Antike Staatsformen: Eine vergleichende Verfassungsgeschichte der Alten Welt [Reprint 2018 ed.] 9783050069975, 9783050025414


133 76 58MB

German Pages 672 Year 1995

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Zitierweise
I. Staatsbegriff und Lebensform
II. Die kretisch-mykenische Palastkultur
III. Das Königtum im Alten Israel
IV. Das Perserreich der Achaimeniden
V. Das spartanische Doppelkönigtum
VI. Die griechische Tyrannis
VII. Die attische Demokratie
VIII. Die spätgriechischen Bundesrepubliken
IX. Das Alexander-Reich
X. Die hellenistischen Monarchien
XI. Die etruskischen Stadtstaaten
XII. Die Handelsrepublik Karthago
XIII. Die römische Republik
XIV. Das Stammeswesen der Kelten
XV. Das Principat des Augustus
XVI. Das frühgermanische Heerkönigtum
XVII. Das Perserreich der Sassaniden
XVIII. Die westgermanischen Stammesbünde
XIX. Das spätantike Dominat
XX. Die Germanenreiche der Völkerwanderung
XXI. Das Frankenreich der Merowinger
XXII. Leistung und Wirkung
Abkürzungen, Lexika, Sammelwerke
Abbildungen
Recommend Papers

Antike Staatsformen: Eine vergleichende Verfassungsgeschichte der Alten Welt [Reprint 2018 ed.]
 9783050069975, 9783050025414

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Demandi ANTIKE STAATSFORMEN

Alexander Demandt

ANTIKE STAATSFORMEN Eine vergleichende Verfassungsgeschichte der Alten Welt

Akademie Verlag 1995

Abbildung auf dem Einband: Bronzestatuette eines Hoplitenkriegers. Aus Dodona, ca. 500 v. Chr. Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz Antikensammlung. Foto: Ingrid Geske-Heiden

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Demandt, Alexander: Antike Staatsformen : eine vergleichende Verfassungsgeschichte der Alten Welt / Alexander Demandt. - Berlin : Akad. Verl., 1995 ISBN 3-05-002794-0 brosch. ISBN 3-05-002541-7 Pp.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Printed on non-acid paper. The paper used corresponds to both the U.S. standard ANSI Z.39.48 - 1984 and the European standard ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Satz: Hagedornsatz, Berlin Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, Berlin Einbandgestaltung: Ralf Michaelis, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort

7

I.

Staatsbegriff und Lebensform

13

II.

Die kretisch-mykenische Palastkultur

49

III.

Das Königtum im Alten Israel

75

IV.

Das Perserreich der Achaimeniden

105

V.

Das spartanische Doppelkönigtum

135

VI.

Die griechische Tyrannis

163

VII.

Die attische Demokratie

191

A. Geschichte und Gesellschaft

195

B. Verwaltung und Kultur

213

Die spätgriechischen Bundesrepubliken

235

VIII. IX.

Das Alexanderreich

263

X.

Die hellenistischen Monarchien

291

XI.

Die etruskischen Stadtstaaten

321

XII.

Die Handelsrepublik Karthago

349

XIII.

Die römische Republik

377

XIV.

Das Stammeswesen der Kelten

409

XV.

Das Principat des Augustus

437

XVI.

Das frühgermanische Heerkönigtum

473

XVII.

Das Perserreich der Sassaniden

501

XVIII. Die westgermanischen Stammesbünde

531

XIX.

561

Das spätantike Dominat

XX.

Die Germanenreiche der Völkerwanderung

591

XXI.

Das Frankenreich der Merowinger

621

XXII. Leistung und Wirkung

647

Abkürzungen, Lexika, Sammelwerke

667

Abbildungen

671

Non est, quod mireris, ex eadem materia suis quemque studiis apta colligere: In eodem prato bos herbam quaerit, canis leporem, ciconia lacertam. Seneca

Vorwort Fritz Taeger las während der fünfziger Jahre in Marburg „Alte Geschichte" in einem Durchgang von sechs Semestern. So wie viele Studenten, wollte auch ich den gesamten Zyklus hören, doch wie die meisten habe ich es nicht geschafft. Daher gewann ich keinen Überblick. U m ihn meinen eigenen Hörern zu gewährleisten, habe ich nach meiner Habilitation 1970 ein zunächst ein-, später zweisemestriges Kolleg ,Antike Staatsformen' gehalten, das die Grundzüge der politischen Kultur des Altertums vermitteln sollte. In Konstanz, Kiel und Berlin habe ich den Kurs in 25 Jahren insgesamt 16 mal mit verschiedenen Schwerpunkten, in unterschiedlichen Ausschnitten wiederholt und dabei jeweils überarbeitet. Er wurde vertieft durch Quelleninterpretationen in Seminaren und ergänzt durch Vorlesungen mit Lichtbildern. Hinzu kamen Lehrveranstaltungen zur politischen Theorie der Antike, aus denen mein 1993 erschienenes Buch ,Der Idealstaat' erwachsen ist. Nun liefere ich die Praxis nach. Um eine Vorstellung vom Schauplatz des Geschehens zu gewinnen, habe ich seit meiner Zeit als Reisestipendiat des Deutschen Archäologischen Instituts 1964/65 auf zahlreichen Exkursionen, Forschungs- und Grabungsreisen den Mittelmeerraum und den Orient besucht. Alle Länder, über die ich schreibe, habe ich gesehen. Anders als den herkömmlichen „Staatskunden" geht es mir in diesem Buch nicht darum, den „Ursprung des Politischen", den „Geist der Griechen" oder das „Wesen des Römertums" zu erfassen. Vielmehr soll in idealtypischen Strukturmodellen die Entstehung, das Funktionieren und der Zerfall von neunzehn singulären antiken Staatsordnungen aufgezeigt werden. Es ist der Versuch, die aristotelische Kollektion von 158 Verfassungen ausschnittweise zu rekonstruieren und zu modernisieren. Die Darstellung ist auf Systemvergleich angelegt und benutzt ein gleichartiges Schema. Behandelt werden: Begriff und Quellen, Vorgeschichte, Staatsaufbau und Gesellschaftsordnung, das Wichtigste aus Wirtschaft und Kultur, Ende und Bedeutung des jeweiligen Staates für die Nachwelt. Mit der Einbeziehung vorderasiatischer Staatsformen und sogenannter Randkulturen sollte die geläufige Fixierung auf Hellas und Rom gelockert werden. Die Antike besteht nicht nur aus Griechen und Römern. Sie bietet mehr. Mag sich ein jeder das für seine Studien Wichtige heraussuchen! Kein Wunder, daß so etwas möglich ist, schreibt Seneca (ep. 108, 29), findet doch auf derselben Wiese das Rind den Klee, der Hund den Hasen, der Storch die Eidechse.

8

Vorwort

Den Stoff habe ich so weit wie möglich aus den antiken Autoren selbst geschöpft. Dabei wurden auch Zeugnisse einbezogen, die eher die Vorstellung der Zeitgenossen wiedergeben als die historische Wirklichkeit. Eine gewisse Stilisierung liegt bereits in den Quellen vor, zumal in denen zum Alten Israel, zu den Spartanern, zum republikanischen Rom und zu den Sassaniden. Wenn ich bisweilen das Überlieferte dem Wahrscheinlichen vorgezogen habe, so deswegen, weil jenes das Bewußtsein bestimmt hat und daher zum Verständnis der Wirkungsgeschichte wichtiger ist als das, was „eigentlich gewesen". Ich habe viel Hilfe erfahren, doch kann ich mich angesichts der langen Entstehungszeit dieses Buches nicht an alle Namen erinnern. U m keinen zu übergehen, danke ich allen gemeinsam und nenne nur den zu früh verstorbenen Leo Trümpelmann (1931-1989). Nicht alles, was ich an neuerer Literatur zitiere, habe ich studiert. Nicht alles, was ich gelesen habe, kann ich erwähnen. Unter den ungenannten Schriften sind solche, die mir entgangen sind, und solche, die keine Nennung verdienen. Es gibt aber auch Schriften, die ich aus Raumgründen schlechten Gewissens nicht aufführe. Ihren Verfassern danke ich an dieser Stelle besonders herzlich. Talion nehme ich in Kauf. Ich will lieber benutzt (und nicht genannt) als zitiert (und nicht gelesen) werden. Die Publikation meiner »Staatsformen« hatte ich für das Jahr 2000 vorgesehen. Manfred Karras vom Akademie Verlag aber hat sie mir vorzeitig entlockt. Für ihn sprach der weise Salomon in den Proverbia (11,26 nach Luther): „Wer Korn inne hält, dem fluchen die Leute; aber Segen kompt über den, so es verkeuft." Lindheim, Pfingsten 1995

Alexander Demandt

Für Gisela und Karl Christ in Marburg

Zitierweise

Antike Autoren werden nicht nach Ausgabe und Seite, sondern nach Buch, Kapitel und Paragraph zitiert, sofern nicht alte Seitenzahlen standardisiert worden sind, wie bei Piaton und Aristoteles, oder nur eine bestimmte Ausgabe zitierfähig ist (so die Teubneriana von Fronto). Ist das Gesamtwerk in Standard-Editionen nach Büchern unterteilt, wird nach der Buchnummer zitiert, nicht nach den bisweilen vorhandenen Stücktiteln, z. B. „Appian XII" statt „Appian, Mithridatica". Ausnahme: Prokop. Unsichere oder falsche Autorschaft wird ignoriert, wenn die zitierte Schrift unter dem Autor läuft. Statt „Pseudo-Aurelius Victor" heißt es „Aurelius Victor" etc. Ausnahme: Pseudo-Kallisthenes. Moderne Autoren werden mit Name, Jahr und Seite zitiert. Der volle Titel findet sich, bisweilen um Unwesentliches gekürzt, in den Literaturverzeichnissen am Ende der einzelnen Kapitel. Spezialschriften erscheinen in den Fußnoten, und nur dort, mit vollem Titel. Werke, die in mehr als zwei Kapiteln genannt werden, sind zu Kapitel I verzeichnet. Auflagenzahlen werden nicht angegeben, nur die erste, bzw. die benutzte Ausgabe wird genannt. Bei mehreren Herausgebern erscheint meist nur der erste. Einzeltitel aus Aufsatzsammlungen desselben Autors werden weggelassen, sie werden wie Monographien behandelt. Aufsätze aus Sammelwerken (WdF. etc.) werden neben diesen in den Literaturverzeichnissen nicht gesondert aufgeführt, sondern erscheinen in den Fußnoten mit den Namen von Autor und Herausgeber. Griechische Buchstaben werden folgendermaßen latinisiert: Alpha mit a, Beta mit b, Gamma mit g, vor Gutturalen mit n (z. B. synkletos, phalanx), Delta mit d, Epsilon mit e, Zeta mit z, Eta mit e, Theta mit th, Iota mit i, Iota subscriptum entfällt, Kappa mit k, Lambda mit 1, My mit m, Ny mit n, Xi mit x, Omikron mit o, Pi mit p, Rho mit rh, Sigma mit s, Tau mit t, Ypsilon mit y, Ypsilon nach Alpha, Epsilon oder Omikron mit u (z. B. autonomia, eunomia, boule), Phi mit ph, Chi mit ch, Psi mit ps, Omega mit ö; Spiritus asper, auch innerhalb des Wortes, erscheint als h (z.B. synhodos); griechische Akzente und Spiritus lenis werden ignoriert.

I. Staatsbegriff und Lebensform

15 1.

Erkenntnisinteresse a. Polybios: Lernen b. Augustin und Hegel c. Antike und Staat d. Vorbild? e. Verständnis! f. Weltstaat

2. Moderner Staatsbegriff a. Drei Komponenten b. 1. Volk: Zahl c. Bürger d. Gesellschaft e. 2. Gebiet: Territorial- und Personenverbandsstaaten f. Grenzen g. 3. Herrschaft h. Schutz i. Souveränität j. Gewaltmonopol? k. Kriegsmonopol 1. erst neuzeitlich? 3. Griechische Staatsbegriffe a. Komponenten betont b. Gebiet: polis c. politeia, politeuma d.

V o l k : pragmata,

koinon

e. Herrschaft: arche, kratos f. Homer: Abstrakta fehlen g. Philipp V: Könige, Städte, Völker h. Aristoteles: politeia und basileia i. polis und ethnos 4.

Römische Staatsbegriffe a. res publica b. Cicero: res populi c.

nomen,

Imperium,

provincia

d. civitas e. status 5. Antike als Epoche a. antique b. im Mittelalter c. in der Renaissance d. Orientalen e. Griechen f. Römer g. Kelten und Germanen

6. Völker und Sprachen a. Volk? b. Volksname c. Heer d. Abstammung e. Volk, Stamm, Staat f. Sprache g. Nichtarier h. Indogermanen i. Rassen? j. Mentalitäten k. Völkervielfalt verringert sich 7. Wirtschaft und Gesellschaft a. Kulturgefälle b. Schrift c. Ackerbau und Viehzucht d. Handwerk und Handel e. Arbeit verachtet f. Gegenstimmen g. Mobilität h. Adel: Ursprung i. Verbreitung j. Bürger k. Sklaven 1. rechtlos, Wehrdienst? m. Ende der Sklaverei n. Frauen 0. kein Wehrdienst p. Emanzipation? 8. Siedlung und Herrschaft a. Drei Phasen'. b. 1. Stamm c. Dorf d. 2. Stadt, außergriechisch e. Polis: Stadtbild f. Siedlungskammern g. Selbstverwaltung h. Kriegszustand 1. Reichtum j. 3. Flächenstaat k. Städte in Monarchien 1. Vier Typen m. 1. Monarchie n. Stadt-Stamm-Reich o. Archaisch-modern p. Tyrann-König q. 2. Oligarchie r. 3. Demokratie

16 s. 4. Mischverfassung t. Verfassungskreislauf

9. Kriegswesen a. b. c. d. e. f. g.

Schutzbedürfnis Kriegsethos Bürger- und Waffenrecht Wagen und Pferd Fußvolk Leichtbewaffnete und Flotte Berufsarmee und Söldner

c. d. e. f. g. h. i. j. k. 1.

Nationalreligion Adel und Priesterschaft Götter als Schlachtenhelfer Polytheismus Kultgemeinde, Amphiktionie Toleranz, interpretatio Romana Orientalische Erlösungsreligionen Christentum Symmetrie Divergenzen

Literatur zu I 10. Religion a. Staatssache b. staatsstiftend oder -erhaltend?

17 Als die wichtigste Ursache für Glück und Unglück bei allem, was geschieht, muß die Verfassung des Staates betrachtet werden, denn aus ihr fließen nicht allein wie bei einer Quelle alle Pläne und Bestrebungen, sondern durch sie bestimmt sich auch deren Erfolg. Polybios

1. Erkenntnisinteresse la. Historisches Wissen, schrieb Polybios aus Megalopolis 1 , ist die wichtigste Richtschnur für politisches Handeln, und Staatskunde der vornehmste Gegenstand historischen Wissens 2 . In der Tat: Nur im Rückblick auf Vergangenes verstehen wir das Gegenwärtige, nur im Vergleich mit anderen können wir unsere eigene Lage beurteilen, nur durch die Auswertung historischer Erfahrung werden wir klüger 3 . Ib. Daß dies wünschenswert sei, bestritt Jacob Burckhardt, der nicht „klug für ein andermal", sondern vielmehr „weise für immer" werden wollte 4 . Daß es möglich sei, bezweifelten Augustin und Hegel. Aus religiöser Überzeugung erklärte Augustinus, daß die Geschichte bloß lehre, wie verachtenswert irdische Klugheit und „fleischliche" Neugier seien, allein Gottvertrauen könne aus diesem Jammertal herausführen 5 . Aus philosophischer Sicht behauptete Hegel, die Geschichte zeige nur, daß die Menschen niemals etwas aus ihr gelernt hätten 6 . Weder Augustins taedium historiae noch die Hoffnung Hegels, der Weltgeist werde, ganz gleich, was wir tun, den Weg zur Freiheit vollenden, kann uns überzeugen. Vielmehr pflichten wir Polybios wenigstens insoweit bei, als alles, was wir Menschen über unseresgleichen wissen, der Geschichte entnommen ist und Besserung nur aus der Erinnerung an eigenes oder fremdes Leiden erhofft werden kann 7 . Können wir nicht aus der Geschichte lernen, dann können wir überhaupt nicht lernen. 1c. Bis ins vergangene Jahrhundert war die Antike die Schule Europas. Politik war das wichtigste Lehrfach. Die Antike erschien als das große Musterbuch nicht nur für Künstler und Literaten, sondern ebenso für Militärs, Gesetzgeber und Politiker. Der Staat galt als die gottgewollte Ordnung, als das unbefragte Gehäuse des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Beides ist heute nicht mehr selbstverständlich. Id. Vom Vorbildcharakter der Antike spricht allenfalls noch eine kleine Gruppe klassizistisch-humanistischer Traditionshüter 8 . Mag sie noch lange leben! so hat sie doch ihren Einfluß verloren. Der Staat hingegen verwaltet noch immer Leben und Tod. Er * 1 Polybios I 1,1 f * 2 Polybios I 1,5; VI 2,3 * 3 Polybios I 35,7. Vgl. schon Demokrit, VS.68 B 252: „Ein wohl verwaltetes Gemeinwesen ist die wichtigste Grundlage für ein gelungenes Leben, darin ist alles enthalten: Rettung oder Untergang." * 4 J. Burckhardt, WB., S. 10. * 5 Augustinus, De doctrina christiana II 16, 2; vgl. ders., PL.38, S.861; 997 * 6 Hegel 1832/1961, S . 4 5 * 7 Polybios I 35,7 * 8 In unserem Jahrhundert findet sich ein Bekenntnis zur Antike einerseits im Kreis um Stefan George, andererseits in Werner Jaegers Drittem Humanismus.

18

I. Staatsbegriff und Lebensform

überdauert die Revolutionen, obwohl er seit Herder, Humboldt und Hölderlin, seit Marx und Engels immer wieder totgesagt, ja totgewünscht wurde - linke wie rechte Denker stimmen da bisweilen überraschend zusammen. „Was für Staats- und Gesellschaftsformen sich auch ergeben mögen", heißt es bei Nietzsche, „alle werden ewig nur Formen der Sklaverei sein". So könnte es dahin kommen, daß die Totsager langfristig Recht behalten. Denn mit der Verdichtung des Verkehrs und der Verflechtung der Beziehungen über die Grenzen hinweg schrumpft die Bedeutung der Staatlichkeit. Demgemäß ist die seit einiger Zeit erkennbare Wende des historischen Interesses: Weg von der Politik, hin zu ökonomischen, sozialen und anthropologischen Fragen! kennzeichnend für eine Entwicklung, die den „Staat" überhaupt hinter sich läßt. Der Rückblick auf die antiken Staatsformen wäre dann eine unzeitgemäße Betrachtung. le. In seiner zweiten so betitelten Abhandlung hat Nietzsche neben die antiquarische Neugier und das monumentalische Verehrungsbedürfnis den kritischen Impuls in der Hinwendung zur Geschichte gestellt. In kritischer Absicht fragen wir nach den Voraussetzungen unserer staatlichen Systeme, suchen wir die Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Recht, Wirtschaft und Macht an anderen historischen Gebilden, um sie bei uns zu erkennen. Die Antike bietet uns Erklärungen und Vergleiche - beides ist zum Selbstverständnis unabdingbar. l f . Eine Rückwendung in kritischer Absicht wäre auch dann sinnvoll, wenn Antike und Staat, ja wenn Geschichte im bisherigen Sinne überhaupt der Vergangenheit angehörte. D a n n diente sie der Erkenntnis der Anders- und Eigenart der neuen Zeit, deren Neuheit sich allein vor dem Hintergrund der Geschichte zu erkennen gäbe. Die moderne Industrietechnik, die Universal-Zivilisation und der Weltmarkt zeigen in vielerlei Hinsicht neue Züge - aber diese können wir nur verstehen und bewerten, wenn wir ihre Herkunft und ihre Vorläufer kennen. Eine Phase scheinbarer Geschichtslosigkeit hat schon der Weltstaat des späten Altertums erlebt. Das war eine Ruhe vor dem Sturm der Völkerwanderung. F ü r einen Abschied von der Geschichte ist es noch zu früh.

