Theater für junge Zuschauer: Sowjetische Erfahrungen, Sozialistische deutsche Traditionen, Geschichte in der DDR [Reprint 2021 ed.] 9783112472149, 9783112472132


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German Pages 256 [249] Year 1977

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Theater für junge Zuschauer: Sowjetische Erfahrungen, Sozialistische deutsche Traditionen, Geschichte in der DDR [Reprint 2021 ed.]
 9783112472149, 9783112472132

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Christel Hoffmann

Theater für junge Zuschauer

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Christel Hoffmann

Theater für junge Zuschauer Sowjetische Erfahrungen Sozialistische deutsche Traditionen Geschichte in der DDR

Akademie-Verlag • Berlin 1976

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3 - 4 © Akademie-Verlag, Berlin 1976 Lizenznummer: 202 • 100/250/76 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4681 Bestellnummer: 752 905 9 (2150/34) • LSV 8402 Printed in G D R DDR 8 , - M

Inhalt

Das Kind als Subjekt in der Erziehung Die junge Sowjetmacht und das Kindertheater . . . . Das Kindertheater-Programm von Anatoli W . Lunatscharski Die Thesen des Büros des Kindertheaters über die Grundprinzipien der ästhetischen Erziehung der Kinder mit den Mitteln des Schultheaters Piaton M . Kerschenzew: „Schöpferisches Theater" . . Auffassungen zum professionellen Kinder- und Jugendtheater von Alexander A. Brjanzew Natalia Saz: Theater - Musik - Kinder Anfänge des sozialistischen Kindertheaters in Deutschland

7 14 14

26 30 41 50

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Edwin Hoernle: Proletarisches Kindertheater als ein Instrument des Klassenkampfes Walter Benjamin: „Programm eines proletarischen Kindertheaters" Kindertheater und Agitprop Bertolt Brecht: Drei Notierungen über Pädagogik, Kinder, Theater

103

Drama und Theater für junge Zuschauer in der D D R 1950-1972

111

Der Beginn Geschichte und Gegenwart auf dem Kinder- und Jugendtheater 5

72 82 93

111 116

Phantasie und Wirklichkeit in den Stücken für Kinder

144

Das klassische Stück im Kinder- und Jugendtheater

163

Exkurs: Grips, Theater für Kinder in Westberlin, Versuch eines Theaters der .kindlichen Emanzipation' . . .

172

Wie für Erwachsene - nur besser . . .

198

Anmerkungen

217

Personenregister

249

Das Kind als Subjekt in der Erziehung

Das Theaterspielen für Kinder und Jugendliche ist nicht gleichermaßen von der Geschichte überliefert wie das Theaterspielen selbst. Deshalb verhielten sich die revolutionäre Arbeiterbewegung und die sozialistische Gesellschaft zu einem Theater für junge Zuschauer nicht wie zu einer Tradition, sondern wie zu einer Aufgabe, die ihnen erstmals gestellt war und die sie erfüllten. Zu den ersten Überlegungen und Maßnahmen des Sowjetstaates gehörten in der Kultur diejenigen, die das Kinder- und Jugendtheater betrafen; die deutsche Arbeiterklasse schloß in die Frage nach der Verwendbarkeit des Theaters für ihren Kampf sofort die nach einem Theater für die heranwachsenden Arbeiter ein, und nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik war das Kinder- und Jugendtheater eine der vielen vordringlichen Forderungen dieser Republik an sich selbst. Die Bourgeoisie hat, sieht man von gewissen Interessen an der Erziehung ihrer jungen Generation mittels eines humanistischen Schultheaters ab, keinen nennenswerten Beitrag zur Geschichte des Kinder- und Jugendtheaters geleistet. Sie war im Gegenteil seiner Ausbildung hinderlich, weil sie auch das Theater zu einem Ort der „baren Zahlung" gemacht hat und damit den jungen Zuschauer weitgehend ausschloß. Das spätbürgerliche Theater wendet sich entschiedenermaßen nicht mehr an das Kind als einen seiner Zuschauer, und die Dramatik spiegelt dieses Verhältnis wider. Wer Stücke wie Frühlings Erwachen nicht eben für Stücke für Kinder hält, wird es schwer haben, in der spätbürgerlichen Dramatik Stücke für Kinder zu finden. Für „unterprivilegierte Schichten", wie sie von der bürgerlichen Soziologie heute genannt werden, für die 7

Arbeiterklasse wie für die Kinder hielt die Bourgeoisie Surrogate bereit: profitabwerfende Groschenhefte, Weihnachtsmärchen, Vereinstheateraufführungen usw. Eine dieser „unterprivilegierten Schichten" hat sich an dieses Angebot nicht gehalten und eigene Klasseninteressen in den Künsten artikuliert, und sie hat die heranwachsenden „Minderjährigen" dazu erzogen, an das Theater keine anderen Ansprüche zu stellen als an die Wirklichkeit. Auf diese geschichtliche Aktivität der Arbeiterklasse hat die Bourgeoisie mit der These von der „unschuldigen Kinderseele" geantwortet, die sie vor dem „Verderben durch Politik" zu bewahren sucht. Bis heute reagiert das bürgerliche Theater auf das Kinder- und Jugendtheater, und zwar wie auf einen Mangel, nicht wie auf ein Bedürfnis; in dem Maße, wie sich das sozialistische Kinder- und Jugendtheater entwickelt, „vermißt" die Bourgeoisie das ihre. Aber sie bleibt im Grunde unfähig, es zu errichten. Kunst, die sich an junge Menschen wendet, ist immer Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung zur heranwachsenden Generation in einer bestimmten historischen Epoche. Der Kapitalismus macht einerseits die heranwachsende Generation der werktätigen Klassen und Schichten zum Objekt der Ausbeutung bzw. zum Objekt einer Erziehung für maximale Ausbeutbarkeit, und er erfand andererseits zur Verschleierung dieses Tatbestandes eine Reihe von Ideologien über „das Kind", einschließlich seiner Heiligsprechung als das noch „reine Wesen", über „die Jugend" mit ihrem angeblich naturnotwendigen Gegensatz zu „den Erwachsenen" schlechthin, bis hin zu einer völligen Verschiebung der wirklichen gesellschaftlichen Widersprüche auf Generationswidersprüche, durch die sich die Gesellschaft zyklisch „erneuere". Diese Ideologien haben Integrationsfunktionen. Sie sind geeignet, der heranwachsenden Generation den Blick dafür zu verstellen, daß sie in einer von Klassenwidersprüchen bestimmten Wirklichkeit aufwächst, und dafür die Illusion zu erwecken, daß sie sich auf die „Welt" vorbereite, in der sie sich zu bewähren habe, und daß von dieser Bewährung Glück und Unglück des erwarteten Lebens abhängen. Diese Illusionen befördern eine Disziplinbereitschaft, weil sie mit Erwartungsvorstellungen „des Lebens" gekoppelt werden, und sie bilden die Bereitschaft 8

zur Eingliederung in die Ausbeutungssphäre, verbunden mit deren Tolerierung. 1 * Die revolutionäre Arbeiterbewegung und die ihr eigene marxistisch-leninistische Weltanschauung sind in allen diesen Punkten notwendigerweise auf das entgegengesetzte Ziel gerichtet. Der Kampf der Arbeiterklasse wurde von Anbeginn zugleich für die Kinder und mit den Kindern geführt, denn das proletarische Kind hat objektiv die gleichen Interessen wie seine Klasse. Den Zielen der Arbeiterklasse ist die Erziehung junger Menschen immanent. 1866 schrieb M a r x : „Der einzelne Arbeiter ist nicht frei in seinen Handlungen. In vielen Fällen ist er sogar zu unwissend, die wahren Interessen seines Kindes oder die normalen Bedingungen der menschlichen Entwicklung zu verstehen. Der aufgeklärtere Teil der Arbeiterklasse begreift jedoch sehr gut, daß die Zukunft seiner Klasse und damit die Zukunft der Menschheit völlig von der Erziehung der heranwachsenden Arbeitergeneration abhängt." 2 Marx betonte den gesellschaftlichen Charakter der Erziehung, den die Bourgeoisie nach wie vor zu verschleiern versucht. Die Arbeiterklasse hat dieser Forderung sowohl in ihrem Befreiungskampf als auch beim Aufbau des Sozialismus entsprochen. Grundlage der Ausbildung der jungen Generation ist die marxistische Erkenntnis des Wechselverhältnisses, in dem sich sowohl die Entwicklung, d. h. die „Selbst-Ausbildung" der Menschheit, als auch die Entwicklung bzw. Erziehung des einzelnen vollziehen. Die Klassiker des MarxismusLeninismus haben dieses dialektische Verhältnis definiert. „Sie (die marxistische Geschichtsauffassung - C. H.) zeigt, daß die Geschichte nicht damit endigt, sich ins .Selbstbewußtsein' als ,Geist vom Geist' aufzulösen, sondern daß in ihr auf jeder Stufe ein materielles Resultat, eine Summe von Produktivkräften, ein historisch geschaffenes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander sich vorfindet, die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert wird, eine Masse von Produktivkräften, Kapitalien und Umständen, die zwar einerseits von der neuen Generation modifiziert wird, ihr aber auch andrerseits ihre eigenen Lebensbedingungen vorschreibt und * Als Lesehilfe wurden die Ziffern, die auf Sachanmerkungen hinweisen, durch einen Stern gekennzeichnet.

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ihr eine bestimmte Entwicklung, einen speziellen Charakter gibt - daß also die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen." 3 Dieses dialektische Verhältnis - der Mensch als Erzeuger und als Produkt der Umstände und damit als „Schöpfer seiner selbst" - vollzieht sich in der „umwälzenden Praxis" der Menschen. 4 Auch junge Menschen sind nicht nur „Produkte der Umstände und der Erziehung", sondern sie verwirklichen sich als schöpferische Persönlichkeiten im realen Lebensprozeß. Der junge Mensch ist damit ebenso Subjekt in der Erziehung wie der Erwachsene, und sein Wesen bestätigt sich darin, daß er „nicht irgend etwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist" 5 . Partnerschaft von jungen und älteren Menschen ist die Konsequenz dieser Auffassung, die in den sozialistischen Ländern, wo die Erziehung der Heranwachsenden zum gesamtgesellschaftlichen Anliegen wurde, die Beziehung der jüngeren und der älteren Generationen zueinander charakterisiert. Dieses Verhältnis ist zugleich Ausdruck des humanistischen Gehalts der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Manfred Altner schreibt dazu: „Immer stärker setzt sich die Erkenntnis durch, daß sich in seinem Verhältnis zum Kind das Verhältnis des Erwachsenen zur Gesellschaft spiegelt und daß im Verhältnis Kind-Erwachsener die Qualität eines wichtigen Teils der gesamtgesellschaftlichen Beziehungen erfaßbar wird. J e enger sich mit fortschreitender Entfaltung des [. . .] Sozialismus die Subjekt-Objekt-Beziehungen gestalten, um so intensiver werden auch die Prinzipien der gesellschaftlichen Mitverantwortung und Mitgestaltung für unsere Kinder und Jugendlichen realisierbar, durch die sie in ständig wachsendem Maße zu gesellschaftlichen Partnern der Erwachsenen und verantwortungsbewußten Mitstreitern im Klassenkampf werden." 6 Diese Haltung der Gesellschaft gegenüber jungen Menschen, die die Ausbildung sozialistischer Persönlichkeiten zum obersten Erziehungsziel erklärt, schließt eine Bevormundung der jungen Generation aus. Die Kinder werden frühzeitig in die gesellschaftliche Praxis einbezogen, und sie erhalten damit im allgemeinen eine viel größere Selbständigkeit als Gleichaltrige unter kapitalistischen Verhältnissen. Ihren Bedürfnissen wird 10

auch auf kulturellem Gebiet - durch die Gesellschaft Rechnung getragen. Aus der Dialektik von Erzeugung und Befriedigung bestimmter Bedürfnisse ergibt sich der Erziehungsauftrag an die Kunst. Dadurch, daß Bildung und Erziehung nicht mehr ausschließlich auf Elternhaus, Schule und Jugendorganisation beschränkt bleiben, sondern z. B. auf kulturellem Gebiet durch Bibliotheken, Kulturhäuser, Theater u. a. erweitert werden, haben die Kinder auch eine größere Möglichkeit, ohne Vermittlung durch den Erzieher ihren Interessen nachzugehen. Dafür ein Beispiel: Die Lektüre, die das Kind früher in die Hand bekam, wurde entweder vom Erwachsenen gekauft, war im Elternhaus vorhanden oder stand im Lehrplan der Schule. Die Kinderbibliothek, in der die Bibliothekare lediglich beraten, bietet den Kindern, sobald sie lesen gelernt haben, die selbständige Wahl der Lektüre. Analog verhält es sich in vielen Bereichen der Freizeit der Kinder, in Arbeitsgemeinschaften usw. Kinder sind weitgehend aus jener Sphäre ausgeschlossen, die den materiellen Reichtum der Gesellschaft hervorbringt; auf diesem Gebiet kann sich der junge Mensch kaum realisieren. Das bedeutet jedoch keine Beschränkung seiner Subjektivität, seiner Teilnahme an der „umwälzenden Praxis". Je mehr Kinder in das gesellschaftliche Leben einbezogen werden, um so größer wird auch der produktive Widerspruch zwischen den Bedürfnissen des Heranwachsenden und seinen Möglichkeiten. Dieses Spannungsfeld liefert entscheidende Impulse für die Entwicklung der Persönlichkeit. Das handelnde Subjekt äußert sich im Tätigsein, und das ist für Kinder das Lernen und das Spiel. „ [. . .] das Spiel [ist] eine Tätigkeit, in der der Widerspruch zwischen rasch zunehmenden Bedürfnissen und Forderungen des Kindes, die die Motivation seiner Tätigkeit bestimmen, und der Begrenztheit seiner operativen Möglichkeiten gelöst wird. Das Spiel ist die Art und Weise, in der sich die Bedürfnisse und Forderungen des Kindes im Rahmen seiner Möglichkeiten realisieren." 7 Das Spiel ist keine Ersatz-Situation für eine reale, sondern die Antizipation künftiger Funktionen und Positionen, in die der junge Mensch hineinwächst, und es ist zugleich „ein Erzeugnis der Tätigkeit, in der der Mensch die Wirklichkeit umgestaltet und die Welt

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verändert. D a s Wesen des menschlichen Spiels besteht in der Fähigkeit, die Wirklichkeit im Abbilden umzubilden [. . .] Im Spiel formt und äußert sich zuerst auch das Bedürfnis des Kindes, a u f d i e W e l t e i n z u w i r k e n" 8 . (Hervorhebung - C. H.) D e m Theater kommt dabei eine besondere Bedeutung zu - sowohl dem Theater mit Kindern wie dem Theater für Kinder - , indem es jungen Menschen Modelle vermittelt, an denen sie ihre Möglichkeiten durchspielen können im Sinne Brechts, der das Hauptgeschäft des Theaters darin sieht: „ [ . . . ] auf d a ß wir die Welt ihren Gehirnen und Herzen ausliefern, sie zu verändern nach ihrem Gutdünken." 9 D i e vorliegende Arbeit geht von der These aus, d a ß die Kunst, und das Theater in besonderem Maße, zu den gesellschaftlichen Faktoren gehört, durch welche die heranwachsende Generation befähigt wird, Subjekt in ihrer Erziehung zu sein. Sie wird es in dem Maße, wie sie sich die „Masse" der vorgefundenen „Umstände" im Marxschen Sinne aneignet und diese „modifiziert", und zwar auf der Grundlage eines Partnerschaftsverhältnisses zu jenen Generationen, die diese Umstände vor ihr vorfanden, von ihnen determiniert wurden und sie verändert haben. D i e Aneignung dieser „Umstände" erfolgt im Kindesalter ebenfalls als gesellschaftliche Tätigkeit, als „umwälzende Lebenspraxis", aber in Gestalt des Lernens und des Spiels als den beiden Hauptformen von Tätigsein des Kindes und als wichtigste Kommunikationsformen zur Umwelt. D i e vorliegende Arbeit wird mithin das Theater in ein Bezugssystem zu Lernen und Spiel zu setzen haben, zu jenen Tätigkeiten also, durch die das Kind zum Subjekt in seiner Erziehung wird. Das Verhältnis zwischen Theater und Pädagogik ist in diesem Zusammenhang eine nachgeordnete Frage, denn das Theater wird nicht als „Fortsetzung des Unterrichts mit anderen Mitteln" gesehen. Aus diesem G r u n d e wird auch keine besondere Ästhetik eines Theaters für junge Zuschauer angenommen. Das Verhältnis der heranwachsenden Generation zur Kunst ist nicht anders als dasjenige der Erwachsenen, es ist vielleicht intensiver; es ist die „Auslieferung" der Welt an die Menschen zu beider Veränderung, nur daß die Veränderung der Welt vorerst noch weitgehend fiktiv vorgenommen wird, in der Ausbildung der neuen Ideen, 12

Ideale, Vorbilder, Verhaltensmuster, Hoffnungen und Kenntnisse, die im Kindesalter mit ungeheurer Kraft erfolgt. Charakteristisch für das Problem ist, daß es von der Bourgeoisie nicht nur nicht lösbar war, sondern nicht gestellt werden konnte. Eine Gesellschaft, die auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht, ist außerstande und nicht daran interessiert, die heranwachsende Generation zu etwas anderem zu erziehen als zu guten Ausbeutern und guten Auszubeutenden. Der fundamentale Satz, daß die junge Generation Subjekt in der Erziehung ist, ist nicht denkbar außerhalb des Zusammenhangs mit dem anderen, daß der Mensch durch den proletarischen Emanzipationskampf zum Subjekt seiner Geschichte, also zum Herrn seines (gesellschaftlichen) Lebens wird. Das ist der Grund für die bemerkenswerte Tatsache, daß das Bürgertum in seiner Theatergeschichte nicht über pädagogisch-pragmatische oder idyllische Beziehungen zwischen dem Theater und der heranwachsenden Generation hinausgelangt ist und daß folgerichtig alle tradierbaren Ansätze zu einem Theater für junge Zuschauer in seiner heutigen Beschaffenheit mit dem Emanzipationskampf der Arbeiterklasse und der Errichtung sozialistischer Gesellschaftsverhältnisse verbunden sind. In der D D R ist die Entwicklung des Theaters für junge Zuschauer gespeist worden von eigenen proletarisch-revolutionären Traditionen und - in weit höherem Miaße - von den Erfahrungen des Kinder- und Jugendtheaters in der Sowjetunion.

Die junge Sowjetmacht und das Kindertheater

Das Kindertheater- Programm von Anatoli W. Lunatscharski^* Die Entstehung des sozialistischen Theaters für junge Zuschauer ist mit dem Namen des ersten Volkskommissars für Bildung der jungen Sowjetmacht verbunden: „[. . .] in seiner Person handelte die Sowjetmacht selbst. Der bedeutende Unterschied in der Entwicklung des Kindertheaters nach der Revolution gegenüber früher ist - die Behandlung des Kindertheaters als Staatsangelegenheit: Der Staat selbst übernahm die Sorge darüber, denn die Frage, ob Theater für Kinder notwendig oder überflüssig ist, wurde bestimmt durch den gesamten Verlauf der Kulturpolitik des Staates und durch die Bedürfnisse des ganzen Volkes." 11 Bereits im Frühjahr 1918, wenige Monate nach der Oktoberrevolution, organisierte die Theaterabteilung des Volkskommissariats in Petrograd, wo sich zu diesem Zeitpunkt alle wesentlichen Regierungsstellen befanden, ein ständiges Büro mit einem Rat für Kindertheater und Kinderfeste, dem Theaterschaffende und Pädagogen für außerschulische Erziehung angehörten. Das war die erste staatliche Einrichtung, die sich mit Kindertheater beschäftigte. Später wurde sie in eine Arbeitsgruppe für Schultheater in der Sektion Pädagogik des Volkskommissariats umgewandelt. Für diese Abteilung entwickelte Lunatscharski ein Arbeitsprogramm, das er im September 1918 in der ersten Nummer des Almanachs lgra (Das Spiel) unter dem Titel Probleme, aufgestellt vom Volkskommissariat für Bildung für die theater-pädagogische Sektion und die Unterabteilung Kindertheater veröffentlichte. 12 Lunatscharski nahm die Gedanken über die Aufgaben und Formen des Kindertheaters, die von progressiven Pädagogen und Künstlern vor der Oktoberrevolution geäußert worden 14

waren, auf und verband sie mit den Zielen der Kultur- und Bildungspolitik der Arbeiter- und Bauernmacht. So ist eine gewisse Übereinstimmung der Thesen Lunatscharskis mit der Resolution des Pädagogischen Sektors des 1. Allrussischen Volkstheaterkongresses (Moskau, im Dezember 1915) auffällig. Diese Resolution verknüpft Ansichten der zeitgenössischen Pädagogik (z. B. Auffassungen zur Form der Kinderfeste, zur Ausnutzung des „dramatischen Instinkts" und zur Dramatisierung als Methode des Unterrichtens) mit einer Volkstheatertheorie im vorrevolutionären Rußland. Dabei zählte die Aufhebung der Grenze zwischen Spielern und Zuschauern zu den Grundanschauungen sowohl für ein Volkstheater als auch für das Kindertheater. Der Begriff „Kindertheater" umschloß folglich alle Arten, Formen und Methoden der Theaterarbeit mit Kindern und für Kinder, und erst nach der Revolution, in der praktischen Arbeit der entsprechenden Abteilungen des Volkskommissariats für Bildung, kristallisierten sich die beiden wesentlichen Formen - Theater mit Kindern und Theater für Kinder - heraus, wobei ihre Wechselbeziehung, die Möglichkeiten ihrer gegenseitigen Ergänzung, der theoretische und praktische Ausgangspunkt aller Überlegungen blieb. 1 3 Lunatscharskis Vorschläge fanden eine breite Resonanz. Mit großer Sorgfalt wurden Theater-Programme für Kinder und mit Kindern zum Tag der Oktoberrevolution, zum 1. Mai, für Kinderfeste usw. vorbereitet, für die in Spezialkursen Leiter ausgebildet wurden. Die akademischen Theater veranstalteten kostenlose Matineen für Kinder, und die zahlreichen Theaterstudios inszenierten Aufführungen für Kinder. Jeder beliebige Anfang auf dem Gebiet des Kindertheaters erfuhr eine vielfältige Unterstützung. In allen Wohngebieten entstanden Klubs für Kinder. Künstler und Pädagogen nahmen die Methoden des szenischen Spiels auf, um durch das Theater obdach- und elternlos gewordene Kinder, die Besprisorniki, von der Straße zu holen. Besonders Alexander Brjanzew in Leningrad und Anna Lacis in Orel und Moskau erarbeiteten mit Kindern Improvisations- und Massenspiele, während Natalia Saz in Moskau Matineen und Aufführungen für Kinder organisierte. 14 Daneben gab es zahlreiche Bemühungen um die

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Schaffung spezieller Theater für Kinder: außer in Moskau und Leningrad bereits 1918 in Saratow, wo das sowjetische dramatische Schultheater W. I. Lenin mit dem Blauen Vogel kostenlose Vorstellungen für Arbeiter- und Bauernkinder veranstaltete, in Krasnodar das Theater für Kinder und Jugendliche, das unter Denikin geschlossen wurde und nach der Befreiung der Stadt 1920 mit dem ersten Stück von Marschak (er war Dramaturg des Theaters), dem Katzenhaus, wieder eröffnete, in Tbilissi das Schultheater mit Schülern der oberen Klassen, an dem bald auch Schauspielstudenten mitwirkten, in Swerdlowsk und anderswo. Im Dezember 1919 wurde die Gründung des ersten staatlichen Kindertheaters in Moskau beschlossen, und die Leitung des Direktoriums übernahm Anatoli W. Lunatscharski selbst; fast zur gleichen Zeit entstand das älteste Kindertheater der Ukraine in Charkow, und 1921 folgte das Leningrader Tjus unter Brjanzew. Lunatscharskis Programm für ein sozialistisches Kinderund Jugendtheater ist bis heute aktuell geblieben. Ausgehend von marxistisch-leninistischen Positionen in der Ausbildung der jungen Generation nutzt Lunatscharski alle Möglichkeiten des Theaters zur Selbstverwirklichung der Heranwachsenden, und er arbeitet dazu die dialektische Beziehung zwischen produktiver und rezeptiver Aneignung des Theaters deutlich heraus. Es ist für ihn keine Frage, ob z. B. dem Theater mit Kindern gegenüber dem Theater für Kinder (oder umgekehrt) der Vorrang gebührt (eine Frage, die seltsamerweise bis heute diskutiert wird). Die Gedanken Lunatscharskis sind fundamental: Sie umfassen die vier wesentlichen Möglichkeiten, die im Bezugssystem Kinder-Theater-Erziehung herstellbar sind: 1. Szenische Methoden des Unterrichts „Das Spiel", schreibt Gorki, „ist der Weg der Kinder zur Erkenntnis der Welt, in der sie leben und die zu verändern sie berufen sind." 15 Rubinstein ergänzt diesen Gedanken, indem er schreibt: „Es (das Spiel - C. H.) ist die erste ,Schule' des Denkens und des Wollens. Die Erkenntnis ist darin untrennbar mit der Tätigkeit verbunden und die Tätigkeit mit dem Erkennen." 16 Es liegt auf der Hand, daß diese „Schule" auch im Unterricht der sozialistischen Schule, die die aktive Wissensvermittlung anstrebt und zum schöpferischen Denken 16

erzieht, genutzt wird als eine Möglichkeit, den Kindern im Tätigsein Erkenntnisse zu vermitteln. Lunatscharski beschränkt das darstellende Spiel, die Dramatisierung und Improvisation nicht auf die Literatur, er sieht darin eine allgemeine Methode des Unterrichtens: „Es fällt ins Auge, daß eine der aktivsten Methoden der Aneignung die theatralische Gestaltung eines gegebenen Stoffes ist. Die Dramatisierung von Fabeln, Gedichten und Erzählungen kann eine enorme Hilfe beim Studium der Literatur sein. Die Dramatisierung von sozialen Szenen aus dem Leben des Volkes oder aus verschiedenen Epochen ist eine wunderbare Illustration für das Studium der Geografie und der Geschichte. Die selbständige Anfertigung der dazu notwendigen Kostüme und Kulissen ist eine großartige Arbeitsaufgabe. Spiel, Arbeit und Erkenntnis verknüpfen sich hier wahrlich zu einem goldenen Knoten. Es ist erforderlich, besondere Aufmerksamkeit auf die Ausarbeitung entsprechender Methoden zu legen." 17 Die Aufnahme des darstellenden Spiels in den Unterricht bedeutet eine organische Weiterführung der Kindergartenarbeit zumindest in den unteren Klassen, eine Verbindung von kindlicher Spielfreude und Lernen im zielgerichteten Spielen, und sie verhindert eine schematische Trennung von Lernen = Schule, und Spiel = Freizeit. Gerade diese Trennung führt zu der unrichtigen Auffassung, daß das Lernen Arbeit, das Spiel hingegen Unterhaltung sei. Aber in den unterschiedlichen Spielformen bildet das Kind seine Phantasie aus, und es erwirbt besonders in einem zielgerichteten Spiel die Fähigkeit, die Wirklichkeit in der Vorstellung und im Handeln umzuwandeln. Es ist „[. . .] das Besondere der höherentwikkelten Lebewesen, daß sie ein inneres Modell der Außenwelt besitzen, an dem die Handlungen, bevor sie in die Tat umgesetzt werden, am Modell durchgespielt werden. Dieses Spiel am inneren Modell der Außenwelt ist gewissermaßen ein Spiel auf der Ebene der Erkenntnis, und seine Theorie könnte man als Teil der Erkenntnistheorie auffassen [. . .] Das Spiel ist so ursprünglich einem bestimmten Zweck unterworfen, es bereitet Lebewesen auf die Auseinandersetzung mit der Umwelt vor (Rolle des Spiels in der Lernphase des Individuums); es ersetzt zunächst die wirkliche Situation und hilft, am spiele2

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tischen Modell Strategien für die konkrete Auseinandersetzung mit der Umwelt festzulegen." 1 8 Obwohl sich Inhalt und Formen der Spiele je nach dem Alter der Kinder fortlaufend verändern - gleich ist ihnen ihr grundsätzlich antizipatorischer Charakter. In ihm drückt sich eine menschliche Fähigkeit aus, die allerdings durch Erziehung und Bildung sowohl unterdrückt als auch befördert werden kann. Diese Antizipation der Welt im Spiel äußert sich in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen der Kinder verschieden (daher auch die Vieldeutigkeit des Begriffes): zunächst in der spielerischen Umwandlung von Gegenständen und Situationen, in dem, was wir landläufig unter Kinderspielen verstehen, und sie geht über in das Spiel „am inneren Modell der Außenwelt" in dem von Georg Klaus beschriebenen Sinne. In diesem Prozeß kommt dem zweckgebundenen Spiel in der Schule wie auch dem Theater, das ja ebenfalls zielgerichtet ist, eine besondere Funktion als Übungsfeld für Phantasie und als soziale Schule des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu. Lernen und Spiel der Kinder dienen nicht nur der Vorbereitung auf ein künftiges Leben. D a s Kindesalter ist keine bloße Vorbereitungsphase. Im Prozeß der Bildung und Erziehung entwickeln sich die angeborenen Anlagen der Kinder zu Fähigkeiten in dem Gerichtetsein aller menschlichen Tätigkeit auf die Aneignung der Welt, auf die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Umwelt ebenso wie mit den materiellen und geistigen Resultaten der Menschheitsgeschichte. Werden Anlagen wie das Schöpferische nicht ausgebildet und trainiert, dann können sie sich nicht zu Fähigkeiten entwickeln, sondern verkümmern. Unter diesem Aspekt bezeichnet der Begriff „Schultheater", wie ihn Lunatscharski im zweiten Abschnitt seines Programms verwendet, nicht nur das Theater in der Schule, also den Ort der Veranstaltung. 2. D a s Verhältnis zwischen Theater und Erziehung „Eine zweite Aufgabe ist die zeitgemäße Behandlung der Frage des S c h u l t h e a t e r s , d. h., die Aufführung von künstlerisch-wertvollen Stücken, die den Kindern verständlich sind, durch die Kinder selbst." 1 9 Der Schwerpunkt der Theaterarbeit in der Schule liegt aber nicht auf der künstlerisch 18

perfekten Aufführung, sondern auf dem Probenprozeß. Lunatscharski fährt fort: „Wobei die Kinder nicht nur als Schauspieler und Musiker, sondern auch als technisches Theaterpersonal jeder Art auftreten können: als Souffleuse, Regieassistent, Dekorateure, Ankleider, Requisiteure, Maskenbildner, Bühnenarbeiter, Maschinisten, Beleuchter, usw. usw." 20 Damit stellt Lunatscharski das Tätigsein der Kinder in allen Bereichen der Theaterarbeit über das Resultat (bezeichnenderweise werden die Kinder als Zuschauer nicht einmal erwähnt). Das Theaterspiel der Kinder wird als eine Form spielerischer Selbsterziehung eingeführt, in der die Kinder zum Erproben vielseitiger Fähigkeiten angeregt werden. Das darstellende Spiel, das eine organische und lenkbare Fortführung des Spiels der Kinder ist, wird zu einer produktiven Begegnung des Kindes mit der Welt und sich selbst. Schöpferische Selbsttätigkeit befruchtet zugleich auch die Fähigkeit, in künstlerische Prozesse einzudringen und vergrößert so-den Genuß an künstlerischen Darstellungen. Sie steigert die aktive und vor allem bewußte Rezeption von Theater, führt zu einer genaueren Beobachtung der Vorgänge auf der Bühne, die eine ästhetische Wertung einschließt. Kinder, die selbst Theater spielen, beobachten das Spiel der Schauspieler kritischer, sie sind aber auch offener für die Aufnahme ästhetischer Ausdrucksmöglichkeiten des Theaters. 21 * Kinder im ersten Lebensjahrzehnt beurteilen eine Theatervorstellung, einen Fernseh- oder Kinofilm vor allem nach der spannenden oder langweiligen Handlung (spannend = schön, langweilig = schlecht). Erst der mehrmalige Besuch des Theaters vermittelt ihnen im Vergleichen auch Erfahrungen, die die Voraussetzung dafür sind, auch ästhetische Wirkungen zu erkennen und aufzunehmen. Dieser Prozeß kann durch die künstlerische Selbsttätigkeit beschleunigt und aktiviert werden. Dazu Moissej Kagan: „Ästhetik und Psychologie haben bereits seit langem festgestellt, daß die Befriedigung, die uns die Schönheit der Kunst vermittelt, sich wesentlich unterscheidet von der Befriedigung, die wir bei der Wahrnehmung der Schönheit in der Wirklichkeit empfinden. Dieser Unterschied wird häufig mit dem Begriff ,Mitschöpfertum' bezeichnet. In der Tat erfreut man sich an der Art, wie das Werk geschaf2*

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fen wurde, nur dann, wenn ein direktes Verhältnis zum schöpferischen Prozeß besteht, das heißt, wenn wir zusammen mit dem Dichter den notwendigen Rhythmus, zusammen mit dem Maler die kompositorische Lösung der Darstellung, zusammen mit dem Schauspieler die genaue Anlage der Rolle ,fanden'. In diesem Sinne wird der ästhetisch gebildete Leser, Zuschauer, Hörer gewissermaßen zu einem potentiellen Künstler." 2 2 Literatur, Musik, bildende Kunst sind Lehrfächer in der Schule, die darstellende Kunst, die in unserer Zeit den größten Anteil an den künstlerischen Erlebnissen besonders auch junger Menschen hat, wird von der Schule nur sporadisch behandelt. Erst in der achten Klasse, nachdem die Kinder bereits ein Jahrzehnt darstellende Kunst aufgenommen haben, wird das Drama besprochen, aber auch dann vor allem unter literarischen Gesichtspunkten. 2 3 * In einer solchen Konstellation kommt dem professionellen Theater für junge Zuschauer eine besondere Aufgabe zu. 3. Besondere Theater für Kinder Das sollen Theater sein, „[. . .] wo durch künstlerisch-vollendete Schauspieler Kinderstücke in hervorragender Form gespielt werden, die den Besonderheiten eines zarten Alters Rechnung tragen, dem der auch weiterhin geeignete Teil des Repertoires der normalen Theater wenig zugänglich ist" 2 4 . Lunatscharski stellt diesem Theater die Aufgabe, Aufführungen auf hohem künstlerischen Niveau zu schaffen, die dem Aufnahmevermögen der Kinder angemessen sind. Daraus folgt ein besonderes Verhältnis zwischen Kind-Theater-Erziehung, denn sein Publikum verändert sich fortwährend selbst. Das Aufnahmevermögen, die Bedürfnisse und Interessen eines elfjährigen Kindes unterscheiden sich von jenen eines neunoder dreizehnjährigen, und das Kind im Alter von neun Jahren unterscheidet sich vom gleichaltrigen der vorherigen Generation. D i e Kenntnis der alterstypischen Besonderheiten und vor allem der unmittelbare, ständige Kontakt mit dem Zuschauer sind für die Wirkung der Kinder- und Jugendtheater von elementarer Bedeutung. Obwohl dieses Theater in erster Linie den ästhetischen Gesetzen seiner Gattung folgt, bedarf es der Erkenntnisse anderer Wissenschaften, die sich mit dem Kind beschäftigen, z. B . Psychologie und Pädagogik. (Die 20

größte Schwierigkeit, die ein solches Theater bewältigen muß, besteht darin, ständig den Ausgleich zwischen den Bedürfnissen seiner Zuschauer, dem beruflichen Anspruch seiner Künstler und seiner erzieherischen Funktion zu halten.) Kinder haben das Bedürfnis, mit dem Theatererlebnis produktiv umzugehen: Sie zeichnen, modellieren, erfinden eigene Geschichten, schreiben in Briefen ihre Eindrücke dem Theater, und oftmals werden sie durch die Aufführung angeregt, selbst Theater zu spielen. Diese aktive Rezeption der Kunst ist ebenso schöpferisch wie ihre Aneignung durch „Selbsttätigkeit"; sie widerspricht der gelegentlich anzutreffenden These, professionelles Theater für Kinder würde die Kreativität des Kindes verkrüppeln. Die Theater für junge Zuschauer, die auf Lunatscharskis Programm zurückzuführen sind, können im Gegenteil Schulen der ästhetischen Genußfähigkeit sein und auf jene Theater vorbereiten, die Lunatscharski in seinem vierten Punkt behandelt. 4. Das Gesamtsystem der Theater und die heranwachsende Generation „In den staatlichen und kommunalen Theatern besitzen wir einen großen Apparat, und wir müssen mit allem Ernst einen Plan zur Ausnutzung der Sonnabendabend- und Sonntagvormittag-Vorstellungen für die schulische und zum Teil auch außerschulische Bildung ausarbeiten. Noch besser wäre, wenn die großen Theater in Absprachen mit Pädagogen und den Leitern der Volkshochschulen zu den Aufführungen geschlossene Zirkel aufbauen würden, in die entweder die Geschichte des Welttheaters oder zum Beispiel die Geschichte des russischen Theaters von den Anfängen bis zur Gegenwart miteinbezogen sind. Analoge Aufführungen könnten durch erläuternde Vorlesungen begleitet werden [. . .I" 25 Mit diesem letzten Abschnitt seines Programms forderte der Volkskommissar für Bildung der jungen Sowjetmacht den „gesamten Apparat" der staatlichen und kommunalen Theater auf, sich dem jungen Zuschauer zuzuwenden und in dessen ästhetischer Bildung eine wesentliche Aufgabe zu erkennen. Diese Forderung impliziert, daß Lunatscharski nicht für ein eng spezialisiertes Kinder- und Jugendtheater eintrat, auf das die jungen Zuschauer ausschließlich zu orientieren seien: Er 21

machte das Gesamtsystem des Theaters zu einem Faktor sowohl in der Erziehung der jungen Generation als auch in der Befriedigung und Schulung ästhetischer Bedürfnisse. Dabei behält das Theater als Gegenstand der Beschäftigung die Priorität und wird nicht dem Unterricht unterworfen. Die Moskauer Theater erhielten beispielsweise im Herbst 1919 vom Rat der Stadt die Anweisung, wöchentlich eine Aufführung für Kinder zu spielen. „Alle Eintrittskarten für diese Aufführung sollten dem Kindersektor übergeben werden. Eine spezielle Kommission übernahm die Verteilung. Der Kindersektor erhielt das Recht, aus dem Spielplan jedes Theaters das Stück auszusuchen, das wir für diesen Tag brauchten", so Natalia Saz in ihren Erinnerungen, und sie beschreibt weiter die ersten Vorstellungen für Kinder im Großen Theater, das vor allem seine bedeutenden Ballettaufführungen für Kinder spielte. 26 Lunatscharskis Programm ist geschichtlich bahnbrechend, weil es die vier wesentlichen Möglichkeiten im Bezugssystem Kinder-Theater-Erziehung skizzierte. Die Skizze ist von der Entwicklung gleichsam ausformuliert worden. Die Weitsicht und der marxistische Gehalt dieses Programms werden offensichtlich, wenn seine Gesichtspunkte mit dem heute in den sozialistischen Ländern erreichten Niveau im Verhältnis der jungen Generation zum Theater verglichen werden. Es könnte zunächst scheinen, als hätten sich „die szenischen Methoden des Unterrichts" im Vergleich zu den anderen beschriebenen Formen am wenigsten durchgesetzt. Dies trifft zu, wenn darunter im engeren Sinne die Form theatralischer Darstellung während des Unterrichts verstanden wird. Das Bild verändert sich aber sofort, wird unter diesem Gesichtspunkt die darstellende Kunst insgesamt begriffen. Während noch zu der Zeit, als Lunatscharski sein Programm entwarf, die Möglichkeiten der Verwendung szenischer Methoden des Unterrichts relativ begrenzt waren (Dramatisierung und Improvisation), haben die Massenmedien Film, Funk, Fernsehen hier ganz andere Dimensionen eröffnet. Neben den Unterricht in der Schule ist ein zweiter Unterricht getreten, der unter der Verwendung der Mittel der darstellenden Künste über die technischen Medien erfolgt. Sie reichen von Schulfunksendun22

gen über Formen der musischen Bildung bis zu szenischen Elementen, die selbst für die Mathematik und die Ausbildung der Logik genutzt werden. Wenn die Möglichkeiten der szenischen Methoden des Unterrichtens unter traditionellen Begriffen begrenzt erscheinen können, haben sie unter den Bedingungen der technischen Medien und der Weiterentwicklung der marxistisch-leninistischen Pädagogik eine noch nicht abzusehende Zukunft. Diese neuartigen Möglichkeiten führen gegenwärtig in einigen Reformbestrebungen der bürgerlichen Pädagogik zu dem falschen Schluß, daß die Medien die Schule im herkömmlichen Sinne ersetzen werden. Es handelt sich hier um eine Scheinalternative. Die Schule bleibt für den kollektiven Erziehungsprozeß, für die systematische Kenntnisvermittlung ebenso unerläßlich 2 7 wie die Fernsehsendung, die Schallplatte, die Hörfunksendung usw. die selbstschöpferische szenische Darstellung der Schüler im Unterricht nicht ersetzt. Eben jetzt diskutieren Pädagogen und Erzieher in der D D R darüber, die Methoden der theatralischen Gestaltung stärker als pädagogische Mittel zu nutzen. Dies steht in Zusammenhang mit Fragen der sozialistischen Persönlichkeitsbildung, der Weckung kultureller Bedürfnisse, d. h. mit Problemen, die besonders nach dem VIII. Parteitag der SED verstärkt ins Blickfeld gekommen sind. In seinem zweiten Punkt geht Lunatscharski auf eine Theaterform einer zurückliegenden Epoche ein und formuliert deren neue Funktion unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen. Das Schultheater hatte in der humanistischen Bildung die Aufgabe, die Schüler mit der Literatur vertraut zu machen, ihre Redegewandtheit zu schulen, ihnen sicheres Auftreten (auf der Kanzel, im Gerichtssaal, hinter dem Katheder) zu vermitteln usw. Lunatscharski versteht als Marxist die Selbsttätigkeit der Kinder nicht in diesem rein didaktischen Sinne, sondern als Freilegung der schöpferischen Kräfte durch künstlerische Betätigung und die Schulung sozialen Verhaltens im kollektiven Arbeitsprozeß. Diese beiden Funktionen blieben in der Folge nicht auf das Theater in der Schule begrenzt. Für die heranwachsende Generation entwickelte sich ein zweiter gesellschaftlicher Bereich in den Kinder- und Jugendorganisationen sowie in den Klubs und Kulturhäusern, die in den 23

Betrieben, in den Genossenschaften, bei den Gewerkschaften beheimatet sind. D a s Theaterspiel der Kinder in dieser Sphäre hat das Schultheater sogar zurücktreten lassen, und die Schule hat diese Seite der Selbsttätigkeit vielleicht allzu bereitwillig an die neuen gesellschaftlichen Träger abgegeben. 2 8 * Damit wurde das musische Klima zugunsten aller Unterrichtsfächer reduziert. Auch hier setzen gegenwärtig Überlegungen an, die auf eine Veränderung der Situation drängen. 2 9 * Sieht man von dieser Verschiebung der Gewichte ab, so ist Lunatscharskis Programm auch in diesem Punkt zu „massenhafter Realität" geworden. Die Gründung besonderer Theater für junge Zuschauer ist gegenüber den kapitalistischen Ländern die sichtbarste Errungenschaft des Kindertheaters im Sozialismus. Kinder- und Jugendtheater gibt es heute in allen sozialistischen Ländern, in der U d S S R annähernd 50, in der D D R 5 3 0 * , die mit einem großzügigen Etat ausgestattet sind. D a diese Theaterform Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist, wird an dieser Stelle nicht näher auf deren Probleme eingegangen. Wenn in der Sowjetunion und in der D D R jedes Theater vom Ministerium für Kultur verpflichtet wird, mindestens ein bis zwei Inszenierungen pro Spielzeit speziell für Kinder herauszubringen und viele Theater diese Zahl weit überbieten, so beweist diese Tatsache, daß auch in diesem Punkt Lunatscharskis Programm Bestandteil der Theaterarbeit geworden ist. Wichtiger noch als die eigens für junge Zuschauer erarbeiteten Inszenierungen ist die zu beobachtende Tendenz, daß sich das sozialistische Theater insgesamt in zunehmendem Maße jungen Zuschauern öffnet. Die Bedürfnisse junger Zuschauer werden bei der Spielplanung berücksichtigt, das Theater sucht organisierte Formen des Kontaktes und des Austausches mit diesem Publikum und fühlt sich mitverantwortlich für die ästhetische Erziehung der jungen Generation. Mit solcher Öffnung kommen aber auch eine Reihe von Problemen, z. B. das Verhältnis von Theater und Pädagogik betreffend, wieder verstärkt auf die Tagesordnung, die von den speziellen Kinder- und Jugendtheatern im Prozeß ihrer Entwicklung und in der Bestimmung des Profils dieser Theaterform bereits gelöst waren oder gelöst schienen. 24

D i e vorliegende Arbeit versucht, auch zu dieser Diskussion einen Beitrag zu leisten, denn in zunehmendem M a ß e steigt das Interesse von Fachgremien an der Beziehung des Theaters zur Jugend. 3 1 * D a s 6. Plenum des Z K der S E D hat alle kulturellen Einrichtungen aufgefordert, diesen Prozeß zu fördern: „Zu den grundlegenden Kriterien, nach denen die gesellschaftliche Wirksamkeit von Orchestern, Theatern, Volkskunstgruppen, Lichtspieleinrichtungen, Klubs und Kulturhäuser - ja, alle Kunsteinrichtungen - [ . . . ] zu bewerten ist, gehört die Frage: Was leisten sie für die ästhetisch-künstlerische Erziehung und Bildung der Kinder und Jugendlichen?" 3 2 Lunatscharskis Kindertheater-Programm stand am Beginn dieser Entwicklung und darf deshalb theoretisch nicht überanstrengt werden. Es ist die erste Skizze einer sich herausbildenden Erscheinung, die nach dem Großen Oktober als qualitativer Sprung möglich und schrittweise wirklich wurde. Um diesen Wendepunkt differenzierter als durch Lunatscharski selbst beschreiben zu können, werden im folgenden einige Konzeptionen zum Kindertheater behandelt, die im historischen Umkreis von Lunatscharskis Thesen entwickelt wurden und auf diese Bezug nahmen. Es ist dies ein System von Auffassungen, die unter den Bedingungen der jungen Sowjetmacht gewonnen und in die Realität umgesetzt werden konnten. D a mit wird keine Geschichtsschreibung dieser Phase auf dem Gebiet des Kindertheaters angestrebt, noch kann verlangt werden, d a ß diese Modelle und die ihnen zugrunde liegenden Versuche umfassend dargestellt sind. Es wurde im wesentlichen von Lunatscharskis Fragestellungen ausgegangen. D a s methodologische Prinzip dieses Kapitels beruht darauf, Punkte zu setzen, nicht eine historische Linie zu ziehen, also die Wende in den Beziehungen zwischen dem Theater und der heranwachsenden Generation in seinen bis heute gültigen Problemstellungen zu zeigen, ohne z. B. die weitere Geschichte des sowjetischen Kinder- und Jugendtheaters verfolgen zu können. D i e Thesen Lunatscharskis bilden eine Einheit: D a s sozialistische Kindertheater wurde bereits bei seiner ersten Artikulierung universell erfaßt und von der jungen Sowjetmacht auch so ins Leben gerufen. In diesem Sinne ist das Programm Lunatscharskis das Programm einer neuen Gesell-

25

schaftsordnung, die zum erstenmal in der Geschichte daran interessiert ist, das Verhältnis des Theaters zu Kindern und Jugendlichen als Komponente des gesamtgesellschaftlichen Verhältnisses zur heranwachsenden Generation zu organisieren.

Die Thesen des Büros des Kindertheaters über die Grundprinzipien der ästhetischen Erziehung der Kinder mit den Mitteln des Scbultbeaters33* Das Büro des Kindertheaters, für das Lunatscharski das Arbeitsprogramm entworfen hatte, modifizierte dessen Vorschläge für das Schultheater in der zweiten Nummer des Almanachs Igra im Herbst 1918; es nannte in elf Thesen die vordringlichsten Aufgaben und die Hauptrichtung der Tätigkeit für den Rat des Kindertheaters und der Kinderfeste, der sich inzwischen zu einer Arbeitsgruppe Schultheater umgebildet hatte, um Einheitlichkeit in der Arbeit auf diesem Gebiet zu erreichen. Im Interesse einer harmonischen, umfassenden Persönlichkeitsbildung der Kinder wird der ästhetischen Erziehung ein wichtiger Platz in der Schule zugesprochen. Durch die Einbeziehung der Kunst in den Unterricht und in das gesamte schulische Leben sollen vor allem Emotionalität und seelisches Feingefühl der Schüler gefördert werden. Kunsterziehung beschränkt sich deshalb nicht auf speziell dafür zu schaffende Lehrfächer - Gesang, Instrumentalmusik, rhythmische Gymnastik, Plastik, Zeichnen usw. - und auch nicht auf das Schulthcater. „Die Kunst muß alle Seiten des schulischen Lebens erfassen, beleben und erhöhen. Der Weg für die Einführung der Kunst in dieses Leben ist die gesamte Umgebung der Kinder in der Phase ihrer Ausbildung," lautet die zweite These. 3 4 * Dabei fällt dem Schultheater eine wichtige organisatorische Aufgabe zu; es ist das Zentrum aller künstlerischen Bestrebungen der Schüler und dient der Vereinigung aller Elemente der Kunst, indem es die Trennung der künstlerischen Fächer schöpferisch aufhebt. Dieser Gedanke kennzeichnet die Vorstellungen zum Schultheater, die unmittelbar nach der 26

Oktoberrevolution entwickelt wurden, wobei die Funktion des Schultheaters keine professionelle, sondern eine erzieherische ist. Auch der Kunstunterricht hat nicht allein den Zweck, zur Kunst zu erziehen und die schöpferischen Anlagen der Kinder auszubilden, sondern im Unterricht müssen in den einzelnen Kunstzweigen „das Spiel und die theatralische Darstellung geschickt mit der Freude an der Arbeit verbunden sein" 33 . Damit ist ein weiterer bedeutender Aspekt des Theaters in der Schule benannt. Das zielgerichtete Spiel, die planvolle künstlerische Tätigkeit soll die Freude an der Arbeit befördern. Das Hauptfeld der Tätigkeit des Menschen und damit seiner Selbstverwirklichung ist die Arbeit. Der gesellschaftliche Charakter der Arbeit beinhaltet auch, daß der Mensch sich nur innerhalb der Gesellschaft verwirklichen kann. Die sozialistische Schule sieht deshalb in der Erziehung zur Arbeit als einer genußvollen menschlichen Tätigkeit eine ihrer wichtigsten Aufgaben (u. a. in der polytechnischen Ausbildung). Nicht im „freien Spiel", in der ungebundenen Entäußerung, findet der Schüler seine Selbstbestätigung, sondern die Vereinigung von Spiel und Arbeit (Spiel als zielgerichtete Betätigung, Arbeit als planvolles Lernen) erzeugt eine schöpferische Haltung gegenüber der Welt, die beides, Kunst und Arbeit, zum Lebensbedürfnis des Menschen machen. Hier wird unter marxistisch-leninistischen Gesichtspunkten eine neue Qualität des Theaterspiels der Kinder aufgezeigt, die bürgerliche Kindertheater-Konzeptionen nicht im Blick haben können. In diesen Konzeptionen wird dem Kindertheater vielfach eine Ventilfunktion zur Entspannung allgemeiner „Frustrationen" des Individuums durch die Gesellschaft (für Kinder sind das in erster Linie die Bezugspersonen Eltern und Lehrer) zugeschrieben, oder zur Selbstverwirklichung in der Gruppe durch das Spielen von „Rollen", die man auf diese Weise „bewältigt" und derart zum Bewußtsein seiner selbst gelange. Eine solche Theaterauffassung versetzt die Aufhebung der Entfremdung in Bereiche des Spiels und der Kunst. Damit wird die reale Aufhebung der entfremdeten Lebensverhältnisse faktisch verschleiert und die Kunst (scheinbar) eine Alternative zur Wirklichkeit. In der sozialistischen Gesellschaft ist die Beschäftigung mit Kunst deshalb auch keinesfalls die einzige 27

Methode der ästhetischen Erziehung; die Arbeit und die gesamte Umwelt des Menschen haben eine ästhetische Seite, durch die der Mensch geprägt wird. Von Kindheit an erfolgt die ästhetische Erziehung, die mit künstlerischer Erziehung nicht gleichzusetzen ist, unter dem Einfluß der gesamten Umgebung, durch die Lebensweise in Elternhaus und Kindergarten, durch Spielzeug und Spiele, durch die Beziehung der Menschen untereinander, durch die Natur, die Architektur, die Straße, später durch die Schule und die Teilnahme am Arbeitsprozeß, durch Sport, Freizeitgestaltung und nicht zuletzt durch die Künste. Die ästhetische Erziehung kann folglich nicht getrennt von diesen Lebensbereichen erfolgen, sie ist ein spezifischer Aspekt aller anderen Formen der Erziehung. Mit anderen Worten: „ D i e ä s t h e t i s c h e E r ziehung ist nicht eine b e s o n d e r e oder selbs t ä n d i g e Form der E r z i e h u n g , da sie k e i n e n besonderen Gegenstand besitzt. Die ästhetischen Erscheinungen bilden keine besond e r e S p h ä r e , sie e n t s t e h e n im V e r l a u f der Aneignung der gesamten sinnlich wahrnehmbaren Welt durch den M e n s c h e n." 3 6 Natürlich wird niemand die Bedeutung der künstlerischen Erziehung als wichtigen Bestandteil der ästhetischen Erziehung leugnen. Das Büro des Kindertheaters warnt vor einer Anwendung der szenischen Methode des Unterrichtens an sich, weil sie, zur Schablone erstarrt, der ästhetischen Erziehung der Kinder eher schadet als nutzt. Die Thesen neun und zehn beschreiben die Verbindung der Schule zum professionellen Theater, wobei betont wird, daß das „Studium dramatischer Werke im Literaturunterricht mit deren theatralischer Realisierung verbunden werden muß. Dem dient einerseits die Aufführung durch die Schüler selbst, andererseits der Besuch entsprechender Vorstellungen im Theater" 3 7 . Um der ausschließlich literarischen Erschließung der dramatischen Werke im Unterricht zu begegnen, wird deren Behandlung mit der theatralischen Realisierung verknüpft, wobei keine Wertigkeiten zwischen der produktiven oder rezeptiven Aneignung durch die Schüler gesetzt sind, sondern die literarische Wissensvermittlung mit dem künstlerischen Erlebnis organisch verbunden wird. Nicht nur die Lite28

ratur ist Gegenstand des Unterrichts, sondern auch das Theater als Kunstform. Deshalb verlangt das Büro, wie Lunatscharski, die Durchführung von Kursen oder Unterrichtsstunden zur Geschichte und Theorie des Theaters. Auch unter den heutigen Erkenntnissen der sozialistischen Pädagogik und nach reichen Erfahrungen auf diesem Gebiet behalten alle elf Thesen ihre volle Gültigkeit. Sie sind weitgehend Bestandteil alltäglicher Schulpraxis geworden. 3 8 * Allerdings haben es das Theater und die darstellende Kunst im allgemeinen auf G r u n d tradierter Vorbehalte in der Schule der D D R immer noch schwer, als ein ernstgenommener Gegenstand Eingang zu finden. Gegenüber den anderen künstlerischen Fächern ist die darstellende Kunst noch immer im Nachteil. So erfolgt die Behandlung der dramatischen Werke vor allem unter literarischen Gesichtspunkten, die Dramenanalyse steht an erster Stelle und das Theatererlebnis dient deren Ergänzung, d. h., dem Theater obliegt mehr oder weniger die „emotionale", dem Literaturunterricht die „rationale" Seite der Aneignung von dramatischer Dichtung. Diese „Aufgabentrennung" führt die Schüler in der Rezeption von Theater zu Schwierigkeiten. Einerseits wissen sie zu wenig vom Theater, Film, Fernsehen oder Hörfunk, andererseits wissen sie „zu viel" vom Stück. 39 * Eine sinnvolle Verbindung zwischen produktiver Beschäftigung mit der darstellenden Kunst und der Wissensvermittlung über diese Kunstform, wie sie Lunatscharski und das Büro des Kindertheaters vorschlagen, gilt es verstärkt in das Blickfeld heutiger Bemühungen auf diesem Gebiet zu rücken. Sicherlich half die Delegierung des Schultheaters in den außerschulischen Bereich und an andere gesellschaftliche Träger, das Theaterspiel der Kinder von unmittelbar didaktischen Gesichtspunkten zu befreien und einen umfassenderen, weniger pragmatischerzieherischen Sinn darin zu suchen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, daß das Theaterspiel der Kinder verstärkt in die Schule gehört.

Piaton

M. Kerschen^eiv:

„Schöpferisches

Theater"

Die 2. Moskauer Stadtkonferenz des Proletkult vom 20. bis 24. März 1919 faßte zum Vortrag Piaton M. Kerschenzews Uber das proletarische Theater eine Resolution, in der es heißt: „Die Konferenz hält es für erforderlich, die Aufmerksamkeit des Kommissariats für Volksbildung und der Abteilung Volksbildung auf die Notwendigkeit zu lenken, in den Schulen die Grundelemente des Theaters zu lehren: Dramatisierung, Grazie, Deklamation, Gymnastik usw., sowie Schulfeste zu organisieren, die von den Schülern selbst ausgestaltet werden." 40 Der sowjetische Proletkult, 1917 gegründet, hatte nach der siegreichen Oktoberrevolution die Leitung des proletarischen Laienschaffens auf allen Kunstgebieten im Rahmen des Volkskommissariats für Bildung übernommen, und er wurde im Oktober 1920 zu einer eigenen Abteilung des Volkskommissariats. Damit waren Lunatscharski sowohl das Büro des Kindertheaters wie der Proletkult unterstellt. Auf die Autonomiebestrebungen der Proletkult-Organisation gegenüber Partei und Regierung kann und muß an dieser Stelle ebensowenig eingegangen werden wie auf Lenins Kritik an der theoretischen Plattform der Ideologen des Proletkult/»1* In unserem Zusammenhang interessiert, daß das Verhältnis zwischen Theater und Kindern in den ersten Jahren auch durch die kräftigen Bestrebungen im proletarischen Laienschaffen zur Diskussion gestellt wurde. Der Proletkult hat selbst weniger mit Kindern als mit Jugendlichen und Erwachsenen gearbeitet; seine Studios sollten nicht die musische Erziehung befördern, sondern einer neuen, proletarischen Kultur den Boden bereiten. Die Verfechter des Proletkult erkannten aber früh, daß zwischen ihren Bestrebungen und der Tätigkeit der Schulen auf diesem Gebiet eine untrennbare Verbindung bestand. Ihnen war es um eine Verbreiterung und Qualifizierung der musischen Fähigkeiten und Interessen der Kinder als wesentliche Voraussetzung für eine breite proletarische Massenkultur zu tun, also um die Schulung des Nachwuchses für ihre eigenen Experimente. In Deutschland wurden die Ansichten des Proletkult über das Theater vor allem durch P. M. Kerschenzews 1922 in deutscher Sprache erschienenes Buch Das schöpferische Theater 30

bekannt. Es übte eine stimulierende Wirkung auf die deutsche Arbeitertheater-Bewegung aus, erhärtete aber für eine bestimmte Zeit auch einige „naturwüchsig "entstandene sektiererische Auffassungen im deutschen Agitproptheater. Für die Theaterkonzeption des sowjetischen Proletkult ist das Schöpferische Theater noch immer die aufschlußreichste Quelle in deutscher Sprache und ein wichtiges Dokument des Proletkult überhaupt. Kerschenzews Ansichten über das Verhältnis der Kinder zum Theater hatten für Deutschland nur geringe Bedeutung, denn sie konnten unter den grundsätzlich anderen gesellschaftlichen Bedingungen nicht praktisch erprobt werden. Das proletarische Kindertheater Deutschlands entwickelte sich auf einer anderen Linie. Für die Darstellung der Konzeptionen und Experimente auf diesem Gebiet unter den Bedingungen der jungen Sowjetmacht muß Kerschenzews Modell, stellvertretend für den Proletkult, dennoch herangezogen werden, zumal sein Zusammenhang mit Lunatscharskis Programm sowohl historisch wie methodisch eng ist. Kerschenzew unterscheidet zwischen dem proletarischen Theater, das ein nichtprofessionelles Kampftheater ist, und dem sozialistischen Theater, das „den Zusammenschluß des Schauspielers mit dem Schaffen der Massen verwirklichen" kann. Gestützt auf die Arbeiterklasse wird sich aber das sozialistische Theater nur entwickeln können dank der neuen Bildungsschule, die allseitig gebildete, harmonische, schöpferische Menschen erzieht. „Die neue Proletariergeneration, die während der sozialistischen Revolution und in der darauf folgenden Übergangszeit, der das Gift des Kapitalismus fremd ist, aufgewachsen sein und die die freie sozialistische Schule besucht haben wird, erst sie wird das wahre sozialistische Theater schaffen, das wir erträumen. Darum müssen wir uns dem Theater mit ganz besonderer Aufmerksamkeit innerhalb der Schule zuwenden." 42 * Die Verbindung der Auffassungen Kerschenzews zum Kindertheater-Programm Lunatscharskis ist unschwer festzustellen. Wie Lunatscharski behandelt er das Verhältnis von Theater und Schule unter verschiedenen Gesichtspunkten - Theater als Unterrichtsmethode, Schultheater, Berufstheater für Kinder, wobei er vor allem die pädagogischen Möglichkeiten des Thea31

ters herausarbeitet und sogar die Berufskunst d i e s e m Z w e c k e unterordnet. 1. D a s Theater als Unterrichtsmethode In

der

Einführung

von

Elementen

des

Theaters

in

den

Unterricht sieht K e r s c h e n z e w z w e i V o r t e i l e : E i n m a l eine leb e n d i g e Stoffvermittlung, z u m anderen, und das ist für ihn entscheidend, Schüler.

das

Wecken

Naturgemäß

gibt

schöpferischer es

im

Fähigkeiten

Literaturunterricht

der reiche

M ö g l i c h k e i t e n für das Theater. D u r c h den Vortrag literarischer W e r k e kann d i e D i k t i o n , d i e D e k l a m a t i o n , also d i e künstlerische A u s d r u c k s f ä h i g k e i t der K i n d e r geschult w e r d e n . D u r c h Dramatisierungen,

I m p r o v i s a t i o n e n prägt sich der

Lehrplan-

stoff nicht nur besser ein, d i e optischen A s s o z i a t i o n e n

unter-

stützen zugleich seine kritische A n e i g n u n g . D e r V o r t r a g eines G e d i c h t s , das L e s e n eines Stückes mit verteilten R o l l e n , d i e D r a m a t i s i e r u n g einer F a b e l regen d i e selbständige

Verarbei-

tung eines literarischen W e r k e s an und veranlassen den Schüler, seine persönliche A u f f a s s u n g in d i e D a r s t e l l u n g bringen. A u f

diese W e i s e entsteht eine l e b e n d i g e

einzu-

Beziehung

des Schülers z u m literarischen W e r k , d. h., er lernt nicht nur L e h r p l a n w e r k e kennen und analysieren: E r e n t d e c k t sie für sich selbst. Lunatscharski f o l g e n d , beschränkt K e r s c h e n z e w das T h e a t e r als U n t e r r i c h t s m e t h o d e nicht auf d i e literarischen o d e r künstlerischen Fächer, er e m p f i e h l t es auch für d e n Geschichtsund sogar für d e n Mathematikunterricht. U m abstrakte mathematische

Operationen

anschaulich

zu machen,

sollen

solche

L e b e n s s i t u a t i o n e n durchgespielt w e r d e n , in d e n e n sie v o r k o m men. H i e r b e i übersieht K e r s c h e n z e w , d a ß d i e Schule vor all e m d i e A u f g a b e hat, d i e Schüler nichtgegenständliches

Den-

ken zu lehren, d. h., d i e F ä h i g k e i t zu entwickeln, v o n

For-

m e l n und Zeichen abzuleiten usw. D a s Theater kann für d i e Pädagogik

nur

ein

Hilfsmittel

sein,

wenngleich

ein

nützliches, o f t nicht ausgeschöpftes. „ D i e T h e a t e r m e t h o d e beim Unterricht erleichtert d i e A n e i g n u n g des Lehrstoffes u n d somit auch d e s s e n bessere Kenntnis. Sie hat aber auch andere V o r züge. M i t ihrer H i l f e fördert m a n die Phantasie der

Kinder

u n d deren F ä h i g k e i t zu improvisieren u n d gemeinschaftlich zu schaffen. Ich w ü r d e e m p f e h l e n , b e s o n d e r e Stunden zur E n t w i c k l u n g der I m p r o v i s a t i o n s f ä h i g k e i t der K i n d e r einzuführen.

32

Man gibt den Kindern ein bestimmtes Thema, an Hand dessen sie die Handlung, den Entwurf für die Dekoration, das Kostüm, die Masken usw. ausarbeiten. Oder die Kinder improvisieren selbst, etwa die Variation zu einem allgemein bekannten Märchen oder einen anderen Ausgang für eine Erzählung. Die Mitwirkung an Theateraufführungen auch der bescheidensten Art, die während der Stunden ohne Dekorationen und Kostüme improvisiert werden, erzieht in den Schülern [. . . ] Selbstkontrolle, Selbstdisziplin, die Fähigkeit, sich zu beherrschen, die Fassung zu behalten, seine Aufregung nicht zu verraten, seine Handlungen zu kontrollieren. Endlich fördert das Theaterschaffen in seiner Anwendung in allen Schulfächern die Selbsttätigkeit und Selbständigkeit der Schüler, was für die neue Schule besonders wertvoll ist. Theateraufführungen und die Anwendung von Theatermethoden geben jeder Individualität die Möglichkeit, ungehindert zum Ausdruck zu kommen und frei zu schaffen."' 13 Mit Hilfe dieser Methode soll auch das selbständige literarische Schaffen der Kinder angeregt werden. 2. Schultheater Kerschenzew betrachtet Theateraufführungen mit Schülern nicht als Freizeitbeschäftigung der Kinder, deren Erarbeitung vor allem außerhalb des Unterrichts erfolgt; er verknüpft die Inszenierungen nicht nur mit dem Unterricht, sondern macht sie zum Gegenstand der Schulstunden. Alle künstlerischen Fächer werden in die Inszenierungsarbeit einbezogen: Im Literaturunterricht werden das Stück analysiert, die Konzeption erarbeitet und die Rollen einstudiert, im Zeichenunterricht die Dekorations- und Kostümentwürfe angefertigt, im Werkunterricht Requisiten hergestellt usw. Sogar der Turnunterricht dient der Erarbeitung „plastischer Szenen" (lebender Bilder). Ist z. B. ein Stück von Shakespeare zur Aufführung vorgesehen, studieren die Schüler diese Epoche und lernen zugleich, aus den historischen Gegebenheiten das Typische herauszuarbeiten, um ein naturalistisches Kopieren der Vergangenheit zu vermeiden und zu Stilisierungen für die Inszenierung zu kommen. Von der ersten Klasse an sollen die Kinder zwei- bis dreimal im Schuljahr an einer Schüleraufführung mitwirken, sei 3

Hoffmann

33

es durch einen Gedichtvortrag oder durch Teilnahme an einer Inszenierung. „Ein bis zwei Monate denkt die ganze Klasse nur an diese Aufführung, alle Unterrichtsstunden stehen auf diese oder jene Weise mit ihr im Zusammenhang und werden durch die allgemeine Aufgabe innerlich miteinander verbunden." 4 4 Solche Aufführungen geben der künstlerischen Tätigkeit der Kinder einen produktiven Sinn und spornen ihre schöpferischen Kräfte an. Aber Kerschenzew betont zugleich, daß die Inszenierung eines Stückes nicht die gesamte ästhetische Bildung der Kinder in Anspruch nehmen darf, und er entkräftet damit den berechtigten Einwand, daß der Unterricht in diesen Fächern auf keinen Fall nur nach den Anforderungen von Theateraufführungen aufgebaut werden kann, sondern von der ersten Klasse bis zur letzten pädagogischen Prinzipien folgen muß. „Die Aufführungen müssen den Kindern einen Anstoß zum selbständigen Schaffen geben, sie müssen die lebendige Vereinheitlichung aller Arten der Kunst innerhalb der Schularbeit ermöglichen, sie dürfen aber nicht die ganze Arbeit der ästhetischen Bildung der Kinder für sich in Anspruch nehmen." 4 5 Die Vereinigung aller Künste zur Synthese der Aufführung und die Kollektivität des schöpferischen Schaffens will Kerschenzew auch im Schultheater verwirklichen. Aber er ordnet das Schultheater völlig der Pädagogik unter. Es ist für ihn nicht Theater in der Schule, sondern Theater der Schulung. Durch Theater wird zum sozialistischen Theater erzogen, durch künstlerische Betätigung werden individuelle Fähigkeiten und Anlagen entwickelt und Selbstkontrolle, Selbstdisziplin und Selbständigkeit geübt. Damit engt Kerschenzew nicht nur die ästhetische Erziehung auf die künstlerische Ausbildung ein, er beschränkt auch die erzieherische Wirkung des „pädagogischen Theaters". Politische Bildung, Bewußtseinsbildung, das E r lernen sozialer Verhaltensnormen usw., all diese wichtigen Funktionen des Theaters haben in seinem KindertheaterModell keinen Platz. Für die Aufführung von Stücken mit zeitgenössischem Sujet gibt er z. B . einen einzigen Hinweis, und den nur für die Ausstattung: „Bei Stücken nichthistorischen Inhalts werden sich die Aufgaben der Malerei in absoluter Form darbieten - hier wird man unmittelbar an das Problem der Linien und Farben, der Bühnenperspektive und der Flä-

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chenkomposition herantreten können." i 6 Grundlage dieses Schultheaters ist der Lehrplan. Kerschenzew klammert den Freizeitbereich der Kinder, in dem sie aus Spaß Theater spielen, aus. Sein Schultheater hat auch keinen Zuschauer. Es sind Aufführungen für die Spieler. Dieser Schluß ist berechtigt, denn das Verhältnis Darsteller-Publikum spielt in seinem Buch eine zentrale Rolle, aber in dem hier zur Debatte stehenden Kapitel ist mit keinem Wort die Beziehung Schüler-Schauspieler und Schüler-Zuschauer erwähnt. Sicherlich ist die Verbindung der Inszenierung mit dem Unterricht nicht auszuschließen, aber allein der praktische Grund, d a ß im Unterricht vor allem Wissen vermittelt werden muß, delegiert die Einstudierung der Rollen oder z. B. die Anfertigung der Dekorationen und Kostüme wie die Vorstellung selbst in die Freizeit der Kinder. Hier haben die Kinder auch Gelegenheit, nicht nur mit Gleichaltrigen, nicht nur innerhalb des Klassenkollektivs, sondern in einem neuen Kollektiv, das durch die gemeinsame Aufgabe verbunden ist, voneinander zu lernen, sich schöpferisch anzuregen. So beschreibt Kerschenzew nur eine Seite des Schultheaters, und indem er andere Möglichkeiten ausklammert, verletzt er letztlich auch die Dialektik von Pädagogik und Theater in der Schule, von Bildung und Kunst überhaupt. Im Unterschied zu Kerschenzew trennt Lunatscharski die Verwendung theatralischer Elemente als Unterrichtsmethode vom Schultheater, in dem Aufführungen von künstlerisch wertvollen Stücken, die den Kindern zugänglich sind, durch die Kinder selbst dargestellt werden. E r ordnet die Schüleraufführung nicht der Pädagogik unter, die künstlerische Tätigkeit steht bei ihm vielmehr im Vordergrund. Kerschenzew macht das Schultheater zum Gegenstand des Unterrichts, und diese Auffassung bestimmt auch seine Sicht auf das Verhältnis zwischen Schule und professionellem Theater für Kinder und Jugendliche. 3. Theater für Kinder und Jugendliche Im professionellen Theater sieht Kerschenzew eine Ergänzung des darstellenden Spiels in der Schule. Der Besuch von Theatervorstellungen soll nicht zufällig sein, sondern durch ein bestimmtes System von den Schülern selbst geregelt werden. Kerschenzew fordert von den Theatern besondere Aufführun3«

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gen für verschiedene Altersgruppen und zieht die Schaffung spezieller Theater für Kinder und Jugendliche in Erwägung. „Erstens ein Theater für Kinder, verbunden mit einem Puppenund Marionettentheater, zweitens irgendein Theater, in dem Stücke aufgeführt werden, deren Kenntnis für die literarische Bildung der Kinder notwendig ist, und außerdem vielleicht ein Theater mit einem historischen Repertoire. In den Hauptstädten mit großer Schulbevölkerung könnte das Repertoire solcher pädagogischen Theater (die vielleicht zugleich auch Wandertheater sein können) gänzlich auf das Unterrichtsprogramm der Schulen eingestellt sein; wird z. B. im Herbst Puschkin durchgenommen, dann werden im Theater entsprechende Stücke aufgeführt, und wenn die Schüler im Januar an Tolstois Werken arbeiten, ändert sich das Repertoire dementsprechend. Gewiß werden solche Theater gewissermaßen nur Hilfsmittel des Anschauungsunterrichts sein. Die hauptsächliche Aufmerksamkeit wird stets selbständigen Aufführungen gelten." 47 Kerschenzew legt großen Wert darauf, daß die Schüler sich auf die Theateraufführungen vorbereiten. Im Unterricht sollen das Stück nicht nur gelesen, die Figuren analysiert und das Genre bestimmt werden, sondern die Schüler erarbeiten eine Regiekonzeption, entwerfen die Ausstattung und spielen selbst. Auf diese Weise soll eine kritische Rezeption der Aufführung erreicht werden. Nach der Vorstellung erfolgt die Auswertung des Gesehenen, der Vergleich zwischen der Konzeption der Schüler und der des Theaters. „Gleichzeitig wird eine ausführlichere Kritik des Werkes und der Aufführung vorgenommen, eine sorgfältigere Wertung des Inhalts, der Form, der Deutung. Es wird nützlich sein, den Schülern vorzuschlagen, einzelne Szenen selbst aufzuführuen, wobei zum Teil das Gesehene wiederholt, zum Teil Neues geschaffen wird. Vielleicht gelingt es dabei, Improvisationen einzuleiten, die das literarische Thema selbst oder den Standpunkt verändern. Auf diese Weise werden solche Musteraufführungen bei den Schülern eine schöpferische Aufnahme und Verarbeitung finden. Das .wirkliche' Theater wird dem in pädagogischer Hinsicht wichtigeren,Schultheater', dessen Schöpfer allein die Schüler sein werden, ein Ansporn sein." 48 Die proletkultistischen Auffassungen zum Kindertheater fan36

den in einer pädagogischen Richtung, die sich den Namen „Pädalogie" gab, einen günstigen Boden. Der ideelle Kern der „Pädalogie" besteht darin, der kindlichen Individualität einen größtmöglichen Raum zu freier Entfaltung zu geben, d. h., daß jede Einschränkung und Bevormundung durch Erzieher, Eltern und Lehrer, Staat und Gesellschaft unterbleiben sollen, um dem natürlichen Wachstum der jungen Persönlichkeiten nicht hinderlich zu sein. 49 Dabei wird von der These ausgegangen, daß der „Instinkt" der Kinder, die im Sozialismus aufwachsen, von selbst sozialistische Verhaltensnormen hervorbringt. Man proklamiert die weitgehende Selbstgestaltung des Unterrichts, fordert die Abschaffung der Zensuren 30 und sieht in der produktiven Tätigkeit, in Spiel und Arbeit, die wesentlichsten Erziehungsmittel. „Das Kind dürstet nach Aktivität, die es in ständiger Unruhe hält. Es eignet sich mit unerhörter Leichtigkeit Wissen an, wenn es ihm in der aktiven und freien Form des Spiels oder der Arbeit dargeboten wird, Formen, die bei geschickter Organisation zusammenfallen können." 51 Für diese Kombination ist das Theater der ideale Ort, hier kann auch der „dramatische Instinkt" der Kinder zur Wirkung kommen. Die „Pädalogie" erhielt durch die Besprisorniki ein weites Feld zur praktischen Erprobung ihrer Methode und erlangte besonders auf dem Gebiet der ästhetischen Erziehung in den zwanziger Jahren einen großen Einfluß. 5 2 * Kerschenzew verabsolutiert die Bildungsfunktion des Theaters, er macht es zum „Hilfsmittel des Anschauungsunterrichts" in der Schule. Er ignoriert das Wesen des Theaters, das sich aus seiner vielschichtigen Funktionalität ergibt. Damit vereinseitigt er auch seine erzieherische Wirkung, die nicht nur in der Vermittlung von literarischen Kenntnissen und ästhetischen Werten besteht, sondern in seinem Erlebnischarakter. „Die erzieherische Kraft der Kunst wirkt gerade dadurch, daß sie erlebt wird.", schreibt Kagan, „Etwas zu erleben bedeutet, das betreffende Ereignis, die Erscheinung oder Handlung seinem persönlichen Leben einzufügen, sie, wie die Psychologen sagen, zum Fakt der Biografie zu machen [. . .] Bei allen Besonderheiten des emotionalen Einflusses der Kunst auf den Menschen, das Erlebnis ist die Kraft, die sowohl den Verstand als auch die psychischen Bereiche der Per37

sönlichkeit bewegt. Damit ist die Kunst nicht mehr nur Kommunikationsmittel oder nur eine Quelle des Genusses oder nur ein Mittel zum Kenntniserwerb. Neben diesen und zusammen mit diesen Aspekten dient sie der E r w e i t e r u n g u n d B e r e i c h e r u n g d e r L e b e n s e r f a h r u n g . Sie erweitert die Biografie der Persönlichkeit, indem sie die fremde Erfahrung zur eigenen macht, sofern sie sie zu .meinem' Erleben macht [. . .]" 5 3 Diese Bedeutung hat das Theater besonders für junge Menschen, deren Lebenserfahrung noch gering ist, denen viele Lebensbereiche noch verschlossen sind, die sich aber die Welt aneignen und ihren Platz in der Gesellschaft suchen. Das Theater hat die Möglichkeit, Lebensbereiche künstlerisch zu erschließen, die die Kinder weder räumlich und zeitlich noch auf Grund ihres Alters, ihrer relativ begrenzten Umwelt in der Wirklichkeit kennenlernen können. Und das Theater erweitert den Horizont der jungen Persönlichkeit zielgerichtet: Indem es bewußt an den Erfahrungsstand der Kinder anknüpft, kann es die Bedürfnisse der Kinder mit den Erziehungszielen der Gesellschaft organisch verbinden. Kinder eignen sich mehr noch als Erwachsene die Wirklichkeit über deren Abbilder, insbesondere der künstlerisch-literarischen, an. Sie nehmen auf diese Weise teil an der „umwälzenden Lebenspraxis", von der in der Einleitung die Rede war, und sie werden in dem Maße zum Subjekt in der Erziehung, wie sie die durch Kunst erzählten Vorgänge im Erleben zum „Bestandteil ihrer Biografie" machen. Kerschenzew reduziert die Funktion des Theaters auf die Ausbildung und verengt damit seinen Gesamtbezug zur Persönlichkeit des Heranwachsenden. Der unter bestimmten Aspekten wichtige Ansatz zur Konstituierung eines produktiven Verhältnisses zwischen Theater und Schule (wichtig z. B. unter dem Gesichtspunkt der musischen Erziehung) soll dabei keineswegs geschmälert werden. Nicht grundlos sind die ersten Theatereindrücke für Kinder so nachhaltig. Kinder sind aufnahmebereite, neugierige, wißbegierige Zuschauer, und Theatererlebnisse können die Ausprägung der jungen Persönlichkeit tief beeinflussen. Dennoch ist das Theater kein „Mittel der Erziehung", es erreicht seinen Zuschauer spielerisch, indem es ihm vergnüglich ist. Hierin besteht die Eigenständigkeit des 38

Theaters gegenüber der Schule. B e i d e Seiten verbindet d a s von der Gesellschaft bestimmte Erziehungsziel, aber die W e g e zu ihm sind verschieden. Kerschenzews Forderung, das Repertoire eines Kinder- und Jugendtheaters dem Lehrplan der Schule anzugleichen, ist so alt, wie Theater und Schule miteinander kommunizieren, und sie ist auch heute durchaus nicht verstummt, sondern wird immer wieder von P ä d a g o g e n erhoben. Sicher geht es heute nicht mehr darum, das Theater als Illustration des Lehrstoffes zu benutzen, sondern um das Bemühen, Wissensvermittlung erlebnisreich zu gestalten. A b e r die Schüler nehmen diesen Aufführungen gegenüber oftmals die Erwartungshaltung „ L a n g e w e i l e " ein, sie sehen darin eine Fortsetzung des Unterrichts mit anderen Mitteln. Sie kennen den Inhalt: D e r Reiz, etwas N e u e s zu erfahren, f ä l l t also von vornherein weg, sie haben sich mit dem Ideengehalt und den Figuren gründlich auseinandergesetzt und ihre dabei gezeigten Leistungen wurden benotet. D i e s e Betrachtungsweise macht nicht neugierig auf T h e a t e r . D a s Theater, das ein solches „Lehrplanstück" inszeniert, steht vor dem Problem, es entweder so zu spielen, daß es der komplexen Betrachtungsweise der Schule entspricht, oder aber unmittelbar auf den Adressaten, auf die Bedürfnisse der jungen Zuschauer einzugehen. D e r Akzent wird zweifelsohne ein anderer sein müssen, ohne daß darin ein Widerspruch zu suchen i s t . 5 4 * Sicher sollte man hier bei Verallgemeinerungen vorsichtig sein, denn nicht immer wird eine Literaturstunde das Theatererlebnis beeinträchtigen: dessen Vorbereitung kann auch anregend sein. A b e r die Schüler werden mit einem Stück, d a s sie im Unterricht behandelt haben, immer eine andere E r w a r tungshaltung verbinden als mit einer Aufführung, die sie sich aus eigenem Antrieb und Interesse ansehen. D a s Theater muß in seiner Inszenierungskonzeption auch eines Lehrplanstückes am Bedürfnis des jungen Zuschauers und nicht an der Ana^ lyse des Lehrers anknüpfen. D e r extremen A u f f a s s u n g Kerschenzews kann man nicht das E x t r e m entgegensetzen, daß Theater und Schule nichts miteinander verbinde. Obgleich Zuschaukunst in erster Linie im Rezeptionsprozeß selbst erlernt wird, ist eine Vorbereitung durch die Schule dann nützlich, wenn sie die richtige E r w a r 39

tungshaltung vermittelt, wenn es dem Lehrer gelingt, mit dem Kunstwerk persönliche Bereiche der Jugendlichen anzusprechen, so daß die Begegnung mit ihm für den jungen Menschen zu einer persönlichen Beziehung und nicht nur Gegenstand der Wissensvermittlung wird. „Theater sehen kann gelernt werden ohne Gelehrsamkeit, aber nicht ohne Kenntnisse!" 5 5 sagt Brecht. Obgleich Kerschenzews Vorschlag für die Vorbereitung und die „Auswertung" der Theateraufführung nicht nur die literarische, sondern auch die theatralische Seite in Betracht zieht - das Spielen des Stückes durch die Schüler, die Erarbeitung der Regiekonzeption und der Entwürfe für die Ausstattung - , gilt sein Interesse weniger der Erziehung zur Zuschaukunst im Theater, sondern der Erziehung von kritischen Spezialisten des Theaters. Es sei damit keineswegs geleugnet, daß ein Mensch das Kunstwerk genußvoller aufnehmen wird, je besseren Einblick er in den Prozeß des künstlerischen Schaffens hat; aber man kann auch nicht behaupten, daß der Theaterkritiker der beste Zuschauer sei. Kerschenzew legt den Akzent nicht auf die Wechselwirkung von Produktion und Rezeption, sondern auf die Selbsttätigkeit der Schüler, die an Musteraufführungen professioneller Kunst lernen sollen. Er bewertet die schöpferische Rezeption als geringer gegenüber der Produktion, doch in der Dialektik beider Seiten besteht der ideale erzieherische Effekt. Neuerdings wird die Meinung laut, daß dem darstellenden Spiel der Kinder gegenüber dem Berufstheater für Kinder der Vorrang gebühre. Sie wird vor allem von Vertretern des Kindertheaters in kapitalistischen Ländern geäußert, die aus der „antiautoritären Welle" hervorgegangen sind. Tatsächlich kann unter antagonistischen Verhältnissen dem Laienschaffen der unterdrückten Klasse, und dazu gehört natürlich auch das Theaterspiel mit Arbeiterkindern, der Vorzug gegenüber dem etablierten Kindertheater der herrschenden Klasse gegeben werden. Aber auch dann ist die generelle Ablehnung des professionellen Theaters für Kinder doktrinär, denn auch diese Theaterform kann revolutionär verändert werden, um Aufführungen hervorzubringen, die gesellschaftliche Haltungen der Kinder produzieren, ohne daß die Kinder selbst die Aufführungen produzieren.

