das Gesicht zu lenken und gleichzeitig die Ausdruckskraft der Büste zu erhöhen. Alle von Klauer geschaffenen Bildnisse wurden meist als Büsten, nur wenige als Reliefs ausgeführt, bis auf eine einzige Ausnahme. Das Porträt des siebenjährigen Fritz v o n (Abb. 5) hielt der Künstler in einer Statue fest, ungewöhnlich für seine Zeit als nackte Gestalt in Anlehnung an antike Skulpturen. 17

Goethe, in: Frankfurter Gelehrte Anzeigen, Nr. LXXXVI vom27. 10. 1772, S. 569ff. = WA I, Bd. 37, S. 274«.

36

Die eigentliche Aufgabe bestand nicht in der Anfertigung eines Bildnisses, sondern in der Darstellung eines schönen Körpers. Anfangs war dem Künstler der Körper des Knaben zu mager, und er hatte die Absicht, die Figur „aus dem Kopf zu machen"18, so wie er es bei der Anfertigung der im Barock beliebten rundlich-dicklichen Putten gelernt hatte. Goethes Tagebuch gibt uns Aufschluß darüber, welche Mühe der Dichter aufwenden mußte, dem Künstler die Augen zu öffnen für die Schönheit einer nackten menschlichen Gestalt und ihn zu einem gründlichen Studium der Wirklichkeit und der Werke antiker Plastik zu bewegen. Die Porträtstatue weist nicht nur das in der Antike entwickelte Prinzip der Pondération auf, Klauer übernimmt auch das Stützmotiv mit den sich kreuzenden Unterschenkeln. Höchstwahrscheinlich ist die Statue des Fritz von Stein entstanden unter Hinzuziehung von Darstellungen antiker Plastik aus dem im 18. Jahrhundert berühmten Monumentalwerk „L'Antiquité expliquée et représentée en figures" des Montfaucon, dessen einbändiger Auszug in lateinischer und in deutscher Sprache19 von 1757 damals zum Bestand der herzoglichen Blibüothek in Weimar gehörte. Die als Nr. 9 auf Tafel XI wiedergegebene Figur eines sich ausruhenden Jünglings ähnelt sehr der Statue des Fritz von Stein. Statt der Säule, wie sie eine ähnliche Figur (Nr. 8) zum Anlehnen des Körpers auf der gleichen Kupfertafel aufweist, wählte Klauer ein quaderförmiges Postament. Die Anfertigung der Bildnisstatue des Fritz von Stein war ein Experiment, das dazu diente, dem Dichter Einblick in den Schaffensprozeß antiker Bildhauer zu ermöglichen. Auf Herders „Plastik"-Veröffentlichung von 1778 wurde mehrfach hingewiesen. Der Autor weist sich darin als ausgezeichneter Kenner antiker Kunst20 aus, und wenn man seine in aller Ausführlichkeit gebotenen Darlegungen über die Porträtplastik der Antike zum Vergleich mit Klauers Arbeiten heranzieht, wird man feststellen, daß Herders kunsttheoretische Ansichten die künstlerische Praxis des Bildhauers weitgehend beeinflußt haben. Das betrifft nicht nur die durch antike Kunst gewonnenen Grundgedanken Herders über die Aufgabe des Künstlers, Größe und Würde des Menschen darzustellen, sondern auch seine Überzeugung, daß menschliche Schönheit „nur Form der Gesundheit, des Lebens, der Kraft, des Wohlseins in jedem Güede dieses kunstvollen Geschöpfes" sein kann21 und in jedem Teil des Körpers etwas von dem Wesen des Menschen zum Ausdruck kommt; Aufgabe des Künstlers sei es, dies in seinem Werk sichtbar werden zu lassen. Und wenn Klauer 1782 in einer von ihm veröffentlichten Anzeige22 über lieferbare Abgüsse von Bildnisbüsten berühmter Männer darauf hinweist, er habe „im Treffen der Ähnlichkeit" eine glückliche Hand, so hätte er hinzufügen können, daß er dies neben Goethe auch Herder zu verdanken gehabt habe. Die Darstellung der Wirklichkeit in Verbindung mit einer ideellen und ästhetischen Rezeption antiker Kunst kennzeichnet das Schaffen Gottlieb Klauers als einen Beitrag zur künstlerischen Verkörperung eines humanistischen Menschenbildes im Interesse der bürgerlichen, damals progressiven Klasse. So, wie das Festhalten am Wahren und Wirklichen den Künstler vor einem Entgleiten in eine lebensferne Idealisierung bewahrte, ver18 19

20

21 22

Goethe, Tagebucheintragung vom 30. 1. 1779, W A III, Bd. 1, S. 78. B. de Montfaucon, Griechische und Römische Altertümer, hrsg. von J. J. Schatz, mit Anm. vers, von J. S. Semler, Nürnberg 1757. Herder stützte sich nicht nur auf ein gründliches Studium der Schriften Winckelmanns, sondern auf eine umfangreiche Kenntnis antiker Plastik verschiedener europäischer Sammlungen, die er aufgesucht hatte. Dazu gehörten die Kunstsammlungen in Versailles, Hannover, Kassel und der Antikensaal zu Mannheim. Herder, a. a. O., S. 71. Der Teutsche Merkur, 1782, H. 3 (Juli bis September), S. 3 0 1 - 3 0 3 .

37

hinderte die Rezeption der Antike auch ein naturalistisches Abbilden der physischen Erscheinung des Menschen. Mit dem in Klauers Bildnissen realistisch erfaßten Individualbewußtsein der von ihm porträtierten Personen wurde gleichzeitig das allgemeine Daseinsbewußtsein der Menschen seiner Zeit zum Ausdruck gebracht. In seinem realistischhumanistischen Menschenbild rezipierte Klauer in hervorragender Weise das geistige Wesen antiker Plastik.

38

JOHANNES IRMSCHER

Philologia perennis?

Der Polyhistor Gottfried Wilhelm Leibniz, der Gründer der Berliner und Berater Peters des Großen bei der Errichtung der Petersburger Akademie der Wissenschaften, hat in Anlehnung an Vorgänger das Wort von der Perennis philosophia, der fortdauernden, immerwährenden Philosophie, geprägt. Ebenjene Prägung hat der Altertumswissenschaftler Rudolf Pfeiffer, den man mit Recht als Philhellenen und Humanisten gerühmt hat, im achten Lebensjahrzehnt stehend, auf sein Fach übertragen und in einer „Philologia perennis" überschriebenen Münchner Akademierede vom Jahre 1960 den Anspruch der klassischen Philologie auf Dauer, auf Perennitas, mit ihrer Aufgabe begründet, in immer neuem Ansatz für die jeweils Lebenden das als schön und wahr erkannte Alte zu bewahren, es verständlich und fruchtbar zu machen. Für eine ältere Generation des Bürgertums, deren Weltansicht und Bildung durch das humanistische Gymnasium womöglich noch der Zeit vor 1914 bestimmt waren, mochte eine solche Erklärung vielleicht akzeptabel sein; die nach dem zweiten Weltkrieg Herangewachsenen jedoch begegneten der hier zum Ausdruck kommenden Sicherheit mit Skepsis: In seiner Antrittsvorlesung vom Dezember 1970 setzte der Tübingener Ordinarius für klassische Philologie Richard Kannicht hinter Pfeiffers Formel ein Fragezeichen, sein Kollege, der auch literarisch hervorgetretene Rhetoriker Walter Jens, sprach von der Unzeitgemäßheit der klassischen Bildung — wie schon vor ihm ähnlich 1965 Uvo Hölscher in seinen Göttinger Essais zur Situation der klassischen Studien oder der Konstanzer Literaturwissenschaftler Manfred Fuhrmann in mehreren Veröffentlichungen. Nach diesen Beispielen verwundert es nicht, daß allenthalben in der BRD ganz offen von einer Krise der klassischen Bildung gesprochen wird, welche die wissenschaftlich-technischen und die in ihrem Gefolge stehenden gesellschaftlichen Entwicklungen auslösten. Selbst ein so engagierter Hellenist wie Wolfgang Schadewaldt sah sich genötigt einzugestehen, daß in der technisch-industrialisierten Massengesellschaft des Westens kein Bedürfnis für das Griechische mehr vorhanden sei: „Darauf müssen wir uns zunächst einmal vernünftig einrichten und ausharren." Noch weiter ging der Vorsitzende der Mommsen-Gesellschaft, Prof. Hellmut Flashar, wenn er bezüglich der Zukunftschancen der klassischen Studien feststellte: „Die Stillegung der großen Hinterlassenschaft ist in vollem Gange", und hinzufügte, keiner seiner Studenten sei bei einer Umfrage bereit gewesen, das humanistische Gymnasium in seiner überkommenen Form zu verteidigen. Unverblümt äußerte sich angesichts dieser Sachlage eine Teilnehmerin an einer dem Lebenswert des Griechischen gewidmeten Tagung der Katholischen Akademie in Freiburg: „Entweder wir kaufen einen Strick, oder wir beginnen mit einem Neuanfang". Der Beobachter in der DDR vermag diese Einschätzung der westdeutschen Situation vollauf zu teilen, ohne der Erfahrung zu vergessen, daß, als die Altertumswissenschaftler des sozialistischen deutschen Staates aus politischer Einsicht heraus bereits in den fünfziger Jahren um einen derartigen Neuanfang rangen, sie bei nicht wenigen Fachvertretern der BRD auf Spott und Hohn stießen und im günstigsten Falle auf ein saturiertes Lächeln 39

rechnen konnten. Er konstatiert weiter mannigfache Überlegungen für einen derartigen Neuanfang in der BRD, die von antiquiert konservativen bis zu marxistisch inspirierten Positionen reichen. Es kann hier nicht der Ort sein, auf diese Positionen im einzelnen einzugehen, so reizvoll eine solche Auseinandersetzung auch wäre, vielmehr geht es uns hic et nunc darum, auf die Frage nach der Funktion des altklassischen Erbes im gesellschaftlichen System unserer Republik (wie des sozialistischen Staates überhaupt) eine Antwort zu finden. Aus dieser Antwort werden sich unschwer die Aufgaben der klassischen Philologie ableiten, wobei unter klassischer Philologie in einem weiteren Verständnis des Terminus die Wissenschaft begriffen werden soll, welche die Kultur des griechischrömischen Altertums erforscht und ihre Werte für die Kultur der eigenen Gegenwart zu erschließen bestrebt ist. Dabei leugnen wir nicht, daß der flüchtige Betrachter durchaus auch bei uns Vorgänge zu konstatieren vermag, die denen vergleichbar sind, welche sich in kapitalistischen Ländern, darunter der B R D , vollziehen, so z. B. den Rückgang des altsprachlichen Unterrichts an der allgemeinbildenden Schule, das Absinken von Kenntnissen über ältere Geschichtsperioden (und zwar keineswegs nur über das klassische Altertum), das gelegentliche Infragestellen philologischer Tätigkeit und anderes mehr. Um jedoch begründet urteilen zu können, genügt es nicht, lediglich die äußeren Erscheinungen festzuhalten, sondern ist es erforderlich, nach ihren Ursachen und Veranlassungen zu fragen. Hier indes zeigen sich fundamentale Unterschiede. Die Wissenschaftswissenschaft (Science of science) und in ihrem Dienste die Wissenschaftsgeschichte zeigen uns die Wissenschaft als Ganzes wie in ihren einzelnen Disziplinen durch die gesellschaftliche Praxis bestimmt und gemäß den Veränderungen der Gesellschaft und ihren dementsprechend sich wandelnden Erfordernissen gleichermaßen in beständiger Veränderung begriffen. Das gilt für die naturwissenschaftlich-technischen Fächer ganz offenkundig, gilt aber ebenso für die philologisch-historischen Disziplinen. Gewiß bleibt deren Objekt im großen und ganzen das gleiche, es ändern sich jedoch die Schwerpunkte der Forschung sowie die Aspekte, denen diese folgt, hier wie da begründet durch die jeweilige gesellschaftliche Nutzung der zu erwartenden Ergebnisse. So braucht es nicht zu verwundern, daß angesichts der seit einigen Jahrzehnten im Gange befindlichen umfassenden wissenschaftlich-technischen Revolution sich auch die Bildungsgüter verändern und in der allgemeinbildenden Schule, deren Stoff ja nicht unbeschränkt erweitert werden kann, neue Akzente gesetzt werden müssen, die notwendigerweise die Ausscheidung traditioneller Bildungsgüter bei gleichzeitiger Aufnahme bisher ungenutzter herbeiführen. Bildet denn aber die Schule den einzigen Weg der Vermittlung und Aufnahme von Kenntnissen und Erkenntnissen sowie zur Entwicklung des Kulturniveaus, oder sprechen wir nicht gerade erst seit dem Vordringen der wissenschaftlich-technischen Revolution mit voller Berechtigung von einem einheitlichen sozialistischen Bildungssystem, welches das beständige Lernen, die immerwährende Weiterbildung und eine kulturvolle Lebensgestaltung einbegreift und für solche Freitätigkeit dank dem technischen Progreß auch die notwendige Freizeit zur Verfügung stellt? Nicht von überkommenen Formen dürfen daher unsere Erwägungen ausgehen, sondern von der Beantwortung der Grundfrage: Hat die Antike unserer sozialistischen Gegenwart in ihrer jetzigen, durch die Auseinandersetzung mit dem Imperialismus geprägten und zugleich durch die wissenschaftlich-technische Revolution bestimmten Entwicklungsphase noch etwas zu sagen? Man wird, nach einer Antwort suchend, gut daran tun, die Klassiker des wissenschaftlichen Kommunismus zu konsultieren. Das wird um so nachdrücklicher zu geschehen haben, als in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der D D R aus dem berechtigten Streben heraus, die überkommene europazentristische Sicht zu beseitigen und die histori-

40

sehe Leistung sowie den humanistischen Beitrag der vormaligen Kolonialvölker ins volle Licht zu rücken, Tendenzen spürbar sind, die Geschichte der vorkapitalistischen Gesellschaften zu relativieren und wohl hinsichtlich ihrer unterschiedlichen ökonomischen Entwicklungen, nicht jedoch hinsichtlich ihrer nicht minder unterschiedlichen kulturellen Nachwirkungen zu differenzieren. Es ist offensichtlich, daß das griechisch-römische Altertum, die Antike, unter solchen Vorzeichen in seiner geschichtlichen Leistung und Bedeutung nur sehr eingeschränkt erfaßt werden kann. Wie anders urteilte dagegen Friedrich Engels, wenn er in der sogenannten alten Vorrede zum „Anti-Dühring" von den Griechen des Altertums als einem kleinen Volk sprach, „dessen universelle Begabung und Betätigung ihm einen Platz in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gesichert hat, wie kein andres Volk ihn je beanspruchen kann", so daß wir in der Philosophie wie auf vielen anderen Gebieten immer neu zu ihren Leistungen zurückzukehren genötigt sind 1 ! Und wie anders urteilte Karl Marx, wenn er in der zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie" feststellte, daß griechische Kunst und Literatur „für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten"2. Gleichzeitig machte er, geborener Dialektiker der er war, auf die vordem unerkannte Problematik des unegalen Verhältnisses aufmerksam, in welchem die Entwicklung der materiellen und der künstlerischen Produktion zueinander stehen oder doch zumindest, wie das Beispiel bewies, zueinander stehen können, sucht er genauso wie sein Mitarbeiter Friedrich Engels nach einer im letzten ökonomischen Fundierung aus dem allgemeinen Gang der vorkapitalistischen Entwicklung wie aus den eigentümlichen Bedingungen der ökonomischen Struktur des alten Griechenlands. Es ist unbestritten, daß sich, seit Marx und Engels jene Sätze schrieben, unser Bild von der Antike im speziellen wie unsere Vorstellungen von den frühen Geschichtsepochen im generellen weithin gewandelt haben. Die klassische Altertumswissenschaft hat die klassizistischen Fesseln zerbrochen und die Einbettung der Antike in die ihr vorangegangenen und die ihr gleichzeitigen Kulturen des Mittelmeerraums aufgezeigt, wobei freilich die mit dem Griechentum erreichte neue Qualität nur um so sichtbarer wurde, und die Ausweitung der Alten Geschichte über Antike und Orient hinaus zur Weltgeschichte im vollen Sinne ist ein Prozeß, dessen umfassende Entfaltung überhaupt erst noch bevorzustehen scheint! Aber alle mit diesen Prozessen verbundenen Erweiterungen und Präzisierungen unserer Kenntnisse haben keinen Deut an der Richtigkeit der Feststellung geändert, die Friedrich Engels gegenüber den kleinbürgerlichen Geschichtsspekulationen des Pseudosozialisten Eugen Dühring traf: „Ohne die Grundlage des Griechentums und des Römerreichs" „kein modernes Europa". Ebenjene Grundlage, fährt Engels fort, bildet die Voraussetzung unserer ganzen ökonomischen, politischen und intellektuellen Entwicklung, und wir sind daher gewiß berechtigt, die zusammenfassende Aussage des Klassikers mit ihrer speziellen Akzentuierung „Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus"3 umzugießen in die Formel: Ohne Antike kein moderner Sozialismus. Was ergibt sich aus solchen Überlegungen für die Philologie, für die Wissenschaft vom griechisch-römischen Altertum, in unserer Gegenwart? Zunächst und als erstes wohl dies, daß in einer Epoche tiefgreifender welthistorischer Veränderungen wie der unsrigen es nicht angeht, ungeprüft Überkommenes fortzusetzen allein deshalb, weil es eben überkommen ist. Die vorhin angedeutete gesellschaftliche 1 2 3

4

K. Marx / Fr. Engels, Werke (Abkürzung im folgenden MEW), Bd. 20, Berlin 1962, S. 333. MEW, Bd. 13, 1961, S. 641. MEW, Bd. 20,1962, S. 168. Antikerezeption

41

Relativität wissenschaftlicher Tätigkeit ist in den let2ten 150 Jahren an der klassischen Altertumsforschung nachhaltig deutlich geworden: Der neuhumanistischen Periode, welche letztlich der bürgerlich-demokratischen Revolution vorarbeitete, folgte nach dem Scheitern dieser Revolution ein auf bloße Tatsachenvermehrung orientierter, wertungsindifferenter, ja mitunter wertungsfeindlicher Positivismus; da dieser in der Krise des Imperialismus dem sich der Krisensituation bewußt werdenden Bildungsbürgertum keinen ideologischen Halt zu vermitteln vermochte, wurde er abgelöst durch eine Vielzahl von Strömungen, deren bedeutenste wohl der Erneuerte oder Dritte Humanismus Werner Jaegers war und die bei aller Unterschiedlichkeit der gemeinsame Zug verband, dem Individuum ästhetischen Genuß, moralische Kräftigung, religiöse Erbauung zu vermitteln in einer Zeit, in der die überkommenen Wertungen und Institutionen unglaubwürdig und darum wankend geworden waren. Es bedarf keines weiteren Wortes, um zu begründen, daß an keinem dieser Traditionsstränge unvermittelt angeknüpft werden kann; vielmehr wird, um ein noch immer gängiges Schlagwort aufzugreifen, die Bewältigung der Vergangenheit nicht das geringste Anliegen einer sozialistischen Altertumswissenschaft ausmachen. Verfälschungen gilt es zurückzuweisen, Überlagerungen abzustoßen und aus den überkommenen wissenschaftlichen Leistungen und Konzeptionen das zu rezipieren, was der Gegenwart dient und die Zukunft meistern hilft. Was soeben in bezug auf die Wege der Vermittlung und Überlieferung der Antike gesagt wurde, bezieht sich in noch verstärkterem Maße auf das altklassische Erbe selbst. Es macht die zentrale Aufgabe des Philologen aus, ebendieses Erbe für die sozialistischen Nationalkultur zu erschließen nach der Maßgabe, inwieweit jene unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen geschaffenen Werte der Vergangenheit den objektiven Gesetzmäßigkeiten der fortschrittlichen Entwicklung der Gesellschaft entsprechen. Daß diese Entsprechungen keineswegs nur Kunst und Literatur betreffen, sondern gleichermaßen die Grundlegung in Philosophie, Ökonomie, Politik und den Naturwissenschaften angehen, mag man bei den Klassikern des Marxismus-Leninismus nachlesen (wobei diese z. T. vor 100 und noch mehr Jahren ausgesprochenen Gedanken durch die seitherige Entwicklung jener Gebiete nicht nur als gültig bestätigt, sondern sogar noch vielfältig vertieft wurden). Drastisch äußerte sich daher in solchem Zusammenhang Alfred Kurella, der als Kulturpolitiker wie als Kulturschaffender gleichermaßen Kompetenz besaß: „Ich kann mir keinen Sozialisten denken, der nicht verstünde, daß die Welt der Ideen und Bilder, der Begriffe und Gestalten, der Mythen und Theorien, die die europäische Antike hervorgebracht hat, nicht nur zur selten in Anspruch genommenen eisernen Ration, sondern zur täglichen Nahrung der sozialistischen Persönlichkeit gehört", und speziell in bezug auf die Kunst urteilte der gleiche Autor: „Es gehört zu den Dogmen der Dekadenz, daß die Antike uns nichts mehr zu sagen h a t . . . Das gehört in die ganze Kampagne gegen die realistische Kunst. Dagegen hilft nur u. a. eine stärkere Propagierung der Schönheit und Größe der antiken Klassik, natürlich in ihren historischen Zusammenhängen." „Natürlich in ihren historischen Zusammenhängen": Mit diesem Hinweis ist ein weiteres Merkmal marxistischer Altertumsforschung angedeutet. Im Gegensatz zu gewissen bürgerlichen Konzeptionen wird nämlich eine sozialistische Antikerezeption die vielseitigen geistig-kulturellen Leistungen des klassischen Altertums nicht verabsolutieren, sondern sie gemäß dem Prinzip des marxistischen Historismus in ihrer Entstehung, ihrer Entwicklung und ihren Veränderungen untersuchen, ihre Zusammenhänge mit den Erscheinungen und Bedingungen ihrer Epoche aufdecken und sie unter Berücksichtigung der geschichtlichen Erfahrungen werten. Mit bloßen Redensarten, mögen sie auch noch so „viel Schönes und Tiefes" über die Antike zum Inhalt haben, wird sie sich ebensowenig abfinden wie Friedrich Engels, der sich im „Ludwig Feuerbach" der hier angeführten Floskel bediente, wenn