2. Der moderne Staatsbegriff 2a. Der Begriff „Staat" schillert, daher erhebt sich die Frage, was wir darunter verstehen wollen. Ich greife einige moderne Staatsdefinitionen heraus. Wir lesen bei Georg Jellinek 9 : „Der Staat ist die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen". Oder bei Thoma 1 0 : „Als Staaten werden diejenigen menschlichen Verbände bezeichnet, die durch eine in abgegrenztem Landgebiet sich behauptende oberste Herrschaftsorganisation eines Volkes bewirkt sind". Oder bei Watkins 1 1 : The State is a geographically delimited segment of human society, united by common obedience to a Single sovereign. In diesen Definitionen werden drei Kriterien genannt: Volk, Land und Herrschaft. „Staat" bezeichnet mithin eine F o r m des dauerhaften Zusammenlebens in größeren Verbänden auf begrenztem Territorium von Menschen, die denselben Gesetzen gehorchen, zu gemeinsamem Handeln in der Lage sind und keinen fremden Herrn anerkennen, d. h. souverän sind. * 9 Jellinek 1914, S. 183 * 10 Handwörterbuch der Staatswissenschaften, VII * 11 International Encyclopedia of the Social Sciences 15,1968, S. 150

1925,

S.725

2. Moderner Staatsbegriff

19

2b. Zum Staatsvolk: Staaten unterscheiden sich von anderen Formen des Zusammenlebens, d. h. von Familie, Kaserne, Kloster usw. zunächst einmal durch ihre Größe. Es gibt keinen strengen Maßstab, wie groß ein Staat sein muß, um den Namen zu verdienen. Aber man wird fordern dürfen, daß er mindestens so groß sein muß, daß er sich zur Not allein ernähren kann. Nur dann nämlich kann er seine Unabhängigkeit behaupten, die mit dem Begriff des Staates verbunden ist, nur dann ist er „lebensfähig". Aus diesem Grunde sind Zwergstaaten wie Monaco, Andorra und San Remo bloße Kuriositäten. Selbst der Vatikan-Staat verdient kaum diesen Namen, während die Klosterrepublik auf dem Berge Athos oder das Katharinen-Kloster auf dem Sinai nur deswegen keinen staatsähnlichen Charakter besitzen, weil sie auf Zuzug angewiesen sind. 2c. Stets ist die Zugehörigkeit zum Staat festgestellt: Bürger und Nichtbürger werden genau abgegrenzt, Fremde (Gäste oder Feinde) bleiben ausgeschlossen. Zwischenformen sind Ausnahmen: Metöken, Gastarbeiter, Asylanten und Doppelbürger. In der Regel ist die Zugehörigkeit dauerhaft: man wird in den Staat hineingeboren, aber es ist prinzipiell möglich, ihn zu wechseln. 2d. Das Staatsvolk ist durch eine Gesellschaftsordnung gegliedert: Ansehen und Einfluß, Besitz und Leistung, Rechte und Pflichten stehen in einem geregelten Verhältnis zueinander. Soziale Schichten und Stände gab es immer. Der marxistische Begriff der Klassengesellschaft ist ein weißer Schimmel. Der Versuch, in Rußland eine klassenlose Gesellschaft herzustellen, war kostspielig und erfolglos. Der Klassencharakter aller bisherigen Gesellschaft hat sozialen Aufstieg oder Abstieg selten verhindert, wobei die Durchlässigkeit allerdings Unterschiede aufweist. 2e. Zum Staatsland: Ein geschlossenes Siedlungsgebiet ist heute, war aber nicht immer Kennzeichen für einen Staat: Neben den Territorialstaaten gab es auch wandernde Personenverbandsstaaten, so die Stämme der frühen Griechen und Germanen. Daß die Polis aus Menschen, nicht aus Häusern besteht, war das Argument des Themistokles für die Evakuierung Athens 48012, der Gedanke ist vor ihm von Alkaios 13 und nach ihm oft geäußert worden 14 . Staatsähnlichen Charakter tragen die im Hellenismus bündnisfahigen Seeräuber 15 , sodann selbständig agierende Söldnerheere, wie die Mamertiner, die 289v.Chr. Messina besetzten 16 , die Söldner Karthagos, die 242v.Chr. Tunis und Utica okkupierten 17 , oder die aufständischen Sklaven in Sizilien und Campanien, die sich um 100v.Chr. dreimal Könige gaben. Diese legten sich einen klangvollen Namen zu18 und reklamierten besondere Beziehungen zu höheren Mächten. Sie trugen Diadem und Purpur, umgaben sich mit Liktoren, ernannten ein Kabinett und errichteten sich in Triokala (Caltabellotta) eine Burg 19 . 2f. Um das Staatsgebiet liegt die Staatsgrenze, die das territoriale Ende der Staatshoheit bezeichnet. Als Grenze dienten Flüsse oder Gebirge. Grenzsteine kannten schon die Germanen 20 , sie schützten ihre Territorien durch Ödlandstreifen 21 wie die Römer durch den * 12 Herodot VIII 41 * 13 Alkaios 35,10 (Diehl) * 14 Thukydides VII 77; Appian VIII 89; XIV 50; Augustinus, sermo 81, 9 * 1 5 Unter Timokles 304 v. Chr.: Diodor XX 97,5; bei Nabis um 200: Polybios XIII 8; H. A. Ormerod, Piracy in the Ancient World, 1924; E. Ziebarth, Beiträge zur Geschichte des Seeraubs und Seehandels im alten Griechenland, 1929 * 16 Polybios I 7ff.; Diodor XXI 18 * 17 Appian V 2,3 * 18 Eunus wurde Antiochos, Salvius wurde Tryphon * 19 Diodor X X X V I 2ff. * 20 Toutonenstein: Dessau Nr. 9377; Ammian XVIII 2, 15 * 21 Caesar, Bell. Gall. IV 3; VI 23

20

I. Staatsbegriff und Lebensform

Limes 22 . Wie die Herkunft des deutschen Wortes „Friede" von „Umfriedung, Umzäunung" lehrt, diente die Grenze ursprünglich der Friedenswahrung. Das Resultat war freilich paradox. Um den Frieden zu sichern, wurden Grenzen gezogen, und nachdem sie gezogen waren, stritt man über nichts heftiger als über die Grenzen. 2g. Zur Herrschaft: Das gemeinsame Leben erfordert die Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln. Im Inneren sind Rechte und Pflichten, Leistung und Lohn festzulegen, nach außen ist das Verhältnis zu den Nachbarn zu bestimmen, in Krieg und Frieden, Handel und Verkehr. All diese Regelungen lassen sich mit dem guten Willen der Beteiligten allein kaum durchführen. Dazu bedarf es einer Herrschaft. Der Begriff „Herrschaft" bezeichnet ein durch Sitte und Recht geregeltes Verhältnis des Befehlens und Gehorchens, wobei der Befehlende zweierlei benötigt: eine Rechtfertigung, um Anerkennung zu finden, und Waffen, um sich durchzusetzen. Herrschaft stützt sich mithin auf Konsens und Gewalt, die beide im umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander stehen: bei weitgehendem Konsens ist wenig, bei schmalem ist viel Gewalt nötig. 2h. Herrschaft ist erforderlich, um Schutz im Inneren wie nach außen zu gewähren. Die Sicherheit im Lande ist gefährdet durch spontane Willkür Einzelner und durch die dauerhaften Interessenkollisionen unter den Gruppen. Sie ist bedroht von außen durch aggressive Nachbarn, wobei der Hinweis auf solche auch Propaganda zur Legitimation der Gewalt sein kann. Herrschaft sichert die bestehenden Verhältnisse gegen Umstürze und Angriffe. Ihre positiven Seiten sind Sicherheit und Ordnung, ihre negativen sind Unterdrückung und Willkür. 2i. Die höchste politische Herrschaft bezeichnen wir als Souveränität 23 . Staaten behaupten von sich, keinem Außenstehenden zu gehorchen, autonom zu sein. Für den Historiker ist eine solche Selbsteinschätzung allerdings unverbindlich. Denn eine formale Souveränität besagt wenig. In der römischen Geschichte begegnen uns Klientelstaaten, die zwar rechtlich selbständig, faktisch aber von Rom abhängig waren. In der republikanischen Zeit waren die civitates foederatae in ihren eigenen Angelegenheiten autonom, außenpolitisch aber an Rom gebunden. Wenn sie keine Tribute zahlten, hießen sie civitates liberae24. Daneben finden wir Satellitenfürsten, deren Territorium an das Reichsgebiet angrenzte. Die Römer haben jeweils die Thronfolge geregelt, ihre eigenen Kandidaten mit Geld und Waffen unterstützt 25 und Grenzschutz oder auch Kriegsfolge erwartet. Trotz formaler Autonomie waren die Klientelherrscher abhängig 26 . In der Spätantike gilt das Umgekehrte: die ostgermanischen Staaten erkannten die Oberhoheit des Kaisers an 27 , aber führten Kriege, wann es ihnen beliebte. Auch die Karthager haben noch lange, nachdem sie faktisch selbständig waren, Bodenpacht für ihr Staatsgebiet an die maurischen Fürsten des Hinterlandes gezahlt 28 . Anstelle bloß rechtlicher Souveränität interessiert uns die faktische politische Selbständigkeit, und sie hängt an der Möglichkeit, Kriege zu führen. Ein Staat, der nicht jedem anderen den Krieg erklären kann, muß sich Zweifel an seiner Souveränität gefallen lassen. 2j. Der Staat beansprucht überall die höchste, nirgends aber die alleinige Gewalt. Der Begriff des Gewaltmonopols führt irre, denn gewöhnlich hat der Hausherr die Hausgewalt, und die kann je nach Besitz und Rang beträchtlich sein. In frühen Phasen gesellschaftlicher Entwicklung finden wir Privatkriege einzelner Gefolgschaften, in der Regel als Beutezüge, * 22 Frontin, Strat. I 3, 10 * 23 Quaritsch 1986 * 24 s.u. XIII 3 e! * 25 Tacitus, Germ. 42; ders. Ann. XI 16 * 26 s. u. XV 6 k! * 27 s. u. XX 4! * 28 s. u. XII 4 d!

3. Griechische Staatsbegriffe

21

so in der frühen römischen Republik 29 und in den germanischen Stämmen 30 . Privatisierung der Gewalt begegnet wieder in Spätzeiten: politischen Bandenterror kennen wir aus der späten römischen Republik 31 und aus der späten Kaiserzeit 32 , das sind Krisen- und Übergangssymptome auf dem Wege zu einer Neuregelung der Gewaltausübung. 2k. Das staatliche Kriegsmonopol bestimmt die Motivation der Kriegsteilnehmer: sie werden nur in archaischen Staatswesen von individueller Bereicherungsabsicht bewegt, wie das in der Regel bei Räubern der Fall ist, zumeist kämpfen sie aus Loyalität gegen ihren Staat, den sie mächtig und damit auch reich sehen möchten. Der Nutzen ist hier eher indirekt und emotional. Die ökonomische Kriegstheorie wird gewöhnlich von Kriegsdienstverweigerern vertreten, und aus ihrer Perspektive ist sie richtig: das Risiko des Heldentodes ist ökonomisch unsinnig. Ob es deswegen überhaupt unsinnig ist, den eigenen Staat zu verteidigen, hängt davon ab, was er wert ist. Ein Staat, für den seine Bürger nicht kämpfen, an dem ist nicht viel verloren. In der Antike signalisiert der periodisch auftretende Pazifismus entweder Blindheit gegenüber der Gefahr oder die Bereitschaft zur Unterwerfung gegenüber dem mächtigeren Nachbarn 33 , bisweilen auch die Überzeugung von der Wertlosigkeit aller Güter dieser Welt, wie das religiös von den Christen, philosophisch von den Kynikern vertreten wurde 34 . Einen gewaltfreien Staat hat es bisher ebensowenig gegeben wie eine egalitäre Gesellschaft. 21. Carl Schmitt 35 erklärte 1941, „Staat" sei ein „konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff', entstanden in der „Raumrevolution" des späten 16. Jahrhunderts, begründet durch Bodins Souveränitätslehre und zu Ende gehend mit der „Rückgewinnung" der deutschen Vorherrschaft über Europa. So gewiß das 16. Jahrhundert, als der Reichsgedanke durch den modernen Nationalstaat und die Standesrechte durch den Absolutismus abgelöst wurden, für die Geschichte der Staatlichkeit einschneidend war, ebenso wie das 20. Jahrhundert, in dem ökonomische Abhängigkeit die Staatsidee aufgeweicht hat, so gewiß dürfen wir auch zuvor von „Staaten" sprechen. Schmitts Vorschlag, „Staat" im weiteren Sinne durch „Herrschaftsorganisation" zu ersetzen, ist sprachtechnisch unpraktisch, weil wir auch in der Antike staatliche von nichtstaatlicher Herrschaft und staatliche von nichtstaatlichen Gemeinschaften unterscheiden müssen, und ist zudem geistesgeschichtlich unberechtigt, denn Bodin hat seinen Souveränitätsbegriff in Anlehnung an Cicero und Aristoteles entwickelt 36 .

3. Griechische Staatsbegriffe 3a. Einen gleichwertigen Begriff für unser Wort „Staat" gibt es weder im Griechischen noch im Lateinischen. Die unserem Ausdruck „Staat" nächstverwandten Termini akzentuieren je eines der drei Wesensmerkmale unseres Staatsbegriffes: das Land, das Volk oder die Herrschaft. * 29 Untergang der Fabier an der Cremerà 477: Livius II 49ff. * 30 s.u. XVI 4f! * 31 Clodius und Milo: Appian XIV 21 f * 32 Mönchsbanden: Nikephoros Kallistos XV 9; Germanentruppen: Anonymus Valesianus 37f * 33 Salvian, Gub.Dei VII 71 * 34 NT. Matthäus-Evangelium 5,39; Diogenes Laertios II 92ff * 35 C. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, 1958, S. 375ff - ähnlich bei Otto Brunner und Ernst Forsthoff. Dagegen treffend Herzog 1988 * 36 Quaritsch 1986, S.39

22

I. Staatsbegriff und Lebensform

3b. Die territoriale Komponente dominiert im Wort polis, von dem unser Begriff „Politik" stammt. Polis bezeichnet bei Homer 37 - wie Stadt ursprünglich im Deutschen die Burg, später die ummauerte Stadt, personifiziert als politische Körperschaft. Aber da auch nichtsouveräne Städte poleis heißen 38 , ist der Begriff weiter gefaßt; und da souveräne Flächenstaaten nicht umgriffen sind, ist er enger als unser „Staat". Schon früh hat sich der Begriff polis von der Behausung auf die Bewohner verlagert. 39 3c. Abgeleitet von polis ist politeia. Plutarch 40 unterscheidet fünf Bedeutungen: 1. „das Leben eines Volkes", sozusagen seine ökonomische und kulturelle Verfassung; 2. das „Bürgerrecht": dies ist wohl der früheste Sinn des Wortes; 3. die „Staatskunst", die Politik; 4. den „Dienst am Staate", also Bürgerpflichten und Leistungen für die Gemeinschaft; und 5. „Staatsform", politische Verfassung. Aristoteles 41 nennt politeia im engeren Sinne diejenige Verfassung, die im entarteten Zustand „Demokratie" heißt. Verwandt ist politeuma - „Regierung, Staatsgewalt, staatliche Maßnahme" - sonst wie politeia. Für „Staatsform" verwendet Strabon 42 das Wort systema. 3d. Die personale Komponente des Staatsbegriffs trägt den Ton, wenn Herodot 4 3 im Verfassungsgespräch von ta pragmata tön pantön spricht - von den „Angelegenheiten aller". Das ist nur aus dem Zusammenhang als „Staatsform, Staat" erkennbar, und zwar im demokratischen Sinne. Das Gemeinwesen wird im Hinblick auf das Staatsvolk auch durch to koinon, ta demosia oder ta demegorika ausgedrückt. In der Regel steht das Volk für den Staat, indem einfach von Lakedaimonioi oder Athenaioi die Rede ist. Der Plural masculini generis umfaßt im Griechischen wie im Lateinischen stets die weiblichen Angehörigen. 3e. Wo die Staatsgewalt den Akzent trägt, steht im Griechischen he arche oder he koirania, was wir mit „Herrschaft, Reich" übersetzen, oder to kratos, die „Macht" - so heißt „Staat" im Neugriechischen. In den klassischen Sprachen wird „Staat" immer durch eine seiner drei Komponenten bezeichnet, wobei die zwei anderen irgendwie mitschwingen. 3f. Es wäre ganz falsch, zu meinen, weil der Terminus „Staat" fehle, könne auch kein Begriff von Staat existiert haben. Es gibt im Griechischen keine Wörter für „Kultur" oder „Kunst". Wer wollte daraus schließen, daß den Griechen die Vorstellung oder gar die Sache gefehlt hätte! Ebenso ist es mit dem Staat. Homer hat Wörter für „herrschen" (archein) und „führen" (hegeisthai), für „König" (basileus), „Anführer" (hegemön) und „Herrscher" (archos, despotes, anax, kyrios, koiranos) - nicht aber für Abstrakta wie „Staat", „Reich" oder „Herrschaft". Gleichwohl unterschied Homer zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten: praxis idia und praxis demios44, zwischen privaten und öffentlichen Bauten (oikos demiosAi). Zudem kannte er die beiden Grundtypen der antiken Herrschaftsorganisation, Einherrschaft und Vielherrschaft. Odysseus sagt zu den gegen Agamemnon aufsässigen Adligen: „Nicht gut ist Vielherrschaft, nur einer soll Herr sein, nur einer König" 46 . 3g. Seit Homer wird unter den Griechen über Staatsformen diskutiert, werden Staaten gegründet, reformiert und vernichtet, obwohl der Oberbegriff niemals sauber gefaßt worden ist. Dazu ein Beispiel: Als Philipp V von Makedonien 215 v.Chr., im Jahr nach der * 37 Homer, Ilias XVII 144 * 38 Homer, Ilias IX 149; ders., Odyssee IV 174ff; Strabon VIII 4,11 * 39 Thukydides I 5,1 * 40 Plutarch, Mor.826 * 41 Aristoteles, Pol.1293 b * 42 Strabon IX 5,12 * 43 Herodot III 80 * 44 Homer, Odyssee III 82 * 45 Homer, Odyssee XX 264 * 46 Homer, Ilias II 204 f

4. Römische Staatsbegriffe

23

Schlacht bei Cannae, ein Bündnis mit Hannibal abschloß, wollte er in diesen Vertrag alle diejenigen Staaten aufnehmen, mit denen er seinerseits im Bunde stand oder in einen Bund treten würde 47 . U m sie zu bezeichnen, spricht er von basileis (Königen), poleis (Städten) und ethne (Völkern). Offenbar sollte damit ein kompletter Katalog möglicher Bundesgenossen aufgestellt sein, und daher umschreibt die Typologie: „alle Könige, Städte und Völker" nichts weiter als die Sache, die wir mit „alle Staaten" wiedergeben würden. 3h. Das historische Fundament dieser Dreiteilung läßt sich der »Politik« des Aristoteles entnehmen. Aristoteles 48 hat in seine Sammlung von 158 politeiai demokratische, oligarchische, aristokratische und tyrannische Stadtverfassungen aufgenommen, nicht aber Königreiche. Die basileia hat er gesondert behandelt 49 , denn sie war für ihn nichts als ein riesenhafter Privathaushalt, gehörte d a r u m eigentlich in die Lehre von der Hauswirtschaft, in die oikonomia. Diese Unterscheidung fußt auf Homer: der Palast des Odysseus ist kein oikos demios, sondern sein Privathaus 5 0 . Entsprechend begegnen unter den möglichen Bundesgenossen Philipps V nicht Königreiche, sondern Könige, d. h. nicht Institutionen, sondern Personen. 3i. Ebenso grenzt Aristoteles das ethnos von der polis ab. Dabei ist nicht die Siedlungsweise entscheidend: Bekanntlich haben ja auch die Spartaner in Dörfern gewohnt, und dennoch bildeten sie eine polis, sogar eine Musterpolis. Aristoteles 51 verweist auf die Arkader, und das erklärt, was er meint: Die arkadischen Dörfer sind zwar in einem Bund (ethnos, koinon) organisiert 52 , doch sind die Kompetenzen der Bundesorgane derart beschränkt, daß das Ganze lediglich eine Symmachie darstellt. Hier gibt es Freie und Gleiche, aber keine Herrschaft. Ein Staat verlangt beides: Bürger und Herrschaft.

4. Römische Staatsbegriffe 4a. Wie den Griechen, so fehlt auch den Römern ein prägnanter Staatsbegriff 5 3 . Der Terminus res publica kommt ihm am nächsten. Er ist als Gegensatz zu res privata gefaßt und entspricht dem homerischen praxis demios im Unterschied zu praxis idia54, beziehungsweise der Wendung bei Herodot 5 5 ta pragmata tön pantön. Als Kollektivsingular (wie Butter oder Speck) kann man res publica nicht in den Plural setzen und daher nicht als historisch oder strukturell je Besonderes fassen. „Staatsform" heißt bei Cicero status, genus, modus, constitutio oder auch forma, jeweils mit dem Genetiv rei publicae56. Dabei ist allerdings die republikanische Assoziation immer privilegiert. Res publica bezeichnet im engeren Sinne den nichtmonarchischen Freistaat im Unterschied zum regnum, dem Königreich. Ciceros Klage über die res publica amissa"1 während des Bürgerkrieges zwischen Pompeius und Caesar gewinnt ihren tragischen Akzent durch den Anschein, als wäre der Staat untergegangen - indessen war es bloß die republikanische Staatsform, die nicht mehr funktionierte. Die Kaiser haben gleichwohl am Begriff res publica festgehalten 58 und damit zu erkennen gegeben, daß ihre Macht ursprünglich eine Kombination von republikanischen * 47 Polybios VII 9,16 * 48 Diogenes Laertios V 27 * 49 Diogenes Laertios V 22 * 50 Homer, Odyssee XX 264 * 51 Aristoteles, Pol. 1261 a 30 * 52 s. u. VIII 4 a,b! * 53 Suerbaum 1977 * 54 Homer, Odyssee III 82 * 55 Herodot III 80 * 56 Suerbaum 1977, S. 17f * 57 Cicero, Att.IX 5,2; Suerbaum 1977, S. 48 * 58 s. u. XV 1 b!