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Unter den vorgebrachten Einschränkungen enthält Kerschenzews Schultheater-Programmatik, besonders dort, wo sie Lunatscharskis Auffassungen folgt, eine Reihe von Anregungen für die Anwendung theatralischer Formen im Unterricht, die für uns heute von Wert sind.

Auffassungen %um professionellen Kinderund Jugendtheater von Alexander A. Brjan^ew Alexander Brjanzew gehörte zu den ersten, die Lunatscharskis Vorschlag, besondere Theater für Kinder zu schaffen, aufgriffen. Er ging dabei von zwei Erfahrungen aus: Einmal verfügte er über eine achtzehnjährige Theaterpraxis als Schauspieler und Regisseur, zum anderen entschloß er sich nach der Revolution, angesichts der verwahrlosten Kinder, als Erzieher zu arbeiten. 56 * Dabei nutzte er auch das Theater, veranstaltete Massen- und Theaterspiele mit diesen Kindern und besuchte mit ihnen Vorstellungen der Petrograder Bühnen. Beide Momente waren für ihn der Ausgangspunkt seiner Auffassung des Kinder- und Jugendtheaters, die er in der Zeitschrift Schisn iskusstwa vom 13. 9. 1921 darlegte und der er im Grundsätzlichen während seiner fast vierzigjährigen Tätigkeit als Regisseur und Leiter des Leningrader Theaters für junge Zuschauer (Tjus) treu blieb. „Der Zuschauer - das ist der einzige und unantastbare Anfang, auf den sich jedes Theater in seiner Kunst stützen muß. Mit diesem Satz beginnt Brjanzew seinen programmatischen Artikel, 5 7 und er steht am Anfang aller seiner Überlegungen zum Kinder- und Jugendtheater. Brjanzew vertrat die Ansicht, daß ein Theater nur einen Stil findet, wenn es seinen Zuschauer gefunden hat. Da der künstlerische Prozeß auf der Bühne mit dem Rezeptionsprozeß zusammenfällt, ist gemeinsames schöpferisches Handeln von Schauspielern und Zuschauern nur dann möglich, wenn der Schauspieler die Kenntnisse, die Lebenserfahrung und die Bedürfnisse seines Zuschauers berücksichtigt. Aus diesem Grunde spricht Brjanzew auch jeder „größeren Altersgruppe" das Recht auf eigenes Theater zu, also auch den Kindern und Jugendlichen. Als Mitglieder der Comédie Française 1927/28 41

die Sowjetunion besuchten, um das Theaterleben in Moskau und Leningrad zu studieren, gehörte das Leningrader Theater der jungen Zuschauer unter diesem Aspekt zu ihren stärksten Eindrücken. Der neue Weg vom 1. 5. 1928 berichtet darüber: „L. Lara und E. Antant, Mitglieder der Comédie Française, kommen zu einem Gesamtergebnis, das dem russischen Theaterleben zu seiner künstlerischen Vitalität, seiner technischen Struktur und der Art seiner schauspielerischen Schulung eine bedeutende Überlegenheit über das heutige französische Theater zuspricht. Als einen der wichtigsten Gründe für diese Unterschiedlichkeit heben sie das Verhältnis zwischen Bühne und Publikum hervor, das in Rußland ein so enges und wirksames ist, daß es das Theater zu höchsten Leistungen anspornt, während in Frankreich das Theater kaum wirkliche Ermutigungen und Unterstützung empfängt, vielmehr der Willkür einer Menge ausgesetzt ist. Die Verfasser beschäftigen sich besonders eingehend auch mit dem russischen .Theater der Kinder'. Aber wenn eine Aufführung nur im Zusammenspiel mit dem Zuschauer lebendig wird, muß sich das Theater auf sein Publikum einstellen, eine „Spielvereinbarung" herstellen. Brjanzew schlußfolgert: Das Theater, das sich an ein jugendliches Publikum wendet, muß dessen Aufnahmevermögen berücksichtigen. Das bedeutet keineswegs die Beschränkung der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten des Theaters. „Das Tjus muß vor allem ein Theater bleiben, aber seine Aufführungen, Werke der Schauspielkunst, müssen fähig sein, die jungen Zuschauer zu einer echten Freude am Theater zu begeistern, müssen fähig sein, schöpferisch ihre junge Phantasie zu befruchten." 39 Dieser entscheidenden Aufgabe muß sowohl die Interpretation als auch das Repertoire dienen. Brjanzew vermeidet den Begriff Kinderstück und grenzt sich nachdrücklich von den bürgerlichen sogenannten Kinderstücken ab. Der Spielplan des Tjus stützte sich in den ersten Jahren auf das klassische Märchen (Jerschow, Andersen, Grimm) für die unteren Schulklassen, wobei Brjanzew auf die Dramatisierung der Märchen verzichtet: Er nimmt lediglich eine Bühneneinrichtung vor und erhält die epische Struktur und damit die literarische Qualität der Vorlage. Für die älteren Schüler sieht der Spielplan Werke der russischen und internationalen Klas42

sik (Gribojedew, Puschkin, Gogol, Ostrowski, Molière, Shakespeare, Schiller u. a.) in genau durchdachten Bearbeitungen vor. 6 0 * Darüber hinaus werden auch Stücke nach Motiven epischer Werke der Weltliteratur inszeniert, z. B. Tom Sawyer, Gavroche, Till Ulenspiegel und Don Quichote. Besonders die Don-Quichote-Inszenierung (Regie: B. Son) mit N. K. Tscherkassow in der Titelrolle ging als legendäre Aufführung in die sowjetische Theatergeschichte ein. 6 1 * In der Spielzeit 1924/25 erscheint das erste zeitgenössische Stück, das den Aufbau der neuen Welt und das Leben der Kinder zum Gegenstand hat, auf der Bühne des Tjus. Timoschkin Rudnik von L. Makarjew gehört zu den ersten bemerkenswerten Stücken des Kindertheaters jener Zeit und der jungen Sowjetdramatik. Diesen hohen Anspruch an das Repertoire richtete Brjanzew auch an die Schauspieler und an seine Mitarbeiter. Er ist Ausdruck seiner Achtung vor dem jungen Zuschauer. In einem ausführlichen Beitrag beschreibt A. Hackel das Leningrader Tjus in der Szene vom August 1929. Es heißt darin: „Als erfahrene Pädagogen wußten sie aber auch (Lehrer, Schauspieler, Regisseure und Musiker des Tjus - C. H.), wie unbeständig die Aufmerksamkeit, wie unmittelbar die Aufnahmefähigkeit des Kindes ist. Sie forderten daher Formklarheit, Struktur und Gesetzmäßigkeit der Handlung, die höchste Aufopferung und Schulung des Schauspielers. Sie wollten ein synthetisches Theater schaffen, in dem Musik und Pantomime, Wort und Bild ein organisches Ganzes bilden sollten; sie erhofften von der Berührung mit dem jugendlichen Auditorium und seiner unmittelbaren Erlebnisfähigkeit eine Renaissance des Schauspiels schlechthin. Um diese Aufgabe zu verwirklichen, bedurfte es zunächst einer n e u e n B ü h n e n f o r m . Man fand einen Saal, der diesen Anforderungen entsprach. Man beseitigte das Parterre und schuf eine Art Arena, die der antiken Orchestra nahe kam. Um sie dehnte sich amphitheatralisch die stufenförmige Anlage des Zuschauerraums. Über der Orchestra erbaute man ein Podium, eine Art Proszenium, an das sich die eigentliche Bühne anschloß, von jenem durch einen niedrigen Vorhang getrennt. Den Abschluß der Bühne bildete eine dreirangige Oberbühne. Die Dreiheit von Vorder-, Hinter- und Oberbühne (Shakespeare-Bühne), mit der 43

Orchestra des antiken Theaters verbunden, erforderte die Kontinuität der Handlung und ermöglichte dem Schauspieler, auf allen drei Bühnen gleichzeitig zu spielen und so in fortwährendem Kontakt mit dem jugendlichen, spontan reagierenden Auditorium zu bleiben. Das Genie im Kinde sollte das Schöpferische im Schauspieler befruchten und entfesseln, der Spieltrieb der Artisten durch den Spieltrieb des Kindes gesteigert werden, und tatsächlich entpuppten sich die Kinder als wahre Spielgenossen des Schauspielers. Diese neue, offene dreidimensionale Bühne stellt an den Schauspieler ungeahnte Forderungen. Die jugendlichen Zuschauer, so führte der Begründer dieses Theaters, Brjanzew, aus, müssen vom Darsteller gezwungen werden, ihm zu folgen. Nur durch das dynamische Tempo, durch wechselseitige Befruchtung von Akrobatik und Musik, Wort und Tanz kann die an sich unbeständige Aufmerksamkeit des Kindes von Anfang an gefesselt werden. Nur so vermag der Darsteller die Führung zu übernehmen und das leicht erregbare Auditorium in das Schauspiel mit hineinzuziehen." 62 Brjanzew lehnt das traditionelle Bühnenhaus ab, also Ränge, die das Theater in gute und schlechte Plätze teilen, und die Rampe, die die Bühne vom Zuschauerraum trennt. Er wählte die Form des Amphitheaters, weil sie von allen Plätzen eine gute Sicht erlaubt und den „Lärmvorhang", wie Brjanzew sagt, der bei Kindern, die laut ihre Eindrücke äußern, entsteht, zurücknimmt. „Man erinnere sich, wie in der Kindheit die Erwachsenen zu uns sagten: Setzen wir uns alle im Kreis hin. Sie wollten auf diese Weise unsere Aufmerksamkeit konzentrieren. Ein solcher großer ,Kreis' ist dieses Theater", sagte der Architekt des neuen Tjus in Leningrad, Juri Aljanski. 6 3 * Das Amphitheater erhöht das Gefühl der Gemeinsamkeit, der Kollektivität der Zuschauer untereinander, der Zuschauer und der Schauspieler. Das Publikum wird unmittelbar in die Handlung einbezogen und das Erlebnis dadurch stärker. Für Brjanzew, der im Zuschauer einen schöpferischen Mitgestalter der Aufführung sah und der Ausstattung des Zuschauerraums große Bedeutung zumaß, war das Amphitheater die beste Form für die künstlerische und damit erzieherische Wirkung des Theaters auf ein jugendliches Publikum. 6 ' 1 * „Guckkastenbühne" und herkömm44

licher Zuschauerraum erwecken, nach der Ansicht Brjanzews, im Kind eine zweifelhafte Vorstellung von den geheimnisvollen Vorgängen auf der Bühne, die Illusion der Echtheit einer besonders phantastischen Welt, die von der Wirklichkeit getrennt existiert. „Das Tjus [. . .] zerstört den alten Kanon des Schauspiels, indem es die traditionelle Bühne und den Logensaal ablehnt und das Theaterschauspiel als ein breit entwickeltes Spiel ohne irgendwelche Illusionen einer anderen Welt darstellt." 6 5 * Brjanzew betont den pädagogischen Aspekt dieses Theaters, und er ist der erste, der die Organisation des Theaters in enger Verbindung mit der Schule sucht, der innerhalb des Theaters die Wechselwirkung von Kunst und Pädagogik verwirklicht. E r sagt: „Hier (im Tjus - C. H.) müssen sich Bühnenkünstler, die fähig sind, wie Pädagogen zu denken, mit Pädagogen, die berufen sind, wie Künstler zu fühlen, vereinigen, und gemeinsam müssen sie geistig jung bleiben und müssen selbst aufrichtig mit den Altersgenossen ihrer Zuschauer fühlen. Dazu gehört die Kenntnis ihres Lebens und die langjährige Erfahrung mit ihren Besonderheiten. Die künftigen Mitarbeiter des Tjus müssen mit ganzer Seele ihr Theater, ihren Zuschauer lieben, ebenso wie sich selbst. Wer das nicht aufrichtig tun kann, darf am Tjus nicht arbeiten, weil für Kinder und besonders für Jugendliche nichts widerlicher ist, als ein herablassendes Lächeln des Erwachsenen, der seine Quasi-Überlegenheit zur Schau stellt. Wenn Sie mit den Kindern spielen wollen, werden Sie selbst wie Kinder und das bedeutet: seien Sie bis zum E n d e aufrichtig vor sich selbst." 6 6 Für Brjanzew sind Kinder und Jugendliche ein vollwertiges Publikum, die Achtung vor ihm ist die Haupttendenz seines Programms und seiner Arbeit. Aus diesem Grunde vermeidet er auch den Begriff „Kindertheater"; er spricht vom „Theater der jungen Zuschauer". Dieser Name, er wurde von den meisten sowjetischen Kinder- und Jugendtheatern übernommen und ist auch in den anderen sozialistischen Ländern gebräuchlich, drückt nicht nur die Haltung Brjanzews zum jungen Zuschauer aus, sondern charakterisiert auch das Wesen des Leningrader Tjus selbst. Brjanzews Theaterkonzeption hat nicht die Pädagogik, sondern das Theater zum Ausgangspunkt. Am Anfang steht für ihn nicht das didaktische Ziel, sondern 45

der Zuschauer. In seinen pädagogischen Überlegungen berücksichtigt Brjanzew die Eigenschaft des Theaters, d a ß das Kunstwerk Aufführung nur unter der Mitarbeit des Zuschauers entsteht, und so sucht er im schöpferischen Miteinander von Schauspielern und Zuschauern die erzieherische Wirkung des Theaters zu verwirklichen: Keine Erziehung „von der Bühne herab", sondern gemeinsames Spiel, das den künstlerischen Prozeß auf der Bühne fördert und die aktive Rezeption der Aufführung zum Erlebnis macht. „Als die Hauptmerkmale des jugendlichen Zuschauers bezeichnet [. . .] A. Brjanzew das Unmittelbare seiner Aufnahmefähigkeit und die Beweglichkeit und Unbeständigkeit seiner Aufmerksamkeit. Aus diesen Eigenschaften ergeben sich für Spielleiter und Darsteller besondere Aufgaben. So ist es unbedingt notwendig, den Ansprüchen eines solchen Zuschauers zuvorzukommen: In der Reihe der aufeinanderfolgenden Eindrücke des Spiels muß der Zuschauer vom Darsteller gezwungen sein, ihm zu folgen, und nicht etwa umgekehrt. Der Darsteller eines Kindertheaters muß die kindliche Psychologie verstehen, m u ß überlegt die Handlung entwickeln und die Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht länger, als es für die Vertiefung des Eindrucks absolut notwendig ist, bei Details fesseln; er muß bestrebt sein, stets die Initiative zu behalten [. . .] Es ist aber sicher, daß, wenn die Kunst für Kinder ebenso hoch qualifiziert sein soll wie für Erwachsene, dann sind die Ansprüche an die formale Klarheit, an die Struktur, an die Reinheit, die Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit in der Kunst für Kinder von ganz besonderer Bedeutung", heißt es in einer Beschreibung der Arbeitsweise des Leningrader Tjus in der Zeitschrift Das neue Rußland anläßlich des fünften Jahrestages des Tjus. 6 7 Brjanzew warnt in diesem Zusammenhang vor der Gefahr, d a ß das Kinder- und Jugendtheater seine Spezifik zu eng auffaßt, und er lehnt es strikt ab, die künstlerischen M a ß stäbe an das Theater den Forderungen der Pädagogik unterzuordnen. Aber er gibt auch nicht dem noch ungenügend ausgebildeten ästhetischen Urteil der jungen Zuschauer nach, sondern für ihn ist nur dann etwas gut für Kinder, wenn es auch für Erwachsene gut ist. „Alles, was wir an Interessiertheit bei den jungen Zuschauern voraussetzen, muß auch für die E r 46

wachsenen interessant sein", 68 sagt er vor der Generalprobe der Eröffnungspremiere. „Brjanzew, der nicht die Spezifik des Theaters für Kinder leugnete, hat immer betont, daß die Besonderheiten der kindlichen Auffassungsgabe und des Begriffsvermögens nicht zur Vereinfachung führen dürfen, sondern zur maximalen Erschließung des Inhalts des Stückes, in der durchdachten genauen Interpretation durch den Regisseur im vollgültigen Spiel des Schauspielers, ohne jegliche Zugeständnisse und Anpassung." 69 Das Leningrader Tjus eröffnete am 23. Februar 1922 mit dem Buckligen Pferdchen, einem Märchen nach Jerschow in der dramaturgischen Bearbeitung von Gorlow. Diese Inszenierung Brjanzews illustriert nicht nur seine theoretischen Auffassungen, sie ist selbst ein künstlerisches Dokument. Sie bestimmte die Entwicklung des Leningrader Tjus in den zwanziger Jahren, beeinflußte das sowjetische Kindertheater insgesamt und ist bis heute ein Beispiel großer Theaterkunst für junge Zuschauer. Nach dem Tode Brjanzews, 44 Jahre nach der Uraufführung, inszenierte das Tjus nach dem Modell das Märchen neu, und die Aufführung erweist sich auch heute als lebendig und zeitgemäß. Brjanzew sah in den Traditionen des russischen Volkstheaters einen Anknüpfungspunkt für das Kinder- und Jugendtheater. Dafür spricht die Wahl des Volksmärchens und vor allem der Inszenierungsstil der Aufführung, die fast einem Volksfest gleichkommt. Die Verse und die epische Struktur der Vorlage wurden beibehalten. Zwei GusliErzähler 7 0 * geben einen Bericht, Chöre begleiten die Handlung mit Gesängen und Tänzen und kommentieren das Geschehen. Die direkte Rede im Märchen wurde zum Dialog. Die Bewegung der Chöre, die großen Volksszenen, die simultan gebaute Dekoration, das Spiel, das bis in den Zuschauerraum hineingetragen wurde, schufen die beeindruckende Dynamik dieser Aufführung und unterstrichen den Charakter eines Massenspiels, wobei das Spiel auf der Volksebene der epischen Vorlage angepaßt war, was ihr einen großen Gestus gab, während die Hofszenen fast satirisch gespielt wurden. Brjanzew wählte diese Mittel des Volkstheaters noch aus einem anderen Grunde: Sie schienen ihm verwandt mit den Spielen der Kinder. L. Schpet berichtet: „Brjanzew erzählte, 47

daß er beim Buckligen Pferdeben auf Erfahrungen zurückgriff, die er bei der Dramatisierung des Märchens Vom Fischer und vom Fischlein - die er selbst mit seinen Zöglingen im Kinderheim aufführte - gewonnen hatte. Das Theaterspiel der Kinder, die sowohl den Fischer als auch das Meer, das Netz, das Fischlein und selbst den zerbrochenen Trog darstellten, ist ein Spiel, das sich entfaltet in Umzügen, Reigen, die neben den Darstellern auch die Zuschauer einbezogen. Das Theaterspiel der Kinder bewegte den Regisseur Brjanzew auch dazu, das Prinzip der Massenhandlung und seinen synthetischen Charakter aufzustellen, sowie den Grad seiner Bedingtheit, welche dem darstellenden Spiel der Kinder eigen ist." 71 Das Leningrader Tjus war auch das erste Kinder- und Jugendtheater, das das Mitspracherecht der Zuschauer organisierte. Seit 1924 besteht am Theater ein „Kinderparlament", das in einer Delegiertenversammlung, zu der jede Schule Leningrads zwei Vertreter entsendet, alljährlich gewählt wird. Dieses „Parlament" berät den Spielplan, organisiert in den Schulen Freundeskreise des Tjus, führt Diskussionen, Konferenzen und Begegnungen mit Schauspielern durch, veranstaltet Wettbewerbe und Ausstellungen von Kinderzeichnungen zu Theatervorstellungen, gestaltet Wandzeitungen und richtet einen Vorstellungsdienst ein. Als Kenner des Theaters sind diese Kinder in der Lage, auf die Fragen der Zuschauer zu antworten. A. Hackel berichtet über diese Seite der Arbeit des Leningrader Tjus: „Der Theaterbesuch wird nach bestimmten Gesichtspunkten organisiert. Ein Kollegium von erfahrenen Schulmännern fand neue Wege, um die Wirkung und den Einfluß der jeweiligen Stücke, ,die Reaktionen des Zuschauers' zu prüfen und zu kontrollieren. Delegiertenversammlungen von Schulkindern wurden zusammengerufen, in denen die brennendsten Probleme des Jugendtheaters auf das eingehendste besprochen wurden. Briefe, Zeichnungen und Fragebögen wurden herangezogen und die Ergebnisse der kollektiven und individuellen Beobachtungen des Zuschauers von Fachleuten in graphischen Tabellen niedergeschrieben. Dieses Jugendtheater, das berufen ist, die Jugend kulturell und sozial zu bilden, verwandelte sich allmählich in ein einzigartiges Laboratorium, in dem die Seele des Kindes liebevoll beobach48

tet und studiert, in dem freie Meinungsäußerung des Auditoriums zur notwendigen Voraussetzung ergiebiger Tätigkeit wurde. Doch dem ästhetischen Erleben wurde durch die wissenschaftliche Beobachtung kein Abbruch getan. Das Theater des jugendlichen Zuschauers in Leningrad hat Schule gemacht." 7 2 Besonders die Verbindung Theater-Zuschauer-Schule, d. h. das Verhältnis der professionellen Theater für Kinder und Jugendliche zur Pädagogik wurde von Brjanzew konzipiert und in der Arbeit des Leningrader Tjus verwirklicht. Diese Prinzipien sind bis heute Vorbild für die Kinder- und Jugendtheater der Sowjetunion und auch für die der anderen sozialistischen Länder. Brjanzew ist der große Lehrer für die Theorie eines sozialistischen Theaters für junge Zuschauer. Heute wird vielfach behauptet, er sei in erster Linie Pädagoge gewesen. Das trifft nicht zu. E r verstand es nur, seine viel zitierte Forderung, daß der „Künstler am Kindertheater denken müsse wie ein Pädagoge und der Pädagoge fühlen müsse wie ein Künstler" in seiner Person zu vereinen und zum Leitmotiv seiner künstlerischen Arbeit zu machen. „Regisseur, Erzieher, Experimentator und Theoretiker war Alexander Brjanzew, nicht nur der ständige Leiter des Leningrader Kinder- und Jugendtheaters, s o n d e r n der Begründer der Theorie des Kindertheaters (Hervorhebung - C. H.) und jener Prinzipien, von denen wir uns auf diesem Gebiet bis heute leiten lassen: Einheit des künstlerischen und pädagogischen Elements; Differenzierung des Publikums nach der Altersstufe, und zwar genaue Definierung des Alters, an das sich jede Aufführung wendet; ständige Verbundenheit mit der Schule; das theatralische .Nachspiel' (Erörterung der Aufführung mit den Schülern, Vorträge, Öiskussionen usw.)", schreibt die Mitarbeiterin des Kindertheatersektors der W T O (d. i. Allrussische Theatergesellschaft), Irina Segedi, 1968 in der Sowjetliteratur.73 Brjanzews Auffassungen zum Kinder- und Jugendtheater, die hier nur in einigen ihrer wesentlichen Aspekte dargestellt wurden, erweisen sich heute bei der Entwicklung und Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft, in der die Persönlichkeitsbildung zu einer zentralen Aufgabe geworden ist, als 4

Hoffmann

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außerordentlich aktuell. Brjanzew bestätigt, daß das Theater eine kontemplative Betrachtung ausschließt. Er behandelt den Zuschauer als „Mitspieler" des Theaters. Pädagogik und Kunst sind deshalb für ihn nicht zwei schwer zu vereinbarende Komponenten in der Arbeit eines Kinder- und Jugendtheaters, sondern in dem dialektischen Verhältnis von Spielern und Zuschauenden sieht er einen der Erziehung und „Selbsterziehung" der Jugend sehr verwandten Prozeß.

Natalia SaTheater

— Musik — Kinder

Unter dem Thema „Theater - Musik - Kinder" fand am 8. Mai 1973 ein Gespräch mit Natalia Saz in der Möwe, dem Klub der Berliner Theater- und Filmschaffenden, anläßlich ihrer Inszenierung der Kinderoper Die drei Dicken (Libretto: Bogomasow/Musik: Rubin) in der Komischen Oper statt. Diese Begriffe sind zugleich die Markierungspunkte ihrer mehr als fünfzigjährigen künstlerischen Arbeit. Als Tochter von Ilja Saz, des Komponisten und Mitarbeiters Stanislawskis, wuchs sie in der Atmosphäre des Künstlertheaters, im täglichen Umgang mit den namhaftesten Komponisten und Künstlern jener Zeit auf. Zu einem tiefergreifenden Kindheitserlebnis wurde für sie die Aufführung des Blauen Vogel von Maurice Maeterlinck, zu der Ilja Saz die Musik geschrieben hatte. Nach dem frühen Tod des Vaters übernahmen Künstler des Moskauer Künstlertheaters ihre schauspielerische und hervorragende Musiker ihre musikalische Ausbildung. Eine Krankheit der Mutter zwang im Frühjahr 1918 die Vierzehnjährige, Arbeit zu suchen; der Leiter des Sektors Theater/Musik des Moskauer Rates der Arbeiterdeputierten, P. M. Kerschenzew, übertrug ihr die Kinderabteilung. N. Saz begann Konzerte, Programme, „Kindervormittage" und Theatervorstellungen für Kinder zu organisieren. Der Name Natalia Saz ist eng mit der Herausbildung des sozialistischen Kindertheaters verknüpft, ja, sie gilt als dessen Begründerin. Dieser Ruf ist durch historisch-biografische Fakten, durch ihr außerordentliches Engagement für das Kindertheater, ihre vielseitige organisatorische Tätigkeit mehr ge50

rechtfertigt als durch ein ausgearbeitetes theoretisches Programm. Ihre Auffassungen haben sich in ihrer organisatorischen und künstlerischen Arbeit herausgebildet. Zeitgenössische Strömungen des Theaters nach der Oktoberrevolution aufnehmend, entwickelte sie eine spezielle Richtung des Kindertheaters, die den Begriff des synthetischen Theaters übernahm und zu einem realistischen Musiktheater tendierte. Die Grundprinzipien ihrer Arbeit im ersten Jahrzehnt des Moskauer Kindertheaters legte sie in der Einleitung eines Almanachs über dieses Theater dar. Der Almanach erschien 1934 auch in geringer Auflage in deutscher Sprache. Wie Lunatscharski und Brjanzew geht Natalia Saz davon aus, daß das Kindertheater zunächst und vor allem Theater ist. Es verfügt über den üblichen Theaterapparat und steht der Schule in der Erziehung junger Menschen zur Seite. „Kleinen Kindern muß man große Kunst bieten. Wer große Kunst nicht zu meistern versteht, kann nicht am Kindertheater arbeiten auf der Grundlage dieser Überzeugung hat sich unser Theater entwickelt. Man darf den Kindern eine Aufführung nur dann bieten, wenn wirkliche, erwachsene Kunstkenner sie für tatsächlich künstlerisch wertvoll halten." 7 4 Aber nicht jede Aufführung, die künstlerisch wertvoll ist, erscheint N. Saz auch für Kinder geeignet. Aufmerksamkeit für die Besonderheiten im Aufnahmevermögen des Kindes, das Studium der Reaktionen während der Vorstellung, die Analyse von Briefen und Zeichnungen, das Erforschen der Wirkungsdauer der Aufführung auf Kinder unterschiedlicher Individualität, die sozialen Besonderheiten in der Rezeption und die Verbindung der Rezeption mit der produktiven Kunstaneignung sind die „wissenschaftliche Basis, die den Theaterkünstlern hilft, Aufführungen zu schaffen, die den Kindern wirklich nahe kommen" 75 . Das Kindertheater hat die gleichen gesellschaftlichen Aufgaben wie alle Theater; dennoch unterscheidet es sich nicht nur durch die altersmäßige Zusammensetzung des Publikums, sondern durch einen „dosierten Inhalt" für jede Altersstufe, damit er nicht oberflächlich, sondern tiefgehend angeeignet wird und sich „auf die Gefühlsregungen überträgt". „Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form, die B ü h n e n f o r m 4*

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(Hervorhebung - C. H.) unserer Aufführungen hängt von der Altersstufe unserer Zuschauer ab. Ebenso wie unsere Zuschauer, die nicht einfach eine verkleinerte Kopie der Erwachsenen sind, so hat auch unser Theater seine Besonderheiten, seinen spezifischen künstlerischen Charakter [. . .] Unser Theater ist vor allem ein s y n t h e t i s c h e s Theater (Hervorhebung - C. H.). Ein Theater, dessen Aufführungspartitur den ganzen Reichtum aller Ausdrucksmittel umfaßt, ein Theater, wo Musik, Bewegung, dekorative Konstruktionen und Farben gemeinsam mit dem Stück die Probleme der Aufführung lösen." 76 Diese Form verlangte einen vielseitigen, einen „synthetischen Schauspieler", der die Schauspielkunst ebenso beherrschen muß wie Tanz, Gesang und Kenntnisse der Psyche seines Zuschauers. „Schauspieler eines Kindertheaters sein", sagt Natalia Saz, „das ist ein neues verantwortungsvolles . S p e z i a l f a c h ' " (Hervorhebung - C. H.). 7 7 Seine Arbeitsmethode ist die des „psychologischen Realismus", orientiert an der Methode Stanislawskis, denn das Kindertheater wirke vor allem auf die „Gefühlssphäre", auf die „Psyche". Das heißt aber nicht, die Inszenierungen dem kindlichen Aufnahmevermögen zu eng anzumessen. „Jede Aufführung muß der entsprechenden Altersstufe der Zuschauer passive Schwierigkeiten bieten. Wenn der Zuschauer zum Verständnis der Aufführung, zu deren Verarbeitung gar keine Anstrengung zu machen braucht, so hat eine derartige Theaternahrung nicht das gewünschte aktivierende Ergebnis. Aufführung plus selbständige Arbeit des Zuschauers - das ist es, was wir wollen. Die Kindervorstellung soll also kein Griesbrei sein, sondern eine Nuß, die man zu knacken hat, sie darf auch auf keinen Fall allzu hart sein, sonst erreichen wir ebenfalls nicht unseren Zweck." 7 8 Auf dieser Grundlage müssen die Stücke des Kindertheaters die großen Themen der Zeit - den Aufbau des Sozialismus, den Kampf gegen die Ausbeutung - behandeln, und sie müssen die Probleme der Kinder in den verschiedenen Altersstufen lösen helfen. Dabei ist nicht ausschlaggebend, ob Kinder im Mittelpunkt der Fabel stehen. Der Stückschluß sollte optimistisch sein, um den Zuschauer zu aktivieren. Die Förderung der kindlichen Initiative war das erklärte Ziel des Moskauer Kindertheaters. 52

„Jede Aufführung des Kindertheaters muß etwas Neues bringen oder verstehen, das Gewöhnliche, Alltägliche in ein neues Licht zu rücken, ihm größere Tiefe und Bedeutsamkeit zu verleihen. Jede Kindervorstellung muß den Zuschauer von der Stufe, auf der er vor der Vorstellung stand, auf die nächste und höhere Stufen heben [. . .] Jedes Stück muß zur Entwicklung der kindlichen Initiative Anstoß geben [. . .] Nicht Beobachter, sondern Kämpfer und Erbauer des Sozialismus müssen durch das Theater erzogen werden." 79 Wie sich diese Auffassungen in der praktischen Arbeit herausbildeten, sei an der Entwicklung des Kindertheaters in Moskau von den Anfängen bis zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Prinzipien dargestellt. Auch nach der Übersiedlung des Volkskommissariats für Bildung nach Moskau stand die Gründung besonderer Theatcfür Kinder auf der Tagesordnung. Der Sektor Kindertheater wurde zu diesem Zeitpunkt von Ilja Ehrenburg geleitet. Aber wie sollten in dieser schwierigen Zeit Mittel und vor allem ein Gebäude aufgebracht werden? Natalia Saz hatte aus den Kindervorstellungen gelernt, daß man das Kindertheater mit den neuen Prinzipien der Erziehung und Bildung verbinden muß, und sie verfolgte ihren Plan, ein Theater eigens für Kinder zu schaffen, hartnäckig weiter. Es gelang ihr, mit dem vielbeschäftigten Lunatscharski zusammenzutreffen und mit ihm über das Projekt eines staatlichen Kindertheaters zu sprechen. Lunatscharskis Antwort lautete: „Versuchen Sie bis Monatsende einen Kostenvoranschlag für das zukünftige staatliche Kindertheater aufzustellen mit einem erstklassigen Ensemble, gutem Orchester, pädagogischer Abteilung und neuer Einrichtung. Ich übernehme es, diesen Kostenvoranschlag vom Kollegium des Rates der Volkskommissare bestätigen zu lassen." 80 So wurde im Oktober 1919 im Volkskommissariat für Bildung der RSFSR die Gründung des ersten staatlichen Theaters für Kinder auf der Basis des Kindertheaters des Moskauer Sowjet offiziell beschlossen. Lunatscharski übernahm selbst die Leitung des fünfköpfigen Direktoriums, dem auch Natalia Saz angehörte. Am 4. Juli 1920 wurde das erste staatliche Kindertheater der Welt mit Mowghli von W. Wolkenstein nach Kiplings Dscbungelbucb eröffnet. Lunatscharski hatte diesen 53

Stoff vorgeschlagen. D i e Inszenierung besorgte Henriette Pasquar, mit deren Auffassungen sich N. Saz in der Folgezeit nicht identifizierte. H. Pasquar vertrat den Standpunkt, das Theater müsse „die Seele der Kinder ins Reich der Märchen führen, weil das Leben so grob ist" 8 1 . Mystische und symbolische Elemente beherrschten ihre Inszenierungen, denn sie wollte bewußt die Kinder durch die Phantasie in eine andere, wie sie meinte bessere, Welt versetzen. „Brauchen wir wirklich ein realistisches Repertoire, ein Abbild des täglichen Lebens in harten, brutalen Farben, oder eher Schauspiele, in denen die Phantasie vorherrscht? [. . .] Oft wurde uns gesagt, daß es ein Fehler gewesen sei, das Kind mit unwirklichen Dingen zu füttern, anstatt es auf das Leben und den Kampf vorzubereiten. Aber das ist die Aufgabe der Schule und Familie, nicht unsere", schrieb H. Pasquar später als Emigrantin in Paris über das Moskauer Kindertheater. 8 2 * Sie beherrschte als künstlerische Leiterin das Theater und erreichte die Auflösung des Direktoriums. N. Saz erinnert sich: „Seit der Eröffnung des Theaters kam Lunatscharski nicht mehr zu den Leitungssitzungen. E r liebte es, eine Sache anzuregen, alle zu begeistern, immer wieder Neues zu schaffen [. . .] Nach der Auflösung der kollektiven Leitung war es mir nicht mehr möglich, meine Arbeit im Kindertheater fortzusetzen. Das war ein schwerer Schlag für m i c h . " 8 3 * Sie leitete weiterhin den Kindertheatersektor, organisierte die Musikerziehung der Kinder, gründete eine Versuchsschule für ästhetische Erziehung und faßte den Entschluß, ein neues Kindertheater aufzubauen, was ihr mit viel Mühe und großer Energie schließlich auch gelang. Mit Unterstützung des Moskauer Stadtsowjet eröffnete am 13. Juli 1921 das Moskauer Theater für Kinder mit dem Märchen Die Perle der Adalmina von I. A. Nowikowa. 8 4 * „Schon mit seinem ersten Stück Die Perle der Adalmina stellte sich das Theater die Aufgabe, in klaren, leichtverständlichen szenischen Bildern den Kindern Antwort zu geben auf sie interessierende Fragen der Wirklichkeit, die sie täglich erleben. Wie haben die Zaren gelebt, was waren das für Leute? fragten die Kinder in den Jahren 1920/21 nicht selten. Die Perle der Adalmina wählte für ihre Beantwortung die Form des Märchens." 8 5 54

Die Inszenierung von N. O. Wolkonski betonte die sozialen Motive des Stückes. Die ersten Spielpläne des Theaters bestanden ausschließlich aus Märchen und Legenden verschiedener Völker, die unter diesem Gesichtspunkt - nämlich auf ihren Sozialbezug hin - ausgewählt wurden. Dabei entlehnte man die Sujets aus verschiedenen geografischen Bereichen und unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Epochen und bemühte sich, den Inszenierungsstil dem Sujet anzupassen (z. B. versuchte N. Saz in ihrer ersten Inszenierung Japanische Märchen, das japanische Theater nachzuempfinden. Alexander Diki inszenierte den Pinocchio im Stile der Commedia dell' arte, und Robin Hood unter der Regie von Sergej Rosanow wurde in der Manier der englischen Komödianten aufgeführt.) Engster Mitarbeiter von Natalia Saz bei der Ausarbeitung des Profils des Moskauer Kindertheaters war Sergej Rosanow, der zuvor mit Kindern gearbeitet hatte und dem die ästhetische Erziehung der Kinder durch das Theater besonders am Herzen lag. 86 * Er leitete auch die zweite Phase der Entwicklung des Moskauer Kindertheaters ein. Zum Jahrestag der Oktoberrevolution 1924 schrieb und inszenierte er das Stück Seid bereit, in dem Kinder der Versuchsschule für ästhetische Erziehung mit Schauspielern (Figuren aus den bisherigen Märcheninszenierungen des Theaters) gemeinsam spielten. N. Saz schreibt darüber: „Den Zweck der Festaufführung formulierte Rosanow folgendermaßen: .Durch das theatralisierte Spiel wollen wir die Kinder die Wichtigkeit und gewaltige Größe der Ereignisse empfinden lassen, an die sie zur Feier der Oktoberrevolution erinnert werden sollen. Wir wollen in den Kindern den Willen zum kollektiven Denken und Handeln, das Gefühl für die Notwendigkeit der Arbeit festigen.' " 87 Rosanows Versuche waren von den Ansichten Jewreinows und vor allem Kerschenzews beeinflußt. „Kinder von acht bis zehn Jahren fühlen sich im Theater nicht nur als Zuschauer", schrieb Rosanow, „sondern auch als Mitwirkende an den Ereignissen, die sich vor ihren Augen auf der Bühne entwickeln. Sie haben doch oft erlebt, wie sich die Kinder in Vorstellungen ihres Theaters in die Handlung einmischen, wie sie den handelnden Personen Ratschläge geben. Ich möchte jetzt einmal 55

die Aktivität der Kinder zur bewegenden Kraft für die Entwicklung der Handlung machen."88 Leonora Schpet charakterisierte die einzelnen Elemente der Aufführung Seid bereit wie folgt: „Das Material - Das gegenwärtige Leben, die Arbeit und der Kampf für den Sozialismus Kennzeichen des Stils - Konstruktivismus Dramaturgische Gestalt - Stück mit utopischem Charakter Soziale Idee - Durch unermüdliche Arbeit und Kampf erreichen wir den Sozialismus Form der Aufführung - Spiel-Stück, Revolutionsfeier Dekorative Lösung - Im Grunde die Zweckmäßigkeit von Maschinen, Propeller, Räder in Bewegung Musik - Revolutionshymnen, heldenhafter Charakter der Musik" 89 Mit Seid bereit war ein neues Genre des Kindertheaters entstanden: das S p i e l - S t ü c k , das sowohl für den Spielplan, als auch für den Aufführungsstil des Moskauer Kindertheaters Bedeutung erlangte. Dies war der Durchbruch des Gegenwartsthemas auf der Bühne dieses Kindertheaters und erschloß diesem neue szenische Möglichkeiten. Obgleich es auf Grund des enormen technischen Aufwandes nach achtzehn Vorstellungen abgesetzt wurde, markiert es einen wichtigen Punkt in der Geschichte des Kindertheaters. Der künstlerischpädagogische Rat beschloß in Auswertung von Seid bereit, keine Kinder neben Berufsschauspielern auf der Bühne des Moskauer Kindertheaters mehr auftreten zu lassen, weil die natürliche Spielfreude der Kinder und der Professionalismus geschminkter Schauspieler sich nicht zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügten, und er kam zu dem Ergebnis, junge Schauspieler, Absolventen der Schauspielschule, zur Darstellung von Kinderrollen in das Ensemble aufzunehmen. Das Mitspiel der Kinder wurde von der Bühne in den Zuschauerraum verlegt und blieb als eine Form der Aufführungen für Kinder in den nächsten Jahren bestehen, z. B. wurde in der Aufführung Der Störenfried von L. Botschin am Schluß 56

eine Gerichtsverhandlung gezeigt, in der Zuschauer als Zeugen auftraten. Das Urteil wurde durch Abstimmung im Zuschauerraum herbeigeführt. 90 * Im sowjetischen Kindertheater ging diese Form der Einbeziehung der Zuschauer immer mehr zurück und wird heute kaum noch praktiziert. Aber die aktive, spontane Anteilnahme der jungen Zuschauer, besonders in der jüngsten Altersgruppe, die ständige Bereitschaft, sich in das Geschehen auf der Bühne einzumischen, richtige Entscheidungen der Figuren jubelnd zu begrüßen, falsches Verhalten lauthals zu kritisieren, stellt das Kindertheater immer wieder vor die Frage, wie es diese Reaktionen, diese Besonderheit seines Publikums, für den Zuschauer und für das Theater produktiv machen kann. In der Geschichte j e d e s Kindertheaters findet man folglich Experimente auf diesem Gebiet, aber kaum wissenschaftlich zu verallgemeinernde Ergebnisse. Überlegungen und Versuche gibt es in dieser Richtung auch im Kinder- und Jugendtheater der D D R (namentlich in den Märcheninszenierungen von Horst Hawemann in den letzten Jahren am Theater der Freundschaft), und zwar in dem Maße, in dem die Persönlichkeitsbildung und die Förderung schöpferischer Aktivitäten der Kinder als eine der wichtigsten Aufgaben in das Zentrum der Theaterarbeit für Kinder und Jugendliche rückten. Der Streit um die sogenannte vierte Wand hat sich insofern als ein Scheinproblem erwiesen, als der Zuschauer in jedem Falle der theatralischen Abbildung g e g e n ü b e r t r i t t , also gerade in der „Dopplung" 9 1 der Vorgänge in einen abgebildeten und einen imaginierten das Wesen eines theatralischen Vorgangs besteht. Die inzwischen kaum noch zu überschauenden Versuche der Durchbrechung der „vierten W a n d " sind nur inszenatorische Varianten, keinesfalls die Aufhebung dieses Prinzips. In diesem Sinne ist die Erhöhung der „Kreativität" des jungen Zuschauers durch seine Einbeziehung in die Spielhandlung auch nicht gleichzusetzen mit einer kräftigeren Subjektivität künstlerischen Erlebens unter dem eingangs gesetzten Ausgangspunkt. Nicht dasjenige, was sich dem Betrachter als Zusammenspiel von Bühne und Zuschauerraum darstellt, ist das M a ß des künstlerischen Erlebens, sondern die Richtung und Intensität der dabei ausgelösten Vorgänge im Bewußtsein. Diese können bei scheinbar

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völliger Ruhe tiefgreifend sein und bei offenbarer Turbulenz flach. Ungeachtet dieser Feststellung muß das Kindertheater die Besonderheiten dieses Zuschauers (in diesem Zusammenhang vor allem die des jüngeren) berücksichtigen. Die Inszenierung Das Negerlein und der A f f e (1927, Szenarium N. Saz und Sergej Rosanow, Inszenierung N. Saz, für Kinder von sechs bis acht Jahren) wurde für das Moskauer Kindertheater programmatisch. Sie schildert die Freundschaft des Neger jungen Nagua zu einem Affen, der ihn vor dem giftigen Biß einer Schlange rettete. Nagua kann nicht verhindern, daß der Affe an einen Zirkus verkauft wird und macht sich auf, seinen Freund zu suchen. Auf einer Reise durch die Welt gelangt er auch nach Moskau. Eines Tages sieht er den Affen im Zirkus, und gemeinsam kehren die Freunde nach Afrika zurück, wo Nagua, auf Grund seiner Erlebnisse in der Sowjetunion in seinem Dorf eine Pioniergruppe organisieren wird. Diese Geschichte wurde durch eine Montage pantomimischer Mittel mit dem Zeichentrickfilm erzählt (zu einer Situation auf der Bühne wurde durch den Zeichentrickfilm das Milieu geschaffen - der tropische Urwald mit Palmen, Lianen und ganzen Herden von Antilopen, Affen, Löwen und Krokodilen - , oder die Handlung wechselte unmittelbar von der Bühne in den Zeichentrickfilm über und umgekehrt). Natalia Saz schreibt: „In einigen Inszenierungen der Stücke Rosanows wurde der Film zur ,Teilnahme' an dokumentarischen Szenen herangezogen. Als Theaterleiter widersprach ich nicht; aber als Regisseur akzeptierte ich den Übergang vom Theater auf Film und umgekehrt gar nicht. Die Natur dieser beiden Künste ist verschieden, ihre Ausdrucksmittel schließen sich gegenseitig aus. Aber ein in schöpferischer Einheit mit dem Bühnenbildner speziell gezeichneter Trickfilm ist etwas anderes [. . .] In diesem Stück brachte ich zum erstenmal (wahrscheinlich zum erstenmal im Theater überhaupt) den Trickfilm in organische Beziehung zur Bühnenhandlung. Der Trickfilm kommt den Kinderzeichnungen nahe, er kann unnötige Einzelheiten fallenlassen, das Wichtige aber mit äußerster Dynamik vermitteln. Er erweitert die Möglichkeiten des Theaters, ohne gegen die allgemeine künstlerische Absicht zu verstoßen."92 Die Aufführung wurde ein großer Erfolg. 93 * Auch ausländi58

sehe Besucher, die in großer Zahl das Theaterleben der jungen Sowjetunion studierten, rühmten sie, z. B. regte sie Mila Mellanovä an, 1933 in Prag das erste tschechoslowakische Kindertheater zu gründen. Mila Mellanovä eröffnete das Theater für Kinder und Jugendliche mit Das Negerlein und der A f f e , wobei sie in ihrer Inszenierung ebenfalls den Zeichentrickfilm verwandte und sich auf das Moskauer Vorbild stützte.94 Als das Moskauer Kindertheater 1936 in das Gebäude des früheren 2. Künstlertheaters am Swerdlowplatz umzog und zum Zentralen Kindertheater erklärt wurde, blieb Das Negerlein und der A f f e im Repertoire und erreichte mehr als 1200 Vorstellungen. Publikumswünsche veranlaßten N. Saz, das überarbeitete Szenarium als Ballett im Staatlichen Musiktheater für Kinder in Moskau 1973 neu zu inszenieren. Die Inszenierung war nicht nur der erste größere Regieerfolg von Natalia Saz, sie faßte zugleich die künstlerischen Bestrebungen des Theaters in den zwanziger Jahren zusammen, und vielfach wird das Profil des Theaters jener Zeit mit dieser Aufführung identifiziert. Sie hat den Inszenierungsstil der Regisseurin N. Saz geprägt; viele Elemente dieser Inszenierung (Zirkus, Tiere des afrikanischen Urwalds, Akrobatik, Tanz und vor allem Musik) tauchen in ihren späteren Märcheninszenierungen auf. Aber so erfolgreich diese Aufführung war, so umstritten ist sie auch bis auf den heutigen Tag. „Die Initiatoren der Aufführung", schreibt L. Schpet, „bringen mit ihr ihr künstlerisches Credo zum Ausdruck, aber wahrscheinlich gerade darum wurde sie zum Symbol jener Richtung im Kindertheater, gegen die vor einigen Jahren viele sowjetische Theaterschaffende des Kindertheaters einhellig zu Felde zogen. Die Fabel des Stückes, schien es, war realistisch, aber ihre Wiedergabe mit beabsichtigter Primitivität raubte ihr die Lebenswahrheit und stellte unter einer angeblichen kindlichen Sicht auf die Welt eine bedingte Stilisierung auf. Manch einem gefällt das, wie man sich bisweilen an der Nachahmung von Kinderzeichnungen erfreut. Aber die echte Naivität in der Qualität hervorragender Stilisierung und die Suche nach der Spezifik des Kindertheaters grenzte gerade diese Richtung tatsächlich von dem allgemeinen Weg der Entwicklung der sowjetischen Theaterkunst ab [. . .] Die Kinder kennen ihre 59

eigene Infantilität nicht, aber wenn Erwachsene sich ihnen gegenüber infantil verhalten, wundern sie sich darüber, und sie haben recht.95" Es ist allerdings zu berücksichtigen, daß diese Aufführung für Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren gedacht war und die sowjetischen Kindertheater (wie auch die Kindertheater der DDR) für diese Altersgruppe heute vornehmlich klassische Märchen spielen. Mit diesen Stoffen wird das von L. Schpet aufgeworfene Problem der Vereinfachung und Simplifizierung realer Vorgänge vermieden. (Es ist allerdings zu fragen, ob es gerechtfertigt ist, Kindern dieser Altersgruppe das Theater fast ausschließlich über das Märchen zu öffnen, denn auch Versuche, die Umwelt dieser Kinder, aktuelle Probleme der heutigen Zeit, die für dieses Alter begreifbar sind, auf der Bühne darzustellen, nutzen die Form des Märchens.) Natalia Saz rechtfertigte sich gegenüber der Kritik von L. Schpet in einem Gespräch mit der Autorin: „Ich bin absolut anderer Meinung als L. Schpet in ihrem Buch. Was heißt das, es war nicht wahrhaftig, und es war primitiv. Es ist ein Märchen, und im Märchen ist die Dosierung von Wahrhaftigkeit und Märchenhaftigkeit ebenso wie in unserem Leben, denn unser Leben besteht auch aus dem, was ist, und aus dem, wovon wir träumen. Und sozialistischer Realismus ist für mich eine untrennbare Einheit zwischen heute und morgen. Das Morgen braucht immer ein bißchen Traum, ein bißchen Märchenhaftigkeit, damit man die Kraft und die Möglichkeiten für seine Realisierung findet. So sehe ich das." 96 Wahrheit und Märchenhaftigkeit schließen einander allerdings nicht aus; ein platt-naturalistisch erzählter Vorgang wird in der Regel weniger wahrhaftig sein als eine märchenhafte Vorstellung von den Möglichkeiten menschlicher Schöpferkraft im weitesten Sinne. L. Schpets Einwand gegen Das Negerlein und der A f f e zielt in eine andere Richtung: daß hier von einem kindlichen Standpunkt aus eine Weltsicht vermittelt wird, die so vereinfacht ist, daß sie die Lebenswahrheit verletzt und lediglich die Kinder mittels Kunst nachahmt. Das Moskauer Kindertheater hat einen entscheidenden Anteil an der Herausbildung eines sozialistischen Spielplans für Kinder verschiedener Altersgruppen. Es zeigte keine Werke der klassischen Dramenliteratur; diese Aufgabe, meinte N. Saz, 60

müsse den anderen Theatern überlassen bleiben, und auch auf dem Gebiet der Märchendramatisierung war es nicht so erfolgreich wie das Leningrader Tjus durch seine Autoren S. Marschak und J. S. Schwarz. D a s Moskauer Kindertheater konzentrierte seine Arbeit vor allem auf das Gegenwartsstück für Kinder der mittleren Altersstufe und brachte von 1925 bis 1935 etwa zwanzig Uraufführungen für dieses Alter heraus, deren Hauptthemen die revolutionären Veränderungen und der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion und die internationale Solidarität der Arbeiterklasse waren. Damit half das Moskauer Kindertheater bei der Ausarbeitung dieses besonderen Stücktyps, der bis heute Arbeitsschwerpunkt jeder Dramaturgie der Kinder- und Jugendtheater in den sozialistischen Ländern ist und nach wie vor die meisten Schwierigkeiten bereitet. Die Zusammenarbeit mit dem jungen Zuschauer wurde von N. Saz und ihren künstlerischen und pädagogischen Mitarbeitern ebenso intensiv gepflegt wie am Tjus, ohne jedoch im Inszenierungsstil einen ähnlich starken Niederschlag zu finden, denn es dürfte strittig sein, daß das „synthetische Theater" die spezifische Form des Kindertheaters ist. „ D a s Theater (das Moskauer Kindertheater - C. H.) fühlte sich hingezogen zur musikalischen Komödie, zu Ballett und Pantomimevorstellungen, zur Estrade [. . .] und sogar zu Puppen. Aber alle diese Bühnengenres wurden mit den Kräften e i n e s Ensembles realisiert. So tat sich die Forderung nach der Synthetik als Spezifik und zwar für das Kindertheater hervor. Aber auch die Theorie des .synthetischen Schauspielers' war in allem nur ein Nachhall schon in der Vergangenheit unternommener Versuche und Experimente, der Versuche, in einem Theater Oper, Tragödie und Farcen zu vereinigen. Diese Theorie schloß nichts wesentlich Neues in sich ein." 9 7 Den Begriff des synthetischen Theaters prägte zu Beginn des 20. Jahrhunderts Konstantin A. Mardshanow; er wurde sowohl von Tairow und Meyerhold als auch von Wachtangow aufgegriffen. So groß der persönliche Einfluß Wachtangows auf Natalia Saz war, ihre Auffassung des synthetischen Theaters scheint der von Tairow doch verwandter. Tairow formulierte 1921: „Ein synthetisches Theater vereinigt o r g a n i s c h alle Arten der Bühnenkunst, so daß in ein und derselben Auffüh61

rung alle, jetzt künstlich getrennten Elemente des Wortes, des Gesangs, der Pantomime, des Tanzes und sogar des Zirkus harmonisch miteinander verflochten werden und als einheitliches, m o n o l i t h e n e s Bühnenwerk erscheinen. Ein Theater dieser Art kann sich mit besonderen Schauspielern für Drama, Oper, Ballett u. a. nicht zufriedengeben, sein Schöpfer kann nur der neue M e i s t e r s c h a u s p i e l e r sein, der mit der gleichen Freiheit und Leichtigkeit über alle Möglichkeiten seiner vielseitigen Kunst verfügt." 9 8 Natalia Saz stellt die gleichen Anforderungen an den Schauspieler des Kindertheaters, und sie betrachtet das Spielen für Kinder als ein „neues verantwortungsvolles Spezialfach des Schauspielerberufes" 99 . Heute relativiert sie diese Ansicht: „Wir haben gute Schauspieler aus den Studios von Sawadski und Simonow genommen und haben ihre Ausdrucksmöglichkeiten weiter ausgebildet, damit sie bereit waren, zu klettern, zu springen, zu tanzen, auch rhythmisch-musikalisch sich auszudrücken [. . .] Das haben wir einen synthetischen Schauspieler genannt. Das Wort gebrauchte zum erstenmal der berühmte georgische Regisseur Mardshanow, er ist einer der Begründer des synthetischen Theaters. Wissen Sie, manchmal fragen Sie, als würden wir das heute machen. Aber damals war eine andere Zeit, in der nicht nur in Rußland Ballett, Oper und dramatisches Schauspiel absolut voneinander getrennt waren. Jetzt kann sich ein Schauspieler mit verschiedenen Mitteln ausdrücken, aber damals war ein eiserner Vorhang zwischen den Theatergattungen. Und deshalb war es damals wichtig und ganz neu, was wir gesagt haben - Tairow, nachher auch Meyerhold, als er mit der Biomechanik anfing. Als ich das erste Kindertheater gründete, bin ich, so jung wie ich war, aus verschiedenen Gründen darauf gekommen: wegen der Verschiedenartigkeit des Repertoires, wegen der Befriedigung der drei Altersstufen, der unterschiedlichen Rollen und unserer materiellen Begrenzung, die verlangte, daß jeder Schauspieler möglichst vielseitig sein sollte. Das haben wir Synthetik genannt. Natürlich möchte ich den Begriff heute nicht mehr vertreten, er gehört zu einer anderen Entwicklung." 1 0 0 Trotz dieser Abgrenzung fordert N. Saz vom Schauspieler des Kindertheaters auch heute eine größere Vielfalt seiner 62

Ausdrucksmöglichkeiten, und auch A. Brjanzew betonte 1944 auf der Allunionskonferenz der Kindertheater in Moskau: „Wir kommen zu dem Moment, der für unsere Kindertheater zum Gesetz wurde - das ist die Synthetik unserer Aufführungen, besonders der Märchen. Ohne Musik, ohne Tanz auszukommen, ist sicherlich unmöglich, weil da noch was anderes ist - denn es ist nicht einfach eine Form der Aufführung, sondern seine besondere freudige Stimmung, seine besondere Emotionalität. Aber darüber hinaus muß die Synthetik einen Sinn haben, keine einfach gestellten Ballett- und Gesangsnummern, sondern wenn sie in dem Moment entstehen, wenn es schon unmöglich ist, zu sprechen, aber nötig zu singen, wenn es nicht mehr möglich ist, zu gehen, und man rennen und tanzen muß. Der Schauspieler für Kinder muß sowohl Schauspieler wie Tänzer, Sänger und Akrobat sein." 101 Brjanzew begründet seine Auffassung mit der unsteten Aufmerksamkeit des jungen Publikums, die er mit Bewegung und Dynamik fesseln will (er lehnt z. B. die Einteilung in Akte im Interesse des Rhythmus' einer Aufführung ab), während Saz die vielfältige Ausdrucksmöglichkeit des Schauspielers am Kindertheater mit der Vielfalt der Genres erklärt. Dennoch ist weder das „synthetische Theater" die besondere Form, noch der „synthetische Schauspieler" ein „Spezialfach" des Kindertheaters. Wenn vorausgesetzt wird, daß das Kindertheater zunächst und vor allem Theater ist, kann auch der Beruf des Schauspielers keine wesentlich anderen Merkmale aufweisen; seine Arbeitsmethode und sein künstlerisches Niveau sind denselben Kriterien unterworfen wie an anderen Theatern auch. Eine Besonderheit des Schauspielers am Kindertheater aber ist zweifellos, daß er über Kenntnisse des Aufnahmevermögens und der Bedürfnisse seines Publikums verfügen muß. Er erwirbt sie sich in erster Linie im Zusammenspiel mit ihm und durch die Vermittlung des Theaterpädagogen. Aber jeder Künstler schließlich benötigt Kenntnisse über seinen Adressaten. Und auch das „synthetische Theater" ist nicht die Zauberformel für die Benennung der Eigenart von Kindertheater. Eine Synthese theatralischer Mittel entsteht nur dann, wenn sie von der Fabel diszipliniert werden. Das ist besonders wich-

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tig für das Kindertheater, das seine Aufführungen entsprechend dem Aufnahmevermögen seiner Zuschauer überschaubar gestalten muß. Jede Ablenkung von der Fabel behindert die Konzentration der Kinder, die eine Voraussetzung schöpferischer Mitarbeit ist. Es bereitet den Kindern (je nach der Altersgruppe graduell unterschieden) Mühe, sich zu konzentrieren, aber wenn wir sie als Zuschauer ernstnehmen, ihre Subjektivität im Theater bekräftigen wollen, dürfen sie nicht mit allgemeiner Farbigkeit und artistischen Mitteln eingefangen werden. Natürlich können und sollen alle theatralischen Mittel am Kindertheater verwandt werden, aber zu dem Zwecke, Vorgänge zwischen Menschen gestisch und den Kindern verständlich zu erzählen. Dieser Grundsatz schränkt die Vitalität des Theaters nicht ein; auf ihm beruht die Poesie theatralischer Vorgänge. Das ist nicht neu, aber im Kindertheater noch nicht immer selbstverständlich; oft werden in allgemeiner Turbulenz, die durch die Impulsivität der Reaktionen des jungen Publikums stimuliert wird, Fabelvorgänge „überspielt". Deshalb schafft ein guter Regisseur, der diese Zuschauer kennt, in den Inszenierungen Punkte der „Entspannung", um die Aufmerksamkeit des Zuschauers immer wieder neu zu fesseln. Auch in diesem Sinne wurden unter Brjanzew im Leningrader Tjus theatralische Mittel, z. B. groteske oder komische verwandt. Der künstlerische Entwicklungsweg von N. Saz führte zu einer immer stärkeren Verbindung von Theater und Musik, ja, sie ist heute der Ansicht, „wenn echte Musik und echte dramatische Kunst sich vereinigen, dann ist das die größte ästhetische Erziehungskraft, die je existieren kann." 1 0 2 Und in ihren Erinnerungen schreibt sie: „Unser Theater nannte man oft ,Musiktheater für Kinder', und das traf durchaus zu. In unserer gesamten künstlerischen Tätigkeit nahm die Musik einen besonderen Platz ein. Mehrere Aufführungen waren ,durch und durch musikalisch', wie sich der Komponist Kabalewski in der .Komsomolskaja Prawda' vom 12. Mai 1936 ausdrückte. Ich halte es für unsinnig, wenn man die Musik nur der Form, aber nicht dem Inhalt einer Aufführung zuschreibt, wenn man eine so machtvolle Kunst wie die Musik zu einer Umrahmung, zu einer Garnierung herabwürdigt. Wir glaub-

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ten an eine organische, gleichberechtigte Gemeinschaft zwischen Theater und Musik." 103 So könnten nachfolgende Sätze von Meyerhold eine Charakterisierung der besten Inszenierungen von N. Saz in den zwanziger Jahren sein: „Wenn wir vom Schauspieltheater sprechen, dann sprechen wir von ihm wie von einem Musiktheater. Das Theater, das alle technischen Errungenschaften der Bühne auszunutzen sucht, führt auch noch den Film ein, so daß das Spiel des Schauspielers auf der Bühne mit seinem Spiel auf der Leinwand abwechselt. Oder die Aufführung des Schauspieltheaters wird als eine Art Revue gestaltet, in der der Schauspieler bald in der Art eines dramatischen Schauspielers, bald eines Opernschauspielers, Tänzers, Equilibristen, Turners oder Clowns auftritt. So werden Elemente anderer Künste herangezogen, damit die Aufführung reizvoller und vom Publikum besser aufgenommen wird." 104 Natalia Saz' Schauspieltheater für Kinder war in diesem von Meyerhold beschriebenen Sinne ein Musiktheater, und ihr Weg führte sie folgerichtig zur Gründung des ersten staatlichen Musiktheaters für Kinder in Moskau, dem ersten seiner Art in der Welt. Es besteht seit 1965 und N. Saz ist sein Initiator, Leiter und Regisseur. Wie in den zwanziger Jahren, als es ihr gelang, Prokofjew für das Theater zu gewinnen (Peter und der Wolf), verwendet sie heute viel Kraft darauf, mit den bedeutendsten Komponisten der Sowjetunion ein Opernrepertoire für Kinder aufzubauen.