42

er Hegels Auffassung der griechischen Geschichte kritisierte4. Zugleich ist mit diesen Überlegungen das Verhältnis von Philologie ( = klassische Altertumswissenschaft) zur Geschichte gekenn2eichnet. Die Philologie operiert mit dem historischen Tatsachenmaterial, sie bedient sich der Methodologie und Methodik der Geschichtswissenschaft und trägt mit ihren Mitteln zur Aufdeckung historischer Gesetzmäßigkeiten und zur Aufhellung geschichtlicher Vergangenheit bei. Aber trotz solch enger Verbundenheit mit der Geschichte behält sie ihre Selbständigkeit, wird nicht zur bloßen Hilfsdisziplin der Historie. Denn ihr geht es nicht allein und mitunter gar nicht einmal primär um Vergangenheit, vielmehr ist sie, wenn sie sich auf die Vergangenheit richtet, zutiefst auf die Gegenwart bedacht, bemüht, durch die von ihr zutage geförderten und erläuterten Werke und Werte am Bau der sozialistischen Gegenwartskultur mitzuarbeiten (wobei Kultur in der Weite des marxistisch-leninistischen Kulturbegriffs als die Entwicklung und allseitige Herausbildung des menschlichen Wesens im Ringen um die Beherrschung der Naturkräfte und ganz besonders des eigenen gesellschaftlichen Zusammenlebens verstanden wird). Wenn die Philologie ihre Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit gegenüber der Historie zu bewahren bestrebt ist, so gilt das gleiche in bezug auf ihr Verhältnis zur Kultur. Als Wissenschaft wird sie zunächst darauf orientiert sein müssen, eine immer vertieftere, stärker konturierte, der historischen Wirklichkeit sich annähernde, allseitige Vorstellung des Lebens der griechisch-römischen Gesellschaft in seiner sozialökonomischen Basis wie den Ausprägungen der materiellen und geistigen Kultur zu erarbeiten. Sie wird sich dabei auf den immensen Schatz an Fakten und Materialien stützen, die im Laufe von Jahrhunderten gewonnen wurden, und kraft immer schärferer methodologischer Durchdringung zu neuen, überzeugenderen, der Wirklichkeit gemäßeren Kategorien, Definitionen und Dispositionen gelangen. Aber die anerkannte Autonomie des Faches verleitet es trotzdem nicht dazu, sich mit unübersteigbaren Mauern zu umgeben. Denn die Wissenschaft des Philologen ist ja eingeordnet in Systeme — in das System der sozialistischen Gesellschaftswissenschaften zum einen so, wie zum andern die antike Kultur ihren Platz im System der sozialistischen Kultur findet. Daraus sowie aus der gesellschaftlichen Bezogenheit aller Wissenschaft, von der bereits oben die Rede war, ergibt sich die Setzung von Schwerpunkten innerhalb der altertumswissenschaftlichen Arbeit, welche ja erst und nur dann über ihren esoterischen Kreis hinaus zu wirken vermag, wenn sie auf die Fragen Antwort gibt, auf die Zeit und Gegenwart eine Antwort erheischen. Im übrigen weiß sich der Philologe — wie jeder Wissenschaftler — mit seiner Aufgabe persönlich verbunden, und der aus seinem Fache hervorgegangene Revolutionär Wilhelm Wolff wird ihm zum Vorbild, von dem der vertraute Freund und Biograph Friedrich Engels schrieb: „ E r war kein silbenstechender Philolog der alten Schule; die großen Dichter und Prosaiker der Geriehen und Römer fanden volles Verständnis bei ihm und blieben seine Lieblingslektüre, solange er lebte." 5 Wir kommen zurück zum Ausgang unserer Betrachtungen: Dürfen wir hier und heute von Philologia perennis sprechen? Wir dürfen es zweifelsohne nicht, wenn wir damit lediglich Anknüpfung und Fortsetzung einer vermeintlich überzeitlichen, jenseits der Historie stehenden, angeblich kontinuierlich und bruchlos verlaufenden Tradition meinen; denn die Erfahrungen der Geschichte und die Einsicht in ihre Gesetzmäßigkeiten haben derartige Vorstellungen als illusionär erwiesen. Wir sind aber sehr wohl berechtigt, jene Frage zu bejahen, wenn wir darunter die lebendig wirkende Kraft verstehen, welche die 4 5

MEW, Bd. 21,1962, S. 298. MEW, Bd. 19,1962, S. 56.

4*

43

in ihren Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen erfaßten Großleistungen der Antike als bedeutsames Erbe bei der Herausbildung eines realen Humanismus in der sozialistischen Kultur auszuüben vermögen, sowie die Wissenschaft vom klassischen Altertum, welche sich selbst nicht antiquarisch, sondern im besten Sinne als humanistisch und damit politisch begreift.

44

REIMAR

MÜLLER

Aktualität und Historizität in der Forschung der Klassischen Philologie (Rückblick und Ausblick)

Wenn die Klassische Philologie einen wirksamen Beitrag zur Erberezeption der sozialistischen Gesellschaft leisten, wenn sie die Traditionsgüter einer Jahrtausende zurückliegenden Kultur dem heutigen Leser, Betrachter und Lernenden in einer fesselnden, anrührenden und überzeugenden Gestalt nahebringen will, dann wird sie nicht umhin können, ihre theoretischen Grundlagen einer vertieften Prüfung zu unterziehen. Einer der wichtigsten — noch zu wenig untersuchten — Gesichtspunkte ist dabei das Verhältnis von Aktualität und Historizität, d. h. das Problem, welche Fragen wir an die Geschichte stellen sollen, um uns das Geschehen der Vergangenheit in einer unsere Gegenwartsanliegen fördernden Weise nahezubringen wie auch gleichzeitig zu tieferer Einsicht in seine wahre historische Gestalt zu gelangen. Ein wesentliches Mittel, methodologisch weiterzukommen, ist die Auseinandersetzung mit den Wegen und Irrwegen der Vergangenheit einer Wissenschaftsdisziplin. Einige fragmentarische Überlegungen dieser Art sollen hier versucht werden. Am 18. Dezember 1914 hielt Werner Jaeger in Basel, also an beziehungsvollem Ort (hier hatte Friedrich Nietzsche 1869 sein Amt als Klassischer Philologe angetreten), seine Antrittsvorlesung zum Thema „Philologie und Historie"1. Es ging um eine Neubesinnung auf Gehalt und Aufgaben der in Frage stehenden Wissenschaft, die der Sache nach mit großer Entschiedenheit, in der Form recht verbindlich vorgetragen wurde. Um das Anliegen des Redners zu verstehen, müssen wir uns die Situation, in der sich die Disziplin in jener Zeit befand, kurz vergegenwärtigen. Es war die Zeit der Hochblüte des Historismus in der Altertumskunde, der in Wilamowitz seine höchste und produktivste Ausprägung gefunden hatte. Das Ideal einer universalen Altertumswissenschaft, die in ihren Teilgebieten Klassische Philologie, Alte Geschichte, Klassische Archäologie und einer Reihe von Hilfsdisziplinen die ganze Masse der historischen und kulturellen Hinterlassenschaften der Antike, durch Neufunde laufend erweitert, registrierte, edierte, aufbereitete und darüber hinaus versuchte, mit den Mitteln detaillierter Darstellung ein vielseitiges Bild von den einzelnen Bereichen antiken Lebens zu entwerfen, wurde von Wilamowitz programmatisch verkündet und fand in intensiver Forschungsarbeit seine Verwirklichung. Wie verhielt sich eine derart historistisch ausgerichtete Forschung zur Frage der Rezeption kultureller Güter der Vergangenheit, d. h., wie gestaltete sich im Sinne unserer Fragestellung das Verhältnis von aktuellem Selbstverständnis und Wertung des tradierten Erbes? In dieser Beziehung hatte sich mit der Entwicklung der Altertumswissenschaft im 19. Jahrhundert eine charakteristische Wandlung vollzogen. Die Konzeption einer umfassenden Altertumswissenschaft ging bekanntlich auf die klassische Periode der deutschen Literatur zurück, in der sie von F. A. Wolf unter dem Einfluß Goethes und W. von 1

W. Jaeger, Philologie und Historie, in: Humanistische Reden und Vorträge, 2. erweiterte Aufl. Berlin i960, S. l f f .

45

Humboldts entwickelt wurde. Ihre wirkliche Entfaltung fand sie indessen erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch Gelehrte wie A. Boeckh, K. O. Müller und Th. Mommsen. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Wissenschaft durch die Fülle der gewonnenen Detailkenntnis und durch die Anwendung der historisch-kritischen Methode einen viel tieferen Einblick in die reale Entwicklung der griechischen und römischen Geschichte gewann, als es den Freunden der Antike in der Zeit der Klassik möglich gewesen war. Es konnte auch nicht ausbleiben, daß die Vertreter dieser Wissenschaft dem älteren klassizistischen Antikebild auf Grund ebendieser Überlegenheit kritisch gegenüberstanden. Dafür aber, daß der Bezug zwischen aktuellem Selbstverständnis und Deutung der Vergangenheit in der Folgezeit entschieden andere Formen annahm als in der Periode der deutschen Klassik, lagen die Gründe viel tiefer: in der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts. Wilamowitz verweist in seiner Skizze „Antike und Hellenentum"2 und auch sonst gelegentlich auf die enormen Fortschritte, die die Altertumswissenschaft im Hinblick auf eine historisch differenzierte Kenntnis der Antike gegenüber dem Antikebild der Goethe-Zeit errungen hatte. In hohem Grade besaß Wilamowitz die Fähigkeit, aus einer Fülle von Einzelzügen ein lebendiges Bild von Formen des antiken Lebens zu entwerfen. Seine realistische Art, bestimmte Dinge beim Namen zu nennen, rief den Protest hohepriesterlicher Verkünder einer weihevollen Antike aus dem George-Kreis hervor, die dies als Entwürdigung der höchsten Güter empfanden3. Aber die Frage nach den Voraussetzungen des Gesamtbildes von der Antike und dem sich daraus ergebenden Verhältnis zu den verschiedenen Elementen antiker Kulturtradition blieb unbeantwortet, ja kaum reflektiert. Zweifellos galt für Wilamowitz wie für die Vertreter der deutschen historischen Schule vom Ende des 19. Jahrhunderts der Grundsatz der Voraussetzungslosigkeit — und das heißt einer absoluten „Objektivität" — des Verständnisses der Geschichts- und Kulturentwicklung. Es ist nicht schwer nachzuweisen, daß dieser Anspruch, die Vergangenheit im Sinne des Rankeschen „wie es eigentlich gewesen" darzustellen, bei aller hochentwickelten historisch-philologischen Technik und differenzierten Versenkung in die einzelnen Entwicklungsstufen des griechisch-römischen Altertums nicht realisierbar war. Eine dezidiert konservative Anschauung konnte natürlich auch bei der Betrachtung einer fern liegenden Vergangenheit nicht ausgeschaltet werden. Die gewissermaßen exoterischen, für ein breites Publikum bestimmten Publikationen von Wilamowitz lassen eine in den wissenschaftlichen Werken weitgehend verborgene Tiefenschicht von Voraussetzungen an die Oberfläche treten. Hier findet man ein alle Differenzierungen überspringendes Bild von spartanischer Zucht und durch die Wehrpflicht gestählter deutscher Mannestugend, von Piatons Staatsmann als Erzieher und Friedrich II., von Sedan und Marathon, von der prästabilierten Harmonie von Hellenentum und Germanentum, und der Schauder, den Piaton gegenüber der Herrschaft der zeitgenössischen Demokratie empfand, wird nachvollzogen im historischen Vergleich mit der verabscheuenswerten „Ochlokratie", die das Jahr 1918 heraufgeführt habe. 2 3

46

U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Reden und Vorträge, Bd. 2, 4. Aufl. Berlin 1926, S. 119 ff. K. Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (Zum Ethos der Tragödie), Jahrbuch für die geistige Bewegung 1, 1910, S. 64ff. — Die nicht nur antihistoristische, sondern auch antihistorische Einstellung des Autors, der für seine Position eine geistige Ahnenreihe in Anspruch nimmt, die von Goethe (!) über Schopenhauer zu Nietzsche und George führt, findet in der Behauptung, nie könne man aus der Historie heraus Werte beurteilen (a. a. O., S. 116), konzentrierten Ausdruck. Daß Wilamowitz' Neigung, die Distanz zwischen Antike und spätbürgerlicher Gegenwart in unvermittelten Vergleichen zu verkürzen, der Polemik Nahrung gab, steht auf einem anderen Blatt.

Der Vergleich mit der Antikerezeption der klassischen deutschen Literaturjjdrängt sich auf. Ihre Vertreter hatten, wenn sie auch über die reale Entwicklung der griechisch-römischen Kultur ungleich geringere Kenntnisse besaßen als die Altertumswissenschaft um 1900, doch humanistische Traditionslinien der Antike ins Bewußtsein fortschrittlicher bürgerlicher Kräfte gehoben, die heute wieder sehr bedeutsam erscheinen4. Einem die Voraussetzungen und Bedingtheiten seines Geschichtsverständnisses leugnenden Historismus ging davon vieles verloren. Kehren wir zurück zu Werner Jaeger! Seine Kritik am Selbstverständnis der zeitgenössischen Philologie erstreckt sich im wesentlichen auf zwei Fragen. Einmal beobachtet Jaeger einen Methodenpluralismus, der ihm als Symptom für eine tiefe innere Richtungslosigkeit der Forschung erscheint, und polemisiert gegen eine methodologische Naivität, die diese Frage mit dem Hinweis auf den allumfassenden Charakter der Altertumswissenschaft aus der Welt schaffen möchte. Die eigentliche Sorge ist eine andere: In der Komplexdisziplin Altertumswissenschaft seien die Grenzen zwischen Alter Geschichte, Klassischer Philologie und Klassischer Archäologie so fließend geworden, daß es die Philologen in zunehmendem Maße verlernt hätten, einem wesentlichen Auftrag zu genügen: der Vermittlung des großen Erbes der antiken Literatur an die Gegenwart. Nun ist hier nicht der Ort, die Fragen, die mit der Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Alter Geschichte und Klassischer Philologie zusammenhängen, im einzelnen zu erörtern. Tatsächlich hatte der große Fortschritt, der mit dem Entstehen einer komplexen Altertumswissenschaft verbunden war, nicht zu übersehende Nachteile darin, daß die Klassische Philologie sich nicht in genügendem Maße auf ihre Verpflichtungen als Literaturwissenscha.it besann. Dieser Rückstand in der Anwendung spezifisch literaturwissenschaftlicher Methoden macht sich bis auf den heutigen Tag bemerkbar. Aber, wie gesagt, Jaegers eigentliches Anliegen war die Frage, wie die Altertumswissenschaft ihrer Verpflichtung nachkommen könne, das Erbe der antiken Kultur in der Gegenwart lebendig zu machen. Aus tiefem Ungenügen am positivistischen Wissenschaftsbetrieb, der über der Fülle und Vielfalt des verarbeiteten Stoffes das Ganze und seinen Bezug auf das Leben der Gegenwart aus den Augen verlor, sucht Jaeger nach Mitteln, wie dieser Entwicklung gesteuert werden könne. Dabei verfällt er auf eine verhängnisvolle Konstruktion. Er nimmt das methodische Problem der Abgrenzung zwischen Alter Geschichte und Klassischer Philologie zum Anlaß, eine Antithese zwischen Philologie und Geschichte zu konstruieren, die mit dem prinzipiell unterschiedlichen Charakter ihrer Gegenstandsbereiche begründet wird: „Die Sphäre der politischen Gebilde und Vorgänge lebt für den Tag von dem Tag. Sie ist eine Welt des Relativen und Zeitlichen. Mitten in ihr behauptet sich sieghaft die andere Welt, die der menschliche Geist über dem Abgrunde des Daseins ,befestigt hat mit dauernden Gedanken': die Welt des Schönen, der Erkenntnis und der Freiheit, welche uns die Griechen und kein anderes Volk auf Erden entdeckt und geschaffen haben."5 Und weiter: „Nicht von einem fernen Einst Zeugnis abzulegen, sondern den urbildlichen Schöpfungen des Menschengeschlechts, die die griechische Kultur zu reiner und ewiger Grundgestalt alles wahrhaft Menschlichen und Menschheitlichen geformt hat, ihr Ge^enwartsleben zu kräftigen, dazu sind Philologen da." 8 4

s

Vgl. R.Müller, Hegel und Marx über die antike Kultur, Philologus 116,1972, S. 1 ff.; ders., Zur theoretischen Grundlegung der Antikerezeption bei Karl Marx, in: Dialog über Tradition und Erbe. Ein interdisziplinäres Kolloquium des Forschungsbereichs Gesellschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR im März 1973, hrsg. von D. Schiller u. H. Bock, Berlin 1975, S. 95ff.; W.Heise, Zur Krise des Klassizismus in Deutschland, in: Hellenische Poleis, hrsg. von E. Ch. Welskopf, Bd. 3, Berlin 1974, S. 1685 ff. 6 A. a. O., S. 15. Jaeger, a. a. O., S. 11. 47

Die für die Gegenwart rezeptionswürdigen Güter der Antike werden also von Jaeger in einer Weise gewonnen, die sie in doppeltem Sinn vom Lauf des historischen Prozesses ablöst: einmal im Hinblick auf ihre Entstehung, wo der zeitgeschichtliche Zusammenhang zwar nicht schlechthin geleugnet, aber für die Konstituierung der sogenannten „ewigen Werte" bestenfalls als indifferenter Hintergrund gesehen wird; weiterhin im Hinblick auf ihre Gestaltung, die als überzeitlich-normativ gesetzt ist. Das hat Folgen für die wissenschaftliche Methode. Jaeger lehnt es für die Klassische Philologie ab, „ihr Werk in Zeitgeschichte verdampfen zu lassen"7 und begründet den methodischen Hiatus zwischen Geschichte und Philologie8 damit, daß ihre jeweiligen Gegenstände unterschiedlichen Bereichen des Seins zugehörten: hier die Welt der realen Beziehungen, die als yEyevrjfieva, im historischen Prozeß geworden, dort die der geistigen Gegebenheiten und Werte, die als övxa, ewige Wesenheiten, qualifiziert werden9. Es ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage, wie Jaeger in den Kontext der ideologiegeschichtlichen Entwicklung der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts einzuordnen ist. Versuchsweise soll hier eine Hypothese gewagt werden. Man gewinnt den Eindruck, daß Jaeger mit seinen platonisierenden Gedanken nicht nur Rettung vor dem Positivismus, sondern auch vor dem absoluten Relativismus der zeitgenössischen Geistesgeschichte Diltheyscher Prägung sucht, der er in anderer Hinsicht zweifellos verpflichtet ist. Jaeger führt in seinem Vortrag die Kategorie des „Verstehens" ein, die in Diltheys geistesgeschichtlicher Methode bekanntlich eine zentrale Rolle spielt, deren Geschichte als methodologische Kategorie allerdings weiter zurückreicht. Bei Jaeger wird sie im Sinne seiner Beweisführung in charakteristischer Weise umfunktioniert. Findet das Verstehen bei Dilthey seinen Gegenstand unterschiedslos in allen geschichtlichen Phänomenen im Gegensatz zu denen der Natur, so läßt Jaeger einen Schnitt mitten durch die geschichtliche Welt gehen und trennt den Bereich des realen, kausal und zeitlich verknüpften Geschehens von dem der außerhalb dieser Sphäre liegenden Werte. Nur für letztere ist nach seiner Auffassung das Verstehen zuständig10. Übrigens bekennt Jaeger im Abriß seiner geistigen Ent' A . a. O., S. 13. — Das Problem, daß die großen Werke der Kunst und Literatur zugleich dem zeitgeschichtlichen Boden ihrer Entstehung verhaftet sind und doch weit über diesen hinaus zu wirken vermögen, findet bei Jaeger eine unzutreffende Interpretation, sofern zwischen diesen beiden Aspekten eine K l u f t aufgerissen wird. Die Folge ist, daß auch die Tätigkeit des Klassischen Philologen in zwei getrennte Bereiche zerfallen soll: „kulturhistorische" Interpretation einerseits, Vermittlung der „ewigen Werte" andererseits. 8 Jaeger konstatiert im übrigen nicht nur zwischen Philologie und Geschichte, sondern auch zwischen der „klassischen" und den übrigen Philologien einen grundlegenden Unterschied. So im Hinblick auf altorientalische und mittellateinische Philologie: „ . . . aber bei den Keilinschriften und Hieroglyphen oder den lateinischen Chronisten und Versmachern des Frühmittelalters ließe sich ein der klassischen Philologie und ihrer Mission vergleichbares Unternehmen nicht denken." (a. a. O., lOf.) So auch hinsichtlich der Neuphilologien: „Im Gegensatz zur modernen Literaturwissenschaft etwa, liegt dieses Zentrum bei uns nicht in der Literaturgeschichte, wird es nie liegen, wenngleich wir nicht aufhören werden, Literaturgeschichte zu treiben. Es liegt in dem Besitz der großen Meister selbst und in der Notwendigkeit, sie vor die Augen der heutigen Welt immer wieder hinzustellen und ihr Verständnis zu vermitteln." (a. a. O., S. 14) Die einen solchen Gegensatz aufreißende Uberzeugung von der absolut singulären Stellung der Antike betrachtet auch jedes Bemühen um Verständnis der historischen Vermittlungen zwischen Antike und Gegenwart nur als Hindernis: „ W o sich ... die Seelen zweier Weltalter anziehen, da vermissen wir meistens jene chronologische Objektivität, die uns mit dem Altertum zugleich die historische Last aller dazwischenliegenden Jahrhunderte aufbürdet." (a. a. O., S. 15) 9

48

A . a. O., S. 12f.