24

I. Staatsbegriff und Lebensform

Amtsgewalten darstellt. Noch bei Gregor von Tours heißt das römische Kaiserreich res publica, im Unterschied zu den regna Francorum usw. 59 4b. Cicero hat für res publica eine wegweisende Definition gegeben: Res publica, res populi; populus autem non omnis hominum coetus, quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis, iuris consensu et utilitatis communione sociatus60 - „Die res publica ist die Sache des Volkes {populus), Volk aber ist keine irgendwie zusammengelaufene Menschenherde, sondern der Zusammenschluß einer Menge, durch rechtliche Übereinkunft und gemeinsamen Nutzen vergesellschaftet". Daran lehnte Kant 61 1797 seine Definition an: „Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen". 4c. Staat und Volk stecken in Wendungen wie nomen Romanum oder nomen Etruscum bei Livius 62 . Imperium63 bedeutet ursprünglich kein Gebiet, sondern die Macht des Gebieters: die militärische Blutgewalt, die Konsuln und Prätoren ausübten. Sie setzt die Existenz eines Staates voraus. Sinnverwandt ist provinciaM, zunächst die rechtliche Amtsbefugnis eines Magistrats, später der räumliche Amtsbereich eines Statthalters. Regnum verlangt einen König (rex), principatus einen Fürsten (princeps). 4d. Civitas65 bezeichnet wie politeia das abstrakte Bürgerrecht und die konkrete Bürgerschaft einer Stadt, ob selbständig oder nicht. Auch die Stadt als Ort oder Befestigung kann gemeint sein. Das Wort civis - „Bürger" bedeutet ursprünglich „Genosse", im Gegensatz zum „Fremden" 6 6 . Civitates heißen die Stadtbezirke, in welche die römischen Provinzen zerfielen, aber auch außerrömische Staaten beliebiger Verfassung. „Staatsform" kann mit forma civitatis ausgedrückt werden 67 . Der römische Weltherrschaftsanspruch verhinderte die Konzeption von einem im Plural möglichen Staatsbegriff. 4e. Folgenreich wurde der Ausdruck status rei publicae. Im klassischen Latein bezeichnet er den „Zustand" des römischen Gemeinwesens im Vergleich zu früheren oder späteren Zuständen 68 . In der Kaiserzeit heißt status Romanus69 oder status publicus10 soviel wie „römischer Staat". Wegweisend war dann der erste Satz des »Principe« von Machiavelli (1513): Tutti gli stati... sono o reppubliche o principati. Das war die Zweiteilung Homers in Einherrschaft und Vielherrschaft 71 . Im Deutschen findet sich „Staat" im Sinne res publica erst 1677 als Entlehnung aus dem Niederländischen 72 .

5. Die Antike als Epoche 5a. Nach dem Wort „Staat" muß uns nun der Name „Antike" beschäftigen. Er kommt aus dem Französischen, antique heißt seit dem 18. Jh. „griechisch-römische Antiquität" (Graf Caylus). Von den Kunstwerken wurde der Begriff erst um 1900 auf die Periode übertragen, aus der sie stammen 73 . „Antike" wird seitdem gewöhnlich gleichlautend mit „Altertum" oder „Alter Geschichte" benutzt und steht für die erste der drei Großperioden

* 59 s.u. XIX 1 c! * 60 Cicero, De rep.I 39 * 61 Kant V, S.433 * 62 s.u. XI 1 b! * 63 s.u. XIII 8 c,d! * 64 s.u. XIII 3 i! * 65 Gellius XVIII 7,5 * 66 Walde + Hofmann 1938, S.224 * 67 Livius III 33,1 * 68 Livius XXXIV 7,1 * 69 Aurelius Victor, Liber 24,9; Salvian, Gub. Dei V 23 * 70 Seneca, De dem. I 4,3; Historia Augusta, Opellius Macrinus 3,1; Sidonius, ep. I 11,15 * 71 Homer, Ilias II 204f; s.o. 3f! * 72 Kluge + Mitzka 1967, S. 734 * 73 W. Rüegg, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, I 1971, S.385f

5. Antike als Epoche

25

vor Mittelalter und Neuzeit, d. h. für die durch Griechen und Römer geprägte Zeit des Mittelmeerraumes. 5b. Das soeben zitierte Dreistadienschema hat sich im Humanismus herausgebildet und wurzelt im Epochenbewußtsein der Renaissance 74 . Das Mittelalter hatte im Hinblick auf die heilsgeschichtliche Prophezeiung im Buch Daniel die Geschichte als Abfolge von vier Weltreichen gegliedert, deren letztes vor dem Jüngsten Gericht das römische sein sollte. Aus diesem Grunde bedeutete die Auflösung des Imperium Romanum in der Völkerwanderung keinen tieferen Einschnitt im Geschichtsbewußtsein. Die Kaiserfolge ging in Byzanz ungebrochen weiter, im Westen wurde sie mit Karls Krönung im Jahre 800 wiederhergestellt. Als geschlossene Periode konnte die Antike dem Mittelalter nicht in Erscheinung treten, sie zerfiel religiös in eine heidnische und eine christliche Zeit, politisch in eine ältere (ethnisch und politisch zersplitterte) und eine jüngere (universale römische) Weltordnung, die seit Constantin die weltliche und geistliche Einheit der Menschenwelt verkörperte. So begriff sich das Mittelalter selbst gleichsam als verlängerte Spätantike. 5c. Dieses Geschichtsbild wurde aufgebrochen, als im Westen weder der von den Fürsten bedrängte Kaiser noch der von den Protestanten infrage gestellte Papst den Anspruch auf Universalmacht durchhalten konnte und im Osten der byzantinische Basileus politisch vom türkischen Sultan und ideologisch vom russischen Zaren abgelöst wurde. Die drei Sinnbilder der christlich-römischen Kontinuität: Kaiser, Papst und Basileus verblaßten. Gleichzeitig erlebte die vorchristliche Antike jene Wiedergeburt, die wir als Renaissance bezeichnen. Literaten, Künstler und Wissenschaftler entdeckten die antike Kultur, suchten sie nachzuahmen, zu übertreffen. Das Gefühl einer kulturellen Morgenröte verwandelte die überstandene Zeit in das seit Petrarca 75 so genannte finstere Mittelalter. Damit zerfiel die Geschichte in die drei Teile, in die wir sie bis heute gliedern. 5d. So verbreitet nun das Dreistadienschema als ganzes ist, so umstritten sind seine zeitlichen und räumlichen Grenzen. Am Anfang stehen die Völker des Alten Orients, die für Eduard Meyer ein fester Bestandteil der Antike waren, im allgemeinen aber wegen ihrer Sprachen ausgegliedert werden 76 . Dies gilt für die ältesten, durch Schrift und Staat gekennzeichneten Hochkulturen, für die Sumerer und Ägypter, in geringerem Maße auch für die semitischen Chaldäer und Assyrer, die zur gleichen Sprachfamilie wie die alten Israeliten, Phönizier und Karthager gehören. Die Meder und die achaimenidischen Perser, die Parther und die sassanidischen Perser zählen zwar zum Alten, d. h. vorislamischen Orient, sind aber durch ihre indogermanische Sprache und ihre Geschichte mit Europa verbunden. Je. Die griechische Antike gliedern wir in vier Phasen. Nach der ersten Einwanderung aus dem Donauraum um 1800 vor Christus entsteht um 1500 in Süd- und Mittelgriechenland die mykenische Palastkultur (1). Sie läßt starke Einflüsse aus dem minoischen Kreta und dem Orient erkennen. Der dorischen Einwanderung nach 1200folgt eine dunkle Zeit, aus der die bis zu den Perserkriegen, d. h. um 500 v. Chr. gerechnete archaische Periode hervorgeht (2). An den nördlichen Küsten des Mittelmeers entstanden griechische Städte, die im 7. Jh. großenteils in die Gewalt von Tyrannen gerieten. Im späten 8. Jh. hat Homer in Kleinasien gleichsam die Bibel des Hellenentums geschaffen, bestehend aus dem „Alten * 74 Maßgeblich waren dafür die Lehrbücher von Ch. Cellarius, 1634-1707 * 75 L. Varga, Das Schlagwort vom finsteren Mittelalter, 1932 * 76 H. J. Nissen, Grundzüge einer Geschichte der Frühzeit des Vorderen Orients, 1990

27

5. Antike als Epoche

Testament" der »Ilias« mit ihren Kriegen und dem „Neuen Testament" der »Odyssee« mit dem großen Dulder Odysseus. Die Zeit zwischen den Perserkriegen und Alexander (500 bis 333) ist die griechische Klassik (3), die in der attischen Demokratie unter Perikles kulminiert. Die Zeit nach der Klassik nennen wir seit Droysen „Hellenismus" (4), sie ist geprägt durch die Eroberungen Alexanders, aus denen die Diadochenreiche entstanden. Sie stehen wieder unter orientalischem Einfluß. 5f. Die römische Geschichte ist im Gegensatz zur polyzentrischen griechischen Welt monozentrisch strukturiert, zerfällt aber gleichfalls in vier Perioden. Die Zeit von 800 bis 400 steht im Zeichen der Etrusker (1), die östliches Kulturgut verarbeiten. Nach der legendären Königszeit (753 bis 510) folgt die Republik (2). Die Zeit ihrer Entfaltung reicht vom Zweiten Punischen Krieg (218 bis 202), in dem Scipio den Karthager Hannibal abwehrte so wie Themistokles 480 den Perser Xerxes, bis zur Weltmonarchie des Augustus, analog zu der Alexanders. Beidemale gehen schwere Bürgerkriege voraus, die in Griechenland wie in Rom mit einer kulturellen Blüte verbunden waren. Auf die hohe Kaiserzeit (3), das Principat (31 v. Chr. bis 284 n. Chr.), folgt mit Diocletian und Constantin die Spätantike (4), abermals unter östlichen Einflüssen. Als Ende der Spätantike und damit des Altertums überhaupt gilt überwiegend die Absetzung des letzten Kaisers im Westen 476 durch Odovacar oder die Zeit Justinians (gest. 5 6 5)77. Es ergibt sich für den Kern der Antike folgendes Schema:

Griechenland

Rom

Mykene (1800-1000)

Etrusker ( 8 0 0 ^ 0 0 )

Archaik (1000-500) Klassik (500-300) Hellenismus (300-31 v.Chr.)

Republik (500-31 v.Chr.) Principat (31 v.Chr.- 300) Spätantike (300-500)

5g. Diagonal gegenüber den orientalischen Randkulturen im Südosten liegen die Länder der Kelten und Germanen im Nordwesten der griechisch-römischen Welt. Sie haben keine Schrift entwickelt und werden daher überwiegend von den Prähistorikern, den Urgeschichtlern erforscht. Die nördlichen „Barbaren", wie die Griechen sie nannten, lebten im allgemeinen auf einer tieferen Kulturstufe, waren aber als Krieger gefürchtet und daher als Söldner begehrt. Die Kelten haben viel von den Griechen, die Germanen viel von den Römern übernommen, so wie Griechen und Römer viel aus dem Orient entlehnt haben. Das Licht kommt aus dem Osten, die Kraft aus dem Norden. Kelten und Germanen gehören zur indogermanischen Völkerfamilie, ebenso die Illyrer und Thraker, die Skythen und Geten, deren politische Lebensformen indes wenig bekannt sind. Die keltischen Gemeinwesen sind im Römerreich aufgegangen, die germanischen Stämme aber haben in der Völkerwanderung das Imperium zerschlagen und die Mehrstaatlichkeit des Mittelalters begründet.

* 77 Varianten: A. Demandi, Der Fall Roms, 1984, S.216ff

28

I. Staatsbegriff und Lebensform

6. Völker und Sprachen 6a. Wenn wir von den „Völkern" der Antike reden, benutzen wir einen umgangssprachlichen Begriff, über dessen genaue Bedeutung deswegen unendlich räsonniert wird, weil er keine exakte Bedeutung besitzt. Über seinen Sinn belehren uns nur der Zusammenhang, in dem er jeweils verwendet wird, seine sprachgeschichtliche Herkunft und seine fremdsprachlichen Äquivalente. 6b. „Volk" bezeichnet eine größere Gruppe zusammengehöriger, in der Regel zusammen wohnender Menschen, die sich durch ihren selbstgewählten Volksnamen von den Angehörigen anderer Gruppen unterscheiden oder von diesen anderen als eigentümliche Gruppe erfaßt und mit einer Fremdbezeichnung benannt werden. Selbstbezeichnungen tragen die Israeliten, Perser, Karthager und Römer; fremde Namen verwenden wir, wenn wir von Griechen und Etruskern reden, die sich selbst Hellenen bzw. Rasenna nannten. Die Germanen haben ihren keltischen Namen übernommen 78 . Wie die minoischen Kreter sich und ihre Insel genannt haben, wissen wir nicht. Die Selbstbezeichnung der mykenischen Griechen könnte Achaioi oder Danaoi gelautet haben. Das im Namen ausgedrückte eigene oder fremde, jedenfalls subjektive Zusammenhörigkeitsgefühl findet seinen objektiven Niederschlag zumeist in der volkseigenen Sprache, in einer besonderen Religion, eigentümlichen Sitten und einer spezifischen Sachkultur. Diese Kriterien stimmen allerdings selten überein, so daß als Identitätsmerkmal nur der überlieferte Volksname übrigbleibt. 6c. Die Begriffe für „Volk" verweisen entweder auf die wichtigste Seite des gemeinsamen Handelns, die Kriegsführung, oder auf den biologischen Ursprung der Zusammengehörigkeit, die gemeinsame Abstammung. Aus der militärischen Sphäre stammt unser deutsches Wort „Volk", ursprünglich soviel wie „Kriegsvolk, Fußvolk". Der Vorname „Volker" bezeichnet den „Krieger". Persisch kara heißt „Volk" und „Heer", ist mit „Heer" stammverwandt. Eine militärische Grundbedeutung hat ebenso lateinisch populus\ populari heißt „verheeren". Den die tat or als Anführer des Fußvolks nannten die Römer magister populi79. Griechisch laos bezeichnet bei Homer das Kriegsvolk 80 ; demos ist verwandt mit keltisch dam - „Gefolgschaft, Schar" 81 , weist mithin in dieselbe Sphäre, während ethnos auf das Reflexivum se - „sich" zurückgeführt wird, woraus ebenso ethos, „Sitte" und „Sippe" kommen 82 . 6d. Auf die gemeinsamen Vorfahren rekurrieren lateinisch natio, ursprünglich gnatio, und gens, beides abgeleitet vom Stamme gen-, der auch dem griechischen genos - „Geschlecht" zugrunde liegt. Griechisch phyle - „Stamm" kommt von phyo - „wachsen lassen". Biologische Grundbedeutung besitzt ebenfalls deutsch „Stamm", es hat denselben Doppelsinn wie lateinisch stirps. Den Glauben an die gemeinsame Abstammung aller Angehörigen des eigenen Volkes bezeugen die Mythen der Israeliten 83 , der Perser 84 , der Griechen 85 , der Kelten 86 , der Karthager 87 und Germanen 88 . Eine Ausnahme machen die Römer mit ihrer Asyltradition 89 . Diese Sagen erklären zugleich das Verhältnis zwischen den Völkern gemäß * 78 Das zeigen die Volkszugehörigkeitsbezeichnungen der kaiserlichen Leibwächter: Dessau Nr. 1717ff * 79 Varro, Ling. Lat. V 82 * 80 Homer, Ilias II 115; VII 306; XIII 833 * 81 Frisk 1973 s.v. * 82 Frisk 1973 s.v. * 83 AT. 1. Mose 10; 1. Chronik 1 * 84 Herodot VII 150 * 85 Hesiod, fr. 7; Apollodor I 49f * 86 Caesar, Bell. Gall. VI 18 * 87 Vergil, Aen. I 340; Appian VIII 1,1 ff * 88 Tacitus, Germania 2 * 89 Livius I 8,57

6. Völker und Sprachen

29

dem genealogischen Denkschema nach der näheren oder ferneren Verwandtschaft, die letztlich alle Menschen verbindet. 6e. Entsprechend dem genealogischen Prinzip bilden die antiken Völkernamen kein bloßes Nebeneinander von Ordnungsbegriffen, sondern eine mehrstufige Taxonomie. Jeder Israelit gehörte zugleich einem der zwölf Stämme an. Die Perser rechneten sich, wie die Sanskrit-Inder, zu den Ariern. Ein Grieche war nach seinem Dialekt Jonier, Dorier, Makedone usw., nach seiner Polis Athener, Argiver oder Spartaner. Die Karthager bezeichneten sich ursprünglich als „Leute aus Tyros" und zählten als solche zu den Phöniziern. Auch Kelten und Germanen zerfielen in Stammesgruppen, Stämme und Teilstämme, die Etrusker in Stadtstaaten. Nur die Römer waren allein Römer. Sie betrachteten sich keiner übergeordneten Gruppe zugehörig, die Namen der Latiner und Italiker schlössen die Römer in der Regel aus. 6f. Da wir Völker für festgefügt und dauerhafter erachten, als dies durch bloßen Abstammungsglauben, durch zeitweilige Kriegsgenossenschaft und durch wandelbare Sitten erzielt wird, verbinden wir die Volkszugehörigkeit - wie das auch die antiken Autoren taten 90 - vorzugsweise mit der Sprache. Auch sie liefert eine mehrdimensionale Taxonomie und ist darum mehrdeutig. 6g. Unter den Trägern der antiken Staatsformen gehören die minoischen Kreter und die Etrusker keiner bekannten Sprachfamilie an. Sie sind möglicherweise den altmediterranen Pelasgern oder dem Orient zuzurechnen, der sie auch kulturell beeinflußt hat. Bei den Kretern zeigt sich das im Palastbau, in der Schrift und im Siegelwesen; bei den Etruskern in der Religion, namentlich in der Zukunftsdeutung. Eine eigene Gruppe bilden die Semiten, denen die Israeliten und Karthager zugehören. Auch bei ihnen ist die Verbindung zum Orient offenkundig: ägyptische und mesopotamische Einflüsse fassen wir allenthalben. 6h. Alle anderen im folgenden behandelten Völker sprachen indogermanisch: die Perser, Griechen und Römer wie die Kelten und Germanen. Die Sprachverwandtschaft wurde 1786 von W. Jones in Kalkutta entdeckt und später namentlich von Franz Bopp untersucht. Eine Erklärung liefert die Annahme einer gemeinsamen Herkunft, und zwar aus Mittel- und Osteuropa, wie der geographisch interpretierbare Teil des gemeinsamen Wortschatzes nahelegt 91 . 6i. Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel lockern die ethnischen Bindungen. Die Verbreitung einer Sprache geht über die ihrer ursprünglichen Träger oft weit hinaus - im Hellenismus sprachen gebildete Nubier und Baktrier griechisch, im Römerreich lernten Berber und Britannier Latein. Schädeluntersuchungen in Niederhessen erwiesen eine Kontinuität der Bevölkerung von der vorgermanischen Zeit zu den Chatten und Franken. Die Aussagen über das „Wesen" der Juden, die „Eigenart" der Griechen, den „Charakter" der Römer usw. sind widersprüchlich und willkürlich 92 . 6j. Die Antike kannte keine eigentliche Rassentheorie, jedoch rechnete man mit geographisch bedingten Mentalitäten, die für das Staatsleben wichtig waren. „Üppige Länder produzieren weichliche Menschen, kein Boden bringt reiche Ernten und tapfere Krieger zugleich hervor" 93 . Aristoteles 94 hielt die Orientalen für kunstsinnig aber unkriege-

* 90 Tacitus, Germania 43 * 91 A. Scherer (Hg.), Die Urheimat der Indogermanen, 1968 (WdF. 166) * 92 Weiler 1974 * 93 Herodot IX 122; Vitruv VI 1,3 ff * 94 Aristoteles, Pol. 1327 b

30

I. Staatsbegriff und Lebensform

risch, ja feige, und daher sei die Despotie die ihnen angemessene Regierungsform. Die Nordvölker hingegen seien freiheitsbewußt und kriegerisch, aber zuchtlos, daher zu gesetzlichem Zusammenleben nicht imstande. Nur die Griechen in der „Mitte" erachtete Aristoteles für fähig, sich selbst zu regieren95. Das Freiheitsbewußtsein von Kelten und Germanen wurde zum Topos der politischen Selbstkritik der Römer96. Die Pythagoreer sahen einen Zusammenhang zwischen Nahrung und Denkweise, evident beim Weingenuß, den sie auf die Nacht beschränkten97. 6k. Die Sprachen und Namen der Völker verschwinden unter der Herrschaft Roms, schrieb Strabon 98 . Tatsächlich hat sich die Völkervielfalt in allen antiken Großreichen durch gewaltsame oder friedliche Assimilation verringert. So verschmolzen die Kanaanäer, Jebusiter, Idumäer und verschiedene Anrainer mit den Israeliten; aus Achäern und Danaern, Pelasgern und Lelegern wurden Hellenen; aus Latinern, Oskern und Samniten wurden Römer; Kelten und Romanen gingen auf in den Franken, die ihrerseits aus mehreren Altstämmen hervorgegangen waren. Weder die Staaten noch die Völker dauern, regionalistische und universalistische Tendenzen wechseln.