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Hoffmann

Anfänge des sozialistischen Kindertheaters in Deutschland

Die beiden Grundtypen sozialistischen Kindertheaters, die sich zuerst unter der jungen Sowjetmacht herausbildeten, sind im Ansatz auch als kulturelle Erscheinung der revolutionären Arbeiterbewegung in Deutschland erkennbar. Allerdings sind hier die Proportionen entschieden anders, die Funktionen und damit auch ihr künstlerisches Wesen unterschiedlich. Theater, das auf professioneller Grundlage von Künstlern für Kinder gespielt wird, hatte unter den kapitalistischen Verhältnissen keinen gesamtgesellschaftlichen Rang und damit auch keine staatlich gesicherte Voraussetzung. Seine Basis war, wie die des frühen sozialistischen Theaters überhaupt, die proletarischrevolutionäre Bewegung, deren Kader und Mittel aber auf diesem Gebiet begrenzt bleiben mußten. So finden wir Aufführungen für Kinder durch Truppen linker Schauspieler nur gelegentlich ( G r u p p e junger Schauspieler, ]unge Volksbühne). Die wenigen Beispiele, trotz schwierigster Arbeitsbedingungen unternommen, zeigen aber an, daß dieser Theatertyp durchaus im Blickfeld war und sich bereits vor der gesellschaftlichen Umgestaltung in bestimmten Grenzen entwickelt hätte, wäre dieser Prozeß nicht durch den Faschismus gewaltsam unterbrochen worden. Der andere Typ, das von Kindern für Kinder gespielte Theater, war demgegenüber verbreiteter, weil er den Klassenkampfbedingungen angemessener war und sich als kulturelles Tätigkeitsfeld der revolutionären Arbeiterbewegung leichter integrierte. Abweichend vom sowjetischen Modell steht dieses Theater ganz im Zeichen der revoltionären Bildungsarbeit bzw. später der Agitation und Propaganda der KPD und ihrer Jugend- und Massenorganisationen. Dieser heftig politisch-didaktische Zug ist keine Übernahme sowjetischer 66

Vorbilder, sondern eine spezifisch deutsche Erscheinung, die dann später in anderen kapitalistischen Ländern mit verwandten Klassenkampfpositionen übernommen bzw. ähnlich hervorgebracht wurde. Dieser Theatertyp eines eminent politischen Theaters von Kindern für Kinder korrespondierte in gewisser Weise mit Reformbestrebungen in der bürgerlichen Jugendbewegung, in dem von ihr wiederbelebten „Laienspiel" sowie in Experimenten der Reformpädagogik und deren Auswirkungen vor allem auf das Theater und die Musik. Das Experimentieren mit Formen und Methoden, durch das die Kinder instandgesetzt werden, für sich Theater zu spielen und damit in ihrer Selbsterziehung aktiv zu werden, war insbesondere in den zwanziger Jahren für progressive Künstler und Schriftsteller anziehend. Im folgenden wird ein kurzer Überblick über die Einbeziehung des Theaters in die proletarische Kinderbewegung und die Herausbildung eines Agitproptheaters der Kinder gegeben und damit die wesentliche Traditionslinie für unseren Gegenstand gezogen. Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels wird auf neue Verwendungszwecke des Theaters in der Erziehung der Kinder eingegangen, wie sie Benjamin in seinem Programm eines proletarischen Kindertheaters und Brecht in seinen Auffassungen von einem Theater als Disziplin der Pädagogik konzipierten. Das sozialistische deutsche Kindertheater entstand unter antagonistischen Verhältnissen. Drei Ereignisse brachten seine Entwicklung in Fluß und bestimmten seinen Verlauf: die Sozialistische Oktoberrevolution, die Novemberrevolution und die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands. Mit der Existenz der KPD war die Voraussetzung gegeben, die junge Generation in den Klassenkampf des Proletariats einzubeziehen, so wie es vor allem bereits in der Ära der II. Internationale Clara Zetkin, Karl Liebknecht, Hermann und Käthe Duncker gefordert hatten. Die Erziehung der jungen Generation, die Sorge um die Arbeiterkinder war seit ihrem ersten Tag Bestandteil der Politik der KPD. Die Partei schuf kommunistische Kindergruppen, die organisatorisch der kommunistischen Jugendorganisation angehörten; für die Ausbildung des Profils und der Ziele dieser Gruppen zeichnete Edwin Hoernle verantwortlich. Auf der ersten Reichskonferenz der 5»

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Kindergruppenleiter im Dezember 1920 formulierte er in sieben Thesen die Hauptaufgaben der Arbeit in den kommunistischen Kindergruppen. E r sagte u. a.: „Das Proletariat weiß, daß die völlige Abschaffung der Kinderarbeit und Ausbeutung sowie die Umgestaltung der Erziehung erst nach der E r oberung der politischen Macht möglich ist. Die Arbeiterschaft ist gegenwärtig auch nicht in der Lage, aus eigenen, immer geringer werdenden Mitteln das Los ihrer Kinder zu verbessern, sie wird diese Verbesserung vielmehr von den eigentlichen Urhebern der Not, den Besitzenden und ihrem Staat fordern. Schon jetzt erkennt sie es aber als notwendig, die proletarischen Kinder vor den vergifteten Einflüssen der bürgerlichen Erziehung zu schützen und sie mit proletarischem Klassengefühl zu erfüllen. D i e Sammlung proletarischer Kinder unter kommunistischer Führung, die Weckung des Klassenbewußtseins im proletarischen Kinde, seine Erziehung zur proletarischen Solidarität und zum Kampf gegen die Ausbeuter. D i e gesamte Tätigkeit der Kindergruppen muß gipfeln in der Eingliederung des proletarischen Kindes in die Gesamtfront des kämpfenden Proletariats." 1 0 5 Weder die bürgerliche Schule noch das professionelle bürgerliche Theater waren der Ort, an dem sich das proletarische Kindertheater entwickeln konnte. Seine Basis war die kommunistische Kindergruppe. Folgerichtig gestalteten sich Inhalt und Formen des beginnenden sozialistischen Kindertheaters entsprechend den Zielen der Kindergruppenarbeit der K P D . In diesem Zusammenhang war die erste Reichsbildungskonferenz der Bildungsobleute und Kursuslehrer der K P D am 6. und 7. August 1922 von entscheidender Bedeutung. D i e zugespitzte Klassenkampfsituation in den ersten Jahren nach der Novemberrevolution hatte die Kräfte der Partei auf den unmittelbaren politischen Kampf orientiert. D i e akuten Erfordernisse bestimmten auch die Schulungsarbeit der Partei. Nach dem I I I . Weltkongreß der Kommunistischen Internationale im Juli 1921, auf dem die veränderte internationale Lage eingeschätzt und die Einheitsfrontpolitik der Kommunistischen Parteien ausgearbeitet wurde, die die Gewinnung der Massen der Arbeiter zu einer der wichtigsten Aufgaben der Partei erklärte,

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stand auch die KPD vor der Aufgabe, unter den neuen Bedingungen den Kampf um den entscheidenden Einfluß auf die proletarischen Massen zu führen. 106 Die Bildungskonferenz der KPD formulierte unter diesen Voraussetzungen die Aufgaben der Partei auf dem Gebiet der Agitation und Propaganda und betonte mit Nachdruck die Verantwortung der Partei für die Arbeit mit den Kindergruppen. Zugleich aber wurde erstmals die Frage, welche Rolle der Kunst in der kommunistischen Agitation und Propaganda zukommt, für die Partei wesentlich. So ist diese Konferenz sowohl für die politische Organisation der Arbeiterkinder als auch für die Nutzung des Theaters zur Erziehung der heranwachsenden Generation ein wichtiger historischer Markierungspunkt. In den Richtlinien für die praktische Arbeit der Bildungsobleute, die auf der Konferenz angenommen wurden, heißt es: „Zu dem Aufgabenkreis des Bildungsobmanns gehört die politische Erziehung der arbeitenden Jugend und Kinder, vor allem durch aktive Zusammenarbeit mit der kommunistischen Jugend und mit den kommunistischen Kindergruppen. Die am 3. Weltkongreß der Komintern beschlossene gegenseitige Vertretung in allen Körperschaften der Partei und Jugend muß verwirklicht werden. Angesichts der großen Bedeutung der Bildungsarbeit für die Kommunistische Jugend und Kindergruppen empfiehlt es sich, daß der Bildungsobmann der Partei zugleich Vertreter der Partei in der Jugend ist. Alle bildenden Veranstaltungen der Partei stehen grundsätzlich der Kommunistischen Jugend offen. Zugleich hat die Partei die Pflicht, die bildenden Veranstaltungen der Jugend auf ihren Inhalt zu kontrollieren. Die Kommunistischen Kindergruppen unterstehen zwar organisatorisch der Kommunistischen Jugend, die Mitarbeit von erwachsenen Parteigenossen ist jedoch dringend erwünscht. Sie hat zu geschehen im Geiste der auf dem 2. Weltkongreß der Kommunistischen Jugend-Internationale angenommenen Thesen. Die Parteiöffentlichkeit ist bei jeder passenden Gelegenheit auf die Bedeutung der Kommunistischen Kindergruppe aufmerksam zu machen und zu deren Unterstützung aufzurufen. Die Organisierung und instruktive Förderung der Kommunistischen Elternbeiräte ist ebenfalls eine wichtige Aufgabe des kommunistischen Bildungsobmanns 69

in den Ortsgruppen [. . .] Der Schulkampf darf unter keinen Umständen eine Domäne der .freien Schulgesellschaften' der proletarischen Freidenker werden [. . .] Organ der Kommunistischen Kindergruppen, Lehrer und Elternräte ist ,Das proletarische Kind'." 1 0 7 Weiter heißt es in den ebenfalls von der Konferenz bestätigten Thesen über Kunst und Anschauungsmittel im Dienste kommunistischer Propaganda: „Die Reichskonferenz der Bildungsobleute und Kursuslehrer der K P D erklärt es als dringende Aufgabe der Partei, die breiten Massen des Proletariats nicht nur für den augenblicklichen Kampf um Tagesforderungen aufzurütteln, sondern gleichzeitig für den kommunistischen Gedanken, d. h. den b e w u ß t e n K a m p f u m d i e r e v o l u t i o n ä r e n E n d z i e l e zu gewinnen. Die bisherigen Mittel der politischen Agitation, Versammlungen, Flugschriften, politische Tagespresse, reichen dazu nicht aus. Weite Kreise des indifferenten Proletariats, besonders von Frauen und Jugendlichen, werden nicht erfaßt. D i e kommunistische Propaganda wandte sich allzu einseitig an den überlegenden Verstand und zu wenig an die proletarische Grundstimmung. Sie beachtete zu wenig die Tatsache, d a ß sowohl beim Kinde als auch beim primitiven Erwachsenen neue Kenntnisse vermittelt werden, nicht allein durch logische Beweisführung, sondern viel erfolgreicher durch bildliche Darstellung, durch E r zählung, Witz und Karikatur, durch die augenfällige Wiedergabe von Szenen aus dem Leben und den Kämpfen der unterdrückten Klasse mit den Mitteln des gleitenden Lichtbildes auf der Bühne. D i e Reichskonferenz der Bildungsobleute und Kursuslehrer der K P D macht es deshalb den Organisationen zur Pflicht, besser als bisher die Versammlungen und Feiern der Partei durch A n w e n d u n g k ü n s t l e r i s c h e r M i t t e l u n d s i n n f ä l l i g e r A u s d r u c k s f o r m e n auch für die indifferenten Massen anziehend und verständlich zu machen. D i e Pflege des revolutionären Ma s s e n g e s a n g e s , die Ausbildung proletarischer S p r e c h c h ö r e , die Vorführung von L i c h t b i l d e r n und F i l m e n , die politische P u p p e n b ü h n e , das politische B ü h n e n s p i e l ernsten oder heiteren Charakters werden hierbei gute Dienste leisten." 1 0 8 70

In den Diskussionen und Richtlinien zur Bildungspolitik, die die Erziehung und Bildung der Arbeiterkinder als Parteiarbeit einschloß, wurden zugleich die Grundlagen für die Theaterpolitik der K P D gelegt. Das Theater wurde zu einem wichtigen Mittel der politischen Erziehung und damit des Klassenkampfes des Proletariats. „Die erste Reichsbildungskonferenz sowie die mit ihr verknüpften Auseinandersetzungen stehen am Beginn der p l a n m ä ß i g e n und o r g a n i s i e r t e n Einbeziehung der Kunst in die kommunistische Bildungsarbeit. Sie haben insbesondere für die Entwicklung des Agitproptheaters ideologische Voraussetzungen geklärt und stimulierend gewirkt, da sich ein zentrales Gremium der Partei erstmals an die regionalen Organisationen mit der Empfehlung wandte, die in verschiedenen Orten spontan entstandenen Ansätze auf diesem Gebiet a l s P a r t e i a r b e i t ernst zu nehmen und zu fördern." 1 0 9 D a sich die Ziele des Theaters mit Arbeitern für Arbeiter von den Zielen des Theaters mit Arbeiterkindern für Arbeiterkinder nicht unterscheiden, kam es nicht darauf an, einen besonderen neuen Theatertyp für Kinder auszubilden; wie das Arbeitertheater, so suchte auch das Kindertheater nach theatralischen Ausdrucksmöglichkeiten, die in der Agitation und Propaganda am wirksamsten waren. Dieses Kindertheater wandte sich nicht nur an den jungen Zuschauer, sondern gleichermaßen an den erwachsenen. Es forderte die Erwachsenen auf, sich mit den Interessen der Kinder zu solidarisieren und wirkte unter ihnen selbst aufklärend. D i e von der bürgerlichen Ideologie sorgsam aufgebaute Trennung in „Kinderwelt" und „Erwachsenenwelt", die ihre Entsprechung auch im Theater fand, wurde durchbrochen. D a s Kindertheater der revolutionären Arbeiterklasse ist weder ein reformpädagogisches Labor außerhalb der Gesellschaft noch der O r t für eine weltferne, kleinbürgerliche Idylle. Als Instrument des Klassenkampfes stand es im Dienste des Kampfes um die Befreiung der Arbeiterklasse, also auch ihrer Kinder.

Edwin Hoernle: Proletarisches Kindertbeater als ein Instrument des Klassenkampfes Das erste Programm für ein proletarisches Kindertheater in Deutschland entwarf Edwin Hoernle, der mit Hermann Duncker seit dem 7. Parteitag der KPD 1921 die neugeschaffene Abteilung Bildung und Propaganda leitete, am Aufbau der kommunistischen Kindergruppen einen entscheidenden Anteil hatte und in vielen Reden und Aufsätzen die pädagogischen Grundsätze für die Erziehung und Bildung der jungen Generation ausarbeitete. Er war an der ersten Reichsbildungskonferenz maßgeblich beteiligt und gab 1923 in der Zeitschrift Der Kindergruppenleiter einen Erfahrungsbericht über Die Arbeit in den kommunistischen Kindergruppen unter Berücksichtigung der auf der Reichsbildungskonferenz erarbeiteten Kriterien. Darüber hinaus gab dieser Bericht die Richtung für die weitere Arbeit in den Gruppen an und lieferte das theoretische Fundament für die praktischen Anregungen. Einen Abschnitt seiner Analyse widmete Edwin Hoernle dem Kindertheater, wobei er, wie unschwer festzustellen ist, die Erfahrungen des sowjetischen Kindertheaters aufnahm. (Hoernle war vom IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1922 in deren Exekutivkomitee gewählt worden und bis November 1923 in Moskau tätig.) Den sowjetischen Konzeptionen für ein Theater mit Kindern folgend, sieht Edwin Hoernle im Theater das Zentrum der künstlerischen Tätigkeit der Kinder. Im Ensemble der Künste, die eine Theateraufführung ausmachen, können die schöpferischen Äußerungen der Kinder in den einzelnen Kunstgattungen vereinigt werden. Aber Hoernles Vorschläge für die Theaterarbeit mit Kindern sind nicht in erster Linie auf die Ausbildung der künstlerischen Fähigkeiten der Kinder gerichtet - indem er die zugespitzten antagonistischen Verhältnisse in der damaligen Situation berücksichtigte, betrachtete er das Kindertheater als ein Instrument der Arbeiterkinder, aktiv und unmittelbar am Klassenkampf teilzunehmen. Es gilt also, mittels des Theaters „die Schöpferkräfte des Kindes zu wekken und im Dienste der revolutionären Idee sich auswirken zu lassen. Das Theater soll dem Kinde Ausdrucksmöglichkeit sein 72

und zugleich werbend auf die Zuschauer einwirken" 1 1 0 . Dieses Kindertheater schließt also den Zuschauer als Adressaten ein, seine erzieherische Absicht zielt auf den Produzenten und Rezipienten gleichermaßen, wobei die politische Aussagekraft einer Aufführung höher angesetzt wird als seine künstlerische Perfektion. Die Arbeiterkinder sollen ihre Probleme und Erlebnisse gestalten, nicht nur zum Zwecke der Selbstverständigung, sondern um sie öffentlich zu machen. Die Widerspiegelung des Lebens und des Kampfes der Proletarierkinder ist die Hauptaufgabe dieses Kindertheaters, z. B. Straßen- und Hausversammlungen für die junge Sowjetmacht, Zusammenstöße mit der Polizei, die Schule mit dem prügelnden Lehrer, der reaktionäre Unterricht, die Wohnverhältnisse der Arbeiterkinder usw. Die dafür geeigneten Texte mußten sich die Kinder selbst schreiben, da es weder Stücke noch literarische Vorlagen für Dramatisierungen zu diesen Themen gab. Hoernle beruft sich auf die Fähigkeit der Kinder, bildhaft und lebendig zu erzählen: „Es bedarf geringer Kunst, um die Erlebnisse der Kinder auf dem Papier zu fixieren, denn Kinder erzählen nicht ruhig und schildernd, sondern bildhaft und dramatisch. Im Handumdrehen entsteht eine Kette von Szenen [. . .] Die Hauptsache ist, daß die Kinder den Inhalt des Stückes innerlich erlebt haben und ganz ergriffen sind von der Bedeutung und dem Zweck ihres Tuns." 1 1 1 Im Interesse der Selbstdarstellung der Arbeiterkinder erklärt Hoernle die Regeln und Formen des bürgerlichen Theaters als unbrauchbar für das proletarische Kindertheater. Er lehnt sowohl eine strenge dramaturgische Struktur der Stücke mit „vorgeschriebener Entwicklung der Handlung der Charaktere" als auch die eigens für die Jugend verfaßten Stücke und Märchenspiele ab, „die irgendein mehr oder minder schlechter Dichter mit mehr oder minder schlechtem Verständnis ,für die Jugend' am Schreibtisch geschrieben hat. Die bestehenden Märch;enstücke sind inhaltlich wie formal für unsere Zwecke unbrauchbar." 112 Damit will Hoernle keineswegs die Fabeln der Stücke auf die tatsächlichen Vorgänge, auf die naturalistische Wiedergabe der Erlebnisse der Kinder eingeengt wissen. Im Gegenteil, ausgehend vom Begriffs- und Erlebnisvermögen der Kinder soll das Kindertheater die kindliche Freude am „Symbolisieren" und „Typi73

sieren" nutzen. Hoernle hält das Märchendrama dafür als geeignet. Allerdings, fährt er einschränkend fort, droht dabei die Gefahr, „die nicht von den Kindern, sondern von den Erwachsenen kommt, daß nämlich die Aufführung geziert, gekünstelt, unecht wird. Man nehme die Märchenform nur, wenn das Theaterspiel direkt aus Märchen, Erzählungen, womöglich der Kinder selbst hervorwächst. Man suche jeden unechten sentimental-süßen Märchenton, wie ihn viele unserer Mädchen aus der Schule mitbringen oder aus modernen Märchenbüchern [. . .] schöpfen, auszumerzen und die Kampfnote hineinzubringen." 113 Daß Hoernle damit nicht allein die bürgerlichen Kinderstück-Produktionen meint, zeigt ein Blick auf das Repertoire des Kindertheaters in der Kinderorganisation Rote Falken und in der Kinderfreundebewegung der SPD. Es besteht hier kein Mangel an Stücken zur Ausgestaltung von Feiern, Lagerfeuerabenden, Wohltätigkeitsveranstaltungen u. ä. Sie werden von Schedler so treffend charakterisiert, daß ein Zitat die ganze Richtung hinreichend beschreibt: „Diese Kinderstücke emigrieren vor den Widersprüchen der Klassengesellschaft in ein märchenseliges Orplid, in dem die ,Kindertümlichkeit' sich bereits als Quartiermacher betätigt hat. Dabei wird aber doch auch immer noch auf eine gewisse politische Fermentierung gehalten, und die jahreszeitlichen Anlässe dieser Feierdramatik schaffen die Gelegenheit, in biologisch-symbolistischer Verschlüsselung den Sieg des Sozialismus in Aussicht zu stellen. Wie etwa in Franz Osterroths Frühling im Waldreich (1925), wo es am Ende heißt ,Frühling alle um sich scharend: / Genug der Freude im grünen Revier! / Nun geht es weiter! Folget mir / zum Frühlingszug ins Menschenreich! / Dort harren Kinder stumm und bleich, / auf Licht, das Dunkelheit bezwingt, / auf Kraft, die Unrecht niederringt, / auf Glück, das jedes Herz erfreut, / auf Liebe, die die Welt erneut.' Der bunte Zug, mit dem Frühling und Silberweiss an der Spitze, zieht ab mit dem Liede Nun bricht aus allen Zweigen das maienfrische Grün. Die kindertümelnden Topoi sind sogar so tragfähig, daß die idyllisierte Natur den Arbeiterkindern als Beispiel sozialer Harmonie glorifiziert werden kann, die Antagonismen durch den ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens schlichtet." 114

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In der Tradition der Kunsterziehung stehend und der Bildungspolitik der SPD folgend 115 * sah diese KindertheaterKonzeption Kinder als Autoren ihrer Texte nicht vor. Mit dem Hinweis, die Kinder vor der politischen Auseinandersetzung bewahren zu wollen, sprach man ihnen die Möglichkeit ab, eigene Probleme zu gestalten. Hoernles Forderung, daß die Kinder selbst aus eigenem Erleben Texte, Szenen und Stücke verfassen sollten, ist unter diesem Aspekt eine wesentliche Voraussetzung für die Entlastung des Kindertheaters von klischeehaften tradierten Vorstellungen. Die Bühnenspiele der Kinder waren keine Kunstwerke; dieser Anspruch wurde auch nicht an sie gestellt, aber sie garantierten, daß Spieler und Zuschauer über Gegenstände verhandelten, die sie kannten und verstanden, und zugleich boten sie Erwachsenen die Möglichkeit, Aufschlüsse darüber zu erhalten, was die Kinder bewegt. Hoernle warnt auch vor „allzu viel Regie" im Probenprozeß, vor einem perfekten Bühnenbild, denn für ihn sind Kinder „die geborenen Schauspieler, voll Unmittelbarkeit und Temperament, realistisch lebendig" 116 . Hierbei folgt er nicht nur sowjetischen Anschauungen, er verweist auch auf das sowjetische Kindertheater in den Kinderkommunen, das, wie er sagt, von vielen Genossen wegen seiner Unmittelbarkeit, Frische und Realistik bewundert würde. Hoernle sieht darin nicht eine nationale Eigenart russischer Kinder, sondern „die Frucht des freien selbstbewußten und tätigen Lebens der Kinder. Auch die deutschen jungen Genossen erreichen in gut geleiteten Kindergruppen diese verblüffende Gestaltungskraft und Sicherheit der Darstellung." 117 Die kommunistische Kindergruppe, die den Arbeiterkindern eine gesellschaftliche Ebene schafft, um ihre Bedürfnisse an die Gesellschaft anzumelden, die ihnen ermöglicht, als Partner des Erwachsenen an der Veränderung der Welt aktiv mitzuwirken, prägt auch das Theaterspiel dieser Kinder. Die organisierte Kraft des Kollektivs stimuliert nicht nur ihre Spielfreude und schöpferische Tätigkeit, sie gibt dieser Arbeit auch Richtung und Ziel und fördert damit das Selbstbewußtsein der Kinder. Hoernle, der selbst über Erfahrungen mit dem Arbeitertheater verfügte (z. B. schrieb er 1921 den Einakter Arbeiter, Bauern, Spartakus) und für den zum ABC proletarischer Erziehung 75

„die Organisierung der Kinder, ihre Einreihung in das Organisationssystem des kämpfenden Proletariats, ihre Leitung durch die revolutionäre Arbeiterpartei" 118 gehörte, betrachtete das Kindertheater als Bestandteil des Arbeitertheaters und der Theaterpolitik der Partei. Dadurch wurde das proletarische Kindertheater in die Lage versetzt, Elemente für ein sozialistisches Kindertheater im Rahmen der Kulturpolitik der Arbeiterklasse auszubilden. Hoernle macht zugleich deutlich, daß eine Theorie des Theaters für oder mit Kindern weder losgelöst von den Interessen einer Klasse, der aufstrebenden oder der herrschenden, noch außerhalb einer Gesamttheatertheorie auszuarbeiten ist. Damit erhielt das Kindertheater eine neue gesellschaftliche Qualität, die es weder als Fachgebiet der Pädagogik, noch als Abfallprodukt des bürgerlichen Theaters erlangen konnte. Die Grundlage des proletarischen Kindertheaters, den Kindern die Möglichkeit zu geben, mit künstlerischen Mitteln am Klassenkampf teilzunehmen, bestimmt auch das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum. Hierbei bezieht sich Hoernle direkt auf Kerschenzews Buch Das schöpferische Theater, wobei für ihn, auf Grund der anders gearteten gesellschaftlichen Verhältnisse, das in dieser Arbeit dargestellte Kapitel Theater und Schule weniger von Interesse sein mußte. Er folgt Kerschenzews Ansichten zum proletarischen Theater als einem Klassentheater und überträgt sie auf das proletarische Kindertheater. Er schreibt: „Eine grundlegende Forderung der Bühnenrevolutionäre (vgl. Kerschenzew: Das schöpferische Theater - C. H.) ist die Herstellung eines engen und aktiven Kontakts zwischen Bühne und Zuschauerraum. Unsere Kinder haben keine dramaturgischen Studien gemacht, aber sie haben diese Forderung schon längst erfüllt. Wohl keine Kinderaufführung findet heute statt, ohne mindestens gemeinsamen Kampfgesang als Abschluß. Ein Beispiel naiv-selbstverständlicher Verbindung zwischen Zuschauern und Darstellern ist die folgende Aufführung einer Berliner Gruppe. ,Schulstreik' steht auf dem Programm. Erwartungsvoll schauen alle alten und jungen Zuschauer nach der immer noch leeren Bühne. Da geht hinter uns am Ende des Saales die Tür auf. Ein Kinderdemonstrationszug zieht herein mit roten Fahnen und Bannern. Frisch und sieges76

bewußt erschallt der Gesang: ,Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!' Ganz hinten marschiert ein kleiner Knirps mit einem mächtigen Pack Zeitungen unter dem Arm und einem Blatt in der Hand. ,Der junge Genosse, der junge Genosse!' ruft er laut, und während der Demonstration zwischen den Reihen der Zuschauer nach der Bühne marschiert, macht unser Zeitungsverkäufer aus Spiel Ernst und verkauft wirklich seine Zeitungen. Wir Zuschauer aber haben uns spontan erhoben und singen kräftig mit. Es fehlte nicht viel, so hätten wir uns dem Demonstrationszug der Kinder angeschlossen. Das kollektive Erlebnis ist da, Spieler und Zuschauer sind eins. Jetzt erst beginnt das ,Theater' vorn auf der Bühne, wo Polizei eingreift, den Zug sprengt und einige Führer verhaftet. Mit ganz anderem Feuer spielen jetzt die Kinder, mit ganz anderem Interesse schauen die Alten zu, als wenn das Stück gleich vorne auf der Bühne begonnen hätte. Bei unserem Theaterspielen kommt es eben nicht so sehr darauf an, daß die Kinder zeigen, was sie können - zur höheren Ehre natürlich der anwesenden Gruppenleiter und Mütter - , sondern auf jene alte, unsere ganze Wirkung durchziehende Forderung: Einreihung der proletarischen Kinder in die Klassenfront der erwachsenen Arbeiter. Unser Bühnenspiel macht nicht nur Propaganda, es schafft lebendige Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen den jungen Genossen in der Gruppe und den Kindermassen außerhalb." 119 Die Aufhebung der „vierten Wand" ist für das proletarische Kindertheater mithin keine Frage der Form oder des „Theaterexperiments", sondern sie ergibt sich aus dem Ziel dieses Theaters, das im kollektiven Erlebnis, im kollektiven Engagement von Darstellern und Zuschauern für die gemeinsame Sache besteht. Entsprechend dem Erziehungsziel der Arbeiterklasse, die Arbeiterkinder in die Kampffront des Proletariats einzubeziehen, wendet sich dieses Kindertheater nicht nur an Kinder, sondern strebt nach der lebendigen Beziehung von Kindern und Erwachsenen. Abgesehen davon, daß damit Traditionen des Volkstheaters wieder belebt wurden, das eine Trennung der Zuschauer in Kinder und Erwachsene nicht kannte, zeigt sich auch darin die Überlegenheit des proletarischen Kindertheaters gegenüber dem bürgerlichen. So wie die Arbeiter77

kinder mit ihren Mitteln in der Wirklichkeit streikende Arbeiter unterstützten, die rote Hilfe für die junge Sowjetunion organisieren halfen, in ihrem Schulkampf die Unterstützung der Arbeiterklasse fanden, gestalteten sie auch in ihrem Theater Themen, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen angingen. Unter zugespitzten Verhältnissen des Klassenkampfes wurde so eine wesentliche konzeptionelle Grundlage für ein sozialistisches Kindertheater geschaffen, auch für ein professionelles Theater f ü r Kinder. Hoernle übertrug die Ansichten Kerschenzews aber nicht schematisch auf das proletarische Kindertheater. Er fand vielmehr darin eine Bestätigung für bereits praktisch wirksame Formen der Beziehung Zuschauer-Darsteller im deutschen Arbeiter- und Kindertheater. Sie resultierten aus Bemühungen des Laientheaters der Jugendbewegung, das gegen die Guckkastenbühne, den Vorhang, gegen die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum auftrat (so zogen z. B. die Spieler zu Beginn durch den Zuschauersaal und traten auch am Schluß auf gleichem Wege wieder ab). Es wurden „Spiele" geschaffen, die die Möglichkeit für die Einbeziehung von Musik, Gesang, Tanz und Pantomime zuließen und zur Wiederbelebung des Volksliedes und des Volkstanzes beitrugen. „So hat die Jugendbewegung Zugänge zu Traditionen des künstlerischen Volksschaffens erschlossen, die in den Großstädten nahezu verschüttet waren [. . .] Über die proletarische Jugendbewegung und den Kommunistischen Jugendverband gingen wesentliche Elemente des Laienspiels in das Arbeitertheater ein. Hier stieß die Idee, ein Gesinnungs- und Gemeinschaftstheater zu schaffen, tatsächlich auf eine klare Gesinnung und auf eine echte Gemeinschaft. Die Laienspielbewegung verlor ihren romantischen Zug, der auf eine Erneuerung vorkapitalistischer und frühbürgerlicher Theaterformen gerichtet war. Traditionelle Kunstelemente verschmolzen mit neuen Inhalten und wurden dadurch umgeprägt. Dieser Prozeß setzte im wesentlichen nach 1918 ein und erreichte seinen Höhepunkt in der Agitpropgruppenbewegung." 120 Dieser Einfluß ist auch an Hoernles Konzeption für ein proletarisches Kindertheater ablesbar. Er zeigt sich sowohl in seiner Stellung zum Märchen als auch in seiner Auffassung 78

von der Ausstattung der Bühne. Hoernle schreibt: „An Kulissen und sonstigen Theaterrequisiten bedarf unsere Bühne sehr wenig. Man spiele vor einem einfarbigen Vorhang. Tische, Bänke, Stühle genügen, um Zimmer und Saal zu markieren. Bei Darstellung einer Szene auf offener Straße, im Wald oder sonstwo im Freien genügen ganz einfache Andeutungen. Hat man einen jungen Künstler zur Hand, so wird er den Kindern einige Anleitungen geben, um selber die nötigen Striche und Farbflecke auf die Leinwand zu bringen. Man sorge auch dafür, daß diese einfachen Kulissen dem Stil des Stückes einigermaßen entsprechen. Hat man gar nicht die Möglichkeit, die Umgebung auch nur andeutungsweise wiederzugeben, so helfe man sich wie zu Shakespeares Zeiten mit einfachen Tafeln t . . r m Der Einfluß der Jugendbewegung äußert sich auch in Hoernles Stellung zum Märchen. Angesichts der minderwertigen, moralisierenden, kitschigen Verwertung des Volksmärchens auf der Bühne des bürgerlichen Berufstheaters und der Surrogate von sogenannten Märchenspielen für Kinder kleinbürgerlicher und reformistischer Provenienz, lehnte Hoernle das Märchen nicht etwa generell ab, sondern suchte es dem proletarischen Kindertheater als Erbe zu erschließen, das im Kindertheater zu allen Zeiten in erster Linie in dem Volksmärchen besteht oder wurzelt. In Abgrenzung vom bürgerlichen Umgang mit den Volksmärchen beruft sich Hoernle auf die epische Form des Volksmärchens, die er auch im Spiel erhalten wissen will durch fließende Übergänge von Erzählen und Darstellen. In dem Abschnitt Die jüngsten - Spiele und Märchen schreibt er: „Soll das Märchen gleichzeitig einer größeren Kinderschar zugänglich werden, so muß es Fleisch und Blut gewinnen, das heißt auf die Bühne gehen. Um Gottes Willen, hör' ich jemand rufen, Rampenlicht tötet das Märchen. Wir stehen mit diesem Ausruf mitten in dem Problem der Kinderbühne. Märchenaufführungen auf der gewöhnlichen Theaterbühne mit elektrischem Rampenlicht, mit gemalten Kulissen, mit geschminkten Berufsschauspielern und einstudierten Rollen, die bedeuten freilich den Tod alles Märchenhaften. Aber gerade das wollen wir ja nicht. Unsere Bühne ist nicht künstlich getrennt vom Zuschauerraum. Sie entsteht ganz ungewollt aus dem Märchen79

erzählen heraus und aus dem Märchenspielen. Man schaue nur zu, wie Kinder sich benehmen, wenn wirklich gut erzählt wird. Es kommt der Bär, und schon beginnt ein kleiner Junge sich bärenmäßig hinzustellen und zu brummen. Der böse Zauberer mißhandelt das kleine Mädchen und schon reckt sich ein Junge in Kampfstellung, um es zu verteidigen. Kinder sind geborene Schauspieler. Jede Regung im kindlichen Gemüt will sich in Blick, Wort und Gebärde ausdrücken. Man beobachte, wie Kinder unter sich - nicht vor Erwachsenen - rezitieren. Es ist nur ein kleiner Schritt vom wirklichen Märchenerzählen zum dramatischen Spielen des Märchens. Und vom Märchenspiel ist nur ein kleiner Schritt zur bühnenmäßigen Aufführung, wenn es weder Kulissen noch Rampenlicht noch Schminke bedarf, da die Phantasie der Kinder noch unverdorben und urwüchsig wie sie ist, alles Fehlende reichlich ersetzt. Umgekehrt, gerade ohne Kulissen und wörtlich auswendig gelernte Rollen wird das Theaterspiel zu einer Schule schöpferischen Ausdrucks, lebhafter Phantasie und ungezwungenen Benehmens. Solche Theatervorstellungen der älteren Kinder für die Kleinen und Fernstehenden sind sowohl ein starkes Anziehungsmittel der Gruppe nach außen wie ein gutes Erziehungsmittel nach innen." 122 Hoernle will nicht nur die alten Geschichten erhalten, sondern auch die Form ihrer Darbietung aus vorkapitalistischer Zeit wiederbeleben, um auf diese Weise neue Märchen, die die Umwelt der Kinder in den Großstädten auf phantastische Weise widerspiegeln, zu schaffen: „Das neue proletarische und industrielle Märchen wird kommen, sobald das Proletariat eine Stätte geschaffen hat, in der wieder Märchen nicht vorgelesen, sondern erzählt, nicht nacherzählt, sondern im Erzählen gedichtet werden." 123 Mag diese Ansicht auch bestimmte Veränderungen in den menschlichen Kommunikationen unberücksichtigt lassen, die eine Neubelebung der bäuerlichen Spinnstube ausschließen, so stimmt doch Hoernles Grundeinstellung zu diesem Genre, indem er die alten Märchen als kulturelles Erbe erhalten und die Gestaltung neuer Märchen - Antizipationen menschlicher Möglichkeiten durch die heranwachsende Generation der aufstrebenden Klasse - befördern will. D a ß Hoernle empfiehlt, Märchen im Kollektiv zu erfinden und zu gestalten, ist auch 80

aus der Arbeitsweise der Kindergruppen erklärbar, die, wie bereits gesagt, die Texte meist selbst entwarfen. D e r ganze Prozeß der Erarbeitung einer Aufführung stellte eine kollektive Leistung dar. Das Kindertheater in den kommunistischen Kindergruppen war, entsprechend dem Erziehungsziel der Kinderorganisation des revolutionären Proletariats, eine große Möglichkeit, die schöpferische Aktivität des einzelnen Kindes zu einer gesellschaftlichen Aktivität des Kollektivs, d. h. die Tätigkeit des einzelnen zu einer gesellschaftlich bedeutsamen Tätigkeit zu machen. Unter kapitalistischen Verhältnissen, in denen die Kinder Objekte der Erziehung sind, in denen die herrschende Klasse den „Minderjährigen" in der Phase des Heranwachsens und Lernens gesellschaftliches Mitspracherecht versagt, hat das Kindertheater auf der Basis der Organisation der Arbeiterklasse eine echte emanzipatorische Funktion. E s ist nicht nur, wie Hoernle hervorhebt, „Glied der kollektiven Arbeitserziehung", sondern es fördert zugleich den Prozeß, in dem sich der junge Mensch als handelndes Subjekt begreifen kann. Hierin liegt ein wesentlicher Grund für die Aufmerksamkeit, die die Kommunistische Partei dem Kindertheater schenkte. Unter dieser Prämisse sind die Struktur und die Aufgaben der Anfänge eines sozialistischen Kindertheaters zu verstehen und zu werten. Hoernle schreibt: „Wir können und dürfen unsere Kinder nicht im geschützten Gewächshaus aufziehen, sollen sie später den Stürmen des Klassenkampfes Trotz bieten." 12/ * Und er definiert das Kindertheater in den kommunistischen Kindergruppen als ein Klassentheater, als ein Instrument der Kinder, aktiv am Klassenkampf teilzunehmen. In der Etappe des Aufbaus des Sozialismus ist nicht nur die Ausbeutung der Kinder aufgehoben, sondern die gesellschaftliche Stellung der jungen Generation von Grund auf verändert. D i e Kinder sind der Gesellschaft auf neue Weise integriert, und innerhalb eines breiten Bildungs- und Erziehungssystems ist auch das Kindertheater nicht nur ein Laboratorium für die ästhetische Erziehung, sondern behält seinen gesellschaftlichen Bezug, indem es die schöpferische Tätigkeit der Kinder in dem von Hoernle beschriebenen Sinne aktiviert. So kann die Definition der Funktion des politisch organisierten Kinderkollektivs im Sozialismus auch auf das Theater mit 6

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Kindern in diesem gesellschaftlichen Bereich ausgedehnt werden: „Soll sich das Kind im sozialistischen Sinne als gesellschaftliches Wesen, als aktiv handelndes Subjekt begreifen, so muß bei der Gestaltung des Lebens in den Pionierkollektiven die Wissensvermittlung eng verbunden werden mit dem Erleben der eigenen Aktivität, mit der unmittelbaren Teilnahme an der Veränderung und Gestaltung der Gesellschaft. Das ist auch eine Grundbedingung f ü r die Glaubhaftigkeit und Relevanz des Wortes. E b e n für diesen komplizierten Prozeß der Bewußtseinsänderung, der planmäßig, kontinuierlich und differenziert geführt werden muß, ist das Pionierkollektiv unersetzlich. Das politisch organisierte Kinderkollektiv bietet die umfassendsten Möglichkeiten, schon im Kindesalter sozialistische Demokratie auszuüben. Es ist eine Elementarschule des sozialistischen Denkens, Wollens, Verhaltens und Handelns." 1 2 5 Für das „Erleben der eigenen Aktivität" des Kindes und damit f ü r das Bewußtwerden eigener Möglichkeiten, für die Förderung des Selbstbewußtseins und die Eingliederung persönlicher Initiativen in ein kollektives Interesse bleibt das Theater mit und für Kinder im Sozialismus ein wichtiger Ort.

Walter Benjamin: nProgramm eines proletarischen Kindertheaters" Für die Entwicklung des sozialistischen Kindertheaters in Deutschland waren die sowjetischen Erfahrungen unerläßlich. Sie gelangten durch Berichte in der Presse und durch persönliche Begegnungen nach Deutschland. Einer der wichtigsten Informanten war Anna Lacis (von ihren deutschen Freunden Asja genannt). 1928 kommt die lettische Regisseurin im Auftrage der Filmkommission und der Abteilung Theater und Kunst des Moskauer Kommissariats für Volksbildung nach Berlin, um Schulfilme, die zu diesem Zeitpunkt in der Sowjetunion noch unbekannt waren, und mit deren Produktion begonnen werden sollte, anzusehen. In Berlin wird sie Pressevertreter der Filmabteilung und Leiter des Referats für Kulturund Kinderfilm der sowjetischen Handelsmission. Anna Lacis 82

hatte nach dem Abschluß des Kommissarschewski-Studios in Moskau 1918 als Regisseur am Stadttheater in Orel begonnen. Aber angesichts des Kinderelends durch Krieg und Bürgerkrieg entschloß sie sich, sich diesen Kindern zu widmen und gründete deshalb mit Unterstützung der städtischen Volksbildungsorgane ein Kindertheater. Danach organisierte sie in Riga an der Volksuniversität ein Agitproptheater, das wegen seiner revolutionären Stücke polizeilichen Verfolgungen ausgesetzt war. Als dieses Theater unter den Einfluß der Menschewiki geriet, ging sie 1922 nach Berlin und lernte Bernhard Reich kennen, dem sie nach München folgte, als Reich zum Oberspielleiter der Münchner Kammerspiele berufen wurde. Hier arbeitete sie als Regieassistentin mit Brecht an dessen Inszenierung seines Stückes Leben Eduards des Zweiten von England und spielte die Rolle des jungen Eduard. 1924, in Capri, begegnete ihr Walter Benjamin, mit dem sie seither eine enge Freundschaft verband. Benjamin widmete ihr die Einbahnstraße. Er besuchte A. Lacis 1925 in Riga, wo sie erneut als Regisseurin an einem Arbeitertheater tätig war und auch Stücke mit Kindern inszenierte. 1926, als ihre Verhaftung bevorstand, wurde sie von der Kommunistischen Partei nach Moskau geschickt. Im Sommer führte sie im Moskauer Sokolniki-Park theatralisierte Spiele mit Kindern auf und wurde Inspektor für außerschulische Erziehung. In dieser Zeit kam auch Benjamin nach Moskau, lernte aber, wie gelegentlich angenommen wird, das sowjetische Kindertheater nicht aus eigener Anschauung kennen. A. Lacis gründete ein Kinder-Studio und traf mehrmals mit N. Krupskaja zusammen, die im Kommissariat für Volksbildung für außerschulische Erziehung verantwortlich war. 1928 in Berlin erzählte sie Johannes R. Becher und Gerhart Eisler von ihrer Theaterarbeit mit Kindern. „Das Modell einer ästhetischen Kindererziehung gefiel ihnen, und sie schlugen vor, ein solches Kindertheater im Liebknechthaus zu errichten. Ich sollte das Programm ausarbeiten. Walter Benjamin hatte schon in Capri (1924) von meinem Kindertheater erfahren und ein außerordentliches Interesse daran gezeigt. ,Ich werde das Programm schreiben', sagte er, ,und deine praktische Arbeit theoretisch darlegen und begründen.' Er schrieb 6*

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es wirklich. Aber in der ersten Fassung wurden meine Thesen ungeheuer kompliziert dargestellt. Im Liebknechthaus las man und lachte: Das hat dir ja Benjamin geschrieben! Ich gab Walter Benjamin das Programm zurück, er solle verständlicher schreiben. So entstand das Programm eines proletarischen Kindertheaters in einer zweiten Fassung (die erste ist noch nicht wieder aufgefunden)." 126 A. Lacis ging in ihrem Kindertheater-Modell in Orel davon aus, die ästhetischen und moralischen Fähigkeiten der Kinder zu wecken und zu fördern. Dafür schien ihr ein vorgegebenes Stück, das mit Kindern inszeniert wird, ungeeignet, denn die Kinder hätten sich dann dem Willen des Regisseurs unterzuordnen und nur das Ziel - die Premiere - vor Augen. Um die schöpferischen Fähigkeiten der Kinder vielseitig zu entwickeln, baute A. Lacis Sektionen für Malen und Zeichnen, Musik, technisches Training, Rhythmus, Gymnastik, Diktion und Improvisation auf. In der Improvisation wurden die Arbeitsergebnisse der einzelnen Sektionen zusammengeführt. „So entstand das Spiel. Kinder spielten für Kinder. Das System von Beschäftigungen wurde in eine anspruchsvollere, zugleich kollektive ästhetische Form überführt [. . .] Ziel der kommunistischen Erziehung ist es, auf Grund eines hohen allgemeinen Bildungsniveaus Produktivität freizusetzen, dies bei speziellen wie nichtspeziellen Begabungen [. . .] Ausgangspunkt für Erzieher und zu Erziehende war für uns d i e B e o b a c h t u n g . Die Kinder beobachten die Dinge, ihre Beziehungen zueinander und ihre Veränderbarkeit; die Erzieher beobachten die Kinder daraufhin, was sie erreicht haben und wie weit sie ihre Fähigkeiten produktiv anwenden können. Nicht nur im Studio wurde das Beobachten geübt und durch das Zeichnen, Malen, Musizieren weitergeführt, sondern auch im Freien. Früh am Morgen und wieder am Abend gingen wir mit den Kindern nach draußen und machten sie aufmerksam, wie die Farben durch Entfernung und Tageszeit sich ändern, wie verschieden Töne und Geräusche morgens und abends klingen, und daß die Stille singen kann [. . .] Das improvisierende Spiel war für die Kinder Glück und Abenteuer [. . .] Das Stück öffentlich aufzuführen wurde erst dann diskutiert, als die Arbeit der einzelnen Sektionen zur Synthese drängte. Da entstand die Forderung 84

eines kollektiven Tuns - die moralisch-politische Erziehung im sozialistischen Sinne - und der Wunsch, das Spiel auch den Kindern der ganzen Stadt zu zeigen. Die öffentliche Aufführung wurde zu einem Fest [. . .] Unsere Methode hatte sich bewährt. Wir erhielten den Beweis, d a ß es richtig war, die Leiter gänzlich zurücktreten zu lassen. Die Kinder glaubten, d a ß sie alles selber machten - und spielend schafften sie es. Ideologie wurde den Kindern nicht aufgedrängt und nicht eingedrillt, sie eigneten sich an, was ihren Erfahrungen entsprach." 1 2 7 Als sich aber A. Lacis 1925 erneut mit dem Kindertheater beschäftigte, und zwar unter den Kampfbedingungen im damaligen Lettland, übertrug sie das „Oreler Modell" nicht auf das proletarische Kindertheater in einer zugespitzten Klassenkampfsituation, sondern den anders gearteten politischen Umständen Rechnung tragend, benutzte sie die Mittel des Agitproptheaters auch in der Theaterarbeit mit Kindern. In einem Gespräch mit der Autorin erinnert sie sich: „Die linken Gewerkschaften in Riga hatten einen Klub, dort haben wir mit Arbeitern Stücke aufgeführt. Ich habe als Regisseur gearbeitet. Wir wurden von der Polizei überwacht und verfolgt. D i e Kinder kamen zu den Aufführungen und Proben immer mit, sie waren auch dabei, wenn wir Plakate gemalt, Artikel für unsere Zeitungen und Flugblätter geschrieben haben. Ich habe gedacht, das geht doch nicht, man muß die Kinder beschäftigen, und so haben Leon Paegle und Linard Laizens spezielle Stücke für Kinder geschrieben, die ich inszenierte. Dabei mußten wir sehr schlau sein, es war ein Wettlauf in Schlauheit mit der kapitalistischen Regierung. Zum Beispiel haben wir zu Weihnachten eine Aufführung gemacht, und die Kinder waren nicht nur Schauspieler, sondern schon kleine politische Arbeiter. Sie wußten besser als wir, wenn ein Spitzel in Privatkleidung im Saal war. Die Kinder haben auch Flugblätter mit unserem Programm verteilt, und immer wußten sie, wenn ein Spitzel kam. Wir haben Stücke mit ihnen aufgeführt gegen die Kirche und die ,grauen Barone' (lettischer Ausdruck für Kulaken - C. H.) z. B. Knüppel aus dem Sack und Die Nähmaschine und die Mühle, in denen den Kindern ökonomische Zusammenhänge auf einfache Art erklärt wurden. Beispiels85

weise wird erzählt, wie einem Schneider seine Nähmaschine, sein Produktionsmittel, weggenommen wird, und er daraufhin verarmt [. . .] Wir haben auch kleine Massenspiele, in denen Kinder Arbeiter darstellten, durchgeführt. Aus diesen Spielen entwickelte sich die erste kleine Pioniergruppe in Riga. D a s war eine ganz andere Art von Kindertheater als in Orel. Ich konnte das nicht so ausarbeiten, es mußte alles schnell zusammengestellt werden, weil ich viel Arbeit mit dem Verfolgten Theater (diesen Namen gaben die lettischen Arbeiter ihrem Theater - C. H.) hatte, und immer mußte man sich ausdenken, wie man die Polizei und die Regierung hintergeht. D a s mußte eine ganz andere Art von Kindertheater sein, denn die politischen Verhältnisse waren ja ganz andere." 1 2 8 Walter Benjamins Programm hat keinen unmittelbaren geschichtlichen Zusammenhang mit der Herausbildung des proletarischen Kindertheaters in Deutschland. E s fußt vor allem auf den Berichten von Anna Lacis: „Ich habe ihm alles erzählt, wie wir das Stück aufgeführt haben, über die Sektionen und die Improvisation, über die Besprisorniki und daß man sogar ein ganz verkommenes Kind durch das Theater gesund machen kann." 1 ® Dadurch spiegelt das Programm nicht die zeitgenössischen Diskussionen in Deutschland über die Notwendigkeit eines proletarischen Kindertheaters wider, sondern reflektiert sowjetische Experimente der frühen zwanziger Jahre, gebrochen in Benjamins philosophischer Sicht. In einem Punkte allerdings hat das Programm durchaus mit dem sich herausbildenden proletarischen Kindertheater in Deutschland zu tun, nämlich als dessen Gegenentwurf. Benjamin wendet sich im Kern seines Programms gegen die Vermittlung politisch-ideologischer Aussagen durch Kindertheater, gegen die Verwendung des Kindertheaters als Instrument der Agitation und Propaganda und damit gegen jene Formen des proletarischen Kindertheaters, die A. Lacis in Riga 1925/26 erprobte und die sich in ähnlicher Weise in Deutschland in jener Zeit entwikkelten. So ist Benjamins Programm erst Ende der sechziger Jahre in den Blickpunkt des Interesses gerückt; es wurde zu einem Manifest des „antiautoritären" Kindertheaters in Westberlin und der B R D . Dieser aktuelle Aspekt und die Auswirkungen des sowjetischen Kindertheaters auf Überlegungen 86

zu einem proletarischen Kindertheater in Deutschland der zwanziger Jahre bestimmen die nachfolgenden Bemerkungen zu Walter Benjamins Programm eines proletarischen Kindertheaters. „Es zeigt den Geist jener Jahre, als die aus der Bourgeoisie kommende progressive Intelligenz die Anzeichen einer neuen Gesellschaft gierig aufgriff und nach Konturen ihrer geistigen Verfassung suchte. Überblickt man das ,Programm eines proletarischen Kindertheaters' im ganzen, so wird deutlich, mit welcher Sympathie Walter Benjamin das kommunistische Experiment in der Sowjetunion verfolgte", schreibt A. Lacis. 130 Im Zusammenhang dieser Arbeit ist Benjamins Polemik mit dem bürgerlichen Theater weniger von Interesse; seine Vorschläge für ein proletarisches Kindertheater sollen vor allem unter dem Ausgangspunkt dieser Arbeit geprüft werden, nämlich inwieweit sich die Kinder in diesem Theater als Subjekt ihrer Erziehung bewähren können. Ausgehend von der These, daß die Erziehung der Arbeiterkinder von der revolutionären Arbeiterklasse selbst organisiert werden und diese Erziehung vom Klassenbewußtsein getragen sein muß, sucht Benjamin nach Instrumenten dieser Erziehung, die den Kindern gemäß sind. „Die proletarische Erziehung muß vom Parteiprogramm, genauer: aus dem Klassenbewußtsein aufgebaut sein. Aber das Parteiprogramm ist kein Instrument einer klassenbewußten Kindererziehung, weil die an sich höchst wichtige Ideologie das Kind nur als Phrase erreicht." 131 Im Unterschied zur bürgerlichen Pädagogik, die immer neue „Methoden" und Ideen erfindet, um stets die Kinder z u etwas zu erziehen, brauche die proletarische Erziehung „zuerst einmal einen Rahmen, ein sachliches Gebiet, i n dem erzogen wird". Dieser Rahmen ist, nach Benjamins Ansicht, für Kinder vom vierten bis zum vierzehnten Lebensjahr das proletarische Kindertheater, und zwar aus folgendem Grunde: „Die Erziehung des Kindes erfordert: e s m u ß s e i n g a n z e s L e b e n e r g r i f f e n w e r d e n . / Die proletarische Erziehung erfordert: es m u ß in e i n e m b e g r e n z t e n G e b i e t e r z o g e n w e r d e n . / Das ist die positive Dialektik der Frage. Weil nun das ganze Leben in seiner unabsehbaren Fülle gerahmt und als Gebiet einzig und allein auf dem Theater erscheint, darum ist das proletarische Kindertheater für das proletarische 87

Kind der dialektisch bestimmte Ort der Erziehung." Und er fährt wenig später fort: „So wie der erste Griff der Bolschewiki die rote Fahne erhob, so organisierte ihr erster Instinkt die Kinder. In dieser Organisation hat sich als Zentrum das proletarische Kindertheater, Grundmotiv der bolschewistischen Erziehung, entwickelt." 1 3 2 Kerschenzews Ansichten über die Theatralisierung des Lehrprogramms in der Schule, die Erfolge, die durch das Theater bei der Wiedereingliederung der Besprisorniki in die Gesellschaft erreicht wurden, die Versuche in der Kommune „Kinderstadt der III. Internationale", die unabhängig von A. Lacis' Arbeit in Orel in ähnlicher Art erfolgten, stehen im Hintergrund dieser Anschauung. Obwohl Benjamin erwähnt, d a ß das sowjetische Kindertheater im außerschulischen Bereich auf der Organisation der Kinder basiert, betrachtet er als den Rahmen, das Grundmotiv proletarischer Erziehung das Kindertheater. Und im Vergleich mit der pädagogischen Praxis des Bürgertums sieht er die Erhärtung seiner Ansicht. „Nichts gilt der Bourgeoisie für Kinder so gefährlich wie Theater. D a s ist nicht nur ein restlicher Effekt des alten Bürgerschrecks, der kinderraubenden fahrenden Komödianten. Hier sträubt vielmehr sich das verängstete Bewußtsein, die stärkste K r a f t der Zukunft in den Kindern durch das Theater aufgerufen zu sehen. Und dies Bewußtsein heißt die bürgerliche Pädagogik das Theater ächten. Wie würde sie erst reagieren, wo das Feuer, in welchem Wirklichkeit und Spiel für Kinder sich verschmelzen, so eins werden, d a ß gespielte Leiden in echte, gespielte Prügel in wirkliche übergehen können, aus der N ä h e ihr spürbar wird." 1 3 3 Benjamin überträgt die sowjetischen Bedingungen nach der siegreichen Oktoberrevolution - als die junge Sowjetmacht bereits in der Lage war, die Erziehung der Kinder, obgleich noch nicht in einem ausgearbeiteten Erziehungs- und Bildungssystem, so doch auf staatlicher Basis zu organisieren, als das Kinderheim die einzige Möglichkeit war, die Besprisorniki wieder der Gesellschaft zu integrieren - auf die Klassenverhältnisse im kapitalistischen Deutschland. Zugleich folgt er auch jener von Lenin scharf kritisierten Ansicht, d a ß die Revolution mit der Machtübernahme des Proletariats auf allen Le88

bensgebieten siegreich abgeschlossen sei; diese spiegelt sich in der „Pädalogie" unter anderem darin wider, daß das Kinderkollektiv, befreit von den alten Gesellschaftsstrukturen, kommunistisches Verhalten „von selbst" hervorbringt, weil die kommunistischen Lebensformen als die humansten den Kindern „von Natur aus" gemäß seien. Dem muß entgegengehalten werden, daß sich keinerlei Bewußtsein naturwüchsig einstellt, und daß nicht einmal unter einer sozialistischen Gesellschaftsformation alle ihre Überbauelemente notwendig sozialistische sind. Benjamin sieht im proletarischen Kindertheater einen Ort, der von der antagonistischen Umwelt so abgeschirmt werden kann, damit die Kinder hier, im gerahmten Leben, sich so entäußern können, daß Spiel und Wirklichkeit verschmelzen und reale Konflikte in spielerischer Entbindung gesellschaftsverändernde Utopien hervorbringen. Damit wird das Kindertheater wiederum zu einer reformpädagogischen Insel außerhalb der Gesellschaft. Die Basis der proletarischen Erziehung ist im Kapitalismus nicht das Kindertheater, sondern die mit der revolutionären Arbeiterklasse verbundene und geleitete politische Organisation der Kinder, die es den Kindern ermöglicht, innerhalb der Gesellschaft aktiv handelnd ihre Bedürfnisse zu äußern und zugleich mit ihren Kräften an der Veränderung der Welt mitzuwirken. Wie anläßlich Hoernles Auffassungen zum Kindertheater ausgeführt, kann das Theater nur eine Seite dieses Erziehungsprozesses sein, und auch nur dann, wenn es in einem gesellschaftlichen Bezugssystem gesehen wird. Hoernle warnt mit Nachdruck vor der Loslösung der Arbeiterkinder aus ihrer Umgebung, ihrem Milieu, und er schreibt bereits 1922 in seinem Aufsatz Erziehung zum Klassenkampf: „Im Worte .Erziehung zum Klassenkampf' liegt schon die Antwort. Den Kämpfer kann man nicht auf einer abgeschnittenen Insel erziehen, sondern nur mitten auf dem Kampfplatz. Das kämpfende Proletariat hat weder die Macht noch die Mittel, um innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ein wirkliches sozialistisches Schulwesen aufzubauen. Jeder Versuch, durch Horte und Heime die Kinder von ihrer proletarischen Umgebung zu lösen, bedeutet unter den heutigen Verhältnissen die Loslösung eines ganz kleinen Teils proletarischer Kinder von der großen 89

Masse ihrer unglücklichen Genossen, bedeutet also nicht E r ziehung zum Klassenkampf, sondern zu ästhetisierenden, moralisierenden Utopisten, die sich später auf der Arena des politischen und ökonomischen Kampfes nicht zu Hause, sondern sehr unbehaglich fühlen. Diese Art der Erziehung hat freilich eine Voraussetzung: Sie kann nur geleistet werden von einer Organisation, die im Rahmen des allgemeinen Klassenkampfes zugleich den intensivsten Kampf führt um die Befreiung des proletarischen Kindes aus materieller und geistiger Verelendung, also von einer revolutionären Kampforganisation [. . .]Erziehung ist für uns: Einführung des Menschen in seine g e s e l l s c h a f t l i c h e n Funktionen [. . .] Das Problem unserer revolutionären Erziehung ist: D i e E i n f ü h r u n g d e s p r o l e t a r i s c h e n K i n d e s in d e n K a m p f u n d d i e A r b e i t s e i n e r K l a s s e , also seine Aktivierung, seine Erfüllung mit der revolutionären Ideologie, seine Anleitung zum proletarischen Handeln. D a s E r l e b n i s d e r K l a s s e zum individuellen Erlebnis des Kindes zu machen, darauf kommt es an. Das Wort Erlebnis brauchen wir hier im Sinne bewußter Aktivität." 1 3 4 Benjamin hingegen will die Kinder vor dem Einfluß der Ideologie schützen. „Das Proletariat darf sein Klasseninteresse an den Nachwuchs nicht mit den unsauberen Mitteln einer Ideologie heranbringen, die bestimmt ist, die kindliche Suggestibilität zu unterjochen. D i e Disziplin, welche die Bourgeoisie von den K i n d e r n verlangt, ist ihr Schandmal. Das Proletariat d i s z i p l i n i e r t erst die herangewachsenen Proletarier; seine ideologische Klassenerziehung setzt mit der Pubertät ein. D i e proletarische Pädagogik erweist ihre Überlegenheit, indem sie Kindern die Erfüllung ihrer Kindheit garantiert." 1 3 5 Benjamin anerkennt nur eine Verbindung der Kinder mit den Klassenkämpfen, er gestattet ihnen, in ihren Spielen mit diesen Inhalten und Symbolen zu hantieren. Indem er aber einen Freiraum für die Entfaltung der jungen Persönlichkeit schaffen will, expediert er die Selbstverwirklichung des Kindes in eine „Eigenwelt" und entfernt sich von der marxistischen Auffassung, daß sich das Individuum, auch das Kind, nur in der „umwälzenden Lebenspraxis" innerhalb der Gesellschaft verwirklichen kann. Benjamin folgt Hoernle, der nicht nur die

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Natur des Kindes ernstnimmt, sondern auch die gesellschaftliche Lage der Arbeiterkinder analysiert, aber er scheut dessen Konsequenz, nämlich daß die Interessen und die Bedürfnisse der Arbeiterkinder denen ihrer Klasse entsprechen. In dem Bemühen, die Entfaltung der Bedürfnisse der Kinder zu befördern, baut Benjamin die von der marxistischen Pädagogik aufgehobene Weltentrennung zwischen Kindern und Erwachsenen wieder auf und postuliert für ein proletarisches Kindertheater: „Moralische Einwirkung gibt es hier nicht. Unmittelbare Einwirkung gibt es hier nicht [. . .] Was zählt, ist einzig und allein die unmittelbare Einwirkung des Leiters auf Kinder durch Stoffe, Aufgaben, Veranstaltungen. Die unvermeidlichen moralischen Ausgleichungen und Korrekturen nimmt das Kollektivum der Kinder selbst an sich vor." 1 3 6 Der Erzieher hat vor allem die Aufgabe der Beobachtung, dann „wird jede kindliche Aktion und Geste zum Signal [. . .] Fast jede kindliche Geste ist Befehl und Signal in einer Umwelt, in welche nur selten geniale Menschen einen Blick eröffnet haben [. . .] Es ist die Aufgabe des Leiters, die kindlichen Signale aus dem gefährlichen Zauberreich der bloßen Phantasie zu erlösen und sie zur Exekutive an den Stoffen zu bringen." 137 Benjamin verabscheut die bürgerliche Herablassung gegenüber Kindern so sehr, daß er eine Überlegenheit der Kinder gegenüber den Erwachsenen behauptet und dem Erwachsenen nur einen Beobachtungsposten am Rande der „Kinderwelt" einräumt, auf den aber die „Aufführungen des Kindertheaters" wie eine „echte moralische Instanz wirken müssen" 138 . Benjamin sagt, daß allemal „Lafferei herauskomme, wenn Erwachsene für Kinder spielen", aber die „Aufführungen des Kindertheaters auf Erwachsene wie eine echte moralische Instanz wirken müssen". 139 Er hofft, daß vor einer Aufführung, von Kindern veranstaltet, sich schämt, „wer noch nicht ganz verblödet ist" 140 . Diese seine Wertschätzung des proletarischen Kindertheaters als „Rahmen der Erziehung" steht aber im Zusammenhang mit der Überschätzung des spontanen Elements in der Bewußtseinsbildung. Benjamin wendet sich nachdrücklich gegen die „Indoktrination" durch Ideologien und Parteiprogramme; er geht zwar vom Klassenbewußtsein aus, aber indem er einen Unter-

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schied setzt zwischen Klassenbewußtsein und der Ideologie, die im Parteiprogramm ihren bestimmten historischen Ausdruck findet, überschätzt er die spontanen Elemente bei der Herausbildung des Bewußtseins einer Klasse wie der jungen Generation, die sich ihrer Klassenlage bewußt werden muß. D a s Bewußtsein der Klasse wird hier unmittelbar aus der Klassenlage geschlossen, ohne die geschichtlich disziplinierenden Faktoren der Wissenschaft (Ideologie) und der Organisiertheit (leninistisches Parteiprinzip). A. Lacis äußerte in einem Gespräch mit der Autorin, d a ß Benjamin keineswegs das Kindertheater entideologisieren wollte: „ E r meinte, man m u ß die Ideologie nicht aufdringlich machen, sondern durch Tatsachen, durch Handlungen und Arbeit, durch die kollektive Gemeinschaft zur Ideologie erziehen. In den Unterhaltungen mit mir hat Benjamin nie gesagt, d a ß man die Kinder erst mit vierzehn Jahren politisch erziehen soll. D i e politische Erziehung des Kindes beginnt ja schon mit dem Tage seiner Geburt. Benjamin war zu klug, er hat das sehr gut verstanden. E r meinte nur, man darf die Ideologie den Kindern nicht gewaltsam aufzwingen. Ebenso wie ich als Regisseurin und Pädagogin der Ansicht war, d a ß der Regisseur in einem Kindertheater den Kindern nichts aufdrängen soll, wie das jetzt in den Schulen geschieht, d a ß ein Regisseur unten sitzt und den Kindern auf der Bühne sagt: J e t z t mußt du nach rechts gehen, jetzt mußt du nach links gehen, das mußt du so sprechen.' D a m i t bekommt man kein ethisches, sozialistisches Resultat." 1 4 1 A. Lacis sagt, und sie beruft sich dabei auf einen Ausspruch von N. Krupskaja, d a ß man „das Kind studieren müsse", aber dennoch unterscheidet sich ihre Auffassung von der Benjamins. Für sie gibt es jenen von Benjamin behaupteten Gegensatz zwischen den Heranwachsenden und Erwachsenen nicht, und sie widerspricht in diesem Zusammenhang auch Benjamins Ansicht, d a ß „das Kind in seiner Welt als Diktator lebt" 1 4 2 *. D i e unterschiedlichen Positionen zwischen dem in Orel praktizierten Original und dem darauf aufgebauten theoretischen Modell zeigen sich beispielsweise an der Funktion der Beobachtung im Erziehungsprozeß. Während Benjamin die Erzieher zu Beobachtern einer ihnen kaum erschließbaren kindlichen 92

Sphäre macht, ist für A. Lacis die Beobachtung ein wichtiges Erziehungsmittel für Erzieher u n d zu Erziehende, d. h. der Erzieher l e h r t die Kinder, Vorgänge in der Natur und zwischen Menschen zu beobachten, und er beobachtet die Kinder, wie sie unter seiner Anleitung ihre Beobachtungen schöpferisch verarbeiten. Dabei wird sich der Erzieher nicht nur darauf beschränken können, die Phantasie der Kinder zu organisieren, sondern er muß den Kindern auch Aufgaben stellen, die ihre schöpferischen Fähigkeiten mobilisieren, ihre Phantasie anregen. Ohne Zweifel besaß A. Lacis diese Voraussetzungen, und Benjamin war, angesichts der bürgerlichen Bildungs- und Theaterpraxis, von ihrem Beispiel fasziniert. An vielen Stellen seines Programms betont er das menschliche Verhältnis der Arbeiterklasse zu Kindern gegenüber der Kinderfeindlichkeit der Bourgeoisie. Benjamins Programm eines proletarischen Kindertheaters ist für uns eine Aufforderung, die musisch-ästhetische Bildung und Erziehung sowohl der zu Erziehenden wie der Erzieher zu überdenken, damit die Lehrenden und die Lernenden in produktive Wechselbeziehung zueinander treten.

Kindertheater

und

Agitprop

Ein Theater, das die Erziehung der jungen Generation zu Sozialisten als seine Aufgabe erkennt, ein sozialistisches Kindertheater also wird in allen Phasen seiner Entwicklung Antwort auf die Frage finden müssen, zu welcher Weltanschauung es seinen Zuschauer bringt. Die Ausschnitte der „Welt", die das Theater zeigt, um die „Anschauung" der Welt zu üben, müssen nicht nur mit der Wirklichkeit übereinstimmen, sondern diese auch und vor allem als sozialistisch veränderbar beschreiben. Das sozialistische Kindertheater sieht sich immer wieder dieser Frage nach den „Wirklichkeitsausschnitten" gegenüber: welche Stoffe, Literaturen, Gesellschaftsbereiche sind auf dem Theater den Kindern adäquat, und wie können sie derart zur Anschauung gebracht werden, daß sie der Weltanschauung von Sozialisten entsprechen. Das Problem stellt sich natürlich nicht nur dem Kinder- und Jugendtheater, das 93

sich aber unter zwei besonderen Aspekten damit zu befassen hat: Es m u ß die Wirklichkeit so darstellen, d a ß sie dem jungen Publikum verständlich und empfindbar wird, und dies nicht auf eine „naturwüchsige" („kindgemäße") Weise, sondern eben auf s o z i a l i s t i s c h e , die nicht „gegeben" ist, sondern angeeignet werden muß. Das sozialistische Kindertheater hat es damit auf den ersten Blick mit einer doppelten Schwierigkeit zu tun, nämlich mit einer Realitätsbegrenzung und mit begrenzten Voraussetzungen der Wirklichkeitserfassung. Es hat auf diese Schwierigkeit im Verlauf seiner Entwicklung mit sehr unterschiedlichen Lösungsvarianten geantwortet, und es ist gegenwärtig durchaus noch der Frage konfrontiert. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Einbeziehung des Kindertheaters in die Agitation und Propaganda der revolutionären Arbeiterbewegung in Deutschland aufschlußreich. Agitation, also Werbung auf der Grundlage einer politischen Taktik, und Propaganda, die Schulung in einer weltanschaulichen Strategie, beherbergen für ein sozialistisches Kindertheater jene doppelte Schwierigkeit und lassen zugleich nur eine Antwort zu, denn es gibt weder eine eigene „Politik für Kinder" noch einen „kindgemäßen" Marxismus. Indem das frühe sozialistische Kindertheater Agitprop-Funktionen annahm, sagte es aus, d a ß es keine besondere Wirklichkeit für Kinder akzeptiert, sondern das Kind als gesellschaftliches Wesen in einer sozialen Wirklichkeit, selbst der unmittelbar politischen sieht, und d a ß für die Interpretation dieser Wirklichkeit zum Zwecke ihrer Veränderung keine anderen Methoden tauglich sind als die der sozialistischen Weltanschauung. Alles weitere sind Fragen nicht mehr prinzipieller Natur, sondern methodischer Art. Was Walter Benjamin entsetzte, war theatergeschichtlich ein erster Schritt des Kindertheaters heraus aus der Idylle. Bereits kurz nach der Novemberrevolution hatten in Deutschland unter dem Einfluß des sowjetischen Proletkults und der Experimente zu einem proletarischen Theater Bestrebungen eingesetzt, mit Arbeiterkindern auf kollektive Weise Stücke zu schreiben und aufzuführen, die das Leben des Proletariats zum Inhalt hatten. Die Erlebnisse und Beobachtungen, die Vorstellungskraft und Spielfreude der Arbeiterkinder sollten möglichst naiv und ungesteuert durch vorgefertigte Ele94

mente und Normen zum szenischen Ausdruck kommen. Die Versuche standen in unverkennbarem Zusammenhang mit der Ambition des Proletkults, eine neue Kunst auf den Voraussetzungen des Proletariats zu schaffen. Sie hatten, wie die deutsche Proletkultbewegung generell, nur geringe Folgen und haben zu keiner eigenständigen geschichtlichen Form frühen sozialistischen Theaters geführt. Wichtig waren die Versuche lediglich unter dem Aspekt, daß sich ein im Entstehen begriffenes proletarisch-revolutionäres Theater Deutschlands sofort auch an die Arbeiterkinder richtete, und zwar in jeder Weise: als Autoren, Spieler, Zuschauer, Techniker usw. Als eine für kollektives künstlerisches Schaffen besonders geeignete szenische Form entwickelte sich das Agitprop-Programm, das für das proletarische Kindertheater allgemein als Lebende Zeitung bezeichnet wurde. Die Agitproptruppen der Kinder entstanden um 1927/28. Ihre Vorläufer waren Veranstaltungen von Gruppen des )ung-Spartakus-Bund.es, in denen kurze Szenen von Kindern aufgeführt wurden, und die Roten Rummel des kommunistischen Jugendverbandes. Auch in einigen Vereinen des Deutschen Arbeiter-Theater-Bundes wurden gelegentlich Programme mit Kindern für Kinder gezeigt, bzw. die Kinder am Gruppenleben beteiligt. Entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung in Deutschland nahm das Beispiel der sowjetischen Lebenden Zeitung. Sie wurde auf drei Wegen in Deutschland bekannt: durch Berichte und Nachrichten, die in der deutschen Presse erschienen, durch das persönliche Kennenlernen bei Delegationsreisen deutscher Parteiarbeiter und Jugendfunktionäre in die Sowjetunion, die den politischen Wert dieser neuen szenischen Agitationsform für die proletarische Kinderbewegung erkannten, sowie durch das Gastspiel der Moskauer Blauen Blusen von Oktober bis Dezember 1927 in Deutschland. Der Einfluß dieses Gastspiels darf allerdings für die Herausbildung der Kinder-Agitproptruppen nicht überschätzt werden, denn die Blauen Blusen waren eine Gruppe von bereits professionell arbeitenden, artistisch perfekten Spielern, die als Modell für eine Kinder-Agitproptruppe kaum gelten konnte. Allerdings hatten die Blauen Blusen die dramaturgische Form der Lebenden Zeitung und den Begriff selbst als dominierend in diese Bewegung eingebracht. In einem Er95

fahrungsbericht aus der Sowjetunion von W. Sonn über die Bedeutung der Lebenden Zeitung heißt es: „Wie unter den Erwachsenen, so haben auch unter den Pionierorganisationen der UdSSR die hebenden Zeitungen in den letzten zwei Jahren eine große Verbreitung erlangt. Die Lebende Zeitung ist eine neue theatralische Form, die in engem Zusammenhang mit den laufenden politischen Ereignissen steht. / In den Pionierabteilungen hat diese Form theatralischer Arbeit einen günstigen Boden gefunden, da die aktiven Kinder bewegungserfüllten, mit dem ganzen sie umgebenden Leben zusammenhängenden Aufführungen größere Liebe entgegenbringen, als den gemessenen und ziemlich eintönigen Theaterstücken, die in Schulen, auf Kinderspielplätzen und in Kindertheatern aufgeführt werden. / Außerdem ist die Lebende Zeitung, in der alle Formen des Einwirkens auf die Zuhörer - Musik, Sprechchor, Gesang, turnerische Vorführung usw. - in Anwendung kommen, ein mächtiges Agitationsmittel und kann für die Massenarbeit unter Kindern und Erwachsenen ausgiebig ausgenutzt werden. / Die verhältnismäßige Einfachheit und Leichtigkeit der Inszenierung einer Lebenden Zeitung hat es ihr möglich gemacht, eine Organisation nach der anderen zu erobern. / Daher glauben wir, daß auch in den Kinderverbänden der kapitalistischen Länder diese neue und lebendige Form der Massenarbeit erprobt werden sollte." 143 Die erste und wichtigste Kinder-Agitproptruppe Die Roten Trommler bildete sich bereits 1927, vor dem Gastspiel der Blauen Blusen. Über die Entstehung schreibt Das proletarische Kind-. „Die zweite deutsche Kinderdelegation brachte u. a. auch den Begriff der .Lebenden Pionierzeitung' mit nach Deutschland, den wir zwar alle kannten, unter dem wir uns aber eigentlich nichts rechtes vorstellen konnten. Es gab schon Versuche in dieser Richtung. So hat z. B. Genosse Adolf Berlin lange vor unserem Auftreten recht beachtenswerte Ansätze gebracht, aber das rechte Leben fehlte noch in diesen gebenden' Zeitungen. / Unsere Truppe, die Roten Trommler, ist aus Kindern der verschiedenen Berliner Verwaltungsbezirke zusammengestellt. Die Mitglieder sind nicht von ihrer Gruppe delegiert, sondern vom Leiter der Truppe nach ihrer Eignung ausgewählt worden. Bei der Auswahl achten wir auf folgendes: 1. Allgemeiner frischer 96

und lebendiger Eindruck, 2. Fähigkeit zum freien Sprechen bei fast der Hälfte der Kinder, 3. körperliche Gewandheit (Tanz), 4. gute Stimme und musikalisches Gehör." 1 4 4 Ein Bericht über die Roten Trommler erschien im April 1928 in Nr. 7 des Roten Stern: „Das Programm einer solchen .Lebenden Zeitung' ist genau so aufgebaut wie eine richtige gedruckte Zeitung. Wie jene im ,Kopf' ihren Namen und ihren Zweck angibt, so gibt auch die .Lebende Zeitung' in ihrer Antrittsnummer, der .Parade' aller Teilnehmer, ihren Namen (Blaue Blusen, Signal, Rote Trommler usw.) bekannt und erklärt ihr Ziel. Dann folgen Leitartikel, Feuilleton, Aus aller Welt, Lokales, Humor usw. Alles das wird nicht einfach referierend angegeben, sondern durch Tanz, Gesten, Gesang oder kurze Szenen eindringlich dargestellt. Nun hat diese Form auch in Deutschland Eingang gefunden, und zwar erstmalig durch eine Truppe Berliner Pioniere vom Jung-SpartakusBund, die sich als lebende Kinderzeitung Hie Roten Trommler vorstellen und in ihrer frischen Natürlichkeit und Unbefangenheit überall begeisterte Aufnahme finden. Sie greifen natürlich ihren Stoff hauptsächlich aus dem Leben des Kindes. So stellen sie z. B. das Reichsschulgesetz dar, indem sie mit großen Paragraphen aus Pappe auftreten, den Text verlesen und vom Referenten erklären lassen. Nun folgt ein Tanz der Paragraphen, dem ,der Rote' ein unsanftes Ende bereitet. D i e bürgerlichen Kinderzeitungen werden karikiert und ihnen die Trommel gegenübergestellt." 1 4 5 In der Zeit von 1927 bis 1933 entwickelten sich etwa fünfzig Spieltruppen der Roten Jungpioniere, und die Reichspionierleitung gab für sie die periodische Materialsammlung Lebende Zeitung heraus. D i e Spielvorlagen gingen aber überwiegend auf eigene Texte der Truppen zurück. Die rasche Verbreitung der neuen szenischen Form und ihre Eignung für ein Kindertheater, das sich zum Ziel gestellt hatte, den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse zu unterstützen, erklärt sich vor allem aus folgenden Besonderheiten: D i e stark publizistisch orientierte Form war offen für vielartige Ausdrucksmöglichkeiten der Kinder; die auswechselbaren Montageteile der Programme konnten locker einstudiert und aufgeführt werden. Durch die ihnen vertrauten Betätigungsmög7