10

Ebenda.

wicklung, den er der Sammlung seiner Scripta minora vorangestellt hat, daß er mit Diltheys Gedanken zwar noch nicht in seiner Berliner Studienzeit, wohl aber nach Diltheys Tod bekannt geworden sei11. Dilthey starb im Jahre 1911. Es deutet alles darauf hin, daß sich diese Bekanntschaft in den Jahren bis zur Antrittsrede von 1914 vollzogen hat. Es ist offenkundig: Auf der Grundlage einer idealistischen Geschichtskonzeption ist das Verhältnis von Aktualität und Historizität, von Gegenwartsbezug und Vergangenheitsdeutung in der Erforschung von Literatur und Kunst letztlich nicht zu lösen. Der Schein reiner „Objektivität", den der Historismus verbreitet, erweist sich als trügerisch, die geistesgeschichtliche Methode verfängt sich in den Widersprüchen, die aus der Konstituierung eines autonomen, wertesetzenden, die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart willkürlich übersteigenden Bereichs des Geistes mit Notwendigkeit erwachsen. Nun war Werner Jaeger mit den Traditionen philologisch-historischer Forschung, wie sie die Altertumswissenschaft im 19. Jahrhundert ausgebildet hatte, so eng verbunden, daß seine in den nachfolgenden Jahrzehnten entstandenen Arbeiten (natürlich im Sinne seiner geistesgeschichtlichen Methode) durchaus historisch-genetisch orientiert waren 12 . Ein schrankenloser Subjektivismus, wie er bei anderen Vertretern der geistesgeschichtlichen Methode, etwa aus dem George-Kreis, hervortrat 13 , konnte sich hier nicht entfalten. Was unvermindert blieb, war der Anspruch, aus der Antike urbildhafte Werte von normativer Kraft an die Nachwelt zu übermitteln. Dieser Anspruch hatte für die geistesgeschichtlich betriebene Klassische Philologie in Deutschland weithin Gültigkeit. In einem Essay aus dem Jahre 1948 erhebt H. Patzer gegen Jaeger sogar den Vorwurf, historisch noch immer zu stark zu relativieren14. „Auf dem Boden einer in ihrem Ziel historisch aufgefaßten Philologie" könne ein echter Humanismus nicht gedeihen 15 . Anliegen des Humanismus sei es vielmehr, „für das Leben letzte Weisungen zu erlangen" 16 . Noch 1967 wendet sich G. Müller in seinem Kommentar zu Sophokles' „Antigone" gegen den Versuch, das erste Stasimon der Tragödie aus dem zeitgeschichtlichen Zusammenhang zu erklären: „Diese Deutung" (gemeint ist eine Interpretation von Wilamowitz) „ist ein klassischer Beleg dafür, daß historisierende Betrachtung, wie groß ihr Recht und Nutzen sonst

11 12

W . Jaeger, Scripta minora, Bd. 1, Roma 1960, S. X I V . Mit den Prinzipien, auf denen Jaegers Methode beruht, können wir uns in diesem Rahmen nicht im einzelnen auseinandersetzen. Die Unterscheidung von „Geschichte des Geschehens" und „geschichtlichem Sein des Menschen von der Seite seiner repräsentativen Ausprägung in den schöpferischen Werken des Geistes", die uns in der Rede von 1914 begegnet war, hat auch für die „Paideia" konstituierende Bedeutung (Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 4. Aufl. Berlin 1959, Vorwort zur zweiten Auflage). Daß auf der Basis einer solchen Zweigleisigkeit die organische Beziehung zwischen der sozialökonomischen Basis und dem Uberbau zerrissen wird, liegt auf der Hand. Die Bedeutung der „Paideia" liegt vor allem in der Analyse der Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Teilgebieten des kulturellen Lebens (Dichtung, Philosophie, Geschichtsschreibung, Medizin, Religion, bildende Kunst).

13

Vgl. etwa E . Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, 7. verbesserte Aufl. Berlin 1929, S. 1 ff., und dazu R. Weimann, Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichte, in: Literaturgeschichte und Mythologie, Berlin/Weimar 1971, S. 24ff.

14

H. Patzer, Der Humanismus als Methodenproblem der klassischen Philologie, Studium Generale 1, 1948, S. 84ff. (zitiert nach: Humanismus, hrsg. von H. Oppermann, Wege der Forschung, Bd. 17, Darmstadt 1970, S. 259ff.).

15

A. a. O., S. 269. A. a. O., S. 277.

18

49

ist, in verderblicher Weise den wahren geistigen Gehalt des Gegenstandes durch eine willkürlich hergestellten Bezug auf Zeitgeschichtliches vertreiben kann."17 In den letzten Jahren gab es in der Altertumswissenschaft der BRD kritische Stimmen, die den Versuch unternahmen, den unaufgearbeiteten Bestand positivistischer und geistesgeschichtlicher Methodologie einer Prüfung zu unterziehen. Diese Analysen von U. Hölscher18 und M. Fuhrmann19 haben für unser Thema unmittelbare Relevanz. Ihr Verdienst besteht darin, daß sie mit mehr oder minder großer Konsequenz versuchen, einige der gängigen, allzu oft ungeprüft weitergereichten Kategorien wie die von der urbildlich verbürgten Gültigkeit antiker Werte, von der absoluten und unerreichbaren Schönheit antiker Kunst, von der reinen Wissenschaft als Selbstzweck oder Hypostasierungen wie die vom „Geist des Römertums" und vom „hellenischen Menschen" zu überprüfen und des Scheins der voraussetzungslosen Widerspiegelung historischer Wirklichkeit zu entkleiden. Der Ansatzpunkt ist die Frage, wie eine Wissenschaft, die sich eines solchen Begriffs- und Vorstellungsapparates bedient, in der Gegenwart noch zu wirken vermag. Und hier geschieht nun etwas Merkwürdiges: Zusammen mit den bildungsbürgerlichen Entstellungen und Verzerrungen, die der an der Antike orientierte Humanismus in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert erfahren hat, geraten auch die progressiven Traditionen in der Antikerezeption der deutschen Klassik in Gefahr, als „unmodern" abgetan und beiseitegeschoben zu werden. Wer möchte nicht einem Kritiker recht geben, dem Formeln wie die vom „harmonischen Menschen" im Munde bestimmter Apologeten des traditionellen Bildungsbetriebs als suspekt erscheinen20? Aber auf die Frage, ob der tiefere Gehalt der Antikerezeption der deutschen Klassik zugleich mit den Verformungen und der Erstarrung zu bloßen Leerformeln als abgetan gelten soll, finden wir etwa bei Fuhrmann keine klare Antwort. Bei Hölscher ist ein merkwürdiger Zwiespalt festzustellen. Neben Glaubenssätzen spätbürgerlicher Philosophie und Ästhetik wie dem von der Auflösung der Kosmologie in Mythologie, von der Aufhebung der Einheit der Persönlichkeit, vom Triumph des Sinnlosen in der Geschichte, von der Ästhetik des Häßlichen steht recht unvermittelt die Aufforderung zur Pflege progressiver Traditionen der Antike wie der der ionischen Aufklärung. Deutlich wird eines: Die Forderung, in der altertumswissenschaftlichen Arbeit einen echten inneren Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, wie sie vor allem von Fuhrmann nachdrücklich erhoben wird, kann keine wirksame Orientierung schaffen, solange man zu der Frage nach dem substantiellen Gehalt der Traditionspflege keine klare Stellung bezieht. Wie erscheint nun das Verhältnis von Aktualität und Historizität in der Erforschung der antiken Kultur aus der Sicht des historischen Materialismus? Wir müssen uns hier auf einige Andeutungen beschränken. Die dialektische Methode der Geschichtsbetrachtung gestattet es, die falsche Alternative zwischen Rückspiegelung moderner Kategorien in 17

18

19

20

50

Sophokles, Antigone. Erläutert und mit einer Einleitung versehen von G. Müller, Heidelberg 1967, S. 88. — Es kann hier nicht um eine Auseinandersetzung um den konkreten Gehalt des in Frage stehenden Chorliedes und die besondere Art des zeitgeschichtlichen Bezuges gehen. Daß ein solcher gerade in diesem Fall besonders deutlich hervortritt, unterliegt u. E. keinem Zweifel. Worauf hingewiesen werden soll, ist die in dieser Äußerung zutagetretende Grundeinstellung, die einen großen Rückschritt gegenüber der Position der historisch orientierten Altertumswissenschaft darstellt. U. Hölscher, Die Chance des Unbehagens. Drei Essais zur Situation der klassischen Studien, Göttingen 1965. M. Fuhrmann, Die Antike und ihre Vermittler, Bemerkungen zur gegenwärtigen Situation der Klassischen Philologie, Konstanzer Universitätsreden, H. 9, Konstanz 1969. Fuhrmann, a. a. O., S. IL

die Vergangenheit und Ableitung absoluter Normen auJ der Vergangenheit zu überwinden. In der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie kritisiert Marx die „Art der Ökonomen, die alle historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die bürgerlichen sehen" 2 1 und setzt an die Stelle solcher Rückprojektionen eine dialektische Sichtweise. Marx zeigt, daß von der Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft als der zu seiner Zeit „entwickeltste(n) und mannigfaltigste(n) historische(n) Organisation der Produktion" auch Licht auf die Produktion und die sozialen Verhältnisse der vorangegangenen Gesellschaftsformationen fällt. Er illustriert diesen Gedanken durch einen instruktiven Vergleich: „Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höhres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist. Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc." 2 2 Dieses historische Prinzip, die Entwicklungsprozesse v o m Standpunkt der Gegenwart bis zu ihren Ursprüngen zurückzuverfolgen, Prozesse, in denen keimhaft angelegte Züge immer deutlicher hervortraten, „bloße Andeutungen sich zu ausgebildeten Bedeutungen entwickelt haben" 2 3 , hat auch für das Verhältnis von Aktualität und Historizität in der Untersuchung vergangener Kulturstufen fundamentale Bedeutung 2 4 . Hier ist kein Platz für die platonisierende Idee von ewig gültigen Urbildern, die das geistige Leben für alle Zukunft determinieren oder nur noch als „Auswicklung" eines vorgegebenen Kerns erscheinen lassen, kein Platz aber auch für einen Relativismus, für den Weltanschauungen, Kunstformen, Menschenbilder gleichberechtigt und indifferent nebeneinander stehen. Mit dem Licht unserer Erfahrungen und der Entschiedenheit dessen, der für den Fortschritt in der gesellschaftlichen Entwicklung Partei ergreift, durchdringen wir die vielfältigen und verschlungenen Wege der historischen Entwicklung und markieren aus der Kenntnis der ifedeutungen, die sich aus den yl»deutungen entwickelt haben, die progressiven Traditionslinien, die die Aneignung des kulturellen Erbes erst wahrhaft fruchtbar werden lassen. Weit entfernt, zeitfremde Elemente in die Vergangenheit zu tragen oder konstruierte Bezüge herzustellen, bringt uns diese Methode die Güter des kulturellen Erbes gerade dadurch nahe, daß sie sie mit den Mitteln strenger historischer Forschung aus ihren sozialen Entstehungsbedingungen erklärt. Die im Zusammenhang mit dem Projekt „Kulturgeschichte der Antike", einem Gemeinschaftswerk der Altertumswissenschaftler der D D R , begonnenen Untersuchungen zum Menschenbild der Antike und speziell zum antiken Humanismus haben für diese unauflösbare Einheit von aktueller, die Gegenwart aus ihren geschichtlichen Voraussetzungen begreifender, und historischer, die Vergangenheit aus dem Kontinuum ihrer welthistorischen Folgeerscheinungen deutender Fragestellung wichtige methodologische Erfahrungen erbracht. In einer Phase unserer Entwicklung, in der das Leitbild der vielseitig entwickelten Persönlichkeit nicht nur ideales Ziel ist, sondern sich als Voraussetzung künftigen gesellschaftlichen Fortschritts abzuzeichnen beginnt, ist es für eine marxistische Kulturgeschichte der Antike eine wesentliche Aufgabe, dem heutigen Leser den epochalen Durchbruch deutlich zu machen, den die Antike auf diesem wie auf vielen anderen Gebieten gezeitigt hat. Ein echtes Verständnis dieses Durchbruchs wird aber nur zu erzielen sein, wenn dieser mit den Mitteln exakter historischer Darstellung aus dem sozialökonomischen und politischen Bedingungsgefüge der demokratisch organisierten Polisgesellschaft des 5. Jahrhunderts v. u. Z. erklärt wird. 21 22 23 24

K. Marx / Fr. Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1969, S. 636. Ebenda. Ebenda. Vgl. Weimann, a. a. O., S. 34ff. 51

Eine solche Betrachtung bedarf nicht der falschen und künstlichen Aktualisierung. Die kulturellen Werte der Vergangenheit werden in ihrer Bedeutung für die Gegenwart erschlossen, indem wir sie aus dem historischen Kontext ihrer Entstehungszeit, d. h. mitten heraus aus jener Welt des Relativen und Zeitlichen, von der Jaeger abwertend spricht, verstehen. Nicht „letzte Weisungen für unser Leben" suchen wir im humanistischen Gedankengut der Antike, sondern frühe Keimformen eines humanistischen Menschenbildes, die im realen Humanismus der sozialistischen Gesellschaft aufgehoben sind. Welche großen Möglichkeiten sich für die Vergegenwärtigung der Vergangenheit eröffnen, sobald die Dialektik von Aktualität und Historizität wirklich erfaßt ist, hat Goethe in prägnanter Weise formuliert: „Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unsern Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen läßt." 25 Diesen Standpunkt, von dem „sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen läßt", für die Erforschung und Erschließung der griechisch-römischen Antike wahrhaft fruchtbar zu machen, ist die Aufgabe, die unsere Zeit an die Altertumswissenschaft stellt. 25

J. W . v. Goethe, Materialien zur Geschichte der Ausgabe), Abt. II, Bd. 3, S. 239. — Jaeger erklärt der Griechen: „Es liegt kein triftiger Grund vor weiß nicht welcher überlegenen psychologischen, begreifen vermöchten." (Paideia, Bd. 1, S. 6)

52

Farbenlehre, in: Goethes Werke (Weimarer dagegen mit Bezug auf das Selbstverständnis für die Annahme, daß wir sie vermöge ich historischen oder sozialen Einsicht besser zu

CHRISTOPH TRILSE

Probleme der Antikerezeption in Theater und dramatischer Literatur der Gegenwart

Das Thema birgt die Frage nach dem Weiterleben der Antike in sich, nach den Gründen ihres Weiterlebens überhaupt und im besonderen hier und heute. Sie betrifft die Antike als Ganzes, als geschichtliche, kulturgeschichtliche und geistige Erscheinung, vor allem aber die antike Kunst und in unserem Falle die Kunstform des Dramas, des Theaters. Damit erhebt sich zugleich die Frage nach dem Weiterleben des Mythos in nachmythischen Epochen. Der Sozialismus kann einerseits keine Mythen als Instrumente der Erkenntnis oder der Selbstbestätigung gebrauchen und hat es andererseits nicht nötig, neue Mythen zu bilden. Aber er kann die alten als Erbe aufheben und als Kunst, als Poesie gebrauchen: für seine neue Kunst. Die historisch-materialistische Methode ermöglicht es, den Bezug der Mythen zur Geschichte zu erkennen und sie selbst als Produkte uralten, phantastischvolkstümlichen Bewußtseins, als Abbilder einer magisch-ganzheitlichen Welt in mehrfacher Brechung zu begreifen. Marx schrieb 1880/81: „Die Phantasie, jene zur Höherentwicklung der Menschheit so vieles beitragende große geistige Kraft, brachte nun eine ungeschriebene Literatur von Mythen, Legenden und Überlieferungen hervor, die bereits zu einer mächtigen Triebfeder für die Gattung [Mensch] wird." 1 In diese Literatur sind die menschlichen Erfahrungen von Jahrtausenden eingegangen, ihre Erkenntnisse, Ideale, Hoffnungen, eben alles Berichtenswerte, ebenso ihre ästhetischen und künstlerischen Erfahrungen. Das macht die alten Fabeln und ihre Figuren so unendlich reich und vielschichtig, erhebt sie ins Gleichnishafte und Überzeitliche und verleiht ihnen eine vielfache Verwendbarkeit. Hingegen das Zeitliche an ihnen, ihre Gebundenheit an urtümliche Zustände, an einen Erkenntnisstand, der sich nur religiös auszudrücken wußte, setzte sie aber auch vielen Mißdeutungen aus, wie leicht bewiesen werden könnte. Doch das Überzeitliche an ihnen ist größer: Die Mythen (dem Wortsinn nach das Erzählte, Berichtete, Überlieferte), die alten Fabeln bilden welthistorische Vorgänge und Konflikte ab, poetisieren Außerordentliches an Antizipatorischem, Idealem und Möglichem, leben buchstäblich von der Spannung zwischen Wirklichem und Möglichem. Das für uns Interessanteste ist die Erkenntnis der mehrfachen künstlerischen Schichtung des Abbilds, das die Mythen bieten, in denen faktisch ein Jahrtausend menschlicher Erfahrung, Entwicklung und Vergegenständlichung kristallisiert ist. Wie ein Diamant seine Gestalt durch einen Millionen Jahre währenden natürlichen Druck, seinen Schliff aber durch menschliche Kunstfertigkeit erhalten hat und dadurch wertvoll wird, so möchte man von den Mythen sagen, daß in sie jahrtausendelange Erfahrung und kollektive Weisheit des Volkes, seine Erkenntnis und Ethik eingegangen sind und sie ihren Schliff, ihre Endgestalt, durch menschliche Kunstfertigkeit empfangen haben. Deshalb werden im folgenden Termini wie Jahrtausendfabeln und Jahrtausendfiguren gebraucht. Diese Überlegung leitet über zur nächsten Frage: Wozu und warum die Mythen, diese 1

K. Marx, Konspekt über Lewis H. Morgans "Ancient Society ...", in: K. Marx / Fr. Engels, Über Kunst und Literatur, Bd. 1, Berlin 1967, S. 239. 53

Produkte des „Kindesalters der Menschheit", bzw. antike Stücke überhaupt, aufheben oder gar praktikabel machen, als Sujets für heutige, sozialistische Kunst gewinnen? Kaum bestritten ist dabei ihr Wert als Literatur, als gedruckter alter Text. In dieser Funktion stehen sie weitaus mehr im historischen Kontext, sind sie historisches Dokument (wenn auch nicht ausschließlich). Antike Literatur will aber gleichermaßen auch als Kunst verstanden werden und wird immer wieder aktuell zum Kunstgegenstand in ihrem Verhältnis zum Leser der Gegenwart. So wird sie betroffen von gegenwärtigen Fragestellungen, auf die das Menschenbild, die Humanität und die Weisheit, die Poesie der alten Fabeln Antworten geben. Gegenstand der Lektüre werden natürlich weitaus eher die Epen, die Lyrik und die spätantike Prosa. Das Lesen antiker Stücke ist ungleich problematischer, wie das aller Stücke, denn es muß der szenische Vorgang immer mitgedacht werden. Immer sind die Stücke im Verhältnis zum Theater zu denken, und zwar zu einem Theater, das es nicht mehr gibt und trotz mancherlei Rekonstruktionsversuchen und der Erforschung zahlreicher Details nicht mehr wiederhergestellt werden kann. Arnold Hauser formulierte diese grundlegende Einsicht so: „Künstlerische Stile können sich gar nicht in der Form, in der sie einmal verwirklicht wurden, wiederholen."2 Ohne hier die Diffizilität des Stilbegriffs genauer untersuchen zu können, muß man immerhin bestätigen, daß das Wesen der Sache richtig getroffen ist. Deshalb gilt als Axiom, daß die alten Stoffe bzw. Sujets und Stücke im Verhältnis zum Theater der Gegenwart und zu dessen Zuschauer stehen, d. h. an dieses angepaßt bzw. neugedeutet und neugeformt werden müssen. Noch genauer: Sie stehen im Verhältnis zum Theater des sozialistischen Zeitgenossen, das sich auf die Beziehung zur Arbeiterklasse und zur sozialistischen Gesellschaft gründet und Stoffe wie Stücke seinen Bedingungen unterwirft. Dabei ist dieses Theater keine homogene Einheit, sondern durch aktuelle Zielstellungen, verschiedene Künstlerindividualitäten, Stile und Handschriften bestimmt. Theater ist immer Gegenwartskunst, selbst wenn Stücke mit mythischem Stoff von den ältesten Klassikern aufgeführt werden. Meist haben wir es allerdings mit dramatischen Bearbeitungen zu tun, bei denen die alten Stücke denn auch fast immer als Gegenwartsstücke verstanden werden — ganz zu schweigen von den frei nach einem Mythos gestalteten neueren Stücken, deren Gegenwärtigkeit ganz außer Frage steht. In nahezu allen Epochen haben die Künstler jeweils mehr oder weniger Inhalte und Gehalte ihrer Zeit ausgedrückt, und es stellt sich im Grunde die Frage, wie weit sie die Inhalte der Originale verändert oder umfunktioniert oder gar reduziert, verletzt, ins Gegenteil verkehrt haben. Des weiteren erhebt sich die Frage, welche der dabei entwickelten Methoden für uns akzeptabel ist, welche Nähe oder Ferne zum Original erlaubt und geboten ist oder ob — wie manche meinen — das Original selbst gefordert werden muß. Überblickt man die Rezeptionsgeschichte, so haben sich drei — in sich differenzierte — Grundhaltungen zur Antike, und dabei im besonderen zum Mythos, herausgebildet: Erstens nahm man sich die Antike zum Vorbild in Hinsicht auf das Menschenbild und die Kunst, um eigene Konzeptionen herauszubilden; das trifft — trotz etlicher perioden- und landesbedingter Unterschiede — für die Epochen Renaissance, Aufklärung und Klassik zu, d. h. für vorrevolutionäre und revolutionäre Epochen des Bürgertums, sowie für die Glanzzeit des Feudalabsolutismus, die einen wesentlich unentfremdeten Menschen zu gestalten hatten. Eine ausgesprochen kulturtragende und entwicklungsbewegende Rolle erhielten antikes Denken und antike Kunst im deutschen 18. Jahrhundert, im Zeitalter der großen deutschen Literatur, und unserer klassischen Periode von Aufklärung und Klassik, noch umfassender genommen im Zeitalter von Lessing bis Hegel und Heine, in welchem ihren neue gesell2

A . Hauser, Methoden moderner Kunstbetrachtung, Frankfurt a. M. 1970, S. 213.