7. Wirtschaft und Gesellschaft 7a. Die Völker der Alten Welt zeigen in Wirtschaft 99 und Gesellschaft100 gemeinsame Merkmale, die gleichwohl beträchtliche Unterschiede einschließen. Das kulturelle und sozialökonomische Niveau war in den altorientalischen Städten und Palästen schon beachtlich und wurde erst von den Griechen, dann von den Römern eingeholt und überboten. Kelten und Germanen lebten demgegenüber primitiv bis ins hohe Mittelalter. Es gibt ein Kulturgefälle von Südosten nach Nordwesten, das sich ablesen läßt an der Verbreitung der Schrift. 7b. Im 8. Jh. v. Chr. haben die Griechen das Alphabet der Phönizier übernommen und um Vokalzeichen vermehrt101. Erste Zeugnisse für die Kenntnis des Lesens und Schreibens sind die großen Dichtungen von Homer und Hesiod aus dem späten 8. Jh. Als früheste Inschrift gilt die um 730 entstandene Ritzung auf einer geometrischen Kanne aus der Dipylon-Grabung in Athen: „Siegespreis für den besten Tänzer" 102 . Seit dem ausgehenden 7. Jh. gibt es griechische Gesetzesaufzeichnungen. Man schrieb auf Stein und Bronze, auf Holz, Leder und Tonscherben, vor allem aber auf Papyrus, der aus Ägypten eingeführt wurde. Seit dem 5. Jh. kennen wir in Griechenland öffentliche Schulen103. Die Verbreitung von Inschriften jeder Art, aber auch Regelungen wie das Scherbengericht104 bezeugen, daß seit etwa 500 in Athen die meisten Bürger lesen konnten. In Rom fand das griechische Alphabet, möglicherweise vermittelt durch die Etrusker, im 6. Jh. Eingang.105 Die Zwölftafelgesetze aus dem Jahre 450 sind das erste große Dokument der Schriftlichkeit in Rom. Der Überlieferung nach hatten die Verfasser jener Gesetzessammlung zuvor Athen besucht106. Die Kenntnis der griechischen Sprache war in Rom für jeden Gebildeten * 95 so noch Orosius VII 43,6 * 96 Demandt 1993, Kap.XII * 97 Jamblichos, Vita Pyth. 97 f; 205ff * 98 Strabon XII 4,6; Plinius N H . III 10/70 * 99 Pekary 1979; Kloft 1992 * 100 Gschnitzer 1981; Alföldy 1984 * 101 s.u. XII 2 a ! * 102 Pfohl Nr. 1; A. Furtwaengler, in: M D A I (Athen) 6, 1881, S. 106ff * 103 Plutarch, Mor.221 C; ders., Themistokles 10; Aischines I 9; Demosthenes XVIII 129 * 104 s.u. VII 8 h,i! * 105 s.u. XI lOf! XIII 2 e! * 106 Livius III 31,8

7. Wirtschaft und Gesellschaft

31

selbstverständlich. Die Kelten übernahmen erst griechische, dann lateinische Buchstaben, 107 die Germanen verwendeten - abgesehen von den bedeutungsarmen Runentexten 1 0 8 und der Wulfila-Bibel - ausschließlich das Latein als Schriftsprache. 7c. Grundlage der vorindustriellen Wirtschaft waren Ackerbau und Viehzucht. Die Kulturvölker waren grundsätzlich seßhaft 109 . Wichtigstes Nahrungsmittel bildete das Getreide, namentlich der Weizen, auch Bohnen wurden viel gegessen. Ähnlich wie im Mittelalter wurden in der Antike die Städte großenteils von Bauern bewohnt. Grundbesitz war die beste Kapitalanlage und vielerorts Voraussetzung für das Bürgerrecht. Bei den Spartanern blieb das immer so, in K a r t h a g o hingegen galt es nie. Gemeineigentum am Boden findet sich nur in wenig entwickelten Frühstadien, so bei Kelten 110 und Germanen 1 1 1 . Israeliten 112 und Spartaner 1 1 3 überwachten den Landerwerb, um Armut und Reichtum nicht übergroß werden zu lassen. Bäuerliche Gesellschaften zeigen gewöhnlich patriarchalische Struktur und konservative Mentalität. 7d. Im Bereich des Handwerks läßt sich ein Fortschritt beobachten, die Arbeitsteilung nimmt bis in die hohe römische Kaiserzeit zu 114 . Handwerk und Handel förderten die Urbanisierung. Als Händler waren Phönizier und Karthager berühmt. Sie gründeten an den Küsten Handelsemporien, das war ein von Griechen und Römern kaum verwendeter Siedlungstyp 115 . Die Geldwirtschaft setzte sich unter den Griechen im 6. Jh. v. Chr. durch, in R o m erst während des 3. Jhs. 116 Die antike Philosophie betrachtete den Ackerbau als den natürlichsten und gesündesten Wirtschaftszweig 117 , das Handwerk rangierte darunter und abermals eine Stufe tiefer stand der Handel, namentlich der zur See118. Moralität und Mobilität wurden als Gegensätze betrachtet. 7e. Vielfach wird die Ansicht vertreten, die Handarbeit sei im Altertum verachtet, eines freien Mannes unwürdig gewesen 119 . Es gibt derartige Äußerungen, insbesondere bei Piaton 120 und Aristoteles 121 . Der abschätzige Ausdruck f ü r den Handarbeiter lautet banausos, er bezeichnet ursprünglich den mit Feuer umgehenden Schmied, Töpfer oder Köhler, der sich schmutzig macht. Sinngleich heißt es in der Bibel: „Wer kein Geschäft hat, wird weise. Wie kann weise werden, wer den Pflug führt?" 1 2 2 . 7f. Dennoch läßt sich dies nicht verallgemeinern. Auf Sokrates und Phidias hat niemand deswegen herabgesehen, weil sie Handarbeit geleistet haben. Xenophon 1 2 3 überliefert ein Gespräch, in dem Sokrates einen vornehmen Jüngling verspottet, der seine Verwandten N o t leiden läßt, anstatt sie zur Arbeit anzuhalten, während sein Nachbar samt Sklaven, die ein Handwerk verstehen, blendend lebt. Dementsprechend soll auch ein Freier arbeiten, wenn er anders Mangel litte. Jedes Handwerk hatte seinen Vertreter unter den Göttern: Athena beschützte die Textilarbeit, Hephaistos die Schmiedekunst, Artemis die Jagd, Hermes den Handel, Dionysos den Weinbau, Demeter den Getreideanbau usw. Eher

* 107 s.u. XIV 4 i! * 108 s.u. XI 4 e! * 109 Wohnwagenvölker (hamaxobioi) gab es in Nordosteuropa, Kamelnomaden in Arabien und Nordafrika. * 110 s.u. XIV 4 b! * 111 s.u. XVI 4 k! * 112 s.u. III 8 b,c! * 113 Aristoteles, Pol. 1270 a * 114 H. Schneider, in: Propyläen-Technikgeschichte, I 1991 * 115 Ausnahme: Naukratis, Herodot II 178f * 116 s.u. III 2f! * 117 Homer, Odyssee VIII 159ff; Aristoteles, Oec.I 2 = 1343 A 25 ff; Plutarch, Cato Maior 21; Cicero, De off.I 151 * 118 Aristoteles, Pol. 1257 A; 1327 A ; Cicero, De off.I 150fT * 119 Zeugnisse bei Burckhardt, GK. IV, S. 116ff * 120 Piaton, Gesetze 644 A; 847 D; 919 E; ders., Staat 495 DE; 522 B; 590 C * 121 Aristoteles, Politik 1319 B 25 * 122 AT. Jesus Sirach 38,24ff * 123 Xenophon, Mem.II 7

32

I. Staatsbegriff und Lebensform

verachtet war die abhängige Arbeit, die Lohnarbeit 124 . Aber sie war nicht entfernt so bedeutsam wie heute, da in allen Wirtschaftszweigen des Altertums, anfangs zumindest, der selbständige Kleinbetrieb vorherrschte. Erst im Hellenismus entwickelten sich Großgüter und Großwerkstätten von Arbeitern. 7g. Die antike Gesellschaft war geteilt in Freie und Sklaven. Die Freien bestanden vielfach aus Adel und Bürgertum. Abgesehen von der möglichen Ausnahme des sassanidischen Persien, wo die Standesgrenzen schwer zu übersteigen waren 125 , gab es allenthalben soziale Mobilität. Freie wurden (als Kriegsgefangene oder als Kinder) versklavt, Sklaven (für Dienste oder Bezahlung) freigelassen. Bei den Karthagern konnte man durch geschäftliche Tüchtigkeit, bei den Griechen durch sportliche Leistung, in Rom über politische Ämter und bei den Germanen durch Kriegsruhm in die Oberschicht aufsteigen. 7h. Adel war ein durch Geburt erworbener Vorrang: videtur esse nobilitas quaedam de meritis veniens laus parentum, heißt es bei Boethius126 - „Nobilität ist üblicherweise das Lob für die Verdienste der Väter." Diese merita erwarb man als Krieger und Führer, sie brachten Gefolge und Reichtum. Einen reinen Geldadel finden wir in Karthago. Die Anerkennung des Adels hat eine biologisch-empirische, eine religiös-intuitive und eine kommunikationstheoretische Wurzel. Man wußte, daß so wie körperliche Merkmale sich auch intellektuelle und charakterliche Züge vererben, und glaubte, daß der von Hirten großgezogene Prinz sich auch unter Landleuten als der geborene König entpuppe. 127 Die Gunst der Götter ruhte nicht auf der Person, sondern auf der Familie. Charisma, felicitas, Königsheil galten als vererbbar und waren es tatsächlich, soweit es die Bekanntheit des Namens betraf. Ein großer Name weckte Erwartungen, die seinem Träger uns unvorstellbare Chancen eröffneten. 7i. Uradel gab es im archaischen Griechenland (Eupatriden) und im frühen Rom (Patrizier). Bei Persern und Karthagern finden wir berühmte Familien, deren Angehörige Schlüsselstellungen besetzten. Für Kelten 128 und Germanen 129 ist Erbadel literarisch wie archäologisch nachgewiesen. Jeder Adlige hat seine (juristisch begründete) Klientel, seine (ökonomisch definierten) Hörigen oder seine (militärisch ausgerichtete) Gefolgschaft, die er beschützt und bewirtet. Spartaner und Israeliten kannten in historischer Zeit keinen Geblütsadel 130 . Schon in der solonischen Verfassung ist der Geburtsadel durch Vermögensklassen ersetzt 131 . Wer fleißig war, konnte sich hocharbeiten; wer sein Gut verspielte, sank ab. In Rom verlor der alte patrizische Adel seine Vorrechte in den Ständekämpfen. Der senatorische Neuadel war ein Amtsadel, der grundsätzlich jedem politisch erfolgreichen Römer offenstand. Insofern war der eigentliche Adel in der antiken Sozialgeschichte nur zeitweilig bedeutsam. Oft bildete er ein zentrifugales Element. Sobald sich nämlich Reichtum und Ansehen erblich festigten, trat der Adlige in Konkurrenz zur Zentralgewalt. Adelsanarchie zeigt sich bei den spätrepublikanischen Senatoren ebenso wie bei vornehmen Cheruskern und Markomannen, bei den Magnaten der Sassaniden und den spätrömischen Grundherren. Der Feudalismus als Gefahr einer mediatisierten Staatsgewalt durchzieht alle antiken Staatswesen. 7j. Die Mehrzahl der Bevölkerung aller antiker Staatan bestand aus freien Bürgern, die Boden besaßen, Kriegsdienst leisteten und, jedenfalls in republikanischen Gemeinwesen, die Politik bestimmten. Kopf- und Grundsteuer war mit der Würde des freien Mannes bis * 124 Aristoteles, Politik 1277b-78a; Cicero, De off.I 150f * 125 s.u. XVII 4 i! * 126 Boethius, Cons.III 6,7 * 127 Herodot I 114 * 128 s.u. XIV 6 c! * 129 s.u. XVI 4 b ! * 130 s.u. 8a!; V 4 a ! * 131 s.u. VII 4 c,d!

7. Wirtschaft und Gesellschaft

33

in die Spätantike nicht vereinbar. 132 Die Volksversammlung war die Heeresversammlung ohne Waffen 1 3 3 . Da jeder Bürger seine Ausrüstung selbst bezahlen mußte, spiegeln sich die Waffengattungen (Reiter, Schwer- und Leichtbewaffnete) im Wahlmodus. In Athen war das passive, in R o m das aktive Wahlrecht danach gestaffelt. Mit der Wandlung der Taktik veränderte sich gewöhnlich auch die Verfassung. Für die Aristokratie ist die Reiterei, für die gemäßigte Demokratie die Hoplitentaktik, für die radikale Demokratie die Kriegsflotte kennzeichnend. Berufsarmeen sind für Monarchien typisch, Republiken kämpfen mit ihrem Bürgeraufgebot. 7k. Sklaven 134 kennt schon Homer. Mit der Freiheit verliere der M a n n , heißt es, die Hälfte seines Wertes 135 . Für die Frühzeit ist mit größeren Sklavenzahlen nicht zu rechnen. In der griechischen Geschichte finden wir Massen von Sklaven vor allem während der klassischen Zeit in Athen und anderen Großstädten. Die spartanischen Heloten unterscheiden sich von den normalen Sklaven einerseits dadurch, daß ihre Herren nicht frei über sie verfügen durften, und andererseits dadurch, daß sie im Familienverband als Bauern lebten. In der römischen Zeit begegnen uns Sklaven überwiegend als kriegsgefangene Landarbeiter in Italien und Sizilien im 2. und l . J h . v . C h r . Auch in Bergwerken, Steinbrüchen und in Großbetrieben arbeiteten Sklaven und Sträflinge. 71. Sklaven waren zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet, sie durften nicht Nein sagen: servus non habet negandi potestatem136. Sie waren im Prinzip recht- und eigentumslos, konnten verkauft und mißhandelt werden. Sie zahlten gewöhnlich keine Steuern 137 und waren im allgemeinen 138 vom Waffentragen ausgeschlossen 139 . Wurden sie als Hopliten zum Kriegsdienst gebraucht' 4 0 , so versprach man ihnen die Freilassung. Das ist bezeugt für Athen vor der Schlacht bei Marathon 1 4 1 , für Sparta im Peloponnesischen Krieg 142 , für R o m nach der Niederlage bei Cannae 1 4 3 , für Karthago während der Belagerung durch Scipio maior 203 144 , ebenso beim K a m p f gegen Scipio minor 145 und für Achaia im Aufstand gegen Rom, beides 149 v. Chr. 146 Die „Sklaven" der Germanen 1 4 7 und der Perser 148 kämpften mit. Religionsgesetzlich indessen besaßen Sklaven bestimmte Rechte 149 und wurden durch Freilassung oder Freikauf Halb- oder Vollbürger. Als rechtlicher Ursprung der Sklaverei galt die Kriegsgefangenschaft. M a n meinte, wenn man einem Feind das Leben schenke, dann könne man seine Dienste verlangen 150 . Eine anthropologische Erklärung erlaubt die Tatsache, daß die Griechen überwiegend Barbaren als Sklaven hielten. Sie waren an ihrer Haartracht kenntlich 151 . Barbaren galten weithin als minderwertig, als dumm (so die nördlichen) oder feige (so die orientalischen). Die Versklavung von Griechen durch Griechen war selten und verpönt 152 , die Israeliten versklavten ihresgleichen - gemäß dem

* 132 notae captivitatis: Tertullian, Apologeticum 13,6 * 133 Thuk. VII 64, 2; s.o. 6 c! * 134 Zur Sklaverei allgemein: Burckhardt, GK. I, S. 141 ff; Brockmeyer 1979; Finley 1981 * 135 arete: Homer, Odyssee XVII 322 * 136 Seneca, De beneficiis III 19,1 * 137 So aber in Kreta: Athenaios 143 B * 138 Heloten als Leichtbewaffnete bei Plataea: Herodot IX 22; Sklaven als Speerwerfer in Ephesos und Magnesia: Aelian, Varia Historia XIV 46 * 139 Plutarch, Marius 9 * 140 K. W. Welwei, Unfreie im antiken Kriegsdienst, 1974ff * 141 Pausanias I 32,3; VII 15,7 * 142 Thukydides IV 80 * 143 Livius XXII 59,12; Appian VII 27, vgl. 57 * 144 Appian VIII 24 * 145 Appian VIII 93 * 146 Pausanias VII 15,7 * 147 Codex Theodosianus VII 13,16 * 148 Justin XLI 2,6 * 149 Demosthenes LIX 21 * 150 Servi ex eo appellati sunt, quod imperatores captivos vendere ac per hoc servare nec occidere solent: Digesten I 5,4 * 151 Piaton, Alk. 120 A * 152 Demosthenes XVIII 183; das war natürlich nur ein frommer Wunsch, vgl. Plutarch, Nikias 29.

34

I. Staatsbegriff und Lebensform

Gesetz 153 - nur auf Zeit. Auch die Römer verwendeten als Sklaven vorwiegend Barbaren, allerdings auch Griechen. Deren kulturelle Überlegenheit brachte es mit sich, daß gefangene Griechen als Hauslehrer, Ärzte und Künstler dann oft freigelassen wurden 154 . 7m. Lange wurde die Sklaverei als Wesensmerkmal der antiken Gesellschaftsordnung angesehen, nicht nur im historischen Materialismus. Allein von den nomadisierenden Alanen hören wir, daß sie keine Sklaven hätten 155 . Dennoch bestand die Sklaverei über die Antike hinaus. Zwar besaßen Sklaven im romanisch-germanischen Mittelalter 156 nur eine marginale Bedeutung, doch erhielt die Sklaverei durch Papst Nikolaus V, den Stifter der vatikanischen Bibliothek, am 16. Juni 1452 die Billigung der Kirche. Eine offizielle Absage formuliert erst der Sendbrief »Catholicae Ecclesiae« Leos XIII vom 20. November 1890.157 Die Sklaven bekamen in den Vereinigten Staaten von Amerika mit dem Ende des Sezessionskrieges am 18. Dezember 1865 die Freiheit, in der Türkei erst nach dem Ersten Weltkrieg. 7n. Die Rolle der antiken Frau 1 5 8 ist weniger im Staat als in der Familie zu suchen. In den antiken Gesellschaften herrschte normalerweise Monogamie. Die Ehe war eine rechtlich, sozial und ökonomisch motivierte Bindung. Von dem Spartanerkönig Pausanias wird überliefert, daß er seine Frau liebte 159 . Die berühmten Liebespaare der Antike waren nicht verheiratet 160 . Scheidung gab es bei Griechen 161 wie Römern 1 6 2 . Vielweiberei findet sich bei den nordafrikanischen Nomaden 1 6 3 , bei den Persern 164 und den alten Israeliten 165 , sonst ausnahmsweise 166 oder bei Herrschern 1 6 7 . Die von Piaton 168 geforderte Weibergemeinschaft gab es bei skythischen Stämmen 1 6 9 . Prachtvolle Kleidung und kostbarer Schmuck gehörten bei Griechen, Karthagern und Römern zu den Vorrechten der Frauen, ebenso die langen Haare 1 7 0 . Dies war nur bei den Spartanern und Barbaren anders, wo auch vornehme Männer lange Haare trugen 171 . Goldschmuck für Männer begegnet uns bei Kelten und Orientalen. In der Diskussion über die Aufhebung des Luxusverbots (lex Oppia) im Jahre 1 9 5 v . C h r . heißt es: Wenn man ihnen verbiete, sich schön zu machen, könne m a n die Frauen gleich in Männer verwandeln: ihnen die Haare kurz schneiden, ihnen Männerkleider anziehen, sie bewaffnen, auf Pferde setzen und zur Bürgerversammlung zulassen 172 . 7o. Frauen besaßen keine politischen Rechte und leisteten keinen Wehrdienst. Königinnen regierten als Mütter, Töchter oder Witwen von Königen im eigenen N a m e n bei den Assyrern 173 , Britanniern 174 , Makedonen 1 7 5 , Epiroten 176 , Arabern 1 7 7 und Aethio* 153 Gegenbeispiele s.u. III 8 d! * 154 s.u. XIII 4 s ! * 155 Ammian XXXI 2,25 * 156 H. Nehlsen, Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter, 1972 * 157 J. F. Maxwell, Slavery and the Catholic Church, 1975 S. 52f; 117 * 158 Wegweisend zur Frauengeschichte Griechenlands: F. Schlegel, Über Diotima (1795). In: W. Menninghaus (Hg.), Theorie der Weiblichkeit, 1983, S.39ff; Zusammenfassend: Pomeroy 1984; Quellen: Lefkowitz + Fant 1982; Verilhac + Vial 1990 (Bibliographie) * 159 Aelian, Varia Historia XII 34 * 160 Gesammelt in den »Erotika Pathemata« des Parthenios von Nicaea aus dem 1. Jh.v.Chr. * 161 Plutarch, Perikles 24 * 162 divortium: Gellius IV 3 * 163 Herodot IV 172,2; Strabon XVII 3,19 * 164 Athenaios 556 B * 165 AT. 1. Mose 4,19ff; 5. Mose 21,15ff; 1. Könige 11,8 * 166 in Athen: Diogenes Laertios II 26; Athenaios 556 A * 167 Dionysios I: Diodor XIV 45,1; Philipp II: Athenaios 557 B; Ariovisl: Caesar, Bell. Gall. 1.53, 4 * 168 Piaton, Staat V * 169 Herodot I 216; IV 104 * 170 Diodor XXIX 98,3; Zonaras IX 26 * 171 Herodot VI 19 * 172 Zonaras IX 17 * 173 Semiramis: Herodot I 184f; III 154 * 174 Boudicca: Tacitus, Ann. XIV 31 ff; Dio XLII Iff * 175 Eurydike, Gattin des Arrhidaios, und Olympias, Mutter Alexanders: Diodor XIX 11 * 176 Kleopatra, die Schwester Alexanders des Großen, und Olympias, seine Muttertter: Hypereides III 25 * 177 Königin von Saba: AT. 1. Könige 10,1 ff;

8. Siedlung und Herrschaft

35

piern 178 , wo die Frauen auch kämpften 179 . Frauen im Kampf werden bisweilen bei den Hebräern 180 , den Kelten 181 , den Saken 182 , den Ätolern 183 und den Germanen erwähnt 184 ; bei den Sauromaten zogen die Mädchen mit in den Krieg und nahmen angeblich erst dann einen Mann, wenn sie drei Feinde getötet hatten 185 . Daraus hat sich vermutlich die Amazonen-Sage entwickelt 186 . Die im Altertum übliche Arbeitsteilung beschrieb Philo Judaeus 187 : „Gott hat dem Weib das Haus, dem Mann den Staat zugewiesen". Dies dokumentiert sich auch in der Kleidung: „Ein Weib soll nicht Mannsgeräte tragen und Männer sollen nicht Weiberkleider antun, denn wer solches tut, der ist dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel" 188 . Auch in Rom war es anstößig, wenn Männer Frauengewänder trugen 189 . Ehrbare Matronen gingen verschleiert 190 . Das traurigste Los hatten die Frauen im antiken Indien, schon Strabon 191 erwähnt die Witwenverbrennung. Die Gleichberechtigung der Frauen ist ironisch gefordert worden in den »Ekklesiazusen« und in der »Lysistrata« des Aristophanes 192 . 7p. Eine freiere Stellung besaßen Frauen in der spätgriechischen und der spätrömischen Zeit. Dort finden wir Frauen nicht nur als Unternehmerinnen und Professorinnen, sondern auch in den Stadträten, selbst im Strategenamt 193 . Ihre privatrechtliche Gleichstellung wurde aber in christlich-germanischer Zeit wieder zurückgenommen. Der Ausschluß der Frauen aus der Politik sollte für uns kein Grund sein, auf die Antike herabzusehen. In Frankreich erhielten die Frauen Wahlrecht erst nach dem Zweiten Weltkrieg.