Hoffmann

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lichkeiten fiel auf der Bühne die Scheu vor „Theater", vor den Anstrengungen der früheren Theatervereine fort, was jene Lebendigkeit erzeugte, die diese Truppen auszeichnete. Die szenische Form, die die Lebende Zeitung bot, wurde aber vor allem dadurch mit Leben erfüllt, daß die Arbeiterkinder zum ersten Male die Möglichkeit erhielten, sich ö f f e n t l i c h in einer ihnen gemäßen Weise politisch zu äußern. (In diesem Zusammenhang muß man berücksichtigen, daß sich das politische Leben der klassenbewußten Arbeiter weitgehend öffentlich vollzog, die Arbeiterkinder aber beispielsweise durchaus nicht Teilnehmer der Wahlversammlung der Partei waren.) Dazu in einem Bericht über die Wahlarbeit der Hamburger Pioniere: „Zum erstenmal sind die Pioniere in die Wahlversammlungen der KP und des KJV gegangen, um die Wähler aufzurufen, für die Liste der Kommunisten zu stimmen. Auch Arbeiterkindern muß das Recht eingeräumt werden, ihre Forderungen der Arbeiterschaft, überhaupt der Öffentlichkeit, bekanntzugeben. / Nun wäre es natürlich ganz falsch, wenn sich ein Pionier vorne auf die Bühne begeben und gleich, wie seine großen Genossen, losreden würde. Das wäre deswegen falsch, weil es sehr oberflächlich gewirkt hätte. Die Besucher unserer Wahlversammlungen sind größtenteils noch der Ansicht, daß Kinder überhaupt nicht in die Wahlversammlungen der .Großen' gehören. Und wenn nun ein Pionier noch eine auswendig gelernte Rede halten würde? Die Hamburger Pioniere haben auf eine andere, viel bessere Art es zustande gebracht, ihre Forderungen in die Masse zu bringen, und zwar wieder mit der .Lebenden Zeitung'." 146 Die Agitproptruppen der Arbeiterkinder mit ihren Lebenden Zeitungen waren bis zur faschistischen Machtergreifung eine in vielem neuartige und anpassungsfähige Form politischen Kindertheaters in Deutschland. Gerade ihre Erfolge drohten aber an einem gewissen Punkt den Blick für andere Wege sozialistischen Kindertheaters zu verstellen. Wie das Beispiel der Moskauer Blauen Blusen, wirkte auch das Modell der Lebenden Zeitung einseitig orientierend auf die satirisch gehaltene Kurzform mit vielen standardisierten Darstellungselementen und Schablonen. Um 1930 entwickelte sich in Deutschland eine Agitprop-Diskussion, die eine Realismus98

Diskussion war und sich gegen noch immer vorhandene Reste des Proletkult richtete. In ihrem Zuge wurden auch dem proletarisch-revolutionären Kindertheater neue Fragen vorgelegt, unter anderen die nach einem besonderen Erbe, dem Märchen. Schedler, der von Hoernle mit großer Achtung spricht und ihn im ganzen auch richtig interpretiert, befindet sich in einem Punkt unter dem Niveau seines Gegenstandes. Er schreibt: „Was Hoernle [. . .] beschreibt, sind improvisierte Anfänge. Bürgerliche Residuen wie die Vorstellung von Fest und Feier, die emotionale Hochstimmung erzeugen, überhaupt die dem Kindertheater zugewiesene Funktion, nur Selbstdarstellung und Festivitäten krönende Erlebnisse zu bieten und die ungeprüfte Empfehlung bürgerlicher Kunstformen und Kunstrezepte sind eher pragmatisch hereingenommen denn ideologisch durchreflektiert. Das zeigt sich besonders, wenn Hoernle an anderer Stelle (Die Jüngsten - Spiele und Märchen) das gestische Nach- und Neuerzählen von Volksmärchen anrät, ohne den Verschleiß dieser ehedem auch sozialkritischen Spezies durch den bürgerlichen Irrationalismus des 19. Jahrhunderts zu berücksichtigen."147 Schedlers Vorwurf, Hoernle würde unkritisch ein Erbe empfehlen, das durch den Irrationalismus des 19. Jahrhunderts verschlissen sei, muß im Zusammenhang mit der damals modischen Ablehnung des Erbes gesehen werden, wie sie in Kreisen der linksbürgerlichen Intelligenz, aber mit einer gewissen historischen Berechtigung auch in der Arbeitertheaterbewegung anzutreffen war, deren Teil die Kindertheaterbewegung ist. Tatsächlich hat sich das proletarisch-revolutionäre Kindertheater bis 1929/30 sehr wenig mit dem Erbe, einschließlich dem Märchen, befaßt. Die Agitproptruppen, auch die der Kinder, bildeten eine wendige Theaterform aus, die wesentlich von politisch-publizistischen Elementen konstituiert war. Das Märchen hätte in seiner literarischen Substanz jenes Maß von Aktualität und Konkretheit nur durch Vulgarisierung aufnehmen können, und zwar Vulgarisierung auch der politischen Wirklichkeit durch deren märchenhaften Zuschnitt. Das Modell der Lebenden Zeitung, im weiteren Sinne des Agitprop überhaupt war für die Einbeziehung des proletarischen Kindes in die politische Sphäre der Erwachsenen in jener Phase außerordent99

lieh tragfähig. Zu Beginn der dreißiger Jahre mußten die neu entstandenen Formen in ein dialektisches Verhältnis zu den tradierten gesetzt werden. Für das Agitproptheater bedeutete dies die Kritik einer zur Schablone erstarrten Darstellungsweise, der Kanonisierung der kleinen agitatorischen Formen auf Kosten komplizierterer dramaturgischer Strukturen, und es bedeutete die Überwindung einer sektiererischen Einstellung zum Erbe. Für das proletarisch-revolutionäre Kindertheater war dies vor allem eine Selbstverständigung über das Märchenerbe. Die Frage lautete, ob das Märchen für die Erziehung der jungen Generation zu proletarischem Klassenbewußtsein tauglich sei. Sie wurde bejaht mit der Einschränkung, daß das bearbeitete und aufgeführte Märchenstück manches „Unwirkliche", aber nichts „Unrichtiges" enthalten dürfe (Béla Balàzs). Hoernles nachdrücklicher Hinweis auf das Märchenerbe ist also eher als ein Vorgriff auf eine noch ausstehende Verständigung denn als bürgerliches Satrapentum zu werten. Im übrigen ist dabei zu berücksichtigen, daß die marxistischleninistische Literatur- und Theatertheorie zu Beginn der zwanziger Jahre ein sensitiveres Verhältnis zum Erbe und differenziertere Maßstäbe seiner Beurteilung hatte als in jener Phase, in der sich das Agitproptheater kräftig, aber eben rücksichtslos entwickelte. Schedlers Vorbehalte gegenüber Hoernle rühren nicht von der Analyse des gesamten historischen Prozesses her, sondern signalisieren die Haltung zum Märchen von heutigen bürgerlichen Intellektuellen in den westeuropäischen Ländern. 148 Die Wendung, die das sozialistische Kindertheater um 1929/30 nahm, war allerdings nicht nur eine vorsichtige Hinwendung zum Märchenerbe, sondern das Auftreten eines neuen Kindertheater-Typs, der im Repertoire, in der Ensemblestruktur, in der Spielweise über die Spieltruppen des ]utig-Spartahus-Bundes hinausging. Damit folgte das Kindertheater einer allgemeinen Entwicklungstendenz des sozialistischen Theaters unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise und des Kampfes um die Einheitsfront gegen die faschistische Gefahr. Das sozialistische Theater wurde in diesen Jahren zwar einer viel stärkeren Belastung ausgesetzt, hat aber unter diesem Druck seine Inhalte, Formen und Methoden differenziert, statt sie agitatorisch zu vergröbern. Die von Er100

starrung bedrohten Elemente des Agitproptheaters der zwanziger Jahre wurden einer kollektiven Kritik und Veränderung unterzogen. Dabei leistete die Agitproptruppe Maxim Vallentins Das Rote Sprachrohr Entscheidendes. Ohne daß die Bedeutung des politisch-operativen Agitpropspiels eingeschränkt wurde, erschien es nicht mehr als die ausschließliche Entwicklungslinie des sozialistischen Theaters unter kapitalistischen Bedingungen. Der Übergang von Künstlern und Schriftstellern auf die Seite des kämpfenden Proletariats brachte eine neue Dramatik und einen Ensembletyp hervor, der für diese Stücke geeignet war. Dieser Prozeß fand im Ansatz auch seine Entsprechung im Kindertheater, und er drückt sich in einer zu diesem Zeitpunkt sich kräftig entwickelnden sozialistischen Kinderliteratur aus. 149 Charakteristisch für diesen Prozeß war auch, daß sich revolutionäre Schauspielerkollektive für das Kindertheater einzusetzen begannen. So führte die Gruppe Junger Schauspieler am 13. November 1929 Hans Urian geht nach Brot von Béla Balàzs und Lisa Tetzner auf. Zum ersten Male sahen die Arbeiterkinder Berlins einen Jungen auf der Bühne, der aus ihrer Mitte stammte. Hans Urian will für seine Mutter Brot beschaffen, aber ohne Geld ist das unmöglich. Auf seiner Reise durch viele Kontinente sieht er Hunger bei denen, die arbeiten und Überfluß bei den Nichtstuern. Immer wieder fragt er: „Warum ist das so?". Am Schluß antwortet er: „Wenn wir einmal erwachsen sind, dann weht ein anderer Wind." 1 5 0 Bereits kurz vor dem Entstehen dieses Stückes, am 22. Oktober, erlebte Lisa Tetzners Märchenbearbeitung Der große und der kleine Klaus durch ein Theater der Kinder seine Uraufführung. 151 Am 21. 12. 1932 eröffnete die Junge Volksbühne ein eigenes Theater für Kinder mit Karle machste mit. Dieses Stück hatten die Kinderreporter der Welt am Abend für die Junge Volksbühne geschrieben. Mittelpunkt des Stükkes ist eine von Kindern veranstaltete Zirkusvorstellung, deren Erlös notleidenden Arbeiterkindern zugute kommt. Doch die Kinder sind unzufrieden darüber, daß sie nicht allen armen Kindern helfen können. Sie begreifen, daß dazu die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse notwendig ist. Maxim Vallentins Rotes Sprachrohr führte als letzte Arbeit vor der faschistischen Machtergreifung ebenfalls ein Kinderpro101

gramm auf, das das Leben eines Berliner Arbeiter jungen darstellte. Nach Aussage Maxim Vallentins traf dieses Programm die künstlerischen Absichten der Truppe für ihre weitere Entwicklung am konsequentesten. Es hatte eine Fabel, wenig Kommentar und verzichtete weitgehend auf Elemente des Agitprop. 152 An diesen wichtigsten Versuchen läßt sich resümieren, was in dieser Phase erreicht wurde und damit als Tradition für ein Kindertheater in einer sozialistischen Gesellschaft bereitlag. Die Aufnahme des Märchenerbes und seiner besonderen Erzählweise auch für Stoffe aus der sozialen Gegenwart bildeten die Anfänge für eine Dramatik, die im Kinder- und Jugendtheater der DDR dann eine dominierende Rolle für die jüngere Altersgruppe spielen sollte. Dabei wurde davon ausgegangen, daß die alten Geschichten und die neuen, die sich an die Märchenstrukturen anlehnten, „aus der Vorstellung und Ideenwelt der heutigen Wirklichkeit gebaut" sind; das „Phantastische darin besteht eigentlich nur in einer stilisierten Vereinfachung der Wirklichkeit, damit die Kinder die tatsächlichen Zusammenhänge und ihre Bedeutung leichter erfassen." 153 Diese ersten Versuche wurden dem Volksmärchen insofern nicht voll gerecht, weil sie die alten Geschichten sehr eindeutig aus den Erfordernissen der Gegenwart erzählten und dabei Schichten dieser Literatur vernachlässigten, die nicht den aktuellen Bedürfnissen unmittelbar entgegenkamen. Diese „soziologisierende" Tendenz wurde vom Kindertheater der DDR zunächst übernommen, aber schrittweise überwunden. Die einfachen moralischen Kategorien, mit denen das Märchen operiert, wurden benutzt, um neue Geschichten aus der sozialen Wirklichkeit der Kinder einfach und überschaubar darzustellen. Dabei hatte die Vermischung von sozialen und moralischen Begriffen, von Ausbeuter und Ausgebeuteten z. B. mit böse und gut, eine Vergröberung sowohl der politischen wie der moralischen Kategorien zur Folge. Baläzs begründet dieses Verfahren damit: „Ein Kind braucht nicht gleich jede Einzelheit und jede Erscheinungsform des Kapitalismus zu erfahren. Die Grundgedanken des sozialistischen Kampfes sind so einfach, daß man sie Kindern bestimmt klar machen kann [. . .] Dieser Hans Urian ist, wenn man will, ein Märchen um der Wahrheit willen." 154 102

Diese Methode war an den Anfängen einer sozialistischen Dramatik für Kinder unumgänglich - auch im frühen sowjetischen Kindertheater wurde nach ihr verfahren. Anders ging ,Maxim Vallentin mit dem Roten Sprachrohr an sein KinderProgramm heran. Er strebte nach einem „proletarischen Realismus", der von der genauen Beobachtung und der lebendigen Darstellung alltäglicher Vorgänge gespeist war und die politischen Aussagen weitmehr aus dem realistischen Detail bezog. In einem Gespräch mit der Autorin sagte Vallentin, daß alle Gruppenmitglieder über längere Zeit konkretes Material - Geschichten, Interviews, Beobachtungen, Zeichnungen von und mit Kindern usw. - für die Pionierwandzeitung der Roten Post gesammelt hatten, die wöchentlich auf einer Seite der Zeitung erschien und von Maxim Vallentin und Elli Schließer redigiert wurde. Auf diese Weise wirkten die Kinder selbst am Entstehen des Programms mit. Weitgehend von den Kindern selbst wurde Karle machste mit geschrieben und aufgeführt. „Der Text entstand während des Spielens. Dann saßen die beiden Helfer, Trude und Eva Sand, dabei und schrieben alles auf. Jede kleinste Stelle wurde viele Male ausprobiert und vom ganzen Kollektiv kritisiert. Ebenso war es mit der Regieführung. Die Kinder korrigierten sich gegenseitig, wenn ein Ton nicht richtig war. Sie machten keine Bewegung und keinen Gang, von deren Notwendigkeit sie nicht überzeugt waren." 155 Beide Beispiele zeigen, daß die Anfänge einer sozialistischen Gegenwartsdramatik für Kinder in enger Partnerschaft zwischen den Kindern und den Theaterschaffenden entstanden, nach einem Prinzip also, das im übergreifenden Sinne für das Verhältnis des sozialistischen Theaters für Kinder zu seinem Zuschauer gilt.

Bertolt Brecht: Drei Notierungen über Pädagogik, Kinder, Theater Brecht hat die angekündigte Theorie der Pädagogien nicht geschrieben. Als er sich für die Verwendung des Theaters bei der Erziehung junger Menschen interessierte, ging es ihm in zunehmendem Maße darum, welche Verwendung das Theater 103

bei der Veränderung der Gesellschaft finden kann. Während ihn aber das Theater als Disziplin der Pädagogik nur verhältnismäßig kurz beschäftigte, wurde die gesellschaftliche Funktion des Theaters im Klassenkampf zum konstituierenden Element seiner Theorie des epischen Theaters. So verwandelte sich auch das Lehrstück bei ihm von einer Stückart, aus der nur der Spielende eine Lehre beziehen kann, zum politisch aufklärenden und aktivierenden Stück vom Typus der Maßnahme und der Mutter. Dieser Prozeß wurde von Brechts Hinwendung zur Arbeiterklasse verursacht. Im Zusammenhang dieser Arbeit wird nur jener Aspekt behandelt, der im Fragment zur Theorie der Pädagogien lautet: „Die bürgerlichen Philosophen machen einen großen Unterschied zwischen den Tätigen und den Betrachtenden. Diesen Unterschied macht der Denkende nicht. Wenn man diesen Unterschied macht, dann überläßt man die Politik dem Tätigen und die Philosophie dem Betrachtenden, während doch in Wirklichkeit die Politiker Philosophen und die Philosophen Politiker sein müssen. Zwischen der wahren Philosophie und der wahren Politik ist kein Unterschied. Auf diese Erkenntnis folgt der Vorschlag des Denkenden, die jungen Leute durch Theaterspielen zu erziehen, das heißt, sie zugleich zu Tätigen und Betrachtenden zu machen, wie es in den Vorschriften für die Pädagogien vorgeschlagen ist. Die Lust am Betrachten allein ist für den Staat schädlich; ebenso aber die Lust an der Tat allein. Indem die jungen Leute im Spiele Taten vollbringen, die ihrer eigenen Betrachtung unterworfen sind, werden sie für den Staat erzogen. Die Spiele müssen so erfunden und ausgeführt werden, daß der Staat einen Nutzen hat. Über den Wert eines Satzes oder einer Geste oder einer Handlung entscheidet also nicht die Schönheit, sondern: ob der Staat Nutzen davon hat, wenn die Spielenden den Satz sprechen, die Geste ausführen und sich in die Handlung begeben. Der Nutzen, den der Staat haben soll, könnte allerdings von platten Köpfen sehr verkleinert werden, wenn sie zum Beispiel die Spielenden nur solche Handlungen vollführen lassen würden, die ihnen sozial erscheinen. Aber gerade die Darstellung des Asozialen durch den werdenden Bürger des Staates ist dem Staate sehr nützlich, besonders wenn sie nach genauen und großartigen Mustern 104

ausgeführt wird. D e r Staat kann die asozialen Triebe der Menschen am besten dadurch verbessern, daß er sie, die von der Furcht und Unkenntnis kommen, in einer möglichst vollendeten und dem einzelnen selbständig beinah unerreichbaren Form von jedem erzwingt. Dies ist die Grundlage des Gedankens, das Theaterspielen in Pädagogien zu verwenden." 1 5 6 Brecht geht davon aus, d a ß die bürgerliche Trennung zwischen dem Tätigen und dem Betrachtenden auf dem Theater dadurch aufgehoben wird, daß der Tätige (Spielende) der Betrachtende (Zuschauende) ist und umgekehrt und der besondere pädagogische W e r t des Theaters eben in dieser Identität liege. Diese Lehrstückkonzeption ist aber nicht nur auf die Erziehung der jungen Generation gerichtet, sie hat Brecht zu einer bestimmten Zeit als Möglichkeit neuen Theaters überhaupt beschäftigt. E s ist eine Stufe der Entwicklung seiner Theorie des epischen Theaters, die das Verhältnis von Tätigsein und Betrachten als eine ihrer Grundfragen stellt. E t w a zur gleichen Zeit schreibt e r : „ D i e große Pädagogik verändert die rolle des spielens vollständig, sie hebt das system spieler und Zuschauer auf. sie kennt nur mehr Spieler, die zugleich studierende sind, nach dem grundgesetz ,wo das interesse des staates ist, bestimmt die begriffene geste die handlungsweise des einzelnen', wird das imitierte spielen zu einem hauptbestandteil der pädagogik, demgegenüber führt die K l e i n e Pädagogik in der Übergangszeit der ersten revolution lediglich eine demokratisierung des theaters durch, die Zweiteilung bleibt im gründe bestehen, jedoch sollen die spieler möglichst aus laien bestehen (die rollen so sein, daß die laien laien bleiben müssen), berufsschauspieler samt dem bestehenden theaterapparat zum zweck der Schwächung der bürgerlichen ideologischen Positionen im bürgerlichen theater selber verwendet und das publikum aktiviert werden, stücke und darstellungsart sollen den Zuschauer in einen Staatsmann verwandeln. deshalb soll im Zuschauer nicht an das gefühl appelliert werden, das ihm erlauben würde sich ästhetisch abzureagieren, sondern an seine ratio, d i e s c h a u s p i e l e r müssen d e m Z u s c h a u e r f i g u r e n u n d V o r g ä n g e entfremden, so daß sie ihm auffallen, der Zuschauer muß partei ergreifen statt sich zu identifizieren." 157

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Brechts Kritik des bürgerlichen Theaters als eines kulinarischen schließt ein, daß es den Zuschauer in ein kontemplatives Verhältnis zwingt und ihn dadurch sozial lähmt. Hier findet sich bereits die Verfremdung der durch das Theater abgebildeten Vorgänge als die Methode des epischen Theaters, den Zuschauer in eine Praxisbeziehung dem Abgebildeten gegenüberzusetzen, also ihm die Vorgänge auffällig zu machen, um in ihnen Partei zu ergreifen zum Zwecke ihrer Veränderung. Während Brecht um 1930 diese Haltung des Zuschauers nur durch die Aufhebung des Systems Spieler-Zuschauer für einnehmbar hält und er noch bei einem Lehrstück vom politischen Gewicht der Maßnahme nur den Spielenden eine politische Belehrung in Aussicht stellt, gewinnt er durch eine dialektische Verfeinerung des Verfremdungsprinzips Techniken und Methoden, die das Zuschauen und das Spielen als voneinander getrennte Sphären setzt, zwischen beiden Sphären aber eine neuartige Kommunikation ermöglicht und erzwingt, die den Zuschauer aus der Kontemplation befreit und ihn zum Beherrscher der Bühnenvorgänge macht. Dies ist der theoretische Umschlagpunkt vom Lehrstück zum großen epischen Drama, das von Schauspielern für Zuschauer gespielt wird, aber auf neue Weise. Anders als Benjamin macht Brecht mithin keinen ausdrücklichen Unterschied zwischen der Verwendung des Theaters für die Erziehung der jungen Generation und dessen Funktion bei der Ausbildung gesellschaftlichen Bewußtseins, und er unterscheidet folgerichtig nicht zwischen einem Lebensalter, in dem die „Ideologien" fernzuhalten sind, weil sie nur als Phrase ankommen und einer Zeit, in der sie „an sich" höchst wichtig werden, denn für Brecht zerfällt der Marxismus, mit dessen Studium er sich 1930 aufs intensivste befaßte, nicht in pragmatische Elemente wie Parteiprogramm und Klassenbewußtsein, sondern er ist für ihn die einheitliche Methode für die Interpretation der Wirklichkeit und ihrer Veränderung. Die Hauptrichtung der Arbeit Brechts nahm einen anderen Verlauf: Aus der Phase des Experiments mit dem Lehrstück blieben aber, neben den Stücken selbst, zwei wesentliche Haltungen. Brecht hat in seinen späteren Jahren immer wieder den großen gesellschaftlichen Nutzen betont, den er im Theaterspielen von Kindern und von Laien sah, und zwar vor106

nehmlich für die Spielenden selbst. Er hat alle dahingehenden gesellschaftlichen Bestrebungen immer wieder unterstützt, auch als er längst nicht mehr, wie um 1930, darin die Erneuerung des Theaters sah. Diese Formen des Theaters waren ihm Schulen des sozialen Verhaltens, indem er die Spielenden aufforderte und instandsetzte, sich zu abgebildeter Realität zu verhalten, d. h. sie tätig zu erkennen. Dabei erwartete er nichts, oder doch nicht was Benjamin erwartete, von der Freisetzung naturwüchsigen Bewußtseins. Er machte keinen Unterschied zwischen dem Lernen des Kindes und dem Lernen des Erwachsenen, weil er über einen Begriff des Lernens verfügte, das ein genußvolles Eindringen darstellt in das, was ist und deshalb nicht so bleibt. Dieser Begriff des Lernens beinhaltet, das Kind als Subjekt in der Erziehung zu bestätigen. Aber auch Kinder als Schauspieler vor einem Publikum, das er nicht in Kinder und Erwachsene trennte, sah Brecht vor. Im Material zum Leben des Konfuzius befindet sich die Notierung: „Das Stück Leben des Konfuzius ist für ein Theater geschrieben, das Kinder als Schauspieler hat. Es kann scheinen, daß man dem hohen Gegenstand nicht gerecht werden kann, wenn man ihn der Darstellung durch Kinder anvertraut. Jedoch kann dem entgegengehalten werden, daß für Kinder nur die höchsten Gegenstände hoch genug sind. Außerdem wird der Darstellung eines solchen Lebens auf dem Theater, auch wenn sie Schauspieler unternehmen, immer eine gewisse Unvollkommenheit anhaften, und der Stückeschreiber kann sehr wohl die Unvollkommenheit einer Darstellung durch Kinder der Unvollkommenheit einer Darstellung durch erwachsene Künstler vorziehen. Der Abstand vom Gegenstand wird bei Kindern größer erscheinen und gerade dies kann einem geringeren Abstand vorgezogen werden. Feine psychologische Interieurs vermögen Kinder nicht zu geben ein starker Grund, ihnen die Darstellung einer großen öffentlichen Gestalt anzuvertrauen." 158 Mit dieser Notierung bezieht sich Brecht auf Theaterformen von Kindern und Laien, die tief in die Theatergeschichte zurückgreifen, zugleich aber im proletarisch-revolutionären Theater verändert wieder auftraten. Brecht hat diesen Zusammenhang zwischen dem Theaterspiel der Arbeiter und alten Volkstheatertraditionen mehr107

fach betont und im Theaterspiel der Arbeiter alte Schönheiten wiedergefunden, bereichert um neue Elemente. In den meist bäuerlichen Volksschauspielen, in denen die damals denkbar erhabensten Gegenstände wie die Heilige Geschichte von Kindern und Laien mit streng tradierten Darstellungsformen gespielt wurden, herrschte der gleiche Abstand zwischen dem Gegenstand und seiner Darstellung, wie ihn Brecht hier zwischen den Kinderdarstellungen und dem Leben des Konfuzius als erstrebenswert hervorhebt. Abstand herrschte auch zwischen den Themen, Figuren und Vorgängen der modernen Klassenkämpfe des Proletariats und deren Darstellung durch die Spieltruppen der Arbeiter und ihrer Kinder. Brecht hat auch darin die Anfänge einer neuen Darstellungsform und Schreibweise erkannt und sie für Theater genutzt. Aus dieser Sicht ist die Notierung zum Leben des Konfuzius nur folgerichtig. Sie besagt jedoch nicht, daß Brecht sich die großen Gegenstände vornehmlich durch Kinder und Laien dargestellt wünscht, denn natürlich gestatten die außerordentlich hohen Kunstmittel, wie sie Ernst Busch als politischer Schauspieler bei der Darstellung des Galilei einsetzt, ein tieferes Eindringen in Fabel und Figur, ohne daß dem Zuschauer der kritische Abstand genommen wird, als dies durch einen Kinderdarsteller möglich ist. Brechts Notiz ist auch eine indirekte Entgegnung auf Béla Balàsz, der für eine Verkleinerung der realen Dimensionen eintrat, um dem Kind die Wirklichkeit überschaubar zu machen, und sie ist zugleich eine Antwort auf das bei der Beschreibung des Moskauer Kindertheaters von N. Saz aufgeworfenen Problem, daß sich das Kindertheater bei seinen Abbildungen der Wirklichkeit nicht auf die noch begrenzte Weltsicht der Kinder begeben darf. Sie sollte für unsere Theaterarbeit mit Kindern eine Ermutigung zum großen Gegenstand sein, weil „für Kinder nur die höchsten Gegenstände hoch genug sind" 159 . Das bedeutet für das Laientheater der Kinder, sich nicht nur auf die Darstellung von Märchenstücken und Sujets aus dem unmittelbaren Lebensbereich der Kinder zu beschränken. Für ein Theater der Kinder heißt dies, großen Stoffen nicht einen kindlichen Zuschnitt zu geben, sondern eine große Kontur. Wenn aus dem Abstand zwischen dem Kind als Darsteller 108

und einer großen Figur in diesem Sinne kein Nachteil entsteht, dann muß allerdings auch die Umkehrung richtig sein und unter bestimmten Voraussetzungen ein Kind von einem Erwachsenen dargestellt werden können. Das ist nicht neu, wir kennen dieses Verfahren aus der Travestie, die im sowjetischen Kindertheater fast ausschließlich angewandt wird, aber auch ohne diese Darstellung von Kindern durch Frauen spielen auf dem Kinder- und Jugendtheater der DDR wesentlich ältere Schauspieler wesentlich jüngere Figuren. Brecht, der auf Natürlichkeit und Naivität der Darsteller hielt, befürchtete wohl die herkömmliche Schablone, als er verlangte, daß die Darstellerin der Simone in seinem Stück Die Gesichte der Simone Machard nicht älter als elf Jahre sein dürfte. Dazu Horst Hawemann: „Will das Kind denn überhaupt Kinderdarstellungen auf der Bühne sehen, die ihm einen biologischen Spiegel vorhalten? Will es denn überhaupt Vergleiche anstellen in äußeren Formen, die Jahre nachzählen und die Körpermaße kontrollieren, den Stimmumfang abhören und die Schulnoten überprüfen? Soll man denn so echt wie möglich die Hand in die Hosentasche stecken und in der Nase bohren und auf Fingern pfeifen und Seilhopsen? Kann man überhaupt den sogenannten kindlichen Grundgestus finden? Daß man das alles kann, war schon zu sehen. Daß man das aber nicht sollte, ist sicher nur dann erklärbar, wenn man Eigenes zum Thema zu sagen hat oder zu sagen versucht. Voraussetzen muß man, daß das Kind Theater kennt, daß mit ihm Vereinbarungen getroffen sind oder getroffen werden. Es weiß, daß erwachsene Leute Theater machen. Kinder haben keine Zeit dazu, sie müssen in die Schule gehen. Erwachsene haben Berufe; einer dieser Berufe ist auch Theatermachen, nämlich Kindern Theater vormachen. Das machen diese Leute den ganzen Tag über und werden auch noch dafür bezahlt. Sie spielen für Geld; eine Tatsache, die erst einmal neugierig macht. Von diesem Fakt sollten alle Überlegungen ausgehen. Die Neugierde gegenüber einer Beschäftigung begleitet das heranwachsende Kind fortwährend. Es verfolgt den Umgang mit Gegenständen, deren Verformung, Gestaltung und Veränderung. Diese Vorgänge werden mit Erstaunen verfolgt, sie sind spannend." 160 Für Hawemanns Beobachtung spricht die Erfahrung, daß 109

Einwände gegen die Darstellung von Kindern durch Erwachsene ausschließlich von Erwachsenen, nicht von Kindern vorgebracht werden. Mit diesen Einwänden hat Brecht offenbar gerechnet, denn Simone Machard ist vornehmlich an ein erwachsenes Publikum gerichtet. Eben deshalb ist aus seiner Forderung keine Maxime für das Kindertheater 2u ziehen. Und ein Stück, in dem ein Kind im Mittelpunkt steht, ist darum kein „Kinderstück". Die Eignung eines Stückes für das junge Publikum, die durchaus unterschiedlich ist, folgt nicht aus der Anwesenheit von Kindern auf der Bühne. Die großen Parabeln Brechts werden sich als große Stücke für Kinder erweisen, wenn sie erst dafür ausprobiert werden, auch von Kindern selbst.

Drama und Theater für junge Zuschauer in der DDR 1 9 5 0 - 1 9 7 2

Der Beginn Aufbauend auf nationalen Traditionen und sowjetischen Erfahrungen entstand das Kinder- und Jugendtheater der DDR, initiiert von der Partei der Arbeiterklasse, dem Einsatz progressiver Künstler und Pädagogen sowie den Anregungen der sowjetischen Kulturoffiziere. Es gehörte nach 1945 zu den vordringlichsten Aufgaben der antifaschistisch-demokratischen Ordnung, die junge Generation im Geiste des Friedens, der Völkerverständigung und des Humanismus zu erziehen. Wie überall in der Welt war auch auf deutschem Boden die Errichtung staatlicher Kinder- und Jugendtheater unmittelbares Ergebnis revolutionärer Umwälzungen. Zum ersten Male in der deutschen Theatergeschichte erhielt die Jugend eigene Theater: 1946 das Theater der Jungen Welt in Leipzig, 1949 das Dresdner Theater der Jungen Generation, 1950 das Theater der Freundschaft in Berlin, das zum Zentralen Kinderund Jugendtheater der DDR erklärt wurde, 1952 das Theater der Jungen Garde in Halle und 1952 das Kindertheater Erfurt. 1969 schloß sich als jüngste Gründung das Theater für Junge Zuschauer in Magdeburg an. Im November 1946 wurde auf Anregung des Rates der Stadt und mit Unterstützung der sowjetischen Militäradministration von fortschrittlichen Künstlern und Pädagogen das Leipziger Kindertheater als erste deutsche Jugendbühne gegründet und mit Erich Kästners Emil und die Detektive eröffnet. Das Ensemble setzte sich aus Berufs- und Laienkräften zusammen. Neben Stücken des sowjetischen Kindertheaters wie Die Schneekönigin von Jewgeni Schwarz und Großvater und Enkelin von Alexander Nikolajewitsch Afinogenow wurden auch Stücke des bürgerlichen Repertoires gespielt, die

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allerdings den pädagogischen Ansprüchen nicht mehr entsprachen. In Zusammenarbeit mit dem Schulamt, der Gewerkschaft für Lehrer und Erzieher und Pädagogen aus allen Schulbereichen gelang es in kurzer Zeit, eine gut arbeitende Besucherorganisation zu schaffen. 1948 wurde dieses Theater dem Verband der Städtischen Bühnen Leipzig angeschlossen. Unter der Generalintendanz von Max Burghardt übernahm mit der Spielzeit 1950/51 Josef Stauder die Leitung des Theaters der Jungen Welt. Josef Stauder, der am Deutschen Theaterinstitut Maxim Vallentins in Weimar junge Schauspieler ausgebildet hatte, sah seine erste Aufgabe in der Entwicklung eines nach der Methode Stanislawskis arbeitenden Ensembles. Mit Werner Bernhardys Was machen wir mit dem Kaiser eröffnete dieses Theater in dem zum neuen Theatersaal umgebauten Weißen Saal des Leipziger Zoos die Spielzeit 1950/51. Die Eröffnung des Theaters der Jungen Generation in Dresden liegt in unmittelbarer Nähe des Gründungstages der Deutschen Demokratischen Republik; sie erfolgte am 15. Oktober 1949 im Saal eines früheren Varite-Theaters mit Tobias Ahoi von Marie-Louise Kendzia. Das Stück behandelt Nachkriegsprobleme. Es beschreibt die Geschichte eines verwöhnten Jungen, der durch die Kriegswirren in eine arme Fischerkate verschlagen wird und lernen muß, daß nicht die Geburt, sondern persönlicher Einsatz für den anderen Achtung und Freundschaft hervorrufen. Im Mai 1950 zog das Ensemble in die zum Theater umgebaute Tanzgaststätte „Constantia" um. Damit hatten auch die Kinder von Dresden in der zerstörten Stadt ihr eigenes Theater. Die Bildung staatlicher Theater für Kinder und Jugendliche wurde kurz nach der Gründung der D D R zum Gesetz erhoben. Im Gesetz zur Förderung der Jugend vom Februar 1950 heißt es: „Im Jahre 1950 ist in der Hauptstadt Deutschlands, Berlin, ein zentrales Kindertheater zu schaffen" 161 , und in der Kulturverordnung von 1950 wurde festgelegt: „Das in Berlin zu errichtende zentrale Kindertheater ist so auszugestalten, daß es Vorbild auf dem Gebiet der Kindertheater in der gesamten Deutschen Demokratischen Republik sein kann" 162 . Hans Rodenberg erhielt den Auftrag, das staatliche Kinder- und Jugendtheater in Berlin aufzubauen und zu leiten. Er verfügte 112

über die Kenntnis des sowjetischen Kinder- und Jugendtheaters, denn er hatte nicht nur während der Emigration in der Sowjetunion gelebt, sondern bereits in den zwanziger Jahren die Entwicklung des sowjetischen Kindertheaters verfolgt; er kannte viele Aufführungen des Leningrader Tjus und des Moskauer Kindertheaters aus eigener Anschauung. Als Kommunist und Schauspieler war er auch an der Ausbildung der Anfänge des sozialistischen Theaters in Deutschland aktiv beteiligt gewesen, so als Leiter der Jungen Volksbühne in Berlin. Von diesen beiden wesentlichen Erfahrungswerten ging er beim Aufbau des zentralen Kinder- und Jugendtheaters der DDR aus und vereinigte in einem neuen Theatertyp beide Traditionslinien unter den gesellschaftlichen Bedingungen der jungen D D R . Drei Grundsätze bestimmten die Konzipierung des Profils, des Spielplans und des Ensembles dieses Hauses: 1. Das Theater dient mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der Stärkung der jungen Republik. 2. Es fördert die Freundschaft und die Liebe zur Sowjetunion. 3. Es bekennt sich zum proletarischen Internationalismus und ruft zur Solidarität mit allen friedliebenden Völkern auf. Als Hans Rodenberg vorschlug, diesem Theater den Namen Theater der Freundschaft zu geben, drückte er damit eine programmatische Absicht aus: das Verhältnis des Theaters zur jungen Generation und das Erziehungsziel des Theaters. Hans Rodenberg über den Aufbau und Charakter des Ensembles: „Wir hatten dieses Theater von Anfang an bewußt politisiert [. . .] Wir hatten ein Ensemble aufgebaut, für dessen Zusammensetzung folgende Überlegungen maßgeblich waren. Vor allem: W i e steht der zu engagierende Schauspieler zu unserer jungen Republik? Weiter: Kann man in diesem Schauspieler die Leidenschaft erwecken, für Kinder und Jugendliche zu spielen? Und drittens: W i e kann man ein Ensemble zusammenstellen, in dem von vornherein Intrigen, Grüppchenbildung, falscher Ehrgeiz und übertriebener Individualismus ausgeschaltet sind zugunsten eines echten Kollektivgefühls? Man könnte mir den Vorwurf machen, das alles stünde im Widerspruch zu der notwendigen künstlerischen Qualität, die man von jedem einzelnen der neuen Schauspieler hätte fordern müssen. Aber ich 8

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sage offen, daß die künstlerische Potenz des Schauspielers für mich damals noch nicht das absolut Erstrangige war. Natürlich mußte die schauspielerische Eignung da sein. Entscheidend aber war, daß hier ein Kollektiv entstehen mußte, das bereit war, Neuland zu erobern und das sich seines hohen gesellschaftlichen Auftrages voll bewußt war." 163 Damit wurde an jenen Ensembletyp angeknüpft, den das revolutionäre Arbeitertheater und die Kollektive fortschrittlicher Schauspieler, zu denen u. a. auch die Gruppe junger Schauspieler und die von Gustav von Wangenheim geleitete Truppe 31 gehörten, ausgebildet hatten. „Dem Arbeitertheater gelang es, einen neuen Typ des Ensembles auszubilden: das Ensemble als künstlerische, politische und moralische Einheit." 164 Das Theater der Freundschaft baute noch in einem weiteren wesentlichen Punkt auf den sozialistischen deutschen Theatertraditionen auf: So wie das proletarische Kinder- und Jugendtheater in der Kommunistischen Jugendorganisation seine Basis hatte, fand das Kinder- und Jugendtheater der DDR in seiner Gründungsphase in der FDJ und der Pionierorganisation seinen engsten Partner und seinen wichtigsten Förderer. „Es gab bei uns am Theater keine wichtige Angelegenheit, die nicht zum Tagesordnungspunkt einer Sitzung des Zentralrats wurde", berichtet Hans Rodenberg. 165 Diese Aufmerksamkeit, die die Jugendorganisation dem Theater schenkte, wirkte sich nicht nur außerordentlich befruchtend auf die Arbeit und den Aufbau des Ensembles aus, sie trug auch wesentlich zur Ausprägung des Profils des Theaters bei. Die FDJ war sowohl der gesellschaftliche Auftraggeber für die ersten Stücke als auch eine neue Form der „Öffentlichkeit" für das Theater und seine Zuschauer. Die Schauspieler, in der Mehrheit selbst in der FDJ organisiert, spielten ihre eigenen Probleme und die ihrer Zuschauer. Sie gingen zu deren Studium in die Schulen und Betriebe, halfen aber nicht nur von der Bühne aus, sondern auch durch den persönlichen Einsatz, Kinder und Jugendliche für die Ziele der Pionierorganisation und der FDJ zu gewinnen. Diese ständige Wechselbeziehung zwischen Theater, Jugendorganisation und Publikum war nicht nur die Ursache für die ersten Erfolge des Theaters und seiner breiten Resonanz, sie bot den Autoren 114

auch jenes Kollektiv, das sie für die Gestaltung der neuen Sujets und Themen brauchten. Das Theater der Freundschaft war eines der ersten Theater in der DDR, das die kollektive Arbeit zwischen Autor, Ensemble und Publikum organisierte. Der Spielplan des Theaters der Freundschaft, über den Hans Rodenberg sagt, daß „ohne Autoren, die speziell für das Kinder- und Jugendtheater schreiben können, kein Kinder- und Jugendtheater sich entwickeln kann" 166 , ist der sichtbare Ausdruck für die Vereinigung nationaler sozialistischer Theatertraditionen mit den reichen Erfahrungen des sowjetischen Kindertheaters. Die ersten Autoren, die mit ihren Stücken die Grundlage einer neuen Dramatik für junge Zuschauer schufen, waren selbst Vertreter dieser Theatertradition. (Gustav von Wangenheim schrieb das erste Zeitstück für Jugendliche.) Ebenso wesentlich war das Reservoir an Stücken des sowjetischen Kinder- und Jugendtheaters, das bis heute neben der Entwicklung eigener Dramatik die Grundlage für die Spielpläne aller Kinder- und Jugendtheater der DDR bildet. Es gelang dem Theater der Freundschaft bereits mit den Spielplänen der ersten Zeit 167 *, Maßstäbe für die Theaterarbeit für Kinder und Jugendliche zu setzen. Nach dem Muster der sowjetischen Kinder- und Jugendtheater wurden auch das Verhältnis von Theater und Schule und die pädagogische Arbeit des Theaters gestaltet, z. B. die Einteilung des Publikums in drei Altersstufen, die Einrichtung pädagogischer Abteilungen an den Theatern, Formen des Kontaktes mit der Schule und zu den Zuschauern usw. Neugründungen von Kinder- und Jugendtheatern, so das Theater der Jungen Garde in Halle, das am 11. Oktober 1952 mit Timur und sein Trupp eröffnet wurde, und das wenige Tage später gegründete Erfurter Kindertheater, dessen erste Premiere am 24. Oktober 1952 Miroslav Stehliks Weg ins Leben nach Makarenkos Poem war, konnten von vornherein auf den Prinzipien des zentralen Kinder- und Jugendtheaters aufbauen.

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Geschichte und Gegenwart auf dem Kitiderund Jugendtbeater Die ersten Stücke, in denen die großen gesellschaftlichen Umwälzungen unserer Zeit den Jugendlichen an einer ihjien vertrauten oder doch von ihnen überschaubaren Umwelt bewußt gemacht wurden, entstanden zu Beginn der fünfziger Jahre. Charakteristisch für sie ist, daß die gegensätzlichen Entwicklungen in beiden deutschen Staaten eine dominierende Rolle in ihnen spielen. Die Abspaltung des westdeutschen Separatstaates und die Gründung der DDR stellten auch junge Menschen in Entscheidungssituationen, die in diesen Stücken ihren Ausdruck fanden. Der Grundwiderspruch der Epoche verlief nicht mehr nur zwischen den Klassen, sondern mitten durch deutsches Territorium, mitten durch eine Stadt - Berlin, in der sich das sozialistische und das imperialistische Weltsystem gegenüberstehen. Wie bereits erwähnt, wurden die ersten Zeitstücke für junge Zuschauer von Schriftstellern geschrieben, die an der Herausbildung der frühen sozialistischen Literatur vor 1933 und am antifaschistischen Kampf wesentlichen Anteil gehabt haben. Für sie war die Parteilichkeit der Kunst - eine Forderung, die nachdrücklich auf dem II. Deutschen Schriftstellerkongreß im Juli 1950 an alle Schriftsteller ergangen war - eine selbstverständliche Haltung, und sie verfügten über politische Erfahrungen, die teuer erkauft waren und die sie den jungen Menschen mitteilen wollten, um sie für den sozialistischen Aufbau und den Kampf gegen den Imperialismus zu befähigen. Am 12. Januar 1950 erteilte der Zentralrat der Freien Deutschen Jugend Gustav von Wangenheim den Auftrag, anläßlich des Deutschlandtreffens Pfingsten 1950 ein Theaterstück für die werktätige Jugend zu schreiben. Bereits zwei Monate später wurde Du bist der Richtige vom Autor in einer Lesung dem Sekretariat des Zentralrates der FDJ vorgestellt, bei der auch der Regisseur Hans Rodenberg seine Konzeption der Inszenierung vortrug. Am Vorabend des Deutschlandtreffens (26. Mai 1950) fand im Haus der Kultur der Sowjetunion (das Theater der Freundschaft war noch im Bau) in Anwesenheit von Wilhelm Pieck 116

und zahlreichen Ehrengästen die Uraufführung statt. Sie wurde zu einem außerordentlichen Erfolg, den die Kritik folgendermaßen beschreibt: „Man war mitunter im Zweifel, wo eigentlich die Szene war, oben auf den Brettern oder unten im Parkett. Blaue Hemden oben und unten, und eine Begeisterungsfähigkeit, die sich von der Bühne in den Zuschauerraum und umgekehrt übertrug. Wenn auf der Bühne ein Lied erklang, stimmte unten alles spontan ein." 168 Dieses Bild änderte sich auch in den weiteren Vorstellungen nicht. Bis zum 26. August 1950, zur fünfzigsten Vorstellung, hatten bereits 21 650 Jugendliche die Aufführung besucht. Begeisterungsstürme erntete die Inszenierung auch auf den zahlreichen Tourneen. Das Ensemble spielte in einem Monat nicht nur sechsundzwanzig Vorstellungen vor rund 29000 FDJlern, Jungen Pionieren, Aktivisten und Lehrlingen, sondern diskutierte mit dem Publikum, führte Wahlagitation durch und lernte bei zahlreichen Betriebsbesichtigungen seinen Zuschauer am Arbeitsplatz kennen. Ähnlich verlief auch die zweite und dritte große Gastspielreise. Mit der neunzigsten Vorstellung dieses Stückes am 16. November 1950 wurde dann das Theater der Freundschaft in Berlin eröffnet. Inzwischen spielten die meisten Berufstheater und auch viele Laienspielgruppen das Stück. Die zweite Inszenierung erfolgte am Theater der Jungen Generation Dresden noch im Juli 1950 unter der Regie von Jutta Klingberg. Das Stück wurde in den Lehrplan der Schulen aufgenommen, und das Berlin-Lied mit der Musik von Ernst Hermann Meyer sang die Jugend im ganzen Land. Dieser Erfolg des ersten sozialistischen Stückes für die Jugend (und neben Karl Grünbergs Golden fließt der Stahl und Bürgermeister Anna von Friedrich Wolf eines der ersten Werke der DDR-Dramatik überhaupt) beweist, daß Gustav von Wangenheim Fragen und Probleme aufgriff, die damals die Jugend bewegten. Anläßlich der Nationalpreisverleihung an den Autor und den Regisseur am 7. Oktober 1950 sagte Wilhelm Pieck: „Hier ist der erste geglückte Versuch unternommen, Gegenwartsprobleme der Jugend für die Jugend und für junge Schauspieler zu gestalten und ein Ensemble junger Menschen zu künstlerischen Leistungen zu befähigen." 169 117

In Du bist der Richtige wird von Mitgliedern der Freien Deutschen Jugend erzählt, die in die Hauptstadt gekommen sind, um beim Bau des Stadion Mitte für das erste Deutschlandtreffen zu helfen. Waldi und Heinz, zwei junge Arbeiter von einer Werft an der Ostsee, und Karl aus Berlin überraschen Westberliner Rowdies beim Diebstahl von Kupferdraht auf einer S-Bahnstrecke. Waldi flieht, während Heinz seinem Freund Karl das Leben rettet. Wieder auf der Werft, wird Karl zum Leiter der FDJ-Betriebsgruppe gewählt, während Waldi zwar die beste Einzelleistung im Wettbewerb vollbringt, im Kollektiv aber immer mehr zum Einzelgänger wird. Als ein Vertreter der Gruppe für den Beirat des Ministers nominiert werden soll, stehen zwei Kandidaten zur Wahl: Heinz und. Waldi. Die Gruppe entscheidet sich für Heinz, doch es erweist sich, daß auch Waldi der „Richtige" ist. Komödie mit einem ernsten Vorspiel nennt der Autor sein Stück, und er schildert vor dem ernsten Hintergrund der Klassenauseinandersetzung den Optimismus einer Gesellschaft, die eine neue Ordnung aufbaut, den Sozialismus. Es ging ihm um eine neue Arbeitsmoral, um das Verhalten des einzelnen zum Kollektiv, um das Verhältnis zwischen Alt und Jung, um eine neue Haltung zur Frau, um Kritik und Selbstkritik und um die Bereitschaft, die gemeinsamen Errungenschaften gegenüber dem Feind zu schützen. Die erzieherische Wirkung erstreckte sich auch auf das Ensemble; es war ebenso jung wie die Stückfiguren, bestand aus Anfängern, aus Laien und aus Schauspielern, die bisher nur die Praxis des bürgerlichen Theaters kannten. „ ,Du bist der Richtige' hat seine erzieherische aufbauende Wirkung zu allererst am Ensemble des ,Theaters der Freundschaft' erprobt [. . .] Das Resultat war nicht nur die Bildung einer starken FDJ-Gruppe an unserem Theater, sondern auch die fortschrittliche Veränderung des Bewußtseins aller unserer Mitglieder [. . .]" berichtet Hans Rodenberg. 170 Die Schauspieler studierten und arbeiteten auf den Schauplätzen des Stückes, in freiwilligen Arbeitseinsätzen im Stadion Mitte und auf einer Werft in Stralsund. Persönliche Erfahrungen und dieser enge Kontakt mit der Jugend befähigten das junge Ensemble, eine solche Begeisterung hervorzurufen.

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Die ersten Stücke einer nationalen Dramatik für junge Zuschauer halfen ihrem Publikum, parteiliche Entscheidungen innerhalb der unmittelbaren Klassenauseinandersetzungen zu treffen und zeigten ihm den Platz, an dem es aktiv an den revolutionären Veränderungen der Gesellschaft mitwirken konnte, nämlich in den Reihen der sozialistischen Jugend- und Kinderorganisation. Dies erklärt auch die Wirksamkeit der zweiten Uraufführung am Theater der Freundschaft, Spiel ins Leben von Hedda Zinner, die Hans Rodenberg für Kinder im Alter von zehn bis vierzehn Jahren inszenierte. Hedda Zihner behandelte die Entscheidung zwischen Sozialismus und Imperialismus am Beispiel einer Berliner Familie. Zum ersten Mal wurden Inhalt und Ziele der Arbeit der Pionierorganisation auf der Bühne dargestellt. Neben Gustav von Wangenheim und Hedda Zinner war noch ein dritter Autor, der in den Jahren der Weimarer Republik um ein gesellschaftskritisches Theater gekämpft hatte, am Entstehen dieses Stücktypus' beteiligt. Peter Martin Lampel, vor 1933 vor allem mit Revolte im Erziehungshaus, einem Stück über die skandalösen Zustände in den deutschen Erziehungsanstalten, hervorgetreten, schrieb 1951 im Auftrag des Theaters der Freundschaft Kampf um Helgoland. Das Stück ist der dramatisierte Bericht der Besetzung Helgolands durch junge westdeutsche Friedenskämpfer, die den Ausbau der Insel zu einem britischen Militärstützpunkt verhindern wollen. Helgoland wurde auf Grund der Proteste schließlich von den Engländern freigegeben. Einen ähnlichen Stoff behandelte Horst Beseler 1953 in der Dramatisierung seiner Erzählung Die Moorbande (Uraufführung am 3. September 1953 im Theater der Freundschaft), die die Genrebezeichnung „Nationales Kinderstück" trägt. Amerikanische Panzer zerstören bei ihren Manövern in der Lüneburger Heide die Äcker, Straßen und Häuser der Bauern. Angeregt von einer Geschichte aus dem Dreißigjährigen Krieg, lenken Kinder die Panzer in einen Sumpf, indem sie die Wegweiser verrücken. Auch die Bauern greifen zum Widerstand gegen den Bau eines US-Militärflugplatzes. Horst Beseler, bereits einer neuen Schriftstellergeneration angehörend, lieferte mit diesem Stück zugleich ein Beispiel für die Dramatisierung 119

von erfolgreichen Kinderbüchern, eine Praxis, die von den Kinder- und Jugendtheatern der DDR weiterentwickelt worden ist. Die Theater füllen damit nicht nur ein noch immer schmales Repertoire für Kinder auf, sondern sie reagieren so auch auf ein Bedürfnis der Zuschauer, die Helden ihrer Bücher auf der Bühne wiederzusehen. Neben den Stücken, die sich unmittelbar mit der Entwicklung in beiden deutschen Staaten beschäftigen, standen im Spielplan Werke der sowjetischen Dramatik für Kinder, die Bewährungssituationen junger Menschen darstellen und vergleichbare Konflikte und Entscheidungen behandeln. In der Spielzeit 1950/51 wurde in Leipzig Das rote Halstuch von Sergej Michalkow als deutsche Erstaufführung herausgebracht, und alle Kinder- und Jugendtheater nahmen das Stück in den Spielplan auf, ebenso Arkadi Gaidars Timur und sein Trupp, das am 15. Oktober 1951 im Theater der Freundschaft seine deutsche Erstaufführung erlebte. Das Stück spielt in einem kleinen Dorf in der Sowjetunion während des Großen Vaterländischen Krieges. Eine Gruppe Junger Pioniere, geführt von dem etwa dreizehnjährigen Timur, hilft den Familien im Dorf, deren Väter, Söhne oder Männer an der Front kämpfen. In der Konfrontation mit einer anderen Gruppe von Kindern, die von dem gleichaltrigen Kwakin angeführt wird, arbeitet dieses Stück Kriterien für ein sozialistisches Kollektiv heraus. In der Inszenierung des Theaters der Freundschaft von Siegfried Menzel spielten Ulrich Thein und Eckard Friedrichsohn den Timur, Hilmar Thate und UweJens Pape den Kwakin; in der Leipziger Inszenierung von Hans-Dieter Schmidt spielte Edwin Marian den Timur. Das rote Halstuch und Timur und sein Trupp gehören mit je sechs Inszenierungen zu den bisher erfolgreichsten Stücken für die mittlere Altersstufe. Vor allem Timur wurde zur Vorbildfigur für die Kinder der DDR. Die Aufnahme sowjetischer Stücke, die einen vielseitigen Spielplan in dieser Periode der Entwicklung des Kinder- und Jugendtheaters überhaupt erst ermöglichte, unterstützte zugleich eines der wesentlichsten Erziehungsziele der Schule die Erziehung der Kinder zur Freundschaft mit der Sowjetunion. Von nachhaltiger Wirkung war in diesem Zusammen120

hang Schneeball von W, A. Ljubimowa. Die Solidarität der Sowjetunion mit allen um ihre Rechte kämpfenden Menschen dieser Erde ist das Leitmotiv dieser in Amerika angesiedelten Fabel. Angela Biddl, Millionärstochter aus dem Süden, kommt in die von einem liberalen Direktor geleitete Franklin-Roosevelt-Schule. Sie weigert sich, Betty und Dick (genannt Schneeball), zwei farbige Schüler, in der Klasse zu dulden. Als der Vater die Schule erpreßt und die Polizei gegen deren fortschrittliche Kräfte vorgeht, greift ein Solidaritätsstreik der Arbeiter der Biddl-Werke in das Geschehen ein. In der allerdings stark vereinfachten Fabel wurde die Rassenfrage als Klassenfrage behandelt und die Ursache für die Diskriminierung von Menschen den Kindern verdeutlicht. Das öffentliche Echo auf die deutsche Erstaufführung am Theater der Freundschaft, es war die zweite Inszenierung des Theaters und die erste, die sich direkt an Schüler im Alter von zehn bis vierzehn Jahren wandte, war außerordentlich groß (deutsche Erstaufführung am 10. Dezember 1950 Regie: Charlotte Küter, Bühnenbild: Roman Weyl, Kostüme: Barbara Berg). Nicht nur die Problematik des Stückes, auch die Möglichkeiten und die Bedeutung des Kinder- und Jugendtheaters standen zur Diskussion. Karl Schnog schrieb in der Weltbühne: „Die .Schneeball'-Aufführung wurde tatsächlich die Geburt einer neuen, hierorts bisher nicht bekannten, höchst notwendigen Theaterkunst, des ernstgenommenen Schauspiels für Kinder." 1 7 1 Dieser neuen „Theaterkunst" ist es auch zu danken, daß progressive Versuche aus der Vergangenheit wieder entdeckt wurden. So gelangte erst fünfzehn Jahre nach seinem Entstehen Tom Sawyers großes Abenteuer von Stefan Heym und Hanus Burger, nach Motiven des gleichnamigen Buches von Mark Twain, zur deutschsprachigen Erstaufführung; das Stück war 1937 im Prager Befreiten Theater uraufgeführt worden. Die Autoren konzipierten unter Verwendung von Motiven der ursprünglichen Geschichte eine neue Fabel mit neuen Akzenten. Tom und Huck werden Zeugen eines Mordes; sie ringen sich trotz aller Gefahren dazu durch, den unschuldig verdächtigten Neger vor dem Ku Klux Klan zu retten und den wirklichen Mörder zu entlarven. Die Rassenverfolgung und die Dema121

gogie der Klassenjustiz, die das Femegericht einschließt, rücken ins Zentrum des Stückes. Beide Stücke, Schneeball und Tom Sawyers großes Abenteuer, (deutsche Erstaufführung am 10. Januar 1953 im Theater der Jungen Garde Halle) begründeten die dritte Konzeptionslinie des Spielplans für die mittlere Altersstufe, die sich bis heute an den Kinder- und Jugendtheatern verfolgen läßt, wobei auch die genannten Stücke immer wieder im Spielplan erscheinen.172* In den Jahren 1954/55 begann in der Theaterarbeit für Kinder und Jugendliche ein neuer Abschnitt. Das historische Stück, in dem die revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung dargestellt sind und das in den Gründungsjahren der Kinder- und Jugendtheater in den Spielplänen völlig fehlte, wurde in den fünfziger Jahren repertoirebestimmend. Diese Entwicklung korrespondiert mit der Geschichte der Kinderliteratur der DDR, die die Jahre 1954/55 als entscheidenden Wendepunkt verzeichnet. Drei Momente gaben dafür den Ausschlag: 1. Die Traditionen der proletarischen Kinderliteratur wurden zu diesem Zeitpunkt wieder aufgenommen (u. a. erschien 1954 Ede und. Unku von Alex Wedding). 2. Themen aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und des antifaschistischen Widerstandskampfes wurden von jungen Autoren für Kinder behandelt (z. B. Willi Meinck Kuddel und Fietje, Inge und Gerhard Holtz-Baumert Der kleine Trompeter und sein Freund). Und 3. erschien Tinko von Erwin Strittmatter - ein Buch, das neue Maßstäbe der Gegenwartsliteratur für Kinder und Jugendliche setzte. Der Cheflektor des Kinderbuchverlages charakterisierte die Bedeutung dieses Buches: „Hier wurde die Grenze aufgehoben zwischen der Kinderliteratur und der Literatur für erwachsene Leute. Nirgendwo in der deutschen Kinderliteratur war bis dahin der junge Held (und der junge Leser) so tief und so entschieden in die Klassenauseinandersetzung unserer Zeit gestellt worden." 173 Die Herausbildung der Grundlagen der sozialistischen Literatur für Kinder und Jugendliche stellte auch an die Dramatik höhere Ansprüche. Bereits die 2. Parteikonferenz der SED 1952, die den Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe in der DDR erklärt hatte, betonte angesichts der Re122

militarisierung Westdeutschlands und der wachsenden Kriegsgefahr die progressiven Traditionen bei der Herausbildung des sozialistischen Bewußtseins. Mit der Gründung der NATO 1955, der sich auch die Bundesrepublik anschloß, wurde die Spaltung Deutschlands durch die Bundesrepublik und ihre Bündnispartner weiter vertieft. Die konterrevolutionären Putschversuche in einigen sozialistischen Ländern, hauptsächlich verursacht durch die massive ideologische Diversion des Gegners, die besonders auch auf die Jugend gerichtet war, verlangten einen Spielplan, der jungen Menschen den Charakter und die Bedeutung der DDR und ihre historischen Wurzeln erklären half. Dafür gab es zu diesem Zeitpunkt kaum Stücke für junge Zuschauer. Aber die Werke der frühen sozialistischen Literatur, die die Klassenkämpfe der deutschen Arbeiterbewegung schilderten, waren sehr geeignet, jungen Menschen Geschichte gegenwärtig zu machen. Zuerst nahm sich das Leipziger Theater der Jungen Welt dieser Stücke an. Ludwig Friedrich inszenierte die Matrosen von Cattero von Friedrich Wolf. Im gleichen Jahr folgten Die Gewehre der Frau Carrar und Hirse für die Achte von Bertolt Brecht, die im Lehrplan der Schulen enthalten waren. Neben diesen Stücken, die mehrere Inszenierungen erfuhren, wurden Professor Mamlock (1954 Theater der Jungen Generation Dresden) und Das Trojanische Pferd von Friedrich Wolf (deutschsprachige Erstaufführung 1954 im Theater der Jungen Garde Halle) sowie Arnold Zweigs Streit um den Sergeanten Grischa (DDR-Erstaufführung 1957 ebenfalls im Theater der Jungen Garde) gespielt. Das Theater der Freundschaft brachte 1956 die Bearbeitung der Trojaner von Curt Corrinth heraus. Das Stück war 1929 entstanden und in der Volksbühne Berlin uraufgeführt worden. Von dort ging es bis 1933 über fast alle deutschen Bühnen. Zehn Jahre nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus zwangen die Geschehnisse in Westdeutschland den Autor, sein Stück zu bearbeiten. Die Geschehnisse um die Trojaner (neuer Titel Die Sache mit Päker) waren wieder aktuell geworden. (Der Autor siedelte aus Protest gegen die Entwicklung der Bundesrepublik in der DDR über.) Im Rahmen der Bertolt-Brecht-Woche, die zu den Berliner Festtagen 1957 stattfand, brachte des Theater der Freund123

schaft Die Gesichte der Simone Machard zur DDR-Erstaufführung. (Die Uraufführung hatte ein halbes Jahr zuvor unter Harry Buckwitz in Frankfurt a. M. stattgefunden). Bei der Aufnahme des Stückes in den Spielplan eines Kinder- und Jugendtheaters mag entscheidend gewesen sein, daß ein Kind im Mittelpunkt der Handlung steht. Die Rolle der Simone wurde der neunjährigen Anne-Katrin Haas übertragen, die den Text kindlich naiv sprach, so wie Brecht es vorgeschlagen hatte. Er schrieb über die Besetzung der Rolle: „[. . .] das Wichtigste für eine Aufführung der ,Simone' ist, daß die Hauptrolle unter überhaupt keinen Umständen von einer jungen Schauspielerin gespielt werden kann (auch nicht von einer, die wie ein Kind aussieht), sondern nur von einer E l f j ä h r i g e n [. . .]" r,r> Die Inszenierung Lothar Bellags sollte den jungen Menschen begreifbar machen, daß das Verhältnis zum Vaterland den spezifischen Interessen der Klassen unterworfen ist. Die Ausstattung Dieter Berges unterstützte die Fabel. Der Brecht-Vorhang trennte die einzelnen Bilder, und Projektionen kündigten die Traum-Szenen an. Die durch harte Rhythmik und grelle Instrumentation gekennzeichnete Musik Hanns Eislers lief, mit Ausnahme des Gesangs des Engels, über Tonband. Der Engel wurde von hinten auf das Dach der Garage, die frontal zum Publikum stand, hochgeklappt. Die notwendige Abgrenzung der Traum- von den Realszenen, die für junge Zuschauer besonders überschaubar sein mußte, wurde durch Lichtwechsel erreicht. Die Veränderung der Kostüme hob das Wesentliche der Traumfigur hervor und ließ doch ohne Schwierigkeit die Personen aus Simones näherer Umgebung erkennen. Beim Übergang zum Wachtraum öffnete sich die Garagentür, ein beleuchteter Wagen wurde herausgefahren, auf dem die Szene ablief. Die Abhebung der Träume von der Realität erfolgte durch die Musik, nicht durch die Darstellungsweise, und auch das Bühnenbild erhielt kein Beiwerk (wie etwa in Frankfurt a. M., wo eine unwirkliche, fast operettenhaft erscheinende, pompöse Ausstattung die Traumszenen charakterisierte). Publikumsumfragen ergaben, daß der junge Zuschauer sehr wohl in der Lage war, die beiden Spielebenen formal voneinander abzugrenzen. Dennoch war für das Verständnis des Stückes eine gründliche Vorbereitung 124

durch die Schule notwendig. Vor allem fehlte Wissen über die historischen Ereignisse um Jeanne d'Arc. Aber selbst bei schulischer Vorbereitung mußte es dem durchschnittlich sechzehnjährigen Publikum schwerfallen, den Zusammenhang zwischen Simone Machard und Jeanne d'Arc herzustellen. Diese Schwierigkeiten bei der Aufnahme erklären sicher, warum das Stück am Kinder- und Jugendtheater nicht nachgespielt wurde. Für die Entwicklung der Kinder- und Jugenddramatik der DDR waren die Stücke der deutschen sozialistischen Literatur auch wichtige Anregungen für junge Autoren, Geschichtsdramen für junge Zuschauer zu schreiben. Auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongreß im Januar 1956 hatte Brecht angesichts der Verschärfung des antagonistischen Widerspruchs zwischen dem imperialistischen und dem sozialistischen Weltsystem die Forderung nach einem unmittelbar politischen Theater erhoben. Er schlug u. a. vor, an die Tradition des Agitproptheaters anzuknüpfen, weil damit politische Aussagen direkt und schnell wirksam werden können. Aus diesem Impuls entstanden in den folgenden zwei Jahren einige interessante Stücke, die politisches Wissen vermitteln und eine parteiliche Haltung des jungen Zuschauers bewirken wollten. Ereignisse der deutschen Novemberrevolution von 1918 behandelte das erste Stück von Wera und Claus Küchenmeister Damals 18/19 (1958), das zum vierzigsten Jahrestag der Novemberrevolution im Theater der Freundschaft (Regie: Lothar Beilag) uraufgeführt wurde. Die Inszenierung unterstützte die Struktur des Stückes: Es entstand ein „szenischer Bericht". Die Form der dramatischen Reportage setzte auch im Theater der Jungen Welt die Akzente der Inszenierung. Dort hatte Damals 18/19 zum zehnten Geburtstag der Pionierorganisation Ernst Thälmann am 14. Dezember 1958 Premiere (Regie: Hans-Dieter Schmidt). Das Bühnenbild von Harald Reichelt entsprach den Möglichkeiten der mit wenig technischem Komfort ausgestatteten Bühne im Weißen Saal; mit einem Minimum an Ausstattung wurde der jeweilige Schauplatz charakterisiert, um eine schnelle Abfolge der Szenen zu ermöglichen, die auch hier durch Berichte und Erläuterungen des alten Blonowski (Walter Kröter) kommentiert wurden (die letzten Sätze erschienen projiziert auf dem Zwischenvor125

hang). Auch filmische Mitcel wurden eingesetzt, zum Beispiel Aufnahmen aus dem ersten Weltkrieg, die das junge Publikum in die Geschichte einführen sollten. Stücke des dramaturgischen Typs von Damals 18/19 wurden von der zeitgenössischen Kritik mit dem Begriff „didaktische Dramatik" versehen, weil sie offen politisch-lehrhaft waren und sich montierter Strukturen bedienten. Die Kritik an diesem Stücktypus ging gelegentlich zu weit (als „Abweichung vom Realismus"). Tatsächlich hatten diese Stücke aber Schwierigkeiten, sich auf dem Kinder- und Jugendtheater zu etablieren. Als eine Besonderheit des Heranwachsens in der Vorpubertät kennzeichnen die Psychologen Günther Claus und Hans Hiebsch, daß in diesem Alter „Werturteile auf emotionale Eindrücke zurückgehen" 1 "'. Auch das Geschichtsdrama muß deshalb für das Kind erlebbar sein, damit ihm Geschichte bewußt wird. Stark montierte Strukturen (knappe, nebeneinandergestellte Szenen mit raschem Wechsel und kommentierenden Einfügungen usw.) erschweren dem Kind den Zugang zur Fabel und zu den Figuren. Dennoch hatten diese Stücke und die für sie entwickelten Inszenierungsmittel großen Einfluß auf die weitere Arbeit des Kinder- und Jugendtheaters. Neue Elemente gingen als erprobt in die Dramaturgie der Stücke und in die Spielweise ein. Das Prinzip der Montage ist seitdem auch im Kinder- und Jugendtheater selbstverständlich und gibt, richtig eingesetzt, der Fabel eines Stückes oftmals eine größere Dimension. Die Inszenierungen strebten immer intensiver eine optische Erzählweise der Fabel, die Verdeutlichung der Drehpunkte und die Darstellung gesellschaftlicher Verhaltensweisen an. Diese an Brecht geschulte Darstellungsweise gab einigen historischen Stücken der Jahre 1954 bis 1958 einen betont agitativen Charakter, der die sich rasch zuspitzenden Klassenauseinandersetzungen jener Jahre zum Hintergrund hatte. So äußerten sich die Autoren Wera und Claus Küchenmeister zu Damals 18/19: „Wir wollten kein historisches Stück' schreiben, im engen Sinne des Wortes [. . .] Wofür jene Jungen kämpften und starben, ist heute in unserer D D R verwirklicht. Und unsere Wirklichkeit geht alle an. Wir glauben, daß diese Darstellung für die tägliche politische Auseinandersetzung nützlichl sein kann." 1 7 6 126

Trotz der Entstehung von Stücken wie Damals 18/19 blieb in den Spielplänen! der Kinder- und Jugendtheater dieser Zeit ein „weißer Fleck". Es entstand kein nennenswertes Stück, das sein Sujet der unmittelbaren Gegenwart entnahm. Hier blieb die Dramatik hinter der Kinderliteratur zurück, die, auf Tinko aufbauend, eine Reihe von Gegenwartswerken vorlegte, die bis heute nichts von* ihrem Wert eingebüßt hiaben. Die Grundlagen des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates, vor allem die revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterklasse, so zu beschreiben, daß junge Menschen die sozialistische Wirklichkeit in ihrer historischen Gesetzmäßigkeit erfassen konnten, diesen Auftrag nahmen in den folgenden Jahren Autoren in zunehmendem Maße an. In der Spielzeit 1959/60 führten alle Kinder- und Jugendtheater Jule findet Freunde von Werner Heiduczek auf, ein Stück, das der Autor n,ach seiner gleichnamigen Erzählung geschrieben hatte. Es war der erste dramatische Versuch Heiduczeks, und es war das erste Stück, das sich - an ein Kinderpublikum gerichtet mit der faschistischen Vergangenheit und dem antifaschistischen Widerstandskampf befaßte. In ]ule findet Freunde erlebten die zehn- bis vierzehnjährigen Zuschauer zum ersten Male das Verhalten von Gleichaltrigen unter der Naziherrschaft - vom fanatischen Anhänger der Nazis, dem Hitlerjungen Kalle, bis zum kleinen proletarischen Widerstandskämpfer Jule. Die Kinder- und Jugendtheater unterstrichen die Bedeutung des Stückes durch eine Ringuraüfführung im Oktober 1959. (Obwohl unterschiedliche Fassungen gespielt wurden, erprobten die Dramaturgien der Kinder- und Jugendtheater bei der Entstehung des Stückes miteinander erstmals Formen direkter Zusammenarbeit.) Hans-Albert Pederzani schrieb drei Stücke für das Theater der Freundschaft: Die Jagd nach dem Stiefel, nach der gleichnamigen Erzählung von Max Zimmering, ist stofflich in der Weimarer Republik am Vorabend der faschistischen Machtübernahme angesiedelt, in Unser kleiner Trompeter ist nach dem gleichnamigen Roman von Otto Gotsche das Leben des Hallenser Arbeiter jungen Fritz Weineck beschrieben, und Der eigene Kopf behandelt die Kämpfe um den Marstall 1918/19 in Berlin (nach Motiven der Erzählung Flucht aus dem Eden 127

von Karl Grünberg). Die unterschiedlichen Stücke verbindet, daß sie junge Menschen in Entscheidungssituationen innerhalb großer geschichtlicher Ereignisse stellen, individuelle Schicksale mit gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verknüpfen und an den Klassenkämpfen auch Kinder als unmittelbar beteiligt zeigen. Die Jagd nach dem Stiefel erinnert an Erich Kästners Emil und die Detektive. Auch Pederzanis Stück ist eine spannende Kriminalgeschichte, in der Kinder die Hauptpersonen sind: Eine Gruppe Roter Jungpioniere sucht einen SA-Mann, der ihren Pionierleiter während der Reichstagswahl 1932 ermordet hat und von dem sie ein Indiz - den Stiefelabdruck auf einer Zeitung - besitzen. Die Kinder finden den Mörder; sie erreichen ihr Ziel, weil sie es gemeinsam mit dem Sohn eines Sozialdemokraten und der Tochter eines jüdischen parteilosen Schuhmachers verfolgen. Eine einfache Struktur, um junge Zuschauer in die Problematik der antifaschistischen Aktionseinheit, der Bündnispolitik der Kommunisten einzuführen. Die Uraufführung fand 1961, zum fünfzehnten Jahrestag der SED, am Zentralen Kinder- und Jugendtheater statt (Regie: Hubert Hoelzke als Gast). Fünf Jahre später wurde Die Jagd nach dem Stiefel erneut in den Spielplan aufgenommen; Regie führte Kurt Rabe, der das Stück schon 1963 im Bukarester Kinder- und Jugendtheater Ion Creanga erfolgreich inszeniert hatte. Bisher erlebte das Stück auf den Bühnen der Kinder- und Jugendtheater der DDR sechs Inszenierungen. Ein solcher Erfolg war Pederzanis zweitem Stück Unser kleiner Trompeter mit nur zwei Inszenierungen nicht beschieden. Diese revueähnliche Szenenfolge bietet bei der Umsetzung auf der Bühne eine Schwierigkeit: Die Handlung umfaßt einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren. Im ersten Teil, der mit dem Schuleintritt Fritz Weinecks beginnt, müssen Kinder als Darsteller eingesetzt werden, wodurch die einheitliche Entwicklung der Hauptfiguren schwer herzustellen ist. Die Inszenierung der Uraufführung (Regie: Rainer R. Lange) im Oktober 1963 betonte die Revue-Technik des Stückes. Zwei Bühnenfiguren (Klaus Urban als Paul Hepner und Ludwig Friedrich als Gustav Borsdorff) ergänzten die gespielte Lebensgeschichfe durch Berichte vor einem Zwischenvorhang. So wurden erzählende Elemente mit den 128

dramatischen verknüpft, und vor dem Zuschauer lief eine - zwar des öfteren unterbrochene - dramatische Handlung ab. Die Melodie des Liedes vom kleinen Trompeter, die jedem Kind geläufig ist, zog sich als Leitmotiv durch die Aufführung. D i e Musik von Jean-Kurt Forest illustrierte die Handlung nicht einfachl, sie kommentierte die Entwicklung Fritz Weinecks und trug dazu bei, dem jungen Zuschauer einen wichtigen Gedanken der Aufführung nahezubringen: Musik trägt Klassencharakter, Kunst ist Waffe. Die Inszenierung konnte jungen Menschen ein Vorbild vermitteln; mit großer Anteilnahme verfolgten sie den Lebensweg Fritz Weinecks (Wolfgang Ostberg) auf der Bühne. Buchstäblich! wurde einer beispielhaften Persönlichkeit ein Denkmal gesetzt; zu Beginn und am Schluß der Aufführung erschien die Silhouette des Hallenser Arbeiter jungen im Gegenlicht vor einem rot ausgeleuchteten Hintergrund. Zu Beginn, der sechziger Jahre wurde dem Mangel an Gegenwartsstücken im Repertoire der Kinder- und Jugendtheater mit einigen Werken ähnlicher Konfliktsituation begegnet. Mittelpunktsfigur ist der Außenseiter, der zum sozialistischen Kollektiv findet. Seine „Ankunft im Sozialismus" korrespondiert mit vielen Gestalten, die die D D R - D r a m a t i k in dieser Periode beschreibt. 1960 wurde am Theater der Freundschaft das Stück Leistungskontrolle von Hedda Zinner uraufgeführt (Regie: Rudi Kurz als Gast, Ausstattung: Otto Kähler). Obwohl das Stück Probleme unter Schülern im Sozialismus aufgreift, bezieht es seinen dramatischen Konflikt aus dem ideologischen Einfluß Westdeutschlands auf junge Menschen in der D D R . Das Kollektiv als Gegenkraft zu Rowdytum, charakterlicher Labilität und ideologischer Inkonsequenz, aber auch als politisch handelndes Subjekt in Stoffen von größerer Dimension dies ist eine der am häufigsten anzutreffenden dramaturgischen Strukturen in Stücken solcher Art. Dabei werden oft dessen Möglichkeiten überbetont und die Konflikte stereotyp gelöst: D i e in Schwierigkeiten oder auf Abwege geratenen einzelnen finden im Kollektiv Rat umd Hilfe, wodurch ein glückliches Ende herbeigeführt wird. D i e Zuschauer interessierte an Hedda Zinners Leistungskontrolle folglich mehr der Konflikt zwischen 9