54

schaftlich-politische wie ideologisch-ästhetische Dimensionen abgewonnen wurden. In der langen Geschichte der Antikerezeption ward die Beziehung der deutschen Klassik — im umfassenden Sinne als Kulturepoche — zur Antike, und zwar zur griechischen, die künstlerisch produktivste in vorsozialistischen Zeiten überhaupt. Die Betonung im letzten Satz lag auf „griechisch". Nach langen Rückgriffen auf die römische Antike trat nämlich nun entscheidend die griechische in den Blickpunkt, im Bereich der Reflexion und Theorie ebenso wie im unmittelbar Künstlerischen, in der Hochschätzung der alten Stücke ebenso wie in ihrer Adaption. Das hat seine Gründe und wird auch durch die eigene Tradition erklärt. Bereits 1636 hatte Opitz die erste Übersetzung der „Antigone" des Sophokles vollendet I Die vorliegende Adaption von Römischem in den romanischen Ländern, vor allem in Frankreich, aber ebenso auch in England, hatte ihre Ursachen zunächst schon in der Überlieferung. Zum anderen hatten in diesen hochpolitisierten Ländern die römischen Ideale eine größere Wirkkraft. Das bewiesen nicht nur die zahlreichen gültigen Kunstleistungen in diesen Ländern, sondern andererseits auch die nur sehr begrenzten künstlerischen Erfolge, die sich bei der Übernahme dieser Vorbilder beispielsweise in Deutschland durch Gottsched oder durch Caroline Neuber, also durch bürgerliche Kräfte, eingestellt haben. Die römische Republik und das römische Imperium als Leitbilder fanden in Deutschland nur einen geringen sozialen Nährboden, beziehungsweise hatten sich durch die — ebenfalls von Frankreich entlehnte — höfische Kunst erschöpft. Die Ursachen hierfür sind weitgehend bekannt und brauchen nicht erneut dargelegt zu werden. So stand für Deutschland das Ideal der griechischen Polis zunächst näher: Die aktivsten Kräfte des deutschen Bürgertums lebten in Stadtrepubliken, die in dem sehr losen Reichsverband eine bedeutende Stabilität besaßen. Aber diese Erklärung allein genügt nicht. Gerade der deutsche Humanismus hatte im Erforschen, Aufbereiten und Übersetzen griechischer Literatur mit die größten Erfolge aufzuweisen. Der Anknüpfungspunkt für die Selbstverständigung des deutschen Bürgertums war also da. Und schließlich: Die große — im wesentlichen eigenschöpferische — Leistung der Römer war politischer Natur. Sie schufen ein Weltreich von bemerkenswerter Dauer und Festigkeit, während ihre geistige und künstlerische Kultur doch weitgehend übernommen war. Die griechischen Poleis, deren bedeutendste Athen war, hatten ihre größte Kulturleistung in der Entwicklung des menschlichen Denkens, der Erforschung von Natur und sozialer Organisation sowie in der Kunst vollbracht; in der Kunst nun wiederum in der Entwicklung und Erprobung nahezu aller Kunstgattungen, deren die damaligen Produktivkräfte fähig waren, sowie in der Reflexion, in der Bestimmung von Wesen, Aufgabe und Möglichkeit der Kunst, d. h. in der Ästhetik. Es war also insgesamt gesehen eine vorwiegend geistige Leistung, der die praktisch-politische nachstand: Immerhin waren die griechischen Stadtstaaten ziemlich schnell nach ihrer kulturell größten Zeit an ihren Widersprüchen zugrunde gegangen. So war es kein Zufall, daß diese Kultur — unabhängig von ihrer prinzipiell und absolut faszinierenden Schönheit — gerade auf Grund dieser Besonderheit die Deutschen anziehen mußte. Die deutsche Lage, die Situation der bürgerlichen Intellektuellen, war nicht dazu angetan, eine klassische Politik durchzusetzen, es blieb bei der klassischen Philosophie und Literatur, d. h. bei einer ebenfalls vorwiegend theoretisch-ideellen Leistung. So läßt sich dieser grundsätzliche Rückgriff auf die griechische Antike erklären. Die antike Tradition, ihre Stoffe und Formen gaben „die Würde der historischen Legitimation", wie Wolfgang Heise es formuliert3. Sie gab die Folie zur Formulierung politis

W . Heise, Bemerkungen zur Funktion und Methode der Antikerezeption in der klassischen deutschen Literatur, Wissenschaftl. Zeitschr. der Friedrich-Schiller-Univ. Jena, Gesellschaftsu. sprachwiss. Reihe, 18, 1969, H. 4, S. 49.

55

scher Programme ab, realisierte sich als Utopie angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit und verkleidete die „heroischen Illusionen" des Bügertums in seiner Kampfzeit, das seine beschränkten Ziele als ewige, ja als Reich der Schönheit auszugeben sich genötigt sah. Das hängt mit dem Schwund zeitgenössischer Stoffe zusammen, jenem Prozeß, der in Deutschland umgekehrt proportional zu Frankreich verlief. Die französischen Künstler der späteren Aufklärungsperiode hatten mehr und mehr Sujets aus dem bürgerlichen Alltag aufgegriffen, und dabei war die Antike zurückgetreten. Die deutschen Schriftsteller fanden in der Realität ihres Landes nur in geringem Maße große Stoffe und belangvolle Fabeln; fanden sie sie dennoch, wie im Sturm und Drang, wurden die Werke entweder totgeschwiegen oder verballhornt und büßten ihre Wirkung ein. Zur Darstellung von Epochenproblematik eigneten sich zeitgenössische Stoffe und Themen kaum noch, vor allem nicht gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als sich bereits kapitalistische Auswirkungen der bürgerlichen Revolution (in Frankreich, in England ohnedies) oder der bürgerlichen Entwicklung (Deutschland) zeigten. So läßt sich die Berufung auf die Antike um ein weiteres mehr erklären. Mit dem letzten Punkt wurde bereits die deutsche Modifikation einer allgemeinen Erscheinung bürgerlicher Revolutionen erwähnt: die Notwendigkeit einer Kritik an bürgerlichen Verhältnissen, bevor diese richtig etabliert waren. Dem Fehlen revolutionärer Massen war es geschuldet, daß es in Deutschland zur Ausbildung eines Individualideals und des evolutionär-edukativen Weges kam (Persönlichkeitsbildung durch Erziehung und Bildung bzw. durch Kunst, pädagogische Provinz, Kunstperiode). Dazu kamen teilweise eine lebensfremde Übertreibung der Ideale und eine zu starke Historisierung, die mit Notwendigkeit den Blick für die Praxis trüben mußten (z. T. Schiller, Hölderlin) und Ursache für jenen später aufkommenden, sprichwörtlichen „deutschen Idealismus" wurden, der dann bereits von den linken Hegelianern kritisiert wurde. Eine weitere Funktion antiker Stoffe, der Theorien wie der Mythen, lag darin, daß anhand ihrer Aussage die sozialen und politischen Erfahrungen künstlerisch-ästhetisch verallgemeinert und objektiviert, ja vermenschlicht werden konnten. Schließlich spielte die antike Tradition eine wichtige Rolle im weltanschaulichen Kampf gegen das Christentum, bei der Durchsetzung neuer, „heidnischer" Lebensideale und beim Abbau asketisch-lebensfeindlicher Normen (bei Goethe und Heine vor allem). Von eminenter Bedeutung schließlich war die Auseinandersetzung mit der Antike für das historische Denken und damit für die Wesensbestimmung der eigenen Epoche. Wenn man die eigene Zeit mit der Vergangenheit verglich und dabei zur Einsicht in die Unwiederholbarkeit des Altertums gelangte, so mußte man notwendig zum Entwicklungsdenken vorstoßen. Noch Winckelmann hatte die „Nachahmung" der Alten verlangt, aber doch selbst bereits die absolute Verschiedenheit festgestellt. Herder hingegen hatte den historischen Charakter der griechischen Kultur und damit jeder anderen im Zusammenhang mit der Geschichte dder Völker erkannt. Ähnliches kann man von Schiller und erst recht von Hegel behaupten. Man kann sagen, daß wohl der größte Gewinn bei der Rezeption des Griechentums nicht so sehr stofflicher Natur ist, sondern im Begreifen seines „Geistes" liegt, im Begreifen seiner Methoden; denn hierdurch können eigene Methoden gefunden werden, seien es historische zum Begreifen von Zeit und Welt und der eigenen Epoche, seien es künstlerische zu ihrer ästhetischen Bewältigung. In der Romantik, speziell der deutschen, brach sich diese aufnahmefreudige Haltung und wich — bei hoher Anerkennung der antiken Leistung — einer Antinomie. Bei Friedrich Schlegel z. B., der bis 1796 einen regelrechten Griechenenthusiasmus ausstellte, war später vom Vorbild der Antike nicht mehr die Rede, stattdessen wurden Konfrontation oder gar Abkehr für nötig befunden. Selbst Hegel, glanzvoller Rezeptor des Griechentums, welches 56

ihm Quelle für die Vergegenständlichung des Menschen als Gattung und Maßstab für die Kunst war, sah sich nicht mehr in der Lage, es für die Gegenwart, besonders für die Kunst, praktikabel zu machen. Bei den Dramatikern — Kleist und Grillparzer — erschien bereits kein ungebrochener Mensch mehr, wurde die Antike zur Folie. Ist aber von den Romantikern die Rede, darf nicht nur in deutschen Maßstäben gedacht werden. Die englischen Romantiker, besonders Shelley und Byron, gaben — angesichts der griechischen Freiheitskämpfe — ein hinreißendes Beispiel politischer Antikerezeption. In Deutschland waren es dann noch einmal Heine und die Aristophaniden des Vormärz von Prutz bis Seeger, die in verschiedenen Formen — von der Konzeption politischer Poesie über dem Aristophanes nachempfundene satirische Komödien bis zur politisch bewußten Ubersetzung — griechische Literatur als Vorbild und im Sinne gesellschaftlicher wie ästhetischer Selbstverständigung verwendeten. Die zweite Haltung war die Flucht in den Mythos und dessen neue Mythisierung und Enthistorisierung. Sie ist bezeichnend für die nachrevolutionäre Phase des Bürgertums sowie die spätbürgerlich-imperialistische, in Kunstperioden ausgedrückt, den Nachmärz, die Neoromantik ebenso wie den späten Klassizismus, Expressionismus und Symbolismus sowie existenzialistisch beeinflußte Phasen. Dabei soll nicht übersehen werden, daß in diesen Phasen durch Philosophen, Kulturhistoriker und Philologen wichtige Einzelerkenntnisse und brauchbare Gedanken gewonnen wurden. Im Bewußtsein des nachrevolutionären Bürgertums gingen allerdings die Kunstströme auseinander: in einen epigonalen Klassizismus und eine neue Mythisierung, die sich erst später in der Literatur niederschlagen sollte, sowie literarisch in einen Realismus auf der Basis gegenwartsbezogener Sujets, der die Realität gewonnen und die Perspektive verloren hatte. Drittens ist die Aufhebung des Mythos in geschichtlichem Sinne und als Kunst zu nennen. Diese Haltung berührt sich in mancher Hinsicht mit der erstgenannten und datiert im wesentlichen von dem Zeitpunkt her, da Marx seine tiefgründigen Denkansätze gegeben hat. Sie ist eine Haltung realistischer Kunstauffassung, die sich zur umfassenden Bewältigung der Wirklichkeit unterschiedlicher Stoffe, Sujets, Stile und Schreibweisen bedient. Die Literatur der frühen Arbeiterbewegung und die frühen Phasen der sozialistisch-realistischen Kunst wandten sich notwendigerweise vorrangig ihrer eigenen Realität zu, gestalteten die Gegenwart, wobei sie die politischen Aufgaben des Tages mit der Antizipation der Zukunft verbanden. Die sozialistische Literatur hat eine Fluchtposition nicht nötig und braucht andererseits auch kaum antike Kunst als Vorbild. Sie bedarf solcher Vehikel nicht, da sie selbst ihre Zeitfunktion begriffen hat. Noch einmal die Frage: Wozu und warum also Antike, was kann ihre Funktion sein, wo liegen Gründe für eine Rezeption? Sie sind in den Werken und in uns selbst zu finden, im Verhältnis des sozialistischen Zeitgenossen zur Geschichte des Menschen, seiner Selbstverwirklichung und Vergegenständlichung als Gattung, seines Sich-Selbst-BewußtWerdens, und in unserem Menschenbild, das nicht aus einem Vakuum entstand, sondern unter Aufhebung der in Jahrtausenden von Menschen geschaffenen Ideale entworfen wurde. In zwei Punkten ist die griechisch-römische Antike und ihre Mythologie besonders wichtig. „Der Anfang aller Entwicklungen aber liegt in den Mythen", heißt es bei Bachofen4. Die mythische Zeit kannte einen noch ungebrochenen Menschen, sie bildete den Menschen ab, der eben Mensch geworden war und sich nun — im Besitz des Bewußtseins — gerade anschickte, jenen zu höchster Produktivität führenden Weg zu beschreiten, der ihn allerdings in die Fesseln der Klassengesellschaft und in der Abfolge der sozialen For4 5

J. J. Bachofen, Das Mutterrecht, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Basel 1948, S. 17. Antikerezeption

57

mationen immer tiefer in die Entfremdung führen sollte. Dieser mythische Mensch fand geschichtliches Interesse und geschichtliche Bestätigung in der Polis, in der Sklavenhalterdemokratie, deren materielle Produzenten nicht als Menschen galten und nicht in den Gesichtskreis der Schöpfer derselben traten. Diese haben nun ein großes Menschenideal entworfen, für das der mythische Mensch das Material und mehr: nämlich vorgeformtes Material und bereits Sujets, hergab. Als sich die Widersprüche ebendieser Polisgesellschaft verschärft hatten und offener zutage getreten waren, deuteten sich, und zwar bei Euripides, Störungen an. Sonst aber treten selbst die von stärksten Konflikten betroffenen Gestalten als ungebrochene Persönlichkeiten auf. Zum andern bilden die Mythen unbewußt und die auf ihnen weitgehend beruhende Kunst der Polis bewußt die Urrevolution und die von ihr verursachten Widersprüche ab, die Durchsetzung von Geschichtsgesetzen im Leben der Gemeinschaft und des einzelnen, die im allgemeinen mit dem Sieg des Neuen endet, auch im tragischen Fall. Besonders heftig wurde das Verhältnis von Mann und Frau erschüttert, als sich patrimoniale Ordnungen über matrimoniale hinwegsetzten. Wir, die wir den umgekehrten Prozeß erleben, die Revolution zur klassenlosen Gesellschaft und den umfassenden Wiedereintritt der Frau in die gesamtgesellschaftliche Produktion und deren Leitung, haben hier einen ganz besonderen Ansatzpunkt. Die Inszenatoren des „Ödipus Tyrann" (Deutsches Theater Berlin, 1967) hatten das, von einem andern Aspekt her, bereits begriffen und formulierten so: „Im Stück wird der historische Punkt gezeigt, an dem das Individuum aus der Gemeinschaft vortritt. Das Stück wird aufgeführt zu einem Zeitpunkt, an dem das Individuum wieder eintritt in die Gemeinschaft und so seine gewonnenen individuellen Kräfte freisetzen und realisieren kann." 5 Unter diesen Aspekten harrt vorrangig die „Oresteia" ihrer Neuentdeckung. Ringen um Liebe und menschliche Erfüllung, die Beziehung von einzelnem und Gemeinschaft, von Führung und Volk, der Kampf um Frieden und soziale Ordnung sind die Urthemen fast aller 46 überlieferten griechischen Stücke und ihrer mythischen Vorlagen. Das macht sie wichtig, liefert Gesichts* und Anknüpfungspunkte. Über das historische Bewußtsein hinaus ist es das ästhetische Bewußtsein, das ein Verhältnis zur Kunst der Antike herstellt. Der Mensch formiert auch ästhetisch sich selbst und seine Welt: Ergebnisse sind das Bild seiner selbst, das ästhetische Bewußtsein und die Kunst, die Poesie der Mythen, Stücke und Gestalten, also ihr Kunst- und Parabelwert. Als Jahrtausendfabeln und Jahrtausendfiguren sind die meisten so gültig geworden. In ihren Schichten ist so viel an Erkenntnis und ästhetischer Vergegenständlichung gespeichert, daß sie in eine realistische Kunst Eingang finden können, ja müssen — sie sind unverzichtbar — und bereits gefunden haben, nur nicht unvermittelt. Hier sind sie Vorbild, liefern Stoff, Form und Sinn. Mythen und alte Stücke bedürfen der ästhetischen Vermittlung, der Adaption, wenn sie — als Theater — Gegenwartskunst sein wollen, ehe sie es sein können und als politisches Theater sein müssen. Entscheidend ist hierbei die Methode. Es gab, historisch gesehen, mehrere Grundformen der Vermittlung, die sich meist zwischen den Polen Aktualisierung und Historisierung bewegten; bestimmt wurden sie von ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktion. Die Renaissance modellierte zunächst Stoffe für ihr Theater. Im Irrtum befangen, antikes Theater rekonstruieren zu können, war man, indem man Musik dazu erfand, zur Oper gelangt (Monteverdi). Shakespeare griff ebenfalls nur Stoffe auf und formte das Atriden- und Trojanersujet („Troilus und Cressida") oder die Geschichte um Coriolanus aus dem frührepublikanischen Rom für seine bzw. des elisabethanischen Theaters 5

K.-H. Müller, Vorwort, in: H. Müller, Sophokles: ödipus Tyrann. Nach Hölderlin, Berlin/ Weimar 1969, S. 11.

58

Bedürfnisse. Heroisches Kostüm wurde die Antike auf dem Theater des französischen Klassizismus und in der europäischen höfischen Oper. Die frühe deutsche Aufklärung glaubte, in der Nachahmungsästhetik befangen, die Antike nachzuahmen, obwohl es nur das französische Theater war. Erst die spätere Aufklärung bis hin zur Klassik gewann, sich einem historischen Denken nähernd, ein stärker historisches Verhältnis zu den Stoffen und auch schon zu den Texten. Sie experimentierte bereits mit originalen Stücken in Kenntnis der meisten Texte (Voß, Wieland) und Unkenntnis des alten Theaters. Das aktuelle Anliegen stand im Vordergrund, dennoch erreichte Goethe, indem er den Iphigenie-Stoff mit den Mitteln der klassischen Dramaturgie umbildete, durch Historisierung der Humanitätsidee eine aktuelle Wirkung und verwendete Helena und das antike Ensemble im „Faust" ganz im Sinne der Jahrtausendfabel. Methodisch am weitesten gelangte Hölderlin, streng historisierend, mit ganz gegenwärtiger Absicht und dem Verfahren, „die Mythe beweisbarer zu machen", einem sehr wichtigen Grundsatz. Methodisch mögliche Ansatzpunkte für uns lassen sich unter anderem bei den Klassikern finden. Das 19. Jahrhundert mit seinem Historismus bemühte sich — ähnlich seiner Art zu bauen, seinen vielen Neo-Ismen — u. a. um theatralische Wiedergaben philologisch übersetzter Originale; es war aber ein methodischer Irrweg, antike Stücke als Theater original rekonstruieren zu wollen, ebenso wie man im 19. Jahrhundert nicht imstande war, einen antiken Tempel oder einen gotischen Dom jemals original nachzubauen. Als sich ideologisch eine Neo-Mythisierung vollzogen hatte, begann sie um 1900, auf das Theater überzugreifen, wenn auch auf verschiedene Weise. Der eine Weg verlief über die mythologisierenden und psychologisierenden Bearbeitungen oder Neubildungen der Dramatiker, die einer Enthistorisierung korrespondierte und teilweise an Barbarisierung grenzte. Die den alten Stücken inhärenten, gesellschaftlich begründeten Grausamkeiten wurden besonders akzentuiert, erhielten den Symbolwert des Ewigen. Der andere Weg ging über philologische Übersetzungen, die manchmal auch Nachdichtungen oder Bearbeitungen (Vollmoeller, Schadewaldt) waren, und über psychologisierende (Reinhardt) und archetypisierende (Seilner) Inszenierungsweisen. Vielfach mündeten beide Wege in einen. In manchem brachten diese Verfahren fruchtbare Neuerungen: die Wiedereinsetzung des Chores, die Entdeckung des Archaischen. Nur wurde das Dargestellte mit der Darstellung verwechselt, und auch diese Entdeckungen dienten der mythisierenden Verschleierung der Geschichte, der Reduktion des Menschlichen auf Archetypen. Ebenfalls gängig waren zeitweise platte bis gewaltsame Aktualisierungen, bei denen die Fabeln umgebogen oder ihr fremde Inhalte und Themen untergelegt wurden. Keine dieser Methoden und Techniken, ob Originalübersetzung, Theateradaption, Dramatikerbearbeitung, Neuschöpfung nach einem Stoff oder Aufnahme eines Motivs, erwies sich als für das sozialistische Theater nachvollziehbar oder ausbaufähig, weil ihnen wesentliche Voraussetzungen fehlten: die Erkenntnis vom geschichtlichen Wesen des Menschen und die gesellschaftliche Bestimmung der Kunst hinsichtlich ihrer Struktur und Funktion sowie die Einsicht in Genrespezifika. So stellt es sich heraus, daß es der historisch-materialistischen Methode bedurfte, um antike Literatur, genauer: das Drama, letztlich: die Mythen, in die sozialistische Kunst, das sozialistische Theater einzubringen. Geht man solcherart daran, die Stücke bzw. ihre Vorwürfe als Gegenwartskunst praktikabel zu machen, sie von ihrem Ursprung her ebenso wie nach ihrer Bestimmung, ihren Bezugspunkten zu heute zu untersuchen, stellt man folgendes fest: 1. Auf der Basis der historisch-materialistischen Methode und der verschiedenen möglichen Techniken schälen sich zwei Tendenzen heraus: a) die Herausarbeitung parabelhafter 5*