8. Siedlung und Herrschaft 8a. Siedlung und Herrschaft stehen sowohl untereinander als auch mit der sozialökonomischen Situation im Wechsel Verhältnis. Aristoteles 194 bemerkte, daß ein Siedlungsraum mit einem einzigen Berg für eine Monarchie günstig sei, eine Gegend mit mehreren Hügeln geeignet für eine Adelsherrschaft und eine Ebene geschaffen für eine Demokratie. Derartige Korrespondenzen gibt es. Leben die Menschen in losem Kontakt, so bedürfen sie nur einer geringen Organisation, genießen aber viel Freiheit. Verdichtet sich die Kommunikation durch Zunahme der Bevölkerung und des Verkehrs, so entstehen straffere Strukturen, die zu höheren Leistungen Gelegenheit bieten. Die meisten antiken Völker erlebten drei Phasen ihrer Verfassungsgeschichte: vom monarchisch-feudalen Stammeskönigtum über ein oligarchisch- oder demokratisch-republikanisches Städtewesen zu einem monarchisch-bürokratischen Flächenstaat. 8b. Der Stamm ist die früheste Verfassungsform. Als die Israeliten nach Kanaan, die Jonier und Dorier nach Griechenland und die Italiker nach Italien einwanderten, waren sie

Zenobia: Zosimos I 50ff; Mavia: Theodoret, Hist. eccl. IV 23; Strabon XVI 4,8; Iunior, Expositio totius mundi 20 * 178 Die Königin Kandake: Strabon XVII 1,2 u. 54 * 179 Strabon XVII 2,3; Herodot IV 193 * 180 AT. Richter 4,9 f; 9,53 f * 181 Appian VI 71 f; vgl. VII 29 * 182 Diodor II 34,3 * 183 Pausanias X 22,5 * 184 Dio LXXI 3,2 * 185 Hippokrates, De aere 17; Herodot IV 117 * 186 Waffen in Gräbern von Skythenfrauen: R. Rolle, Die Welt der Skythen, 1980, S . 9 4 f f * 187 Philo Judaeus, De virt. 19 * 188 AT. 5. Mose 22,5 * 189 Digesten X X X I V 2, 23, 2. * 190 Polybios XV 27,2; Valerius Maximus VI 3, 10; Tertullian, De virg. vel.; Ammian XIV 6,16 * 191 Strabon XV 1,30 * 192 Demandt 1993, Kap. III l g - h * 193 s.u. X 8 k! * 194 Aristoteles, Politik 1330 b

36

I. Staatsbegriff und Lebensform

vermutlich ähnlich geordnet wie die keltischen und germanischen Stämme der späteren Zeit: als bewegliche Personenverbände unter patriarchalisch-monarchischer Führung. Diese Stämme besaßen kaum staatliche Organe, das wichtigste Prinzip des Zusammenhalts war in der Praxis die Gefolgschaft gegenüber dem Heerführer, in der Theorie die gemeinsame Abstammung oder der Glaube daran 195 . In der Regel gruppierte sich um eine ethnisch geschlossene Kerngruppe eine vom Erfolg abhängige Zahl von Mitläufern, die allmählich eingeschmolzen wurden 196 . 8c. Die mit dem Stammeswesen verbundene Siedlungsform ist ursprünglich das Dorf. Die Komenverfassung bildet innerhalb früher Stammesstrukturen oder Kultbünde eine Vorstufe zur Staatlichkeit. Während die Dörfer im griechischen und römischen Bereich staatsrechtlich bloß außerstädtische Ortsteile einer Polis darstellten und von dieser verwaltet wurden, besaßen die Dörfer der Perser und Kelten, wie es scheint, kommunale Selbständigkeit. Dies gilt gewiß für die Germanen. Die antiken Autoren bezeugen mehrfach die Stadtscheu der Germanen 197 auch noch dann, als ihnen die Römerstädte zur Verfügung standen 198 . 8d. Als die Israeliten nach Kanaan und die Indogermanen in den Mittelmeerraum eindrangen, fanden sie dort bereits städtische Siedlungen vor 199 . Die frühesten uns bekannten Städte überhaupt gehören der altorientalischen Kultur an 200 . Sie liegen im sog. fruchtbaren Halbmond, dem Raum Ägypten, Syrien, Mesopotamien. Auch Troja und Knossos sind der altorientalischen Welt zuzurechnen, ebenso das Städtewesen der Phönizier, Karthager und Etrusker. Die Etrusker knüpften zugleich an die griechische, die Römer an die etruskische Stadtkultur an. Die Kelten hatten beachtliche Städte, als sie unter römische Herrschaft gerieten 201 . 8e. Die Griechen haben ihren eigenen Typus von Stadt geschaffen, die Polis, in der sie den höchsten Grad an Kultur und Staatlichkeit errangen 202 . Das übliche Bild einer griechischen Polis besteht einerseits aus einer gemeinsam lebenden und handelnden Gruppe von Menschen, andererseits einer größeren Siedlung, die von Mauern aus Kalksteinquadern umwehrt, von rechtwinklig sich kreuzenden Straßen durchzogen ist und außer den Wohnhäusern und Werkstätten auch Tempel und Amtslokale umschließt. In der Mitte liegt ein großer, rechteckiger Marktplatz, die Agora oder das Forum, wo nicht nur Handel getrieben, sondern auch Recht gesprochen und Politik gemacht wird und Feste stattfinden. In der späteren Zeit kommen weitere Bauwerke hinzu: Theater und Säulenhallen für diverse Zwecke, Brunnen und Bäder, Gymnasien und Bibliotheken zur Körper- und Geistesbildung. 8f. In der Regel fördert Küstenlage die Urbanisierung, wenn nicht gerade das Hinterland so unfruchtbar ist wie zwischen den Syrten oder in Dalmatien. Ebenso deutlich ist der Zusammenhang zwischen der Kleinräumigkeit der griechischen Landschaft und der Poliskultur. Die alluvialen Siedlungskammern auf dem Festland und die natürlichen Grenzen der kleineren Inseln haben gewöhnlich das Territorium für eine einzige Polis abgegeben. Erst mit wachsendem Kommunikationsbedarf verloren diese räumlichen * 195 s.o. 6 d! * 196 Wenskus 1961 * 197 Tacitus, Germ.16; ders., Hist.IV 64. Ebenso die Hunnen: Ammian XXXI 2,4 * 198 Ammian XVI 2,12; Julian 278 D; Petrus Patricius, fr. 170 bei Constantinus Porphyrogenitus, Exc. de sent., ed. Boissevain 1906, S.267 * 199 s.o. III 3 b! * 200 Kolb 1984; H. Weippert, Palästina in vorhellenistischer Zeit, 1988, S.99ff; Müller-Karpe 1989 * 201 s.u. XIV 7f,g! * 202 Bester Überblick noch immer: Burckhardt, G K . I , S.51 ff

8. Siedlung und Herrschaft

37

Gegebenheiten ihre staatsbildende Kraft. Alexanders Versuch, in Innerasien Städte zu gründen, hatte dort kein Polis-System zur Folge 203 . 8g. Das enge Beieinander innerhalb der Städte und deren Nachbarschaft hat die zwischenmenschlichen Reibungen verstärkt und dadurch Anlaß gegeben, sich darüber Gedanken zu machen, wie man das Zusammenleben verbessern könne. Die Griechen haben früh über Staat und Recht reflektiert 204 und ihr Gemeinwesen bewußt gestaltet. Von den fast achthundert bekannten griechischen Stadtstaaten besaß jeder eine andere Verfassung. Zwar wiederholten sich die Grundformen, aber die Varianten schienen Aristoteles doch so bemerkenswert, daß er die schon erwähnte 205 Sammlung von 158 Verfassungen anlegen ließ. Die griechischen Städte besaßen eine überschaubare Größe 206 , verwalteten sich selbst und waren außenpolitisch souverän. Jede Stadt war ein Staat; und verlor sie diese Unabhängigkeit einmal, so blieb der Wunsch nach ihr doch erhalten. 8h. Eine Folge der Souveränität war, daß der Kriegszustand zwischen benachbarten Städten das Normale war. Es gibt kaum zwei benachbarte größere Städte, deren Rivalitäten nicht zu wiederkehrenden Konflikten geführt hätten. Athen war mit Megara verfeindet, Theben mit Plataiai, Korinth mit Sikyon, Sparta mit Argos usw. Die Auseinandersetzung zwischen den griechischen Städten, namentlich der Kampf zwischen Athen und Sparta hat zu einer Besinnung über die Vorzüge und Nachteile der beiden Systeme geführt, die beide einen Grenzfall der Verfassungstypologie darstellen 207 . Sowohl die liberale Demokratie, die dem Wohle des Einzelnen dienen wollte, als auch der egalitäre Kriegerstaat, der die Gemeinschaft über alles stellte, fand Verfechter, und diese Diskussion bildet den Hintergrund für die meisten staatstheoretischen Konzeptionen der klassischen Zeit 208 . Insbesondere Piaton und Xenophon waren vom spartanischen Staatsideal angetan, während Thukydides und Aristoteles der gemäßigten Demokratie zuneigten. 8i. In den Städten saßen die Handwerker und die Händler, hier ballte sich der Reichtum 209 . Auf dem Lande hingegen lebten die Bauern und Hirten, dort lag zumeist die höhere militärische Potenz. Die Stadt mit einem angemessenen Umland wäre, so wie Piaton und Aristoteles das meinten, tatsächlich eine ideale Gesellungsform, wenn sie nicht durch ihre Kleinheit und ihren dauernden Verteidigungszustand an der - bei den Philosophen freilich nicht vorgesehenen - Entwicklung gehindert würde. Dies führte dazu, daß der Stadtstaat durch den Flächenstaat abgelöst wurde. 8j. Flächenstaaten haben sich im Altertum teils aus Stammesstaaten, teils aus Stadtstaaten gebildet. Stammesherrschaft steht am Anfang, wo eine eingewanderte, militärisch überlegene Minderheit eine ansässige, kulturell höherstehende Mehrheit unterworfen hat und sich mit dieser im Laufe der Zeit vermischt. So bei Persern, Juden, Makedonen und Germanen. Stadtstaaten als Keimzellen größerer Territorialherrschaften begegnen uns in Rom und Karthago. Beide Staaten waren hegemoniale Systeme, doch gab es auch föderative Gemeinwesen, so die spätgriechischen Bundesrepubliken 210 und die westgermanischen Stammesbünde 211 . Die antiken Flächenstaaten waren monarchisch verfaßt. Das empfahl sich aus Gründen der Handlungsfähigkeit. Republikanische Systeme, d. h. Demokratien und Aristokratien hielten sich zumeist nur in kleinen Stammes- oder Stadt* 203 s.u. IX 6 g! * 204 Demandt 1993, Kap II * 205 s.o. 3 g ! * 206 Piatons Idealstaat hatte 5040 Vollbürger: ders., Gesetze 737 E * 207 Die klassische Darstellung bietet die Totenrede des Perikles: Thukydides II 34ff * 208 Demandt 1993, Kap.II-V * 209 Thukydides I 13 * 210 s.u. VIII! * 211 s.u. XVIII!

38

I. Staatsbegriff und Lebensform

Staaten. Das republikanische Rom regierte die Provinzen durch Statthalter als Monarchen auf Zeit. 8k. Die Städte innerhalb der Flächenstaaten bewahrten in der Regel ihre Selbstverwaltung in Form einer gemäßigten Demokratie. Der Einfluß des Monarchen war hier eher indirekt. Der Krieg verlagerte sich an die Grenzen, so daß den Städten mit dem Recht auf Selbstverteidigung auch die Notwendigkeit dazu abging. Die Römer der späteren Republik zwangen unterworfene Städte vielfach, ihre Mauern zu schleifen oder gar vom Berge in die Ebene umzusiedeln 212 . Im Schutz der Pax Romana geschah das oft auch freiwillig, der Bequemlichkeit halber. 81. Die griechischen Philosophen haben die Staaten nach der Zahl der jeweils Herrschenden klassifiziert. Man unterschied drei reine Typen: die Monarchie, in der ein Einziger herrscht; die Oligarchie, in der eine Gruppe regiert; und die Demokratie, in der alle Macht vom Volke ausgeht, d . h . von der Gesamtheit der wehrfähigen Vollbürger 2 ' 3 . Seit Piaton wird dazu noch von einer Mischverfassung gesprochen, in der die Elemente der drei reinen Staatsformen zugleich wirksam sind 214 . 8m. Abgesehen von der Demokratie Athens, von den spätgriechischen Bundesstaaten, von der Handelsoligarchie Karthago und der römischen Republik sind alle von uns zu behandelnden Staatsformen Monarchien. Die Könige waren in der Regel dynastisch und charismatisch legitimiert 215 . Sie standen untereinander nicht auf gleicher Stufe. Wenn schon bei Homer der Begriff basileus steigerbar ist wie ein Adjektiv (basileuteros, basileutatos216), entsprechend unseren Rangunterschieden im Begriff „Fürst", so läßt sich dies in absteigender Linie bis zum Königtum der Germanen verfolgen, wo neben reges von regales, reguli und subreguli die Rede ist217. Gemeinsam ist den Königen der oberste Heeresbefehl und die Erblichkeit der Nachfolge; auch dies wird schon in der Bibel und bei Homer vorausgesetzt218 und galt noch einem Christen wie Eusebios von Caesarea 219 als „Naturrecht". Daher kam es immer wieder zur Erhebung von falschen Alexandern usw.220 Der Ehemann der Witwe oder Tochter des Königs besaß einen politischen Erbanspruch 221 . Nur von den Aethiopen berichtet Strabon 222 , daß ihren Stadtkönigen jeweils der erste nach ihrer Thronbesteigung geborene Adlige aus einer Gruppe von Familien nachfolge. 8n. Die antiken Monarchien lassen sich nach dem Herrschaftsbereich dreiteilen primo in Stadtkönigtümer, denken wir an die griechischen Tyrannen oder die Stadtkönige von Etrurien, Phönizien und Cypern, secundo in Heeres- oder Stammeskönige, wie Brennus, Marbod und Alarich, und tertio in Herrscher von Reichen, wie Darius, Alexander und Constantin. Soweit ein solcher Dynast erblich legitimierte Vasallenkönige unter sich hatte, nennen wir ihn „Großkönig", „König der Könige" oder „Kaiser". 8o. Ebenso könnte man unterscheiden zwischen archaischen und modernen Monarchien. Archaische Monarchien regieren mit einem grundbesitzenden Feudaladel nach traditionellen Normen, so die homerischen Fürsten und die frühen Germanenkönige. * 212 s.u. XIV 7 g ! * 213 Herodot III 80ff * 214 Piaton, ep. VIII; ders., Menex. 238 C D ; ders., Gesetze 756 E; Aristotles, Pol. 1297 a * 215 s.u. 10 a! * 216 Homer, Ilias IX 69; 160; 392 * 217 M.Chiabö, Index verborum Ammiani Marcellini, 1983, sub verbis * 218 AT. 1. Könige 1, 5ff; 1. Makk. 1, 8f; Homer, Ilias VI 476ff; ders., Odyssee I 386 * 219 Euseb, Vita Const.I 9; Lactanz, De mort. pers.26,6 * 220 Appian VIII 111; Dio LXIV 9,3; LXVI 19,3 * 221 Mykene: Apollodor III 137; Israel: 2. Samuel 3, 13; 1. Könige 2,22; Persien: Diodor XVII 54,2; Plutarch, Mor. 338 D * 222 Strabon XVI 4,3

8. Siedlung und Herrschaft

39

Moderne Monarchien werden verwaltet durch ein- und absetzbare Beamte gemäß schriftlichen Gesetzen. So regierten die Achämeniden, die Diadochen und die römischen Kaiser. Modernität im genannten Sinne korrespondiert nicht einlinig mit der Chronologie, sondern wird in jeweils wiederholten Anläufen erreicht. Die spätminoische Palastwirtschaft mit ihrer sorgsamen Buchführung erweckt einen moderneren Eindruck als die Verwaltung der frühgermanischen Königreiche fünfzehnhundert Jahre später. 8p. Die antiken Staatsdenker haben die Monarchien nach der Machtfülle unterschieden. An der Spitze rangiert der Tyrann, der sich angeblich über Brauch und Gesetz rücksichtslos hinwegsetzt und nur seinen privaten Vorteil sucht. 223 Dieses Klischee entspringt der demokratischen Ideologie und läßt sich historisch nicht nachweisen. Die orientalischen Herrscher wurden trotz ihrer unumschränkten Macht 2 2 4 nicht als Tyrannen bezeichnet, weil sie durch Tradition legitimiert waren. Die spartanischen Könige waren anklagbar und absetzbar 225 , ebenso der dem Obermagier rechenschaftspflichtige Sassanidenkönig. 226 Hier können wir von konstitutioneller Monarchie sprechen. Die hellenistischen, römischen und germanischen Herrscher waren charismatisch legitimiert. Sie unterstanden keiner Gerichtsbarkeit und regierten in diesem Sinne legibus absolutus, absolutistisch 227 . Legibus absolutus heißt nicht moribus absolutus. Schlimme Könige wurden gestürzt, und das war eben auch Gottes Wille. Der Tyrannenmord ist eine moralisch gebotene Gesetzwidrigkeit zur Erhaltung des Staates. 8q. Die antike Oligarchie regierte in F o r m eines Adelsrates, gewöhnlich in Verbindung mit einer Volksversammlung. M a n unterscheidet die Aristokratie, wo ein Geburtsadel herrscht, und die Plutokratie, wo die Reichen regieren. Die Aristokratie steht dem Königtum näher, wegen des Geburtsprinzips; die Plutokratie trägt einen demokratischen Zug, denn reich werden kann jeder. Aristokratien im strengen Sinne begegnen selten. Wir finden sie im vorsolonischen Athen, in der frühen römischen Republik, beidemal als Vorstufen zur Demokratie, und in den Stämmen der Kelten und Germanen, sofern sie nicht von Königen beherrscht werden. Eine ausgesprochene Plutokratie hatten die Karthager und die Athener in den oligarchischen Zwischenzeiten, in denen das aktive Wahlrecht an ein Mindestvermögen gebunden war, beispielshalber im Jahre 411 228 und unter den 30 Tyrannen nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges 404/403 229 . Die Grenze zwischen Plutokratie und Demokratie war im übrigen fließend, insofern die meisten antiken Demokratien für das passive Wahlrecht zu den höheren Ämtern Vermögende bevorzugten, so auch die solonische Verfassung, die etwas schief als Timokratie, als Herrschaft der Ehrbaren bezeichnet wird 230 . 8r. Eine Demokratie, die von gewählten, auf ein Jahr befristeten Amtsträgern regiert wird, besaßen Athen, die meisten griechischen Städte und die Bundesstaaten. Auch das späte Karthago und die römische Republik seit der Lex Hortensia von 287 v.Chr. waren - wenn auch oligarchisch gemäßigte - Demokratien. Alle republikanischen Staaten des Altertums haben bei der Vergabe politischer Rechte auf den Besitz gesehen. Die d a f ü r vorgebrachten G r ü n d e lauten: nur der wirtschaftlich Unabhängige könne seinem Gewissen folgen und sich dem Druck seines Arbeitgebers oder der Versuchung der Bestechung entziehen; nur wer im privaten Leben etwas geleistet habe, könne im öffentlichen Leben * 223 s . u . VI 9 e! * 224 H e r o d o t III 31,2; Aristoteles, Pol. 1285 a 20 * 225 s. u. V 5 i! * 226 s.u. XVII 5 i! * 227 Ulpian, in: Digesten I 3,31 * 228 Thukydides VIII 63ff * 229 Xenop h o n , Hell.II 3,11 ff * 230 Aristoteles, Eth. Nik. 1160 a 10