Hoffmann

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der Klasse und der jungen Lehrerin, deren unvermutete Leistungskontrolle von der Klasse mit einem Streik beantwortet wurde. Aber auch dieses Verhältnis wird in der Gefahr der Naturkatastrophe geklärt - erst in der außergewöhnlichen Bewährung lernt man sich verstehen. Die Zuschauer bejahten die aufgeworfene Problematik, beanstandeten aber, „daß am Schluß alle gewandelt" sind. Trotz dieser Schwächen war das Stück nützlich, denn es stellte die Frage, was die Forderung „sozialistisch leben und lernen" für die Schule bedeutet. Auf Anregung und in Zusammenarbeit mit der FDJ-Bezirksleitung Berlin entstand kurze Zeit danach das Stück Die Ehrgeizigen von Günter Görlich, das der Autor nach seinem gleichnamigen Buch für das Theater der Freundschaft schrieb (Uraufführung am 4. März 1962, Regie: Kurt Rabe, Ausstattung: Otto Kähler). Diesem Stück lag eine ähnliche Grundsituation wie in Leistungskontrolle zugrunde. Der Abiturient Paul erlernt auf Wunsch seines Vaters vor der Aufnahme des Studiums den Beruf des Drehers und wird Leiter eines Lehrlingsaktivs, das er zum Sieg im sozialistischen Wettbewerb führt. Seine guten Leistungen stehen jedoch im Widerspruch zu seiner politischen und moralischen Haltung. Ihn interessiert mehr die eigene Karriere als die Belange der Lehrlinge. Aber das Kollektiv ist so stark, daß Paul nach Umwegen (unter anderen über das Amerika-Haus in Westberlin) seine Haltung korrigiert. Görlichs Stück wurde kurz nach dem 13. August 1961 uraufgeführt. Es markiert die besonders in Berlin komplizierte politische Situation jener Zeit im Bewußtsein der Jugendlichen, die zwar ihren Platz in unserer Gesellschaft gefunden haben, aber Einflüssen des Westens ausgesetzt sind. Das Problem stand jedoch nicht im Zentrum des Stückes. Der Autor formulierte selbst seine Absichten: „Vor Jahren, als ich das Buch schrieb, entdeckte ich im Leben unserer jungen Menschen, daß sich ihre Hauptkonflikte an dem Widerspruch zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Interessen entzündeten. Das ist meiner Meinung nach ein sehr natürlicher und gesunder Vorgang. Es sind Widersprüche, die immer im Leben junger Menschen eine Rolle spielen werden. Diese Widersprüchlichkeit versuchte ich schon im Buch zu gestalten, und 130

wir haben im Schauspiel in der Gestalt des Paul Gerken diese Konflikte in den Mittelpunkt gestellt." 177 Das Stück fördert die Erkenntnis, daß persönliches Glück sich nur im Glück aller verwirklicht. Damit war es gelungen, ein grundsätzliches Problem unserer Entwicklung - die Ehrlichkeit in der Arbeit und gegenüber dem sozialistischen Staat - überzeugend darzustellen; folgerichtig verglich die Presse das Stück mit Du bist der Richtige. Beide Stücke waren in enger Zusammenarbeit mit der F D J entstanden. Ein Lehrlingskollektiv des V E B Elektrokohle beriet den Autor und das Theater vom Exposé bis zur Aufführung. Der enge Kontakt zwischen gesellschaftlichem Auftraggeber, Zuschauer, Autor und Theater verhalf diesem erstem Stück, das Jugendliche in der sozialistischen Produktion zeigte, zum Erfolg. Das Theater der Freundschaft begann sich zu dieser Zeit stärker auf die Arbeiterjugend, besonders zwischen dem vierzehnten bis sechzehnten Lebensjahr, zu konzentrieren (das Theater der Jungen Welt in Leipzig nahm sogar eine Begrenzung des Alters bis zu sechzehn Jahren im Anrecht vor). Angeregt vom Kommuniqué des Politbüros der S E D Der Jugend Vertrauen und V erantwortung vom Mai 1963 widmeten die Theater im allgemeinen der Jugend größere Aufmerksamkeit, und viele Autoren, so Claus Hammel, wählten junge Menschen zu Helden ihrer Stücke. Zu Beginn der sechziger Jahre wurden zahlreiche Zeitstücke uraufgeführt, die Normen des sozialistischen Zusammenlebens an Sujets aus dem Lebensbereich der Kinder behandelten. Jochen Koeppel schrieb Die Sache mit dem Fußball und Peter und der Kaktus für das Theater der Freundschaft, Hans-Dieter Schmidt und Gisela Schwarz-Marell (Musik: Hans Sandig) Quartett mit Schlager für das Theater der Jungen Welt, Karl Neumann Frank (nach seinem gleichnamigen Roman) für das Theater der Jungen Garde, Hildegard Schöbel Pioniere an Bord für das Theater der Jungen Generation. 1963/64 entstanden Tatort Lehrerzimmer von Rainer R. Lange nach dem Buch von Walter Karl Schweikart sowie Das jüngste Gericht von Rasselbach von Manfred Streubel. Koeppels Stücke gehen von Miniaturkonflikten aus, wodurch den Figuren auch nur ein enjges Aktionsfeld offensteht. Auch 9*

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das Stück Frank, in dem sich die Gemüter an einem Kanubau entzünden, bringt wenig tragfähige Situationen, zumal die Dramatisierung die Figuren gegenüber dem Roman zu einschichtig zeigte. In Quartett mit Schlager schließlich geht es um gute Pionierlieder, mit denen man auch ältere Menschen erfreuen kann, und um schlechte Schlager. Die Stücke von Streubel und Lange hingegen konstituierten kleine Kriminalfälle, in deren Verlauf Widersprüche im Kollektiv der Kinder ans Licht gebracht werden. In Tatort Lehrerzimmer wird nicht nur ein Einbruch aufgeklärt, sondern bei der Suche nach dem Täter und seinem Motiv das Versagen von Lehrern und Eltern sichtbar gemacht. Im jüngsten Gericht von Rasselbach lösen die Kinder den Fall sogar selbst, so daß aus eigenem Entschluß die Verfehlung auch sofort bereinigt wird. Zahlreiche andere Stücke weisen in dieselbe Richtung - auch die sowjetischen Stücke, die zu dieser Zeit gespielt wurden (z. B. Der Professor kommt um sechs, Petja im Kosmos, Ein schrecklicher Tag). Sie beziehen ihre Fabeln aus dem Zusammenleben der Kinder, aus deren Verhältnis zu Eltern und Erziehern, aus Schule und Pionierorganisation. In der Folgezeit zeigt sich, daß dieser Ausschnitt zu eng und die Probleme zu klein gefaßt waren. Wenn man bedenkt, daß das Kind dem Kindesalter schnell entwächst, stellt sich die Frage, ob es genügt, die Abbilder der Wirklichkeit nur dem kindlichen Lebensbereich zu entnehmen. Natürlich ist der Aktionsradius des Kindes eng, und das Kinderstück, spielt es in diesem Bereich, muß sich auch in diesem Spielraum bewegen, will es wahrhaft sein und pädagogisch wirken. Für den Schauspieler am Kinder- und Jugendtheater bedeutete dies aber, daß er in diesen Rollen keine echte schauspielerische Aufgabe entdecken konnte, er mußte sich vielfach auf die künstlerische Nachahmung kindlicher Verhaltensweisen beschränken. Die Stücke waren deshalb eher für das Kinderlaientheater geeignet, wo Kinder in natürlicher Spielfreude für ihr gleichaltriges Publikum eigene Fehler und Schwächen heiter und kritisch ausstellten. Am professionellen Kinder- und Jugendtheater entstand die Forderung, aus dem Blickwinkel der Kinder auch andere Lebensbereiche stärker in das Zeitstück für Kinder aufzunehmen. Jedes historische Stück hat diese 132

Dimension, es ist dort eine Selbstverständlichkeit, große gesellschaftliche Prozesse darzustellen; im Gegenwartsstück hingegen engten sich die Themen immer mehr ein, wenn von wenigen Versuchen abgesehen wird. Es wurden und werden also Stücke gebraucht, die aus der Schule mit tausend Fäden in das Leben führen. Gezeigt werden mußte aktives Handeln von Kindern u n d Erwachsenen in der gesamten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die ersten Versuche in dieser Richtung erschienen aus Anlaß des zwanzigsten Jahrestages der DDR auf den Bühnen der Kinder- und Jugendtheater: Das Geschenk von Jürgen Fricke im Theater der Jungen Generation und Musterschüler von Heinz Kahlau am Theater der Freundschaft, sowie im neugegründeten Theater für Junge Zuschauer Magdeburg. In beider Stücken geht es um ein Kollektiv junger Erfinder, um die schöpferische Arbeit an einer Erfindung. Im Geschenk steht die Gruppe zu Anfang des Stückes an einem kritischen Punkt. Aus den Bemühungen um eine bessere Wissensaneignung sind Aktionen gegen das Lernen geworden. Da sich Rainer gegen dieses Betrugsmanöver stellt, ist ein dramatischer Konflikt mit gesellschaftlicher Aussagekraft exponiert. Aber mit dem Auftauchen des ehemaligen Arbeitsgruppenleiters, der die Situation sofort erfaßt und der Gruppe vorschlägt, seinen Forschungsauftrag gemeinsam mit den Kindern zu realisieren, sind die Probleme gelöst. Zwar wird nun an einer gesellschaftlich nützlichen Erfindung gearbeitet, aber einen dramatischen Konflikt gibt es nicht mehr. Mißverständnisse, theatralisch aufgeputzt, übernehmen die Funktion des Konfliktes. Aber auch diese Mißverständnisse entstehen nicht aus der Arbeit, sondern aus der Haltung zu einem Mitschüler, der das Kollektiv verließ, weil er sich von der Gruppe verraten fühlte. Es war die erklärte Absicht des Autors zu zeigen, wie durch Arbeit ein schöpferisches Kollektiv entsteht, aber diese gute Absicht tritt hinter den Streit um den Außenseiter zurück. Die Aktionen, die diese Auseinandersetzung tragen sollen, bleiben klein, dem Wissensniveau und dem Alter der dargestellten Kinder unangemessen. Trotz einer der Zeit vorauseilenden technischen Erfindung halten die dargestellten Beziehungen der Kinder mit der Zeit nicht Schritt. 133

Kahlau lenkt die Phantasie nicht nur auf technisch-wissenschaftliche Fragen, sondern auf Verhaltensweisen unter Menschen, die diese Fragen bewältigen müssen. Er zeigt eine Arbeitsgemeinschaft, die sich vor die Situation gestellt sieht, ohne die Leiterin eine Zeitlang auskommen zu müssen. Eine Geschichtslehrerin erklärt sich bereit, in der Zwischenzeit mit Vorträgen über die Geschichte technischer Erfindungen den Zirkel weiterzuführen. Aber die jungen Erfinder fühlen sich dadurch in ihrem schöpferischen Drang eingeengt, sie empfinden diese Maßnahme als Unterbrechung ihrer Arbeit, zumal sie knapp vor der Vollendung einer wichtigen Neuentwicklung stehen. Es geht um ein Musikolorium, ein Gerät, das Töne in Farben umsetzen kann. Aus dieser Grundsituation entspringt der Konflikt des Stückes. Auf der einen Seite die Anweisung, mit der Fertigstellung zu warten, bis die Leiterin der Arbeitsgemeinschaft zurückkommt, da schon bei geringen Fehlkonstruktionen wertvol les Material zerstört, die Arbeit vieler Wochen gefährdet werden könnte - auf der anderen Seite das verständliche Drängen der Schüler nach Vollendung des Unternehmens mit allen Mitteln. Bald wird klar, daß nur David das gegebene Versprechen halten will, während die anderen ausschließlich das Projekt im Auge haben. Das führt zu Auseinandersetzungen, die fast den Zusammenbruch des anfangs so festgefügten Kollektivs bedeuten. Die Erfindung gelingt, das Gerät funktioniert, aber die Gruppe und besonders David geben sich mit der technischen Leistung nicht zufrieden. Sie haben gelernt, daß es nicht genügt, die Technik zu meistern, sondern vor allem das Zusammenleben im Sinne eines sozialistischen Kollektivs zu gestalten (leider gehören auch zu diesem Kollektiv die Erwachsenen nur am Rande.) Die Inszenierung von Horst Hawemann ermöglichte dem jungen Zuschauer, für die Haltung Davids und für die anderen Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Verständnis aufzubringen und zugleich Kritik zu üben. Der Regisseur betonte die Berechtigung beider Verhaltensweisen, forderte die Mitarbeit des Zuschauers, sein selbständiges Urteil, seine eigene Beobachtung. Dabei wandte er Mittel an, die für das Kindertheater bislang ungebräuchlich waren. Die Schauspieler „verwandelten" sich nicht in Kinder, sondern sie trafen zu Beginn der Aufführung 134

mit dem Zuschauer eine Vereinbarung: es ist ihr Beruf, unterschiedliche Figuren darzustellen, heute spielen sie Kinder, das heißt, sie verhandeln über eine Sache, die Kinder angeht. Dadurch wurde eine Partnerschaft zwischen Schauspieler und Zuschauer erreicht, die das Problem in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Folgerichtig verzichtete der Regisseur auf ein Bühnenbild, das die Illusion von Räumen schafft. Otto Kähler hatte eine Simultanbühne aufgebaut; alle Handlungsorte, in Eisenrahmen eingehängt, wurden ständig benutzt. Wenn die Situation es verlangte, durchbrach Hawemann unbedenklich die angedeuteten Örtlichkeiten und ließ die Auseinandersetzung in den Vordergrund treten. An bestimmten Punkten der Handlung wandten sich die Schauspieler direkt an den Zuschauer, um sich mit ihm über ein Problem zu beraten; so wurde auch der Zuschauer ständig mit den Fragen der jeweiligen Figur konfrontiert. Die Inszenierung glich einen Mangel des Stückes aus, indem betont wurde: Die dargestellten Probleme sind für Erwachsene genauso interessant und wichtig wie für Kinder. Die Schauspieler stiegen nicht auf ein kindliches Niveau herab, sie bemühten sich auch nicht, Kinder nachzuahmen oder deren Verhalten psychologisch zu deuten, sondern versuchten in gleichberechtigter Partnerschaft gemeinsam ein Problem zu lösen. Nicht nur auf der Bühne wurde schöpferische Arbeit dargestellt, sie wurde auch dem Zuschauer abverlangt. Horst Hawemann, Absolvent der Moskauer Theaterhochschule, seit 1965 Regisseur am Theater der Freunidschaft, an dem er eine Reihe profilbestimmender Inszenierungen für die gesamte Theaterarbeit für Kinder und Jugendliche in der DDR herausbrachte, strebt eine engere Beteiligung der Kinder am Spiel der Schauspieler an. Er fördert die schöpferische Mitarbeit des Zuschauers während der Vorstellung. Je nach; dem Alter der Kinder und je nach der Besonderheit des Stückes verwendet er dabei unterschiedliche Methoden, immer die Spezifik des Theaters betonend. Der Zuschauer wird veranlaßt, nicht nur einer spannenden Bühnenhandlung zu folgen, sondern er wird direkt (wie in der Märcheninszenierung Das Rübchen) oder indirekt aufgefordert, Entwicklungsprozesse der Figuren zu verfolgen und Entscheidungen mitzuvollziehen. Es kommt Hawemann besonders auf das „Mitspielen" des Zuschauers an; 135

nicht schulmäßige Mitarbeit oder die allgemeine Massenreaktion des Kasperle-Theaters wird verlangt, im Gegenteil: Der Schauspieler spricht den einzelnen Zuschauer an, er nimmt folglich auch einzelne Reaktionen auf, natürlich die klügsten und interessantesten Varianten für das gemeinsame Spiel. Diese Methode hat sich für den jugendlichen Zuschauer als fruchtbar erwiesen, er erkennt an den Verhaltensweisen der Bühnengestalten leichter die Züge, die für ihn unter den heutigen Verhältnissen produktiv sind, und er wird stärker in seiner Subjektivität gefordert. Bereits seiner ersten Inszenierung am Theater der Freundschaft, Spiel vor dem Feind von Michael Swetlow (vom Regisseur in Zusammenarbeit mit der Dramaturgie übersetzt und bearbeitet), lagen diese Überlegungen zugrunde. Die deutschsprachige Erstaufführung von Zwanzig ]ahre später (der Originaltitel wurde auf Wunsch der Kinder geändert), zu der I. G. Sumbataschwili vom Armeetheater Moskau die Ausstattung übernommen hatte, fand aus Anlaß des fünfzigsten Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution im Rahmen des nationalen Kinder- und Jugendtheater-Festivals Auf den Spuren des Roten Oktober statt. Diese Inszenierung leitete eine neue Etappe in der Interpretation von Geschichtsdramen auf der Bühne des Kinder- und Jugendtheaters in der DDR ein. Ausgehend von der Tatsache, daß auchi die Moral „ihre Geschichte hat", also auch die revolutionäre, wurden jene Züge der historischen Figuren herausgearbeitet, die für heutiges revolutionäres Verhalten Gültigkeit haben. In einer ehemals herrschaftlichen Villa hat eine Gruppe von Komsomolzen den Jugendklub „Dritte Internationale" eingerichtet. Trotz der ernsten Lage es ist Bürgerkrieg - sind es junge Menschen, die manchmal undiszipliniert, ausgelassen, manchmal sogar ängstlich und traurig und vor allem voller Pläne für die Zukunft sind. Diese Gruppe, die viel lieber mit dem Gewehr in der Hand kämpfen würde, als die Weißen die Stadt bedrohen und besetzen, geht in die Illegalität, um getarnt als Theaterverein den Aufstand vorbereiten zu helfen. Der Regisseur schreibt über seine Inszenierungsabsichten: „Stücke, die das große Ereignis .Oktoberrevolution' als eine spannende Abenteuergeschichte vorführen und deren Helden genauso in der Prärie oder in Scotland Yard zu Hause sein 136

könnten, interessieren uns heute weniger, weil uns diese zwar attraktive, aber schon oft gezeigte Seite der Revolution nur noch Bewunderung für die Helden übrigläßt. Wir wollen bei unserem Zuschauer Bewunderung und Verwunderung zugleich erreichen, wir wollen unsere Bühnenfiguren für den Zuschauer unseres Theaters begreifbar und vergleichbar zugleich machen. Er soll die Möglichkeit sehen, in ähnlichen Situationen ähnlich zu handeln und nicht erdrückt werden von den Leistungen seiner Bühnenkameraden. Der Zuschauer soll seinem Vorbild angeglichen werden und das ,Genausosein' in erreichbare Nähe gerückt werden." 1 7 8 Die Inszenierung gab einen Bericht von Leuten, die im Jahre 1919 in einem kleinen Ort an der Revolution teilnehmen und sich dieses großen historischen Augenblicks bewußt werden. Ihr Leben nimmt von diesem Moment an einen anderen Verlauf, ihre Kindheit wird schön, so wie sie für die Kinder im Zuschauerraum „Alltag" ist. Für diese Kinder der Revolution hingegen ist d i e R e v o l u t i o n Alltag, noch kein historisches Ereignis. Sie machen Fehler und Witze, haben Ärger und Spaß miteinander, sie sind keine perfekten Revolutionäre, aber eine große Hilfe für die Revolution. Es sind junge Menschen, die nicht als Helden geboren wurden, ja sie wissen nicht einmal, daß das, was sie tun, heldenhaft ist. Sie tun es, weil es getan werden muß für den Sieg der Sowjets. Nicht ein einzelner Held stand im Mittelpunkt der Inszenierung, sondern die Gruppe, in der jeder die Möglichkeit hat, ein Held zu werden. Jeder von ihnen mußte aber eine Reihe persönlicher Schwierigkeiten überwinden, um diesen Weg zu gehen, und die Schwäche des einen war die Stärke des anderen. So stand auf der Bühne eine sehr differenzierte Gruppe von Einzelpersönlichkeiten, die einer Gruppe von jungen Leuten unserer Zeit sehr ähnlich war. Zu sehen war eine Jugend, die die neue Zeit nicht nur vorbereitet, sondern bereits in sich trägt. „Man mußte den optimistischen Ausgang dieses historischen Ereignisses zeigen. Wir suchten also nach Verhaltensweisen unserer Figuren, nach Temperament und Humor, die auch heute noch zünden und begeistern. Die tragischen Momente stellten wir nicht in den Mittelpunkt, sondern zeigten sie als historische Tatsache. Unsere Zuschauer sollten wissen, daß man auch sterben mußte für die Sache der Arbeiter und Bauern, und das Andenken der 137

Toten ehren wir in der heutigen Revolutionsfeier. Wir forderten zum Vergleich heraus, erinnerten an die Anfänge, und machten sie produktiv für das Heute." 179 In Fortsetzung dieser Repertoirelinie hat es sich als wichtig erwiesen, den Akzent von der Beschreibung überwundener Verhältnisse auf die Beschreibung auch künftig produktiven Verhaltens zu verlagern. Das trifft ebenso auf Stücke mit Sujets aus der jüngsten Vergangenheit zu. Die Dramatisierung von Erwin Strittmatters Tinko von Hans-Dieter Schmidt (Uraufführung am 10. Oktober 1969 im Theater der Jungen Welt, Regie: Günther Schwarzlose, Bühnenbild: Boris Kubik) war für die Kinder- und Jugendtheater in vielfacher Hinsicht bedeutsam. Zum ersten Mal wurde für Kinder ein Ausschnitt aus der Geschichte der DDR auf der Bühne lebendig. Die Repertoirelinie, die sich aus historischen Stücken aufbaut, erhielt ihre Weiterführung. Für den jugendlichen Zuschauer ist der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus in der DDR genauso Lehrstoff des Unterrichtsfaches Geschichte wie die Kämpfe der Arbeiterklasse im den Jahren 1918/19. Beides ist für ihn Historie und tangiert nicht mehr seinen Lebensbereich. Zum anderen sind die gesellschaftlichen und technischen Errungenschaften unserer Zeit in den Vorstellungen der Kinder so selbstverständlich, daß sie ihr Entstehen oft weit zurückdatieren. Zwanzig Jahre sind für Kinder eine sehr lange Zeit. Die Beschreibung der Geschichte der DDR für junge Menschen wird in zunehmendem Maße notwendig zur Ausbildung von historischem Bewußtsein und zur Erklärung gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen. Indem das Theater diese Thematik behandelt, bietet es dem Kind einen neuen Blick auf das Gewohnte und längst Alltägliche seiner Gegenwart. Diese Bewußtheit vermittelte die Aufführung von Tinko. In einer Rahmenhandlung, die die Figuren des Stückes erwachsen und in den Berufen, die sie 1969 ausüben, vorstellte, sahen die Zuschauer ihre Eltern; so begriffen sie die Geschichte von Tinko auch als die Geschichte ihrer Eltern, die zu erfahren sie sehr begierig sind. All diese Aspekte spielten bis zu diesem Stück auf der Bühne des Kindertheaters keine Rolle. Jeder junge Pionier, der bisher die Bühne im blauen Halstuch betrat, verkörperte die Gegenwart. Die konkrete zeitliche Situation wurde 138

kaum berücksichtigt. So hat Tinko auch Bedeutung für die Interpretation von Stücken, die in der Geschichte der DDR als Dramatik für Kinder entstanden sind, und es ist zugleich Modell für die Entstehung neuer Werke. Der dramatische Konflikt des Stückes spiegelt die Umwälzung auf dem Lande Ende der vierziger Jahre vielschichtig wider. Jede Figur, ob sie zehn oder sechzig Jahre alt ist, muß in diesen Auseinandersetzungen Stellung nehmen und sich entscheiden. Das Verhalten der Kinder in den Klassenkämpfen hat das gleiche Gewicht wie das der Erwachsenen. Es werden nicht große Vorgänge auf eine kindliche Ebene projiziert oder die Konflikte der Kinder zum Diskussionsgegenstand der Erwachsenen gemacht, sondern von jeder Figur, gleich welchen Alters, wird eine Entscheidung verlangt, die zum Sieg des Neuen beiträgt. Von dieser Voraussetzung muß auch eine Gegenwartsdramatik für Kinder ausgehen, wenn sie revolutionäres Verhalten von Kindern und Erwachsenen zeigen will. Mit der Dramatisierung von Den Wolken ein Stück näher nach Günter Görlichs gleichnamiger Erzählung wurde versucht, dieses Partnerschaftsverhältnis in einem Gegenwartsstofi auf die Bühne zu bringen. „Die Lebenssphäre der Kinder und der Erwachsenen," schreibt Manfred Altner, „Schule und Betrieb, werden in ihren lebendigen Wechselbeziehungen erfaßt. Das Moment gemeinsamen Handelns, in dem das wachsende Verständnis füreinander neue Wirkungspotenzen freisetzt, kommt im Ringen der Kinder um die effektivere Gestaltung des Unterrichtstages in der Produktion genauso zum Ausdruck wie in den aktivierenden Verständigungen zwischen dem Parteisekretär Herper und dem Brigadier Schmidt, die über die Freundschaft ihrer Kinder, Klaus und Karin, einander näherkommen."180 In der Enwicklung der Kinderliteratur setzt dieses Buch einen wichtigen Akzent. Seine Bedeutung ist vor allem im Range der Behandlung des Partnerschaftsverhältnisses von Heranwachsenden und Erwachsenen zu sehen, wobei es gleichzeitig, wie auch bei Tinko, die Teilung der Adressaten in junge und erwachsene Leser aufhebt und damit den Begriff „Kinderliteratur" produktiv in Frage stellt. Die Probleme dieser Schüler folgen nicht aus „Schulkonflikten", aus dem pädagogischen Verhältnis von Lernenden und Lehrenden, sondern sie widerspiegeln soziale und 139

gesellschaftliche Beziehungen in der jetzigen Phase der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Darüber hinaus werden auch die Probleme und Schwierigkeiten der Erwachseneni dargestellt und der kritischen Beurteilung des Lesers ausgesetzt. Hans Koch schreibt: „[. . .] wohl noch in keiner der Lehrergestalten unserer Literatur ist die Zweiseitigkeit eines sozialistischen Lehrer-Schüler-Verhältnisses, das wechselseitige Aufeinanderangewiesensein, die gemeinsame Verantwortlichkeit für ein gemeinsames Interesse so prägnant dargestellt wie hier." 181 Es ist das Verdienst des Theaters der Jungen Welt, diesen Stoff dem Theater erschlossen zu haben. Hans-Dieter Schmidt knüpfte dabei an seine Bearbeitung von Tinko an, ohne allerdings eine für das Theater tragfähige Fabel zu finden. In dem Bemühen, die epische Totale der Erzählung zu erhalten, entstand eher ein „dramatisiertes Exzerpt" des Buches als ein selbständiges dramatisches Werk. Korrekturen nach der Aufführung (sie erfolgte im Dezember 1971 anläßlich des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums des Theaters der Jungen Welt) erbrachten durch Verknappungen größere Dichte im Handlungsverlauf. Diese Fassung wurde in der zweiten Inszenierung des Stückes am Theater der Jungen Generation in Dresden (Premiere am 7. April 1972) weiter verbessert. Zwar konnte auch diese Aufführung den epischen Charakter der Vorlage nicht leugnen, aber sie löste sichi stärker von der Erzählung, indem sie die Konfliktsituation, das differenzierte Verhältnis der Figuren, den Prozeß der Veränderungen in den Beziehungen bewußter herausarbeitet. Dennoch erhebt sich die Frage, ob die Kinder- und Jugendtheater berechtigt sind, Werke der epischen Literatur für Kinder in dem bisher praktizierten Ausmaß zu Spielvorlagen zu machen. Annähernd die Hälfte der in diesem Abschnitt behandelten Stücke sind Dramatisierungen, und nur in den seltensten Fällen erreichte die Bearbeitung die Qualität der Vorlage. Diese Praxis ergab sich aus dem Mangel an Stücken für das Kinder- und Jugendtheater, aber inzwischen ist es für das Kindertheater wie für kein anderes Theater zur Gewohnheit geworden, so zu verfahren. Sicherlich ist die Repertoiregestaltung für die mittlere Altersstufe kompliziert und schwierig, der Mangel an guten Stücken für dieses Alter 140

längst noch nicht ausgeglichen, und bewährte Kinderbücher bieten dem Theater die Gewähr, daß es mit diesen Stoffen den Zuschauer erreicht, weil erfahrene Autoren dieser Bücher über mehr Kenntnis der Psychologie der Kinder verfügen als ein Dramatiker, dem dieses Publikum wenig bekannt ist. Aber das Theater sollte eher versuchen, dramatische Literatur, die zwar nicht für Kinder geschrieben, wohl aber geeignet ist, seinem Publikum zu erschließen, als den Kindern bereits bekannte Kinderbücher zu variieren. 182 * Wenn sich die Dramatik für Kinder und Jugendliche weiterentwickeln soll, kann sie sich nicht nur im Schatten der Epik bewegen, sondern muß verstärkt nach eigenen Stoffen suchen und auf die eigene literarische Gestaltung zurückgreifen, auch wenn diese Stücke nicht vornehmlich an ein junges Publikum adressiert sind. Die Dramatisierung von epischen Werken ist nur dann gerechtfertigt, wenn ein neues selbständiges Werk geschaffen wird, das nicht zum Vergleich mit dem Original herausfordert, sondern danebengesetzt werden kann. In dieser Beziehung ist die Dramatisierung der Erzählung von Jorge Amado Die Herren des Strandes von Friedrich Gerlach (Musik: Georg Katzer) ein diskutabler Versuch (Uraufführung am 11. Mai 1971 am Theater der Freundschaft, Regie: Mirjana Erceg/Horst Hawemann, Ausstattung: Otto Kähler). Jugendliche im heutigen Brasilien, elternlos, von der Gesellschaft ausgestoßen, die ihnen sowohl das Recht auf Bildung (es sind Analphabeten) als auch das Recht auf Wohnung und Arbeit verwehrt, haben sich zu einer Bande zusammengeschlossen, um zu überleben. Sie geben sich den Namen „Herren des Strandes" und bringen damit unbewußt ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben zum Ausdruck. Drei Erwachsene nehmen sich ihrer an: Der Hehler Gonzales, der an ihren Diebstählen verdienen will, der Pater José, der mit menschlicher Güte und aufopferungsvollem Einsatz ihre Lage zu erleichtern versucht; der Arbeiter Alberto, der ihrem Leben Richtung und Sinn zu geben hpfft. Fast thesenhaft zeichnet die Dramaturgie des Stückes den Weg der Bande, der eine Suche nach dem Ausweg ist, um an jeder Figur den Prozeß der Entscheidungsfindung zu verdeutlichen. Es war vor allem das Verdienst der Inszenierung, daß der 141

junge Zuschauer diese Entscheidung mitvollziehen konnte, daß gerade darin die Spannung bestand und nicht aus dem Reiz des exotischen Milieus und den „Aktionen" der „Herren" bezogen wurde. D i e Songs hatten sehr unterschiedliche Funktionen: sie dienten der Verfremdung an Punkten spannender Aktionen; sie erweiterten die Fabel und Figurengeschichten und gaben zusätzliche Informationen über die gesellschaftlichen Verhältnisse; sie ironisierten falsche Romantik, aber sie waren auch Ausdruck der Sehnsucht nach Glück und Liebe; und sie schufen Assoziationen, die den Protest dieser Jugendlichen in den Kampf der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter rücken. Ebenso hoch wurde der Erzählwert des Bühnenbildes angesetzt: „Kähler zeigt keinen milieuechten Speicher, sondern baut eine unromantische Elendswelt aus Beton und Holz. Wie K a ninchenställe sind die Schlafkojen der Jungen im Bühnenhintergrund übereinandergetürmt. Doch zwischen den Kisten leuchten während der Songs Porträt-Gemälde auf. Das Bild des geschundenen, entwürdigten Menschen, wie es die großen lateinamerikanischen Maler entwarfen, steht hier kontrapunktisch für die revolutionäre Kraft des Volkes. Auch bei den Szenen am Strand gibt es keine Idyllik. Auf einem Stück blauen Himmels zwischen Wellblech und anderem Gerümpel erscheint eine Leuchtschrift: ,Das ist der wunderschöne Strand von Bahia'. Analyse statt Illustration, ironische Verfremdung von Klischeebildern, und trotzdem eine präzise Beschreibung der Handlungsorte - das leistet diese Ausstattung auf hervorragende Weise. Und sie hilft den jungen Zuschauern, die vielleicht zum ersten Male mit solchen Theatermitteln konfrontiert werden, zur Orientierung, indem sie das Unterbrechen der realen Handlung durch die bunte Illumination des Bühnenrahmens anzeigt." 1 8 3 In einem Brief an die Schauspieler schrieben die Regisseure: „Wir möchten, daß in dieser Produktion ein konkret bestimmbarer Persönlichkeitsanteil des Schauspielers an die Rolle abgegeben wird, d. h. der Schauspieler engagiert sich nicht nur für die Figur, sondern auch gegen bestimmte Zuschauergewohnheiten, gängige Klischees, schabionisiertes Denken, Gefühlsarmut usw. E r sucht sich eine Wirkung seiner Rolle 142

heraus und belegt sie mit einer persönlichen Leidenschaft."187» Diese Leidenschaft teilte sich dem Zuschauer mit, und sie führte nicht zuletzt die Schauspieler zu dieser überzeugenden Ensembleleistung. Das letzte im Zusammenhang dieser Arbeit zu behandelnde Stück wurde wie Den Wolken ein Stück näher nach dem VIII. Parteitag der SED aufgeführt. Die Bernsteinbrigade, Volksstück von Erich Blach, hatte im Wettbewerb für Kinderund Jugenddramatik im Frühjahr 1971 den ersten Preis erhalten und erlebte zu den Berliner Festtagen 1972 am Theater der Freundschaft in der Inszenierung von Horst Hawemann seine Uraufführung. Mit dem VIII. Parteitag stand Die Bernsteinbrigade nicht ursächlich, aber inhaltlich in enger Beziehung. Sie brachte zum Ausdruck, was der VIII. Parteitag über die wachsende Rolle der Arbeiterklasse in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft formulierte. Das Stück zeigt auf heitere Weise den politisch ernsten Widerspruch zwischen der Leitung eines Baubetriebs, die Initiative mit Elitebrigaden manipuliert, und den schöpferischen Bedürfnissen und Möglichkeiten der Arbeiter. Zu solchen Verhaltensweisen stellte der VIII. Parteitag fest: „Zur überragenden Verantwortung der Arbeiterklasse in unserer Gesellschaft gehört auch die hohe Wertschätzung für die Arbeiter in unserer Gemeinschaft, die überall gebotene Aufmerksamkeit für ihre Gedanken und Vorschläge, ihre Bedürfnisse und Interessen. Wenn es bei uns noch Leute gibt, die von der Rolle der Arbeiter zwar in höchsten Tönen reden, ihnen persönlich aber wenig Achtung entgegenbringen, dann sagen wir ihnen, daß sie vom Sozialismus noch wenig verstanden haben." 185 Für das Kinder- und Jugendtheater hatte das Stück noch einen weiteren Vorzug: Es zeigte Konflikte, Charaktere und Vorgänge aus Bereichen unserer Gesellschaft, in die die Jugendlichen hineinwachsen werden, stofflich konkret, nicht mittels eines Analogieverfahrens, das von Kollektiven wie von einer Schulklasse ausgeht. Es gelingt dem Autor, aus dem Verändern der Wirklichkeit selbst die Heiterkeit zu beziehen, die sich nicht in einer Komödienschablone entlädt, sondern im genau beobachteten realistischen Detail lebt. Die „Unaufhaltsamkeit" der Arbeiter dieser Brigade ist gleichsam Ausdruck 143

der Unaufhaltsamkeit des Sozialismus, und das Stück läßt erkennen, daß die Arbeiterklasse seine wesentliche Triebkraft ist. Es zeigt die führende Rolle der Arbeiterklasse als eine schöpferische und beschreibt die Klasse als Subjekt der Geschjichte, der alltäglichsten sogar. Die Regie folgte dieser Qualität des Stückes, inidem sie ein rasantes Spiel auf der Drehscheibe der Bühne abrollen ließ, das Theatermaschinerie, Theatertechnik und die Arbeiter, die sie in Gang halten, in das Spiel der Schauspieler mit einbezog. Auf diese Weise wurde das Leben auf einer Baustelle nicht einfach „abgebildet", sondern die Dynamik und der Arbeitsrhythmus eingefangen. Die Bernsteinbrigade gehört zu jener Kategorie von Stücken, die dem Theater neue Stoffe, Figuren, Geschichten und Beobachtungen zuführen und dadurch für das Theater so sehr vonnöten sind, weil sie ihm helfen, lebendig zu bleiben. Das Material dieser Stücke muß, wie Brechit sagte, auf das Theater gebracht werden, damit es „alt" werde und erst so von der großen Dramatik übernommen werden kann. Dieser Satz gilt heute nicht nur für das Kinder- und Jugendtheater, das durch seinen Zuschauer gezwungen ist, jung zu bleiben, sondern für das sozialistische Theater in jeder Phase seiner Entwicklung.

Phantasie und Wirklichkeit in den Stücken für Kinder Neues Weltbild und alter

Märchenstoff

Maxim Gorki nannte das Märchen die Urform der Hypothese. Sein Satz korrespondiert mit dem, was Karl Marx an der griechischen Mythologie entdeckte: Die Menschheit nahm auf jener frühen Entwicklungsstufe die Beherrschung der realen Kräfte in Natur und Gesellschaft mittels der Volksphantasie vorweg, bevor sie diese wirklich zu beherrschen lernte. Solcher „kollektiven Phantasie" verdanken wir ein reiches Erbe an Volksmärchen, die große poetische Bilder von der Unbegrenztheit menschlicher Möglichkeiten entwerfen. Während das Märchen, verursacht durch die Entwicklung des Kapitalismus, aus der literarischen Bildungssphäre der Er144

wachsenen weitgehend verschwand, behauptete es seinen Platz in der Bewußtseinsbildung des Kindes, nämlich als Form naiver Wirklichkeitsaneignung auf dem Weg über das Phantastische. Im Märchen lernt das Kind erste soziale und damit moralische Abstraktionen kennen, also zwischen dem Guten und dem Bösen zu unterscheiden. Ungewöhnliche Menschen und Geschöpfe merkwürdigster Art werden ihm hier vorgestellt, denen es in Mut und Klugheit, Güte und Ausdauer nacheiferni möchte. Und es begegnen ihm Monstren an Bösartigkeit, an denen es lauernde Gefahren für seinen Helden gewahren kann. Der Sieg des Guten über das Böse fließt dem Kind als Zuversicht in die Dauerhaftigkeit der gerechten Sache zu, die seine Märchengestalten verfechten. Dabei erfaßt es soziale Probleme noch als moralische, doch sind die von Erfahrung kaum gesättigteni Reaktionen zugleich, der Beginn, über das Zusammenleben der Menschen nachzudenken. Im Märchen dringt das Kind in sein noch nicht gelebtes Leben vor: erste Hypothesen von dem, was es erwartet. Dramatisierungen von Volksmärchen gehören deshalb zu den beliebtesten Stücken des Theaters für Kinder, zumindest in der ersten Altersstufe zwischen sieben und neun Jahren. Allerdings darf man Stück und Vorlage nicht gleichsetzen; das Stück beherbergt immer, und sei es unbewußt, eine Lesart der alten Geschichte. Kleinbürgerliche Moral kann sich im selben Märchen einnisten, das auch weite Einblicke in die Wirklichkeit freigibt. Der Horizont des Märchenstückes wird vom Stückschreiber, nicht vom Märchen begrenzt. Die Geschichte dieser Art von Stücken im Repertoire des Kinder- und Jugendtheaters unserer Republik weist mehrere Entwicklungsphasen auf, die sich freilich (wie künstlerischen Prozessen eigen) nicht scharf datieren lassen. Die erste Phase umfaßt im wesentlichen die Jahre 1945 bis 1950; sie brachte wenig Neues gegenüber einer Praxis des bürgerlichen Theaters, Märchen als Abfallprodukte des „seriösen" Spielplans für „Kindervorstellungen" zuzubereiten. Die mit Recht vergessene, aber umfängliche Stückproduktion wurde vom herkömmlichen Modell des Weihnachtsmärchens regiert: dramaturgischer Aufputz einfacher Geschichten, Kinderballett, Dekors ohne Bezug zur Fabel, Süßlichkeit und Idyllisierung 10

Hoffmann

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einst kräftiger Stoffe, und über allem eine Moral, die das Kind wünscht, wie der gute Bürger zu werden habe. Keine Autoren von Rang hiaben sich damit befaßt; die Produktion blieb unterhalb literarischer Maßstäbe. Diese Phase brach nicht ab, sie hielt sich besonders an mittleren und kleinen Theatern, aber sie versickerte in dem Maße, wie die Kinderund Jugendtheater eine sozialistische Spielplangestaltung entwickelten. Die ersten Autoren des Theaters der Jugen Welt in Leipzig wählten vor allem Märchen, die schon in der Vorlage deutlich soziale Momente aufweisen: Der große und der kleine Klaus von Hans Ulrich Wendler und Der Schweinehirt von Werner Bernhardy. Das erste sowjetische Märchenstück, Die Schneekönigin nach Hans Christian Andersen von Jewgeni Schwarz, wurde bereits am 30. November 1946 in Potsdam als deutsche Erstaufführung herausgebracht und in der darauffolgenden Spielzeit von zahlreichen anderen Bühnen, darunter auch dem Theater der Jungen Welt, nachgespielt. Aber dieses hervorragende Beispiel für Märchenadaptionen hatte keinen Einfluß auf die nationale Aneignung der Märchen, ebensowenig auch das zweite sowjetische Märchen Die zwölf Monate von Samuil Marschak, am 1. September 1949 als deutsche Erstaufführung vom Theater am Schiffbauerdamm, Berlin, inszeniert und in der Spielzeit 1950/51 von den Kinder- und Jugendtheatern in Dresden und Erfurt in den Spielplan aufgenommen. Erst die dritte Inszenierung eines sowjetischen Märchens, Rotkäppchen von Jewgeni Schwarz, am Theater der Freundschaft (deutsche Erstaufführung am 22. Dezember 1951) erlangte programmatische Bedeutung. Mit ihr beginnt die zweite Phase in der Sichtung der Volksmärchen. Die Konzeption der Regisseure dieser Aufführung, Margot Gutschwager und Hans Rodenberg, brach radikal mit der bürgerlichen Sicht auf die Märchen. Hans Rodenberg hatte in der ersten Spielzeit des Theaters der Freundschaft noch gezögert, ein Märchen zu inszenieren - weitverbreitet war die Auffassung, daß eine geistige Quelle für faschistischen Ungeist im deutschen Märchen zu suchen ist. Angegriffen wurde die Grausamkeit der Märchen, die Märchenwunder, die als Mystik verstanden wurden, und der Umgang des bürgerlichen Theaters 146

mit den Märchen, der den erzieherischen Wert zugunsten flacher Unterhaltung vernachlässigte. Mit der RotkäppchenInszenierung legte Hans Rodenberg den Grundstein für eine marxistische Lesart der Märchen auf dem Kinder- und Jugendtheater der D D R . In der Konzeption heißt es: „Das Kind wird sich seines Wertes bewußt und sieht, daß es schon mit seinen Mitteln zum Frieden und zu einem glücklichen Leben beitragen kann. Nämlich durch wahre Freundschaft zu den Wesen um sich, denn nur in der Gemeinschaft kann der Kampf für eine gute Sache erfolgreich sein. Das Kind erkennt, warum das Böse bekämpft werden muß, um den Frieden und ein schönes, glückliches Leben zu sichern. Erkenntnisse, die sich im Kind festsetzen werden und die es später, mit wachsendem Bewußtsein, immer wieder anwenden wird." 1 8 6 Es war die erklärte Absicht der Inszenierung, das Kind zu aktivieren, „auch etwas für den Frieden zu tun". Das Stück ließ einen solchen aktuellen Bezug zu. Schwarz hatte es während des Großen Vaterländischen Krieges geschrieben und die ursprüngliche Fabel erweitert. Der Wolf sieht durch die Freundschaft Rotkäppchens mit den Tieren des Waldes - es unterrichtet die Hasen in Tapferkeit - seine Macht und seine Stellung als Herr des Waldes gefährdet. Er will Rotkäppchen vernichten. Die Tiere versuchen, Rotkäppchen zu schützen, aber es ist schwer, den Kampf mit dem stärksten und bisher mächtigsten Tier des Waldes aufzunehmen. Die Freundschaft, die Solidarität und gemeinsames Handeln ermöglichen schließlich den Sieg. Der Inszenierung gelang es, diese Fabel eindrucksvoll zu erzählen. Das Bühnenbild (Reinhpld Winkle) sparte nicht an Baumriesen, Schilf, Moos, Blumen im Gärtchen und Weinlaub auf dem Dach des Märchenhauses. In der Tierdarstellung verzichtete man auf Naturalismus und arbeitete vor allem konzeptionell, so daß diese Darstellungsweise für die Auffassung von Tierrollen am Kindertheater Bedeutung gewann. Der Wolf als der bösartigste und unmenschlichste Charakter im Stück trug Vollmaske und war im Kostüm dem Tier am nächsten, der Fuchs hatte nur die charakteristische Kopfform als Halbmaske, Latz, Schuhe und Handschuhe aus Fell, sonst trug er einen normalen Anzug. Der Hase Weißohr hin10*

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gegen, Rotkäppchens treuester Freund und in seiner Charakterisierung dem Menschen am nächsten, hatte überhaupt keine Tiermaske, nur eine den Hasen andeutende Fellkappe, sein Kostüm bestand aus der Kleidung eines Jungen - Hemd, kurze Hose und Kniestrümpfe. Für die kleinen Tiere des Waldes die Vögel, das Eichhörnchen und die Ringelnatter - setzte man Puppen ein, die unter der Leitung von Inge Borde von Schauspielern geführt und gesprochen wurden. Das unterschiedliche Äußere der Tiere ermöglichte es dem Kind zu differenzieren und zu bewerten. Neben der Puppe wurde auch das Schattenspiel verwandt. Um den Szenen, in denen der Wolf die Großmutter und das Rotkäppchen überwältigt, die Grausamkeit zu nehmen, läßt Schwarz den Wolf verlangen, daß die Gardinen am Fenster des Häuschens zugezogen werden. So verfolgen die Kinder ohne Angst und Schrecken, und dennoch mit Rotkäppchen bangend, die Situation als Schattenspiel, nie vergessend, daß es ein Spiel ist. So war eine Märchenaufführung entstanden, die eine pädagogisch durchdachte Konzeption groß, das heißt märchenhaft, erzählte, die belehren wollte aber dabei die Märchenwelt nicht versachlichte, die eine nachhaltige Wirkung auf das junge Publikum hatte und in der Presse hoch gelobt wurde. Durch sie erhielten die Verfasser von Märchenstücken wesentliche Anregungen. Die in der Folgezeit entstandenen Stücke zeigen das Bemühen der Autoren, die Märchenstrukturen (z. B. ihr GutBöse-Schema) auf ihre gesellschaftliche Deutbarkeit hin zu untersuchen und soziale Aspekte in Fabel- und Figurenführung hervorzuheben. Das Kindertheater sollte helfen, seinem Zuschauer die großen gesellschaftlichen Umwälzungen bewußt zu machen, an denen in der jungen- Republik gearbeitet wurde. Das Märchen erschien jetzt als Möglichkeit, an einfachsten Geschichten Klassengegensätze zu demonstrieren. Eine Sicht des Volksmärchens setzte sich durch, die auf ein neues Weltbild und eine veränderte Wirklichkeit zielte. Ihre Kennzeichen waren die soziale Didaktik und die politische Aktualisierung. Sie war wesentlich, weil sie die alten Stoffe an das Heute heranrückte, wenngleich sich die Gesichtspunkte schließlich als zu eng erwiesen, weil sie zu einem soziologischen Schematismus tendierten. 1952 bearbeitete Günther Kaltofen, damals 148

Dramaturg an den Städtischen Theatern Leipzig, die Bremer Stadtmusikanten, ein prototypisches Stück, das hier eine Richtung vertreten soll. Kaltofen berief sich auf die RotkäppchenInszenierung des Theaters der Freundschaft und leitete seine Bearbeitungsabsicht davon ab. Aber im Unterschied zu Schwarz veränderte er das Märchen in seiner gesamten Fabelstruktur. Er zeigte Tiere als die Ausgebeuteten, die ihren Herrn, den Bauern, wegen ungerechter Behandlung verlassen. Sie fliehen die Fron und erhoffen sich als Stadtmusikanten in Bremen ein besseres Leben. Das Räuberhaus absolvieren sie zwar glanzvoll wie im Märchen, dann aber schickt sie der Autor nach Bremen, wo sie gänzlich versagen, weil sie natürlich keine Musikanten sind. Schließlich erkennen die Tiere, daß sie sich auf dem Hof ihres Bauern, des Ausbeuters, hätten durchsetzen sollen, statt nach jenem fremden Gewerbe Musik zu greifen, und auch der Bauer sieht ein, daß ein Kollaborieren mit den Räubern falsch und daß er auf die Tiere, seine Arbeiter, angewiesen ist. Die Lehre: vor dem Unrecht nicht davonzulaufen, sondern es am Ort zu bekämpfen. Solcherart Bearbeitungen sind in zweifacher Hinsicht problematisch. Sie entfernen sich vom Original, ohne aber die gegenwärtige Wirklichkeit tatsächlich aufzuhellen. Das Märchen (auch dieses) zeigt als Qualität, daß jemand nicht „bei seinem Leisten bleibt", sondern überraschend die erstaunlichsten Fähigkeiten beweist, was viel tiefer mit der Revolutionierung unserer Verhältnisse zu tun hat, als es die „Sozialpartnerschaft" der Bearbeitung ausweist. Kaltofen gibt den Figuren soziale Repräsentanz und versucht das gefundene Schema dem Märchen zu unterlegen. Er schreibt über sein Stück: „Es vermeidet jegliche Zauberei zugunsten einer dem Märchen eigenen Realität, der auch die einzelnen Tiere und Menschen als Charakterisierung bestimmter Typen der gesellschaftlichen Wirklichkeit unterworfen sind." 187 Aber die dem Märchen eigene Realität verletzt er durch die Festlegung der Figuren als Vertreter einer Klasse oder eines Standes. Sicher haben die Märchen soziale Bezüge, ihr Gehalt, der große humane Sinn, ist gesellschaftlich determiniert, und zwar parteilich für das Volk. Jede Vulgarisierung schränkt den Ideengehalt ein oder verkehrt ihn sogar in sein Gegenteil. 188 149

Andere Märchenbearbeitungen unterschieden sich von denen Kaltofens nur wenig. Es waren bemühte Versuche, oftmals von Theaterpraktikern selbst geschrieben. Erst allmählich verbesserte sich die Qualität. Aus der Vielzahl der Bühnenvarianten von Märchen sind erwähnenswert: Das tapfere Schneiderlein von Gisela Schwarz-Marell (Uraufführung am 30. Oktober 1960 am Theater der Freundschaft), Die Abenteuer des tapferen Schneiderleins, Singspiel von Egon Günther/Kurt Schwaen (Uraufführung am 20. Oktober 1963 am Theater der Jungen Garde), Die Prinzessin und der Schweinehirt von Peter Ensikat (Uraufführung am 19. November 1965 am Theater der Jungen Generation). Im Darstellungsstil dieser Märchenstücke versuchten die Kindertheater, das Märchenhafte zu erhalten. Aber die Art der Dramatisierung konnte nicht ohne Folgen für die Darstellungsweise bleiben. Die Typisierung der Märchenfiguren, ihre soziologische Fixierung auf Kosten der Poesie verführte zum Spielen von Zuständen anstatt von Prozessen. Zwar verzichtet auch das Volksmärchen auf die Beschreibung psychologischer Tatbestände, aber das tapfere Schneiderlein hat Angst vor den Riesen und muß sie überwinden, es muß immer wieder, wie jeder Märchenheld, mit schwierigen Situationen fertig werden, um die Meisterung der Widrigkeiten groß auszustellen. Aber meist erreichte der Held alles leicht und spielend. Das hatte eine unernste Spielweise zur Folge, die auch auf die Darstellung der Könige und ihrer Umgebung zutraf. Verzichtete die Dramatisierung schon bei der Anlage dieser Figuren auf menschliche Züge, so wurde der Schauspieler obendrein veranlaßt, die Figur bis zur Unkenntlichkeit zu übersteigern. Die Gefährlichkeit der Figuren wurde reduziert, der Held stand Trotteln und Dummköpfen gegenüber, seine Leistung wurde verkleinert. Die naturalistische Sprachgestaltung, die Verwendung heutiger Alltagssprache, der teilweise platte Wortwitz waren nicht geeignet zum großen Gestus, den das Märchen als Erzählung hat und den es auch auf der Bühne braucht. So wurde das Märchenhafte weniger im Darstellungsstil, als vielmehr durch Ausstattung und Musik angestrebt. Neue Maßstäbe in der Märcheninterpretation ließen sich von diesen Aufführungen nur schwer ableiten. Daß es den. Kin150

der- und Jugendtheatern dennoch gelang, sie zu setzen, verdanken sie den sowjetischen Märchenstücken. Durchi sie entstanden Märchenaufführungen von hoher künstlerischer Geschlossenheit; Dekorationen und Kostüme, der russischen Folklore entlehnt, erleichterten die stilistische Klarheit. Diese Aufführungen gehören zu den künstlerischen Höhepunkten in der Geschichte aller Kinder- und Jugendtheater der D D R . Besonders zu nennen sind: die deutsche Erstaufführung der Verzauberten Brüder von Jewgeni Schwarz am Theater der Freundschaft am 9. November 1955 in der Regie von Hans-Dieter Schmidt, Bühnenbild: Roman Weyl, mit Lissy Tempelhof als Mutter Wassilissa (der Regisseur inszenierte das Stück 1960 in Leipzig mit gleichem Erfolg) und die Inszenierung der Feuerroten Blume am Theater der Freundschaft 1961 von Kurt Rabe, Bühnenbild: Otto Kähler. Immer wieder griffen die Theater auf diese Märchenstücke zurück. So wurden bis zur Spielzeit 1967/68 Die feuerrote Blume dreizehnmal, Die verzauberten Brüder elfmal, Das Tierhäuschen zehnmal, Die Schneekönigin achtmal und Rotkäppchen achtmal inszeniert. Damit sind Jewgeni Schwarz mit vier Märchenstücken für Kinder in achtundzwanzig Inszenierungen und Samuil Marschak mit drei Märchenstücken in sechzehn Inszenierungen die erfolgreichsten! Autoren der Kinderund Jugendtheater der D D R , die große Anzahl von Aufführungen an den anderen Theatern nicht mitgezählt. Lange Zeit standen die beiden konzeptionellen Hauptlinien des Repertoires für die jüngsten Besucher - das nationale Märchendrama und die sowjetischen Märchenstücke - nebeneinander, ohne sich vergleichen zu können. Der Maßstab war durch die sowjetischen Stücke und ihre Umsetzung auf der Bühne gegeben, aber nur langsam gelang es, gleichwertige Stücke unserer Autoren danebenzustellen. Die „soziologische Phase" der Märchendramatisierung hat unbestritten Verdienste in der Radikalität, alten Stoffen zu begegnen; als Demonstrationsobjekte für sehr einschneidende gesellschaftliche Veränderungen in unserer Zeit haben sich die Märchen jedoch nicht bewährt, weil sie kaum Differenzierungen gestatten. Deshalb gingen Autoren von Märchenstücken in jüngster Zeit dazu über, schematische Analogien zu vermeiden und den Ge151

schichten Lesarten abzugewinnen, die einen indirekten, dafür aber dialektisch vermittelten Zugang zur Gegenwart erlauben, eine Methode, die Autoren wie Schwarz und Marschak mit künstlerischer Meisterschaft anwandten,. Dieser Prozeß, die dritte Phase in der Aneignung der Märchen, beginnt Mitte der sechziger Jahre, zu einer Zeit, als junge Regisseure unter dem Eindruck der Inszenierung des Drachen durch Benno Besson am Deutschen Theater das Märchen für sich entdeckten. In dieser Zeit schrieb Heinz Kahlau, also zum ersten Mal ein namhafter Lyriker der DDR, ein Märchenstück für Kinder. Der gestiefelte Kater, am Theater der Freundschaft am 17. November 1967 uraufgeführt, ist beispielhaft für die dritte Phase, in der sich die Kinder- und Jugendtheater der DDR bei der Dramatisierung von Volksmärchen befinden. Die Bearbeitung hält sich weitgehend an das Original. Sie setzt nur voraus, daß die Macht des Zauberers über seine Untergebenen auf Furcht beruht, eine Furcht, die gebrochen werden kann. Das Märchen wurde nicht sozial „geortet", also auf historisch konkrete Verhältnisse zugeschnitten, und es wurde nicht aktualisiert mit dem Blick auf unsere Verhältnisse. Sondern: Die gefährliche Macht der Mystifizierung, des „falschen Bewußtseins", sollte an einer alten Geschichte enthüllt werden. Treue gegenüber dem Stoff und heutige Gesichtspunkte vertrugen sich überraschend gut miteinander, und es kam mehr zutage als bei einer mechanischen Übertragung der epischen Vorlage in ein Drama. Wie Schwarz verändert auch Kahlau den Alleingang des Märchenhelden zu einem Weg, auf dem er Hilfe braucht und Freunde gewinnt. Damit wächst zugleich seine Verantwortung; denn von seiner Bewährung, seinem Mut hängt mehr als sein Leben ab. Die Fabel behält auf der Bühne ihre poetische Kraft, darin unterstützt von der Sprache. Das Stück ist in unregelmäßigen Jamben geschrieben, dem geläufigsten deutschen Theatervers, der auch dem Verständnis der Kinder entgegenkommt (er ist wegen seiner Eingängigkeit auch am häufigsten in Kinderreimen und -liedern zu finden). Der Inszenierung von Heiner Möbius gelang es aber nur teilweise, hinter dem Vers die dramatische Situation zu entdecken. Der Fluß der Verse bestimmte den Rhythmus der 152

Inszenierung, der es nicht an stilistischer Klarheit - Otto Kähler verwandte in der Ausstattung Elemente der Frühgotik an pantomimischer und choreographischer Geschlossenheit, an überschaubaren, fabelverdeutlichenden Arrangements, wohl aber an Phantasie mangelte. Der gestiefelte Kater erlebte innerhalb eines Jahres fünfzehn Premieren und gehört zu den Standardstücken eines Repertoires für Kinder aller Theater, ebenso wie König Drosselbart von Heinz Czechowski, das im Wettbewerb für Bühnenwerke aus Anlaß des zwanzigstem Jahrestages der DDR den Sonderpreis für das beste Kinder- und Jugendstück erhielt und im Oktober 1969 in der Inszenierung von Horst Hawemann am Theater der Freundschaft uraufgeführt wurde. Der Autor hält sich an die durch die Grimmsche Märchenfassung gegebene Stoffsubstanz. Die Handlung bleibt in jenem typischen Märchenland, das weder geografisch noch historisch genau angesiedelt ist. Daß Könige, Edelleute und eine Prinzessin auftreten, hat den Autor nicht verführt zu „soziologisieren". Die Prinzessin ist eben nicht Mitglied eines müßiggängerischen Standes für alle Zeiten, sondern kann als Bühnenfigur zu Erkenntnissen gelangen, zu denen freilich eine historische Prinzessin kaum Zugang hat. Die Arbeit und die erwachende Liebe zu einem armen Mann rufen jene Veränderung hervor, die die Kinder an der Prinzessin als neue Charakterzüge entdecken. Die Wandlung der Prinzessin, die durch sie gewonnene Achtung vor dem Volk und seiner Arbeit sind das Anliegen sowohl des Märchens als auch des Bühnenstückes. Auch in seinem nächsten Stück Rumpelstilzchen (uraufgeführt am Theater der Jungen Welt im Dezember 1971, Regie: Hanns Gallert, Bühnenbild: Joachim Köhn) folgt Czechowski der Grundstruktur des Volksmärchens. Autor und Theater suchten nach einer Lesart, die in dem Märchen als Schicht enthalten ist und dennoch heutigen Zuschaueransprüchen gerecht wird. Nicht als folkloristischer Hintergrund der Königsebene, sondern als Volksfiguren, die die Fabel erzählen helfen und die neue Konzeption stützen, wurde eine Gruppe von Handwerkern eingeführt. Auch veränderte Czechowski den „Alleingang" des Märchenhelden: So muß die Müllerstochter 153

nicht allein, nur mit Hilfe des Boten, den Namen Rumpelstilzchens finden, sie kann sich der Hilfe der Dorfbewohner versichern. Ihnen gelingt es auch, Rumpelstilzchens Tanz um das Feuer zu belauschen, denn sie kennen sich nicht nur in der Gegend aus, sie sind, im übertragenen Sinne natürlich, auch in ihrem Alltag enger mit der Märchen- und Sagenwelt des Volkes verbunden, die vom Stück ganz ernst und naiv genommen wird. Am Schluß steht die gemeinsame Freude über die Rettung des Kindes und nicht die Inthronisierung eines volksverbundenen Königspaares. Der Autor hat mit Recht vermieden, die Ebenen Volk und Thron zu verwischen, doch er hat sich: dabei nicht auf einige stillschweigende Voraussetzungen des Märchens verlassen, so auf die, daß ein König versuchen wird, viel Gold in die Hand zu bekommen. Es ist nicht recht einzusehen, warum hier ein heruntergekommenes Königreich installiert und umständlich begründet wird, daß der König buchstäblich zum Strohhalm Müllerstochter greift. Und muß der Müller durch eine neue Windsteuer so sehr verarmen, um zu entschuldigen, daß er mit der goldspinnenden Tochter prahlt? Auch die Handwerker sind vom König abhängig, denn er läßt sie für sich arbeiten, ohne dafür zu bezahlen. Der so als schurkisch exponierte König ist dann freilich für den alten Fabelverlauf nicht mehr brauchbar. Eine zweite Handlungslinie wird gezogen, die dem ursprünglichen Märchen an wichtigen Punkten in die Quere kommt. Ein „mißratener" Königsohn muß aufgebaut werden, der die Schrulle hat, nicht nach Macht zu streben, sondern Gedichte zu schreiben, und der somit der rechte Partner der Volksfiguren und künftige Gemahl der Müllerstochter ist. In einem Artikel in Theater der Zeit teilte der Autor selbst seine Bedenken mit, die er beim Schreiben dieses Stückes hatte: „Aus unseren bisherigen geschichtlichen und ästhetischen Erfahrungen bemühen wir uns - wohl auch im Gefolge der Schwarzschen Märchen-Adaptionen - , die Märchen zu demokratisieren', d. h. den vermeintlich unter der Oberfläche der uns überkommenen Texte liegenden .plebejischen Gehalt' herauszuextrapolieren. Dabei, so scheint mir, beachten wir wohl nicht immer, daß Märchen ihre eigenen poetischen Gesetze haben [. . .] Ich. weiß nun nicht, in welcher der beiden 154

Lesarten eigentlich mehr Wahrheit steckt: in der .demokratischen' oder in der .poetischen'."189 Obwohl Czechowski einräumt, daß es eigentlich zwischen der poetischen und der demokratischen Lesart des Märchens keinen Widerspruch gibt, besteht er für ihn. Dieser Widerspruch wird sofort aktuell, wenn das Märchen historisiert wird, wenn darin eine Analogie zu einer bestimmten gesellschaftlichen Formation gesehen wird. Aber es kann nicht die Aufgabe heutiger Märchenbearbeitungen sein, den alten Fabeln eine Tendenz zur bürgerlich-demokratischen Revolution zu unterlegen (um diese kann es sich ja nur handeln, wenn, man den Feudalismus als die dem Märchen zugrunde liegende Gesellschaftsordnung annimmt). Dieses Verfahren engt sowohl den poetischen wie den gesellschaftlichen Radius des Märchens ein und macht es zum Geschichtsdrama, als das es nie stimmig sein kann. Dennoch sind die Märchen gesellschaftsbezogen in einem sehr edlem Sinne, denn die Zuversicht in den Sieg des Menschen über ein Panoptikum böser Mächte, das Vertrauen in menschliches Vermögen und menschliche Kraft befördern bei den jungen Zuschauern Impulse, die der Veränderung menschlichen Zusammenlebens nützlich sind. Diese den meisten Märchen zugrunde liegende Potenz gilt es aus marxistischer Sicht herauszuarbeiten und mit der dem Märchen eigenem Poesie darzustellen. Allerdings stellt sich dieses Problem bei jeder Märchenadaption neu und auch bei der Interpretation auf der Bühne. Um der allgemeinen Buntheit früherer Märchenausstattungen eine künstlerisch-poetische Darstellung entgegenzusetzen, wurden vor allem zwei Wege ausprobiert: einmal die Anlehnung an die Folklore der Länder, aus deren Märchencrbe sie entnommen waren, und zum anderen, vor allem bei den Inszenierungen deutscher Märchen, der Rückgriff auf frühere Kunstepochen und Stile. Die Märchen näher an die Kinder heranzurücken, war die erklärte Absicht der Inszenierung Zar Wasser wir bei von J. Schwarz (Premiere am 27. November 1971) durch Horst Hawemann und Die kluge Susanne von Heinz Kahlau (Uraufführung am 11. März 1972) und Seebse kommen durch die ganze "Welt von Christian Noack (Premiere am 5. Oktober 155

1972) durch Mirjana Erceg am Theater der Freundschaft. Beide Regisseure bemühten sich, das Gut-Böse-Schema des Märchens zu differenzieren:. „Wir wollten das Böse nicht in Ausnahmesituationen behandeln, sondern im Alltag. Das wird sich nicht nur in diesem Stück erledigen lassen, das ist ein Fahrplan für die Zukunft; das muß jede Inszenierung mitliefern" 190 , sagte Horst Hawemann auf der Konzeptionsprobe zu Zar Wasserwirbel. Der Herr des Wasserreiches war folglich nicht mehr irgendein russischer Zar, sondern eine phantastische Figur, von zwei Schauspielern dargestellt und in einem monströsen Gefährt agierend, das Tonne, U-Boot und Monstrum zugleich sein konnte. Darüber hinaus wird besonders in dieser Inszenierung der Doppelcharakter der Dinge gezeigt: Je nachdem, in wessen Besitz sie sind, bewirken sie Gutes oder Böses, sie werden in der Hand des Bösen zur gefährlichen Waffe, in der Hand des Guten hingegen können sie ein Spielzeug sein. Die Ausstattung war auf diese Doppelfunktion der Gegenstände gestellt, wobei auch bewußt Elemente des Spielzeugs oder den Kindern vertraute Gegenstände so eingesetzt waren. In der Klugen Susanne ließ Mirjana Erceg zwei Clowns als Prinzipale zweier Schauspielertruppen, die rivalisierend die Gunst des Publikums erobern wollen, als Vermittler zwischen Märchen und Zuschauer treten. So gestalteten die einen (Volksebene) „ihre" Bühne mit großen bunten Bauklötzen, während die anderen mit einem riesigen Schachspiel ihre Dekorationen bauten. Auch hier „Spielelemente" und der Verzicht auf die kluge Bauerstochter (Titel des Originalmärchens), die einen dummen König belehrt. Die Regie stellte sich zur Aufgabe, verschiedene Arten von Klugheit zu zeigen, d. h. die natürliche Intelligenz der Fischerstochter, die destruktive Klugheit des Narren, den Mutterwitz der Marktfrau usw. Böses geschieht von diesem Märchenkönig, der sich äußerlich von einem jungen Menschen von heute nur durch die Attribute der Macht unterschied, nur aus Trotz oder Unachtsamkeit, aus dem Versuch, sich trotz seiner Jugend autoritär als König zu behaupten. Auch in Seebse kommen durch die ganze Welt wird der Zuschauer nicht in die Vergangenheit versetzt, sondern die „Welt" ist auf der Bühne dargestellt, durchi die sechs Vertreter verschiedener Rassen und Nationen „kommen" und 156

sich solidarisieren, um einem Soldaten gegenüber seinem wortbrüchigen König zum Recht zu verhelfen, wobei auch jeder einen persönlichen Grund hat, im König einen Gegner zu sehen. Auch dieser König thront auf einem Gefährt, das Thron, Panzer und Lokomotive assoziierbar macht und sieht auf das Volk und die Zuschauer herab. Diese Auffassungen bewirken zugleich eine stärkere dramatische Dynamik; sie erleichtern die Übertragung epischer Strukturen des Märchens auf das Theater und sind reich an theatralischen Möglichkeiten. Vor allem aber wird hier nicht nur an die Begriffs- und Gedankenwelt der Kinder angeknüpft, sondern die Bezugsfiguren der Kinder verhalten sich wie ihre Zuschauer. Damit wurde der Märchenheld vom Podest geholt und neben den Zuschauer gestellt.