59

Aussagen über die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft, ein Verfahren, das auf Aischylos und Aristophanes, bedingt auf Sophokles anwendbar ist („Sieben gegen Theben", „Die Perser", ebenfalls „Ödipus Tyrann") — diesen Weg gingen z. B. Brecht, H. Müller, M. Braun; b) die Erprobung des antik-klassischen Menschenideals und seiner Beziehungen zum Menschen- und Gesellschaftsbild des Sozialismus, eine Möglichkeit, die Sophokles, vor allem aber Euripides und die an ihn sich anschließende Überlieferung bieten („Ion", Herakles- und Prometheus-Gestaltungen, ebenfalls „Ödipus", „Antigone", auch „Amphitryon" — diesen Weg haben etwa Hacks und Knauth eingeschlagen). Zu bemerken ist, daß diese beiden Tendenzen sich nicht mechanisch gegeneinander abgrenzen lassen und sich mitunter verbinden. 2. Der Bezugspunkte in den alten Stücken gibt es viele; die Mythen bereits, mehr noch die Stücke des Theaters der Polis enthalten viel Realität. Nicht jedes Stück ist unbedingt und von vornherein zur Adaption geeignet, zumindest nicht zu jeder Zeit. Der menschliche und künstlerisch-szenische Reichtum der antiken Stücke ist unerhört. Ihre Drehpunkte kommen lebendigem Theater entgegen. 3. Die Kausalität der Fabel ist häufig nur schwer herauszuarbeiten, weil sie im mythischen Schicksal verborgen ist. Den Mythos aber zu erhellen hat die bürgerliche Mythologie außerordentlich erschwert, und ihr hat die marxistische Mythenforschung trotz großer Denkansätze erst wenig entgegenzustellen. Hier muß viel nachgeholt werden, vor allem durch Detailforschungen. Das Problem liegt darin, die „Mythe beweisbarer darzustellen", den rationalen Kern zu finden, das Schicksal zu materialisieren, die Handlung zu motivieren, ohne die Poesie zu zerstören. Von erheblicher Schwierigkeit dürften im Verhältnis zum heutigen Zuschauer etliche grausame Handlungselemente der alten Stücke sein (z. B. in „Oresteia", „Medea", „Die Bakchen"). Hier bedarf es aller dramaturgischen und szenischen Kunst, diese Seiten so vorzuführen, daß sie durch und als Kunst erträglich werden. „Klassiker sind heilig", meinte Peter Hacks, „man darf sie nur verändern, wenn man sie verbessert." 8 Eben darum geht es. Niemals sollte der Bearbeiter hinter die Vorlage, hinter den Stand des alten Autors zurückgehen. 4. Die wichtigsten Impulse gab Brecht, sowohl mit seinen Ansichten von der Verfremdung als auch mit seinem eigenen Beispiel. Die Gegenwart zu historisieren, sie zu verfremden, um sie durchschaubarer zu machen, diese Methode fand ihr Gegenstück darin, die Historie — und damit den Mythos, den wir historisch begreifen und angehen, wenn auch nicht als Historie mißverstehen, — zur Gegenwart werden zu lassen. Freilich nicht zu einer zeitlos allgemeinen Gegenwart, sondern zu einer konkreten und besonderen, einer historisierten. Solche außerordentlichen Vorgänge wie die um Oidipus, der die Wahrheit sucht, Orestes, der um Gerechtigkeit kämpft, Medea, die ihre Würde als Frau und Mutter verteidigt, Trygaios, der den Frieden mit List herbeiholt, Lysistrate, die Frieden und soziale Ordnung über die Geschlechtslist erreicht und damit auch das gestörte Verhältnis der Geschlechter erneuert, müssen außerordentlich und konkret gezeigt werden; desgleichen das Ringen und die Taten des Prometheus und des Herakles, deren Kühnheit und Verstand ebenso wie ihre List, eine revolutionäre List. So erscheinen dann historische Menschen, die für die Veränderung und Verbesserung der Welt einstehen. Sie gleichen den heutigen. Hier liegt ein Bezug zur Gegenwart, ein höchst wichtiger. 5. Historie (Mythos) und Gegenwart stehen im Verhältnis zueinander, und somit bedingen sich die Methoden von Historisierung und Aktualisierung. Wenn wir vom geschichtlichen Wesen des Menschen und der Kunst ausgehen (also von der Historisierung), kann das niemals heißen, einem eklektischen Historismus das Wort zu reden. Deshalb kann auch 6

P. Hacks, Über Kortners „Sendung der Lysistrate", Helikon 2, 1962, H. 3 - 4 , S. 648 ff.

60

die Meinung verschiedener Altphilologen und Literaturhistoriker nicht geteilt werden, „originale" Stücke seien in philologischen Übersetzungen zu spielen. „Reine Antike" ist nicht möglich — Theater ist kein Museum. Eine Aktualisierung dieser Jahrtausendfabeln kann aber ebensowenig bedeuten, sie aus dem Tagesgeschehen heraus zu motivieren (wie in verschiedenen Nachkriegs stücken, z. T. in MacColls „Unternehmen Ölzweig", noch stärker in der Bearbeitung des Lysistrate-Stoffes durch Bernhardy, Bremers „Frauenvolksversammlung, Stolpers „Amphitryon", Pfeiffers „Herkules"), was nicht heißen muß, daß man auf Anspielungen zu verzichten hätte, vor allem nicht in der uns besonders lieb gewordenen Alten und auch der Plautinischen Komödie. Es soll hier eingeräumt werden, daß diese Art der aktualisierenden Bearbeitung, aber auch die spätbürgerliche Mythisierung zum Vorurteil gegenüber jeder Art von Bearbeitung beigetragen hat. 6. Brecht nannte seine Methode, den Mythos beweisbarer zu machen, „durchrationalisieren" („Antigone"-Modell) und ging dabei, wie bei allen Klassikern, zunächst vom Materialwert aus, wobei zeitliche Nähe oder Feme keine geringe Rolle spielten. Er begründete das so: „Das ,Wort des Dichters' ist nicht heiliger, als es wahr ist, das Theater ist nicht die Dienerin des Dichters, sondern der Gesellschaft."7 Damit hatte er einen entscheidenden Weg gewiesen. Doch wäre nichts unbrechtischer, als sein Ergebnis zu dogmatisieren. Brechts oberste Gesichtspunkte waren die jeweilige Funktion und der entsprechende Zeitpunkt, und so war seine „Antigone" damals richtig. So muß es nicht heute sein. Wichtiger ist seine Methode, die er der historisch-materialistischen verdankt und die seine Schüler und Nachfolger mit unterschiedlichem Erfolg ausgebaut, entwickelt und auch verändert haben, z. B. P. Hacks, H. Müller und auch M. Braun. 7. Unterschiedlich können die Techniken selbst sein, soweit sie aus der Grundmethode ableitbar sind bzw. diese ermöglichen. Die schriftstellerisch-dramaturgische kann sich auf sogenannte Bühnenbearbeitungen beschränken, die allerdings in den seltensten Fällen ausgereicht haben („Ion", „Sieben gegen Theben"); sie kann aber auch zur eigentlichen Adaption wie beim „Frieden" oder „Ödipus Tyrann" führen, Stücken, die bereits unmittelbar zur Gegenwartsliteratur gehören und Eigenleistungen der Dramatiker wurden. Doch stehen diese Fassungen noch bedingt in dem historischen Kontext, dem die alten Stücke ihrer Entstehung nach zugehören; das trifft indes nicht mehr auf die Neudeutungen alter Stücke zu, durch die ein eigener Fabelverlauf hergestellt wird (Brauns „Perser" und „Medea", Hacks „Amphitryon"). Sie sind neue Literatur ebenso wie die freien Erfindungen nach mythischen Episoden (wie H. Müllers „Herakles 5" oder Hacks' „Omphale"). Von den drei zuletzt genannten Autoren wurden die Jahrtausendfabeln mittels der historisch-materialistischen Methode als weltgeschichtliche Parabeln entdeckt und gegenwärtig gemacht, als Theater, als Literatur (ähnlich in Erzählung und Roman, z. B. Hermlins „Argonauten" oder Fühmanns „Prometheus"). Als weniger erfolgreich hat sich bisher die Technik der Motivaufnahme erwiesen („Antigone"-Stücke), diese Art von Aktualisierung ist zu kurzlebig; dabei soll den Stücken von Hubalek oder Karvas nicht aller Wert abgesprochen werden. Nur haben sie weder die Tiefe, noch die Breite, noch die ungeheuere Kunst- und Verallgemeinerungsfähigkeit der Mythen selbst. Verarbeitungen vorgeformter Motive haben indes in anderen Genres größeren Effekt, in der Lyrik (man denke z. B. an G. Maurer oder gar E. Arendt) und in der erzählenden Literatur (siehe oben). 8. „Reine" Theaterlösungen halte ich kaum für möglich, so hoch ich die Leistung der Darstellungskunst auch werte. Wir haben im Theater den klassischen Fall synthetischer 7

B. Brecht, Schriften zum Theater, Bd. 6, Berlin / Weimar 1964, S. 17. 61

Kunst vor uns — des Dramatikers und des Szenikers bzw. Darstellers Kunst bilden eine Einheit, eine widersprüchliche Einheit, keine magische. Nur: dramatische und theatralische Techniken bedürfen der adäqueten Methode, um das Ziel zu erreichen. Ein Stück, das nach der dramatischen Technik Brechtscher Art gearbeitet ist, kann keine einfühlende oder illusionistische Darstellungstechnik gebrauchen, zumindest nicht prinzipiell; eine solche dürfte auch an Müllers oder Brauns Technik scheitern oder (im Falle „Philoktet") das Stück verkehren. Inwieweit wiederum Stücke nach Einfühlungs-Dramaturgie an verfremdender Darstellungstechnik scheitern oder dadurch neu entdeckt werden (man überlege das bei Kleists „Amphitryon"), sei dahingestellt. Weiter gefaßt: Es bliebe szenischen Experimenten vorbehalten zu klären, ob Stücke nach alter Dramaturgie so realisiert werden können, daß Dargestelltes auch als solches erkennbar ist und nicht Darstellung wird. Dafür gibt es bereits grundsätzliche Erfahrungen, wenn auch nicht zu unserem Gegenstand. 9. Das antike Theater war ein Glanzpunkt in der Geschichte des Theaters, die wichtigsten Theater-Kunstmittel waren entdeckt worden. Man kannte Überhöhung und Verfremdung, Masken und Musik. Die Dekoration war andeutend, antiillusionistisch. Dieses Theater beherrschte die Dialektik von Dargestelltem und Darstellung, die klassische Ära der Polis konnte ohne Bedenken die archaischen Mythen vorführen. Man machte bewußt Theater und dachte immer das Publikum mit. So ist auch hier und heute immer zu denken, obwohl unser Publikum, das sich in zunehmendem Maße aus der Arbeiterklasse rekrutiert, nicht die Voraussetzungen des griechischen hat. Der einfache, parabelhafte Grundzug der Fabeln kann — wenn er klar herausgestellt wird (das Problem der Bessonschen Inszenierung von Müllers „Odipus") — auch vom heutigen Publikum (so sehr der Schwund an „klassischer Bildung" konstatiert werden muß) verstanden werden. 10. Der sinnliche Grundzug — dieser überhaupt theatergemäße — ist den Fabeln eigen, vor allem in den Komödien; er ist schon im Text spürbar, um vieles mehr muß er im Spiel, im Optischen wirken können. Alle Mittel können dafür eingesetzt werden. Aus dem Kunstcharakter der Mythen sollte verstanden werden, daß die mythischen Figuren — vor allem der Vermittlung durch die Dramatiker — in erster Linie Theaterfiguren sind. — Auszuprobieren für das sozialistische Nationaltheater wären: „Oresteia", „Prometheus" (der in einer Adaption vorliegt), „Aiax", „Elektra", „Alkestis", „Medea", „Andromache", „Ion" (von neuem), „Die Bakchen", „Der Kyklop", „Die Vögel" (danach gibt es ein Opernlibretto von Hacks), „Die Frösche", „Lysistrate" (von neuem — inzwischen liegt Knauths neue Adaption vor), vielleicht noch andere. Alles das bedacht, gehören die Mythen, die griechischen in unserem Falle, und die nach ihnen verfaßten Stücke, die diesen Mythen einen unvergleichlich höheren Kunstwert gegeben haben, als ihn manche anderen Mythen aufzuweisen haben, zu einer realistischen Kunst. Bleiben sie als Literatur weitgehend Erbe, dem man vorrangig mit historischer Forschung beikommt, wenn auch nicht ausschließlich, sondern im Blick auf den Leser, so sind sie als Theaterstücke Gegenwartskunst: Die Stücke werden, auch wenn sie ein mythisches Sujet besitzen, sozialistisch-realistische — oder zumindest progressiv bürgerlich-realistische — Literatur. So stehen sie mit Recht neben den Werken mit Sujets aus der Gegenwart, stehen nicht im Gegensatz eines Entweder-Oder zu ihnen. Brachte der Prozeß der Aneignung alter Stücke für unsere Kunst- und Literaturgesellschaft große Stoffe ein, die die Bewältigung großer Gegenstände und Themen erleichtern, so auch eine Rückbesinnung auf große Formen, auf Chor und Versdrama z. B., auf verschiedene Dramaturgien, im Gegensatz zu vielen spätbürgerlichen Adaptionen in Prosa oder im Konversationsstil. Das macht sie uns teuer, rezipierbar und praktikabel. So beglückt die Tatsache, daß es den sozialistischen Stückeschreibern und Theatermachern 62

möglich ist, die Mythen und Jahrtausendwerke der griechischen Antike in ihrem Format zu erkennen, deren Humanität und Totalität zu erfassen und ihnen dabei, indem sie für das Heute erschlossen werden, ihre Größe von Gestern zurückzugeben und in ihnen das Morgen zu entdecken und die Zeitgenossen entdecken zu lassen8. 8

Vgl. ferner Verf., Antike und Theater heute, Berlin 1975, S. 298 und die im Anmerkungsteil dieses Buches genannten weiteren Arbeiten. In diesen setze ich mich anhand zahlreicher Einzelanalysen und Interpretationen mit der Funktion des antiken Erbes in der sozialistischen Kultur, im besonderen mit seiner Bewältigung durch die Theaterpraxis und im weiteren durch die — dramatische — Literatur, auseinander.

63

WOLFGANG

SCHINDLER

Antike Kunst und sozialistische Gegenwart

Der Problemkreis, zu dem meine Bemerkungen hinführen sollen, ist längst zu einem Feld des Gedankenaustausches und des Meinungsstreites geworden. Kulturwissenschaftler und Ästhetiker, Altertumskundler und Germanisten, Vertreter der kulturellen Praxis und unserer Bildungs- und Erziehungsstatten haben auf Konferenzen und Arbeitstagungen die Diskussion seit Jahren eröffnet. Es handelte sich dabei um Fragen, — wie die Kultur der griechisch-römischen Antike als gesellschaftliche Äußerung insgesamt und im einzelnen zu analysieren sei, — wie wir die kulturellen Errungenschaften dieser Epoche zu rezipieren hätten, — wie sich das antike Erbe in seiner Aktualität für unsere Gesellschaft bestimmen ließe. Fragen wie diese stehen im Zusammenhang mit jenen Aufgaben, die uns als Mitgestalter der sozialistischen Moderne im Hinblick auf die weitere Erschließung des antiken Erbes gestellt sind. I. Zum besseren Verständnis meiner Ausführungen möchte ich anknüpfen an die unser Thema betreffenden Thesen, die G. Zinserling seit Jahren zur Diskussion gestellt hat. Ich darf hier einige Leitgedanken seines im Januar 1969 auf der Arbeitskonferenz zum Thema „Das klassische Altertum in der sozialistischen Kultur" 1 gehaltenen Referates in Erinnerung bringen. Diese sind von ihm auf der Jenenser Arbeitsgruppentagung zu Humanismusproblemen im Herbst 1971 erneut vorgetragen, zugleich aber spezifiziert worden: 1. „Im Mittelpunkt der Kunst des sozialistischen Realismus als einer an der Gestaltung der Wirklichkeit dieser Welt, ihrer Triebkräfte und Zusammenhänge objektiv interessierten und den gesellschaftlichen Fortschritt bewußt fördernden Kunst steht der Mensch als Schöpfer seiner selbst."2 2. „Die epochale Leistung der bildenden Kunst der griechischen Klassik — vor allem ihrer Plastik — war es, die Darstellung des Menschen von einem Jahrtausende alten konventionellen Schema befreit zu haben. Diesen für die geistige und moralische Menschwerdung der Menschheit gleichermaßen bedeutsamen Schritt über die Stufe der altorientalischen Kulturen hinaus zu vollziehen, waren die Griechen der klassischen Epoche nur auf Grund im einzelnen benennbarer, ganz konkreter Bedingungen fähig geworden, ja man muß sagen, daß bestimmte ökonomische, soziale und politische Umstände diesen Schritt geradezu erzwungen hatten."3 3. „Die Rezeption des humanistischen Erbes und die Gestaltung der sozialistischen Gegen1

2 3

Tagungsbeiträge veröffentlicht in: Wissenschaftl. Zeitschr. der Friedrich-Schiller-Univ. Jena, Gesellschafts- u. sprachwiss. Reihe, 18, 1969, H. 4. A. a. O., S. 91. A. a. O., S. 91f.

65

wartskultur werden demnach zu einer dialektischen Einheit verbunden; das eine ist im anderen nicht nur passiv bewahrt, sondern wirkt in ihm aktiv weiter." 4 Das Problem, um das es bei meinem Thema geht, ist in den genannten Zitaten klar erkannt und unmißverständlich formuliert worden, sowohl im Hinblick auf die Historizität als auch im Hinblick auf die Aktualität des antiken Erbes; denn so möchte ich die beiden einander dialektisch bedingenden Aspekte bezeichnen, unter denen wir uns bei der Erschließung des antiken Erbes theoretisch verständigen können. Dabei möchte ich — das ergibt sich zwangsläufig aus meinem Thema — unter dem Blickpunkt der Historizität vor allem und zunächst einmal die Gegenstandsgebundenheit der Kunst — anders gesprochen: ihre Konkretheit — ins Auge fassen, deren exakte Analyse unerläßliche Voraussetzung für die Bestimmung der Aktualität eines jeden künstlerischen Erbes, so auch des antiken, ist. Zinserlings Thesen bieten hier den willkommenen Anknüpfungspunkt. Freilich wollen diese Thesen im einzelnen geprüft und präzisiert und in der ideologischen Auseinandersetzung mit der spätbürgerlichen Antikerezeption profiliert sein. Dabei empfiehlt es sich, an dem Doryphoros, dem Speerträger des Meisters Polyklet aus dem 5. Jahrhundert v. u. Z., als dem Paradebeispiel der seit 1966 in Gang gekommenen Erörterungen festzuhalten (Abb. 6). Wenn wir dieses Standbild der griechischen Hochklassik als eine spezifisch künstlerische Vergegenständlichung des Menschenbildes dieser Zeit verstehen, als plastische Realisierung, der stets eine unbestritten hohe gesellschaftliche Repräsentanz zugesprochen worden ist, so können wir uns der Aufgabe nicht entziehen, diese Repräsentanz in der spezifisch künstlerischen Gestaltung und Organisation der Plastik zu erschließen, das heißt aber nichts anderes, als den Darstellungsinhalt und die Gestaltungsmerkmale sowie die darin ausgewiesene gesellschaftliche Funktion und Bedeutung des Werkes in schlüssiger Weise auf die Gesellschaft zurückzuführen, aus der dieses Werk notwendig so und nicht anders hervorgegangen ist. Zinserling hat uns bei seinen Ausführungen auch hier den Weg gewiesen: „So verstanden ist der Speerträger eine leibhaftige Verkörperung des bei aller Freiheit der Selbstentfaltung des Individuums in sich durch Regeln und Gesetze übersichtlich geordneten und gebundenen Kosmos des Polisstaates." 5 Eine so gedrängte Charakterisierung und Deutung des Bildwerks beruht auf der detaillierten Beobachtung der kollektiv gebundenen Individuation des klassischen Menschenbildes, d. h. der Freisetzung der Individuen bei starker gesellschaftlicher Bindung, wie sie in der klassischen griechischen Polis errungen wurde. Diese Individuation gibt sich in Gestaltungsmerkmalen zu erkennen, die im Aufbau und in der Gliederung, der Modellierung und Konturierung der Statue sowie in dem rhythmisch vermittelten Kontrapost derselben, der sogenannten klassischen Ponderation, faßbar werden. Die unter solchen Gesichtspunkten der Analyse — auch andere wären denkbar 6 — zu benennenden Gestaltungsmomente konstituieren die besagte „leibhaftigeVerkörperung des . . . in sich durch Regeln und Gesetze übersichtlich geordneten und gebundenen Kosmos des Polisstaates". Von gleichem Rang ist die thematische Bestimmung des Werkes, die insgesamt denselben Individuationsprozeß in dem vielfältigen Funktionsfächer der in diesem Standbild ausgedrückten staatsbürgerlichen Norm der klassischen Polis sichtbar macht. Andererseits 4 5 6

66

A . a. O., S. 89. A . a. O., S. 92. Etwa die Fragen nach dem Verhältnis der Teile zum Ganzen (die Griechen faßten ähnliche Sachverhalte unter dem Gesichtspunkt der Symmetrie zusammen), des Inneren zum Äußeren, des Raumverhaltens u. a.