40

I. Staatsbegriff und Lebensform

Vertrauen beanspruchen; nur der Reiche habe die Zeit, sich den Staatsgeschäften zu widmen; nur er könne das zur Amtsführung erforderliche Personal unterhalten. Diese Gründe gehen davon aus, daß die hohen Beamten nicht vom Staat besoldet werden. Die Vorstellung, daß jemand aus dem Dienst an der Allgemeinheit Gewinn ziehe, galt als verwerflich 231 . Die Philosophen haben gegen die Distinktion nach dem Besitz protestiert und statt dessen eine Differenzierung nach der Leistung (virtus, arete) verlangt. Sie haben aber kein Verfahren entwickelt, wie diese feststellbar sei. 8s. Die antike Staatstheorie hat die res publica Romana ebenso wie die Handelsrepublik Karthago und den spartanischen Kosmos den Mischverfassungen zugerechnet 232 . Das monarchische Element fand man in der Staatsführung, in Rom waren das die beiden Konsuln, in Karthago die beiden Sufeten, in Sparta die beiden Könige, später die Ephoren. Das aristokratische Element war jeweils durch den Rat vertreten. Das war in Rom der Senat, in Karthago der Große Rat und in Sparta die Gerusie, der Rat der Alten. Das demokratische Element schließlich lag darin, daß die wichtigsten Beamten durch die gesamte Bürgerschaft gewählt wurden, und dies gilt für Rom, Karthago und Sparta in gleicher Weise. 8t. Die gemischten Verfassungen sollten gemäß Aristoteles 233 und Polybios 234 vor dem Verfassungskreislauf 235 geschützt sein. Dieser bestand darin, daß die urtümliche Königsherrschaft in eine Tyrannis entartet, bis diese wiederum durch die Tüchtigsten gestürzt wird. Aus der so entstandenen Aristokratie würde aber irgendwann eine Plutokratie, eine Herrschaft der Reichen, gegen die sich die Armen erhöben. Sie errichteten die Demokratie. Sie aber zerfalle, wie man meinte, unweigerlich durch Parteikämpfe in Anarchie, in der sich dann ein Tyrann zur Herrschaft aufschwinge, so daß wieder ein monarchisches System hergestellt sei. Ein solcher Verfassungsablauf läßt sich, mit gewissen Abwandlungen, mehrfach beobachten, und er zeigt sich entgegen der Theorie ebenfalls in Rom und Karthago, nicht allerdings in Sparta.

9. Kriegswesen 9a. Die gemeinsam siedelnde und wirtschaftende Gruppe, durch Gesellschaft und Besitz, durch Recht und Herrschaft reguliert, bedurfte zur Herstellung und Durchsetzung eines gemeinsamen Willens der Gewalt. Zum Schutz gegen innere und äußere Feinde und zum Kampf um Rang, Macht und Eigentum entwickelte sich das Kriegswesen. Seine Ursprünge lassen sich zurückverfolgen bis ins achte Jahrtausend v.Chr., wie die Stadtmauern des präkeramischen Teil es - Sultan bei Jericho dartun 236 . Vor der später erfolgten funktionalen Differenzierung unterschieden sich Waffen von Werkzeugen durch ihre sorgfältige Gestaltung. Ein Beil, mit dem man einen Baum fällt, ist weniger aufwendig gearbeitet als eine Axt, mit der man in den Krieg zieht. 9b. In archaisch-patriarchalischen Gesellschaften stand das Kriegswesen 237 in hohem Ansehen. Krieg und Jagd pflegte vor allem der Adel, seine Taten wurden besungen und

* 231 Aelian, Var.hist.X 17; Plutarch, Mor.798 EF * 232 Demandt 1993, Kap. VIII * 233 Aristoteles, Politik 1297 a 5 * 234 Polybios VI 10 * 235 Demandt 1993, Kap. VIII 2 i * 236 Weippert s.o. 8 d! * 237 Kromayer + Veith 1928

9. Kriegswesen

41

überliefert. 238 Die Waffe zeichnete den freien Mann aus, Adler und Löwe zierten sein Wappen. 239 Raub außer Landes oder auf See galt nicht als ehrenrührig 240 . Erst mit fortschreitender Gesittung blieben die Waffen unter Verschluß 241 , schonte man den Fremden und beschränkte den Krieg auf die Herstellung des Friedens 242 . 9c. Das Kriegswesen stand der Staatswerdung Pate: Bürgerrecht erforderte Wehrdienst, die Volksversammlung umfaßte die Krieger. In Republiken entschied die Bürgerversammlung über Krieg und Frieden, in Monarchien war der oberste Heerführer stets Staatsoberhaupt. Man bewaffnete sich auf eigene Kosten; Kelten und Germanen gaben den Männern ihre Rüstung mit ins Grab, den Frauen ihren Schmuck. Erst in späteren Stadien stellte der Staat die Waffen. Im spätantiken Imperium Romanum gab es staatliche Waffenfabriken (fabricae)243. 9d. Die Waffengattung entsprach der sozialen und rechtlichen Stellung. Der griechische Adel kämpfte bis in homerische Zeit vom Streitwagen, der später nur noch von Persern, Etruskern und Kelten gebraucht wurde. Die Römer verwendeten ihn im Triumph und für Wagenrennen. Im 8. Jh. kam die Reiterei auf. Damals lag die Ikonographie der Götter bereits fest: Ares und Athena wurden zwar bewaffnet, nicht aber beritten dargestellt so wie die religionsgeschichtlich jüngeren Götter der Kelten und Germanen. Der Reiter ist ein höherer Mensch, darum war das Pferd ein Kennzeichen des Adels und diente als Rangsymbol noch bei den spartanischen 244 und solonischen 245 hippeis und beim equus publicus der Römer, obschon die eigentliche Kampfkraft seit dem 6. Jh. bei der Hoplitenphalanx lag und die Reiterei neben dem Rekognoszieren und Fouragieren nur noch dem Flankenschutz diente. 9e. Das Fußvolk gewann seinen späteren Vorsprung durch Verbesserung der Waffen und der Disziplin. Es rekrutierte sich aus einer aufstrebenden Mittelschicht wohlhabender Bauern und Handwerker, die zugleich politischen Einfluß gewannen. Der Vorrang der Infanterie spiegelt sich darin, daß der Reitergeneral vielfach nur als Stellvertreter des Feldherrn erscheint, so der magister equitum neben dem republikanischen dictator, der das Fußvolk befehligte, der hipparchos neben dem strategos im achäischen und ätolischen Bund 246 oder Maharbal neben Hannibal 247 . In der Spätantike gewann die Reiterei wieder an Bedeutung, bei Römern, Persern und Germanen im gleichen Maße. Damals sank die Kriegskunst auf eine primitivere Stufe zurück - selbst die Hornsignale waren in Vergessenheit geraten 248 . 9f. Griechen, Römer und Karthager kannten neben Reiterei und Fußvolk noch Leichtbewaffnete, die zum Plänkeln dienten. Sie waren mit Bogen und Schleudern ausgerüstet und sozial weniger angesehen. Hinzu kam seit dem Hellenismus ein Pionierkorps, das Brücken und Kastelle, Schleudergeschütze und Belagerungsgerät anfertigte. Alexander ließ am Indus eine Flotte bauen, die sich als hochseetüchtig er-

* 238 zu Homer s. u. II 9! * 239 Chigi-Kanne: P. E. Arias + M. Hirmer, Tausend Jahre griechische Vasenkunst, 1960, Tafel IV; Abb. 27 * 240 Homer, Odyssee III 73; darüber wunderte sich schon Thukydides I 5; entsprechendes melden Justin (XLIII 3,5) für die phokäischen Piraten in Massilia, Caesar (Bell.Gall. VI 23), Mela (III 28) und Tacitus (Ann. XII 29) für die Germanen. * 241 Thukydides I 5f * 242 Zum bellum iustum: Demandt 1993, Kap.X * 243 Notitia Dignitatum orientalis XI 18ff; occidentalis IX 16ff * 244 s.u. V 4 a! * 245 s.u. VII 4 d! * 246 s.u. VIII 7 i! * 247 Livius XXII 51; vgl. Appian VIII 14f; 114 * 248 Prokop, Bell. Goth. II 23,23ff

42

I. Staatsbegriff und Lebensform

wies249. Die Seekriegsführung erlebte ihre große Zeit zwischen dem 5. und dem 2. Jh. v. Chr. Der Flottenbau des Themistokles förderte die Volksherrschaft, das Meer war die Mutter der Demokratie 250 . Der Piräus war allzeit der demokratischste Stadtteil Athens. 9g. Berufsarmeen begegnen uns in Monarchien: im frühen Israel, bei den Persern und im römischen Kaiserreich. Sie lassen sich aus dem Gefolgschaftswesen herleiten. Söldner stellten die Israeliten, die Achaimeniden und die Karthager schon früh, die Griechen und Römer erst spät ins Feld. Umgekehrt kamen als Söldner Kelten mit den Griechen, Germanen mit den Römern in Berührung und haben von ihnen gelernt. Voraussetzung für das Söldnerwesen war das Nebeneinander von armen Ländern mit wehrhafter Bevölkerung und reichen Herren oder Städten mit unkriegerischen Bürgern. Das Söldnerwesen hat vielfach die Münzprägung befördert, so bei Persern, Karthagern und Phokern 251 . Politisch war das Söldnerwesen ein Risiko, wie das Schicksal Karthagos und des spätantiken Imperiums dartut. Wer sich fremdem Schutz anvertraut, muß sich fremder Herrschaft beugen.

10. Religion 10a. Alle antiken Staaten waren religiös fundiert; Religion war nie bloß Privatsache. Man glaubte, daß Wohl und Wehe des öffentlichen Lebens ebenso wie der Segen der Natur von der Gunst der Götter und dieser vom richtigen Kult abhinge. Bei Griechen 252 und Römern 253 war der Gottesdienst eine Sache der politischen Gemeinde; bei Juden und Persern gehörte er zu den Pflichten des Königs. Sein Charisma (Königsheil) zeigt sich in guten Ernten und „Kaiserwetter", so im Glauben der Ägypter 254 , der Juden 255 , der Griechen 256 , der Perser 257 , der Kelten 258 und Germanen 259 . Cicero beanspruchte dies für sich260, den Kaisern attestierten es Heiden wie Christen 261 . Umgekehrt besaßen die Priester der Kelten, Römer und Germanen auch Rechtsfunktionen 262 . Religiöse Bräuche wurden nach Herkommen begangen und stifteten somit Gemeinschaft unter Gleichzeitigen, Verbindung von Ahnen zu Enkeln. Entscheidend war der Vollzug der heiligen Handlungen; was der Einzelne glaubte und ob er überhaupt etwas glaubte, blieb ihm überlassen. Cicero 263 zitiert den älteren Cato: ein Priester müßte doch eigentlich lachen, wenn er einem anderen begegnet. Daraus wurde unser Wort „Augurenlächeln". Seit den Vorsokratikern gab es in der Antike Freidenker, ja Atheisten 264 . Sogar Skeptiker räumten ein, daß Religion eine erzieherische Bedeutung besitze und darum allemal staatspolitisch sinnvoll sei265. 10b. Der große französische Althistoriker Fustel de Coulanges 266 glaubte, die aus der Totenverehrung und dem Ahnenkult erwachsene Religion sei nicht nur der Ursprung des Privateigentums am Boden, sondern auch der des Staates. Die mit ihrem Grundbesitz * 249 Arrian VI I f f ; 19ff * 250 Plutarch, Them. 19 * 251 Diodor XVI 56 * 252 Burckhardt GK. II, S. 1 ff; Nilsson 1967/1974 * 253 Wissowa 1912; Latte 1960 * 254 Ammian XXVIII 5, 14 * 255 s.u. Ill 5 c! * 256 s.u. II 9 c! * 257 s.u. XVII 8 a! * 258 s.u. XIV 8 d! * 259 s.u. XX 5 d! * 260 Cicero, Oratio cum Senatui gratias egit 34 * 261 s.u. XIX 7 e! * 262 s.u. XIII 4 m! XVI 5 b! XVI 5 i! * 263 Cicero, De divin.II 51 * 264 Kritias: VS. 88 B 25; Diagoras und Theodorus: Cicero, De nat.I 2; 63 Euhemeros: Aelian, Var. hist. II 31 * 265 Kritias: VS. 88 B 25; Polybios VI 56; Plutarch, Mor.822 B * 266 Fustel de Coulanges 1864

10. Religion

43

verbundene Familie schien ihm als Keimzelle des Gemeinwesens, das sich über die gens und die curia zu Stamm und Staat fortentwickelt habe. Diese Ansicht läßt sich uneingeschränkt sicher nicht aufrecht erhalten. Dennoch sind einige der antiken Staatswesen aus dem gemeinsamen Kult erwachsen, während die meisten in ihm eine wichtige Stütze fanden. 10c. Am stärksten hat die Religion in der Bildung der altisraelischen Monarchie mitgesprochen. Die Jahwe-Verehrung hielt die zwölf Stämme zusammen. In geringerem Grade wirkte ein derartiger Kultverband staatsbildend im ätolischen und achäischen Koinon. Kultgemeinde und Staatsvolk stimmten überein. Eine staatstragende Nationalreligion finden wir auch bei den Persern, während die gemeinsame Religion bei Griechen, Etruskern, Kelten und Germanen, deren Staatsordnung kleinteiliger gegliedert war, nur das Volk, nicht den Staat kennzeichnet. Caeriten, Allobroger und Chatten besaßen keine je eigene Religion. Sie tritt im Staatsleben der Germanen überhaupt kaum in Erscheinung. lOd. Neben dem Kriegeradel findet sich vielfach eine Priesterklasse, so bei den alten Israeliten, den Persern, den Kelten, den Etruskern und den christlichen Völkern. Fehlte sie, wie bei den Griechen, Römern und Germanen, so oblagen den Familienhäuptern religiöse Pflichten. Das Königtum war primär militärisch ausgerichtet, doch besaß es gewöhnlich auch eine sakrale Weihe. lOe. Priester begleiteten das Heer 267 , aber kämpften in der Regel nicht mit. Sie selbst wie ihre Heiligtümer standen unter Gottesschutz. Der Frevler, der ihn mißachtete, mußte samt der Gruppe, die er vertrat, der göttlichen Rache gewärtig sein. Darum hatte Philipp von Makedonien, der als Rächer des pythischen Apoll an den Phokern auftrat, einen besseren Stand als Demosthenes, der Tempelräuber als Bundesgenossen hinnehmen mußte 268 . Während der republikanischen Zeit haben die Römer ihre eigenen Feldherrn bestraft, die sich allzu leichtfertig der Tempelschätze des Feindes bemächtigt haben 269 . Götter gewährten Schlachtenhilfe: Jahwe wie Baal Hammon, Ahura Mazda wie Ares, Juppiter wie Jesus Christus. Wo sie Hilfe im Kampf versagten, kehrten sich ihre Anhänger gegen sie270. Der Sieg verleihende Gott erhielt Anteil an der Beute. Etrusker, Kelten und Sachsen brachten ihm Gefangene als Menschenopfer. Eigene und erbeutete Feldzeichen, die stets sakralen Charakter besaßen, wurden in Tempeln aufbewahrt. Heiltümer wie die Bundeslade der Juden oder den Martinsrock der Franken nahm man mit in den Krieg. Etruskischen Ursprungs ist wohl das Ritual der evocatio, wodurch die Römer dem Feinde seinen Schutzgott abspenstig machten 271 . iOf. Der am weitesten in der Antike verbreitete Religionstypus war der Polytheismus. Man verehrte in personifizierter Form Naturkräfte wie den Himmel, Sonne und Mond, den Blitz und die Winde. Daneben glaubte man an Geister in Quellen und Bäumen, Bergen und Felsen. So wie bestimmte Völker und Städte 272 vertrauten auch einzelne Menschen auf ihren persönlichen Schutzgott ihr daimonion, ihren geniusm. Die wichtigsten menschlichen Tätigkeiten fanden ihre Patrone: Zeus schützte die Könige, das Recht und die Fremden, Hera die Frauen und die Ehe; Apollon war der Gott der Musen und der Medizin, Ares der Gott des Krieges, Athena war die Göttin der Weisheit, Aphrodite die Göttin der Liebe usw. Jacob Burckhardt hat die griechischen Götter, wie Homer und Hesiod sie geprägt haben, * 267 Herodot IX 33ff; Diodor X X 29,3; Dio LXXI 9,2 * 268 s.u. IX 3 g! * 269 Appian VII 55 * 270 Justin XIX 3,3 * 271 Livius V 21,3ff; Plinius, Nat. hist. XXVIII 4/18; Macrobius III 9,7 * 272 Piaton, Politikos 271 D ; Kelsos V 25; VII 68 * 273 Plutarch, De genio Socratis, in: ders., Mor. 575 A ff

44

I. Staatsbegriff und Lebensform

„gesteigerte" Menschen genannt. Sie verkörpern das Menschenideal der Griechen mit allen Schattierungen, nicht nur hinsichtlich der Kalokagathie 2 7 4 , der Verbindung von Schönheit (kalos) und Tüchtigkeit (agathos), sondern ebenso hinsichtlich der Temperamente und Passionen. Das Leben der Olympier bewegte sich zwischen Festen und Gelagen, Liebesabenteuern und Heldentaten. Die Mythen zeigen uns Leidenschaft, Rachsucht, Grausamkeit auch bei den Göttern 2 7 5 . 10g. Der Kult wurde öffentlich und im Freien vollzogen. Der Tempel war bloß W o h n o r t des Gottes, er enthielt das Götterbild. Der Altar stand davor. Die Festversammlung schuf ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das verstärkt wurde durch die gemeinsame Opfermahlzeit. D a ß Juden und Christen sich davon ausschlössen, verstand man als Menschenhaß 2 7 6 . Den wichtigsten Beitrag zur Staatsbildung haben die überregionalen Amphiktionien geleistet. Ein von mehreren Stämmen verehrtes Heiligtum führte diese bei den Jahresfesten regelmäßig zusammen. Dabei wurden auch politische Fragen besprochen. Kultbünde dieser Art begegnen uns bei den alten Israeliten, den Griechen, Etruskern, Kelten, Germanen und noch bei den mittelalterlichen Slawen 277 . 10h. Der antike Polytheismus war grundsätzlich tolerant und mit jeder Götterverehrung verträglich. Inakzeptabel erschienen den Griechen und Römern 2 7 8 indessen die bei Karthagern 2 7 9 und Kelten 280 noch üblichen Menschenopfer. Sie wurden verboten 281 . Bei den heidnischen Germanen und Slawen hielten sie sich bis ins frühe Mittelalter 282 . Stiftungen für Heiligtümer anderer Völker waren üblich. Griechen sandten dem Zeus A m m o n Weihegaben nach Ägypten 283 ; Delphi, Ephesos und Olympia empfingen solche von Lydern 284 , Etruskern 2 8 5 und Römern 2 8 6 ; selbst dem Tempel von Jerusalem machten fremde Völker Stiftungen 287 . M a n glaubte, die Völker verehrten dieselben Götter nur unter verschiedenen Namen, die man demgemäß übersetzte 288 . Zeus entsprach dem ägyptischen A m m o n , dem römischen Juppiter, dem etruskischen Tinia, dem germanischen Donar, ja sogar dem persischen Ahuramazda 2 8 9 und dem israelischen Jahwe 290 . Insofern war der Polytheismus auch international. lOi. Der seit dem Hellenismus zunehmende Verkehr löste die geschlossenen Kultgemeinden auf und begünstigte einen neuen Religionstypus: die sich allenthalben, zumal in den Haupt- und Hafenstädten ausbreitenden orientalischen Erlösungsreligionen 291 . Ähnlich wie die griechischen Mysterienkulte versprachen sie ihren Anhängern ein seliges Leben nach dem Tode, praktizierten einen geheimnisvollen und aufwendigen Kult und stifteten * 274 Xenophon, Mem. I 6, 14, altfränkisch: "Edeltrefflichkeit" * 275 So die Schindung des Marsyas durch Apollon: Herodot VII 26; Xenophon, Anabasis I 2,8. Göttergreuel sonst bei Burckhardt, GK. II, S. 91 ff; IV, S. 31 ff * 276 Diodor X X X I V / X X X V 1 von den Juden; Tacitus, Ann. XV 44 von den Christen * 277 so für den Gott der Obotriten, Radigast bei Helmold von Bosau (um 1100) I 21; 52 * 278 In Ausnahmefallen gibt es auch bei ihnen Menschenopfer: Bei den Römern: Livius XXII 57,6; bei den Griechen: Plutarch, Marcellus 3; ders., Themistokles 13; ders., Philopoimen 21; D . D . H u g h e s , Human Sacrifice in Ancient Greece, 1991; bei den Etruskern: Livius VII 15,10 * 279 s.u. XII 9 b-d! * 280 s.u. XIV 5f! * 281 Strabon IV 5,4; Sueton, Claudius 25,5; Porphyrios, De abstinentia II 5,6; Paulus, Sentenzen V 23,16 * 282 Adam von Bremen IV 27; Helmold von Bosau I 52 * 283 Plutarch, Kimon 18; ders., Nikias 13 * 284 Herodot I 13; 46ff; 92; Tod N r . 6 * 285 Strabon V 1, 2; 2, 3; IX 3,8; Plinius, Nat. Hist. III 20; Pausanias V 12, 5 * 286 Appian II 8, 1 * 287 AT. 3. Mose 22,25; Josephus, Bell. Jud. II 17 * 288 interpretatio Romana: Tacitus, Germ. 43; danach interpretatio Graeca usw. * 289 Arrian IV 20, 3; Plutarch, Alex. 30 * 290 Josephus, Ant. XII 5 * 291 Cumont 1931