Das Wirkliche im

Phantastischen

Die Dramatisierung von Volksmärchen ist ein Akt der Interpretation: Die alten Geschichten geben das Gefäß für neue Gedankeni, und ihr Hergang muß sich oft den veränderten Absichten fügen, was zu Reibungen zwischen Sujet und Thema führen kann. Ihre Umkehrung ist das phantastische Stück für Kinder, dem nicht die Geschichte, sondern das Thema vorgegeben ist, welches seine eigene Fabel konstituiert. Die Autoren bewegen sich freier in der Fabeldichtung, was sie freilich mit der Gefahr bezahlen, die in Jahrhunderten gehärtete Poesie überlieferter Märchen nicht zu erreichen. Die Parabeltechnik Brechts hat diesem Stücktypus des Kindertheaters kräftige Impulse vermittelt. Brecht entfernte seine Fabeln vom Gewohnten ins Außergewöhnliche, Kritikwürdige, um im Zuschauer die produktive Haltung des Veränderers zu erzeugen. Die von ihm erzählten Geschichten sind vornehmlich Analogien zur Wirklichkeit, nicht deren unvermittelte Spiegelung, doch sie erlauben durch die Reinigung von Nebensächlichkeiten Einblicke in die gesellschaftlichen Strukturen. Das phantastische Stück verfährt ähnlich, mit der Wirklichkeit. Es liefert reale Zusammenhänge in irrealen Fabeln, und es kann sich dabei den Umstand zunutze machen, d a ß der 157

junge Zuschauer bei der Aneignung der Wirklichkeit sich vorzüglich der Phantasie bedient. Im Phantastischen das Modell des Wirklichen aufzuhellen, ist deshalb im doppelten Sinne charakteristisch für das Kindertheater: Die Bereitschaft des Kindes zum uneingeschränktem Fabulieren anregend, führt es seine Zuschauer in eine Welt ein, über die sie noch kaum Erfahrungen besitzen. Solche Stücke sind komplizierter organisiert als die Mehrzahl der Märchendramatisierungen, weshalb sie, mit Ausnahmen, für die jüngsten Besucher wenig geeignet sind. Sie sind Mittler zwischen den Volksmärchen und jenen Stükken, die ihre Zuschauer direkt mit Geschichte und Gegenwart menschlichen Zusammenlebens konfrontieren. Ihr Platz im Spielplan der Kinder- und Jugendtheater der D D R ist seit 1956 fest begründet. Das erste und bisher erfolgreichste Stück dieser Art ist Das Untier von Samarkand, 1956 von Anna Elisabeth Wiede geschrieben und am 18. Februar 1957 am Theater der Freundschaft uraufgeführt. Es erzählt die Geschichte eines Pastetenbäckers, der versehentlich in ein Untier verwandelt wird. Von allen gefürchtet, gelingt es ihm, den grausamen Khan zu vertreiben. An die Macht gelangt, erweist sich das Untier als Freund der Unteren und regiert sehr viel anders als der Mensch Khan: Es erläßt drückende Steuern, beseitigt die Sklaverei und veranlaßt die Reinigung der Kanalisation. Endlich glaubt der Khan, ein Mittel gefunden zu haben, das humane Untier zu beseitigen: die große schwarze Zauberblume. Aber das Volk kennt das Geheimnis der Blume - sie bewirkt je nach dem Charakter ihres Besitzers Gutes wie Schlechtes - und es überlistet den Khan. Der Pastetenbäcker erhält seine menschliche Gestalt zurück, die der Khan, das eigentliche Untier, verliert. Der dialektische Witz, für den hier eine Geschichte aufgebaut wird, richtet sich gegen die Verteufelung derer, die sich für die Unterdrückten einsetzen, und er relativiert das „Menschliche", indem es als sozial determiniert erscheint. Das Phantastische wurde genutzt, um sinnfällig und einfach Formen des Klassenkampfes zu zeigen. Neu an dieser Märchenkomödie ist auch, daß in ihr die Barbarei komische Züge annimmt. Dies entspricht einer neuen Haltung, die aus einer neuen gesellschaftlichen Situation resultiert. Das soziale Un158

recht ist seines Ewigkeitsanspruches entkleidet, die gesellschaftliche Wirklichkeit wird von den ausgebeuteten Klassen als erkennbar und veränderbar erfaßt. Die Khans sind im eine hilflose Lage geraten, aber sie glauben, sich noch heraushelfen zu können. Das macht sie komisch, ohne daß dabei ihre Gefährlichkeit unterschlagen wird. Bemerkenswert und schön ist die Eigenschaft der Wunderblume, Gutes und Schlechtes zu bewirken, je nachdem, wer sich ihrer bedient. Das ist beachtlich für ein Märchen, in dem das Zaubermittel meist ein Mittel für den beliebigen Gebrauch ist. Und es ist schön, weil es eine reale Situation in einem poetischen Bild verständlich und haftbar ausdrückt. Das Gut-Böse-Schema des Märchens wird differenziert durch die Frage: gut für wen, böse gegen wen. Die überkommene Konstellation wird einer dialektischen Sicht unterworfen, die gegenwärtige Verhältnisse ins Auge faßt. Das Untier von Samarkand gehört mit Recht zu den wesentlichen Stücken für Kinder. Der Regisseur der Uraufführung, Josef Stauder (Regiemitarbeit: A. E. Wiede) versuchte, der Neuartigkeit des Stückes gerecht zu werden. Ohne das epische Theater Brechts kopieren zu wollen, beabsichtigte er, Mittel des epischen Theaters in der Inszenierung anzuwenden. Folglich wurde auf die Darstellung von Verhaltensweisen besonderer Wert gelegt. Obwohl die Deutsche Lehrerzeitung der Inszenierung bescheinigt: „Nun haben auch unsere Kinder- und Jugendtheater ihr episches Experiment" 191 , und andere Kritiker in dieser Märchenkomödie ein Lehrstück, in der Inszenierung „unterkühltes" Theater sahen, war die Aufführung eher komödiantisch als didaktisch. Es ist ihr sogar vorzuwerfen, daß der Khan und seine Vasallen zu komisch geraten waren, so daß die Gefährlichkeit dieser Figuren stark vermindert wurde. In der Darstellung des Volkes hingegen wurde durch das genaue Herausarbeiten unterschiedlicher Haltungen jede einzelne Figur für die Kinder einprägsam. Erstmalig auf der Bühne des Kinder- und Jugendtheaters geschahen die Verwandlungen bei geöffnetem Vorhang, das heißt, die auf der Scheibe aufgebauten Schauplätze (Bühnenbild: Harry Leupold) wurden eingedreht. Aber selbst dieses alte Theatermittel wurde nicht zur Desillusionierung eingesetzt, sondern war in das Spiel einbe159

zogen - die handelnden Personen begaben sich an den nächsten Ort. So wurde durch dieses Stück nicht nur das Repertoire der Kinder- und Jugendtheater bereichert, auch seine Inszenierung erprobte neue Mittel und Möglichkeiten des Theaters für Kinder. Einer Parabel steht das orientalische Gewand sehr gut. Auch andere Autoren reizte es zur Darstellung poetischer Gleichnisse: Georg W. Pijet Die Berggeister des Hallasan (Uraufführung in der Spielzeit 1958/59 im Theater der Jungen Welt), Irene Korb Das Mädchen Ming Ming (ebendort 1966 zum ersten Mal gespielt) und Heinz Kahlau Ein Krug mit Oliven, Parabelstück nach einem Märchen aus Tausend und eine Nacht (Uraufführung während der Berliner Festtage 1966 im Theater der Freundschaft). Allen diesen Stükken ist gemeinsam, daß sie Analogien zu antagonistischen Klassenauseinandersetzungen schaffen. Kahlau nahm einen alten Stoff für die Demonstration des „Wolfsgesetzes" im Kapitalismus, dem eine Freundschaft zum Opfer fällt. Die bekannte Geschichte, die von einem Jungen als Richter entschieden wird, hatte ihren Reiz in der Gegenüberstellung verschiedener Rechtauffassungen. Die Inszenierung dieses der BrechtDramaturgie verpflichteten Stückes stellte ein Experiment auf der Bühne des Kinder- und Jugendtheaters dar. Würde dieses an turbulente Handlung gewöhnte, den raschen äußeren Fortgang einer Geschichte erwartende Publikum der dreimaligen Wiederholung einer Gerichtsverhandlung mit dem gleichen Interesse folgen? Die Regie Heiner Möbius' vertraute den Vorgängen des Stückes und verzichtete auf orientalischen Aufputz (Ausstattung: Otto Kähler), der von der Fabel ablenken konnte. Auf die optische Erzählung der Fabel wurde besonderer Wert gelegt. Dabei fand der Regisseur überschaubare, die Drehpunkte groß herausarbeitende Arrangements. Das Stück verlangte eine Spielweise, die den Darstellern der kritikwürdigen Figuren verbot, sich mit der Rolle zu identifizieren. Die beiden „Freunde" - Freundschaft heuchelnd im Interesse des geschäftlichen Vorteils - mußten von den Kindern durchschaut werden. Große Gestik, übertriebene Herzlichkeit halfen den Kindern, die Figuren zu bewerten. Um den Unterschied zu wahrer Freundschaft augenfällig zu machen, wurde 160

in der Darstellung des Freundespaares Hassan und Achmed auch eine andere Spielweise gewählt, indem Haltungen gesucht wurden, die den Kindern vertraut sind, Haltungen, die eine Freundschaft unter Kindern heute wertvoll machen. Das sorgfältige Spielen der Situationen wurde vom Publikum so aufmerksam und gespannt beobachtet, wie das Ensemble bei der Kompliziertheit der Vorgänge, die teilweise auch noch durch reflektierende Songs unterrbochen wurden, kaum zu erwarten wagte. Die Inszenierung stärkte das Vertrauen der Schauspieler in ihr Publikum und half, eingebürgerte Unsitten im Spielen für Kinder abzubauen: so das Spielen der äußeren Vorgänge, verführt durch den temperamentvoll und laut mitgehenden Zuschauer. Unmittelbar ant Ein Krug voll Oliven angeknüpft wurde mit der Inszenierung Reineke Fuchs, Oper für Schauspieler von Günther Deicke und Ruth Zechlin (Uraufführung am 19. April 1968, Regie: Heiner Möbius). Auch hier, in der Form einer Tierparabel, kam es darauf an, die Klassengesellschaft zu demaskieren. Die Inszenierung zeigte, mit welchen Mitteln in der Klassengesellschaft Macht gegen das Volk ausgeübt wird und welche Machtkämpfe es innerhalb der herrschenden Klasse gibt. Die Darstellung zielte deshalb nicht auf Tierimitation, sondern auf Haltungen der Figuren, die sich aus der Klassenzugehörigkeit und dem Stand ergeben. Die Mächtigen des Hofes haben im Unterschied zum Volk, das als Chor der kleinen Tiere agiert, Tiermasken, die es möglich machten, eine Kritik an der Rolle mitzuspielen. Darstellungen von Tierfiguren sind für die Jüngsten besonders geeignet, weil sie Vereinfachungen ermöglichen und durch Hervorhebung realer Charaktereigenschaften an phantastischen Wesen Figuren entstehen lassen, von denen Kinder in diesem Alter bereit sind, Lehren anzunehmen. Aber „nicht jede Lehre", schreibt Johann Gottfried Herder, „die für die Jugend gehört, kann einem Tier in den Mund gelegt oder in seiner Handlungsweise ausgedrückt werden; ja ich wage es zu sagen, die edelsten, eigentlichen Lehren für die menschliche Tugend können es gar nicht. Erfahrungssätze und Regeln der Klugheit, wie zum Beispiel der Stärkere den Schwächeren unterdrückt, der Schwächere sich durch Klugheit und List ver11 Hoffmann

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teidigt und dergleichen finden in der Fabel eine Menge der lehrreichsten Beispiele [. . .] "192 Diese Einschränkung beeinträchtigt nicht die erzieherische Wirkung der Tierfigur. Die Kinder fühlen sich nicht belehrt, und sie lernen dennoch durch kritische Beobachtung. Sie werden befähigt, den Tieren gegenüber die Haltung von Erwachsenen einzunehmen, weitsichtiger und standhafter zu sein, klug zu disponieren und immer die Folgen zu bedenken. Die Humanisierung der Tierwelt hat einen besonderen pädagogischen Aspekt: Die Kinder finden und geben selbst jene Ratschläge, die an sie gerichtet sind. Für die Widerspiegelung der sozialistischen Umwelt der Kinder hat sich dieses Genre aber nur bedingt bewährt, denn es bietet nur begrenzten Raum für differenzierte Stoffe. Einfache Gegensätze hingegen, wie der von arm und reich, von Solidarität und egoistischem Machtanspruch, erhalten im Tiermärchen große Haftbarkeit. Für die phantastische Überhöhung der Lebensbedingungen im Sozialismus mußten deshalb andere Möglichkeiten ausprobiert werden. Hans-Dieter Schmidt wagte die Phantasiewelt heutiger Kinder, resultierend aus dem Alltag der Großstädte, in einem geglückten Versuch auf die Bühne zu bringen. Er verfaßte nach dem Kinderbuch von Ota Hofmann und dem Hörspiel von Jan Gerstel Das Märchen von der alten Straßenbahn Therese. Kinder entdecken ihre Zuneigung zu einer alten Straßenbahn; sie wollen sie vor dem Verschrotten bewahren, indem sie sie zur Tarnung bemalen und vor dem Zugriff der Straßenbahnverwaltung verstecken. Schließlich wird sie ihnen in einer Verhandlung vor dem „Straßenbahngericht" als Kinderstraßenbahn zugesprochen. Das Theater der Jungen Welt blieb bei diesem Versuch nicht stehen, sondern baute auf ihm eine zweite Spielplanlinie für die untere Altersstufe auf. Da diese Stücke keine großen dramatischen Konflikte aufweisen, sondern über phantastische Gegenstände einfache Normen menschlichen Zusammenlebens im Sozialismus behandeln, sind sie der Revue ähnlich und verlangen großen technischen und personellen Aufwand. Es konnten nur einige Stücktypen, die im phantastischen Bereich angesiedelt sind - das Parabelstück, das Tiermärchen und die phantastische Revue - genannt werden. Aber damit 162

sind die Möglichkeiten dieses Genres nicht erschöpft. Auch das utopische Stück gehört in diesen Zusammenhang, das, von zwei mehr oder weniger gelungenen Versuchen abgesehen, auf der Bühne des Kindertheaters noch nicht zu Hause ist. In seinen höchsten Formen bleibt das phantastische Stück interessant nicht nur für Kinder - es ist Dramatik für unsere Zeit.

Das klassische Stück im Kinder- und Jugendtheater Während ehedem in den „Schülervorstellungen" das Erbe der Illustration des Deutschunterrichts diente, von den Theatern nachlässig dargeboten, von den Schülern widerwillig absolviert, folgt das sozialistische Kinder- und Jugendtheater bei der Aufnahme und Interpretationi klassischer Stücke neuen Gesichtspunkten. Sie werden von den Besonderheiten seines Publikums, weniger von den Lehrplänen der Schule bezogen. In einer Untersuchung, die vom Theater der Freundschaft angefertigt wurde, heißt es dazu: „Wo ein klassisches Stück eine überschaubare Geschichte aus dem Zusammenleben der Menschen, also aus dem Leben der Gesellschaft erzählt, wo es menschliche Verhaltensweisen und Entscheidungen möglichst in einer spannenden Fabel demonstriert, da eignet sich das Stück für das Jugendtheater. Das um so mehr, da klassische Stücke im allgemeinen ein für damalige Zeit noch nicht erreichtes, neues, erstrebenswertes Menschenbild entwerfen, das in dem M a ß e für uns an Interesse gewinnt, in dem wir durch Beobachtungen und Feststellungen des inzwischen Erreichten die Veränderbarkeit der Welt bestätigt finden."193 Nicht der „Schwierigkeitsgrad" entscheidet über die Eignung eines klassischen Stückes für jugendliche Zuschauer, sondern die Beschaffenheit der Fabel und der Figuren. Im Prozeß der Idealbildung, den junge Menschen durchlaufen, insbesondere bei der Formung von Wunschvorstellungen über sich selbst, spielt der ungebrochene Held klassischer Stücke eine wesentliche Rolle. Es sind die ungewöhnlichen Situationen und Menschen, weitab vom Erfahrungskreis Elternhaus und Schule, die kämpferischen Haltungen wie die Zartheit der Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die ersten Bewährun11*

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gen an der Schwelle von Sieg oder Niederlage, die Unbedingtheit des Einsatzes für die gerechte Sache - es sind also zunächst ethische Komponenten, die das klassische Stück dem jungen Zuschauer nahebringen. Sie stehen jedoch in Wechselwirkung mit den historischen, denn das klassische Stück ist für junge Menschen immer auch ein Blick in eine überwundene Welt, in gesellschaftliche Verhältnisse und soziales Verhalten, die nur noch durch Kunst sinnlich gegenwärtig werden. Menschenbild und Geschichtsbild, Historizität und Aktualität bedingen einander. Die Klassikeraufführungen an unseren Jugendtheatern haben sich zwischen zwei Polen bewegt: der historischen Interpretation, die das Stück im wesentlichen als Demonstrationsgegenstand für die Geschichte der Klassenkämpfe benutzte, und der Aktualisierung für eine spezifisch „jugendliche" Mentalität, in der von den konkreten historischen Bedingungen weitgehend abgesehen wurde. Beide Erscheinungen haben ihren berechtigten Platz in der Geschichte des sozialistischen Kinder- und Jugendtheaters, sie sind weder als Modelle noch als Abirrungen zu sehen. Natürlicherweise haben Stücke um junge Menschen mit dem besonderen Interesse junger Menschen zu rechnen. Deshalb werden vom Jugendtheater Kabale und Liebe, Romeo und Julia, Urfaust im Repertoire geführt. Bedenklich erscheint allerdings, daß von den klassischen Tragödien ausschließlich die genannten Stücke vom Jugendtheater aufgeführt werden. Demgegenüber nehmen die Komödien Molieres, Goldonis und Shakespeares einen weitaus größeren Platz in den Spielplänen ein. Den ersten Versuch, ein klassisches Stück unter besonderer Berücksichtigung des jungen Zuschauers zu inszenieren, unternahm das Theater der Freundschaft 1952 unter der Leitung von Hans Rodenberg mit Kabale und Liebe. Für die Wahl dieses Werkes gab es vor allem zwei Gründe: Einmal ging man davon aus, daß sich nur in der organischen Verbindung mit dem fortschrittlichen nationalen Erbe die sozialistische Theaterkunst entwickeln kann, also auch das Kinder- und Jugendtheater der jungen DDR, zum anderen ist besonders auch für junge Menschen das Bewußtsein nationaler Traditionen für die Meisterung der Gegenwart wesentlich. Die Jugend der 164

Helden sollte dem jungen Publikum den Zugang zu diesen Stücken erleichtern. Hans Rodenberg schreibt, „[. . .] daß gerade solche Stücke des klassischen Erbes von den Kindertheatern gespielt werden müssen, in denen Kinder oder fast noch Kinder, wie Luise und Ferdinand, wie auch Romeo und Julia, als Menschen des morgigen Tages ihrer Zeit, die Träger der entscheidenden Konflikte, der fortschrittlichsten Ideen sind. Gerade solche Werke des kämpferischen kritischen Realismus unserer Klassik müssen zum ständigen Bestandteil des Spielplans dieser Theater werden." 194 Schon die Änderung des Titels (Hans Rodenberg griff auf den Schillerschen Originaltitel Luise Millerin zurück, der von Iffland aus politischer Rücksicht und Publikumswirksamkeit in Kabale und hiebe umgewandelt worden war) deutet an, daß das bürgerliche Mädchen Luise im Mittelpunkt der Inszenierung stehen sollte. Intensiv wurde nach den historischen Vorbildern gesucht, die Schiller möglicherweise beim Schreiben vor Augen hatte: Von ihnen zog man Rückschlüsse auf die Verhaltensweisen der Figuren. Aus dieser historischen Konkretheit und den Besonderheiten des jungen Publikums bezog die Konzeption wesentliche Aspekte. Man versuchte, das Stück in seiner ursprünglichen, vom Dichter beabsichtigten Gestalt wiederherzustellen und mögliche Kompromisse, die Schiller vornehmen mußte, um gespielt zu werden, auszumerzen. Einen solchen Kompromiß sah die Regie in der Figur der Lady Milford. Als Schiller diese Figur konzipierte, hatte ihm die Gräfin Hohenheim, einflußreiche Mätresse des Herzogs Karl Eugen, als Modell gedient. Schiller veränderte im Verlauf der Arbeit am Stück den Charakter der Lady Milford, vermutlich, um dem Original nicht so nahe zu kommen. Auf der Pressekonferenz wenige Tage vor der Premiere sagte Hans Rodenberg dazu: „Wir spielen von der Lady nur die Kammerdienerszenen. Alles andere ist in jeder Hinsicht aufgepfropft und aus Kompromißgründen geschaffen. Deshalb haben wir dies alles, als Fremdkörper in diesem Stück, gestrichen."195 Der Wegfall der Szene Lady Milford - Luise beschädigte aber auch die Heldin des Stückes. Ihr wurde die Möglichkeit genommen, ihren Anspruch auf die eigene Persönlichkeit, das Recht des Bürgermädchens auf ihre Liebe selbstbewußt vorzutragen. 165

So gelang es der Darstellerin der Luise (Renate Goerdes) nicht, Luise aktiv gegen die Klassenschranken kämpfend zu zeigen. Diese Luise blieb weitgehend das edle Opfer einer feudalen Kabale. Damit konzentrierte sich das Interesse der Aufführung vor allem auf Ferdinand, den Hilmar Thate spielte. Er zeigte einen idealistischen Schwärmer, der seine Klasse verlassen möchte und sich doch schließlich, in ihrem Ränkespiel verfängt. Die historische Konkretheit und das sozialbedingte Verhalten der Figuren wurden besonders herausgearbeitet. Es war ein erster Versuch, Kabale und Liebe für junge Zuschauer aus marxistischer Sicht zu spielen; das gab der Aufführung, trotz vieler kritischer Einwände, die die Presse vorzubringen wußte, ihre Bedeutung. Es galt, der faschistischen Geschichtsfälschung auch auf dem Theater ein Geschichtsbild entgegenzusetzen, das die politische Aussage der klassischen Dichtung im Sinne der Dichter wieder herstellte. „Unter der kritischen Erarbeitung des klassischen Erbes verstehen wir nicht eine Fotokopie des klassischen Erbes, sondern die Forderung des Dichters nach Möglichkeit zu realisieren. Ebenso sind wir selbstverständlich überzeugt davon, daß auch nur der geringste Versuch einer künstlerischen Aktualisierung eines der größten Verbrechen wäre, denn wir spielen die Zeit und ihre Ideen." 196 In der Spielzeit 1958/59 wagten zwei Kinder- und Jugendtheater, die große Liebestragödie der Weltdramatik ihrem jungen Publikum zugänglich zu machen. Das Theater der Jungen Generation übertrug Helfried Schöbel die Regie zu Romeo und )ulia (Premiere am 8. Februar 1959), und am Theater der Jungen Garde inszenierte Siegfried Menzel das Stück (Premiere am 9. April 1959). Beide Theater wandten sich an Rudolf Schaller mit der Bitte, das Werk neu zu übersetzen, denn sie gingen: davon aus, daß die Schlegel/Tiecksche Ubertragung ihrem Publikum den Zugang zum Stück erschwert und dem Lebensgefühl junger Menschen nicht mehr entspricht. Trotz dieses gleichen Ausgangspunktes unterschieden sich die Inszenierungen sehr voneinander. In Dresden entstand die Tragödie aus der Kollision der Liebenden mit der feudalen Umwelt; ihr Untergang ist in dem Augenblick besiegelt, in dem sie es wagen, das Recht auf ihre Liebe in dieser Um166

weit zu behaupten. Die Hallenser Konzeption beschreibt ein Kritiker so: „Der Hallenser Regisseur Siegfried Menzel sucht die Widersprüche in Romeos Handeln auf und enthüllt sie als klassenmäßig widersprüchliches Handeln: der adlige Stutzer Romeo schwärmt minniglich für Rosalinde; Romeos Liebe zu Julia zerbricht das feudale Herkommen, ist Anspruch des Individuums entgegen den Interessen und Geboten der Familie, ist von den mittelalterlichen Fesseln befreite Sinnlichkeit [. . .] Romeo fällt in feudales Handeln zurück, als er die gekränkte Ehre an Julias Vetter Tybalt rächt. Dieser Rückfall wird in der Hallenser Inszenierung Quelle der Tragik." 1 9 7 Ähnlich, wie Hans Rodenberg, der eine Ursache für den Untergang der Liebenden in Kabale und Liebe im Verhalten Ferdinands sah (sein Zweifel an der Liebe Luises, als sie die gemeinsame Flucht ausschlägt), behandelt Menzel, der den W u r m in der Rodenbergschen Inzenierung gespielt hatte, den gesellschaftlichen Konflikt auch als individuellen. Eine wesentliche Rolle in seiner Auffassung spielten die Zwischenszenen aus den Übungsstücken für Schauspieler von Bertolt Brecht, sowie M a n f r e d Wekwerths Aufsatz Klassenkampf auf dem Theater, der 1958 erschienen war. Wekwerth polemisierte gegen die konventionelle Inszenierungsweise des Stükkes, ü a s allgemeine „hohe Lied" auf die Liebe, das die Liebenden als weltfremd und ihre Umgebung als real zeigte. D i e Ansichten Wekwerths gingen in die Hallenser Konzeption ein und prägten die Aufführung. Wekwerth schrieb: „Aber gerade die große Liebe der beiden ist von Shakespeare gestaltet als grandioses Beispiel gesellschaftlicher Kämpfe. E r zeigt - entgegen der Darstellung unserer Theater - nicht die einander abschlachtenden Häuser als natürlich, normal, sondern das Liebesverhältnis der beiden. Ihn interessiert nicht vorwiegend der unproduktive Kampf der Patriarchenhäuptlinge, sondern der Kampf um neue menschliche Beziehungen. D a s Individuum ist nicht isoliert vom K a m p f , sondern erkämpft gegen feudale Barbarei seine eigene Entstehung: Julia, fast noch ein Kind und somit noch unberührt von erstarrten Sitten, versucht Romeo mit kindlichem Charme und weiblicher Schläue ins Bett zu kriegen. Shakespeare zeigt es mit dem großen Reiz des Natürlichen, den er der Unnatur der Verhältnisse ent167

gegenstellt. Er zeigt die Sinnlichkeit als neuartige Eroberung des Individuums unerreichbar für die kostümierten Marionetten der barbarischen Häuser. Die Liebesnacht - dargestellt in wundervoller Direktheit - erscheint als Sieg neuer menschlicher Beziehungen, wenn auch noch als kühne Utopie. Die Weltfremdheit unmenschlicher Verhältnisse erliegt im Himmelbett der Julia der Weltverbundenheit und Natürlichkeit des aufbrechenden Individuums der jungen Bourgeoisie." 198 Siegfried Menzel inszenierte eine spannende Fabel, für die er lebendige Arrangements fand. Die Liebe wurde als wirkliches sinnliches Bedürfnis gezeigt. Das junge Publikum folgte dieser Aufführung mit großer Aufmerksamkeit, während in Dresden die Reaktionen trotz der guten Besetzung durch Katja Kühl und Wilfried Weschke unterschiedlich waren. Die Hallenser Aufführung hatte in Horst Hiemer einen Romeo, um dessen Darstellung es zu Auseinandersetzungen kam, denn dieser Romeo entsprach eher der landläufigen Vorstellung von Hamlet. Julia, sie wurde alternierend von Christi Jährig und Anne Lässig gespielt, erhielt die Möglichkeit, den großen Bogen der Entwicklung vom jungen unbeschwerten Mädchen zur reifen Frau zu spielen. Den bisher größten Publikumserfolg errang am Kinder- und Jugendtheater Shakespeares Komödie Was ihr wollt, die das Theater der Freundschaft zu den Berliner Festtagen 1963 in einer besonderen Bearbeitung von Günther Deicke mit der Musik von Klaus Fehmel herausbrachte. Die Aufführung ist der Versuch, durch eine jugendnahe Bearbeitung eines klassischen Werkes die Interessen junger Menschen im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren zu treffen. Es war die erklärte Absicht des Theaters, Jugendliche niveauvoll zu unterhalten, ihr Bedürfnis nach Heiterkeit zu befriedigen und dem Theater neue Zuschauer zu gewinnen. Der Librettist verfuhr in Anbetracht der Größe der Vorlage äußerst vorsichtig. Er behielt den Handlungsverlauf, die wesentlichen Situationen und die Charaktere des Originals bei, glich aber die Verhaltensweisen der Figuren den Haltungen heutiger Jugendlicher und den Lebensauffassungen junger Menschen im Sozialismus an. In Viola zum Beispiel sahen die Zuschauer ein Mädchen, das nicht an ihrer zunächst recht ausweglosen Lage verzweifelt, sondern 168

das selbstbewußt seine Geschicke in die Hände nimmt. Auch die beiden Kumpane Bleichenwang und Rülp wiesen durchaus auf Zeitgenossen unserer Tage hin, deren lässige Haltung und sinnlose Beschäftigung humorvoll kritisiert wurden. Während Bleichenwang ein weicher, verzogener Bursche ist, läßt Rülp seiner Lebenslust im Alkohol freien Lauf und übertölpelt geschickt den anderen, dessen Dummheit zu eigenem Vorteil nutzend. Die entscheidende Veränderung erfuhr die Figur des Narren. Er ist nicht mehr der weise Alte, der philosophische Sentenzen von sich gibt, sondern er ist so jung wie sein Publikum und eher naseweis als weise. Er ist der „Spielmacher", der Regisseur und der Erfinder der Geschichte. Er arrangiert die Bühne und die Figuren und versieht das Geschehen mit seinen Glossen. Diese gelten nicht den Figuren, sie sind an das Publikum gerichtet, dem er die zeitbezogene Absicht seines Stüklces verdeutlicht. Der Meister des Spiels um die Liebe erliegt ihr schließlich selbst, dank Maria, die der Bearbeiter dem Narren zur Seite gibt. Mit diesen beiden Figuren identifiziert sich der Zuschauer, denn sie repräsentieren seine Einstellung zum Leben, sie sind fröhlich unbeschwert, voll Leidenschaft und echter, hingebungsvoller Liebesfähigkeit. Der Narr ermöglicht dem jungen Menschen Einblicke in das menschliche Zusammenleben und beweist ihm, daß man nicht nur ernst, sondern auch lachend klüger werden kann. Damit richtet er die Aufforderung an das Publikum, die Gestaltung des Lebens in die eigenen Hände zu nehmen und aktiv für die Verwirklichung seiner Ideale einzutreten. Im Menschenbild der Renaissance sah der Bearbeiter auch die Korrespondenz der Shakespeareschen Figuren mit unserer Auffassung vom Menschen. Der echten Leidenschaft, wie sie der Narr, Maria, Viola, Olivia und Sebastian empfinden, ist die schwärmerische, sich selbst bespiegelnde Liebe Orsinos entgegengesetzt. Der eigentliche Gegenspieler aber ist Malvolio, der mit puritanischem Eifer gegen alles, was sich am Leben freut, nur sein egoistisches Machtstreben bemäntelt. Über ihn triumphiert die lebensbejahende Haltung der Liebenden. Sicher enthielt das Musical eine Reihe von Vergröberungen, auch ging manches 169

vom sozialen Gehalt des Stückes verloren. A b e r es gewann sein Publikum für eine Lesart der K o m ö d i e . D a z u trug nicht zuletzt auch die Musik von K l a u s Fehmel bei, die die heitere Atmosphäre des Stückes akzentuierte. Song, Couplet, Chanson, T ä n z e im Jazzstil waren zur Charakteristik der szenischen Situationen und der Figuren eingesetzt. A n das Ensemble, das sich entsprechend der Konzeption aus sehr jungen Schauspielern zusammensetzte, wurden hohe und ungewohnte Anforderungen gestellt, die es mit jugendlichem Charme singend und tanzend meisterte. D i e Presse zollte den Darstellern und der Regie (Heiner Möbius und Hanus Burger) uneingeschränktes L o b : „Trotz der bewußten Aktualisierung der Shakespeareschen Poesie wird doch nichts von der G r a z i e und dem Charme des geistreichen Verkleidungsspiels in einem zeitlosen Illyrien entzaubert [. . .] D i e K u n s t des erquickenden A b e n d s liegt vielmehr gerade darin, daß wir bei einem Shakespeare im 6 / 8 - T a k t zu G a s t sind und aus der ausgelassenen Heiterkeit ein im heutigen G e i s t improvisatorisch erneuerter Shakespeare erblüht." 1 9 9 1968 wurde das Musical von Heiner Möbius in einer textlich verbesserten und musikalisch modernisierten N e u f a s s u n g zum zweiten M a l am Theater d e r Freundschaft inszeniert. Annähernd zwanzig Bühnen der D D R spielten d a s Stück inzwischen nach. A b e r auch international errang das Kinderund Jugendtheater der D D R mit dieser A u f f ü h r u n g seinen bisher größten E r f o l g . 2 0 0 * Sie trug dazu bei, daß das Theater der Freundschaft zu den führenden Kinder- und Jugendtheatern in der Welt zählt. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Klassikerrezeption des K i n d e r - und Jugendtheaters vornehmlich von jeweils aktuellen Bedürfnissen bestimmt wurde und weniger systematisch erfolgte. D a s liegt in zwei Ursachen begründet: Einmal sieht das Kinder- und Jugendtheater seine Hauptarbeit im Spielplan für die mittlere Altersstufe. D e m entspricht auch die Ensemble-Struktur dieser Theater. Z u m anderen besuchen die Jugendlichen mit d e m vierzehnten Lebensjahr neben dem Kinder- und Jugendtheater auch die anderen Bühnen, auf denen sie das klassische Repertoire der Weltdramatik sehen können. N u r in seltenen Fällen verfolgen Inszenierungen klassi170

scher Stücke am Kinder- und Jugendtheater den Zweck, Jugendlichen Werke zugänglich zu machen, die der Gesamtspielplan dieser Theater vermissen läßt. So entschloß sich beispielsweise das Theater der Freundschaft 1967, den Urfaust herauszubringen, weil Faust mehr als zehn Jahre auf den Berliner Bühnen fehlte. Inzwischen beziehen die Theater die Bedürfnisse junger Zuschauer zunehmend in ihre Spielplankonzeption ein. Im Spielplan der Kinder- und Jugendtheater werden die Klassiker dennoch ihren Platz behaupten. Die Tendenz ist erkennbar, d&ß das klassische Stück bei dem wachsenden Intelligenz- und Bildungsniveau der Schüler bereits immer mehr der mittleren Altersstufe zugänglich wird. Ausgehend vom Volksmärchen, über Dramatisierungen klassischer Stoffe wie Reineke Fuchs ist es nur noch ein Schritt, das klassische Stück selbst in den Spielplan aufzunehmen. Die Eigenschaften des Märchenhelden und des klassischen Helden sind nicht so weit voneinander entfernt - der eine bewährt sich in einer phantastischen Situation, der andere in einer außergewöhnlichen. Die List des tapferen Schneiderleins ist der des Scapin durchaus verwandt. Und wo in den klassischen Stücken an den „Schranken des Jahrhunderts" gerüttelt wird, ist das Interesse der Kinder allemal bereit. Dieser Weg ist allerdings noch wenig beschritten.

Exkurs: Grips, Theater für Kinder in Westberlin. Versuch eines Theaters der ,kindlichen Emanzipation'

Der folgende Exkurs in -die Arbeit des Grips-Theaters Westberlin wird unternommen, um an einem Versuch eine Tendenz ablesbar zu machen. Die Tendenz ist in einigen kapitalistischen Ländern zu beobachten, so in Italien, Großbritannien, in den skandinavischen Ländern und den USA. Das Beispiel Grips liegt im Zusammenhang dieses Themas besonders nahe, weil es sowohl einen Widerschein des sozialistischen Theaters für junge Zuschauer als auch eine Abgrenzung zu ihm enthält. Der außerordentliche Erfolg der Grips-Stücke macht das Beispiel repräsentativ. Die Tendenz besteht darin, das Kind mittels Theater von überkommenen Erziehungsnormen zu emanzipieren und ihm zu einem höheren Bewußtsein seiner schöpferischen Möglichkeiten zu verhelfen. Die ihr zugrunde liegende Haltung kann in Systemkritik umschlagen, hat aber auch innerhalb der gegebenen Gesellschaftsformation demokratische Potenzen. Ein Kind, das die soziale Wirklichkeit seines Elternhauses und seiner Umwelt in ihm begreifbaren Formulierungen erkennt, ein durch Theater also gescheiter gewordenes Kind ist nicht schlecht ausgerüstet für das Leben, das es erwartet. Die sozialistische Gesellschaft setzt mit der Demokratisierung aller Lebensverhältnisse freilich an anderen Punkten a n ; sie sind härter, denn sie betreffen die Macht- und Besitzverhältnisse. Daher leitet sich auch ein anderer Begriff des Verhältnisses von Kreativität und Autorität ab. Die beiden Seiten des Begriffs werden nicht getrennt voneinander gedacht. Die Diktatur des Proletariats ist eine gesellschaftlich disziplinierende Herrschaftsform, aber eben zur Freisetzung aller menschlichen Möglichkeiten. So ist ein Theater der kindlichen Emanzipation 172

nicht wenig, aber die Frage, was es zur sozialen Emanzipation beiträgt, wird es sich immer wieder zu stellen haben. Seit 1966 spielt das Reichskabarett in Westberlin regelmäßig Vorstellungen für Kinder. Im Juni 1971 entschloß sich das Ensemble, ausschließlich für Kinder zu arbeiten, und im Mai 1972 gab es sich, anläßlich des Umzuges in das Forumtheater, einen neuen programmatischen Namen: Grips, Theater für Kinder. Es gehört mit der Zentrifuge, dem Lehrlingstheater Rote Steine, Hoffmanns Comic Theater, dem Theater mit Kindern im Märkischen Viertel, dem Puppentheater Brändli und der Lokomotive Kreuzberg zur Westberliner Volkstheaterkooperative. Das Theater gilt als ein Modell für progressives Kindertheater unter den Bedingungen der spätbürgerlichen Gesellschaft, vor allem durch die Stücke, die von den Initiatoren des Theaters, Rainer Hachfeld und Volker Ludwig, teilweise auch mit dem Kollektiv des Theaters, geschrieben wurden. Von 1969 bis 1973 entstanden sieben Stücke, und das Ensemble erreichte mit jedem weit über hundert Aufführungen. Die Stücke wurden bisher in neun Sprachen übersetzt und erlebten über hundertdreißig Nachinszenierungen in der Bundesrepublik und in anderen westlichen Ländern. Die Stücke des Reichskabaretts, wie sie allgemein genannt wurden, bestimmten zeitweilig die Spielpläne des Kindertheaters in der BRD und auch in Österreich, und wirkten verändernd auf die Theater. Worin liegen die Ursachen für diesen Erfolg, und was stellt dieses „Neue Kindertheater" dar? Jahrzehnte vegetierte das westdeutsche Kindertheater im Schlepptau der bürgerlichen Theatertradition. Die Theater zeigten pro Jahr ein Weihnachtsmärchen, meist Dramatisierungen Grimmscher Märchen mit Kitsch und kleinbürgerlicher Moral, oder Stücke im Stile von Peterchens Mondfahrt von Gerdt von Bassewitz aus dem Jahre 1912. Fast hundert Jahre war dieses Kindertheater in Idylle konserviert, fern von der Wirklichkeit und der Kunst. Noch zum Zeitpunkt der Gründung des Kindertheaters im Westberliner Reichsbabarett bestand das bundesdeutsche Kindertheater-Repertoire zu 98 Prozent aus solchem Stoff. Versuche, den Kindern das ganze Jahr hindurch die Möglichkeit zu geben, Theater zu besuchen, wie das in Nürnberg seit 1948, in München und Dortmund seit 1953 geschah, 173

fielen kaum ins Gewicht. Sie beruhten auf privater Initiative, arbeiteten meist mit geringen finanziellen Mitteln und versuchten sich an den Kinder- und Jugendtheatern der sozialistischen Länder zu orientieren. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre kündigte sich eine Veränderung dieser Verhältnisse an. Sie wurde vor allem ausgelöst durch die Gründung der Internationalen Vereinigung der Kinder- und Jugendtheater (ASSITEJ) 1966, durch das Vorbild des DDR-Kinder- und Jugendtheaters, sowie durch das 1. Internationale Festival des Kinder- und Jugendtheaters in der Hauptstadt der D D R (Februar 1966), das die Überlegenheit des Kinder- und Jugendtheaters der sozialistischen Länder (z. B. durch das erste Auslandsgastspiel des Zentralen Kinder- und Jugendtheaters aus Moskau) vor Vertretern aus etwa fünfundzwanzig Ländern dokumentierte. (Die bundesdeutschen Vertreter gründeten während des Festivals in Berlin die Sektion BRD der ASSITEJ e. V.) Eine wesentliche Ursache für den Aufschwung des Kindertheaters aber lag in der bundesdeutschen Theaterkrise. „Nach Mitte der sechziger Jahre, zumal im Verlauf der wirtschaftlichen Rezession unter der Regierung Erhard 1966, wird das westdeutsche Bürgertheater gewahr, daß ihm immer mehr Zuschauer den Rücken kehren [. . .] Zwischen 1966/67 und 1967/68 bleiben 280000 Besucher der Sprechbühne aus [. . .] Die Hoffnung, es könnten neue Besuchergenerationen heranwachsen und die entstehenden Lücken füllen, erweist sich als trügerisch, denn der Verkauf von Schüler- und Studentenkarten sinkt ständig, 1963/64 macht er noch 9,5% des Gesamtabsatzes aus, 1967/68 nur mehr 8,4% und die Tendenz bleibt weiter rückläufig." 201 Unter diesen Umständen erinnerten sich die Stadttheater an die Kassenerfolge mit dem Weihnachtsmärchen, und der Deutsche Bühnenverein (der Unternehmerverband des westdeutschen Theaters) riet 1967 seinen Mitgliedern, die Kinder als Besucherreservoir zu nutzen. „In der Saison 1967/68 treten die Kinder- und Jugendvorstellungen mancher Theater erstmals über die zeitlichen Ufer des Weihnachtsmärchens" 202 , und diese Entwicklung dauert an. 1971 spielten 109 Theater 318 Stücke für Kinder, und 15 Bühnen haben inzwischen ein Repertoire für Kinder mit mindestens 174

5 Inszenierungen pro Spielzeit aufgebaut. D i e Verlage organisierten Preisausschreiben für neue Stücke, die Theater veranstalteten Zeichenwettbewerbe und Spielnachmittage für Kinder, und auf Kongressen wurde das Problem Kindertheater theoretisch erörtert. 2 0 3 * D a m i t sind zwar die G r ü n d e für die quantitative Veränderung der Situation angedeutet 2 0 4 *, aber für den qualitativ neuen Ansatz wirkten andere Motive, die die Frankfurter Allgemeine vom 2. Juli 1972 in einem Artikel unter der Überschrift Das Stiefkind des Theaters wird mündig so umreißt: „Alle reden vom Kindertheater. Viele spielen plötzlich Theater für Kinder. Einige erreichen das Theater und die Erwachsenen, wenige auch die Kinder. Noch vor ein paar Jahren duldete der Thespiskarren in Deutschland einen Anhänger allenfalls in der Adventzeit: D a s .Weihnachtsmärchen' war man, wenn nicht den Besuchern der Zukunft, so doch den Abonnenten der Gegenwart schuldig. Theaterkrise, Besucherschwund, S t u d e n t e n r e v o l t e (Hervorhebung - C. H.), Diskussion über a n t i a u t o r i t ä r e E r z i e h u n g , Einsichten d e r , N e u e n L i n k e n ' (Hervorhebung - C. H.) in die pädagogische Praxis und der Erfahrungsaustausch mit Kindertheatergruppen in Ost und West - viel ist zusammengekommen, um Kindertheater zu einem modischen, von ideologischen Stolperdrähten bereits umstellten Diskussionsthema zu machen". 2 0 3 Der entscheidende Impuls für das neue Kindertheater ging von der linken Jugend aus. Die Studentenrevolte 1968 in Frankreich ergriff auch Westberlin und hinterließ eine kritische Haltung zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Sie lenkte die Aufmerksamkeit der Jugend auf die Kinder, in denen sie eine „unterprivilegierte Minderheit" erkannte. Nach dem Vietnam-Kongreß 1968 in Westberlin entstanden spontan Kinderläden, und auf der Suche nach neuen Erziehungsmethoden stieß man auf die Schriften von Neill, Reich, Hoernle u. a. und stellte das „Modell" der antiautoritären Erziehung der bürgerlichen Pädagogik entgegen. Seit 1969 erschienen in Westberlin und in der B R D zahlreiche Untersuchungen, Reports, Analysen, demoskopische Umfragen zur Lage des Kindes in der B R D und in Westberlin. Mehrere Fernsehsendungen zu diesem Thema wurden ausgestrahlt und im Dritten 175

Fernsehprogramm einige Serien zu Erziehungsproblemen gesendet (Medienpädagogik, Sesamstraße usw.). Als in der Schriftenreihe Anleitung für eine revolutionäre Erziehung, herausgegeben vom Zentralrat der sozialistischen Kinderläden Westberlin, Walter Benjamins Programm eines proletarischen Kindertheaters in einem Raubdruck erschien, entdeckte die junge Linke auch das Kindertheater. Die Stücke des Reichskabaretts sind ein Spiegel der Auseinandersetzung linker und pseudolinker Meinungen zum Kindertheater, zur Erziehung, zur spätbürgerlichen Gesellschaft überhaupt, und sie reflektieren die wirkliche Lage der Kinder in dieser Gesellschaftsordnung. Daß sie sich dabei mit den Kindern solidarisieren, macht sie sympathisch. „In ihrem Verhältnis zum Kind enthüllt sich der Grundcharakter jeder Gesellschaftsordnung" (Manfred Altner). 206 Das Ausmaß der Kinderfeindlichkeit im „Wohlstandsland" BRD ist erschreckend und systemimmanent, keine Folge des „nationalen Charakters", mit dem der Vorrang, den die BRD in den internationalen Statistiken über die Mißachtung des Lebens und der Bedürfnisse der Kinder einnimmt, häufig erklärt wird. Durch die sozialen Kämpfe der Arbeiterklasse gelang es zwar, die Kinderarbeit (1900 arbeiteten noch 334194 Kinder unter vierzehn Jahren in den Fabriken des deutschen Kaiserreiches) abzuschaffen, aber die Haltung der Ausbeuterklasse hat sich auch hier lediglich dem geschichtlichen Verlauf angepaßt. Die Repressalien treffen am härtesten die Arbeiterkinder. Einige Beispiele seien als Beweis herausgegriffen: Ende 1969 fehlten in der BRD 30000 Kindergärten, das sind 66%. Aber „Vorschulgruppen [. . .] werden unter dem Etikett .experimentell' dort eingerichtet, wo man erfolgversprechende Voraussetzungen antrifft; also gut ausgestattete Schulen und Kindergärten und eine ebenso bildungsorientierte wie vermögende Elternschaft [. . .] Kinder von Arbeitern, von kleinen Angestellten und Beamten sind in den Kindergärten selten anzutreffen." 207 Wenn man bedenkt, daß die Bildungsanregungen in diesen Elternhäusern ohnehin geringer sind, und wenn man weiß, daß sich die Lernfähigkeit der Kinder entscheidend im Kindergartenalter entwickelt, so ist die Schlußfolgerung berechtigt, daß bereits bei Schulein176

tritt keine „gleichen Bildungschancen" mehr bestehen. Besonders in den Arbeitervierteln fehlen Schulen und Lehrer (168 000 in der BRD) und die Klassenstärke mit vierzig und mehr Schülern ist hier am häufigsten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß der Anteil der Abiturienten aus Arbeiterfamilien nur 7 Prozent bei einem Bevölkerungsanteil der Arbeiter von 56 Prozent beträgt. Dieser Prozentsatz verringert sich an der Universität auf 5,5 Prozent. 208 * Der Mietwucher und die Bodenspekulationen treffen am härtesten Familien mit Kindern aus den Schichten mit niederem Einkommen. In der B R D haben eine Million Kinder kein eigenes Bett 2 0 9 ; erklärlich, wenn beispielsweise sechzehn von zwanzig Münchner Maklerbüros die strikte Anweisung haben: an alle zu vermieten, nur nicht an Ehepaare mit Kindern. Da in der B R D der Schutz des Privateigentums oberstes Gebot ist, haben die Vermieter alle Rechte, Kinder als unerwünscht oder geduldet zu drangsalieren oder die Familien gar wegen ruhestörenden Lärms zu exmittieren. Sie sind auch nicht verpflichtet, Spielplätze zu bauen, sie bringen keinen Profit. Deshalb müssen 29 Prozent aller Kinder in der B R D auf der Straße spielen. („In Frankfurt a. M. gaben bei einer Umfrage 98000 von 110000 Schulkindern an, keinen Spielraum im Freien zu haben." 2 1 0 ) Folgerichtig wird jeder achte Verkehrsunfall in der B R D von Kindern und Jugendlichen durch Spielen auf der Straße verursacht. In der B R D sterben jährlich mehr Kinder durch Verkehrsunfälle als durch Infektionskrankheiten. Die Schuld wird der Unachtsamkeit der Kinder zugeschrieben. 211 * Diese Gleichgültigkeit gegenüber den Kindern äußert sich in allen Lebensbereichen. Wenn in einer Stichprobe in Hamburg sich 80 Prozent der Befragten für die Prügelstrafe aussprechen, wenn in einer demoskopischen Umfrage 77 Prozent der Untersuchiungspersonen Tierquälen und nur 61 Prozent Prügel an Kindern für strafwürdig halten 2 1 2 , ist die Schätzung gerechtfertigt, daß in der B R D jährlich zwischen 30000 und 80 000 Kinder geschunden, geprügelt und mißhandelt werden. 2 1 3 Diese statistischen Angaben geben noch keine Auskunft über die Bildungsinhalte und die Lebensziele, die den Kindern durch Elternhaus, Schule, Fernsehen und Lektüre, die wich12

Hoffmann

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tigsten Erziehungskomponenten, vermittelt werden. Die Verbildung durch Schulbücher 214 , die Manipulierung durch Film, Fernsehen und sogenannte Kinder- und Jugendliteratur 215 sind ohne Beispiel. Das Ergebnis erfuhr die Süddeutsche Zeitung, die von 220 Schülern der fünf oberen Klassen wissen wollte, was sie in der Zeitung lesen. 90 Prozent der Schüler interessierte sich überhaupt nicht für Politik. „60 % der Kinder zwischen 10 und 15 Jahren bezeichneten als ihre Lieblingslektüre: Mord und Totschlag, Raubüberfälle, Brandstiftungen und Diebstähle, Kindesentführungen und Sittenskandale." 216 Wie kann unter solchen Bedingungen, die in Westberlin nicht anders sind, ein Kindertheater wirksam werden? Welche Aufgaben stellt sich das Grips-Theater? Das erste Stück war Stokkerlok und Millipilli, ein abenteuerliches Puzzlespiel von Rainer Hachfeld und Volker Ludwig (uraufgeführt 1969). „Das Kind ist uns [. . .] eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen [. . .] Dem Menschen von Sittlichkeit und Empfindung wird ein Kind deswegen ein heiliger Gegenstand sein." 217 Mit diesen Worten beschreibt Schiller die zu seiner Zeit noch bestehende Übereinstimmung zwischen Kindauffassung und bürgerlich-humanistischem Ideal. Der Kapitalismus hat aus dem heiligen Gegenstand nicht nur ein „billiges Objekt seiner Ausbeutung" gemacht, sondern auch seine bürgerlichen Ideale verraten. Seither versuchen seine Ideologen, sowohl das Verhältnis zur Jugend als auch den inhumanen Charakter dieser Gesellschaftsordnung zu verschleiern. Sie proklamieren die Epoche des Imperialismus als „Jahrhundert des Kindes" und suchen im Kinde ihre verlorengegangenen Ideale, nach dem Motto aus Nietzsches Zarathustra, das die Autorin Ellen Key ihrem Buche voranstellt: „Euer Kinder Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heiße ich euch euer Segel suchen und suchen." 218 Alle Spielarten bürgerlicher Reformpädagogik, die Kindauffassung der spätbürgerlichen Gesellschaft und die gesamte bürgerliche kindertümliche (ein Begriff, der zu dieser Zeit geboren wird) Kunst, lassen sich bis heute auf dieses Motto zurückführen. Die imperialistische Ideologie verwies die Kinder in ein Land Nirgendwo, und 178

indem sie die „Welt des Kindes" erfand, entließ sie die Kinder aus der Gesellschaft. Seither sind die Heranwachsenden Objekte von Erziehung und Ausbeutung einerseits und heilig gesprochene Wesen andererseits, deren Entwicklung mit dem Begriff „ d a s Kind" als heranwachsender Mensch schlechthin geleugnet wird. Da es die „Welt des Kindes" ebensowenig gibt wie d i e Entfremdung d e s Menschen, da sich diese Welt jedes Vergleiches mit der Wirklichkeit entzieht, wurde sie zum Tummelplatz idealistischer und reaktionärer Ansichten und Wunschbilder. Auch die Kunst und die Literatur, die einer solchen Auffassung folgten, konnten sich sowohl der kritischen Beurteilung seiner Inhalte als auch künstlerischen Kriterien entziehen, sie wurden zur Semikultur und machten die Phantasie zu ihrer Dirne. Erst das revolutionäre Proletariat konnte mit seiner marxistischen Haltung zum Kinde eine wirkliche Kunst für die Jugend schaffen. Stokkerlok und Millipilli folgt den Klischees der bürgerlichen Kinderliteratur. Die Fabel bleibt in einer in sich geschlossenen „Kinderwelt", in der Millipilli als kesse Göre an der Seite des guten Onkels Stokkerlok gegen die Verbote des bösen Bürokraten Kratzwurst die Losung ausgibt: Es ist verboten, zu verbieten! Ausgangspunkt der Geschichte ist das kindliche Spiel, das in die phantastische Situation hineinführt. Die „Phantastik" geht aber nicht von der Wirklichkeit aus, um auf sie zurückzuführen, sondern spiegelt jenes Kinderland, in dem die Kinder schlimmsten Repressalien durch Erwachsene ausgesetzt sind. „Kinder sind eben nicht junge Erwachsene, sondern völlig andere Lebewesen, in einer eigenen Welt lebend, die ihnen von morgens bis abends zertrampelt oder verkitscht wird." 2 1 9 Die Autoren versuchen sichi zum Anwalt dieser „völlig anderen Lebewesen" zu machen, indem sie Lokolieschen (eine alte Lokomotive) - Symbol kindlicher Glückssehnsucht, das vom Verbotsschilder malenden Bürokraten zerstört und dessen Teile bei schrecklichen Kinderfeinden versteckt wurden - wieder zusammenbauen, damit es in die nun wieder heile, kitschige, wirklichkeitsferne „Kinderwelt" abdampfen kann. Um die Wiederherstellung des Nirgendwo, der Idylle geht es also, die die Autoren von Erzieh.ungspopanzen nicht „zertrampeln" lassen wollen. Der „schwarze Mann", 12*

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mit dem der Erzieher in der bürgerlichen Kinderstube droht, wird in neuen Varianten wieder bemüht und erfolgreich umerzogen: als Bürokrat, der Verbote errichtet; als Lehrer, der Kinder manipuliert; als Vater, der Kindern alles wegfrißt; als zynischer Professor, der Kinder ausbeutet und auf den Mond schießen w i l l ; als General, der die Kinder das Kriegspielen lehrt; als Putzteufel, der Kinder in Waschmaschinen steckt. Diese Kinderhasser symbolisieren Kinderfeindlichkeit schlechthin, und da ihnen ein gesellschaftlicher Bezug fehlt, ist ein Zusammenhang zur spätbürgerlichen Kinderfeindlichkeit kaum herstellbar. Die Bewahrung des kindlichen Paradieses, in das Erwachsene aufgenommen werden, wenn sie durch das Kind in sich selbst das Kind entdecken, ist mit ein bißchen Mut und Widersetzlichkeit geschafft. Das alte Schema, nur mit antiautoritärer Moral: Anstelle des guten braven Kindes, das für seinen Gehorsam belohnt wird, gilt Widerstand gegenüber Verboten und Autoritäten als Tugend. Soziale Bedingungen und individuelles Verhalten werden den dargestellten Kindern abgesprochen, wie den Erwachsenen auch. Das rettende Kind befreit die ausgelieferten Erziehungsobjekte. Am Schluß fahren alle auf dem wiedergefundenen „süßen" Lokolieschen in den blauen Dunst eines Nirgendwo, das sie vielleicht im Neill'schen Kinderparadies „Summerhill" finden. Interessant ist die Behandlung der Technik in diesem Stück. Sie ist Instrument der Kinderfeindlichkeit (Rakete, Waschmaschine). Selbst der Verräter von Lokolieschen, ein arroganter Junge, hält nur etwas von Elektroloks. Die gute alte Lokomotive aus der Dampflokzeit, aus der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs des Bürgertums, steht gegen die spätbürgerliche Zeit des Verfalls. Wie sehr die Autoren den Realitätsbezug vermeiden, beweist auch ein weiteres Detail: Verbote werden undifferenziert abgeurteilt - das Verbot, sich nicht aus dem Fenster zu lehnen, wird genauso behandelt wie das Verbot, Ball zu spielen. Das andere Vorzeichen ist noch kein neuer Inhalt, dem Nachspielen des Stückes auf der bürgerlichen Berufsbühne stand nichts im Wege, denn was bei den Kabarettisten noch angriffslustig von der Bühne kam, war im Stadttheater will180

kommener Anlaß, sich liberal zu zeigen. Schlimmstes Resultat des ersten antiautoritären Stückes: Es wurde nicht nur dem „Weihnachtsmärchen" entgegengesetzt, sondern dem Märchen überhaupt. „Sie (die Zuschauer - C. H.) begegnen Klischees schrecklicher Erziehungsmethoden, die unter Beifallsgebrüll veralbert und verniedlicht werden [. . .] Das ganze ist ein Spaß, der vieles, was es an Märchenlügen für Kinder gibt, mit Längen schlägt [. . J " 2 2 0 Maximilian Pfeiferling von Carsten Krüger und Volker Ludwig (uraufgeführt 1969/70, Neuinszenierung in bearbeiteter Fassung im Dezember 1972) wurde vom Ensemble mehr als 700mal gespielt. Das Stück bezieht sein Sujet aus dem Familienalltag in einer kleinen Neubauwohnung, den Konflikt nach wie vor aus dem schematischen Gegensatz zwischen Erwachsenen und Kindern. Die Eltern und die große Schwester haben für den Titelhelden keine Zeit, aber Max gelingt es sehr bald, sich Aufmerksamkeit zu ertrotzen. Eine Zahnlücke, durch den Verlust eines Milchzahnes entstanden, durch welche Max ohrenbetäubend pfeifen kann, wird für ihn zu einem großartigen Kampfmittel gegen die Eltern, den Lehrer und vor allem gegen den Hauswirt Brühler. Mit diesem Pfiff kann er alle unter Druck setzen und seinen Wünschen Autorität verleihen, „denn es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht". Mit kabarettistischer, antiautoritärer Schlagfertigkeit setzt er sich durch. Max ist der kleine Bruder der berühmten Pippi Langstrumpf, die mit ihrer ungewöhnlichen Stärke ebenfalls mit allem und jedem fertig wird. Das Objekt Kind wird durch diesen phantastischen Trick zum handelnden Subjekt. Damit kehrt sich, was „unten" war, zu „oberst" und umgekehrt. Tatsächliche Verhältnisse umzudrehen, zu dem Zweck, sie durchschaubar zu machen, ist ein legitimes Mittel des Theaters, auch des Kindertheaters (z. B. Prinz und. Bettelknabe), wenn auf die Lösung des realen Widerspruchs hingelenkt wird. Aber das ist in diesem Stück nicht der Fall. Als der Hauswirt wegen Max der Familie kündigt, wird er im Indianerspiel an den Marterpfahl gebunden und gesteht, einfach vergessen zu haben, daß er mit seinen Wohnungen nicht machen dürfe, was er will. Unter den Pfiffen von Max schwört er dann auch der Kinderfeindlichkeit ab. Für diese finden die Autoren sogar eine Be181

gründung: Brühler durfte als Kind wenig spielen, deshalb klaut er auch Spielzeug. Eine Scheinlösung wird geboten, und zwar auf „kindlicher" Ebene, und um gesellschaftliche Verhältnisse zu umgehen, wird die Psychoanalyse bemüht. Der abstrakte Kindbegriff führt auch hier zu Kindertümelei. D e r behauptete Antagonismus zwischen Kindern und Erwachsenen, der angeblich biologisch oder psychologisch begründbar ist, bleibt erhalten. Es ergeht der direkte Appell an die Zuschauer, „sich mit Gören-Courage in den Beengungen der Kleinfamilie durchzusetzen, ohne zu zeigen, woher diese Beengungen zwangsläufig kommen" 2 2 1 . Um die Selbstbehauptung der Kinder, die in der spätbürgerlichen Gesellschaft in einer kinderfeindlichen Umgebung leben, geht es auch in dem nächsten Stück Mugnog-Kinder, ein Spiel von Rainer Hachfeld mit Liedern von Volker Ludwig (Uraufführung 1970). An die Stelle des Pfeifens tritt die Phantasie. D i e Geschwister Tom und Pam erfinden den Mugnog, der ihnen erlaubt, was die Erwachsenen verbieten. D e r Onkel, der Hauswirt, Polizist, Bürgermeister, selbst ein Minister Amtspersonen der Erwachsenenwelt - setzen alles daran, den Mugnog zu zerstören, um ihre Macht über die Kinder wiederherzustellen. Auch dieses Stück bezieht seinen Konflikt aus dem Gegensatz Individuum (Kind) - Gesellschaft (Erwachsene). Emanzipation der Kinder v o n der Erwachsenenwelt also, in der sich, die Kinder als Außenseiter empfinden. Mit Hilfe ihrer Phantasie bewahren sich die Kinder diese Außenseiterposition, die ihnen erlaubt, nach eigenen Vorstellungen zu leben. „Durch die Aktivierung ihrer Phantasie lernen die Kinder spielend, sich gegen Kinderfeindlichkeit zu wehren und sich, wenn schon nicht die ganze Freiheit, so doch einen ,Freiraum' zu schaffen" 2 2 2 , heißt es in einer Kritik des Stücks. Danach bedeutet die Emanzipation des Kindes nicht seine Integration in die Gesellschaft, in der das Kind seinen Persönlichkeitsanspruch durchsetzen kann, sondern die Behauptung des Kindes gegen die Erwachsenen. Der Mugnog entbindet die Kinder von einfachen Normen sozialen Verhaltens und verweist sie in den „Freiraum" der Spiele. Individuelle Selbstbefriedigung steht an der Stelle der Realisierung des Menschen als gesellschaftliches Wesen im Tätigsein in und 182

für die Gesellschaft. Nur wer der Gesellschaft integriert ist, kann sie auch verändern. „Erst in der Gemeinschaft [mit Anderen hat jedes] Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich." 2 2 3 Aber wie sieht Volker Ludwig die Wirkung seines Theaters: „Doch gibt es Anzeichen, d a ß unsere .antiautoritären' Versuche Erfolge haben können [. . .] Solche Bilder (anstelle des Märchendrachens die bezwungene Meckertante) haben den Kindern nachweislich im Kampf gegen eine widerwärtige Umwelt geholfen. In unseren Spielen erfassen sie irgendwo Momente ihrer eigenen Repression, können gegen sie an- und sich freispielen, indem sie sie als zwar selten überwindbar, jedoch immer als bekämpfbar erkennen". 2 2 4 Das abstrakte Individuum rüstet sich im Spiel psychologisch gegen die Unterdrückung auf, um sie zwar nicht zu überwinden, aber zu bekämpfen. Auf diese Weise wird die K l u f t zwischen den Heranwachsenden und den Erwachsenen nicht überwunden, wohl aber zum scheinbaren Antagonismus vertieft. Diese Auffassung ist sowohl mit dem marxistischen Bild vom Menschen als auch mit sozialistischer Erziehung unvereinbar. Auch für den jungen Menschen gilt der Marxsche Satz, d a ß er „nicht irgend etwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist" 2 2 5 . D a s Kind verändert sich fortwährend, und zwar in Richtung auf den Erwachsenen. Diesem Entwicklungsprozeß trägt die sozialistische Erziehung Rechnung. „Dazu gehört", wie Clara Zetkin sagt, „daß man die Kinder in die Welt des natürlichen und sozialen Lebens und seiner Triebkräfte einführt, so d a ß sie den Menschen als Glied in der unendlichen Kette alles natürlichen und sozialen Seins erfassen lernen; d a ß man sie zum Wollen und zum Gebrauch der Freiheit erzieht." 2 2 6 D i e Methode dieser Erziehung beschreibt Edwin Hoernle: „ P l a n v o l l e S t e i g e r u n g d e s gesellschaftlichen Wertbewußtseins beim K i n d e im V e r h ä l t n i s zu s e i n e n w a c h s e n d e n Leistungen für die Gesellschaft und durch d i e s e L e i s t u n g e n [. . .] D a s Ziel der kommunistischen Kindergruppe ist ja die Eingliederung in die Klassenfront des Proletariats, sie stellt das Arbeiterkind nicht nur hinein in die

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Gemeinschaft der Kinder, sondern in die Gemeinschaft aller Proletarier. Das bedeutet: [. . .] daß ihre Propaganda und ihr Kampf sich n i c h t b e s c h r ä n k t a u f d i e W e l t d e r K i n d e r , s o n d e r n b e r e i t s h i n a u f g r e i f t in d i e W e l t d e r E r w a c h s e n e n." 2 2 7 In den ersten drei Stücken ihrer Erfolgsserie, die in der Phase entstanden, in der das Reichskabarett „etwa die Richtung des antiautoritären Lagers des SDS" 2 2 8 vertrat, kennen die Autoren keine soziale Differenzierung unter den Kindern, begreifen sie nicht die Subjekt-Objekt-Dialektik in der Erziehung, und sie beschreiben Kinderfeindlichkeit deshalb schlechthin. Mit dem Abklingen der antiautoritären Welle zeichnet sich seit 1971 eine Veränderung und eine Neuakzentuierung des Programms des Theaters ab. „Einer ist keiner. Zwei sind mehr als einer. Sind wir aber erst zu dritt, machen auch die anderen mit" (Balle, Malle, Hupe und Artur). „Seine (Grips-Theater - C. H.) Stücke spielen seit Balle, Malle, Hupe und Artur (März 1971) in proletarischem Milieu, weil die Kinder von Arbeitern und kleinen Angestellten in der kapitalistischen Gesellschaft am stärksten unterdrückt werden [. . .] Wir wollen ihnen helfen, sich in ihrer Wirklichkeit zurechtzufinden und zu behaupten, ferner ihre Verhältnisse als veränderbar zu erkennen, Kritik als unabdingbares Recht zu begreifen, und die Lust an schöpferischem Denken, an Alternativen zu erzeugen und damit die soziale Phantasie anzuregen." 2 2 9 Diese Zielstellung des Grips-Theaters nähert sich der des sozialistischen Kinder- und Jugendtheaters, ja sie ist teilweise bis in die Formulierung hinein mit ihr identisch. Balle, Malle, Hupe und Artur, entstanden in Gemeinschaftsarbeit mit dem Kollektiv des Theaters und mit Kindern, ist das erste Stück, das diese neue Konzeption verwirklichen sollte. Während sich Millipilli gegen abstrakte, schematische Verbote in einer märchenhaft idyllisierten Situation behauptet, Pfeiferling mittels einer Zahnlücke und Tom und Pam mit Hilfe des Mugnog gegen die Erwachsenen opponieren, hat hier eine Gruppe von Kindern im Westberliner Hinterhofmilieu ein neues Mittel entdeckt: die Solidarität. Verteidigt wird das Recht der Kinder auf einen Spielplatz. Das Motiv des Pro184

testes der Kinder bleibt sich also gleich, und wie berechtigt es ist, beweist u. a. auch die Hausordnung einer Münchner Versicherungsgesellschaft aus dem Jahre 1969: „Halten Sie ihre Kinder an, sich ruhig zu verhalten. An Sonn- und Feiertagen ist die Benützung der Spielplätze nicht gestattet. D i e Nichtbeachtung dieser Bestimmungen berechtigt uns ggf. von unserem Kündigungsrecht Gebrauch, zu machen. D a s Betreten der Rasenflächen ist verboten. Ebenso Ballspielen, Radfahren und Rollschuhlaufen." 2 3 0 (Das bedeutet, daß die Kinder, wenn sie dem nur selten vorhandenen Buddelkasten entwachsen sind, quasi überhaupt nicht mehr spielen können, denn was können sie auf dem Großstadt-Asphalt anderes tun, als die verbotenen Dinge.) Ohne Zweifel ist die Bemühung um eine realistische Abbildung der Verhältnisse im Stück spürbar, besonders in der Darstellung der Spiele der Kindergruppe. Erstmalig werden auch Widersprüche unter den Kindern gezeigt, Arturs Führungsanspruch in der G r u p p e kritisiert, ebenfalls seine kritiklose Übernahme von Leitbildern. So sind diese Spiele Übungen für soziales Verhalten unter Kindern. Gewiß haben es die Kinder leicht, sich gegenüber ihren „Gegnern" - zwei Polizisten, die man weder in ihrer Funktion als Diener der herrschenden Macht noch als Erwachsene sehr ernst nehmen muß - durchzusetzen. Die Gegner sind zwei ulkige Typen, etwas vertrottelt und mit albernen Versen hantierend, die in einem leeren Haus ihren Kaffeeklatsch halten und nicht mehr solche Popanze an Kinderfeindlichkeit sind wie in den früheren Stücken. Von daher haben sie auch die Möglichkeit, am Schluß auf die Wünsche der Kinder einzugehen. Gewiß sind diese Figuren mit realen Polizisten kaum vergleichbar, aber die Absicht der Autoren, den Kindern spielerisch die eigene Stärke durch Gemeinsamkeit bewußt zu machen, gelingt. Natürlich polemisiert die bürgerliche Kritik gegen den agitatorischen Zug des Stückes, der auch in den folgenden Stücken immer deutlicher hervortritt. Sie fordert die alten .Reibflächen zwischen dem Willen der Kinder' und den „Bedingtheiten des öffentlichen Lebens" 2 3 1 *. Der Konflikt des Stückes ist real, denn verständlicherweise muß die Ordnungsmacht eingreifen, wenn Kinder ein leerstehendes Haus als Spielplatz annektieren. Fiktiv sind die Vorgänge auf der 185

Wache, durch welche die Solidarität der Kinder siegreich wird. Dadurch wird ein Problem des Kindertheaters markiert, das auch uns nicht fremd ist: Ist es statthaft, um Kindern Zuversicht und Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten zu vermitteln, fiktive Situationen zu schaffen, in denen sich, die E r wachsenen-Figuren relativ hilflos ausnehmen, weil sie sich Kindern gegenübersehen, d. h. die Subjektivität des Kindes zu erhöhen auf Kosten einer vereinfachten objektiven Realität. Schedler beantwortet die Frage so: „Man hat ,Balle, Malle, Hupe und Artur' vorgeworfen, d a ß auch hier wieder Stereotypen aufträten, die im Grunde nur eine Neuauflage der eben verjagten Märchentypen seien. Zurechtrückend ist dazu zu sagen, d a ß das ,Reichskabarett' in seinen ersten Stücken oft eher Karikaturen verwendet hat, d a ß aber die Etablierung von Stereotypen, wie sie seit dem ,Pfeiferling' zu beobachten ist, auf dem Kindertheater durchaus legitim sein kann, nämlich dann, wenn sie von einer nachprüfbaren Wirklichkeit abstrahiert sind und zur Verdeutlichung gesellschaftlicher Zusammenhänge eingesetzt werden. Auch die Figuren des Volksmärchens hatten ursprünglich ein solches soziologisches Passepartout [. . .] "232 Das Kriterium, mit dem Schedler das Reichskabarett verteidigt, ist ohne Zweifel richtig, nur ist es im Stück nicht gegeben. D i e Polizisten sind weder von der „Wirklichkeit abstrahiert" noch dient ihr Verhalten der „Verdeutlichung gesellschaftlicher Zusammenhänge". Behandelt wird lediglich der Fakt, daß Kinder im wörtlichen und übertragenen Sinne keinen Spielraum haben und d a ß ihnen gemeinsames Handeln unter günstigen Umständen eventuell dazu verhelfen kann, sogar mit Unterstützung einsichtiger Polizisten. D a m i t werden nicht nur gesellschaftliche Zusammenhänge verschleiert, sondern auch politische Illusionen erzeugt. An den gesellschaftlichen Prozessen haben die Kinder weiterhin keinen Anteil. Attackiert werden die Zustände in der Mülltonnenstraße, die freilich, wie das Stück glaubenmachen will, auch nicht durch den Zusammenschluß der Kinder zu einem K a m p f b u n d gegen die etablierte Macht verändert werden können. Hier scheint das alte Schema wieder durch: der Gegensatz zwischen den Bedürfnissen der Kinder und der Welt der Väter. N u r indem 186

man sich g e g e n sie behauptet, erreicht man etwas, nämlich väterliche Einsicht. „Einiges an diesem dynamischlustigen Theaterspiel [. . .] soll noch manchem antiautoritär erscheinen. In Wirklichkeit bricht das Stück eine Lanze für liberale Erziehung. Rädelsführer sind nicht mehr ,in', .Oberen' wird kein blinder Gehorsam entgegengebracht, und es lohnt sich die Mühe, sich von der emanzipatorischen Qualität der Stück versucht das Grips-Theater das Milieu der Arbeitermitreißenden Kinderhandlung zu überzeugen." 233 Mit diesem kinder zu erfassen, aber es wird der Forderung Hoernles nicht gerecht: Die Kinder „müssen ihr Milieu als Teil der proletarischen Klassenlage begreifen" 2 3 4 . J e konkreter der Gesellschaftsbezug in den Stücken wird, um so problematischer werden die Konfliktlösungen, die eben nicht allein von der Position der Kinder aus zu finden sind. Der Zuwachs an realistischen Details in den Stücken kann darüber nicht hinwegtäuschen. In Trummi kaputt von Volker Ludwig (Premiere am 18. November 1971) emanzipieren sich die Kinder nicht mehr von der Welt der Erwachsenen, sie setzen auch nicht nur ihre eigenen Bedürfnisse durch, sondern bemühen sich um Verständnis für das Verhalten der Erwachsenen, indem sie nach der Ursache von Reaktionen, z. B. Kindern gegenüber, fragen. Die Antwort wird eindeutig aus der sozialen Stellung im Produktionsprozeß, aus der Klassenlage von Heinis Mutter gewonnen. Die Demonstration der Akkordarbeit am Fließband gehört zu den eindrucksvollsten Szenen in der Darstellung von Produktionsarbeit auf der Bühne des Kindertheaters. Der Erkenntnisprozeß der Kinder - sie begreifen das Gemeinsame ihrer Lage - führt zur organisierten Aktion gegen den Fabrikbesitzer. Das Grips-Theater nähert sich damit Positionen proletarischer Erziehung: „Wir wollen und können nicht das proletarische Kind dieser Umwelt entfremden, denn es soll ja lernen, i n n e r h a l b d i e s e r U m w e l t kämpfend d i e s e U m w e l t z u v e r ä n d e r n." 2 3 5 Zwar besteht in dem Stück eine größere Gemeinsamkeit und damit auch Partnerschaft zwischen Kindern und Erwachsenen (Heini und seine Mutter, Fabrikant Trumm und sein Sohn), aber der Bewußtseinsstand wird bei den Kindern weit höher angesetzt als