basiert das gesellschaftliche Verständnis dieses Menschenbildes auf der umfassenden und verallgemeinernden Kenntnis des, wie es Zinserling formulierte, „durch Regeln und Gesetze übersichtlich geordneten und gebundenen Kosmos des Polisstaates". Die künstlerische Realisierung des Menschenbildes, um die es in unserem Zusammenhang vor allem geht, wird also als eine spezifisch künstlerische Konkretisierung des gesellschaftlichen Leitbildes verstanden und als solche der Analyse empfohlen. Die Gestaltungsweise, Themenbildung, Funktionsbestimmung werden in ihrer historischen Relevanz erkannt. Sie sind einmaliger, unverwechselbarer Ausdruck einer Epoche, in unserem Falle der griechischen Klassik des 5. Jahrhunderts, speziell der Hochklassik. Wenn wir heute das künstlerische Erbe zurückliegender Perioden unserer sozialistischen Gesellschaft zu erschließen versuchen, so ist das spezifisch kunstwissenschaftliche Verständnis der künstlerischen Gestaltung des Menschenbildes einer jeden Epoche — neben dem allgemeinen historischen, das als Kontroll- und Verständigungsbasis gar nicht hinwegzudenken ist — eine unveräußerliche Bedingung des gesellschaftlichen Verständnisses jeder künstlerischen Gestaltung, sofern wir dieses über die Informationsquelle Kunst zu erlangen suchen. Ohne dieses kunstwissenschaftliche Verständnis bleibt Kunst Illustration rein historischer Befunde oder Objekt lediglich ästhetisierenden Genusses. Die speziell künstlerisch aufgeschlüsselte Historizität erfordert ein starkes Abstraktionsvermögen im Sinne des zusammenfassenden Epochenverständnisses und — wie gesagt — der Verankerung in dem Netzwerk der verschiedensten historischen Quellen. Literatur, Musik, Philosophie und andere Überbauerscheinungen werden, epochal dechiffriert, die Kunstanalyse ergänzen und bestätigen können als ähnlich (oder abweichend) organisierter, freilich gattungsmäßig jeweils andersartig spezifischer Ausdruck der Gesellschaftsordnung. Da wir nun als deren bewußtseinsmäßigen Träger die Ideologie verstehen, muß also der komplexe Ideologiebefund am Kunstwerk — die Fragen etwa, wie sich Ideologie in der besonderen Themenbildung und Gestaltungsweise, in der Funktionsbestimmung und im Bedeutungsgehalt niederschlägt, — auch aus der Gegenstandsanalyse gewonnen bzw. anhand der künstlerischen Verwirklichung nachgewiesen werden. Neben dieser Werkanalyse sind alle Informationen aus Sekundärquellen äußerst willkommen, meist unentbehrlich, aber eben nur von sekundärer, d. h. nichtkünstlerischer Aussage und Bedeutung. Hier bedarf es besonderer Aufmerksamkeit, um die angenommene Gesellschaftlichkeit des künstlerischen Werks von seiner wirklichen, spezifisch künstlerisch verwirklichten und spezifisch künstlerisch erkannten Gesellschaftlichkeit zu unterscheiden. Der Erkenntnisgewinn aus Sekundärquellen wird das gesellschaftliche Kunstverständnis fördern, nicht aber ersetzen können. Ich darf hier auf eine Konfronation dieses Standpunktes mit den Spielarten des ästhetischen Agnostizismus, nicht zuletzt mit dem Neopositivismus spätbürgerlicher Prägung, verzichten. Es sei mir lediglich der pauschale Hinweis gestattet, welche Konsequenzen sich z. B. für unsere Kultur- und Kunstpolitik aus einer Einstellung ergeben könnten, die die Ideologierelevanz der spezifisch künstlerischen Gestaltung des Menschenbildes leugnete und sie lediglich aus nichtkünstlerischen Quellen abzuleiten versuchte. Ich wüßte nicht, wie wir in der ideologischen Auseinandersetzung, deren Zuspitzung mit der wachsenden Stabilisierung der friedlichen Koexistenz wohl zunehmen dürfte, mit jenen Positionen bestehen könnten, von denen aus man behauptet, daß Kunst als Kunst nichts mit Ideologie zu tun hätte. Soweit meine Darlegungen zum Problem der Historizität, deren kunstwissenschaftliche Aufschlüsselung wir bei der Analyse der höher organisierten Bau- und Bildwerke fordern sollten, wenn wir uns um das antike Erbe für unsere sozialistische Gesellschaft bemühen! Das ist m. E. auch die Voraussetzung für das präzise Verständnis des zweiten Aspekts: der Aktualität, denn Historizität und Aktualität bedingen einander wechselweise. 67

Um Mißverständnissen vorzubeugen, darf ich nochmals darauf hinweisen, daß es mir bei einer solchen spezifisch künstlerischen Einengung des Begriffes der Historizität von Kunstwerken in unserem Zusammenhang vor allem darum geht, zunächst einmal für die Bestimmung ihrer Aktualität klare Voraussetzungen zu schaffen. II. Die künstlerischen Ausformungen des Menschenbildes der einzelnen Perioden der Menschheitsgeschichte enthalten ganz verschieden ästhetisch strukturierte Informationen der jeweiligen Gesellschaftsordnungen, über die hinaus sie — je nach dem Erhaltungszustand — in gleicher Weise fortwirken und sich anbieten, wie der jeweils errungene gesellschaftliche Fortschritt dieser Ordnungen als bleibender Besitz und Erfahrungsschatz den folgenden als Erbe zuwächst, ganz gleich, ob er voll genutzt oder vernachlässigt wird. Das Verhalten der folgenden Epochen als Adressaten dieser Informationen ist — wie die Geschichte lehrt — ein an die jeweilige Spezifik dieser Epochen gebundenes. So zählen wir zu einem längst erforschten Tatbestand, daß besonders die frühbürgerlichen Kommunen der Renaissance und die der Revolution zustrebende aufgeklärte Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts deshalb so intensiven Zugang zur Antike suchten und fanden, weil ihre gesellschaftlichen Intentionen — auf freilich jeweils ganz anderer Ebene — sich als besonders wahlverwandt gegenüber der Antike erwiesen. Ein kleines Beispiel der Ideologiebildung wenige Jahre vor der Französischen Revolution sei mir hier anzuführen gestattet. Es soll nicht nur zeigen, zu welchen frappanten Schlußfolgerungen die Aufklärung selbst in deutschen Landen gelangte, sondern die Ideologiebedingtheit der Erbebestimmung ein übriges Mal erweisen. Der Görlitzer Bürgermeister, Senator und Amtsadvokat Samuel August Sohr verfaßte im Jahre 1781 eine Preisschrift „Über die Erziehung des Landvolks in der Oberlausitz"7. Darin gelangt er zu folgender Feststellung: „Nie werd' ich mich denen beigesellen, die die Aufklärung des gemeinen Mannes für schädlich halten. Wenn Aufklärung Enthüllung der Wahrheit ist — und was sollte sie sonst sein? —, so ist mir Wahrheit zu ehrwürdigen Ursprungs, als daß ich sie nicht jedem meiner Brüder, jedem, nachdem er sie anzuschauen vermag, enthüllt wissen wollte. — Und was hast du, Vornehmer, Reicher, Gelehrter, Gotte voraus gegeben, daß du mehr Aufklärung erlangtest als dein schwächerer Bruder, inwiefern war dir Aufklärung nützer als ihm? Aufgeklärter würden seine edlen Handlungen vielleicht die deinigen überwiegen. — Man spricht wohl gar: der aufgeklärte Bauer würde der Staatsverfassung nachteilig werden. Nun dann kann ich mir entweder von Aufklärung nicht den rechten Begriff machen, oder mit der Staatsverfassung muß es hapern." 8 Eine solche Ideologiebildung, die die epochal herangereifte Ablösung feudal-despotischer Verhältnisse signalisiert, gibt in dem demokratischen Bestreben nach gleichberechtigter Teilhabe an der Aufklärung für viele Volksschichten jenen Ausgangspunkt zu erkennen, von dem her die Entdeckung des demokratischen und republikanischen Erbes der Antike — wie sie sich etwa in der Herausbildung der deutschen Klassik vollzogen hat — überhaupt erst verständlich wird. Bereits Jahrzehnte zuvor hatte kein geringerer als unser Johann Joachim Winckelmann diese Entdeckung gemacht und zutiefst durchlebt. Auch wenn die Antike in dieser heroischen Illusion lediglich modellhaft abstrahiert und als Norm, 7 8

68

Dessau / Görlitz 1781. A. a. O., S. 39f. — Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Dr. habil. E.-H. Lemper, Görlitz.

nicht zuletzt als Kunstnonn verabsolutiert wurde, bezeugt dieser Prozeß der Rückwendung zu einer Epoche verwandter Gesellschaftsstruktur, daß die Bestimmung und Inanspruchnahme des Erbes stets von einer zutiefst gesellschaftspolitischen Orientierung abhängig ist. Mit dem Aufbau der sozialistischen Demokratie in unserer Republik ist nicht zufällig das Interesse für die Antike im stetigen Wachsen begriffen. Diese Entwicklung ist für die Rezeption antiker Dramatik auf unseren Bühnen sowie für die DDR-Literatur bei anderer Gelegenheit bereits besprochen worden 9 . Für die Feststellung des Prozesses der Aufnahme antiker Motive und Themen sowie des Einflusses antiker Gestaltungsweise auf unsere Kunstproduktion als auch für die Feststellung des Rezeptionsprozesses antiker Kunst stehen zusammenfassende Darstellungen bisher noch aus. Zweifellos wird es mehr Mühe kosten, auf diesen Gebieten fundierte Darlegungen zu erbringen. Nur eines werden wir bereits mit einiger Voraussicht sagen dürfen: Wenn wir auf dem Sektor des sozialistischen Kunstschaffens neben dem Katalog antiker Themenwahl auch die mögliche Aufnahme antiker Formprinzipien zu konstatieren hätten, würden wir deshalb nicht zu der Meinung gelangen, daß damit Kriterien für die Beurteilung des sozialistischen Realismus gewonnen seien. Und hier darf ich mir erlauben, meine Bedenken anzumelden gegen die These von Zinserling, die er zuletzt in programmatischer Zuspitzung im Herbst 1971 in Jena formuliert hat, indem er von dem, wie er wörtlich ausführte, „Formenapparat der griechischen Hochklassik" sprach als dem Maßstab eines jeden wahrhaft sozialistischen Realismus unserer Moderne, ganz gleich, welcher Kultur dieser Realismus entstamme. Ein Mißverständnis dieser erneut von Zinserling in Molsdorf bekräftigten Formel des „Formenapparates" ist auf Grund seiner zeitlichen Terminierung auf die Zeit der Hochklassik, also auf das 3. Viertel des 5. Jahrhunderts, kaum möglich. Auch die Formulierung, auf der nachdrücklich bestanden wurde, nämlich daß moderne sozialistische Kunst „nicht im Widerspruch zu diesem Formenapparat der Hochklassik" stehen dürfe, läuft im Prinzip auf die Bildung eines Formenkanons hinaus, der m. E. nur allzu vordergründige Vergleichsmöglichkeiten von Kunstwerk zu Kunstwerk bietet. Selbstverständlich ist bei einer solchen Betrachtungsweise, wie sie von Zinserling vorgeschlagen wird, etwa der Vergleich des Doryphoros mit Werken wie der Aufbauhelferin von Fritz Cremer nicht ohne einen gewissen Reiz. Doch dürfen wir — das legen Gespräche mit dem Bildhauer unbedingt nahe — annehmen, daß solche Annäherungslösungen, wie sie Zinserling in diesem Falle beschrieben und zu erklären versucht hat10, eher zufällig und zeitweilig und nicht ohne Kenntnis des antiken Stückfundus entstanden sind. Es scheint mir gewagt, von solchen und ähnlichen Beispielen ausgehend, den Formenapparat der griechischen Hochklassik zum einzigen Maßstab des sozialistischen Realismus zu machen. Wir würden nicht nur die Vielfalt unserer Aussagemöglichkeiten, die unsere sozialistische Gegenwart anbietet, beschneiden, sondern die zu fordernden Aussagen bedenklich veroberflächlichen, wenn nicht gar verfälschen, wenn wir sie nur über ein dem genannten Formenapparat verwandtes — also nicht zu ihm im Widerspruch stehendes — Gestaltungsprinzip für anwendbar und erreichbar hielten. Und darauf läuft doch letzten 9

10

Siehe Wissenschaftl. Zeitschr. der Friedrich-Schiller-Univ. Jena, Gesellschafts- u. sprachwiss. Reihe, 18, 1969, H. 4, S. 45ff., 61 ff., 67ff., 71 f., 7 3 f f . 7 7 f f . , 8 5 f f . , 1 2 3 f f . ; 20, 1970, H. 5, S. 5 f f . Siehe Das Problem des Klassischen als historisches, archäologisches und philologisches Phänomen (Görlitzer Eirene-Tagung 10.—14. 10. 1967), hrsg. v o n B. Gerov u. L. Richter, Berlin 1969 (Schriften der Sektion für Altertumswiss. der Dt. Akad. der Wiss. zu Berlin, Bd. 55/4), S. 91 ff.

69

Endes die Forderung hinaus, daß sich sozialistisch-realistische Kunst nicht „im Widerspruch zum Formenapparat der griechischen Hochklassik" befinden dürfe. Wir erlauben uns zu entgegnen: Daß sie sich im Widerspruch zu diesen Formprinzipien befinden müsse, und zwar in dem Maße, wie sich unsere sozialistische Demokratie von der Demokratie der Sklavenhalterordnung unterscheidet. Der historische Widerspruch impliziert den künstlerischen ganz notwendig. Wir bedürfen keiner heroischen Illlusion wie das Bürgertum im Hinblick auf die Modellierung der Antike und können deshalb auf eine an der Antike orientierten Kunstform im Sinne Winckelmanns durchaus verzichten. Bei diesem Vorgehen, wie es Zinserling vorschlägt, scheint mir das Problem der Aktualisierung zu äußerlich gefaßt und zu wenig mit der Bestimmung der Historizität sowohl der antiken als auch der sozialistischen Kunst gekoppelt; denn angenommen, wir erheben diesen „Formenapparat der Hochklassik" zum Kriterium des sozialistischen Realismus, dann befinden wir uns nicht fern jener Synthese, die den Achilleus mit Blei und Pulver sowie die Ilias mit Druckerpresse oder gar Druckmaschine zusammenbringt. D o c h davor hat ja bereits Karl Marx eindringlich gewarnt, indem er ebendiese absurden Zusammenstellungen aufzählte, und zwar gerade in jenem Zusammenhang, da er von griechischer Kunst und griechischem Epos als Norm und unerreichbaren Mustern sprach11. Das kann aber doch nichts anderes bedeuten, als daß er den Rezeptionsprozeß des antiken Erbes als auch den Konzeptionsprozeß sozialistischer Kunst freigesetzt wissen wollte vom ästhetischen Dogmatismus, der den Weg zu den historischen Wurzeln der Antike und zu ihrer gesellschaftlich nützlichen Aktualisierung verbauen könnte. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Verständnis dieser von Marx angesprochenen Normativität habe ich wertvolle Hinweise der Arbeit entnommen, die Reimar Müller anläßlich der Hegelehrung vorgetragen hat12. Die dort gemachten Ausführungen zum Verständnis der Normativität des antiken Erbes in der Sicht der deutschen Klassik ließen sich durch Äußerungen Wilhelm von Humboldts ergänzen. Auch Humboldt hat die Unwiederholbarkeit der antiken Errungenschaften betont. In der „Geschichte des Verfalls und Untergangs der griechischen Freistaaten", einer Schrift, die er 1807 verfaßte, gelangte er zu folgender Feststellung: „Gerade im Gegentheil aber ist es nur das Versetzen in jene Zeiten des Alterthums, das unser Herz erhebend und unsern Geist erweiternd uns so sehr in unsre ursprüngliche, minder verlorne, als nie besessene, Menschenfreiheit herstellt, dass wir auch zu unserer so entgegengesetzten Lage mit frischem Muthe und erneuerter Stärke zurückkehren, dass wir nur an jener nie versiegenden Quelle die wahre Begeisterung schöpfen, und gerade die tiefe Wahrnehmung der Kluft, welche das Schicksal auf ewig zwischen sie und uns gelegt hat, uns anfeuert, uns auf unserem Standpunkt mit durch ihre Betrachtung neubeflügelten Kräften zu der uns gegebenen Höhe emporzuheben. Wir ahmen ihren Mustern nach mit dem Bewusstseyn ihrer Unerreichbarkeit" 13 . Humboldt läßt also keinen Zweifel über die Wirkung des antiken Erbes auf seine Zeit. Dieses Erbe galt als unerreichbar, und dennoch wurde ihm — freilich auf eigene und originelle Weise und, wie Humboldt sagt, „auf unserem Standpunkt" — nachgeeifert. Wichtig in unserem Zusammenhang scheint mir die Betonung der historischen Distanz, die schon zur Zeit der deutschen Klassik klar erkannt und später von Karl Marx in diesem Sinne betont worden ist. Hinter diese Position können wir schlechterdings nicht zurückgehen, und das um so mehr, als wir uns schon heute daranmachen, ein Menschenbild gesell11 12 13

70

K. Marx / Fr. Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1961, S. 641. R. Müller, Hegel und Marx über die antike Kultur, Philologus 116, 1972, S. l f f . W. v. Humboldt, Werke, Bd. 2, Berlin 1961, S. 93.

schaftlich und deshalb auch künstlerisch zu gestalten, dessen Potenz auf historisch fortgeschrittener Stufe durch die Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen eine vollständigere und umfassendere Befreiung der Gesellschaft zum Ziele hat.

III. Wenn wir für unsere Gesellschaft die Aktualität des antiken Erbes konkretisieren wollen, so gelangen wir also nur über die Ermittlung seiner Historizität zu einer begründbaren Konzeption, ganz gleich, ob die wissenschaftliche Forschung oder das unmittelbare Kunsterlebnis am Anfang unseres Vorhabens stehen, ob das Erbe über das Medium wissenschaftlicher Analyse definiert und zugänglich gemacht wird oder ob der wissenschaftlich nur wenig vorbereitete Betrachter zu dem fundamentalen Erlebnis antiker Kunst vorstößt und es im nachhinein mit Hilfe historischer Information durchreflektiert und so einem vertieften Verständnis zuführt. Welche Annäherungswerte auf dem letzteren Wege möglich sind, sei an einem bedeutenden — freilich etwas zurückliegenden — Beispiel vorgeführt. Als der russische Dichter Iwan Turgenjew im Jahr 1880 die nach Berlin gebrachten Reste des Gigantenfrieses vom Pergamonaltar in einer ersten Ausstellung besichtigen konnte, brach er in geradezu hymnische Begeisterung aus, die brieflich ihren Niederschlag gefunden hat: „Unmöglich ist es, alle diese, bald von Sonne strahlenden, bald drohenden, lebendigen und toten, siegenden und fallenden Figuren zu schildern; diese Windungen von schuppigen Schlangenleibern, diese ausgebreiteten Schwingen, diese Adler, Pferde, Waffen, Schilde, fliegende Gewänder, Palmenzweige und Körper, wunderschöne Menschenkörper in allen Stellungen, kühn bis zur Unwahrscheinlichkeit und harmonisch wie Musik, alle diese verschiedenen Gesichtsausdrücke, unmittelbaren Bewegungen der Gliedmaßen, diesen grimmigen Trotz, die machtlose Verzweiflung, die Freude der Götter und ihre Strenge, diesen Himmel und diese Erde. — Ja, es ist eine Welt, eine ganze Welt, vor deren Offenbarung unfreiwilliger Schauer der Begeisterung und leidenschaftlicher Ehrfurcht den Beschauer durchzuckt."14 Turgenjew hat mit einfühlendem Dichterwort dem Betrachter dieses Frieses die Augen geöffnet und an Erlebnisgehalte herangeführt, die für den Wissenschaftler erst am Ende seines langwierigen Untersuchungsganges stehen können. Aber das Beispiel lehrt doch, wie eine Lebenswelt, die in den Bildwerken des Pergamonfrieses verdichtet erscheint, der Vergangenheit machtvoll entrissen und als tiefe menschliche, d. h. aber doch letzten Endes gesellschaftliche Wahrheit und Gewißheit erschlossen werden kann. In ihr wird die Größe und Schönheit, die Unausweichlichkeit und Unteilbarkeit menschlicher Existenz als ein unveräußerliches Gut faßbar. Und das trotz der historisch bedingten mythologischen Fassung der durch innere und äußere Kämpfe bewegten hellenistischen Welt, die in dem Denkmal historisch ausgewiesen ist. Ein Dichterwort wie das Turgenjews bildet gewiß die revolutionierende Ausnahme. Die üblichen Bemühungen gerade um dieses Weltwunder der Antike — das konnten wir bei den Führungen im Pergamon-Museum seit Jahren beobachten — werden vor allem und zunächst einmal ein durchschnittliches Informationsbedürfnis zu befriedigen haben. Doch unsere Gesellschaft als die potentielle Erbin auch der Antike steht damit erst am Anfang eines Erschließungsprozesses, der über die herkömmlichen Bildungserlebnisse weit hinausführen wird. 14

Zitiert nach: Th. Wiegand, Ivan Turgenev und die Skulpturen des Altars von Pergamon, St. Petersburg 1880, S. 6.

71

Die sozialistische Gesellschaft kann sich zwanglos dem reichen Erbe einer Menschheitsentwicklung zuwenden, das ihr als der Befreierin vom antagonistischen Klassenkampf voll zugehört. Die Errungenschaften einer jeden Epoche, so klassenbedingt der jeweilige Gewinn auch gewesen sein mag, kann von ihr als der Bewahrerin und Erfüllerin der Menschheitskultur voll und ganz in Anspruch genommen werden. Doch will unser Anspruch nicht nur praktisch vollzogen, sondern theoretisch begründet sein. Wie könnte er sonst zu einer fruchtbaren Praxis führen? Das heißt aber, daß dieses Erbe nach seinem Stellenwert in unserer Kulturpolitik und damit in seiner Bedeutung für unsere Gesellschaft erfaßt sein will. Hier liegt der eigentliche Gewinn jeder Aktualisierung, bzw. hier entscheidet sich die Aktualität des Erbes. Wenn wir z. B. den Sophokleischen „Oidipus" oder die „Sieben gegen Theben" des Aischylos unserer Bühne erschließen wollen — wie es in Berlin versucht worden ist —, so wird es nicht ohne diese Akzentsetzungen gelingen, oder wir geraten in einen mehr oder minder attraktiven Ästhetizismus, der am Grundanliegen unserer Erbeproblematik vorbeigeht. Das Gleiche gilt z. B. auch für die Zugänglichmachung unserer Antikenabteilungen und die Qualifizierung jener Kräfte, die unseren Mitbürgern nicht nur über die historischen Bedingtheiten, sondern auch über die zwingende Aktualität etwa der Bildwerke des Pergamonaltars im Hinblick auf die Ausformung des Menschenbildes Auskunft geben sollen. Andererseits müssen wir uns fragen, ob wir schon zu echten Gesprächspartnern der Antike geworden sind, ob die Informationen dieser Epoche uns wirklich treffen und herausfordern. Gibt es — so möchte ich einmal fragen — eine echte Spannung, ja eine wohltuende Behauptung unserer sozialistischen Gegenwartskunst gegenüber den Bildwerken der Antike, wenn wir etwa den Standort im Pergamon-Museum mit dem in der zur Zeit dicht benachbarten Sitte-Ausstellung im Alten Museum vertauschen? Gibt es da einen Dialog, der uns in unser Erbe einsetzt und unseren Anspruch berechtigt erscheinen läßt? Eines zumindest wird gerade bei diesem Vergleich deutlich: Daß die sozialistisch-realistische Kunst, wie sie etwa im Werk Willi Sittes vertreten ist, sich in ihrem Suchen um adäquaten Ausdruck unseres gesellschaftlichen Ringens von keinem antiken Kanon maßregeln läßt. Das Erbe, das zwischen Antike und Moderne liegt, ist viel zu reich und im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts zum unveräußerlichen Bestand der Menschheitskultur geworden, als daß es im gegenwärtigen künstlerischen Schaffen negiert werden könnte. Die Adäquatheit und Vollgültigkeit im einzelnen durch Analyse aufzuschließen und im Hinblick auf seine gesellschaftliche Repräsentanz zu beurteilen, ist Aufgabe des mit der sozialistischen Moderne befaßten Kunstwissenschaftlers. Ich möchte hier lediglich meiner Gewißheit Ausdruck verleihen, daß es dem sozialistischen Realismus gelingen wird, den großen Vergesellschaftungsprozeß im Sinne der schon erwähnten — der Antike wahlverwandten — kollektiven Individuation unserer sozialistischen Gesellschaft künstlerisch immer vollgültiger und umfassender zu bewältigen. Wir können mit zunehmender Zufriedenheit im Schaffen unserer und aller Künstler, die den Fortschritt der Menschheit wollen, feststellen, daß sie — freilich auf viel komplizierterer Basis, als es der Antike gegeben war, — um ein Menschenbild ringen, das den spätbürgerlichen Pluralismus und die kapitalistische Deformation, die Ausdruck hoffnungsloser Entfremdung sind, zu überwinden vermag. So blicken wir nicht ohne das Gefühl des Verlustes naiver Selbstentwicklung, jedoch vor allem mit wachsender Zuversicht auf Werke wie den Doryphoros zurück. Wir wissen, mit welchen Opfern dieses Menschenbild erkauft wurde. Wir schämen uns dieser an die Bedingung gesellschaftlichen Fortschritts geknüpften Opfer nicht, halten sie aber im Zuge des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft, den es weltweit zu organisieren und zu sichern gilt, für vermeidbar. Dabei wird uns die antike Kunst bestärken können, nicht zuletzt in 72

der Verdichtung der Antwort, die wir ihr bei der Gestaltung des modernen sozialistischen Menschenbildes schuldig sind. Die Dichte dieser Antwort wird nicht nach der Verwendung antiker Formprinzipien, sondern nach der Adäquatheit der künstlerischen Gestaltungsmittel gegenüber unserer sozialistischen Wirklichkeit zu beurteilen sein. Diese Adäquatheit zu prüfen, macht exakte Gegenstandsanalyse erforderlich. Diese zu leisten ist — wie bereits angedeutet — Aufgabe des für die moderne Kunst zuständigen Kunstwissenschaftlers.