10. Religion

45

Gemeinden, die untereinander in Verbindung standen. Eine Gegenbewegung zu dieser zentrifugalen Tendenz der privatisierten Religiosität bildete der Herrscherkult 292 , der von Ägypten ausgehend, Alexander, die Diadochen und deren Nachfolger, die römischen Kaiser, in eine halbgöttliche Sphäre hob und als verbindlich für alle Untertanen angesehen wurde. lOj. Die erfolgreichste unter den orientalischen Erlösungsreligionen war das Christentum. Es erwuchs aus dem Judentum, der, dank Philon von Alexandria, „philosophischsten" der antiken Religionen. Der Glaube an einen einzigen, unsichtbaren Gott und seinen auf Erden gestorbenen Sohn, die Liebe unter den Christen und die Hoffnung auf eine neue Welt warben Anhänger, die sich in Gemeinden unter Bischöfen organisierten. Die periodischen Verfolgungen, die wesentlich aus unbegründeten Verdächtigungen 293 und ungezügelter Volkswut erwuchsen 294 , konnten die Ausbreitung des neuen Glaubens und der Christengemeinde nicht hindern 295 , die schließlich zum Staat im Staate wurde. 10k. Die Verbindung zwischen Religion und Politik ist allenthalben greifbar. Der olympische Götterhimmel war ein getreues Spiegelbild der homerischen Gesellschaft. Zeus war König der Götter, so wie Agamemnon König der Griechen. Auch bei den Juden gibt es eine solche Symmetrie. Der Gott des Alten Testaments ist nach dem Bilde eines orientalischen Despoten gezeichnet: er erläßt Gesetze - den Dekalog - , fordert unbedingten Gehorsam und übt grausame Rache. Er ist von einem Hofstaat von Engeln und himmlischen Heerscharen umgeben, er erlebt den Abfall eines Vasallen - des Satans - und schließt mit Fürsten und Völkern Verträge, denn nichts anderes ist der Alte Bund zwischen Jahwe auf der einen Seite, Moses, Abraham und David auf der anderen. 10 l. Dennoch darf man die Verbindung zwischen Götterwelt und Staatsform nicht zu eng sehen. Monarchie und Republik vertrugen sich mit jeder Religion. Der Jahwekult der Juden ist älter als die Monarchie Sauls. Die Vielgötterei der Griechen und Römer wurde auch durch Tyrannen und Könige nicht in Frage gestellt. Solon und Kleisthenes haben den Olymp ebensowenig demokratisiert, wie Augustus den Monotheismus der Juden oder Christen eingeführt hat. Dennoch wirkte die Vorstellung einer solchen Parallelität suggestiv. Einzelne Kirchenväter wie Melito, Origenes und Euseb haben mit ihr für die Vereinbarkeit von Christianitas und Romanitas argumentiert. Als Constantin Christ wurde, da war die nach Homer verlorengegangene Symmetrie zwischen himmlischer und irdischer Ordnung wiederhergestellt. Am Anfang der Antike waren beide Sphären durch einen monarchischen Feudalismus gekennzeichnet, am Ende durch einen monokratischen Absolutismus, wie im Himmel so auf Erden. Damit sind die wichtigsten Voraussetzungen der antiken Verfassungstypen angesprochen, und wir können uns diesen selbst zuwenden.

* 292 Taeger 1957/60 * 293 Tertullian, Apol.passim 1924

* 294 Euseb, Hist. eccl. V 2 * 295 Harnack

46

I. Staatsbegriff und Lebensform

Literatur zu I Forschungen zu allen Gebieten der Alten Geschichte bieten die Zeitschriften: Klio (1901 ff), Chiron (1971 ff), Historia (1950 ff), Hermes (1866 ff), R e v u e des Études Anciennes (1899 ff), Annales. Economies, sociétés, civilisations ( 1 9 4 7 f f ) . D a s wichtigste Nachschlagewerk ist A. Pauly + G. Wissowa, Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 1 8 9 3 1980 (RE.). Im F o l g e n d e n erscheinen auch Titel v o n übergreifender Bedeutung, die in späteren Kapiteln nicht nochmals aufgeführt werden. Vgl. u. S. 6 6 7 f f . Abkürzungen, Lexika, Sammelwerke! Alföldy, G. Römische Sozialgeschichte, 1984 Bengtson, H. Römische Geschichte, 1967 Bengtson, H. Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit, dritte Auflage, 1965 Benveniste, E. Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen, 1993 Bleicken, J. Römische Geschichte Borst, A. Der Turmbau von Babel, 1957 ff Bretone, M. Geschichte des römischen Rechts, von den Anfängen bis zu Justinian, 1992 Bringmann, K. Römische Geschichte von den Anfängen bis zur Spätantike, 1995 Brockmeyer, N. Antike Sklaverei, 1979 Burckhardt, J. Weltgeschichtliche Betrachtungen (WH), 1868/ 1935 Burckhardt, J. Griechische Kulturgeschichte (GK.), I-IV, 1898/1956 f. Busolt, G. + Swoboda, H. Griechische Staatskunde, I 1920, II 1926 (durchpaginiert) Christ, K. Die Römer. Eine Einführung in ihre Geschichte und Zivilisation, 1994 Clauss,M. Einführung in die Alte Geschichte, 1993 Cumont, F. Die orientalischen Religionen im Römischen Heidentum, 1931

Dahlheim, W. Die Antike. Griechenland und Rom, 1993 Demandt, A. Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, 1993 Ehrenberg, V. Der Staat der Griechen, 1965 Finley, M. Die Sklaverei in der Antike, 1981 Finley, M. Das politische Leben in der antiken Welt, 1983/86 De Francisci, P. Arcana Imperii, I-III, Mailand 1947/8 v. Fritz, K. The Theory of the Mixed Constitution in Antiquity. A Critical Analysis of Polybius' Political Ideas, 1954 Fustel de Coulanges, N. D. La cité antique, 1864 Gaudemet, J. Institutions de l'antiquité, Paris 1967 Gelzer, M. Staat und Bürger im Altertum, Museum Helveticum 12, 1955 S. Iff. und ders., Kleine Schriften III 1964, S. 13ff. Goethe, J. W., Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, 1827 ff (Cotta) Gschnitzer, F. Griechische Sozialgeschichte, 1984 Hafner, G. Bildlexikon antiker Personen, 1993 v. Harnack, A. Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 1924 Hegel, G. W. F. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 1831/1961 (Reclam)

Literatur zu I Heichelheim, F. Wirtschaftsgeschichte des Altertums, 1938 Herder, J. G. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784 ff), I/II 1828 Herzog, R. Staaten der Frühzeit, 1988 Jellinek, G. Allgemeine Staatslehre, 3.Aufl. 1914 Kant, I. Sämtliche Werke in sechs Bänden, (Insel) 1921 Kloft, H. Die Wirtschaft der griechisch-römischen Welt, 1992 Kolb, F. Die Stadt im Altertum, 1984 Kromayer, J. + Veith, G. Heerwesen und Kriegsführung der Griechen und Römer, 1928 Krüger, B. (Hg.) Die Germanen I 1988, II 1983 Latte, K Römische Religionsgeschichte, 1960 Lauffer, S. Abriß der antiken Geschichte, 1964 Lefkowitz, M. R. + Fant, M. B. Women's Life in Greece and Rome, 1982 Meyer, Eduard Geschichte des Altertums, 191 Off (GdA) Meyer, Ernst Einführung in die antike Staatskunde, 1968 Momigliano, A. Wege in die Alte Welt, 1991 Mommsen, Th. Römische Geschichte I, II, III, 1854ff; V 1885 Mommsen, Th. Römisches Staatsrecht, I—III, 1887 Mommsen, Th. Abriß des römischen Staatsrechts, 1893/1974 Mommsen, Th. Reden und Aufsätze, 1905 Mühlmann, W. Rassen, Ethnien, Kulturen, 1964 Müller-Karpe, H. Frühe Städte in der Alten und der Neuen Welt, Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 36, 1988, S. 3ff Nilsson, M. P. Geschichte der griechischen Religion, I 1967; II 1974

47 Pekary, Th. Die Wirtschaft der griechisch-römischen Antike, 1979 Pomeroy, S. B. Goddesses, Whores, Wives and Slaves. Women in Classical Antiquity, 1984 Porzig, W. Die Gliederung des indogermanischen Sprachgebiets, 1954 Quaritsch, H. Souveränität, 1986 Richardson, L. A New Topographical Dictionary of Ancient Rome, 1992 Rostovtzeff, M. A History of the Ancient World, 1926/27; deutsch: Geschichte der Alten Welt, I/II, 1941/42 de Sainte-Croix, G. E. M. Class Struggle in the Ancient World 1981 Scardigli, B. + P. (edd.) Germani in Italia, 1994 Schiller, F. Sämmtliche Werke, 1827/28 (Cotta) Schmidt, L. Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung. Die Westgermanen I 1938, II 1940, Die Ostgermanen 1941 Schuller, W. Griechische Geschichte, 1980, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage 1991 Suerbaum, W. Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff, 1977 Taeger, F. Charisma, I 1957; II 1960 Weiler, I. Von Wesen, Geist und Eigenart der Völker der Alten Welt. Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 18, 1974, S. 243 ff Welskopf, Elisabeth Charlotte (Hg.) Hellenische Poleis, I-IV, 1974 Welwei, K. W. Die griechische Polis. Verfassung und Gesellschaft in archaischer und klassischer Zeit, 1983 Wenskus, R. Stammesbildung und Verfassung, 1961 Wilamowitz, U. v. + Niese, B. Staat und Gesellschaft der Griechen und Römer, 1910

48 Wissowa, G. Religion und Kultus der Römer, 1912 Verilhac, A. M. + Vial, C. La femme dans le monde méditerranéen II. La femme grecque et romaine, 1990

I. Staatsbegriff und Lebensform

II. Die kretisch-mykenische Palastkultur

51

1. Begriff a. Ausdehnung b. zwei Völker

2. Quellen a. b. c. d. e. f. g.

Archäologie Mykene: Schliemann Archäologie Kreta: Evans Schrift: Linear B Ventris seine Entzifferungs-Methode Orientalische Quellen Homer

3. Kreta a. b. c. d. e.

Ortsnamen Pelasger Orientalischer Einfluß Seeherrschaft Palastperioden

4. Kretische Gesellschaft a. b. c. d. e. f. g. h.

Villen, Gräber, Siegel Bürger, Städte Frauen: Mutterrechtl Bachofen Lykier Entwicklungsphase Mythos Indianer

5. Kretisches Königtum a. b. c. d. e. f. g. h.

König Minos Paläste, Labyrinth Handel, Außenstationen Pithoi Deutung Mykenäer in Kreta Dorier

7. Mykenische Gesellschaft a. b. c. d. e. f. g. h.

Struktur Unterschicht Sklaven Berufe Krieger Adel Streitwagen Frauen

8. Mykenisches Königtum a. b. c. d. e. f. g. h.

König (wanax) M e g a r o n - Paläste Kuppelgräber Siedlungen, Dämme Territorium Heermeister (lagetas) Amtsleute Achäisches Großreich?

9. Homer a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k. 1. m.

Sage Agamemnon Gottesgnadentum Erblichkeit Gefolge Achilleus Funktionen Rat, Gelage, Sänger Heeresversammlung Städte Homer verläßlich? Troja Dorische Wanderung

10. Bedeutung a. b. c. d.

Anfang der Geschichte Europas Griechische Heroenzeit Orient und Okzident Untergang

6. Mykene a. b. c. d. e.

Wanderung Griechen-Name Schachtgräber Palastzeit Expansion, Achijawa

Literatur zu II

53 Kreta ist ein Land mitten in dem weinfarbenen Meer, schön undfett, rings vom Meer umflossen ... Homer

1. Begriff la. U n t e r dem Begriff der kretisch-mykenischen Palastkultur versteht man jene bronzezeitliche Zivilisation, die im 2. Jahrtausend v. Chr. auf der Insel Kreta und etwas später im südlichen Griechenland einsetzt, bald nach 1500 ihren H ö h e p u n k t erlebt hat und mit der dorischen W a n d e r u n g um 1200 endet. Anstelle des Terminus „kretisch" begegnet auch „minoisch" 1 , nach dem sagenhaften König Minos von Knossos 2 . Der N a m e „mykenisch" erklärt sich von dem F u n d o r t Mykene in der Argolis auf der Peloponnes. D o r t befand sich gemäß dem M y t h o s die Königsburg Agamemnons 3 . Ib. Die Träger der kretisch-mykenischen D o p p e l k u l t u r sind zwei Völker verschiedener H e r k u n f t : bei den Kretern haben wir es mit vorindogermanischen Mediterranen zu tun, bei den Mykenäern mit indogermanischen Griechen, die aus dem R a u m der unteren D o n a u kamen. Zu der sprachlichen u n d rassischen Verschiedenheit tritt das unterschiedliche Kulturmilieu: die Kreter erscheinen als ein Volk, das religiös, feinsinnig und kunstfertig war, die Mykenäer waren eher Krieger und Jäger. D e n n o c h ist es berechtigt, von einer kretisch-mykenischen K u l t u r im Singular zu sprechen. D e n n die Mykenäer haben von den Kretern so viel ü b e r n o m m e n , d a ß m a n von einer „Satellitenkultur" gesprochen hat 4 . Unbeschadet aller politischen Zusammenstöße, die diesen Prozeß begleitet haben, bildet er kulturgeschichtlich eine Einheit, u n d dies gilt auch f ü r den Bereich der staatlichen Struktur.

2. Die Quellen 2a. Die Entdeckung der kretisch-mykenischen Palastzivilisation ist mit den N a m e n zweier berühmter Archäologen verbunden, Heinrich Schliemann u n d A r t h u r Evans. Schliemann (1822-1890) 5 war Sohn eines mecklenburgischen Pfarrers, begann als K a u f mannsgehilfe u n d machte Karriere nicht zuletzt durch seine Sprachkenntnisse. 1847 eröffnete er ein eigenes K o n t o r in Petersburg u n d verdiente sein Vermögen als Deckenlieferant des Zaren im Krimkrieg. Seit 1858 lebte er nur f ü r die Archäologie. Ausgehend von der damals revolutionären Idee, d a ß den Epen H o m e r s historische Ereignisse zugrundelägen - George G r o t e begann seine »History of Greece« 1846 mit der ersten Olympiade * 1 Minoan seit Evans 1896 * 2 Apollodor III 1 * 3 Apollodor IX 23 ff * 4 1. Weiler, Griech. Geschichte, 1988, S . 4 4 * 5 Ernst Meyer , Heinrich Schliemann, Kaufmann und Forscher, 1969

54

II. Die kretisch-mykenische Palastkultur

776v.Chr. entdeckte er die Paläste von Troja (1870-1892) und Mykene (1876), später auch die von Orchomenos und Tiryns. Die ihm in jüngster Zeit vorgeworfenen Fälschungen6 können seine wissenschaftliche Bedeutung nicht wesentlich schmälern. Nach Schliemann wurden die Paläste und Kuppelgräber von Pylos und Amyklai 7 gefunden. Die Ausgrabungen in Troja wurden von Biegen und Korfmann fortgesetzt, in Tiryns grub Kilian 8 . Die größte Sammlung späthelladischer, d.h. mykenischer Kunst besitzt das Nationalmuseum Athen. 2b. Arthur Evans (1851-1941), 9 Ethnologe und Museumsleiter in Oxford, Korrespondent des Manchester Guardian und britischer Agent gegen Türken und Österreicher in Dalmatien, grub seit 1900 den Palast des Minos in Knossos auf Kreta aus und legte die archäologischen und chronologischen Grundlagen der frühkretischen Geschichte. Später wurden die Paläste von Phaistos, Mallia 10 und Kato Zakros (1961 entdeckt) ausgegraben. Die meisten Funde der minoischen Epoche birgt das Museum von Heraklion. 2c. Neben diesen archäologischen Objekten sind Schriftdokumente erhalten, vor allem die Tafeln der Linear B-Schrift. Die Idee, auf Tontafeln zu schreiben 11 , ist aus Mesopotamien nach Kreta gelangt. Die in feuchten, später luftgetrockneten Ton gestempelte Keilschrift war um 3000 v. Chr. im unteren Mesopotamien von den Sumerern erfunden worden. Die Zeichen standen ursprünglich nach ihrem Bildwert für ganze Wörter (Ideogramme), später nach ihrem Lautwert für einzelne Silben. Das reduzierte die Zahl der Zeichen von etwa 2000 auf etwa 600. Die ältesten kretischen Schriftformen zeigen auch ägyptischen Einfluß. Die Hieroglyphen entstanden im 3. Jahrtausend und behielten ihren Bildcharakter länger als die Keilschrift-Ideogramme. Wir finden in Kreta zunächst eine Bilderschrift 12 , die dann durch abstrakte Linienschriften abgelöst wurde. Die ältere Schrift, Linear A, ist aus etwa 300 Tontafeln des 17. und lö.Jhs. bekannt. Sie begegnet in allen großen Palästen. Eine Lesung ist bisher nicht gelungen. Die jüngere Schrift, Linear B, findet sich auf ca. 4000 Täfelchen aus Knossos und Westkreta (Chania?). Sie ist im 15. Jh. entstanden und verbreitete sich später über das ganze festländische Gebiet der mykenischen Kultur: man findet sie im Brandschutt der Paläste von Pylos (ca. 1400 Tafeln), Mykene, Theben, Tiryns, Eleusis und Orchomenos. Das Feuer hat sie gehärtet. 2d. Die Entzifferung von Linear B in den fünfziger Jahren ist das Verdienst des englischen Architekten Michael Ventris 13 . Schon vor Ventris war bekannt, daß Linear B eine rechtsläufige Silbenschrift war. Das ergab sich aus der linksbündigen Anordnung und aus der Zahl der Zeichen: 90 Zeichen sind zu viel für eine Buchstabenschrift und zu wenig für eine Bilderschrift. Ebenfalls klar war, daß die erhaltenen Texte keine fortlaufenden Erzählungen enthielten, sondern Listen: Inventare, Register, Rechnungen und dergleichen. Ventris ging von der Voraussetzung aus, daß die aus späterer Zeit bekannten Ortsnamen auch zur Zeit der Tafeln schon in Gebrauch waren und auf den Listen erschienen. Ortsnamen pflegen ja den Sprachwechsel zu überdauern. 2e. Unter der Prämisse der Namenskontinuität ersetzte dann Ventris die Silben der vermuteten Orte durch Zeichen und suchte dieselben Kombinationen in den Texten. * 6 Calder + Traill 1986 * 7 zugehörig vermutlich das Kuppelgrab von Vaphio * 8 Kilian 1988 * 9 Sylvia L. Horwitz, The Find of a Lifetime. Sir Arthur Evans and the Discovery of Knossos, 1981 * 10 Effenterre 1980; ders. 1990 * 11 H. J. Nissen, Grundzüge einer Geschichte der Frühzeit des Vorderen Orients, 1983, S. 94 f; 148 ff * 12 auf dem dubiosen Diskos von Phaistos * 13 Chadwick 1967

3. Kreta

55

Tatsächlich fanden sich darin entsprechende Gruppierungen, die sich hypothetisch als Knossos, Phaistos, Amnisos usw. lesen ließen. Die ersten Deutungen von Wörtern indessen gelangen auf der Basis der zweiten, damals kühnen Vermutung, daß die Sprache griechisch sei. Übereinstimmungen mit dem Arkadischen und dem Cyprischen deuteten auf vordorisches Griechisch. Das eröffnete eine Lesemöglichkeit für etwa die Hälfte aller Texte. Die Entstehung von Linear B ist so vorzustellen, daß die mykenäischen Eroberer, als sie nach Kreta kamen, dort die Schriftlichkeit vorfanden und nun eine ihrer Sprache angemessene Schriftform entwickelten, in der sie ihre Abrechnungen zuerst in Knossos, später auf dem Festland abfaßten 1 4 . 2f. Ägyptische Texte erwähnen seit Thutmosis III (um 1450v.Chr.) gelegentlich die Kreter (Kaftu) 1 5 , im 13. Jh. v . C h r . werden auf den Tempelinschriften von Ramses III und im »Papyrus Harris« die Seevölker aufgeführt 1 6 , unter ihnen auch die „Danaer" 1 7 . Ob die auf hethitischen Tafeln erwähnten Achijawa die Achäer in Westkleinasien meinen, wie Forrer 1924 vorschlug, war lange strittig, doch scheint sich die These zu bestätigen 18 . 2g. Außer den Bauten, Kleinfunden und Tontafeln der kretisch-mykenischen Kultur liefert der griechische Mythos Erinnerungen an jene Zeit, namentlich die Epen Homers. Homer stammt nach strittiger Tradition aus Smyrna oder Chios und gilt als Dichter der in Hexametern verfaßten Epen »Ilias« 19 und »Odyssee« 20 . Die »Ilias« behandelt eine 50 Tage währende Begebenheit aus dem K a m p f der Griechen unter Agamemnon um die Stadt Ilios, die man später Troja nannte, den „Zorn des Achill". Die »Odyssee« beschreibt die Irrfahrten des Odysseus auf dem Heimweg von Troja nach Ithaka. Beide Epen verarbeiten mündlich überlieferte Stoffe, deren ursprüngliche Gestalt durchschimmert. Mit H o m e r beginnt die griechische, von den Phöniziern stammende 2 1 , Buchstabenschrift. Kultur- und sprachgeschichtlich ist die »Ilias« auf etwa 750, die »Odyssee« auf etwa 700 zu datieren ein halbes Jahrtausend nach den berichteten Ereignissen. Die Schlußredaktion fand vermutlich erst im peisistratidischen Athen statt 22 . Der zeitliche Abstand und die literarische Gattung erschweren die historische Auswertung Homers.