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beispielsweise bei Trumms Arbeiterinnen. Die Kinder führen auch den Klassenkampf gegen Trumm allein. Dabei geht es aber nicht um die Änderung der Verhältnisse, sondern um die Wiedereinstellung von Heinis Mutter, die wegen Diebstahl eines Ersatzteiles die fristlose Entlassung erhielt. Durch diesen dramaturgischen Trick wird die Hauptfrage - die Ausbeutung - umgangen. Zwar werden den Kindern stärker als bisher, in dieser Form sogar erstmalig im Kindertheater deutschsprachiger kapitalistischer Länder gesellschaftliche Zusammenhänge verdeutlicht, aber die Vorschläge zur Veränderung sind ebenso naiv wie bürgerlich illusionär. Die Emanzipation des Kindes erfolgt hier vom kapitalistischen Konsumzwang, d. h. von einem der berühmten „Sachzwänge", von der Manipulierung von Bedürfnissen im Interesse des Profits. Der Verzicht auf teures Spielzeug, mit dem man ohnehin kaum etwas anfangen kann, mag möglich; und im Interesse der Förderung der Phantasie sogar nützlich sein, aber hilft diese Selbstversorgung auch bei Kleidung und Lebensmitteln? „Wir wollen in Zukunft nach Erfahrungen mit dem rein antiautoritären zu einem differenzierten Theater kommen. Wir wollen Kinder über für sie unverständliches Verhalten ihrer Eltern aufklären, das durch die Lebensumstände geprägt ist, wir wollen vor einer Erziehung zu ,Rollen' warnen, die sie in Mädchen- oder Jungen-Muster zwängen." 2 3 6 Die Überwindung des rein antiautoritären Kindertheaters bedeutet auch die Überwindung der einfachen Umkehrung jener Erziehungsmethodik, die die Erwachsenen zu Erziehungsobjekten der Kinder macht, was die Kinder nur von einer Position außerhalb der Gesellschaft und mit „angeborener" natürlicher (naiver) Vernunft vermögen. In Trummi kaputt ist die Einheit der Welt wieder hergestellt, die Kinder sind der Gesellschaft integriert. Partei ergreifend für das Kind, versucht das Grips-Theater tiefer in die gesellschaftlichen Zusammenhänge einzudringen; es durchläuft dabei selbst einen Klärungsprozeß, der an den Stücken ablesbar ist. Das Ensemble des Grips-Theaters geht vom Kinde aus und faßt es als Subjekt auf, aber bei all seiner subjektiven Ehrlichkeit ist seine Grundposition widersprüchlich. „Die revolutionäre Klasse sieht im Kinde nicht nur das Objekt ihrer Erziehung, 188

sondern Objekt und Subjekt zugleich. Unsere Erziehung geht sowohl ,vom Kinde aus', [. . . ] w i e v o n d e r K l a s s e a u s (Hervorhebung - C. H . ) . " 2 3 7 Dazu können sich die Autoren nicht entschließen und bleiben so auch der Ideologie des Bürgertums verhaftet. Auch in dem aufgeklärten Partnerschaftsverhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen sind die Kinder diejenigen, die den Älteren ihre Lage bewußtmachen, bewirken sie die Veränderungen, sind sie es, die sich gegen die gegebene Lage wehren. „Dem Resignierenden und Skeptiker wird die ,Welt des Kindes' zur geistigen Zufluchtsstätte, weil er glaubt, von ihr aus den Gebrechen der ,großen Welt', der bürgerlichen Gesellschaft, beikommen zu können." 2 3 S Mannomann von Volker Ludwig und Rainer Lücker (uraufgeführt am 31. Mai 1972) erzählt wieder die Geschichte einer Arbeiterfamilie. D i e Autoren versuchen Verhaltensweisen gegenüber Kindern aus der sozialen Lage der Erwachsenen zu erklären, wobei sie im Sinne folgenden Zitats verfahren: „Offensichtlich haben wir in der modernen Industriegesellschaft ein großes Reservoir an verdrängter Aggressivität zu vermuten. W o diese keinen unmittelbaren Ausdruck finden kann, da kann sie gegen die verschiedensten Sündenböcke mobilisiert werden, die mit ihrer Entstehung gar nichts zu tun haben. Als Sündenböcke müssen immer die Minoritäten, die Abhängigen, die Schwachen herhalten. Ein Bergmann hat dem Arbeitspsychologen Hellmut Sopp plastisch beschrieben, wie das abläuft: ,Der Betriebsleiter hat Krach mit seiner Frau, kommt gegen sie nicht an. Also saut er die Steiger an. D i e kommen gegen ihn nicht an, sauen die Kumpels an. Der Kumpel kommt mürrisch nach Hause, meckert die Frau an. D i e ist nervös und ärgerlich und verprügelt die Kinder. D i e können nicht gegen die Eltern an und versohlen die Katze. O b die weiß, wofür sie es gekriegt hat?' D i e Zusammenhänge sind natürlich hier arg personalisiert. Denn es sind nicht nur Vorgesetzte, Stärkere, Menschen, die solche Pression erzeugen. E s sind in wohl noch stärkerem Maße die vielberufenen ,Sachzwänge', der Leistungsdruck." 2 3 9 In Mannomann ist derselbe Vorgang „personalisiert", nur mit dem Unterschied, daß die Kinder nicht die Katze versohlen, sondern sich wehren. Durch die Aktivität der Kinder wird der eben beschriebene Mecha189

nismus aufgedeckt: „Der Chef der brüllt den Krause an / Der Krause brüllt den Vati an / Der Vati brüllt die Mutti an / und Mutti brüllt mit uns." 240 Nachdem der Vater diesen Mechanismus mit Hilfe der Kinder begriffen hat, beginnt er sich im Betrieb gegen die Schikanen des Vorarbeiters Krause zu wehren und mobilisiert auch seine Arbeitskollegen zum Kampf um gewerkschaftliche Rechte. Dieses persönliche Erfolgserlebnis verwandelt den Haustyrannen in einen umgänglichen Partner der Familie, der sich nun auch nicht länger vor dem Hauswirt duckt. Die sozialen Ungerechtigkeiten sind damit zwar nicht aus der Welt geschafft, z. B. die unterschiedliche Bezahlung von Mann und Frau für gleiche Arbeit, aber in dieser Familie funktioniert die Demokratie, die „Rollen" werden abgebaut und eine gerechte Arbeitsverteilung eingeführt. Das Stück steht unter dem Einfluß der Theorie eines emanzipatorischen Kindertheaters, die auf den KindertheaterKonferenzen in Marl (1970) und Westberlin (1971) und in einer Studie des Bühnenvereins ausgearbeitet wurde. Diese Theorie fußt auf revisionistischen philosophischen Positionen, die von Hans Hiebsch wie folgt charakterisiert werden: „Eine solche Akzentuierung trägt allemal die Gefahr in sich,, die Rolle der Erziehung bei der Aufhebung der Entfremdung zu überschätzen. In dem ,Entfremdungsgeschwätz', wie es gegenwärtig z. B. in der westeuropäischen Sozialdemokratie und leider auch unter marxistischen Philosophen Mode geworden ist, ist diese Gefahr akut geworden; indem man die noch unklare Diktion des jungen MARX gegen den historisch weiterentwickelten und praktisch verifizierten Marxismus-Leninismus ausspielt, verzichtet man in revisionistischer Absicht auf die e n t s c h e i d e n d e n Gedanken von MARX über die ökonomisch-gesellschaftliche Bedingtheit der Entfremdung und kommt somit zu einem unklar-allgemeinen Begriff der Entfremdung und zur Theorie von der p s y c h o l o g i s c h e n (Hervorhebung - C. H.) Aufhebung dieser spezifisch kapitalistischen Erscheinung." 241 Als eine der wichtigsten Methoden zur psychologischen Aufhebung der Entfremdung gilt das Theater. Die Theoretiker einer Theater- und Interaktionspädagogik berufen sich auf Jürgen Habermas und entwickeln eine „Rollentheorie", die davon ausgeht, daß dem Menschen 190

in der Gesellschaft eine bestimmte Rolle aufgezwungen wird, von der er sich mittels Spiel und Theater durch „Rollendistanz" befreien und zu einem „flexiblen Rollenverhalten" geführt werden kann. „Indem es (das Kind - C. H.) Rollendistanz, Verfremdung kennenlernt, soll es fähig werden, Entfremdung zu überwinden. Entfremdung, die es in einer entsprechenden Umwelt, die es in Form von Repressionen erleiden muß. Zusammenfassend heißt das: Spielformen und daraus ein neues Kindertheater zu entwickeln, deren Schwerpunkt die S o z i a l i s a t i o n ist." 2,52 Was in diesem Zusammenhang unter Sozialisation verstanden wird, formuliert Arno Paul: „Die Sozialisation sollte dem Menschen zu einem G r a d von Ichstärke verhelfen, der es ihm ermöglicht, Konflikte mit sich selbst und der Umwelt im emanzipatorischen Sinne zu lösen." 2 4 3 Die dargestellten Kinder der Grips-Theater-Stücke erleben die Entfremdung in erster Linie durch Repression, und sie wehren sich dagegen. Während in den ersten Stücken der Unterdrücker mit dem Erwachsenen identisch ist oder mit dem Vertreter ausübender Macht gleichgesetzt wird, ist in Mannomann und Trummi kaputt als Ursache dieser Unterdrückung die Entfremdung der Arbeit gefunden. D i e Fließbandarbeiterin und der Gabelstaplerfahrer Rudi leiden unter der E n t f r e m d u n g der Arbeit und suchen sich in der Familie ein Ventil, um ihre Aggressivität abzuleiten, und die Kinder erleiden diese Entfremdung als Repression durch die Erwachsenen, wobei die Kinder, indem ihnen Verhaltensmuster anerzogen werden (Mädchen-Rolle, Jungen-Rolle), auch direkt der Entfremdung ausgesetzt sind. Wenn die Kinder in Mannomann diese Rollen in ihren Spielen durchspielen, erreichen sie Distanz zu ihnen. Selbst die brave Annemarie, die eine ebenso gute Hausfrau werden möchte wie ihre Mutter, weigert sich im Spiel, die Hausfrau zu geben, weil sie keinen Lohn bekommt. Dabei weisen diese Grips-Theater-Stücke eine Reihe richtiger Detailbeobachtungen auf, treffen ihre kabarettistischen Pointen oft ins Schwarze. Ohne Zweifel ist es ein Verdienst, den Kindern gesellschaftlich^ Zusammenhänge in ihrer Umgebung bewußt zu machen und sie aufzufordern, sich zu solidarisieren und zu wehren. „Dazu brauchts etwas Grips, weiter 191

nix!" 2 4 4 Mit dem so gestärkten Selbstbewußtsein kann man freilich nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse so verändern, d a ß die Entfremdung der Arbeit tatsächlich, aufgehoben wird, aber man kann sich von „Rollenzwängen emanzipieren". D a ß diese Emanzipation im Rahmen des herrschenden Gesellschaftssystems bleiben muß, wird sowohl von den Autoren der Grips-Theater-Stücke als auch von den neuen Kindertheater-Theoretikern stillschweigend vorausgesetzt. „Im Spiel werden die Fesseln der sozialen Realität nicht wirklich abgestreift, aber es ist möglich, in ihm die Befähigung zu wecken, zu stärken und zu differenzieren, durch die Kinder den Abstand zu ihrer Lage zu gewinnen, der sie davon befreit, nur ein einmal angesonnenes Verhalten nach vollziehen zu müssen. So können sie [. . .] Rollendistanz lernen: dadurch, d a ß sie erfahren, daß man eine Rolle in der gleichen Situation unterschiedlich spielen kann, dadurch, d a ß sie die gleiche Situation als Träger verschiedener Rollen durchspielen, wird ihnen der Spielraum für Handlungsalternativen vermittelt; hinter den Rollen wird eine Ich-Instanz erfahrbar, die ihre Identität in der Kombination und Variation der Rollen zu wahren hat, die B a l a n c e z w i s c h e n p e r s ö n l i c h e m u n d sozialem Anspruch faltend (Hervorhebung C. H.)." 2 4 3 Diese Balance dient keinem anderen Zweck, als den Menschen von Kindheit an für die spätkapitalistische Gesellschaft disponibel zu machen. Selbst die Phantasie wird in diesem Sinne bemüht. Sartre, Breton und Marcuse folgend, meinen die Kindertheater-Theoretiker: „Erst wenn die Phantasie wieder zu einer der bestimmenden Größen wird, dann kann sich der Mensch emanzipieren, denn dann kann er Vorstellungskraft genug entwickeln, sich seiner Fähigkeiten bewußt zu werden, die Fesseln der Entfremdung abzuwerfen und damit ganz Mensch zu werden, zu einem ganzheitlichen Menschen, der die Rollenzwänge ablehnt. Das Spielen von Schauspiel-Rollen auf der Bühne ermöglicht das Erkennen von Rollen und damit ihre Ablehnung." 2 4 6 Diese Kindertheater-Theorie bezieht sich in erster Linie auf das Kind als Akteur; aber mit den Kindergestalten des GripsTheaters wird oft antizipiert, was als Effekt eines solchen Theaterspiels mit Kindern erreicht werden soll. D i e Kinder 192

in Trummi kaputt kriegen den Fabrikanten klein, indem sie ihre Phantasie (sie spielen Lokomotive und verzichten auf die schicke Westernlok) einsetzen. D e r Fabrikant kann ihr Spielzeug weder kaufen, noch produzieren. 247 Es ist kein Zufall, daß diese Rollentheorie im Kindertheater Fuß fassen konnte. D a die Kinder noch nicht im Produktionsprozeß stehen und ihre vornehmliche Tätigkeit im Vorschulalter im Spiel, besonders auch im Rollenspiel besteht, kann diese Theorie auf Kinder einigermaßen schlüssig angewandt werden. „Getrennt von der Produktion, befreit davon, sich ihren Unterhalt zu verdienen, sind sie (junge Menschen C.H.) einer Propaganda ausgesetzt, die nur innerhalb der gesellschaftlichen Produktion ihre Wirkung verlieren kann." 2 4 8 Es ist interessant, daß die Selbstverwirklichung des Kindes vornehmlich im Spiel und nicht im Lernen gesucht wird. So wie die Selbstverwirklichung des Erwachsenen in den Freizeitbereich delegiert wird, so wird auch dem Kind, das die meiste Zeit seiner Kindheit in der Schule verbringt und sich auch im Lernprozeß realisiert, lediglich im Spiel Kreativität zuerkannt. Grips-Theaters nächstes Stück spielt am Arbeitsplatz der Kinder - in der Schule. Doof bleibt doof, ein Theaterstück für Menschen ab acht von Ulrich Gressieker, Volker Ludwig und Reiner Lücker (Uraufführung am 16. Februar 1973), beschreibt den Lehrermangel, die überfüllten Klassen und Verhaltensweisen von Kindern einer vierten Klasse in der Schule und in der Freizeit. Hauptfigur ist Erwin, genannt Brille, Sohn einer Hauswartsfrau, der als Sitzenbleiber in die Klasse kommt und dem Gespött und den Quälereien seiner Mitschüler gleichermaßen ausgesetzt ist wie der Fehleinschätzung des Lehrers und angespannter häuslicher Verhältnisse. So wird er in die Rolle des Außenseiters gedrängt, die ihm keine andere Chance läßt, als weiter abzurutschen - doof bleibt doof. Dieses Stück hat einen neuen Stellenwert im politischen Klärungsprozeß des Grips-Theaters. Brille wird von der Gesellschaft in die Außenseiterpositionen gedrängt, von der Kindergruppe, die ihn als Sündenbock benutzt, vom Lehrer, dem die Klassenstärke keine Zeit zu intensiver Beschäftigung mit den Schülern läßt und der die Klassenstärke verringern muß, um nicht

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Hoffmann

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mehr als vierzig Schüler in der Klasse zu haben, und schließlich auch von der Mutter, die ihn für häusliche Arbeiten beansprucht. Aber „als roter Faden der Geschichte dient das psychologische Modell vom Sündenbock. Eine recht verzwickte wissenschaftliche Erklärung von Verhaltensformen im Kollektiv, die letzten Endes nur über die Klassenfrage hinwegtäuschen soll. Solange allerdings der zynische Sozialdarwinismus der sogenannten Leistungsgesellschaft unser Leben bestimmt, wird der Inhalt des Stückes aktuell sein." 2 4 9 Dadurch, daß Brille keine subjektiven Möglichkeiten hat, wird eine objektive Sicht erschwert. Einige Kritiken hoben sogar hervor, d a ß die jugendlichen Zuschauer zusammen mit den Darstellern der Kinder über „Brille" lachen. D i e Kritik vernachlässigt, „welchen Anteil die sozialen Voraussetzungen an der Rolle haben, die Brille spielen muß" 2 5 0 , was durch die Psychologisierung der Figur des Brillenträgers und vor allem durch die Lösung des Konfliktes leider gestützt wird. Als auch noch drei weitere Mitschüler befürchten müssen, das Klassenziel nicht zu erreichen, solidarisieren sie sich mit Erwin und fragen nach den Ursachen. In einem Spiel im Spiel, im Rollentausch, wird die Antwort gesucht: Der Lehrer steht unter dem Druck des Direktors, der Direktor ist von seiner vorgesetzten Schulbehörde abhängig, und der Minister setzt sich im Parlament nicht durch. Deshalb stellt der Staat nicht genügend Mittel zur Verfügung, und so gibt es für „kleine Kinder" keine „kleinen Klassen", und so müssen Erwin und seine Mitschüler dran glauben. D i e Kinder erspielen sich Kenntnisse von einer festen Hierarchie, in der die Vertreter der einzelnen Stufen in der Wirklichkeit ihre „Rollen" schlecht spielen. Hier taucht sie wieder auf - die „Rollentheorie" als Mittel, die wirklichen Zusammenhänge zu überspielen, zu dem Zwecke, die Mißstände in der Schule zu einer Ressortfrage zu erklären. „Was liegt da näher, als ein Idealmuster des Klassenstaates dramatisch vermittelbar zu machen, mit Hilfe dessen jeder seine ihm zugewiesene Position verinnerlichen kann, und wenn der Augenblick des Auftritts im D r a m a der sozialen Wirklichkeit gekommen ist, repetiert der Eleve das im Mitspiel Eingeübte und spielt damit den Herrschenden zum Gefallen jenes Rollenfach, das in der Theatersprache

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T r e s u t i 1 e heißt. Der, der es ausfüllt, ist überall zur Zufriedenheit der Regie zu verwenden und s e h r n ü t z l i c h . " 2 5 1 Ohne den Autoren diese Absicht zu unterstellen, bleibt das objektive Ergebnis: Das Spiel - „Idealmuster des Klassenstaates" - wird der Wirklichkeit gegenübergestellt und als Weg der Annäherung beider Zivilcourage und solidarischer Zusammenschluß von Kindern, Lehrern und Eltern proklamiert. Dieser Appell, sich gemeinsam zu wehren, der auch in diesem Stück mit Nachdruck vorgetragen wird, soll auch mit Nachdruck als positiver Ansatz dieses Kindertheaters hervorgehoben werden. 1.

Erika ist mies und fad Doch Pappi ist Regierungsrat Drum macht sie ganz bestimmt das Abitur. Peter ist gescheit und schlau Doch sein Vater ist beim Bau Drum geht er bis zur 8. Klasse nur.

2.

Einigen hilft alle Welt Doch den meisten fehlt das Geld Sie müssen täglich kämpfen um ihr Recht. Darum Kinder, aufgepaßt Daß ihr euch nichts gefallen laßt Denn keiner ist von ganz alleine schlecht.

Refrain: Doof geborn wird keiner doof wird man gemacht. Und wer behauptet, doof bleibt doof Der hat nicht nachgedacht. Doof geborn wird keiner Doof wird man gemacht. Und wer behauptet, doof bleibt doof Vor dem nehmt euch in acht. 252 Das Ensemble des Grips-Theaters ist eng mit dem Kindertheater im Märkischen Viertel Westberlins verbunden. Die Erfahrungen, die die Leiter Helme Ebert und Volkart Paris 13*

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in der Arbeit mit Arbeiterkindern in diesem Milieu machen, die Probleme, die die Kinder im darstellenden Spiel zum Ausdruck bringen, gehen unmittelbar in die Stücke des GripsTheaters ein. Sie sind nicht zuletzt deshalb lebensnah und aktuell und demonstrieren verschiedene Seiten spätbürgerlicher Kinderfeindlichkeit: die Selbstherrlichkeit der Hauswirte, mit der die Kinder schon allein durch ihre Existenz fast täglich kollidieren, den Mangel an Spielplätzen und auf der anderen Seite eine profitable Spielzeugindustrie, die Stellung der Frau in der Gesellschaft und ihre Auswirkung auf die Kinder, Lehrermangel und die sogenannten gleichen Bildungschancen usw. Die Autoren beschränken sich nicht auf das Konstatieren der Zustände, sie suchen nach Lösungen und sehen sie in der Solidarität zunächst der Kinder (Balle, Malle, Hupe und Artur), in den letzten drei Stücken unter Einbeziehung der Erwachsenen, der Eltern und Lehrer, also der unmittelbaren Bezugspersonen der Kinder. D e m Egoismus, der Vereinzelung des Menschen wird soziales Verhalten und Kollektivität entgegengesetzt. In jedem Stück sind Kinderspiele entweder kontrapunktisch zur Fabel oder als Variante einer Situation unter Erwachsenen eingebaut, die den Kindern richtiges und falsches Verhalten verdeutlichen, die ihnen eigene Manipulierung oder kritische Erfahrung mit Erwachsenen vorführen. Sie dienen der Absicht der Autoren, den Kindern ihre Situation bewußt zu machen. Das Grips-Theater sagt den Kindern aber auch, daß man sich wehren muß, genieinsam wehren muß. Dieses kollektive Handeln trägt es mit großem Genuß vor, und indem es die Zuschauer in das Spiel einbezieht (es spielt im Kreise der Zuschauer), macht es Lust zur Veränderung, stärkt es kindliches Selbstbewußtsein. Dieses Ernstnehmen der Kinder, das Parteiergreifen für die „Minderjährigen" unter den eingangs beschriebenen Verhältnissen, stellt eine demokratische Haltung dar. D a s Verdienst des Grips-Theater-Ensembles besteht auch darin, d a ß es das Kind aus dem gesellschaftlichen Ghetto befreit und der Gesellschaft integriert, wenngleich das nur in die sozialdemokratisch aufgeklärte Familie, aber immerhin auf demokratische Weise geschieht. Dabei sollen die fiktiven Lösungsmodelle nicht übersehen werden, aber sie bewirken, wie 196

im Märchen auch, kindliche Zuversicht in die eigenen Möglichkeiten, verurteilen blinden Gehorsam und befürworten kritisches Denken. (In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß das Ensemble auf Grund der Rezension in der Wahrheit, dem Organ der SEW, den Schluß des Stückes veränderte, die Parlamentsszene eliminierte und zu solidarischem Handeln von Eltern und Lehrern aufforderte.) Das GripsTheater hat seine „antiautoritäre" Außenseiterposition aufgegeben und versucht sich innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu behaupten. Das Ensemble gehört zu den demokratischen Kräften in Westberlin - als Mitglied der Westberliner Volkstheaterkooperative, als Mitgestalter des Programms der Kulturtage „Progressiver Westberliner Kunst". Es geht von den Bedürfnissen der Kinder aus; eine neue Haltung, aber auch mit einer alten Begrenzung.

Wie für Erwachsene — nur besser

Mit der Begründung eigener Theater für Kinder und Jugendliche hob die sozialistische Gesellschaft die Aussperrung der jungen Generation aus dem Theater zugleich insgesamt auf. Die Arbeiter- und Bauernmacht stellte für die Einrichtung von Kinder- und Jugendtheatern umfangreiche Mittel zur Verfügung und erklärte sie zum Gesetz. Der neue Theatertyp trat gleichberechtigt neben die „Erwachsenentheater", ein jetzt auftauchender Begriff, der nur aus der Sicht der Kinder- und Tugendtheater seinen Sinn erhält (so wie das Puppentheater vom „Menschentheater" spricht). Dieser Begriff wurde symptomatisch für eine Entwicklungsphase, in der sich das Kinder- und Jugendtheater durch gesamtstaatliche Förderung und eigene Leistung seinen Platz erwarb, diesen sowohl gegen das „Erwachsenentheater" abgrenzend wie als ebenbürtig behauptend. Daraus resultierte ein Auffassungsgefüge, das eine Sonderstellung des Kinder- und Jugendtheaters befestigte. Gegenwärtig ist deutlich erkennbar, daß das Kinder- und Jugendtheater der DDR in eine qualitativ neue Phase seiner Entwicklung eintritt: Es hebt bei weiterer Ausprägung seiner Besonderheiten seine lange behauptete Sonderstellung auf. In dem Maße nämlich, wie die Erziehung der jungen Generation nicht mehr auf die speziell dafür geschaffenen Institutionen beschränkt bleibt, sondern zum gesamtgesellschaftlichen Anliegen wird, vollzieht sich auch im Verhältnis der Kinder und Jugendlichen zum Theater und des Theaters zu jungen Zuschauern eine Veränderung. Es findet ein Annäherungsprozeß statt, in dem sich das gewachsene Partnerschaftsverhältnis zwischen den Generationen ausdrückt; traditionelle Vorstellungen werden aufgehoben und gezogene Grenzen in Fluß 198

gebracht. Auf der einen Seite bemühen sich alle Theater um den jungen Zuschauer, und dies nicht in separaten Studios oder Veranstaltungen, sondern in ihrer gesamten Theaterkonzeption. Diese verstärkte Hinwendung zum jungen Publikum .ist sowohl ein Ergebnis der Jugend- und Kulturpolitik von Partei und Regierung als auch Ausdruck des Ansehens, das Thieaterarbeit für junge Zuschauer zunehmend genießt und das einen Reifegrad anzeigt, den das Kinder- und Jugendtheater erreicht hat. Auf der anderen Seite bleiben die kulturellen Bedürfnisse der jungen Generation immer weniger auf eine spezifische Kunst und Literatur beschränkt, sondern greifen aus auf den Gesamtbesitz des Erbes und des zeitgenössischen Schaffens. Die Stufen der Aneignung sind dabei individuell außerordentlich verschieden, und die Eignung künstlerischer Werke für besondere Altersstufen, die zweifellos Unterschieden unterworfen ist, lassen sich kaum in Normen erfassen. Aus diesem Grund kommt der dramaturgischen Arbeit am Kinder- und Jugendtheater immer auch ein pädagogischer Aspekt zu. Durch diesen Annäherungsprozeß verändert sich auch die Position des Kinder- und Jugendtheaters selbst. E s hört auf, eine Art Vorstufe des „Erwachsenentheaters" zu sein, und es vollzieht einen Integrationsprozeß in das Ensemble der Theater, von denen es sich nun durch andere Qualitäten abheben muß als durch den bloßen Umstand, das Bedürfnis der jungen Generation nach Theater zu wecken und zu befriedigen. Unter Integration wird in diesem Zusammenhang verstanden, daß das Kinder- und Jugendtheater eine Sonderstellung aufgibt, die einen Mangel kompensierte und dabei eine öffentliche Mentalität erzeugte, die diesem Theatertyp alle Rechte vollwertigen Theaters einräumte mit der einen Einschränkung, daß es für einen noch nicht vollwertigen Zuschauer gemacht wird. Dies drückt sich in Formulierungen folgender Art aus: E s gibt keinen besonderen Gegenstand für das Kinder- und Jugendtheater, aber ein besonderes Repertoire. D a s Kinderund Jugendtheater ist Theater wie anderes auch, aber zugleich hat es eine eigene Funktion im Erziehungs- und Bildungssystem. Der Schauspieler am Kinder- und Jugendtheater ist Künstler wie jeder andere Schauspieler, aber er ist zugleich 199

Pädagoge, indem er seinem Zuschauer etwas vermittelt. Das Kinder- und Jugendtheater unterwirft sich künstlerischen Maßstäben, aber es berücksichtigt das begrenzte Aufnahmevermögen seines Zuschauers in den Altersgruppen. Die Kritik betrachtet die Existenz des Kinder- und Jugendtheaters mit Wohlwollen, versichert aber zugleich, von seiner „Spezifik" nichts zu verstehen und behandelt es demgemäß. Das Kinder- und Jugendtheater hat Zuschauer, aber seine Zuschauer werden meist von Pädagogen mit der Schulklasse in das Theater geführt. Das Kinder- und Jugendtheater ist im besonderen Maße auf die Entwicklung von Stücken angewiesen, aber die so entstehenden Stücke werden unter angeblich besonderen dramaturgischen Gesichtspunkten „entwickelt". Darüber eine hervorragende Stelle bei Jewgeni Schwarz: „Ich bin überzeugt davon, daß i. der Unterschied Schriftsteller - Kinderschriftsteller, Dramatiker - Kinderdramatiker ein reines Vorurteil ist, 2. die Arbeit am Wort an einem Kinderstück nicht weniger und nicht leichter ist als die Arbeit an einem Roman mit vierzig Druckbogen, 3. die Gerüchte darüber, daß die Charaktere in einem Kinderstück unkomplizierter sein müssen, stark übertrieben sind, daß 4. die Gerüchte, daß eine bessere Sprache nicht über die Rampe geht, Lüge sind, 5. die Gerüchte darüber, daß im Stück für Kinder einfach handhabbare und leicht erkennbare Ideen erforderlich sind, fragwürdig sind. Die Spezifik des Kinderstückes gibt es, aber an ihr ist nichts Abstoßendes." 2 5 3 Besonderheiten des Kinder- und Jugendtheaters gibt es, aber sie folgen ausschließlich aus seinem besonderen Zuschauer, und dieser Zuschauer bedeutet für dieses Theater keine E i n e n g u n g , sondern eine E r w e i t e r u n g seiner künstlerischen Möglichkeiten. Diese künstlerische Erweiterung muß das Kinder- und Jugendtheater gegen zwei hinderliche Auffassungen durchsetzen. Die eine besagt, daß der junge Zuschauer begrenzte Rezeptionsvoraussetzungen für Kunst habe und dem Theater für junge Zuschauer engere künstlerische Grenzen gezogen seien. 254 * Die andere Auffassung hat dieselbe Wurzel, aber ein anderes Resultat: Da von einem Künstler nicht verlangt werden könne, seine Arbeit auf einer „mittleren Linie" der Qualität zu halten, werde sich das Kinder- und Jugendtheater bei einer Steigerung 200

seines künstlerischen Anspruchs notwendig vom jungen Zuschauer entfernen und sich an den erwachsenen Kunstkenner wenden. Gegen die zweite Auffassung sagt Brjanzew, daß das Kinder- und Jugendtheater ein erweitertes Theater für E r wachsene ist, daß es für Kinder und Erwachsene gleichermaßen interessant und anziehend sein muß, aber daß jeder Platz, der dem jungen Zuschauer in seinem Theater verloren geht, einen Schritt von der eigentlichen Aufgabe wegführt. D i e Erfahrung zeigt, daß das Kinder- und Jugendtheater durch wachsende Attraktivität bei einem erwachsenen Publikum Gefahr läuft, sich weniger für die Kinder als sein Publikum zu interessieren. Es liegt eine große Verführung darin, sich an einen Kunstkenner zu wenden, der nur unter den Erwachsenen gesucht wird. D i e Resonanz bei einem Erwachsenen-Publikum zählt dann als der wirkliche Erfolg. Daraus wird der falsche Schluß gezogen, daß die Erhöhung der künstlerischen Qualität „an sich" die Gefahr einer Abwendung von Kindern als Publikum impliziere. Dies führt zu der ersten Auffassung, daß die Kinder- und Jugendtheater auf einem gewissen mittleren Niveau zu halten sind, gerade gut genug für ihr Publikum, aber nicht attraktiv genug, damit sich diese Publikumszusammensetzung zugunsten des Erwachsenen verschiebt. Eine solche Denkweise, die gegenwärtig in unserem Kinder- und Jugendtheater noch anzutreffen ist, hantiert mit einem indifferenten, völlig entleerten Qualitätsbegriff. Sie zieht die Linie des mittleren Niveaus, die begründet wird mit dem noch begrenzten Erfahrungs- und Wissensstand, mit dem noch unausgereiften Kunstverstand der Jugend. Zur Abwehr dieser Auffassungen kann das Theater noch weit mehr als bisher die Erfahrungen der Literatur benutzen. D i e Scheinalternative zwischen Kunstcharakter und begrenzter Rezeptionsfähigkeit ist gegenwärtig eine der hemmendsten theoretischen Vorstellungen, gegen die die gesamte Erfahrung der Geschichte mobilisiert werden muß. Sie muß aber auch in ihrer anderen Konsequenz bekämpft werden. Ein Kinder- und Jugendtheater, das seinen Zuschauer nicht mehr erreicht oder nicht mehr erreichen will, weil es einen angeblich höheren Kunstcharakter zu erreichen sucht, wird zum Vehikel für persönlichen Ehrgeiz und damit zum Unterlaufen der eigentlichen Funktion dieses Theaters.

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Es darf nicht zugelassen werden, daß das Niveau der Kinderund Jugendtheater unter Berufung auf den besonderen Zuschauer gedrückt wird, und es darf gleichermaßen nicht zugelassen werden, daß sich das Theater unter Berufung auf die „Kunst" von diesem Zuschauer entfernt. Es muß dem entgegengehalten werden, daß der Qualitätshorizont eines Theaters für junge Zuschauer offen ist, daß es aber wirkliche Qualität nur erreicht, wenn es seine Zuschauer zu Partnern seiner Arbeit macht. In diesem Zusammenhang taucht immer wieder ein Satz auf, der Maxim Gorki im Hinblick auf die Kinderliteratur zugeschrieben wird, tatsächlich aber von K . S. Stanislawski in einem Gespräch, mit dem Regisseur B . Son geäußert wurde und der lautet: „Im Theater für Kinder muß man ebenso vollkommen spielen wie im Theater für Erwachsene, nur noch reiner und besser." 2 5 5 * Es drückt sich darin zwar die große Achtung eines großen Theatermannes vor dem jungen Zuschauer aus, aber es muß natürlich verwundern, daß man für Erwachsene schlechteres Theater machen müsse als für Kinder. Auch hier liegt eine formale Gut-Schlecht-Relation vor. Ihr entgegnet Brjanzew in einer Tagebucheintragung: „ K . S. Stanislawski sagte überzeugend, daß man für Kinder genauso gut spielen müsse wie für Erwachsene, nur besser. Wir sagen eindeutiger'. Eindeutiger heißt überzeugender, schärfer. Viele [. . .]verstehen nicht den Terminus ,eindeutiger', indem sie glauben, dies sei ein Synonym für primitiv. Das ist nicht richtig. Eindeutiger heißt klarer, deutlicher, ohne überflüssige Ausschmückung und Verschwommenheit." 2 5 6 Unter dieser Voraussetzung ist am Kinder- und Jugendtheater ein Höchstmaß an Kunst nicht nur möglich, sondern erforderlich, um Brjanzews Anforderung zu genügen. (Hier liegen übrigens klassische Werke dicht neben denen, die Brjanzew für besonders „eindeutig" und deshalb geeignet für das Kinder- und Jugendtheater hält, und Klassikeraufführungen für Zöglinge der humanistischen Gymnasien sind nicht nur ein theatergeschichtliches Ärgernis gewesen, sondern zeigten im positiven Sinne auch die eminente Anziehungskraft zwischen jungen Menschen und großen Werken an, alten wie neuen.) Alexander Mitta sagt über die Entstehung seines Films 202

Leuchte, mein Stern leuchte, den er an ein vierzehnjähriges Publikum adressierte: „Jedoch nachdem ich für eine Zeitlang zum beliebten Gegenstand von Symposien und allerlei anderen intelligenten Gremien geworden war, stellte ich fest, daß ich in der kindlichen Adaption ein Outsider bin, d a ß Kinder Filme bevorzugen, die nach meinem Dafürhalten sehr viel weniger nützlich, sehr viel weniger vernünftig und eigentlich mehr für Erwachsene geeignet sind. Ich wurde nachdenklich und sagte mir, d a ß ich meinen nächsten Film erst machen werde, nachdem ich ganz präzise Vorstellungen davon habe, wie ich Kinder und Jugendliche ins Gespräch ziehen könnte. Mir schien sehr wichtig, mit ihnen über revolutionäre Kunst ins Gespräch zu kommen [. . .J" 2 5 7 D e r Welterfolg des Films, der sich mit einem „großen Gegenstand" an junge Zuschauer wandte und ein Publikum von Erwachsenen gleichermaßen fand, ist auch für das Kinderund Jugendtheater aussagekräftig. Das Kinder- und Jugendtheater vereinfacht nicht für einen unreifen Zuschauer, es „vermittelt" nicht Theater in reduziertem Zuschnitt, es bereitet nicht auf das eigentliche Theater vor, es ist nicht besser oder schlechter als anderes Theater, sondern es ist anderes Theater und als solches mit dem offenen Qualitätshorizont wie jegliche Kunst. Worin es aber anderes Theater ist, bestimmt sein Zuschauer als die einzige Eigentümlichkeit dieses Theaters. In diesem Sinne geht Horst Hawemann in seinen Vorstellungen über die künftige Entwicklung des Kinder- und Jugendtheaters davon aus, d a ß zunächst der verbale Unterschied zum „Erwachsenentheater" beseitigt werden muß, denn selbstverständlich wird dieses Theater von Erwachsenen gespielt, und deren Leistungsvermögen, nicht ein vermutetes Aufnahmevermögen des Zuschauers, entscheidet über die Qualität der Arbeit. „Theater ist Theater. Wir sagen immer, wir sind genauso ein Theater wie das ,Erwachsenentheater'. Das ist falsch. Wir sind Erwachsenentheater. D a wir dauernd diesen Nichtunterschied betonen, wird er zum Unterschied. Und jetzt kommen wir langsam dazu, die wirklichen Unterschiede zu sehen, nicht den der ständig ausverkauften Häuser, den wir dauernd betonen, nein: wir produzieren anderes Theater. Durch unseren Zuschauer sind wir in der Lage, ursprünglichstes Theater zu 203

machen, offenes Theater, das den Zuschauer nicht zum Konsumenten herabdrängt, sondern zum .Zulieferer' macht. Der heutige Jugendliche denkt z. B. so formenaktiv, man sehe sich die Mode, die Musik oder die Zimmer an, und er ist so kritisch gegenüber vorgeschlagenen Formen, daß hier für unser Theater unerhört viel zu bekommen ist. Die Jugendlichen äußern sich in Formen, die schon mit Dramatik zu tun haben, z. B. wie sie große Pointen setzen, wie *sie improvisieren, auf Zurufe reagieren usw. Das ist schon fast Theater, und unser Theater muß ebenso offen sein." 258 Damit will Hawemann nicht die immer wieder auftauchenden Illusionen über die Aufhebung der Grenze zwischen Spieler und Zuschauer nähren und etwa die Rückkehr zu unfixierten Theaterformen empfehlen. Die marxistisch-leninistische Theatertheorie hat geklärt, daß das Mitwirken des Zuschauers an einer Aufführung mittelbar erfolgt. Hier wird vorgeschlagen, das gesamte „Eigentum" dieser Jugend, den vollen Kreis ihrer Vorstellungen, Bedürfnisse, Ausdrucksweisen usw. in das Theater einzubringen. Dann wären die Kinder- und Jugendtheater auf dem Wege, die „Versuchsfelder" für ein Theater zu sein, das den jungen Menschen nicht nur bedient, sondern ihn gleichermaßen ausdrückt. Es wäre Erwachsenentheater, das im Geiste der Partnerschaft der jungen Generation zu ihrer Erscheinung auf der Bühne verhilft, und es hätte eben darin zugleich seinen Unterschied. Zum Kindertheater ergänzt Hawemann: „Das Kindertheater müßte mit aller Frechheit, die nur möglich ist, seinen Anspruch in die Unterschiede setzen. Und dieser freche Anspruch besteht in der Jugendlichkeit, die nichts mit Alter zu tun hat. Der Satz, das verstehen Kinder nicht, ist völlig auszuschließen. Das Theater muß bestimmte Dinge setzen, obwohl es weiß, daß das Kind sie jetzt noch nicht begreifen kann. Sie werden sich festsetzen, als Bild, als Ton, als Eindruck, und bereitliegen, um zu einem betimmten Zeitpunkt dazu beizutragen, bestimmte Erscheinungen zu begreifen [. . .] Die Schauspieler am Kindertheater kommen nicht aus ohne diesen Zuschauer. Er zerstört ihnen ihr so klug eingefädeltes System an Schauspielerei. Was sie sich mit dem Regisseur ausgeknobelt haben, das zerstört dieser Zuschauer, und das ist die freieste 204

F o r m von Zuschauen überhaupt, die berechtigste F o r m von Zuschauen. E r zerstört das feine Gespinst, indem er reagiert oder nicht reagiert, und wenn man das weiß, muß man es von vornherein so offen lassen, daß es stören darf. E s ist also nicht möglich, einen wunderschönen, perfekten B a u hinzustellen, weil uns dauernd einer mit der Schere kommt und ihn klein schneidet, sich Teile herausschneidet, so wie er will. D a s ist der Unterschied, und mit diesem Unterschied müssen wir arbeiten. E r ist kein prinzipieller Unterschied zu den anderen Theatern, es wäre schön, wenn es d a auch so wäre, aber zur Zeit ist es nicht so, und deshalb ist es zur Zeit ein Unterschied.'^ D e r junge Zuschauer bringt in das Theater eine besondere Reaktionsbereitschaft ein. E r reagiert direkt, kräftig, nicht durch Konventionen behindert. D i e Schauspieler am Kinderund Jugendtheater spüren dieses „Mitspielen" ihres Zuschauers stärker als bei einem Publikum, das sich vornehmlich aus E r wachsenen zusammensetzt. D a d u r c h entsteht ein besonderes Wechselverhältnis im Produktions- und Rezeptionsprozeß, das nochi lange nicht hinreichend in der Theaterarbeit für junge Zuschauer berücksichtigt wird. D i e s besagt nicht, d a ß die Theatererlebnisse von Kindern und Jugendlichen stärker und nachhaltiger sein müssen als die von Erwachsenen, oder daß der junge Zuschauer ein höheres M a ß an schöpferischer Fähigkeit beim „Mitspielen" einer Vorstellung entwickelt. Auch die Zuschaukunst muß, wie Brecht sagt, ausgebildet und kultiviert werden, und es ist dies ein besonderer Teil auch der Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen. E s wäre das G e genteil der Unterschätzung des jungen Zuschauers, wenn man ihn als Garanten eines sich immer wieder „verjüngenden" Theaters betrachtete. Durch Erfahrung gesichert ist aber, daß das Zusammenspiel von Bühne und Zuschauerraum im Kinderund Jugendtheater anders verläuft als in den Theatern, die vornehmlich für Erwachsene spielen. D i e Verbindung des schöpferischen Prozesses des Künstlers mit der schöpferischen Rezeption durch den Zuschauer ist unmittelbarer. D i e Stücke und Aufführungen müssen für diese Wechselwirkung durchlässig bleiben, prozeßhaft angelegt sein, nicht resultativ, und vor einer Perfektion bewahrt werden, die die Aufführungen

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„abschließt" und sie vor dem Zuschauer „aufbaut". Das gilt für alle Altersgruppen, da das Kind sich selbst im Entwicklungsprozeß befindet. Aus der besonderen Lebhaftigkeit eines Zuschauerraumes mit Kindern wird oft geschlossen, daß die Kinder (besonders im Vorschulalter und in der Unterstufe der Schule) sich zu den dargestellten Vorgängen wie zu wirklichen verhielten, die Kunst also für die Realität nähmen. „[. . .] wenn es (das Kind - C. H.) zum erstenmal in das Theater kommt, betrachtet es die szenische Handlung als etwas Lebendig-Reales und nimmt unmittelbar an dieser Handlung mit seinen Repliken und Vorhersagen teil. Erst im Verlauf der Zeit und mit der Aneignung der einzelnen Elemente künstlerischer Bildung, die in der Familie, im Kindergarten und später in der Schule erfolgt, lernt es die künstlerischen Modelle von tatsächlichen Ereignissen, Handlungen und Dingen zu unterscheiden, es lernt die Sprache der Kunst lesen [. . .]" 2 6 0 Hier wird das Moment des Spielens vernachlässigt, das Spielen als der neben dem Lernen wichtigsten Tätigkeit des Kindes (in diesem Alter ist es sogar seine Hauptbeschäftigung). Kinder gehen tatsächlich nicht ins Theater, um „Kunst" entgegenzunehmen, aber sie haben im Theater keineswegs die Illusion, wirklichen Vorgängen beizuwohnen. Sie wissen, daß sie einem Spiel beiwohnen, und sie verhalten sich zu ihm ernsthaft wie zu Spielen. (Dafür eine Beobachtung: da Kinder keine geschlossenen Vorgänge spielen, die Anfang und geplantes Ende haben, also eine Art Fabel erzählen, sondern in „Quanten" spielen, beliebig abbrechen und neu ansetzen, haben sie auch im Theater ein Verhalten, das von ihrem Spielverhalten bestimmt wird. Sie halten z. B. das Fallen des Vorhangs oft für das Ende des Spiels, ohne danach zu fragen, ob denn dieses Spiel schon ein sinnvolles Ende gefunden hat.) Während das Kind noch fast voraussetzungslos in das Theater kommt, d. h. ohne eine vom Theater bestimmte Erwartungshaltung, bildet sich diese Erwartungshaltung in dem Maße aus, wie der junge Zuschauer das Theater in sein Leben bewußt aufnimmt. In diesem Prozeß entfernt sich der junge Zuschauer von seiner ursprünglichen Haltung dem Theater als einem Spiel gegenüber und bildet besondere Erwartungshaltungen eben für Theaterspiel aus. Ein äußeres Kennzeichen 206

dafür ist, daß der Zuschauerraum ruhiger wird (obgleich es auch dann noch angenehm unkonventionell ruhiger wird und Einschüchterung durch Kunst keineswegs stattfindet). Es ist dies ein Zeichen für die Intensivierung der Vorstellungskraft, für das „Imaginieren" der Aufführung im Bewußtsein des Zuschauers. Die schöpferische Mitarbeit des jungen Zuschauers entfernt sich vom motorischen Bedürfnis des Mitspielens zu einem Bewußtseinsvorgang des Zusammenspiels mit den Schauspielern; die Aufführung entsteht durch die Vorstellungskraft der Spielenden und Zuschauenden, die auf mittelbare Weise Mitspielende sind. Auf diese Weise werden Erwartungshaltungen gegenüber dem Theater ausgebildet, die sich denen der Erwachsenen nähern. Es hieße, romantisch der „verlorenen Unschuld" nachzutrauern, wollte man die kindliche Erwartungshaltung dem Theater gegenüber zu verlängern suchen. Man sollte im Gegenteil bestrebt sein, das Theater möglichst früh als eine Einrichtung mit Kunstcharakter einzuführen, als eine Einrichtung, deren Besuch nicht schlechterdings auf Neugierde stößt wie etwa der Besuch eines Fernsehturms, sondern auf die Erwartung eben einer Theatervorstellung. Zu diesem Zweck müssen die gegenwärtig gebräuchlichen Formen des Theaterbesuches in Frage gestellt werden. Fragwürdig ist z. B. der Theaterbesuch in der Gruppe unter der Leitung eines Erziehers mit der Kartenverteilung in der Schule, die die Erwartung eines Ereignisses erzeugt, das etwa zwischen Klassenausflug und Pflichtveranstaltung liegt. Das Theater hat es dadurch leicht, seinen Zuschauerraum zu füllen, aber schwerer, sich diesem Zuschauer gegenüber als Theater auszuweisen. Anstrebenswert ist eine Erwartungshaltung des jungen Zuschauers, wie sie schon gegenüber der Literatur, der Musik und dem Film vorherrscht und die vorwiegend auf dem individuellen Griff nach dem Kunstwerk und der freigewählten Gesellschaft bei dessen Aufnahme beruht. Es muß nachdenklich stimmen, daß es Eltern oder Geschwistern keinesfalls leicht ist, Kinder oder Jugendliche in das Kinderund Jugendtheater zu begleiten. Die Gründe dafür liegen im System der Distribution von Karten. Es liegt im Interesse der Festigung von Partnerschaftsbeziehungen zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, gemeinsame Kunsterlebnisse 207

auch im Kinder- und Jugendtheater zu fördern. Darüber darf aber nicht verlorengehen, daß durch das gegenwärtig geübte Prinzip Kindern und Jugendlichen der Zugang zum Theater vermittelt wird, die von sich aus das Theater nicht vermissen würden. Der Gruppenbesuch von Theatern wird für Kinder und Jugendliche ähnliche Funktionen behalten, wie sie der Theaterbesuch in Arbeitskollektiven hat. Eine Theatervorstellung ist keine pädagogische Veranstaltung. Das Theater wirkt persönlichkeitsbildend, indem es Theater ist, und keine wie immer kluge pädagogische Konzeption wird einer Aufführung erzieherischen Wert verleihen, wenn diese Erziehung nicht über das ästhetische Vergnügen den Zuschauer erreicht. Die Haltung eines Schauspielers kann nicht die eines Lehrers sein, und der Schauspieler kann im künstlerischen Prozeß nicht pädagogisch denken, er muß künstlerisch denken, um eine Reaktion seines Zuschauers hervorzubringen, um ihn zum Mitspielen anzuregen und ihn in seine Vorstellungswelt einzubeziehen. Aus dem eigentümlich künstlerischen Prozeß, der sich während einer Theateraufführung zwischen Bühne und Zuschauerraum vollzieht, sind die Gesichtspunkte der Pädagogik ausgeschlossen. Diese Gesichtspunkte aber sind wichtig für die Strategie des Kinder- und Jugendtheaters, da es sich einem sich mit großer Geschwindigkeit verändernden Publikum gegenübersieht. Dieses Theater wird für einen Zuschauer gemacht, der sich in seinen entscheidenden Entwicklungsjahren befindet, und diese Entwicklung vollzieht sich nicht gleichförmig, sie verändert sich fortwährend. Ein achtjähriger Zuschauer ist innerhalb weniger Jahre nicht mehr der gleiche: Nicht nur der ehemals Achtjährige hat sich wesentlich verändert, auch der nunmehr Achtjährige ist ein anderer als der vor ihm. Dieses Moment der Entwicklung seines Zuschauers zwingt das Theater, seine Partner in der Pädagogik zu finden. Sie ist nicht nur jene gesellschaftliche Disziplin, die die Erziehung der jungen Generation weitgehend verantwortet, sondern sie verfügt auch über jene Kenntnisse und Arbeitsmethoden, die das Kinder- und Jugendtheater befähigen, seinem sich verändernden Zuschauer gerecht zu bleiben. Nicht befugt, auf die künstlerische Arbeit des Theaters im engeren Sinne Einfluß zu nehmen, ist die

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Pädagogik ein Reservoir gesellschaftlichen Wissens für die Ausbildung der konzeptionellen Vorstellungen über die Beziehung des Theaters zu seinem jungen Publikum. Diese Vorstellungen müssen bereits bei der Repertoireplanung vorhanden sein, und sie vergegenständlichen sich vor allem im langfristigen Spielplan. Der Spielplan wird auch künftig gewisse Intervalle zu beachten haben, die das sich rasch verändernde Publikum setzt. Seine Einteilung in Altersstufen hat sich bewährt. Dringender Überprüfung aber bedarf der Katalog dessen, was in diesen Altersgruppen an Stücken vorgesehen ist. Ein Überblick über das Repertoire für die untere Altersstufe sagt aus, daß es ausschließlich dem Märchen vorbehalten ist, und zwar zum überwiegenden Teil der Bearbeitung von Volksmärchen, in geringerem Maße Stücken, die märchenhafte bzw. phantastische Strukturen haben. Kindern bis zum Alter von etwa neun Jahren wird also die Wirklichkeit ausschließlich vorgestellt mittels des Unwirklichen. Es wird an dieser Stelle nicht bestritten, daß auch das Märchen Abbildcharakter trägt und auch das Phantastische auf Wirkliches hinführt. Die extrem einseitige Orientierung des Spielplans auf diesen Stücktypus bedeutet aber u. a., daß die Kinder in einem Alter, in dem sie sehr rasch soziales Verhalten lernen und ausbilden müssen und in dem sie erste gesellschaftliche Beziehungen eingehen, die ihnen bereits selbständige Entscheidungen abverlangen, diese ihre soziale Wirklichkeit auf der Bühne nicht zu sehen bekommen. Das Theater, das keine Schule ist, ist eine hohe Schule der Beobachtung; für Kinder bis zu etwa neun Jahren zeigt dieses Theater keine im Alltag beobachtete und damit zur Beobachtung aufrufende Realität. Wie klein die Geschichten, die Kinder in diesem Alter erleben, für ein Theater auch immer sein mögen, für die Kinder jedenfalls sind sie groß, und das Theater sollte Anstrengungen unternehmen, sie auch groß zu zeigen. Und warum soll ein Sieben- oder Neunjähriger, der sich durchaus schon ein Urteil zu bilden hat über Eltern und Geschwister, über Lehrer und Freunde, über politische Vorgänge in der Welt und in den vier Wänden, nicht in der Lage sein, ein Bühnengeschehen zu beurteilen, das statt von erwachsenen Märchenfiguren einfach von Erwachsenen handelt. Es gibt hier den Trugschluß, daß Kinder auf der 14 Hoffmano

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Bühne am besten sich selbst verstehen, woraus gefolgert wird, daß Stücke für Kinder in diesem Alter vor allem Stücke mit Kindern in diesem Alter sein müßten. Wäre das richtig, könnten Kinder Märchen und Stücke mit phantastischen Sujets gar nicht begreifen. D a s heißt aber nicht, daß Kinder aus dem Figurenensemble der Stücke ausgespart werden sollen, weil erwachsene Schauspieler sie nicht darstellen können, sie dürfen nur nicht losgelöst von den Beziehungen und Verhältnissen, in denen sie leben, gesehen werden. Diese Beziehungen realisieren sich nicht nur auf dem Spielplatz und im Kinderzimmer, sondern vor allem im Verhältnis zu den Erwachsenen. Und da es das Geschäft des Theaters ist, Vorgänge zwischen Menschen abzubilden, ist es dann auch möglich, daß Schauspieler Kinderrollen spielen, wenn der ganze Beziehungsreichtum zwischen Kindern und Erwachsenen erfaßt ist und nicht einseitig auf ein pädagogisches Verhältnis reduziert wird. 2 6 1 * Auf einem Symposium während des II. Internationalen Kinder- und Jugendtheater-Festivals 1972 in Sofia sagte Sergej Michalkow in einem vielbeachteten Diskussionsbeitrag: „Internationales Theater für Kinder! Für welche Kinder? Für die Kleinsten oder die fast Erwachsenen? Und welches ist das Alter, das am empfänglichsten ist, am schwierigsten und am wichtigsten? Ich meine die Kinder von 10-14 Jahren [. . .] Warum denken wir so wenig an die realen Mädchen und Jungen, die h e u t e leben, in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, an die jungen Bewohner des Planeten Erde, wo sich Ereignisse vollziehen, die das Bewußtsein von Millionen Kindern aller Altersstufen beunruhigen, Ereignisse, die auf ihr moralisches Antlitz und ihre Weltsicht einwirken und ihr Schicksal entscheiden, Ereignisse, die die Menschheit nicht nur durch die größten wissenschaftlichen Entdeckungen erschüttern, sondern auch durch unmenschliche Verbrechen? [. . .] Die Schriftsteller des Kindertheaters aber machen oft einen Bogen um die großen Themen der Gegenwart, wiederholen Vergangenes und schreiten auf längst ausgeschrittenen Wegen, hocken sich vor ihrem Partner Zuschauer nieder, statt ihn bei der Hand zu nehmen und ihn durch die unruhige Welt zu geleiten. Mit einem Wort, die internationale Kinderdra210

matik befindet sieb leider noch immer nicht auf dem Niveau der begabten Theaterkollektive." 2 6 2 D e r Mangel, den Michalkow hier akzentuiert, betrifft vor allem den Spielplan für die mittlere Altersstufe von zehn bis vierzehn Jahren. Dieser Spielplan ist zwar vielfältiger als der der Altersstufe zuvor, aber diese Vielfalt hat keinen bestimmenden Mittelpunkt, wie ihn das Märchen im Repertoire f ü r die Jüngsten setzt. E r enthält das Gegenwartsstück, aber die Abbildung der Gegenwart ist meist unbefriedigend, er bietet das Geschichtsdrama, aber in der Regel als literarisch unzulängliche Dramatisierung, und er stellt erstmals Klassiker vor, aber nach einem verengten Auswahlprinzip. D i e Gegenwartsstücke für diese Altersstufe sind „Dramatik der Randerscheinungen"", indem sie bestimmte Lebensbereiche der Kinder (Elternhaus, Schule, Pioniergruppe) aus den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozessen herauslösen. D i e Konflikte werden zu eng aus dem Widerspruch zwischen dem Kind und den gesellschaftlich gesetzten Normen bezogen: D i e Dialektik in der Aneignung einer von Erwachsenen geschaffenen Welt zum Zwecke ihrer gleichzeitigen Veränderung wird vernachlässigt zugunsten der Anpassung an diese Welt. D i e Konflikte sind perspektivisch zu kurz angelegt, und sie enthalten im Wirklichen zu wenig das Mögliche. Aber gerade aus dieser Dimension ergibt sich die Spannung, nicht aus der dramaturgischen Konstruktion kleiner Vorgänge. In weit höherem M a ß e trifft auf das Gegenwartsstück f ü r Kinder zu, was in einem Lehrbrief der Fachschule für Bibliothekare über die Literatur für Kinder gesagt w i r d : „Indem der objektiv-reale Persönlichkeits- und Beziehungsreichtum des Kindes generell unterschätzt wird, reduziert sich auch seine ästhetische Reflexion und die Auffassung von den vielfältigen Wirkungsmöglichkeiten der Kinderliteratur [. . .] So erfassen die Autoren zwar richtig die neuartige, gleichberechtigte funktionelle Stellung des Kindes in der sozialistischen Gesellschaft, aber sie werden noch nicht seinen Möglichkeiten als Gattungswesen gerecht und bieten im ästhetischen Abbild keinen universellen Spiel-Raum des Menschen-Möglichen [• . ,]" 2 6 3 In der Kinder- und Jugendliteratur wird dieses Problem nicht nur theoretisch reflektiert, sondern vor allem durch literari211

jche Werke selbst allmählich überwunden, was u. a. die Bücher von Pludra und Görlich beweisen. In der darstellenden Kunst gibt es bisher nur die großen Beispiele sowjetischer Filme wie Warten wir den Montag ab von S. Rostozki und Punkt, Punkt, Komma . . . von Alexander Mitta. In Warten wir den Montag ab wird die Dimension einer kleinen Geschichte dadurch erweitert, daß die Kinder und die Erwachsenen, jeder auf seine Weise, sich im selben Konflikt befinden. Der Film handelt von der Wahrhaftigkeit des gesellschaftlichen Verhaltens im Sozialismus, er richtet sich gegen Zynismus und Borniertheit und bezieht in diese Konfrontation Schüler wie Erzieher gleichermaßen ein. Das Verhalten der Kinder wird über den engen Kreis des Klassenzimmers hinaus gesellschaftlich bedeutsam, weil sich in ihm nicht nur das Verhältnis zum Klassenkollektiv und zum Kollektiv der Erzieher abbildet, sondern darin große gesellschaftliche Vorgänge erkennbar werden, in denen sich die Schüler wie ihre Erzieher befinden. In einer Episode wird dies besonders deutlich: Der Geschichtslehrer behandelt den Odessaer Aufstand der Schwarzmeerflotte von 1905, und in diesem Zusammenhang die historische Rolle des Leutnant Schmidt. Von einem Schüler kommt die Einschätzung des objektiv fehlerhaften Verhaltens Schmidts gut gelernt und ohne Anteilnahme. Angewidert von der Glätte der Antwort, bricht der Lehrer das Geschichtsbild, das in seiner Abstraktion durchaus stimmt, noch einmal auf und zeigt den Schülern, wieviel revolutionäre Tugenden und welche menschliche Größe nötig sind, um selbst „objektive Fehler" von diesem Rang zu begehen. Es ist eine Unterrichtsstunde zwar über den Odessaer Aufstand (über Leutnant Schmidt befinden sich fünfzehn Zeilen im Lehrbuch), aber indem sie den Lehrstoff mit der Konfliktsituation des Films verbindet, wird das Klassenzimmer zum Raum für Persönlichkeitsbildung junger Menschen, die in dem Erzieher ihren Partner haben. Der Film romantisiert das Leben junger Menschen nicht. Er zeigt die Schüler realistisch bei ihrer wesentlichen Tätigkeit, dem Lernen. Aber der Film zeigt auch eindrucksvoll dieses Lernen als ein Kennenlernen der Wirklichkeit, als Eindringen in das, was sich außerhalb des Klassenzimmers ereignet hat und ereignet und wovon der 212

Unterricht nur das abgehobene Resultat zu bieten vermag. Dadurch wird die Wirklichkeit groß in das Klassenzimmer hereingeholt und das Leben der Schüler nicht auf die Pause und die unterrichtsfreie Zeit abgedrängt. Das Lernen künstlerisch zu gestalten ist sicher so schwierig wie die Abbildung von Arbeitsprozessen. Es ist in Warten wir den Montag ab modellhaft geglückt. Aber nicht nur darin besteht, was der Film der Dramatik für junge Zuschauer zu sagen hat. Der Film ist ein Beweis für den Satz, daß eine Geschichte und ihre Figuren groß werden nicht aus sich selbst heraus, sondern durch ihren Beziehungsreichtum. Das Leben dieser Schüler und Erzieher ist nicht kolportagehaft dramatisiert und nicht durch Rhetorik „vergrößert": Es bleibt in seiner realistischen Dimension und empfängt seine Größe durch den Reichtum seiner Vermittlungen. Er reicht in die Liebesgeschichte der Schüler und Lehrer, in die Geschichte ihres Volkes wie in die Geschichte dieser Schule, in der die Geschichte des Films sich zuträgt. 264 * Die Enge des Blicks auf Konflikte, Sujets, Fabeln und Figuren, die für einen Zuschauer im Alter von zehn bis vierzehn Jahren als geeignet erscheinen, hat auch die Adaption der klassischen Dramatik und im weiteren Sinne des dramatischen Erbes verengt. Dazu Hans Rodenberg: „Ich stand und ich stehe auf dem Standpunkt, daß bestimmte Klassiker auf das Kinder- und Jugendtheater gehören. Da liegen große Aufgaben. Ich verstehe darunter nicht, daß man aus ,Was ihr wollt' unbedingt ein Musical machen muß und damit die Klassikerfrage gelöst sei. Nein, ich; gehe sehr viel weiter, sogar so weit, daß man im internationalen klassischen Erbe suchen muß. Keiner kann behaupten, daß es für unsere Kinder- und Jugendtheater z. B. nicht auch einen Ostrowski gibt, den sie spielen können. Er wird anders zu spielen sein, und man wird das Stück gut aussuchen müssen, während das Erwachsenentheater im Grunde jedes wählen kann. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß man in der internationalen Dramatik für Jahre Nahrung finden könnte, daß Dramaturgien darangesetzt werden könnten, sie zu suchen und zu bearbeiten. Dann würden die Schauspieler und Regisseure zu den sogenannten Spezifikstücken (der eigens für Kinder und Jugendliche geschriebenen Stücke - C. H.) einen weiteren künstleri213

sehen Spielraum bekommen, der ihr Können, ihre Phantasie, ihre praktische Arbeit stärker fordert. Ich bin der Meinung, daß die Möglichkeiten des Repertoires für Kinder und Jugendliche bei weitem nicht ausgenutzt sind." 2 0 3 D a s nur gelegentlich (und noch dazu nur durch; die Komödie) in den Spielplan aufgenommene Stück aus dem Erbe wird wegen seiner exemplarischen Stellung vielerlei Auswahlkriterien unterliegen, doch je mehr das Erbe im Spielplan Platz findet, um so weiter werden diese Kriterien gefaßt werden können. Eine Normative für die Eignung von Stücken aus dem Erbe für das Kinder- und Jugendtheater wäre deshalb ein Widerspruch in sich, weil sie den prozeßhaften Charakter der Erbevermittlung reglementierte. Dies gilt nicht nur für das Erbe an klassischer Literatur, sondern für das Erbe der Geschichte überhaupt, es gilt für die Vermittlung der Menschen und Epochen, die die Voraussetzung unseres gegenwärtigen Lebens und seines Fortschreitens geschaffen haben. In diesem Sinne ist das Geschichtsdrama vom klassischen Erbe nicht zu trennen, und von hier sind auch Kriterien zu gewinnen, um Geschichte erlebbar zu machen und Traditionen lebendig zu halten. Der Spielplan für die obere Altersstufe muß mit einem Zuschauer rechnen, der die ihm erreichbaren anderen Theater neben dem Kinder- und Jugendtheater besucht. Alle Theater bemühen sich um junge Zuschauer sowie um Stücke und Inszenierungen, die Jugendliche in besonderem Maße angehen. Viele Theater können dabei sogar mehr einsetzen als die Kinder- und Jugendtheater, und es ist durchaus verständlich, daß viele wichtige Aufführungen, die diesen Adressaten hatten, nicht von den Kinder- und Jugendtheatern herausgebracht werden konnten. In dieser Lage ist das Kinder- und Jugendtheater genötigt, seinen besonderen Beitrag zu leisten. E s hat seit längerem unter diesem Aspekt seinen Platz im Ensemble der Theater gesucht, aber es hat ihn bei weitem noch nicht eingenommen. Die Kinder- und Jugendtheater können in unserem sozialistischen Theater durch die langjährige Verbindung mit einem heranwachsenden Publikum zu besonderen Versuchsfeldern für ein Theater werden, das diese Jugend artikuliert, das die Gedanken und Gefühle der heranwachsenden 214

Generation aufnimmt, die Vorstellungswelt und die Ausdrucksformen seiner Zuschauer zum künstlerischen Material selbst erhebt, jene Fragen findet, die vielleicht noch nicht ausgesprochen sind und doch in den Kollektiven der Jugendlichen leben, die sich; wandelnden Wertvorstellungen junger Menschen studiert ebenso wie ihre Art, alte Geschichten zu lesen, um dieses Wissen bei der A u f f ü h r u n g alter Stücke zu benutzen. Für die Persönlichkeitsbildung des jungen Zuschauers ist das Bewußtsein wesentlich, sich auf der Bühne vertreten zu sehen, und der Jugendliche reagiert unnachsichtig auf A u f f ü h rungen, die an ihm vorbeizielen. M a n kann an dieser Stelle einwenden, daß die Kinder- und Jugendtheater diesen Anspruch seit eh und je an sich gestellt haben und ihm durch eine besondere Repertoirelinie zu genügen suchten. E s geht in diesem Zusammenhang aber nicht so sehr um eine Repertoirelinie, als vielmehr um den Grundzug der gesamten Arbeit eines Theaters, das nicht nur für junge Zuschauer, sondern auch mit einem jungen E n s e m b l e spielt. D a m i t findet eine Akzentverschiebung vom Theater f ü r junge Zuschauer zu einem Theater d e r jungen Zuschauer statt. D a s Kindertheater begleitet den Bildungsweg seines Zuschauers; mit dem Abschluß der zehnten K l a s s e verläßt der überwiegende Teil der Jugendlichen die allgemeinbildende polytechnische Oberschule und beginnt in der materiellen Produktion einen Beruf zu erlernen. D a r a u s folgt, daß das Theater im Betrieb, in der Jugendbrigade, im Lehrlingskollektiv und seinem Leiter neue Partner erhält. Für diese Partnerschaft sind neue Organisationsformen zu entwickeln, um den jungen Werktätigen dem Theater zu erhalten und ihn stärker in den künstlerischen Arbeitsprozeß einzubeziehen. Partnerschaft zwischen dem jungen Schauspieler und dem jungen Arbeiter ist aber gleichermaßen für das Theater selbst wichtig. E b e n s o wie der junge Mensch durch Theater im M a r x schen Sinne ein reicherer Mensch wird, so wird es der junge Schauspieler durch das Zusammenspiel mit einem Zuschauer, der den gesellschaftlichen Reichtum produziert. Im Bericht des Z K an den V I I I . Parteitag der S E D sagte Erich Honecker: „ E i n e s der edelsten Ziele und eine der größten Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft ist die

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allseitig entwickelte Persönlichkeit. Dabei handelt es sich nicht um ein Ziel, das erst in ferner Zukunft erreicht wird. Wenn wir hier von .Persönlichkeit' sprechen, meinen wir eine besonders charakteristische geistige und moralische Ausprägung des menschlichen Individuums. Von diesem sagt Marx im allgemeinen, daß ,der wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhängt'." 2 6 6 Die Arbeiterklasse hat durch ihren Kampf die Voraussetzungen einer Gesellschaft geschaffen, in der der Mensch, zum Zweck aller menschlichen Unternehmungen wird. Die Produktion des materiellen Reichtums der Gesellschaft führt nicht mehr zur Bereicherung des einen auf Kosten des anderen, sondern zur vollen Ausbildung des Reichtums menschlicher Beziehungen, der Beziehungen sozialistischer Persönlichkeiten zueinander und zu der von ihnen veränderten Wirklichkeit. In diesen Prozeß ist die junge Generation von Anfang an einbezogen, die um so mehr zum Subjekt in der Erziehung wird, wie der Mensch sich zum Subjekt in der Geschichte erhebt. Die Erziehung der jungen Generation ist im Sozialismus darauf gerichtet, selbständige und selbstbewußte, schöpferische und disziplinierte Menschen hervorzubringen, in einer Gesellschaft, die ihnen die volle Ausbildung ihrer Persönlichkeit nicht nur gestattet, sondern abverlangt. Das Theater hat daran seinen Anteil und wird durch ihn selbst reicher; das sozialistische Kinder- und Jugendtheater wird fortwährend zu prüfen haben, ob es dem Entwicklungsniveau im Erziehungs- und Bildungsprozeß entspricht. Das Kinder- und Jugendtheater erreicht seinen möglichen Vermittlungsreichtum aber nicht dadurch, daß es sich seinem Zuschauer unterwirft, sondern ihm als selbstbewußter Partner gegenübertritt. Es nimmt die Ausdrucksformen der Jugend nicht nur auf, sondern bereichert sie, es sättigt nicht nur Bedürfnisse, sondern kultiviert sie und weckt neue. Das Kinder- und Jugendtheater begreift sich als eine Errungenschaft des Arbeiter- und Bauernstaates, und es nimmt auf seine Weise an der Erziehung der jungen Generation teil, über die der VIII. Parteitag sagte: „Wir gehen in unserer gesamten Politik davon aus, daß die Erziehung eines der Arbeiterklasse würdigen Nachwuchses eine der wichtigsten Aufgaben der Arbeiterklasse selbst ist". 2 6 7 216

Anmerkungen Die Zitate nach sowjetischen Quellen sind, w e n n nicht anders v e r m e r k t , Arbeitsübersetzungen der Verfasserin.

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teatralno-pedagogitscheskoi sekzii i podotdelu

detskogo

vom

Volkskommissariat

die

teatra

(Fragen,

theaterpädagogische

Unterabteilung

für

aufgestellt

Bildung

Sektion

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D e r Kapitalismus

hat zwar in seinem

Kommunistischen hochentwickelten

Stadium die unmittelbare Ausbeutung der Kinder als nicht mehr so profitabel zugunsten deren sorgfältiger Vorbereitung

für die Aus-

beutung und einer außerordentlich gesteigerten Ausbeutung der jungen Werktätigen zurückgenommen,

daß aber diese Sätze auch in

diesen kapitalistischen Ländern noch heute bittere Gegenwart sind, beweisen zahlreiche Berichte, u. a. auch eine Meldung im Deutschland

Neuen

vom 7. 3. 1 9 7 3 (S. 7) über die Rechtlosigkeit der Lehr-

linge (in Belgien beträgt die wöchentliche Arbeitszeit der meisten Lehrlinge 5 0 - 6 0 Stunden, in den Niederlanden erhalten junge Arbeiter unter 21 Jahren bis zu 4 6 Prozent weniger Lohn als ihre älteren Kollegen), die Arbeitslosigkeit vieler Jugendlicher

(in den

U S A ist jeder vierte Arbeitslose unter zwanzig Jahren) und die Ausbeutung der Kinder als Lohndrücker (in der Provinz Mailand gehen 55 0 0 0 Kinder nicht zur Schule, weil sie zum Lebensunterhalt der Familie beitragen müssen). 2 Karl M a r x : Resolution des Genfer Kongresses zur Kinderarbeit der I. Internationale 1866. I n : M E W , Bd. 16, S. 194. 3 M E W , Bd. 3, S. 38. 4 Vgl. M E W , Bd. 3, S. 5 3 3 - 5 3 4 .

218

5 Karl M a r x : Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 387. 6 Altner, S. 7 1 - 7 2 . 7 Rubinstein,

S.

730.

8 Ebenda, S. 7 2 7 - 7 2 8 . 9 Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater 22. I n :

Bertolt

Brecht über Theater. Leipzig 1966, S. 215. 10 Vgl. Lunatscharski, S. 279 ff.: „ D i e Arbeit der erwähnten

Abtei-

lungen kann auf ihrem Gebiet, das versteht sich von selbst, nur erfolgreich sein in breiter und planmäßiger Zusammenarbeit pädagogischen

Kräfte

der

verschiedenen

Abteilungen

des

aller Kom-

missariats und unter Teilnahme führender Pädagogen. Ich sehe vor allem vier grundlegende Probleme: 1. D i e . F r a g e

nach

Unterrichts.

In

den

szenischen

vielen

maßgeblichen

Methoden Schulen

des

Europas

und

Amerikas und hier und da in Rußland beginnt man, die überaus nützliche Methode der Dramatisierung zur Aneignung des Lehrstoffes auszuprobieren.

Grundlage neuester Pädagogik

ist die

Forderung

nach der aktiven Aneignung des Lehrstoffes, man kann sagen, durch den

gesamten

Organismus

herbeigeführt

in

der

Bewegung.

Das

Zeichnen, Modellieren, die Herstellung von Modellen, jegliche Art von Handarbeit, Erkursionen, das Sammeln von Kollektionen, das ständige Experiment, die Tierpflege, die soziale Erfahrung in der schulischen Selbstverwaltung -

das ist es, was im wahrsten Sinne

des Wortes die richtig organisierte neuere Schule belebt. E s fällt ins Auge, daß eine der aktivsten Methoden der Aneignung die theatralische Gestaltung eines gegebenen Stoffes ist. D i e Dramatisierung von Fabeln, Gedichten und Erzählungen kann eine enorme Hilfe beim Studium der Literatur sein. D i e Dramatisierung von sozialen Szenen aus dem Leben des Volkes oder aus verschiedenen Epochen ist eine wunderbare Illustration für das Studium der Geografie und der Geschichte. D i e selbständige Anfertigung der dazu notwendigen Kostüme und Kulissen ist eine großartige Arbeitsaufgabe. Spiel, Arbeit und Erkenntnis verknüpfen sich hier wahrlich zu einem goldenen Knoten. E s ist erforderlich, besondere Aufmerksamkeit auf die Ausarbeitung entsprechender Methoden zu legen. 2. Eine zweite Aufgabe ist die zeitgemäße Behandlung der Frage des Schultheaters,

d. h. die Aufführung von künstlerisch wert-

vollen Stücken, die den Kindern verständlich sind, durch die Kinder selbst. Wobei die Kinder nicht nur als Schauspieler und Musiker, sondern auch als technisches Personal jeder Art auftreten können, als Souffleuse, Regieassistent, Dekorateure, Ankleider, Requisiteure, Maskenbildner, Bühnenarbeiter, Maschinisten, Beleuchter usw. usw.

219

3. Ein nicht weniger wichtiges Problem ist - besonders für die großen Städte und, durch die Schaffung entsprechender Tourneeensembles, möglicherweise für alle Gebiete - die Frage nach der Gründung s p e z i e l l e r T h e a t e r für K i n d e r , wo durch künstlerisch vollendete Schauspieler Kindcrstücke in hervorragender Form gespielt werden, die den Besonderheiten eines zarten Alters Rechnung tragen, dem der auch weiterhin geeignete Teil des Repertoires der normalen Theater wenig zugänglich ist. Der Anfang wurde in dieser Beziehung durch die Theaterabteilung gemacht, die das Kindertheater in Petrograd gründete, das seine Arbeit mit offensichtlichem Erfolg begann.

11 12 13

14 15 16 17

4. In den staatlichen und kommunalen Theatern besitzen wir einen großen Apparat, und wir müssen mit allem Ernst einen Plan zur Ausnutzung der Sonnabendabend- und der Sonntagvormittag-Vorstellungen für die schulische und zum Teil auch außerschulische Bildung ausarbeiten. Noch besser wäre es, wenn die großen Theater in Absprache mit Pädagogen und den Leitern der Volkshochschulen zu den Aufführungen geschlossene Zirkel aufbauen würden, in die entweder die Geschichte des Welttheaters oder zum Beispiel die Geschichte des russischen Theaters von den Anfängen bis zur Gegenwart mit einbezogen sind. Analoge Aufführungen könnten durch erläuternde Vorlesungen begleitet werden, so daß Lehrer und Leiter ihre Hörer in Kürze auf die Aufnahme der Stücke vorbereiten können, indem sie selbst breiter und spezieller durch die für ihr Auditorium eingerichteten Einführungsvorlesungen vorbereitet sind. Darüber hinaus könnten die gewonnenen Eindrücke den Unterricht nach der Aufführung bereichern, und das ungezwungene Gespräch darüber unter der Leitung des Lehrers die Eindrücke ordnen. Das sind jene ersten, sehr umfangreichen Aufgaben, deren Lösung das Volkskommissariat für Bildung in sachkundiger Arbeit von der theaterpädagogischen Sektion erwartet und die, wie ich hoffe, auf den Seiten des lgra besondere und höchste Aufmerksamkeit finden werden." Schpet, S. 18. Vgl. Lunatscharski, S. 279. Vgl. Leonora Schpet: Teatri dlja detei (Theater für Kinder). In: Sowjetski Teatr, dokumenty i materialy 1 9 1 7 - 1 9 2 1 . Leningrad 1968, S. 2 7 7 - 2 7 8 . Vgl. Schpet, S. 7 9 ; Asja Lacis: Revolutionär im Beruf. München 1971, S. 2 1 - 2 2 ; Saz, S. 61. Maxim Gorki: Über die Jugend. Berlin 1954, S. 86. Rubinstein, S. 735. Lunatscharski, S. 2 7 9 - 2 8 0 .

220

18 Georg Klaus:

Spieltheorie

in

philosophischer

Sicht.

Berlin

1968,

S. 2 7 - 2 8 . 1 9 Lunatscharski, S. 2 8 0 . 20

Ebenda.

21 D i e

ausgezeichnete Arbeit über die Bedeutung

und die

Möglich-

keiten des darstellenden Spiels in der sozialistischen Schule, die von Wolfgang Triebel als Dissertation an der Sektion Ästhetik/Kunstwissenschaften der Humboldt-Universität vorgelegt wurde, erspart Ausführlichkeit zu diesem Thema. Einschränkend ist allerdings zu bemerken, d a ß Triebel das Schultheater zu sehr getrennt von den anderen Formen des Kindertheaters behandelt, d. h. er vernachlässigt den Zusammenhang, inhaltet. D a s der Arbeit

den

Lunatscharskis

professionelle

auf

einer

Theater

halben Seite

Kindertheater-Programm

be-

für junge Zuschauer wird

in

abgetan,

die

Wechselwirkung

zwischen produktiver und rezeptiver Aneignung der Kunst, zwischen Schultheater und Berufstheater ist kaum beachtet. Unter

sozialisti-

schen Bedingungen können sich die beiden Theaterformen nicht nur ergänzen, sondern sie haben das gleiche Anliegen: die Ausbildung schöpferischer Kunst

ein

Persönlichkeiten,

Lebensbedürfnis

denen

die

Beschäftigung

ist. W i e sich beide

Seiten

mit

der

befruchten

können, zeigt eine andere Arbeit, die Diplomarbeit von Sylvia Brendenal 1 9 7 2 an derselben Sektion. D i e Autorin hatte unter Anleitung von Pädagogen des Theaters der Freundschaft fünfzehn M o n a t e mit zwei Kindergruppen im Alter von neun bis zehn Jahren

Versuche

durchgeführt, in denen sie das darstellende Spiel der K i n d e r

mit

Vorstellungsbesuchen

Ihr

im

Theater

der

Freundschaft

verband.

Hauptinteresse galt der Entwicklung der Kinder durch das T h e a t e r . D a s Ergebnis ist frappierend. Nach dem Urteil der Lehrer sich diese K i n d e r in ihrem Gesamtverhalten, in ihrer

hatten

Lernhaltung,

Disziplin, Ausdrucksfähigkeit u. a. positiv verändert. Am

auffällig-

sten war die Entwicklung der Kinder im Spiel selbst. Kinder,

die

am Beginn d-er Versuche hilflos im sprachlichen und gestischen Ausdruck waren, deren erste Improvisationsspiele einen Mangel an V o r stellungskraft und Phantasie zeigten, gelangten im Verlauf der Arbeit zu erstaunlichen Leistungen in der Darstellung der Figuren, im Erfinden von Situationen und Geschichten. Bemerkenswert an

die-

sem Versuch ist aber auch vor allem die Verarbeitung der T h e a t e r aufführung durch die Kinder. Nachahmungen des Gesehenen ließen die Kinder bald selbst unbefriedigt, sie probierten eigene Lösungen und entwickelten ein kritisches Verhältnis zum Theater, indem sie in zunehmendem M a ß e auch die künstlerischen Qualitäten der Aufführungen zu beurteilen lernten, ihre Rezeption von T h e a t e r wurde insgesamt aktiver.

221

22 Moissej Kagan: Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik. Berlin 1971, S. 1 4 6 - 1 4 7 . 23 Die darstellende Kunst ist in der Kunstrezeption an die erste Stelle gerückt. Aber Theaterbesuche, Film, Fernsehspiel, Foyergespräche und Besucheraussprachen, Einführungsmaterialien der Theater für Lehrer reichen nicht aus, daß die Begegnung mit der darstellenden Kunst und besonders mit dem Theater zum elementaren Lebensbedürfnis junger Menschen wird. Das Resultat einer Arbeit von Jörg Mihan, der Beobachtungen von zwanzig Schülervorstellungen der Gewehre der Frau Carrar im Berliner Ensemble zugrunde liegen, muß das Theater und die Schule beunruhigen. Es heißt dort, daß die Schüler ihr „Verhältnis zum Theater noch nicht artikuliert haben" und „die Theateraufführungen für die Schüler der 8. Klasse sind in der Regel Pflichtveranstaltungen". (Jörg Mihan: Bertolt Brecht Die Gewehre der Frau Carrar, die Aufführungen am Berliner Ensemble und ihre Wirkung beim jugendlichen Publikum. Probleme der ästhetischen Erziehung der Schüler. In: Studien 1/73 Beilage zu Theater der Zeit 28 (1973) 2, S. 13).