Q

Antikerezeption

73

LIESELOT HUCHTHAUSEN

Neue Formen der pädagogischen Umsetzung antiken Erbes

Wenn wir Kinder und Jugendliche an antike Kunst und Literatur heranführen wollen, ist es ganz besonders wichtig, daß die vorgestellten Werke den Schülern nicht museal im Sinne von abgestorben vorkommen, sondern daß die jungen Menschen die lebendige Beziehung spüren, die zwischen der Antike und unserer sozialistischen Gegenwart besteht. Nicht zuletzt aus diesem Grunde legen wir im Schulunterricht großen Wert darauf, die Linien von den behandelten Sagen, Fabeln und selbst historischen Ereignissen zu späteren Bearbeitungen des Stoffes zu verfolgen. Dabei kommt es nicht nur auf die Tatsache an, daß ein bestimmtes Motiv wiederkehrt, sondern auch darauf, ob ihm der spätere Dichter eine andere Wendung gegeben hat und warum. Andererseits werden Originaltexte bewußt zur Diskussion gestellt, die Schüler werden aufgefordert, Senecas Gedanken über die Freiheit oder Rechtsregeln aus dem Corpus Iuris zu beurteilen und mit heutigen Aussagen zur gleichen Problematik zu vergleichen1. Die Möglichkeiten, die sich bei der Behandlung des griechischen und lateinischen Wortschatzes im Vergleich zu dem der neueren Sprachen bietet, bjaucht man nur anzudeuten2. Es ist jedoch nur ein geringer Prozentsatz der Schüler, der am fakultativen Lateinunterricht oder gar am erweiterten altsprachlichen Unterricht teilnimmt, und diese Schüler besuchen alle die Erweiterte Oberschule. Bis zur 10. Klasse der Polytechnischen Oberschule hören die Kinder von der Antike praktisch nur im Geschichtsunterricht der 5. und 6. Klasse etwas. Es ist aber sehr wichtig, sie mit dem antiken Kulturerbe tiefer vertraut zu machen, als es in den wenigen Gesichtsstunden geschehen kann. Eine gewisse Kenntnis des Geschichtsstoffes ist zweifellos eine wesentliche Vorbedingung, ein Anreiz dafür, daß Schüler sich entschließen, Latein zu lernen, wie Versuche in anderen Ländern erwiesen haben3. Aber davon abgesehen, auch für die übrigen Schüler, die von der Polytechnischen Oberschule aus direkt in den Beruf gehen — sie bleiben die große Mehrzahl —, ist es wichtig, daß in der Schulzeit, wenn auch nicht unbedingt im Unterricht, eine Grundlage geschaffen wird, auf der sie dann selbständig weiterbauen können. Man muß als Kind die Gewohnheit erwerben, ins Museum zu gehen, gute Musik zu hören, anspruchsvolle Bücher zu lesen, — wenn sich erst eine gewisse Scheu vor diesen Dingen eingenistet hat, ist sie beim Erwachsenen nur mit großer Mühe abzubauen. Die Schätze der Antike sind hier voller Absicht nur als ein Teil des Weltkulturerbes gefaßt, denn es wäre sicher falsch, sie abzutrennen und herauszuheben. Eine persönliche Beziehung zu antiken — und anderen — Kunstwerken muß sich auf der Uberzeugung aufbauen, daß sie schön sind, daß sie uns ebenso wie vielen Menschen vor und nach uns etwas zu sagen hatten, haben und haben 1

2

3

7

Vgl. z. B. L. Huchthausen / P. Witzmann / J. Kleine«, Lateinisches Lehrbuch. Aufbaukurs, Berlin 1972, S. 18f., 23ff., 99ff. Vgl. Lehrplan für den fakultativen Lateinunterricht in der Erweiterten Oberschule (Klasse 11 und 12), Berlin 1968. Vgl. z. B. C. W. E. Peckett, Humanities for thc young school leaver. An approach through classics, London 1967. Antikerezeption

75

werden. Der Gedanke, daß sie alt, selten, wertvoll sind, ist zweitrangig und kann eher abschrecken. Außerdem muß man sich darüber klar sein, daß Kindern bis zur Pubertät „vor 100 Jahren", „vor 1000 Jahren" und „vor 2000 Jahren" ziemlich gleichbedeutend ist. Ein echtes Verständnis für die Tiefe historischer Räume können wir erst bei etwa 14jährigen erwarten. Die erste Bekanntschaft mit antiken Kunstwerken aber soll man keineswegs solange vertragen, bis diese Bedingung erfüllt ist! Wir haben mit neunjährigen Schülern der 3. Klasse, die im Zeichenunterricht mit modernen Gefäßformen konfrontiert werden, gute Erfahrungen gemacht, als wir sie ins Schweriner Museum führten, mit ihnen griechische Vasen betrachteten und sie zeichnen ließen4. Zu unserer Überraschung konzentrierte sich das Interesse der Kinder dieser Altersstufe allerdings auf Form und Funktion der Gefäße; die figürlichen Darstellungen darauf blieben fast unbeachtet und wurden beim Zeichnen von den Kindern teilweise durch Muster eigener Erfindung ersetzt. Schüler der 5. Klasse haben dagegen bereits ein lebhaftes Interesse für die historische Seite der Sache und auch für die dargestellten Sagenmotive. Wir machten den Versuch, sie erst mit den Vasen und danach mit einem Gemälde von L. Ph. Strack (1761 — 1831) „Ideallandschaft mit Tempel" zu konfrontieren. Es eignet sich, den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten entsprechend, auch ein anderes Bild mit antiker Thematik, jedoch sollte es möglichst neben typischen Gebäuden auch handelnde Menschen zeigen; in unserem Falle war eine festliche Prozession von Männern und Frauen mit Opfergaben für Bacchus zu sehen. Wesentlich ist in diesem Alter, daß die Kinder angehalten werden, sich auf wenige Kunstwerke zu konzentrieren, die sie gründlich beschreiben, unter Umständen auch skizzieren (nicht etwa kopieren!), und daß sie zum Fragen und zum Äußern der eigenen Meinung angeregt werden*. Viel zu oft sieht man Schulklassen und Pioniergruppen dieses Alters durch ein Museum — man kann nur sagen: trotten. Die Kinder werfen einen kursorischen Blick auf die Exponate, sie könnten am Ausgang eines Saales schon nicht mehr sagen, was sie eigentlich gesehen haben. Bei antiken Kunstwerken ist die Gefahr besonders groß, sie sind — da meist nicht farbig — für Kinderaugen unscheinbar und werden gar nicht aufgenommen. Wenn dagegen eine geeignete Aufgabenstellung gefunden wird, sehen Kinder dieser Altersstufe erstaunlich viel. Dr. Klara Pöczy, die Leiterin des Museums in Aquincum, erzählte von einem Preisausschreiben, in dem Schüler gefragt wurden, welche verschiedenen Typen von Reisewagen (vgl. Abb. 7) auf den Grabsteinen in Aquincum und im Hof des Nationalmuseums in Budapest zu sehen seien — und sie fanden und beschrieben mehr, als die Archäologen selbst gewußt hatten! Solche „Suchaktionen" sind natürlich kein Ziel an sich, aber immerhin ein Mittel, die Aufmerksamkeit der Kinder zu wecken. Sie sind besonders nützlich, wenn die Schüler, wie in dem erwähnten Fall, dazu veranlaßt werden, das Gesehene in Wort oder Skizze festzuhalten und zu gestalten, weil sie dann über die bloße Wahrnehmung zur Verarbeitung fortschreiten. Etwas ausführlicher möchte ich an dieser Stelle Möglichkeiten der Museumsarbeit mit älteren Schülern darstellen (8. bis 10. Klasse), die an ein Thema im Zeichenunterricht der 8. Klasse anknüpfen: „Schönes Gebrauchsgut — Zeugnis unseres Lebens". Der Lehrplan verlangt u. a., daß die Schüler „das Gebrauchsgut ihrer Umwelt ästhetisch beurteilen 1er4

6

76

L. Huchthausen, Materialien für die außerschulische Arbeit im Schweriner Staatlichen Museum, in: Schule und Museum im einheitlichen sozialistischen Bildungssystem der DDR, Nr. 6, Berlin 1971, S. 4 3 - 5 4 . L. Huchthausen, Kinder und das antike Kulturerbe. Eine Möglichkeit außerschulischer Arbeit im Kunstmuseum, Das Altertum 19,1973, S. 1 1 3 - 1 2 7 .

nen. Sie sollen dabei Verständnis für die Schönheit und Harmonie ästhetisch gestalteter Gegenstände des täglichen Bedarfs gewinnen und die darin vergegenständlichte künstlerische Arbeit entdecken und empfinden lernen."6 Die Beziehung von Funktion-FormDekor soll herausgearbeitet werden, und auch eine Gegenüberstellung von historischen und modernem Geschirr wird angeregt. Das Schweriner Museum mit seinen schönen Porzellanen und Fayencen und seiner kleinen, aber guten Sammlung antiker Vasen bietet beste Möglichkeiten zu Objektstudien auf diesem Gebiet. Notfalls aber läßt sich die eine oder andere Kategorie von Gefäßen im Bilde vorführen7, so daß die hier gegebenen Anregungen auch andernorts zu verwenden sind. Wichtig ist, daß die Schüler mit einer genau umrissenen Beobachtungsaufgabe an den Museumsbesuch herangehen; besonders günstig ist es, wenn sie sich diese Aufgabe selbst stellen, was freilich nur dann der Fall sein wird, wenn die Arbeit im Museum direkt aus dem Unterricht oder der Tätigkeit einer Arbeitsgemeinschaft hervorwächst. Wenn der Besuch von langer Hand vorbereitet ist, können sich alle Jugendlichen oder einige Mitglieder der Gruppen schon vorher informieren, wie sich griechische Vasen, Fayencen und Porzellan in der Herstellung unterscheiden8. Wesentliche Punkte, die herausgearbeitet werden müssen, damit die künstlerischen Probleme von der technischen Seite her erkannt werden, sind etwa folgende (siehe Seite 78): Die Gefäßkörper werden in allen Fällen auf der Drehscheibe hochgezogen, Henkel, Knöpfe, Füße etc. in der Hohlform hergestellt oder frei geformt9. Diese technischen Voraussetzungen alle im Museum selbst mündlich vermitteln zu wollen, ist nicht ratsam. Es ist aber möglich, abzuwarten, daß der Wissensdurst der Jugendlichen durch die Beschriftungen an den Objekten geweckt wird, und ihnen dann erst Literatur zu nennen und vielleicht die Abfassung eines Artikels für die Wandzeitung anzuregen. Notfalls kann man Jugendlichen in diesem Alter auch eine Tabelle wie die hier abgedruckte rechtzeitig vorher in die Hand geben. Das Hauptinteresse beim Museumsbesuch ist jedoch auf ein anderes, abgeleitetes Problem gerichtet: auf die schöpferische Umsetzung antiker Vorbilder in späterer Zeit. Es gibt da zwei Möglichkeiten: 1. Dekorelemente werden übernommen, 2. Formelemente werden übernommen, beide können natürlich gekoppelt vorkommen. Ausgangspunkt ist die Betrachtung der griechischen Vasen: Dabei wird die Aufmerksamkeit auf den figürlichen und den ornamentalen Dekor gelenkt. Es ist wesentlich, daß die Jugendlichen selbst beschreiben, was sie sehen, nicht nur passiv aufnehmen. Ihre Aufmerksamkeit wird auf den Schnitt der Kleider und auf die Palmetten am Rande vieler Gefäße gelenkt. Sie finden es auffallend, daß die Figuren über die Krümmung der Gefäße ohne weiteres hinweggehen. •> Stoffverteilungsplan für Zeichnen. Klasse 8, Berlin 1968, S. 21 f. 7 E. Wipplinger / W. Danz, Fayencen, Leipzig 1965 (Die Schatzkammer, Bd. 16). 8 Außer dem in Anm. 7 genannten Buch können zur Information empfohlen werden: K. Zimmermann, Griechische Vasen des 7.—4. Jahrhunderts v . u . Z . , Leipzig 1972; Werner Müller, Keramik im Altertum, Leipzig 1963; M. Mields/R. Lauschke, Die Praxis der Porzellanmalerei, Leipzig 1965. 9 Porzellantassen, -teller etc. der Serienproduktion werden in Gipsformen hergestellt. Auch bei Porzellan gibt es eine Scharffeuertechnik: Kobaltblau wird auf die Glasur gemalt und nochmals hartgebrannt, so daß die Farbe in die Glasur einsinkt und sich unauflöslich mit ihr verbindet. Sogenanntes „Bisquit"porzellan ist unglasiert.

7*

77

GRIECHISCHE VASEN

FAYENCE

PORZELLAN

Eisenhaltiger, lange gelagerter und geschlämmter Ton; Scherben nach dem Brand wasserdicht, rot. Bemalung erfolgt vor dem Brennen (bis etwa 950°) mit Tonschiicker1; wenn die Figuren gemalt sind: schwarzfigurig, wenn sie ausgespart sind: rotfigurig.

(Name nach Faenza, einem Herstellungsort in Norditalien; die Technik stammt aus dem Vorderen Orient.) Scherben nach dem Brand wasserdurchlässig und dunkel. Nach dem ersten Brand (1000°) wird das Gefäß mit dicker weißer Zinnoxidglasur überzogen. Gemalt wird entweder

Kaolinhaitiger Scherben, nach dem Brand weiß und wasserdicht, Glasur dünn und farblos. Gemalt wird entweder a) nach dem Verglühbrand (750-1050°) vor dem Glasieren: blaue Unterglasurmalerei, z. B. Meißener Zwiebelmuster, oder b) nach dem Glasieren und dem Gutbrand (1400 bis 1500°), viele Farben und Verwendung von Schablonen möglich; danach wird noch einmal gemuffelt11.

Nur ein Brennvorgang; aber durch Drosselung der Luftzufuhr und Zufuhr von Wasserdampf wird das zunächst entstandene EisenIII-Oxid (Fe2Oa, rot) in Eisen-II-III-Oxid (Fe 3 0 4 , schwarz) verwandelt. Durch erneute Sauerstoffzufuhr während des Abkühlens tritt eine teilweise Reoxidation ein, die aber nur den unbemalten Grund erfaßt.

a) mit Scharffeuerfarben auf die noch feuchte Glasur vor dem Gutbrand (bis 1000°): kein Verbessern möglich, nur wenige Farben sind geeignet, oder b) nach dem Gutbrand auf die fertige Glasur, und dann wird noch einmal gemuffelt11.

Scharffeuer- und Unterglasurmalerei sind auch deshalb kompliziert, weil die Farben sich beim Brennen verändern.

I Schlicker ist ganz fein geschlämmter Ton in fast flüssiger Konsistenz. Das fertige Gefäß wird in dünnen, sehr stark eisenhaltigen Schlicker getaucht, alle Teile, die schwarz erscheinen sollen, werden mit dickerem Schlicker auf- bzw. ausgemalt. Der eisenhaltige Ton war eine Spezialität der Landschaft Attika. II Muffeln sind verschließbare Schutzgefäße aus feuerfestem Ton oder Gußeisen, in ihnen sind die bemalten Gefäße im Brennofen vor direkter Einwirkung des Feuers geschützt. Das Brennen in solchen Gefäßen heißt „muffeln". Als Beispiel für die Ausgewogenheit von Funktion — Form — Dekor kann die Kleeblattkanne10 (vgl. Abb. 8 a und b) gelten. Der gleiche Raum des Schweriner Museums, in dem die Vasen stehen, bietet einige Beispiele dafür, daß die gleiche Funktion (Weinkanne, in Deutschland eventuell auch Bierkanne) ähnliche Formen hervorbringt. Der Vergleich mit der farbigen italienischen Majolikakanne11 und dem hellblauen montierten Fayencekrug mit dem dunkelblauen Zopfhenkel, dem man noch deutlich ansieht, daß sein Vorbild eine Metallkanne war (vgl. Abb. 9 a und b), läßt die Schüler aber neben den Ähnlichkeiten auch Unterschiede erkennen. Diese Kannen sind nicht voneinander abhängig, jede schöpft die Möglichkeiten ihres Materials aus und ist gleichzeitig zweckentsprechend. 10 11

78

Rotfig. Oinochoe des Alkimachos-Malers, um 470 v. u. Z., Schwerin, Inv.-Nr. 711. Majolika ist ebenfalls eine Fayence — der Name ist eine verballhornte Form von „Majorca", dem Namen des Umschlaghafens, von dem aus spanische Fayencen nach Italien exportiert wurden.

Bei den Porzellanen dagegen finden wir Beispiele für direkte Abhängigkeit von griechischen Vorbildern: Freilich handelt es sich um Kaffee- und Teegeschirre, und der Künstler mußte deshalb die Formen abwandeln. Auf Abbildung 10 sehen wir Kanne und Zuckerdose eines blau-goldenen Kaffeegeschirrs. Die Zuckerdose geht in der Form auf eine Amphora zurück, jedoch ist der Hals etwas verkürzt, und die Henkel fehlen. Die Kaffeekanne ist mit unserer Weinkanne verwandt. Die Schüler finden schnell heraus, daß der Deckel nötig wird, damit der Kaffee heiß bleibt, und daß das wieder eine Umformung der Tülle nach sich zieht. Der Henkel ist dem griechischen Henkel in Form und Ansatz ganz ähnlich, aber er ist andeutungsweise zu einem Fabelwesen umgestaltet: Kopf und Schnabel am Deckel, Federn am Bauch der Kanne, dort, wo sich bei der Oinochoe eine Palmette befand. Der Dekor auf dem Gefäßkörper ist anders: Längs streifen, keine Figuren, aber die Lorbeerblätter am Rande nehmen ein antikes Motiv auf. Das Geschirr ist ein schönes Beispiel für eine freie Verarbeitung von Anregungen aus der Antike. Eine kleine Abschweifung über Materialgerechtigkeit erlaubt der Napf Abbildung 11, entschieden ein entfernter Verwandter des Skyphos auf Abbildung 1212. Verwunderung erregen nur die Henkel. Während sie bei dem antiken Gefäß im rechten Winkel abstehen, sind sie bei dem Porzellannapf nur angedeutet, nicht zulg&malt, sondern auigeset^t. Ein Schüler fand den hübschen Vergleich: „Wie die Griffe an alten Kirchentüren." Hier ist tatsächlich in Porzellan ein Metallhenkel nachgeahmt. Natürlich gab es Ähnliches bereits in der Antike, auch das Schweriner Museum besitzt z. B. ein Rhyton in Gestalt eines Rinderkopfes, das an die Kopfgefäße aus dem Goldschatz von Panagjurischte in Bulgarien gemahnt — es ist aber nicht ausgestellt13. Eine andere Art der Anlehnung finden wir auf der zylinderförmigen klassizistischen Teekanne (vgl. Abb. 13). Den Palmettenkranz um den oberen Rand finden wir in ähnlicher Form auf einem Mischkrug in der Vasenvitrine wieder14, auch der untere Fries ist antiken Motiven nachgestaltet, während die Blüten auf der Tülle modern sind und eher an chinesische Formen erinnern. Bei den Figuren fällt den Schülern auf, daß sie im Verhältnis zum Gefäßkörper kleiner sind als die griechischen und auch nicht durch eine Bauchung verzerrt werden. Bei genauer Betrachtung sehen sie auch, daß die Gewandung der griechischen nachempfunden, aber nicht ganz „echt" ist: Das Kleid der Dame auf der Kanne hat Ärmel, es ist überhaupt ein durchgehend genähtes Kleid im Gegensatz zu den gelegten und gesteckten Gewändern der Griechinnen auf den Vasen. Die zylindrische Form, die wir auch bei Wedgewood-Geschirren finden, ist dem figürlichen Dekor günstig. Die Schüler zeichnen eine Skizze der antiken Weinkanne und das Kaffeekännchen, das ihr ähnelt, daneben. Selbst wenn die Skizze künstlerisch noch so unvollkommen ausfällt, unterstützt sie das Auge. Beim Vergleich des Vorbildes mit der Zeichnung wird etwa der Ansatz des Henkels oder auch die Gliederung einer Palmette erst richtig klar. Es ist auch gut, wenn die Ergebnisse noch einmal mündlich von einem der Schüler zusammengefaßt werden. Die Tatsache, daß die antiken Gefäße über so viele Jahrhunderte hinweg vorbildlich oder anregend gewirkt haben, bringt sie den Schülern entschieden näher15. Es ist auch durchaus möglich, daß die Jugendlichen unter geschickter Anleitung selbst schöpferisch tätig wer12 13 11

16

3

Skyphos des Pistoxenos-Malers, um 470 v. u. Z. Schwerin, Inv.-Nr. 708. Corpus Vasorum Antiquorum, DDR I, Schwerin, hrsg. von G. v.Lücken, Berlin 1972, Tafel 57. Rotfig. Kelchkrater des Villa-Giulia-Malers, Mitte des 5. Jahrhunderts v. u. Z., Schwerin, Inv.-Nr. 706 = Corpus Vasorum Antiquorum, Schwerin, Tafel 35. Es versteht sich, daß gelegentlich auch die Linien, die von China und Japan nach Deutschland führen, verfolgt werden sollten! Antikerezeption

79

den: So haben Schülerinnen einer 10. Klasse aus Dresden nach mehrmaligem Besuch der Antiken-Sammlung des Albertinums, von Vasendarstellungen angeregt, einen „Spartakiade-Fries" als Anwendungsmöglichkeit vorgeschlagen. Entwürfe dazu wurden dann in einer anderen Klasse ausgearbeitet und der beste Entwurf von einer künstlerischen Arbeitsgemeinschaft in größerem Format ausgeführt. Auch hier also keine bloße Nachahmung — die nicht fruchtbar wäre —, sondern selbständige Auseinandersetzung mit dem Gesehenen und eigene Weiterentwicklung161 Diese Form der Beschäftigung mit antiker Kunst ist natürlich nur eine unter mehreren Varianten und darf nicht verabsolutiert werden. Sie bietet aber die Möglichkeit, die Schüler erst einmal im Museum heimisch zu machen oder — auf dem Wege über Lichtbilder — ihr Interesse an der Thematik zu wecken. Es kommt viel darauf an, daß sie bei dieser und anderen Gelegenheiten gleichzeitig an die populärwissenschaftliche Literatur herangeführt werden, die für den Erwachsenen das beste Mittel ist und bleibt, um selbständig weiterzukommen. Denn es haben — heute wie zur Zeit der Klassik — nur die wenigsten Menschen einen Zugang zur Antike direkt über die alten Sprachen. Um so wichtiger ist es, auch alle anderen an Geschichte und Kultur dieser Epoche heranzuführen, die in so vieler Hinsicht bis in unsere Tage lebendig nachwirkt. 14

Den Hinweis auf dieses Beispiel verdanke ich Frau Lucie Gülland, Fachlehrerin für Kunsterziehung, Dresden.