24 25 26 27

Mangelnde Disziplin und die Reaktionen auf Äußerlichkeiten in den Jugendvorstellungen, das Fehlen des künstlerischen Nachwuchses für die Theater haben hier eine ihrer Ursachen. Die Lösung des Problems, um die sich Künstler und Pädagogen gemeinsam besonders in den letzten zwei bis drei Jahren bemühen, sollte in der Komplexität, in der dialektischen Beziehung zwischen produktiver und rezeptiver Aneignung der Kunst gesucht werden, so wie sie Lunatscharski vorschlägt. Lunatscharski, S. 280. Ebenda. Saz, S. 59. A. Petrowitsch: Die Schule im 21. Jahrhundert - sowjetischer Wissenschaftler widerlegt pädagogische Prognosen westlicher Autoren. In: Literaturnaja gaseta vom 21. 2. 1973. Zit. nach dem Typoskript der Übersetzung, S. 6. - A. Petrowitsch, Ordentliches Mitglied der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der UdSSR und Mitglied der internationalen Kommission für die Entwicklung des Bildungswesens der UNESCO, kommentiert diese bürgerlichen Ansichten, die ihm in der Kommission und in entsprechenden Publikationen begegnet sind: „Die vergleichende Gegenüberstellung von .nebenhergehender' Ausbildung (lernen im Kino, im Café, auf der Straße, im Sportstadion) und der ,institutionalisierten' Bildung basiert auf einem grundlegend fehlerhaften Gedanken, daß nämlich die Entwicklung der Masseninformationsmittel bereits ein vollwertiger Ersatz für die systematische Schulbildung sei. Im Verlauf der Dis-

222

kussion sah ich mich wiederholt mit solchen Gedanken konfrontiert: ,90 %

seiner Information über die Umwelt bezieht das K i n d

aus

außerschulischen Quellen. Lohnt es da, Mittel in den B a u von Schulen zu investieren, wenn deren R o l l e bei der Entwicklung des W i s sens und der geistigen W e l t des Kindes so unbedeutend i s t ? ' N i e mand hat das zwar errechnet, doch mögen es tatsächlich 9 0 %

sein.

E s geht hier nicht um diese Zahl. D a s Geheimnis der

.Überzeu-

gungskraft'

der

deutigkeit

dieser des

zweifelhaften Argumentation

Terminus

.Information'.

Was

liegt wird

in nicht

Viel-

alles

in

dieses Modewort hineingelegt [. . .] E s ist mehr als wahrscheinlich, daß

diese

90 %

werden, zufällige,

Information,

die außerhalb

der

Schule

oberflächliche, nichtorganisierte,

bezogen

widersprüchliche

Kenntnisse entstehen lassen, die untereinander nicht verbunden sind und nur schlecht im Gedächtnis bewahrt werden

[. . .] wie

kann

man nicht verstehen, daß in der heutigen Gesellschaft die W e i t e r verarbeitung des gewaltigen Umfangs aller möglichen

Informationen

die Aneignung gerade von systematisierten Kenntnissen, und Fertigkeiten

Fähigkeiten

erforderlich macht. Information kann man

natür-

lich von überall beziehen [. . .] dennoch kann die wissenschaftliche Kenntnis, d. h. die Klärung des Allgemeinsten und Wesentlichsten in den Dingen und Erscheinungen, und darüber hinaus ein System von Wissen nur durch organisiertes Lernen, hauptsächlich durch die gut organisierte Schule erzielt werden, mehr noch, die Aufgabe der Schule besteht auch darin, die Menschen das Lernen zu lehren." 2 8 D i e Existenz der Kinder- und Jugendtheater,

die Aktivitäten

der

anderen Theater, deren Publikum heute zu etwa fünfzig Prozent aus Kindern

und Jugendlichen

besteht, die Arbeit der

fünfunddreißig

Pioniertheater verführten in den vergangenen Jahren in der

DDR

dazu, das T h e a t e r vor allem auf den außerschulischen Bereich zu verweisen. D i e Pioniertheater, die ihren Titel als Auszeichnung von der Pionierorganisation erhalten, bedürfen der Breite auch des Schultheaters. T h e a t e r in der Schule bietet die Gelegenheit zur Zusam. menarbeit vieler Arbeitsgemeinschaften, wodurch die Ausdrucksmöglichkeiten aller Gruppen erweitert werden, z. B . der Chor als D a r steller, der Zeichenzirkel, der die Dekorationen und K o s t ü m e wirft, technische Arbeitsgemeinschaften,

die die Requisiten

ent-

basteln

u. a. Im Schultheater können die verschiedenen künstlerischen Unterrichtsfächer und K o l l e k t i v e von Spezialisten zu einer größeren K o l lektivarbeit zusammengefaßt

werden,

die auch eine breitere

Aus-

strahlungskraft auf das musische K l i m a der Schule haben wird. 2 9 V g l . : D e r Schuljugend die W e r k e der Literatur und Kunst erlebnisreich nahezubringen. I n : Neues Deutschland vom 6. 4 . 1 9 7 3 , S. 4 . In Anbetracht

dieser Situation

berief das Ministerium

223

für

Volks-

bildung im Frühjahr 1 9 7 1 eine Kommission für die kulturell-ästhetische Bildung und Erziehung der Schuljugend, die vom stellvertretenden Minister

für Volksbildung,

der Pädagogen, aller Gattungen eng

mit

der

Werner

Engst,

geleitet

Jugendfunktionäre,

Kulturschaffende

angehören.

Kommission

Akademie

Diese

der

Pädagogischen

wird

und

arbeitet

nicht

Wissenschaften

sammen, die inzwischen mehrere Forschungsthemen

und

Künstler

über das

nur zuVer-

hältnis K i n d - Theater - Erziehung vergeben hat, sondern versucht breite K r e i s e der Öffentlichkeit für die musische Bildung der K i n der zu gewinnen. Im April 1 9 7 3 wandte sich die Kommission mit einem B r i e f an die Künstlerverbände der D D R und an die G e w e r k schaft Kunst, der inzwischen zahlreiche Aktivitäten ausgelöst hat. 3 0 Professionelle T h e a t e r für Kinder, die über ein eigenes Haus verfügen, gibt es zur Zeit in Ungarn nicht und in Polen nur in der Verbindung

zum Puppentheater.

Das

ungarische K i n d e r -

gendtheater wurde 1 9 5 6 zur Zeit des konterrevolutionären

und

Ju-

Putsches

aufgelöst, und das polnische T h e a t e r für junge Zuschauer hatte sich von 1 9 5 4 - 1 9 5 8 so weit von seinem jungen Publikum entfernt, daß es bis zu seiner Auflösung im J a h r e 1 9 5 8 nur noch dem nach existierte. D i e s e Tatsachen

beweisen

den

engen

Namen

Zusammen-

hang der Schaffung von Kinder- und Jugendtheatern mit dem revolutionären

Kampf

der Arbeiterklasse,

d.

h.,

daß

marxistisch-leni-

nistische Kulturpolitik und Kinder- und Jugendtheater einander bedingen. 31 Dieses Interesse ist auch im internationalen M a ß s t a b zu beobachten, so wurde z. B . auf dem I T I - K o n g r e ß im M a i 1 9 7 3 in Moskau eine besondere Kommission T h e a t e r und Jugend gegründet. 3 2 K u r t H a g e r : Zu Fragen der Kulturpolitik. I n : Neues

Deutschland

v. 8. 7 . 1 9 7 2 , S. 4 3 3 Aus dem Almanach ,Igra' (Spiel) Nr. 2, S. 1 - 2 . Zit. nach Sowjetsky Teatr,

dokumenty

i

materialy

1917-1921

(Sowjetisches

Theater.

D o k u m e n t e und Materialien 1 9 1 7 - 1 9 2 1 ) . Leningrad 1 9 6 8 , S.

280:

„ 1 . D i e ästhetische Erziehung muß einen führenden Platz im L e b e n der Schule einnehmen. K e i n e bewußtseinsmäßigen

Stufe der physischen, geistigen

Entwicklung

führt zur Schaffung

ganzer

und Per-

sönlichkeiten ohne die Entwicklung der emotionalen Seite im Menschen;

kein

Rechtsbewußtsein,

keine

praktische

Sachlichkeit

den Mangel an seelischem Feingefühl im Menschen ersetzen:

kann Das

ist nur unter Einbeziehung der Kunst zu schaffen. Ästhetische Grundsätze müssen so tief in das Leben der Schule eindringen, d a ß sie zu ihrem Fundament gehören wie andere Arbeitsgrundsätze auch. 2. D i e Kunst muß alle Seiten des menschlichen Lebens erfassen, beleben und erhöhen. D e r W e g für die Einführung der Kunst in dieses

224

Leben ist die gesamte Umgebung der Kinder in der Periode ihrer Ausbildung. 3. So unvermeidlich die Teilung des Kunstunterrichts in der Schule ist, so erforderlich ist es, Maßnahmen zu ihrer Vereinigung, in der alle Elemente der Kunst zusammenkommen, zu ergreifen und die allerbeste dieser Maßnahmen ist die Organisierung des S c h u l theaters. 4. Die Aufgabe des Schultheaters muß eine erzieherische sein, keine professionelle. Das Theater in der Schule muß das anziehende Zentrum für a l l e kindlichen Bestrebungen auf dem Gebiet der Kunst und des Schöpferischen sein. 5. Die Gestaltung des Unterrichts in den einzelnen Kunstzweigen darf nicht den Charakter trockener Lehre haben, in ihm muß das Spiel und die theatralische Darstellung geschickt mit der Freude an der Arbeit verbunden sein. 6. Die Dramatisierung, die jetzt im Rang einer Unterrichtsmethode steht, muß deswegen mit erforderlicher Sorgfalt angewandt werden, weil sie sich leicht in eine Schablone verkehren kann. Sie kann sogar der ästhetischen Erziehung der Kinder Schaden zufügen. 7. Es ist erforderlich, Maßnahmen zu ergreifen, damit die Fächer Gesang, Instrumentalmusik, Plastik, rhythmische Gymnastik und Redekunst in der neuen Schule einen gebührenden Platz erhalten. 8. Zu einem notwendigen Bestandteil des Unterrichts der Muttersprache muß die Ausbildung der D i k t i o n der Schüler werden. 9. Das Studium dramatischer W e r k e im Literaturunterricht muß mit ihrer szenischen Verkörperung verbunden werden. Dem dient einerseits ihre Aufführung durch die Schüler selbst, andererseits der Besuch entsprechender Vorstellungen im Theater. 10. Es ist notwendig, im Literaturunterricht oder in besonders eingerichteten Kursen die Schüler der älteren Jahrgänge mit der Geschichte und der Theorie der Theaterkunst bekannt zu machen. 11. Eine wichtige Bedeutung muß die Schultheater-Aufführung haben, die die natürliche Vollendung des ästhetischen Unterrichts ist. Beginnend mit kleinen Inszenierungen und Versuchen der Selbsttätigkeit der Kinder, können in den höheren Schulklassen Aufführungen ganzer Stücke des Repertoires für Kinder und klassische Werke, die mit den Kräften der Schüler zu bewältigen sind, erarbeitet werden. Die hier angeführten Thesen erfassen nicht alle noch vorzulegenden Fragen, aber sie umreißen die Richtpunkte in bezug auf die Fragen, die zu lösen sind." 34 Ebenda, S. 2 8 0 - 2 8 1 . - Unter dem Begriff „Plastik" wird im sowjetischen Theater Schulung des Körperausdrucks verstanden. 15

Hoffmann

225

35 Ebenda. 36 Moissej Kagan: Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik. Berlin 1971, S. 139. 37 Tesisy bjuro detskogo teatra ob osnownych prinzipach estitscheskogo wospitanija sredstwami schkolnogo teatra (Thesen des Büros des Kindertheaters über Grundprinzipien der ästhetischen Erziehung der Kinder mit den Mitteln des Schultheaters). In: Sowjetski Teatr, dokumenty i materialy 1 9 1 7 - 1 9 2 1 (Sowjetisches Theater. Dokumente und Materialien 1 9 1 7 - 1 9 2 1 ) . Leningrad 1968, S. 2 8 0 - 2 8 1 . 38 Vgl. N. S. Suchozkaja: W schkolnom Teatre (Im Schultheater). Moskau 1971, S. 3. - Dieser Band enthält nicht nur Vorschläge zur Dramatisierung epischer Texte der russischen klassischen Literatur, so u. a. Die toten Seelen von Gogol, Oblomow von Gontscharow, Die Brüder Karamasow von Dostojewski, Märchen von Puschkin, Fabeln von Krylow usw., sondern auch Ratschläge für die Realisierung dieser Stoffe im Schultheater mit szenischen Anregungen, Literaturhinweisen, Figurenbeschreibungen, Dekorations- und Kostümvorschlägen und Noten zu vertonten Gedichten. Dieses Buch wendet sich direkt an die Schüler. In der Einleitung für Leser und Interpreten schreiben die Autoren: „Wir wollen euch die Möglichkeit geben, unmittelbar mit den großen Werken der russischen klassischen Schriftsteller in Berührung zu kommen, da im Prozeß der Arbeit an der Aufführung ihr eine gewisse Zeit mit den Helden dieses oder jenes Buches lebt, an ihrem Schicksal Anteil habt, wird es euch zweifellos ermöglicht, nicht nur die Psychologie der Helden, sondern auch die Gedanken des Autors und die Idee des Werkes tiefer zu verstehen." 39 Im präzisierten Lehrplan für Deutsche Sprache und Literatur für die Klasse acht, der zum ersten Male vorsieht, die Schüler mit dramatischer Literatur bekannt zu machen - behandelt wird Die Gewehre der Frau Carrar von B. Brecht - , findet sich der kleingedruckte Hinweis, daß die Schüler das Interpretieren einer Szene üben sollen. Für Gespräche über Theater, Film, Fernseh- und Hörspiele sieht der Lehrplan zwei Stunden vor. 40 In: Sowjetski Teatr, dokumenty i materialy 1 9 1 7 - 1 9 2 1 (Sowjetisches Theater. Dokumente und Materialien 1 9 1 7 - 1 9 2 1 ) . Leningrad 1968, S. 3 3 1 - 3 3 2 . Übersetzung Intertext. 41 Vgl. W. I. Lenin: Die Aufgaben der Jugendverbände (Rede auf dem 3. Gesamtrussischen Kongreß des Kommunistischen Jugendverbandes Rußlands), 2. Oktober 1920; Über Proletkult und proletarische Kultur; Über proletarische Kultur. In: W. I. Lenin: Über Kultur und Kunst. Berlin 1960, S. 3 5 3 - 3 7 5 . 42 Kerschenzew, S. 162. - 1918 war Kerschenzew Leiter des Sektors

226

Theater/Musik des Moskauer Rates der Arbeiterdeputierten, wenig später leitete er die sowjetische Nachrichtenagentur Rosta. Von 1921 bis 1926 war er Botschafter in Norwegen und Italien. E r schrieb viele Aufsätze über den Proletkult, deren wichtigste im Schöpferischen Theater zusammengestellt sind. Gemeinsam mit A. K. Gastew gründete er die N O T (Nautschnoi organisazia truda - Wissenschaftliche Organisation der Arbeit), die die Psychologie und Physiologie des Arbeiters erforschte. Zwei Jahre vor seinem Tode, von 1936 bis 1938, hatte er den Vorsitz des Komitees für Kunstangelegenheiten beim Rat der Volkskommissare inne. 43 44 45 46 47 48 49

Ebenda, S. 168. Ebenda, S. 165. Ebenda, S. 166. Ebenda, S. 164. Ebenda, S. 70. Ebenda, S. 171. Vgl. Deklaration der Rechte des Kindes. In: Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland ( 1 9 1 7 - 1 9 2 1 ) . München 1969. S. 191. 50 Über die Abschaffung der Zensuren. In: Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland ( 1 9 1 7 - 1 9 2 1 ) . München 1969, S. 209. 51 V. I. Poljanskij: Erzieherische und produktive Arbeit in der neuen Schule. In: Ebenda, S. 195. 52 Schpet, S. 211. - Die Beziehung der „Pädalogie" zum professionellen Kindertheater beschreibt L. Schpet folgendermaßen: „Als im Jahre 1936 auf Beschluß des Z K der KPdSU (B) über die pädagogischen Entstellungen im System des Kommissariats für Volksbildung der außerordentlichen Begeisterung für die Pädalogie in den Schulen ein Ende gesetzt wurde, wurde in der Folge in den Kindertheatern jegliche Arbeit zur Untersuchung der Wirkungsweise eines Stückes auf Kinder eingestellt. Das ist eine Lücke, die bis heute nicht geschlossen ist und die mitunter die pädagogische Position der Theater sehr schwächt. Aber in den Jahren, von denen hier die Rede ist, erhob die Pädalogie Anspruch auf die führende Rolle anstatt Dienerin des Kindertheaters zu sein. Viele ihrer Schlußfolgerungen und Beobachtungen wurden als Argumente gegen diejenigen benutzt, die die besondere Spezifik der Theaterkunst für Kinder verteidigten und dadurch hemmte sie mehr die weitere Entwicklung." 53 Moissej Kagan: Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik. Berlin 1971, S. 3 8 5 - 3 8 6 . 54 Jörg Mihan: Bertolt Brecht Die Gewehre der Frau Carrar, die Aufführungen am Berliner Ensemble und ihre Wirkung beim jugendlichen Publikum. Probleme der ästhetischen Erziehung der Schüler. 15*

227

In: Studien 1/73 Beilage zu Theater der Zeit 28 (1973) 2, S. 1 0 . Diese Problematik zeigte sich auch bei der Modellinszenierung der Gewehre der Frau Carrar im Berliner Ensemble, die auf Wunsch des Volksbildungsministeriums 1971 für Schüler der achten bis zehnten Klassen herausgebracht wurde. In der bereits zitierten Arbeit über die Wirkung dieser Aufführung auf die Schüler beschreibt der Autor einmal, daß die Inszenierung nach dem Modell nicht die Besonderheiten der Rezeptionsfähigkeit der jungen Zuschauer berücksicht und zum anderen die Reaktionen der Schüler auf die Szenen und Figuren, die im Mittelpunkt des Unterrichts standen. Unter Vorbehalt, da es sich nur um empirisches Material, gesammelt aus Beobachtungen in zwanzig Vorstellungen mit achten Klassen handelt, schreibt Mihan: „Der Akzent des gesamten CarrarUnterrichts liegt auf der Behandlung dieser Szene (Pedro-Padre C. H.), auf der Behandlung ihres Ideengehalts. Die Schüler sind also ausreichend über den weltanschaulichen Gehalt der Szene informiert und wissen, was sie zu erwarten und zu rezipieren haben. Wie in der Manuela-Szene ist der .Überraschungseffekt' sehr gering; unter Umständen sind Situationen und Charaktere so stark ausgeschlachtet' worden, daß die Einstellung ihnen gegenüber negativ geworden ist." Er kommt zu dem Schluß, daß das junge Publikum bei dieser Aufführung dem Geschehen auf der Bühne gleichgültig oder voreingenommen folgte, daß die Schüler „ihr Verhältnis zum Theater noch nicht artikuliert haben" und daß sie den Theaterbesuch als Pflichtveranstaltung auffassen, denn „sie freuen sich, wenn die Vorstellung ausfällt." 55 Käthe Rülicke-Weiler: Bemerkungen Brechts zur Kunst. Notate 1951-55. In: Weimarer Beiträge 1968, Sonderheft, S. 9. 56 Vgl. Schpet, S. 77. - „1919/20 wurde in Petrograd das Hotel Europa als Internat für verwahrloste Kinder eingerichtet, als Quarantänestation, in der die Besprisorniki gesammelt wurden, bevor sie an die Kinderheime verschickt wurden. Brjanzew arbeitete hier als Erzieher, spielte mit den Kindern Theater und besuchte mit ihnen Vorstellungen der Petrograder Theater. Dabei machte er die Beobachtung, daß das darstellende Spiel der Kinder nach den Theatervorstellungen oftmals viel reicher und phantasievoller war als diese Vorstellungen, und er bemerkte, daß viele Aufführungen für Kinder an den Theatern ihre Verständnismöglichkeiten überstiegen." 57 Brjanzew, S. 10-12. Im folgenden wird der Artikel Theater für )unge Zuschauer vollständig wiedergegeben. - „Der Zuschauer das ist der einzige unanfechtbare Anfang, auf den sich jedes Theater in seiner Kunst stützen muß. Das Theater, das s e i n e n Zuschauer gefunden hat, ist auch in der Lage, seinen S t i l zu finden.

228

D a s Theater, das sich von seinem Zuschauer trennt, verliert seinen Stil und mit ihm seine Daseinsberechtigung. Theater nur bei Anwesenheit s e i n e s

Aber wenn

jedes

Zuschauers leben kann, so

hat auch jede größere gleichartige Gruppe das Recht auf das i h r g e m ä ß e Theater. Ein solches Recht muß man auch Kindern und Jugendlichen zugestehen. D i e Theater, die sich in ihrer Kunst auf den erwachsenen

Zu-

schauer stützen, können nicht das Aufnahmevermögen eines jungen Auditoriums berücksichtigen, für dieses muß ein besonderes ter

der

jungen

Zuschauer

Thea-

organisiert werden.

Zuschauer dieses neuen Theaters werden hauptsächlich Schüler sein, weil die Schule, in Gestalt des Sektors für Sozialerziehung engsten Anteil an seiner Organisation hat. D i e Verbindung des Tjus mit der Schule, die eine Verbindung der künstlerischen Tätigkeit mit den Aufgaben der Pädagogik bedingt, muß keineswegs seine künstlerisch« Natur herabsetzen oder entkräften. D a s Tjus muß vor allem ein T h e a t e r

bleiben, aber seine Auf-

führungen, Werke der S c h a u s p i e l k u n s t ,

müssen fähig sein,

die jungen Zuschauer zu einer echten Freude am Theater zu begeistern, müssen fähig sein, schöpferisch ihre junge Phantasie befruchten. Dieser

Grundaufgabe muß das Repertoire und

zu

seine

Interpretation dienen. D a s Tjus muß sich ein für allemal von jenen sogenannten

,Kin-

der'-Stücken abgrenzen und muß sein Repertoire nicht auf

Mar-

garine-Literatur, sondern auf die echte Literatur gründen, wobei aus ihrer Schatzkammer das ausgewählt wird, was bestimmten

Alters-

gruppen im Theater zugänglich ist. Aus diesem Grunde wird das Repertoire der jüngsten Gruppe (die erste Stufe der Schule) durch die klassischen Märchen (Jerschow, Andersen, Grimm) gestaltet, in den Spielplan für die ältere Gruppe werden ausländische und russische Klassiker (Shakespeare, Molière, Gribojedew, Puschkin, G o gol,

Ostrowski)

in speziellen

durchdachten

Bearbeitungen

nommen. Hier müssen Regisseure, Bühnenbildner und

aufge-

Schauspieler

besonders feinfühlig an die künstlerischen Anforderungen und an Alters herangehen,

da-

mit sie nicht unterliegen, nicht ,lispeln', sondern schöpferisch

das Aufnahmevermögen

eines bestimmten

die

Besonderheiten ihres neuen Zuschauers treffen. Für die Lösung dieser äußerst

schwierigen, aber auch hinreißend interessanten Auf-

gabe muß ein echtes, starkes und in seiner Kunst bewußtes Theaterkollektiv vorhanden sein. D i e Schauspieler des Tjus müssen daran denken, daß ihnen eine große Ehre zuteil wird, die K a d e r der Zuschauer für ein künftiges russisches Theater vorzubereiten. Im L e ben des Tjus muß das Äußere des Theaters eine nicht weniger

229

wichtige Rolle spielen. Ja, das ist die erste Stufe der Treppe, die zur Höhe der Kunst führt. Wer auf dieser ersten Stufe ausrutscht, der riskiert, den Gipfel nicht zu erreichen. Deshalb muß unser junger Zuschauer von dem aufreizenden Flitterkram und der süßlichen Schönheit der üblichen Ausstattung des Zuschauerraumes abgegrenzt werden. In seinem Theater soll alles einfach, anheimelnd und froh sein. Die Organisation des Tjus verläuft unter dem Zeichen der engen Verbindung der Theaterschaffenden mit den Pädagogen der Schulen. Hier müssen sich Bühnenkünstler, die fähig sind, wie Pädagogen zu denken, mit Pädagogen, die berufen sind, wie Künstler zu fühlen, vereinigen, und gemeinsam müssen sie geistig jung bleiben und müssen selbst aufrichtig mit den Altersgenossen ihrer Zuschauer mitfühlen. Dazu gehört die Kenntnis ihres Lebens und langjährige Erfahrung mit ihren Besonderheiten. Die künftigen Mitarbeiter des Tjus müssen mit ganzer Seele ihr Theater, ihren Zuschauer lieben, ebenso wie sich selbst. Wer das nicht aufrichtig tun kann, darf am Tjus nicht arbeiten, weil für Kinder und besonders für Jugendliche nichts widerlicher ist, als ein herablassendes Lächeln des Erwachsenen, der seine Quasi-Überlegenheit zur Schau stellt. Wenn Sie mit Kindern spielen wollen, werden Sie selbst zu Kindern, und das bedeutet: seien Sie bis zum Ende aufrichtig vor sich selbst. Das Übrige wird sich fügen." 58 C. D. Carls: Theater der Kinder in Rußland. In: Der neue Weg v. 1. 5. 1928. 59 Brjanzew, S. 11. 60 Fast zehn Jahre, seit der Spielzeit 1924/25, standen Märcheninszenierungen kaum auf dem Spielplan. Die Schaffung zeitgenössischer Stücke mit der Thematik des sozialistischen Aufbaus und der revolutionären Vergangenheit standen im Zentrum der Bemühungen um eine neue Dramatik für Kinder. Erst Mitte der dreißiger Jahre erfuhr das Märchen durch die Stücke von Marschak (Die 12 Monate) und J. Schwarz eine Wiederbelebung. Beide Autoren waren zu diesem Zeitpunkt mit dem Tjus eng verbunden, so daß die Kinder- und Jugendtheater dieser Zusammenarbeit die besten Stücke dieses Genres verdanken. Sie zählen bis heute zu den „Klassikern" des Repertoires für ein sozialistisches Kindertheater und wurden in viele Sprachen übersetzt. 61 N. N. Tscherkassow, der diese Rolle als Anfänger im Tjus spielte, stützte sich später bei der berühmt gewordenen Verfilmung des Stoffes auf die Anlage der Figur in dieser Inszenierung. (Regie: B. Son). 62 A. Hackel: Jugendtheater in Rußland. In: Szene, August 1929, S. 2 2 0 - 2 2 1 .

230

63 Juri Aljanski: Ein Geschenk für die sowjetischen Kinder. In: Sowjetliteratur 14 (1962) 3, S. 212. Vgl. Nina Dawidowa: Children's and Youth Theatres of the Soviet Union - Information, Moskau, March 1968, S. 29. - In dem Gebäude - das Teneschewsker Technikum in der Mochawaja-Straße das das Tjus beherbergen sollte, befanden sich zwei Theatersäle, eine Estradenbühne und ein normales Bühnenhaus. Brjanzew wählte die kleine Estradenbühne, weil dieser Zuschauerraum amphitheatralisch gegliedert war. Nach seinen Intensionen entstand auch das neue Gebäude des Tjus mit 1000 Plätzen, das 1962 eröffnet wurde, ein Jahr nach Brjanzews Tode. Inzwischen wurden viele Kindertheater in der Sowjetunion nach dem Leningrader Modell gebaut, so u. a. in Omsk, Gorki, Swerdlowsk, Wolgograd, Astrachan. 64 A. Hackel: Jugendtheater in Rußland. In: Szene, August 1929, S. 222. - Die Aufteilung der Bühne in die unterschiedlichen Spielflächen bestimmte nicht nur den Inszenierungsstil des Leningrader Tjus, sie hatte auch Einfluß auf die Dramaturgie der Stücke und auf die Spielweise. Die Beschreibung der Till-Ulenspiegel-Kuiiührung nach de Coster durch A. Hackel trifft auf viele Inszenierungen des Tjus in den zwanziger Jahren, besonders auch auf die DonQuicbote-Aufführung, zu: „Der Till wurde zum Ausgangspunkt einer neuartigen Schauspielkunst. [1926, Regie: E. Gackel]. Die Taten des Volkshelden Till Ulenspiegel mußten für das jugendliche Auditorium dramatisch und szenisch herausgearbeitet werden. Bei der Bearbeitung des Stoffes [. . .] ergaben sich drei Grundideen: die lyrische (Till und Nele), die soziale (Philipp II., der Adel, das Volk) und die rein dynamisch-szenische, die durch Einführung von grotesk-komischen Figuren (eines Tölpels, eines Tropfes) zur Buffonade gesteigert wurde. Zugleich sollte auch der heroische Geist der Revolution und die Bedeutung der Volksmasse zum Ausdruck gebracht werden. Hier kam die offene Bühne den Ideen des Spielleiters und Dramaturgen sehr zustatten: die Möglichkeiten, die drei Bühnen und die Arena voll auszunutzen, ergaben ein Schauspiel von hinreißender Lebendigkeit und synthetischer Form." 65 A. A. Brjanzew. Zit. nach E. Mindlin: Die ersten Jahre des Kindertheaters. Arbeitsübersetzung im Archiv des Theaters der Freundschaft. 33/2, S. 38. 66 Brjanzew, S. 11. 67 Theater der jugendlichen Zuschauer in Leningrad. In: Das neue Rußland (1927) 7/8, S. 63 ff. 68 Brjanzew, S. 79. 69 Ebenda, S. 211-212. 70 Der Gusli-Erzähler erzählt Märchen zur Gusli, einem alten russi-

231

71 72 73 74

sehen Saiteninstrument. Durch di-e Art ihres Vortrages und durch ihr ehrwürdiges Alter gehört diese Volksfigur einerseits zum Figurenensemble der Märchen selbst, andererseits versieht sie die alten Geschichten mit Kommentaren, die die Volksweisheit ausdrücken. Schpet, S. 80-81. Übersetzung Peter Luh/Christel Hoffmann. A. Hackel: Kindertheater in Rußland. In: Szene, August 1929, S. 222-223. Irina Segedi: Das Theater der jungen Leningrader. In: Sowjetliteratur 20 (1968) 12, S. 172. MTfK, S. 6: „Das Moskauer Kindertheater ist vor allem ein Theater. Gleich jedem anderen Bühnenorganismus besitzt es eine ständige Truppe, bestehend aus fünfzig Schauspielern, Dramaturgen, Komponisten, Regisseuren, Malern, aus einem Orchester, Theaterarbeitern, Schneiderinnen, einer Direktion, kurz aus allem, was jedes Theater hat. Hundertfünfundsiebzig Erwachsene vereinen sich in dem Bestreben, für Kinder zu schaffen. Und darum gehören zu den Mitarbeitern unseres Theaters auch Pädagogen, Spezialisten für Massenspiele, Pädagogen, Professoren. Aber Sie brauchen gar nicht zu erschrecken, wie das wohl geht, Schauspieler und Pädagogen zusammen bei einer Arbeit. Ich will mich bemühen, Ihnen über die Funktionen jedes einzelnen Teils des komplizierten Organismus unseres Kindertheaters zu erzählen, und Sie werden begreifen, daß unser Theater der Schule beisteht und mit seinen Mitteln an der Erziehung der Kinder teilnimmt, und dabei doch ein Theater im vollen Sinne dieses Wortes bleibt. [. . .] Denn unsere Schauspieler sind ja synthetische' Schauspieler, sie müssen die Kunst des Dramas und der Komödie beherrschen, müssen tanzen und singen können, müssen mit der Pädagogik und den Besonderheiten der kindlichen Auffassung vertraut sein. Schauspieler eines Kindertheaters sein, das ist ein neues, verantwortungsvolles Spezialfach. Kleinen Kindern muß man große Kunst bieten. Wer große Kunst nicht zu meistern versteht, kann nicht im Kindertheater arbeiten - auf der Grundlage dieser Überzeugung hat sich unser Theater entwickelt. Man darf den Kindern eine Aufführung nur dann bieten, wenn wirkliche, erwachsene Kunstkenner sie für tatsächlich künstlerisch halten. Bedeutet das nun aber, daß man jede künstlerisch wertvolle Aufführung Kindern darbieten kann? Keineswegs. Wir wissen, daß das Kind sogar physiologisch nicht einfach eine verkleinerte Kopie des erwachsenen Menschen ist. Um so mehr ist sein Innenleben kompliziert und eigenartig. Die verschiedenen Altersstufen des Kindes zwingen uns auch, ihm gegenüber verschiedene Behandlungsmethoden ausfindig zu machen [. . .] Das Kind will vor allem begreifen, was auf der Bühne vorgeht,

232

es will der Folgerichtigkeit der Handlung folgen und gemeinsam mit den handelnden für

das

Personen die Ereignisse miterleben. Nein,

etwas

H e r z und den Verstand m u ß die Kindervorstellung

vor

allem bieten. Und Farben, Musik, Beleuchtung, sämtliche Mittel der Bühnenwirkung

müssen

die

Idee

der

Aufführung

unterstützen

helfen. Mir, als Regisseur, scheint es kitschig, wenn die Bemerkung des Verfassers ,Er setzte sich ans Klavier' den •einzigen A n s t o ß zur E i n führung von Musik in die A u f f ü h r u n g bildet, w ä h r e n d die armseligen Lichteffekte ausschließlich von

solchen Weisungen

abhängen,

wie , D e r T a g bricht an' oder ,Es dämmert'. Unser T h e a t e r ist vor allem ein synthetisches T h e a t e r . Ein Theater, dessen Aufführungspartitur

den

ganzen

Reichtum aller Ausdrucksmittel

umfaßt,

ein

T h e a t e r , w o Musik, Bewegung, dekorative Konstruktionen u n d Farben gemeinsam mit dem Stück die Probleme der A u f f ü h r u n g lösen. W a s für Stücke haben nun die D r a m a t i k e r des Moskauer

Kinder-

theaters geschaffen, was f ü r A u f f ü h r u n g e n gingen und gehen

über

unsere Bretter, welche mit dem lebendigen Leben v e r k n ü p f t e n Fragen lösen die H e l d e n

der Stücke gemeinsam mit d e m

kindlichen

Zuschauer? W i r haben viele Stücke aus dem Leben der K i n d e r der Sowjetunion, wir haben auch Stücke aus dem Leben anderer Länder, und schließlich gibt

es

solche, die Reisen in die

Vergangenheit

machen. A b e r wenn wir von Kindern sprechen, so sprechen wir auch von Erwachsenen. D i e K i n d e r lieben es sehr, erwachsene

Helden

auf der Bühne ihres T h e a t e r s zu sehen. Unter unseren A u f f ü h r u n g e n gibt

es

stücke,

Dramen, und

Komödien,

wissenschaftlich-phantastische

gegenwärtig suchen wir die F o r m des

Spiel-

dramatischen

Sowjetmärchens. A b e r die T h e m e n aus dem lebendigen Leben stehen nach wie vor im Mittelpunkt [. . .] D e r Arbeit unseres Theaters liegt die Aktivierung des Zuschauers nicht nur während der A u f f ü h r u n g selbst, sondern auch nach dieser zugrunde. Es handelt sich darum, d a ß die K i n d e r lernen, die im T h e a t e r gesammelte Energie in entsprechender W e i s e für das wirkliche Leben umzuformen. Ja, der Schluß des Stückes m u ß frisch sein, er m u ß aber gleichzeitig auch so sein, d a ß den K i n d e r n nach der A u f f ü h r u n g die H ä n d e jucken, nun selbst im wirklichen Leben das zu bezwingen, was im Stück bezwungen wird. Jedes Stück enthält E l e m e n t e der Z u s a m m e n s t ö ß e und des Überwindens [. . .] Jedes Stück m u ß zur Entwicklung der kindlichen

Initiative

Anstoß

geben. W i r sprechen deshalb sehr viel von den Besonderheiten der Altersstufen, weil wir die A u f g a b e haben, K i n d e r im Alter sechs bis sechzehn Jahren durch die A u f f ü h r u n g e n des

Kindertheaters zu erfassen. N u r wenn man die Besonderheiten

233

von

Moskauer der

Altersstufen berücksichtigt, kann man einen richtig dosierten Inhalt geben, einen Inhalt, der vom Zuschauer nicht oberflächlich, sondern gründlich angeeignet wird und der seine Gefühlsregungen auf den Zuschauer überträgt. Jede Aufführung muß der entsprechenden Altersstufe der Zuschauer passive Schwierigkeiten bieten. Wenn der Zuschauer zum Verständnis der Aufführung zu deren Verarbeitung, gar keine Anstrengung zu machen braucht, so hat eine derartige Theaternahrung nicht das gewünschte aktivierende Ergebnis. Aufführung plus selbständige Arbeit des Zuschauers - das ist es, was wir wollen. Die Kindervorstellung soll also kein Griesbrei sein, sondern eine Nuß, die man zu knacken hat, sie darf aber auch auf keinen Fall allzu hart sein, sonst erreichen wir ebenfalls nicht unseren Zweck. Darum ist es wichtig, die Stärke dieser Zähne zu kennen, darum beschäftigen wir uns so hartnäckig mit dem Studium des Zuschauers, fordern Verständnis für die Besonderheiten seiner Altersstufe." 75 76 77 78 79 80 81 82

Ebenda. Ebenda, S. 6 - 7 . Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 8. Ebenda. Saz, S. 92. Zit. nach Saz, S. 100. Henriette Pasquar: Mon Théâtre à Moscou. Paris 1930, S. 13-14. Ilja Ehrenburg: Menschen, Jahre, Leben. Bd. 1. München 1962, S. 450. - Ilja Ehrenburg berichtet darüber: „Das Pasquar-Theater inszenierte Kiplings Dschungelbuch. Der Panther räkelt sich wolllüstig auf der Bühne und benahm sich überhaupt, als sei er kein Panther, sondern die Salome von Oscar Wilde. Auf mich machte das den Eindruck der Dekadenz, ich war verärgert." 83 Saz, S. 101-102. - Über die Haltung Lunatscharskis zur Entwicklung des ersten staatlichen Kindertheaters liegen keine schriftlichen Aussagen vor. Eines steht jedoch fest, daß er damit ganz und gar nicht einverstanden war. Im Sommer 1923 berief er J. M. Bondo zum künstlerischen Leiter des Theaters, der eine völlig andere Position als die Pasquar vertrat. Bondi war bis zu seiner Berufung Berater für künstlerische Erziehung im Volkskommissariat und Leiter eines der größten Kulturhäuser für Kinder in Moskau. Seine erste Inszenierung am staatlichen Kindertheater spielte in den Straßen Moskaus zur Zeit der N Ö P . 84 Fast zur gleichen Zeit, bereits im Oktober 1920, begann in Charkow das älteste Kindertheater der Ukraine seine Arbeit, es eröffnete offiziell am 12. Juli 1921.

234

8 5 M T f K , S. 16. 8 6 Schpet, S. 6 7 - 6 8 . ten

Symbolik

und

Saz und Rosanow sagten sich von der abstrakder

„reinen

Zauberei"

los

und

konzentrierten

ihre Suche auf Märchen und Legenden verschiedener Völker, wobei sie danach strebten, die sozialen M o t i v e der Figuren zu unterstreichen. „ D a s Moskauer T h e a t e r für K i n d e r hatte für seinen toireaufbau

ein Programm.

T h e o r i e zugrunde,

Ihm

lag

nach der jedes

Entwicklung durchläuft,

die

sogenannte

Individuum

jedes

Reper-

biogenetische Stadium

der

das seine Gattung durchgemacht hat.

Mit

anderen W o r t e n : J e d e s K i n d wiederholt in seiner seelischen

Ent-

wicklung die Etappen des kulturvollen Wachstums der Menschheit. W i e auch das System der Erziehung mittels Spiel sich auf die Ausnutzung des für Kinder

charakteristischen

.dramatischen

stützt. D i e s e Theorie, begründet von einer Gruppe von

Instinkts' amerikani-

nischen Psychologen um Professor Stanley Holl, war in dieser Zeit auch in Rußland populär. Ihr Einfluß zeigt sich auch auf die künstlerisch-pädagogischen Prinzipien des Moskauer Theaters für Kinder, das die Ideen S. Holls in die Theaterpraxis umzusetzen versuchte. ,Damit das Kunstwerk den Kindern zugänglich ist und Einfluß auf die Erweiterung ihres künstlerischen Horizonts hat, ist es erforderlich, solche Kunstwerke zu spielen, die die Hauptetappen, die die Menschheit auf ihrem Entwicklungsweg auf dem G e b i e t des Schönen durchlaufen hat, widerspiegeln', schrieb Rosanow. D i e s e r Logik folgend, kann die zeitgenössische Kunst im Kindertheater nur irgendwie am E n d e des Programms Aufnahme

finden.

A b e r zum Glück

erreicht das K i n d dieses Niveau in wesentlich kürzerer Frist als die Menschheit. Rosanow schrieb: ,Das K i n d braucht keine Kunst des heutigen Tages [. . .] Indem wir den Kindern Kunstwerke moderner Schulcn und Richtungen anbieten, erziehen wir auf keinen F a l l ihr

ästhetisches

Empfinden,

sondern

zwingen

schmack auf, der die Seele des Kindes

ihnen

nicht in der

diesen

Ge-

gewünschten

W e i s e erreicht. Daraus folgt, daß die Inszenierungen des Theaters im Ideal nicht irgendein «System» aufstellen

dürfen,

sondern

folgende Aufführung muß durch den G r a d ihrer ästhetischen

jede Kom-

pliziertheit die Fortsetzung der vorherigen sein.' " D a s Moskauer Kindertheater folgte dieser Theorie nur eine kurze Zeit, dennoch sei sie als Anmerkung erwähnt, denn sie war in jenen Jahren sehr verbreitet und findet auch heute noch Anhänger. 87 Saz, S. 1 6 5 . 8 8 S. Rosanow. Zit. nach Saz, S. 1 6 4 - 1 6 5 . 8 9 Schpet, S. 7 3 . 9 0 Auch das Leningrader Tjus probierte in der ersten Zeit seines E n t stehens

Mitspielformen

aus,

besonders

235

in

Inszenierungen

für

die

91 92 93

94 95 96 97 98

untere Altersstufe, z. B. „löschte" das Publikum gemeinsam mit der Biberfeuerwehr den Brand des Katzenhauses in Marschaks gleichnamigem Stück. Die Kinder erhielten Feuerwehrhelme und Spritzen. Aber Brjanzew ließ diese Form bald fallen. Der Spielplan des Tjus enthielt und enthält bis heute nur noch Stücke für schulpflichtige Kinder. Brjanzew betrachtete das Puppentheater als die geeignetste Theaterform für Vorschulkinder. Zum Tjus gehörte auch ein Puppentheater, das bald selbständig wurde. Vgl. Manfred Wekwerth: Theater und Wissenschaft. In: Arbeitshefte der Akademie der Künste der D D R (1972) 3. Saz, S. 236-237. In einem Gespräch mit „Freunden der Komischen Oper" am 16. April 1973 berichtete N. Saz über den Erfolg des Negerlein und der Affe: „Dieses Stück hatte den größten Beifall von allen Stücken unseres Kindertheaters [. . .] Und jetzt haben die damaligen Zuschauer, die heute erwachsen sind und Kinder und Enkelkinder haben, gefordert, daß ich das Stück wieder machen soll." Tonbandmitschnitt. Vgl. Elke Baur: Theater für Kinder. Stuttgart 1970. S. 11. Schpet, S. 75. N. Saz: Tonbandgespräch mit der Autorin am 13. Mai 1973. Schpet, S. 70. A. J. Tairow: Aufzeichnungen eines Regisseurs. In: Theateroktober. Leipzig 1972, S. 272.

99 MTfK, S. 6. 100 N. Saz: Tonbandgespräch mit der Autorin am 13. Mai 1973. 101 A. A. Brjanzew: Wo imja detskoi duschi (Im Namen der kindlichen Seele). In: Tcatr (1966) 10, S. 29. 102 N. Saz: Vortrag vor der Gesellschaft „Freunde der Komischen Oper" am 16. April 1973. Tonbandmitschnitt. 103 Saz, S. 228-229. 104 W. E. Meyerhold: Rekonstruktion des Theaters. In: Theateroktober. Leipzig 1972, S. 126. 105 Das proletarische Kind (1921), Februar. 106 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd. 3. Berlin 1966, S. 322-366. 1'07 Richtlinien für die praktische Arbeit der Bildungsobleute. In: Bildung und Propaganda (1922) 1, S. 5. 108 Kunst und Anschauungsmittel im Dienste kommunistischer Propaganda. In: Ebenda. 109 Ludwig Hoffmann/Daniel Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeitertheater 1918-1933. Berlin 1972, S. 97. 110 Hoernle, S. 239.

236

111 112 113 114 115

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Ebenda, S. 2 4 0 - 2 4 1 . Ebenda, S. 239. Ebenda, S. 242. Schedler, S. 223. Vgl. Ludwig Hoffmannn: Einleitung zu Deutsches Arbeitertheater 1 9 1 8 - 1 9 3 3 . Berlin 1972, S. 2 4 : „Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes vernachlässigte die SPD immer mehr das Arbeitertheater und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Berufstheater. Sie konzentrierte ihre Arbeit auf dem Gebiet des Theaters auf die Volksbühne. 1906 wird auf dem Mannheimer Parteitag der Zentrale Bildungsausschuß gegründet, der seine Hauptaufgabe in der Vermittlung von Kunstwerken, Vorträgen usw. sah. Gegenüber dem proletarischen Laienschafien nimmt die SPD von nun an sogar eine feindliche Haltung ein, die in der Ansicht wurzelt, daß die Arbeiterklasse unter kapitalistischen Verhältnissen nicht in der Lage sei, eigene Kunst zu schaffen." Hoernle, S. 240. Ebenda. Ebenda, S. 274. Ebenda, S. 241. Ludwig Hoffmann: Einleitung zu Deutsches Arbeitertheater 1918 bis 1933. Berlin 1972, S. 29. Hoernle, S. 242. Ebenda, S. 2 2 3 - 2 2 4 . Ebenda, S. 223. Ebenda, S. 65. Das politisch organisierte Kinderkollektiv im Erziehungsprozeß. Berlin 1972, S. 2 3 - 2 4 . Asja Lacis: Revolutionär im Beruf. München 1971, S. 2 5 - 2 6 . Ebenda, S. 23 ff. Anna Lacis in einem Gespräch mit der Autorin am 13. Juli 1973. Tonbandmitschnitt. Ebenda. Asja Lacis: Das Programm eines proletarischen Kindertheaters. Erinnerungen beim Wiederlesen. In: alternative 11 (1968) April/ Juni, S. 6 4 - 6 5 . Benjamin, S. 79. Ebenda, S. 8 0 - 8 1 . Ebenda. Edwin Hoernle: Erziehung zum Klassenkampf (Auszüge). In: Das proletarische Kind (1922) Mai/Juni/Juli. Benjamin, S. 85. Ebenda, S. 82.

237

137 Ebenda, S. 83. 138 Ebenda, S. 82. 139 Ebenda. 140 Ebenda. 141 Anna Lacis in einem Gespräch mit der Autorin am 13. Juli 1973. Tonbandmitschnitt. 142 Benjamin, S. 83. - Benjamin schreibt: „Die neue Erkenntnis vom Kinde, die in den russischen Kinderklubs sich ausbildete, hat zu dem Lehrsatz geführt: Das Kind lebt in seiner Welt als Diktator." In dem zitierten Gespräch mit der Autorin bestritt Anna Lacis, diese Information Benjamin vermittelt zu haben, ihr sei dieser Lehrsatz unbekannt. 143 W . Sorin: Über die lebenden Pionier-Zeitungen. I n : Das proletarische Kind (1927) 7, S. 22. 144 Helmut: Die Roten Trommler. I n : Das proletarische Kind (1928) 1. 145 D i e Roten Trommler. In: Roter Stern (1928) 7. 146 Lebende Zeitung der Hamburger Pionier-Organisation.

In:

Das

proletarische Kind (1928) 7, S. 212. 147 Schedler, S. 2 1 5 - 2 1 6 . 148 Sie lehnen das Märchen generell ab, weil es angeblich „eine heile Welt des schönen Scheins" imaginiere, die die Kinder von den Widersprüchen

der kapitalistischen

Wirklichkeit

fernhält.

Dieser

Konfrontation von Aktualität und Konkretheit der gegenwärtigen politischen

Gegebenheiten

mit

den

verschlüsselten

Abbildungen

durch das Märchen liegt eine vulgär-materialistische Auffassung zugrunde, wie sie auch Mitte der zwanziger Jahre sowohl bei Agitprop-Spielern als auch bei linksorientierten Künstlern

anzutreffen

war und die heute wieder besonders von jenen Intellektuellen, die Ende der sechziger Jahre die Richtung der antiautoritären Erziehung vertraten, in den westeuropäischen Ländern verfochten wird. 149 Die Kinderliteratur entwickelte sich zu einem wichtigen Bestandteil der revolutionären Massenliteratur und bezog ihre Sujets aus den Klassenkämpfen der Arbeiterklasse, aus dem Alltag der Arbeiterkinder. So z. B. schreibt G. W. Pijet die Erzählung Die kolonne,

Proviant-

in der gezeigt wird, wie eine Kind-ergruppe durch das

Sammeln von Lebensmitteln einen Streik der Väter unterstützt. In Kämpfende

Jugend

von W . Schönstedt wird der politische Tages-

kampf einer Gruppe von Jungkommunisten geschildert. Das bedeutendste Werk der Kinderliteratur dieser Zeit ist Alex Weddings Ede

und

Unku

(1931). An der Freundschaft des Arbeiterjungen

Ede zu dem Zigeunermädchen Unku wird der

Klassencharakter

faschistischer Rassendiskriminierung enthüllt und deutlich gemacht, daß in der Solidarität der Ausgebeuteten ihre revolutionäre Stärke

23 &

150 151

152

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beruht. Zum erstenmal erhält auch der deutsche Kommunist in der Kinderliteratur literarische Gestalt. Zit. nach Trude Bez-Mennicke: Proletarisches Kindertheater. In: Neue Blätter für den Sozialismus (1932) 2, S. 90. Das Theater der Kinder wurde von zwei ehemaligen Mitgliedern der Gruppe junger Schauspieler, von Fritz Genschow und René Stobrawa, geleitet. Beide haben dann später unter dem Faschismus das Berliner Jugend- und Kindertheater Genschow-Stobrawa gegründet, mit dem sie zahlreiche Gastspiele durch Deutschland und die besetzten Gebiete durchführten. Sie lieferten auch die „Kinderstars" für den Nazi-Jugendfilm Der Hitlerjunge Quex und viele andere Filme (Emil und die Detektive). Nach 1945 eröffneten sie erneut ein Theater mit Kindern im Westberliner Bezirk Spandau. Es gelang, auch nach der Machtergreifung Hitlers dieses Programm noch in einigen illegalen Veranstaltungen zu zeigen. Leider ging der Text verloren. Béla Balàzs: Das Kindertheater. In: Arbeiterbühne und Film (1929) 12, S. 2. Ebenda. Karle machste mit?. In: Illustrierte Neue Welt (1933) 2. Bertolt Brecht: Theorie der Pädagogen. In: Schriften zum Theater II. Berlin-Weimar 1964, S. 138-139. Bertolt Brecht: Die große und die kleine Pädagogik. Brecht-Archiv, 521/96. Bertolt Brecht: Material zum Leben des Konfuzius, Brecht-Archiv, 191/35. Ebenda. Horst Hawemann: Versuche Möglichkeiten des Kindertheaters zu beschreiben. Zit. nach dem Typoskript, S. 14-15. Gesetz zur Förderung der Jugend vom 8. Februar 1950. V. Häuser, Bibliotheken und Theater für Kinder, 3. Absatz. Kulturverordnung der Regierung der D D R vom 22. März 1950, Paragraph 9: Besondere kulturelle Maßnahme, 5. Absatz. Hans Rodenberg: Resümee. In: 15 Jahre Theater der Freundschaft. Berlin 1965, S. 8 - 9 . Ludwig Hoffmann/Daniel Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeitertheater 1918-1933. Berlin 1972, S. 47. Hans Rodenberg: Resümee. In: 15 Jahre Theater der Freundschaft. Berlin 1965, S. 8. Hans Rodenberg in einem Gespräch mit der Autorin am 7. Mai 1973. Zit. nach dem Tonbandmitschnitt. Vgl. Theater in der Zeitenwende. Bd. 2. Berlin 1972, S. 368.

239

168 Begeisterungsstürme um Du bist der Richtige. In: Tribüne v. 31. 5. 1950. 169 Wilhelm Pieck: Ansprache zur Nationalpreisverleihung 1950. Zit. nach dem Programmheft Du bist der Richtige des Theaters der Freundschaft, Spielzeit 1950/51. 170 Hans Rodenberg: Du bist der Richtige. Ein Stück zum Deutschlandtreffen. Artikel für den Zentralrat der F D J , Presseabteilung, v. 4. 7. 1950. Zit. nach der Stückakte Du bist der Richtige. Archiv des Theaters der Freundschaft. 171 Karl Schnog: Mehr, weniger und nichts als Theater. In: Weltbühne v. 13. 12. 1950, S. 1584. 172 Schneeball wurde allein am Theater der Freundschaft viermal aus jeweils unterschiedlichen politischen Anlässen inszeniert. Diese Inszenierungen geben ein Beispiel, wie es das Kinder- und Jugendtheater der D D R verstanden hat, Theater der Zeit zu sein, d. h., den Kindern die gesellschaftlichen Widersprüche in der Welt zu zeigen und zu parteilicher Anteilnahme am Kampf der Unterdrückten aufzufordern. Der ersten Schneeball-haiiühtxmg (Regie: Charlotte Küter, Bühnenbild: Roman Weyl) lag der Gedanke der internationalen Solidarität zugrunde. Sie ging von dem gemeinsamen Kampf des sowjetischen und amerikanischen Volkes gegen den Faschismus aus und enthüllte das Rassenproblem als Klassenfrage, sie erklärte damit zugleich Ursachen für die Verfolgung und Ermordung jüdischer Menschen durch den Faschismus. Die zweite Inszenierung 1955 (Regie: Josef Stauder, Bühnenbild: Roman Weyl) betonte die Aktualität des Stückes im Hinblick auf die Refaschisierung Westdeutschlands, die Gründung der N A T O und der antisowjetischen Kampagne in den USA. Aus Anlaß des zehnten Jahrestages des Theaters der Freundschaft erschien Schneeball 1960 in der neuen Übersetzung von Hans Rodenberg (Regie: Rudi Kurz, Bühnenbild: Otto Kähler) zum dritten Male im Spielplan. Das Ensemble brachte mit dieser Aufführung seine Solidarität mit den um ihre Freiheit ringenden Völkern Afrikas zum Ausdruck. Als im .heißen Sommer' 1968 die andersfarbigen Amerikaner, unterstützt von Bürgerrechtskämpfern, um ihre menschlichen Grundrechte kämpften und von der Reaktion brutal zusammengeschlagen wurden, entschloß sich das Theater aufgrund eines Vorschlages des künstlerisch-ökonomischen Rates, mit Schneeball gegen diese Vorgänge zu protestieren. (Regie: Horst Hawemannn, Bühnenbild: Otto Kähler, Gerhard Arnold). Friedhold Bauer übernahm die Bearbeitung des Stückes, die den Akzent auf den Kampf der beiden schwarzen Kinder um ihr Recht auf Bildung legte. Nicht Angela Biddl, Millionärstochter aus dem Süden, kommt in die Roosevelt-

240

173 174 175 176 177 178

179 180 181 182

Schule, sondern Dick und Betty werden in diese Schule aufgenommen, die für besonders begabte Kinder eingerichtet wurde. Die Protokolle der Zuschauergespräche zu den einzelnen Inszenierungen weisen aus, daß das junge Publikum diese verschiedenen Absichten nicht nur zu deuten wußte, es wurde zu Solidaritätsaktionen aktiviert und verglich die Lage in den kapitalistischen Ländern mit dem Leben im Sozialismus. Fred Rodrian: Beginn - Bilanz - Aufgaben. In: Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur (1970) 14, S. 24. Zit. nach dem Programmheft Die Gesichte der Simone Machard des Theaters der Freundschaft, Spielzeit 1957/58. Günther Claus/Hans Hiebsch: Kinderpsychologie. Berlin 1962, S. 247-248. Wera und Claus Küchenmeister: Damals 18/19. In: Theater der Zeit 13 (1958) 11, S. 7. Günter Görlich: Zu Die Ehrgeizigen. In: Stückakte Die Ehrgeizigen im Archiv des Theaters der Freundschaft. Horst Hawemann: Gedanken zur Arbeit an der Inszenierung Spiel vor dem Feind. In: Stückakte Spiel vor dem Feind im Archiv des Theaters der Freundschaft. Zit. nach dem Typoskript, S. 1. Ebenda, S. 4. Altner, S. 57. Hans Koch: Günter Görlich: Den Wolken ein Stück näher. In: Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur (1971) 21, S. 78. Zit. nach der Arbeitsübersetzung im Theater der Freundschaft. Auch N. Saz beklagte sich über diese „Gewohnheit". In einem Artikel in der Prawda vom 20. 3. 1973 Lassen wir die Tjus den Kindern schreibt sie: „Leider nehmen Bearbeitungen in den Kindertheatern einen unberechtigt großen Platz ein. Man sollte sich an die Worte Maxim Gorkis erinnern, der 1933 einem Kiewer Kindertheater eine Bearbeitung seiner Kindheit untersagte und dazu schrieb: ,Ich bin überhaupt gegen Bearbeitungen, denn sie verringern die Ansprüche des Publikums an die dramatische Kunst [. . . ] ' "

183 Dieter Kranz: Die Herren des Strandes. Beitrag für Atelier und Bühne, Berliner Rundfunk. Sendung am 23. 5. 1971. Zit. nach dem Typoskript, S. 2 - 3 . 184 Mirjana Erceg/Horst Hawemann: Anstelle einer Konzeption. In: Stückakte zu Herren des Strandes. Archiv des Theaters der Freundschaft. 185 Erich Honecker: Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. In: Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitages der Sozialistischen Ein-

16 Hoffmann

241

heitspartei Deutschlands. Bd. 1, 1.-3. Beratungstag. Berlin 1971, S. 79. 186 Zit. nach der Stückakte Rotkäppchen, erste Inszenierung. Im Archiv des Theaters der Freundschaft. 187 Günter Kaltofen: Zur Frage der Bearbeitung unserer Volksmärchen für die Bühne. In: Theater der Zeit 7 (1952) 17, S. 7. 188 Günter Kaltofen hat im Lauf der Jahre noch eine ganze Reihe der bekanntesten Märchen bearbeitet. Obwohl vier dieser Märchen im Theater der Jungen Welt uraufgeführt wurden, erschienen sie in den Spielplänen der anderen Kinder- und Jugendtheater nur vereinzelt. Die theatergerechte Aufbereitung der Märchen, ihr Zuschnitt auf klein« Ensembles brachte den Erfolg der Stücke besonders um die Weihnachtszeit an den Theatern für Erwachsene. Zwar verfuhr der Autor mit den alten Stoffen in seinen weiteren Dramatisierungen nioht mehr so radikal, aber die Methode behielt er bei. 189 Heinz Czechowski: Über das Schreiben für Kinder. In: Theater der Zeit 27 (1972) 12, S. 23. 190 Horst Hawemann: Konzeption zu Zar Wasserwirbel. In: Stückakte Zar Wasserwirbel im Archiv des Theaters der Freundschaft. 191 Inge Unikower: Das Untier von Samarkand. In: Deutsche Lehrerzeitung (1957) 12, S. 3. 192 Johann Gottfried Herder: Morgenländische Erzählungen. Leipzig 1957, Vorrede, S. 9. 193 Uwe Schuster: Probleme der Klassikerinterpretation am Kinderund Jugendtheater. Beitrag zum Rechenschaftsbericht des Theaters der Freundschaft. 1969. Nach dem Typoskript, S. 3. 194 Hans Rodenberg: Luise Millerin. Zur Premiere am 22. Oktober im Theater der Freundschaft. In: Junge Welt v. 19. 10. 1952. 195 Hans Rodenberg. Zit. nach dem Protokoll der Pressekonferenz zur bevorstehenden Premiere von Luise Millerin am 16. 10. 1952. In: Stückakte Luise Millerin. Archiv des Theaters der Freundschaft. 196 Ebenda. 197 Gerhard Piens: Zweimal Shakespeare für junge Zuschauer. In: Theater der Zeit 14 (1959) 7, S. 48. 198 Manfred Wekwerth: Klassenkampf auf dem Theater. In: Sonntag (1958) 9, S. 6. 199 Shakespeare im 6 /s-Takt. In: Nationalzeitung v. 6. 10. 1963. 200 Das Theater der Freundschaft gastierte mit Was ihr wollt: 1964 bis 1967 drei Mal in der BRD, 1967 in Jugoslawien, 1968 in der Sowjetunion und in Bulgarien, 1970 in Rumänien. 201 Theater heute 10 (1969) 12, S. 43. 202 Scbedler, S. 147.

242

203 Vgl. Kinderspiele ohne Schick und Tinnef. In: Der Spiegel (Ausgabe B ) v. 6. 3. 1972. Das Erstarken reaktionärer Kräfte (Berufsverbot) und das Ausmaß der Krise beeinflussen auch die Entwicklung des Kindertheaters. In den letzten zwei Jahren ist die Tendenz rückläufig trotz der Experimenta Kinder- und Jugendtheater im Juni 1975 in Frankfurt a. M. 2 0 4 Das bürgerliche Theater hat sich immer in Krisenzeiten auf das jugendliche Publikum

besonnen. So verdankt beispielsweise

das

Weihnachtsmärchen seine Entstehung einer solchen Krise um 1864. Während der Weltwirtschaftskrise

1930/32 initiierte das bürger-

liche Theater drei Stücke für Kinder, die bis in die sechziger Jahre seine Kassenschlager blieben: Emil und die Detektive

und Pünkt-

chen und Anton von Erich Kästner und Robinson soll nicht sterben von Friedrich Forster. 205 Das Stiefkind des Theaters wird mündig. I n : Frankfurter Allgemeine v. 2. 7. 1972. 206 Altner, S. 10. 207 Hans Peter Bleuel: Kinder in Deutschland. München 1971, S. 82 bis 83. 208 Vgl. ebenda, S. 90. „Im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern ergab sich zu Beginn der sechziger Jahre folgendes statistisches Bild über den Anteil der Studierenden aus der Arbeiterklasse: Schweiz: 5 , 5 % ; B R D : 5 , 9 % ; Frankreich: 9 , 4 % ; Schweden: 1 4 , 3 % ; England: 2 5 % . Wenn man diese Zahlen wiederum mit dem Anteil der Arbeiterklasse an der Gesamtbevölkerung in Beziehung setzt, ergibt sich das Verhältnis von 1:2 für Großbritannien, 1:3 für Schweden, 1 : 5 für Frankreich und 1 : 1 0 für die B R D . " 209 Hans Peter Bleuel: Kinder in Deutschland. München 1971, S. 48. 210 Ebenda, S. 53. 211 Vgl. ebenda, S. 2 5 : „Auch die Statistik über den Anteil von Kindern bei tödlichen Verkehrsunfällen führt die B R D an, er beträgt 38%

gegenüber 2 5 % in Frankreich und 1 2 % in Italien.

kamen 65 693 Kinder auf den Straßen der B R D

1969

zu Schaden,

24 383 wurden schwer verletzt, 39 836 erlitten leichte Verletzungen und 1 919 Kinder starben." 2 1 2 Ebenda, S. 15. 213 Ebenda, S. 11. 214 Vgl. Günther Cwojdrak: Lesebuch und Weltbild. Halle 1968. 215 Vgl. Monika Speer: Vom Elend unserer Jugendliteratur. I n : Kürbiskern (1972) 4, S. 1 4 7 - 1 4 8 . 216 Hans Peter Bleuel: Kinder in Deutschand. München 1971, S. 124 bis 125. 16-

243

217 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentale Dichtung. Sämtliche Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Philosophische Schriften. 1. Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann, hrsg. v. Benno v. Wiese. Weimar 1962, S. 416. 218 Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes. Berlin 1905. 219 Volker Ludwig: Über die Anmaßung, Theater für Kinder zu machen. In: Theater heute 11 (1970) 4, S. 28. 220 Millipilli und Stokkerlok. In: Spandauer Volksblatt v. 20. 5. 1965. 221 Melchior Schedler: Der Wind schlägt um. In: Theater heute 11 (1970) 4, S. 36. 222 Jürgen Beckelmann: Schafft drei, vier, viele Mugnogs! In: Frankfurter Rundschau v. 25. 6. 1970. 223 MEW, Bd. 3, S. 74. 224 Volker Ludwig: Über die Anmaßung, Theater für Kinder zu machen. In: Theater heute 11 (1970) 4, S. 28. 225 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1955, S. 387. . 226 Clara Zetkin: Über die sozialistische Erziehung in der Familie. In: Die Erziehung der Kinder in der proletarischen Familie. Berlin 1960, S. 40. 227 Edwin Hoernle: Grundfragen der proletarischen Erziehung. Darmstadt 1969, S. 191. 228 Volker Ludwig: Über die Anmaßung, Theater für Kinder zu machen. In: Theater heute 11 (1970) 4, S. 27. 229 In: Programm der Kulturtage progressiver Westberliner Kunst. Berlin (West) 1972, S. 19. 230 Hans Peter Bleuel: Kinder in Deutschland. München 1971, S. 46. 231 Unter der Überschrift Kein Spaß für die Kleinen schreibt Ingrid Seidenfaden in der Bayrischen Staatszeitung vom 7. 5. 1971: „Freilich kommt dies Stück [. . .] nicht aus, ohne eine schlichte Moral unter antiautoritärem Vorzeichen. Lustig und listig lehrt sie die Macht der Kinder, wenn sie sich als Gruppe zusammentun. Reibflächen zwischen dem Willen der Kinder und sagen wir mal, den Bedingtheiten des öffentlichen Lebens: keine. Hier versagt die Information über die Wirklichkeit. Also doch wieder, wenngleich relativiert, eine Schein- und Wunschwelt." 232 Melchior Schedler: Oder etwas kommerzialisieren, bis es kaputt ist. In: Theater heute 12 (1971) 6, S. 28. 233 Vera Schuster: Der Drache speit kein Feuer mehr. In: Der Tagesspiegel v. 30. 5. 1971. 234 Hoernle, S. 174. 235 Ebenda, S. 172. 236 Teilaspekte für die Kleinen. Volker Ludwig macht weiter Auf-

244

237 238 239 240 241

242 243 244 245 246 247

248 249 250 251 252 253

254

klärungstheatec für die Kleinen. In: Spandauer Volksblatt v. 1. 2. 1972. Hoernle, S. 168-169. Altner, S. 12. Hans Peter Bleuel: Kinder in Deutschland. München 1971, S. 14. Volker Ludwig/Reiner Lücker: Mannomann. Bühnenmauskript. Verlag der Autoren. Frankfurt (Main), S. 20. Hans Hiebsch: Sozialpsychologische Grundlagen der Persönlichkeitsbildung. Berlin 1971, S. 16; vgl. Alfred Kurella: Das Eigene und das Fremde. Berlin-Weimar 1968. S. 170-171. Marler Modell. In: Kindertheater. Protokolle der Kindertheatertagung in Marl 1970, S. 111-112. Ebenda. Volker Ludwig/Reiner Lücker: Mannomann. Bühnenmanuskript. S. 24. Wolfgang Schulz: Rolle und Sozialisation. In: Beiträge zu einer Theater- und Interaktionspädagogik. Berlin (West) 1971, S. 40. Hendrik Bussiek: Spiel und Theater in einer gesellschaftsverändernden Strategie. In: Ebenda, S. 12-13. Allerdings verwahrt sich Volker Ludwig zurecht gegen Kreativität an sich. Er schreibt über die Generalversammlung der ASSITEJ, die im Juni 1972 in den USA und Kanada stattfand und unter dem Motto „Kreativität" stand, in Theater heute (13 (1972) 11 S. 3): „Creative-Drama - groß in Mode bei den Amerikanern. D a ß Kreativitäts-Training dazu da ist, aus einem Manager einen Generalmanager und aus einem Major einen Feldherrn zu machen, stand nicht zur Debatte." Bertolt Brecht: Der Faschismus und die Jugend. In: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Bd. II. Berlin-Weimar 1968, S. 6 9 - 7 0 . Michel Gaißmayer: Theater für Kinder - Grips - ,Doof bleibt doof ein aktuelles Thema. In: Die Wahrheit v. 20. 3. 1973. Alltagssprache versteht jeder. In: Berliner Morgenpost v. 18. 2. 1973, Schedler, S. 168. Schlußlied von Doof bleibt doof. Zit. nach dem Programmheft der Uraufführung. Jewgeni Schwarz: O detskoi dramaturgii (Über Kinderdramaturgie). In: Robotschi i teatr (1934) 22, S. 9. Zit. nach A. N. Gosenpud: Zentralny detski teatr (Zentrales Kindertheater). Moskau 1966, S. 18. Folglich dürfe auch der junge Schauspieler nur eine begrenzte Zeit am Kinder- und Jugendtheater arbeiten und müsse im Interesse seiner eigenen künstlerischen Entwicklung an ein „Erwachsenen-

245

t h e a t e r " überwechseln. Absolventen der Schauspielschule wird das Kinder- und Jugendtheater als „Übungsfeld"

hingegen anempfoh-

len, weil sie hier in einem vielfältigen Repertoire ihre Mittel trainieren

können.

Das

Kinder-

und Jugendtheater

ist

aber

weder

ein Sprungbrett für eine schauspielerische Karriere, noch eine verlängerte Schauspielschule.

Es

ist

eine Aufgabe

auch

für

den

Schauspieler, und die künstlerische Qualität des Kinder- und J u gendtheaters kann nur so groß oder mittelmäßig sein wie sein E n semble. V i e l e gerade der profilierten Schauspieler der Kinder- und Jugendtheater

bekennen

sich

inzwischen

zu ihrem

kum, für das sie sich e n t s c h i e d e n dem

Theater

auch

die

Verpflichtung,

jungen

haben. Daraus diesem

Publi-

erwächst

Schauspieler

die

künstlerische Entwicklung zu ermöglichen, indem es ihm Aufgaben stellt, die ihn und sein Publikum fordern. D i e Leitung eines solchen Ensembles sieht sich in dieser Beziehung auch neuen Problemen gegenüber;

sie muß diesen

Prozeß,

der ein wichtiges

Mo-

ment der Ensemblebildung ist, fördern, und sie muß zugleich darauf achten, daß es offen bleibt für junge Kräfte, die natürlicherweise ein solches E n s e m b l e tragen müssen. 2 5 5 Zit. nach A. N . G o s e n p u d : Zentralny detski teatr (Zentrales K i n dertheater). Moskau 1 9 6 6 , S. 20. -

In der Sowjetunion hingegen

wird ein ähnlicher Ausspruch Heinrich Heine 256

zugeschrieben.

Ebenda.

2 5 7 Alexander Mitta in einem Diskussionsbeitrag während der Arbeitstagung der Akademie

der Künste der D D R

„Die

darstellenden

K ü n s t e in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft". Zit. nach dem Typoskript der Übersetzung. 2 5 8 Horst

Hawemann

2 7 . Juli 259

in

einem

Gespräch

1 9 7 3 . Zit. nach dem

mit

der

Autorin

am

Tonbandmitschnitt.

Ebenda.

2 6 0 Moissej

K a g a n : Vorlesungen

zur marxistisch-leninistischen

Ästhe-

tik. Berlin 1 9 7 1 , S. 3 7 7 . 2 6 1 Vgl. Langfristige Konzeption für Kinderfernsehdramatik bis

1980.

Nach dem Typoskript, S. 14 f . : „ D e r Ausgangspunkt für Konflikte in unseren W e r k e n

ist: Kinder

und Jugendliche

sind im

gesell-

schaftlichen Entwicklungsprozeß die Partner der Erwachsenen. diesem

Zusammenhang

entspricht

es unserer

Konzeption,

In

Fehler

und Schwächen von Erwachsenen auch in Kinderstücken aus kritischer Sicht zu gestalten. Allerdings sind hier M a ß und Proportionen entscheidend." 2 6 2 Sergej M i c h a l k o w : Auftrag des gesellschaftlichen Gewissens.

In:

T h e a t e r der Zeit 27 ( 1 9 7 2 ) 8, S. 9 - 1 0 . 2 6 3 Kinderliteratur, Lehrbriefe für das Fachschulstudium. Fachschule für

246

264

265 266

267

Bibliothekare „Erich Weinert", Abt. Fernstudium, Leipzig 1972, Teil II, S. 6. Mit diesem Beispiel soll zugleich verdeutlicht werden, daß das Kinder- und Jugendtheater der D D R das sowjetische Vorbild zu seiner eigenen Entwicklung braucht. Der enge Kontakt der Kinder- und Jugendtheater der sozialistischen Länder, der seit langem in einem regen Stückaustausch, durch die persönliche Bekanntschaft vieler Ensembles während der Gastspiele und auf internationalen Kongressen besteht, ist zu intensivieren, besonders der Austausch der theoretischen Arbeitsergebnisse. D i e vorliegende Arbeit litt unter diesem Mangel: von den wesentlichen sowjetischen Quellen ist außer den Erinnerungen von N. Saz kein Werk in deutscher Sprache zugänglich, A. Brjanzew nur dem Namen nach und mit wenigen Zitaten bekannt. Aus den sozialistischen Volksdemokratien sind keine Quellen zugänglich. Hier bedarf es dringender Veränderungen. Hans Rodenberg in einem Gespräch mit der Autorin am 27. April 1973. Zit. nach dem Tonbandmitsahnitt. Erich Honecker: Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin 1971, S. 7'0. Ebenda, S. 73.

Zu diesem Band Dem vorliegenden Band liegt die überarbeitete Dissertation zugrunde, die 1973 an der Humboldt-Universität Berlin verteidigt wurde. Es ist mir ein Bedürfnis, all denjenigen zu danken, die mich dabei unterstützten: Prof. Mittenzwei und Dr. Münz, die die Arbeit betreuten; Anna Lacis, Natalia Saz, Prof. Dr. Hans Rodenberg und Horst Hawemann, die mir ausführliche Interviews gewährten; Ilse Rodenberg, die mich anregte, auf diesem Gebiet theoretisch zu arbeiten.

Personenregister

Busch, Ernst

Afinogenow, A. N. 111 Aljanski, J. 44 Altner, Manfred 10 139 176 Amado, Jorge 141 Andersen, Hans Christian 42 146 Antant, E . 42

108

Claus, Günther 126 Corrinth, Curt 123 Czechowski, Heinz 153 155 Deicke, Günther 161 168 Denikin, A. I. 16 Diki, A. D . 55 Duncker, Hermann 67 72 Duncker, Käthe 67

Balàzc, Béla 100-102 108 Bassewitz, Gerdt v. 173 Becher, Johannes R. 83 Bellag, Lothar 124-125 Benjamin, Walter 67 8 2 - 8 4 8 6 94 106-1'07 176 Berg, Barbara 121 Berge, Dieter 124 Berlin, Adolf 96 Bernhardy, Werner 112 146 Beseler, Horst 119 Besson, Benno 152 Blach, Erich 143 Bogomasow, S. M. 50 Borde, Inge 148 Botschin, L. A. 56 Brecht, Bertolt 40 83 103-110 123-126 144 157 159 167 205

Ebert, Helme 195 Ehrenburg, I. G. 53 Eisler, Hanns 124 Eisler, Gerhart 83 Ensikat, Peter 150 Erceg, Mirjana 141 156 Ehrhard, Ludwig 174 Fehmel, Klaus 168 170 Forest, Jean-Kurt 129 Fricke, Jürgen 133 Friedrich, Ludwig 123 128 Friedrichsohn, Eckard 120

Breton, André 192 Brjanzew, A. A. 15 16 4 1 - 5 1 63 64 201 202 Buckwitz, Harry 124 Burger, Hanus 121 170 Burghardt, Max 112

249

Gaidar, A. 120 Gallert, Hanns 153 Gerlach, Friedrich 141 Gerstel, Jan 162 Goerdes, Renate 166 Gogol, N. W. 43