80

HORST

MÖLLER

Rezeptionsbedingungen für Ausgaben antiker Literatur des Reclam-Verlages

Literatur vergangener Zeiten in ihrer dauernden Gegenwärtigkeit erlebbar zu machen, ist eine der vornehmsten Aufgaben, der sich Reclams Universalbibliothek zeit ihres Bestehens widmet. Gemäß ihrem Charakter, eine volkstümliche Bibliothek der Weltliteratur zu sein, bringt sie die Werke jener frühen Menschheitsepoche zur Geltung, in der die Weltkultur ihre bis dahin höchste Entwicklungsstufe erreicht hatte: die Literatur der griechisch-römischen Antike. Die Leistungen des Reclam-Verlages zur Verbreitung der antiken Literatur hat J . Irmscher in einem instruktiven Aufsatz1 untersucht und dabei zugleich Ziele für die weitere editorische Arbeit gewiesen. Als 1963 der Reclam-Verlag, dem internationalen Trend folgend, seine Taschenbuch-Bibliothek modernisierte, um den ihm obliegenden Bildungsauftrag zielstrebiger verwirklichen zu können, wurde auch der Stellenwert der einzelnen Programmteile neu bestimmt. Im Ensemble der Literaturen aller Völker und aller Zeiten wurde dem Schrifttum der griechischen-römischen Antike sein in der Universalbibliothek angestammter Platz bewahrt; bereits die erste Serie des neugestalteten Taschenbuchs enthielt mit Catull (Bd. 102) und Piaton („Symposion" [Bd. 927]) zwei in unterschiedlicher Hinsicht bedeutende antike Autoren. Daß die Ausgaben antiker Literatur nicht als „Bibliothek in der Bibliothek" zu verstehen sind, ergibt sich aus der angestrebten Universalität des Verlagsprogrammes, zu dessen Gesamtwirkung die Teilprogramme beitragen, die gut aufeinander abgestimmt sind — allerdings aus Gründen, die außerhalb der Kompetenz des Verlages liegen, nur einen begrenzten Umfang zulassen — und im Zusammenspiel von Gegenwartsliteratur und klassischer schöner Literatur, von Belletristik, Literaturtheorie, Philosophie, Geschichte, Musik- und Kunstgeschichte eine beziehungsreiche Einheit, eben das namengebende Universum, bilden. So ist die antike Literatur, die von ihren historischen Voraussetzungen her verstanden und in den unüberschaubaren, bis in die unmittelbare Gegenwart hineinreichenden Verästelungen ihrer Nachwirkung rezipiert wird, einbezogen in ein editorisches Vorhaben, das darauf zielt, Verstand und Sinne für die Bewältigung heutiger Aufgaben zu schärfen. Bis Ende 1972 wurden in der „neuen" Universalbibliothek 20 antike Autoren mit 22 Werken vorgestellt. Damit war in den letzten zehn Jahren jeder zwanzigste bis fünfundzwanzigste Titel in Reclams Universalbibliothek ein Werk aus der griechisch-römischen Literatur, die bei einer Gesamtzahl von 450 Tausend erschienener Exemplare mit der Durchschnittsauflage von ca. 20 Tausend Exemplaren die Mittelwerte aller übrigen Literaturgruppen annähernd erreicht. Die Auflagen sind zumeist ein halbes Jahr nach Erscheinen beim Verlag vergriffen; das ursprünglich der Universalbibliothek zugrundeliegende Prinzip, daß einmal Erschienenes ständig im Angebot gehalten wird, kann aus Kapazitätsgründen seit langem nicht mehr beibehalten werden — ein Ausweis für das gestiegene Bildungsniveau in unserer Gesellschaft. 1

J. Irmscher, Zu Neuem bestimmte „todte Literatur", in: 100 Jahre Reclams Universal-Bibliothek. 1 8 6 7 - 1 9 6 7 , Leipzig 1967 (RUB Bd. 384), S. 2 6 9 - 2 8 7 .

8*

81

Die Titelliste gibt bei ihrem vorläufigen Umfang nur bedingt Auskunft darüber, nach welchen Editionsprinzipien das antike Bildungsgut erschlossen wird. Veränderte Auswahlkriterien und Editionsmethoden bringt allein der Umstand mit sich, daß die Belange des altsprachlichen Unterrichts, besonders natürlich seit der Reduzierung des Griechischund Lateinunterrichts, kaum mehr berücksichtigt werden können. Stimmte früher das Verlagsprogramm im wesentlichen mit dem Kanon der Schulautoren überein und wußten überdies vornehmlich Schulmänner, die sich als Herausgeber und Übersetzer außerordentlich verdient gemacht haben, die Belange ihres Faches wohl zu fördern, so ist bei einem Blick in die Verlagsverzeichnisse zu beobachten, daß heute zum Beispiel die sonst im Anfangsunterricht bevorzugte Rhetorik und ähnlich die Geschichtsschreibung gegenüber der Dichtung zurückgetreten sind. Ästhetische Kriterien und speziell die Absicht, den progressiven Ideengehalt der antiken Literatur zu erschließen, geben in erster Linie den Ausschlag dafür, welche Autoren und welche ihrer Werke in literarisch möglichst wertvollen Übersetzungen (in wenigen Ausnahmen auch zweisprachig: z. B. Apuleius, „Amor und Psyche" [Bd. 486]; Tacitus, „Germania" [Bd. 726]) in die Universalbibliothek aufgenommen werden. Hierzu zählen Werke, durch die der gesellschaftliche Fortschritt, ein neues Weltverständnis mit eingeleitet oder befördert wurden (z. B. die Tragödien des Aischylos [Bd. 988]; die Epen Homers [Bd. 249 und 280]), die durch wirklichkeitsnahes Abbild der sozialen Widersprüche Auskunft über die Lage der ausgebeuteten Klassen geben (z. B. die Epigramme Martials [Bd. 298], die Komödien des Plautus [Bd. 14 und 267]), in denen durch wahrheitsgetreue Schilderung geschichtlicher Begebenheiten Rückschlüsse auf die Gesetzmäßigkeiten ermöglicht werden, nach denen sich die Sklavenhalterordnung konstituierte (z. B. Flavius Josephus, „Der judäische Krieg" [Bd. 395]; Xenophon, „Anabasis" [Bd. 177]), die folgenreich für die spätere europäische Literatur gewesen sind (z. B. Lukian [Bd. 441]; Horaz [Bd. 431]). Die editorische Arbeit umschließt außer der Titelplanung die Erarbeitung moderner, aus heutigem Sprachgebrauch erwachsener und die Sprache unserer Zeit mitformender Übersetzungen (im Auftrag des Verlages wurden übersetzt Plautus und Martial von W. Hofmann, Plautus und Terenz von R. Schottlaender, Alkiphron von K. Treu) und die Darbietung literaturgeschichtlicher Kommentare, die erklären helfen, was Einmaligkeit und — durch welches Wirkungsfeld auch immer hervorgerufen — aktuelle Bedeutung eines antiken Werkes ausmacht (in vorbildlicher Weise dienen diesem Anliegen die Nachworte E. G. Schmidts zu Aischylos und R. Müllers zu Horaz). Durch den Textausgaben an die Seite gestellte monographische Darstellungen (z. B. G. Zinserlings „Abriß der griechischen und römischen Kunst" [Bd. 435]) soll der Zusammenhang in der Entwicklung von Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaften verdeutlicht werden. Die Aufnahme zeitgenössischen Bildmaterials (wie z. B. Abbildungen von Terrakotten aus der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin in die Alkiphron-Ausgabe [Bd. 55]) oder bildkünstlerischer Zeugnisse der Rezeptionsgeschichte (wie z. B. Reproduktionen der Fresken von M. v. Schwind aus einem Gartenpavillon in Rüdigsdorf/Kohren-Sahlis in Apuleius' „Amor und Psyche" [Bd. 486]) oder eigens für diesen Zweck geschaffener Illustrationen (wie z. B. Federzeichnungen der Dresdener Grafikerin S. Artes in die Anakreon-Ausgabe [Bd. 96]) bietet zusätzlichen Anreiz zu tieferem Eindringen in das literarische Werk. Um die Resonanz der Bemühungen mit der Universalbibliothek — und darin einbegriffen die Bemühungen um die antike Literatur — genauer erfassen zu können, hat der ReclamVerlag eine Käuferbefragung veranstaltet, die allerdings nicht auf solche Detailauskünfte gerichtet war, die direkte Aussagen über einzelne Literaturepochen oder gar Nationalliteraturen ermöglicht hätten, sondern einen ersten Versuch darstellte, Käuferstruktur und 82

Kauf- bzw. Lesemotivationen zu ermitteln. Insoweit das Ergebnis als repräsentativ für das Gesamtprogramm anzusehen ist — das ist aus verschiedenen, noch darzulegenden Gründen nicht oder nur mit Einschränkungen der Fall —, läßt es jedoch auch einige Schlußfolgerungen für die Edierung einer Übersetzungsbibliothek antiker Literatur zu. Die Befragung wurde von April 1970 bis März 1971 durchgeführt. Von insgesamt 47000 Befragungskarten, die vier Ersterscheinungen beigegeben bzw. in sieben Großbuchhandlungen verteilt worden waren, erhielt der Verlag 28 Prozent, eine relativ hohe Quote, zur Auswertung zurück. Die Auswahl der für diese Aktion herangezogenen Ersterscheinungen war nicht allein dem Ermessen des Verlages überlassen, die Bändchen mußten möglichst zur gleichen Zeit im gleichen polygrafischen Betrieb gefertigt werden, die Karten waren manuell beizulegen, bei ungefähr gleichzeitiger Auslieferung war ein kurzfristiger Auswertungszeitraum zu gewährleisten. Ein wichtiger Teil des Verlagsprogrammes, nämlich die lehrplangebundenen Texte, die im Literaturunterricht der allgemeinbildenden Schulen Verwendung finden und deren Leserschaft vorgegeben und überschaubar ist, war aus der Erhebung ausgelassen worden, die sich vielmehr auf das jährlich maximal fünfzig Publikationen umfassende Ersterscheinungsprogramm bezog. Für den Test standen folgende Ausgaben zur Verfügung: die Neuübersetzung von Laudses Daudedsching, ein unter dem Titel „Der Mann, der nicht weinen wollte" erschienenes Bändchen Erzählungen des 1954 verstorbenen Dänen Stig Dagermann, „Lästerkabinett", eine Auswahl klassischer und zeitgenössischer literarischer Parodien, und eine Dokumentensammlung zur Biografié von Karl Marx — ein anspruchsvolles Angebot, das durchaus auch als Maßstab für die Resonanz der hier interessierenden antiken Literatur gelten kann. Erfragt wurde zunächst das Kaufmotiv. Daß zwei Drittel der Antwortenden „Allgemeinbildung und Unterhaltung" und nur 16 Prozent „Weiterbildung in Schule, Studium und Beruf" als Kaufgrund angaben, ist bei der genannten Titelauswahl nicht verwunderlich, erlangt jedoch besonderes Gewicht, wenn man das Ergebnis zu der Frage in Beziehung setzt, ob die Vor- bzw. Nachworte der Reclambände gelesen werden, die von einem gleich hohen Prozentsatz (von genau 65 Prozent) positiv beantwortet worden ist. Eine weitere Frage bezog sich auf den Reihencharakter der Universalbibliothek, und zwar speziell auf die Unterteilung der Belletristik nach literarischen Gattungen. Bevorzugt wurde mit 79 Prozent die erzählende Prosa, für 17 Prozent stand die Versdichtung obenan, 13 Prozent galten der Dramatik. Die Literatur nach ihren Gattungsmerkmalen zu untersuchen, ist — wenngleich natürlich kein Wertkriterium — für die Betrachtung der antiken Literaturgeschichte, beispielsweise für die Darstellung der historischen Abfolge von Epos, Lyrik, Drama, Roman in der griechischen Literaturgeschichte, ein durchaus relevanter Gesichtspunkt, der in der Verlagspraxis bei der Herstellung ausgewogener Proportionen zwischen den einzelnen Reihen der Universalbibliothek nicht völlig unbeachtet gelassen werden kann. Das Bild, das die antike Belletristik in Reclams Universalbibliothek in dieser Hinsicht bietet, muß sich naturgemäß vom allgemeinen Schema unterscheiden: Von sechzehn Bändchen erschienen drei in der Reihe „Erzählende Prosa" (Lukian, Alkiphron, Apuleius); acht in der Reihe „Versdichtung" (Homers „Ilias" und „Odyssee", Anakreon, Theokrit, Catull, Horaz, Ovids „Liebeskunst", Martial); fünf in der Reihe „Dramatik" (Aischylos, Sophokles' „Antigone", von Plautus „Miles Gloriosus"/„Pseudolus" und „Amphitruo"/ „Aulularia"/„Mostellaria", vonTerenz „Die Brüder"). Eine analoge Frage galt den Proportionen zwischen den „wissenschaftlichen" Reihen, die ein Drittel des Gesamtprogramms beanspruchen. Die Reihe „Sprache und Literatur" wurde von 28 Prozent, „Philosophie" und „Geschichte und Kultur" von jeweils 24 Prozent, „Biografien und Dokumente" von 18 Prozent, „Musik und Musiktheater" von 6 Prozent der Leser bevorzugt. Von antiken Autoren sind in diesen Reihen bisher lediglich Piaton und Mark Aurel, Xenophon, 83

Caesar, Flavius Josephus und Tracitus vertreten. Auch jeder künftigen Aufgabe 1 ist es aufgegeben, das Interesse an der „alten" Literatur zu mehren und den literarischen Horizont zum Zwecke einer vertieften Erlebnisfähigkeit des Lesers zu erweitem. Die weiteren Befragungsergebnisse lassen schlüssige Interpretationen nicht ohne weiteres zu. Ob es zum Beispiel typisch oder nur verlagsspezifisch ist, daß lediglich 56 Prozent der Leser die Gegenwartsliteratur der Weltliteratur der Vergangenheit vorziehen, ließe sich ebenfalls durch den Vergleich mit anderen Erhebungen entscheiden: diese Frage bleiben (im übrigen entspricht dieses Verhältnis der Proportion zwischen Erbe und Gegenwart im Programm der Universalbibliothek). Ganz ohne Zweifel ist auch das Bild, das von der soziologischen Struktur der Käuferund Leserschaft von Reclam-Bänden ermittelt wurde, nur relativ aussagefähig, weil es von Faktoren beeinflußt wird, die kaum exakt erfaßbar sind. Die verschiedenen berufs-, alters- und bildungsmäßigen Gruppen werden nicht in gleicher Weise durch eine derartige Befragung angesprochen und reagieren unterschiedlich auf sie. Bei den vorliegenden Ergebnissen fallen die gleichmäßig hohen Prozentzahlen für die am stärksten hervortretenden Altersgruppen auf: Jeweils 32 Prozent waren Leser in den Altersgruppen von 18—25 und 26—35 Jahren. Und ebenfalls hervorstechend die überwiegende Zahl (über 50 Prozent) der Leser mit Hoch- oder Fachschulbildung. Auf sie, die zumeist selbst in dieser oder jener Form als Lehrende in der Öffentlichkeit stehen, soll hier als Adressaten des Programms antiker Literatur deshalb besonders hingewiesen werden, weil sie nicht allein Rezipierende sind, sondern in hohem Maße dazu befähigt, ähnlich wie der Verlag eine Mittlerrolle zu erfüllen. Der Kreis der an der Popularisierung der klassischen Literatur Beteiligten kann somit als denkbar groß gelten. Ihn ständig zu erweitern, alle Möglichkeiten für eine umfassende, breiteste Leserschichten erfassende Aneignung des literarischen Erbes der Antike wahrzunehmen — keine Gesellschaft hat hierfür günstigere Voraussetzungen zu schaffen vermocht als die unsere —, ist eine Forderung des Tages, die dieses wertvolle Erbe stets aufs neue stellt, eine Forderung, die dem traditionsreichen Leipziger Reclam-Verlag auch im zweiten Dezennium des Bestehens seiner neugestalteten Taschenbuchreihe als Verpflichtung gilt. 1

Das trifft auf die Taschenbuchausgaben (Textsammlung „Griechische Atomisten" [Bd. 109], Auswahl aus dem medizinischen Schriftentum „Antike Heilkunst" [Bd. 771], Sophokles [Bd. 692], Euripides [Bd. 670], Xenophon „Erinnerungen an Sokrates" [Bd. 526], Piaton „Der Staat" [Bd. 769], Aristoteles „Poetik" [Bd. 82], Menander [Bd. 626], Lukian [Bd. 441], bukolische Anthologie „Die Hirtenflöte" [Bd. 690], Ovid „Die Liebeskunst" [Bd. 303], Älian „Tiergeschichten" [Bd. 747], Historie von Alexander dem Großen [Bd. 625]) ebenso zu wie auf die Buchausgaben (Aristophanes / Hacks „Der Frieden" mit Zeichnungen von G. Horlbeck; Äsop „Die Diebe und der Hahn" mit Federzeichnungen von J. Hegenbarth; Longos „Daphnis und Chloe" mit Holzschnitten von A. Maillol; Ovid „Metamorphosen" mit Radierungen von P. Picasso).

84

Abbildungsnachweis Abb. 1—5: Nationale Forschungs- und Gedenkstätten Weimar; Abb. 6: nach H. B f u n n / F . Bruckmann, Denkmäler griechischer und römischer Skulptur, München 1900, Tafel 273; Abb. 7—13: Staatliches Museum Schwerin, Inv.-Nr. K G 711, K G 520, K G 3943, 1165 und 1167, K G 6147, K G 708, 6069.

Tafel 1

Abb. 1. Gottlieb Martin Klauer: Johann W o l f g a n g von Goethe. Kalksteinbüste.

Tafel 2

A b b . 2. Gottlieb Martin K l a u e r : J o h a n n Gottfried Herder. Kalksteinbüste.

Tafel 3

A b b . 3. G o t t l i e b M a r t i n K l a u e r : L u i s e v o n G ö c h h a u s e n . G i p s b ü s t e .

Tafel 4

A b b . 4. Gottlieb Martin K l a u e r : Friedrich Heinrich Jacobi. Gipsbüste.

Tafel 5

A b b . 5. Gottlieb Martin K l a u e t : Fritz von Stein. Kalkstein.

Tafel 6

A b b . 6. P o l y k l e t : Doryphoros. Römische Kopie nach griechischem Bronzeoriginal des 5. Jahrhunderts v. u. Z.

Tafel 7

A b b . 7. Pannonischer R e i s e w a g e n v o m Grab einer Evaristin aus Gorsium (Täc).

Tafel 8

A b b . 8 a . Attische Kleeblattkanne mit Darstellung von Apollon und Artemis, u m 470 v. u . Z .

Tafel 9

Abb. 8 b . Attische Kleeblattkanne mit Darstellung von Apollon und Artemis, um 470 v. u. Z .

Tafel 10

Abb. 9a. Kanne, Majolika, bemalt, Urbino 1544.

Tafel 11

A b b . 9 b. Fayencekrug, hellblau mit Streublumcn und V ö g e l n bemalt, 18. Jahrhundert.

Tafel 12

Abb. 10. Kanne und Zuckerdose aus einem Frühstücksservice, um 1810.

Tafel 13

A b b . 11. Napf. Porzellan, A n f a n g 19. Jahrhundert.

Tafel 14

A b b . 12. Pistoxenos-Maler: Skyphos „Musikunterricht", um 470 v. u. Z.

Tafel 15

A b b . 13. Teekanne. Porzellan, u m 1805.