3. Kreta 3a. Die älteste in Kreta faßbare Bevölkerungsschicht gehört einer vorindogermanischen Sprachgruppe an, die aus Ortsnamen bekannt ist. Sie bewohnte bis etwa 2000 v. Chr. das östliche Mittelmeer, einschließlich des südlichen Griechenland, der Inselwelt und Kleinasiens. In diesem R a u m findet sich eine Schicht von Ortsnamen, deren Endungen einer einheitlichen, aber keiner der in historischer Zeit dort gesprochenen Sprachen angehören: es sind die Orte auf: -nthos (Korinthos, Zakynthos, Tirynthos, Xanthos usw.) und -ssos (Knossos, Kephissos, Amnisos usw.). So wie wir folgern, daß alle auf -heim, -hausen oder -Stadt endenden Orte von Germanen, die auf -ville oder -mont endenden von R o m a n e n so benannt wurden, können wir auch andere gleichlautende Ortsnamen demselben Volk zuweisen, ohne wissen zu müssen, was die Endung bedeutet. * 14 Die auf das Königtum bezüglichen Texte präsentiert Carlier 1984 * 15 Helck 1979, S. 30 * 16 Strobel 1976, S . 7 f f * 17 s.u. 6b! * 18 Helck 1979, S. 152ff; Bryce 1989 * 19 deutsch von W.Schadewaldt 1975 * 20 deutsch von W. Schadewaldt 1966 * 21 s.u. XII 2 a! * 22 R. Merkelbach, Untersuchungen zur Odyssee, 1969, S. 239 ff

56

II. Die kretisch-mykenische Palastkultur

3b. Die Griechen wußten, daß Griechenland selbst, die Inseln und Unteritalien einmal von einer vorgriechischen, „barbarischen" Bevölkerung besiedelt war. Diese nannten sie Pelasger 23 . Der ihnen in der Antike zugerechnete Ortsname „Larisa" 24 gehört zum altmediterranen Typus, so daß die Bezeichnung „pelasgisch" für die Vorgriechen vertretbar ist. Diodor 25 überliefert, daß vor den Pelasgern die erdgeborenen Eteokreter auf der Insel gewohnt hätten. 3c. Diese „pelasgische" Bevölkerung trägt die kretische Kultur. Die überwiegende Zahl der Elemente stammt aus orientalischen Einflüssen: die Bronzeherstellung, die rechtwinklige Steinbautechnik allgemein, die Palast- und Städtearchitektur insbesondere, der Gewölbebau, die Verwendung von Rad und Töpferscheibe, das Siegelwesen, die Schriftlichkeit auf Tontafeln und manche Züge der Religion. 3d. Der Aufstieg Kretas fällt in eine Zeit des Niederganges der orientalischen Großmächte. Die Schiffsdarstellungen, die Handelsstationen und das Fehlen jeglicher Befestigung auf Kreta bezeugen die Seeherrschaft der Minoer, von der noch Herodot 26 und Thukydides 27 wußten. In der griechischen Mythologie ist von der „Thalassokratie" des Minos die Rede, von der Tributpflicht selbst der Athener, was zur Sage von Theseus und Ariadne Anlaß gegeben hat 28 . Diese Überlieferung hat einen soliden Kern; in der Gestalt des Minotauros hält sich die Erinnerung an den Stierkult Kretas 29 . 3e. Aufgrund der Grabungen von Sir Arthur Evans lassen sich drei Perioden der frühkretischen Geschichte unterscheiden: 1. die frühminoische Zeit (2600-2100), aus der Gräber und Hausreste erhalten sind; 2. die mittelminoische Zeit (2100-1600), eine erste Palastperiode, beendet durch eine Erdbebenkatastrophe 3 0 ; 3. die spätminoische Zeit (1600-1100), die zweite Palastphase, die eigentliche Blüte.

4. Kretische Gesellschaft 4a. Über die Gesellschaftsordnung des minoischen Kreta sind wir schlecht informiert. Die Villen (Tylissos, Vathypetro, Hagia Triada) bezeugen die Existenz eines Adels, ohne daß wir wissen, ob es sich um Amtsträger, Kaufleute oder um einen Erbadel handelt. 31 Vermutlich beruhte er auf erblichem Grundbesitz. Seit 2600 v. Chr. gibt es langfristig belegte Sippengrüfte, teilweise 300 Jahre lang benutzt - auch dies weist auf erblichen Wohlstand hin. Privateigentum an beweglicher Habe läßt sich aus dem Siegelwesen folgern. Die erhaltenen Siegel der minoisch-mykenischen Zeit - ein orientalisches Erbe - zählen nach Tausenden und sind ikonographisch teilweise ergiebig 32 . 4b. Neben dem Adel in den Palästen ist ein gewerbetreibendes Bürgertum in den Städten bezeugt, so in Knossos, der Hauptstadt mit mindestens 50.000 Einwohnern, und der seit 1901 von den Amerikanern in Ostkreta ausgegrabenen Ruinenstadt Gurnia. In der Mitte lag ein Palast mit einem zentralen Heiligtum, die krummen, wirren Straßen waren * 23 Herodot I 56ff; Strabon V 2,4; VII 7,1; 10; Lochner-Hüttenbach 1960 * 24 Strabon XIII 3,3 * 25 Diodor V 80 * 26 Herodot III 122 * 27 Thukydides I 4,1 * 28 Pausanias I 22,5 * 29 Zum Labyrinth s. u. 5 c! * 30 Die weitgehenden Folgerungen von Marinatos scheinen geophysikalisch unhaltbar: Weiler 1988, S.42; Schuller 1991, S.90f * 31 Effenterre 1990, S. 198f * 32 Ingo Pini (Hg.), Corpus der minoischen und mykenischen Siegel, 1981; P. Zazoff, Die antiken Gemmen, 1983, S. 25 ff

4. Kretische Gesellschaft

57

nur für Esel und Fußgänger benutzbar, die kleinen Häuser betrat man über Leitern in den Oberstock. Es fanden sich Werkstätten von Zimmerleuten, Bronzeschmieden, Webern und Töpfern, die Drehscheiben benutzten. Am Stadtrand lagen Häuser von Fischern und Bauern. Eine Befestigung gab es nicht, aber eine Wasserleitung aus Tonröhren von fernen Quellen. Die Stadt florierte im 16. Jh. und wurde noch vor Ende der minoischen Zeit geplündert und niedergebrannt. Keine Rolle spielte offenbar das Militär, die Grabfunde und die Fresken geben keinen Hinweis auf eine sozial bedeutsame Stellung von Kriegern, so wie das in Mykene der Fall war. 4c. Im Zusammenhang damit steht die auffallig hohe Stellung der Frauen. Die Bilder zeigen, daß Frauen als Göttinnen und Priesterinnen Ansehen genossen, daß Hofdamen an den Festen teilnahmen, sogar als Stierspringerinnen erscheinen sie. Die griechische Mythologie hat Erinnerungen daran bewahrt 33 , sie kennt in Pasiphae eine bemerkenswerte Frau, die sich in der von Daidalos gebauten Holzkuh von dem Stier des Poseidon bespringen ließ und den Minotaurus gebar 34 . Die Funde legen es nahe, daß in Knossos der kleinere Trakt der beiden Wohnanlagen der Königin gehörte. Er besitzt einen Toilettenraum. 4d. Die Stellung der Frau entspricht derjenigen in anderen orientalischen Randkulturen und ist in Zusammenhang mit dem sogenannten Mutterrecht 35 gestellt worden. Diesen Ausdruck hat 1860 der Basler Gelehrte Johann Jakob Bachofen geprägt, der annahm, daß es einmal ein „gynaikokratisches Weltalter" gegeben habe, eine „Kulturperiode, in welcher das Völkerleben noch nicht aus der Harmonie der Natur gewichen" war 36 . Bachofen setzte diese Phase vor das Vaterrecht, das Patriarchat der Griechen und Römer. 4e. Ausgangspunkt für die Theorie des Mutterrechts war die Beobachtung, daß die Lykier in Kleinasien die Verwandtschaft nach der Mutter rechneten 37 , daß die Herrschaft zwar von den Männern ausgeübt 38 , aber über die Frauen vererbt wurde, und daß die Frauen dort höher geehrt würden als die Männer 39 . Die Lykier stammen nach Herodot 40 aus Kreta, das somit zum Kronzeugen des Mutterrechts wird. Daß die Kreter von „Mutterland" (metris) statt von „Vaterland" (patris) sprachen und den Ursprung des Demeter-Mythos beanspruchten 41 , war für Bachofen eine Bestätigung seiner Lehre 42 . 4f. Die in den verschiedensten Kulturen bezeugten, unterschiedlichen Sonderrechte der Frau 4 3 deutete Bachofen als Reste jener universalen Entwicklungsphase, in der die Frauen ihre wilden Männer gezähmt und die Menschheit auf die erste Kulturstufe gehoben hätten. Die Männer standen in der „ewigen Unmündigkeit des Sohnes" und genossen die „saturnische Harmlosigkeit" eines „später untergegangenen Glücks ... Nicht durch Gewalt, sondern durch freiwillige Anerkennung der Notwendigkeit des höheren Naturgesetzes hat sich die Gynaikokratie während eines ganzen Weltalters zum Wohle der Menschheit erhalten" 44 . 4g. Die Ablösung des Matriarchats vom Patriarchat sah Bachofen in der Sage symbolisiert. Ariadne rettet mit ihrem Faden Theseus im Labyrinth vor dem Minotaurus, wird dann aber von ihm auf Naxos sitzen gelassen 45 . Theseus vertritt das „geistige Vaterrecht der himmlischen Lichtmacht" und begründet die Unterordnung des Weibes, wie * 33 Plutarch, Theseus 18 * 34 Diodor IV 77 * 35 Wagner-Hasel 1992 * 36 Bachofen 1861, II, S. 17; s.u. XI 6 b! * 37 Homer, Ilias VI 196ff; Herodot I 173 * 38 anders angeblich in Karien: Arrian 1 23,7 * 39 Stobaios IV 2,25 * 40 Herodot I 173 * 41 Diodor V 77,3f * 42 Bachofen 1861, III, S. 946 * 43 Herodot VII 185; Philostrat, Vitae Soph. 622; Polybios XII 5, 6 * 44 Bachofen 1861, II, S. 154 * 45 Diodor IV 61

58

II. Die kretisch-mykenische Palastkultur

es dem höchsten kosmischen Gesetz entspreche 46 . Bachofen war selbst ein entschieden konservativer Denker und stemmte sich gegen alle demokratischen und liberalen Bewegungen seiner Zeit, darum war der Sieg des männlichen Prinzips zwar ein Fortschritt, aber nicht zum Glück. 4h. Bachofens Theorie hat die Aufmerksamkeit auf matriarchale Einrichtungen bei Indianern gelenkt und überzeugte Autoren wie Lewis Morgan und Friedrich Engels davon, daß jenes universale Mutterglück ein Kennzeichen der klassenlosen „Urgesellschaft" gewesen sei. Engels 47 unterstrich den in der Urgesellschaft regellosen Geschlechtsverkehr, der das Verwandtschaftsprinzip mater Semper certa zur Folge hatte, und erhoffte dessen Wiederherstellung für die klassenlose Gesellschaft. Später haben der neuzeitliche Irrationalismus um Ludwig Klages und die Wiener Kulturhistorie um Pater Wilhelm Schmidt jene These übernommen und an den Etruskern 48 und Kelten 49 zu bestätigen versucht. Die Theorie einer „mutterrechtlichen Epoche" ist indessen an zahlreichen Befunden gescheitert. Die sehr wohl vorhandenen mutterrechtlichen Einzelzüge ergeben kein System 50 .

5. Kretisches Königtum 5a. Das kretische Staatswesen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Monarchie gewesen. Dafür sprechen die Paläste in Mittel- und Ostkreta, unter denen der von Knossos durch Größe, Reichtum und zentrale Lage herausragt. Innerhalb des Palastes gibt es indessen keinen dem Megaron 51 oder dem Apadana 5 2 vergleichbaren Thronsaal. Der so genannte Raum in Knossos mit dem Greifenfresko ist erst mykenisch. Auch auf den Fresken und Siegeln findet sich merkwürdigerweise keine sicher deutbare Darstellung eines Königs oder einer Königin, wie wir das aus den altorientalischen und ägyptischen Palästen kennen. Ebensowenig erscheint auf den Linear-B-Tafeln ein Herrscher mit Namen. 5b. „König der Kreter" 53 nennt die griechische Mythologie den seebeherrschenden Minos, den Sohn von Zeus und Europa, den „königlichsten aller sterblichen Könige" 54 . Zeus selber soll ihm die Gesetze gegeben haben, und zwar in schriftlicher Form 55 . Hat sich die Erinnerung an Linear B erhalten? Die Vorstellung, daß der Herrscher seine Gesetze von Gott empfängt, kennen wir auch von Moses 56 , von Lykurg 57 und von Numa 5 8 . Minos soll Kreta in drei Teile geteilt und unter drei Hauptstädte gestellt haben: Cydonia (Chania) im Westen, Phaistos im Süden, Knossos im Osten 59 . Minos war nach der griechischen Tradition der älteste Verfassungsgeber und wurde wegen seiner Gerechtigkeit, die Homer und Hesiod rühmen 60 , nach seinem Ende als Totenrichter angesehen. Er sitzt auf einem Thron, hält ein goldenes Szepter 61 und residiert in der Unterwelt 62 . Sofern die Verwandtschaft des Wortes basileus mit lateinisch baculum (Stab) zutrifft 63 , bedeutet König soviel wie * 46 Bachofen 1861, II, S. 170 * 47 F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, 1884, Vorwort zur 4. Auflage 1891 * 48 s.u. XI 6b! * 49 s.u. XIV 6b! * 50 Ed. Meyer, GdA.1,1 1910 S.21 ff; Mühlmann 1964, S.215-247; Faber 1966 * 51 s.u. 8 b! * 52 s.u. IV 4 h * 53 Diodor IV 79,1 * 54 Hesiod, fr.103 * 55 Piaton, Gesetze 624 A; Strabon X 4,8; XVI 2, 38 * 56 AT. 2. Mose 19f * 57 Plutarch, Lyk.5 * 58 Livius I 19,5 * 59 Diodor V 78 * 60 Platon, Minos 318 DE * 61 I.e. 319 D * 62 Homer, Odyssee XI 568 * 63 A. Juret, Les étymologies de basileus, de laos et de populus, Révue des Etudes Anciennes 42, 1940, S. 198 ff.

5. Kretisches Königtum

Abb. 2.

59

Knossos, Kreta. Minoischer Palast: Plan des Untergeschosses (nach A. Evans).

„Szepterträger". Noch im Jahr 145 v.Chr. verteidigten die dorischen Bewohner von Knossos ihren Vorrang vor anderen Städten mit dem Hinweis auf Minos 64 . 5c. Die königliche Zentralgewalt war hinreichend stark, um jene Paläste zu bauen und zu erhalten. Die Paläste Kretas besitzen keine Außenfassade, keinen repräsentativen Eingang und keinen Festsaal, wie später die Achaimenidenpaläste. 65 Um einen rechtwinkligen Innenhof gruppieren sich hinter Innenfassaden Hunderte von kleineren Räumen, die teils der Repräsentation, teils dem Wohnen dienen. In den Außenbezirken schließen sich Vorratskammern und Werkstätten an 66 . Die mehrfach bezeugte L-förmige Stufenanlage

* 64 Diodor XXXIII 10 * 65 s.u. IV 4 h! * 66 s.u. 5 e!

60

II. Die kretisch-mykenische Palastkultur

wird als Theater gedeutet. Gemäß der griechischen Sage konstruierte Daidalos nach dem Vorbild des ebenfalls „Labyrinth" genannten Tempelbezirks im ägyptischen Herakleopolis67 für Minos das Labyrinth (Haus der Doppeläxte) 68 , dessen verwirrende Gänge durchaus eine Reminiszenz der Ruinen von Knossos darstellen können. Im 4. Jh. v. Chr. erscheint das Labyrinth auf griechischen Münzen von Knossos 69 . Unklar ist das politische Verhältnis der Herren der verschiedenen Paläste zueinander. Daß Minos zwei Brüder gehabt haben soll, wird mit den beiden kleineren Großpalästen Phaistos und Mallia in Verbindung gebracht. Minos soll prunkvoll in einem zweistöckigen Grab beigesetzt worden sein70, und ein solches hat Evans bei Knossos gefunden 71 . 5d. Zeugnisse für die Herrschaftsorganisation in Kreta sind außer den Palästen und Städten mit den Straßen, Kanälen und Brücken namentlich die Häfen, von denen aus weitreichende Handelsverbindungen unterhalten wurden. Der Hafen von Knossos war Amnisos 72 . Die Herrschaft Kretas über die Inseln 73 ist archäologisch bestätigt. In der ganzen Ägäiswelt haben sich Belege dafür gefunden: in Thera 74 , Rhodos, Samos und Aigina. In Milet ist die mythologisch bezeugte 75 minoische Niederlassung gefunden worden 76 . Darüber hinaus reichten die Verbindungen im Westen nach Herakleia Minoa auf Sizilien und nach Lipari, im Osten nach Ägypten, nach Byblos, Ugarit, Mari und Cypern 77 . Die Ausfuhrgüter aus Kreta umfassen außer den Gewerbeprodukten (Keramik) zahlreiche Naturalien: Öl, Wein, Holz und Wolle; die Importwaren bestanden aus Metallen: Kupfer Caus Cypern; Zinn aus Anatolien; Gold, Silber und Elfenbein aus Ägypten. 5e. Im Zusammenhang mit dem Handel stehen die Rundsilos von Mallia und die Vorratsgefäße {pithoi) in den Kellern der Paläste. Tausende von mannshohen Tonkrügen sind, einer neben dem anderen stehend, gefunden worden. In ihnen wurde nicht nur Öl und Wein, sondern auch Getreide und Wolle aufbewahrt. 5f. Mehrere Deutungen sind für diese Stapelung denkbar. In Frage kommt eine Hortung von Exportgütern, doch wäre dafür eher ein Palast am Meere geeignet gewesen, nicht Knossos oder Phaistos. Eine andere Erklärung vermutet Abgaben: die Untertanen mußten einen Anteil ihrer Erzeugnisse abliefern, und der König verteilte sie nach Ermessen an seine Leute, so wie der Staat heute die Steuergelder. Für diese These sprechen jene Linear B-Tafeln, die ein Defizit vermerken. Es gibt einen bestimmen Typus der Art: „28 Hammel, 22 Schafe, 50 Hammel Restschuld". Hier ist anscheinend ein Abgabensoll von 100 Stück Kleinvieh vorausgesetzt. Unklar ist, wie diese Quittungen ohne Zeitangabe verwendbar waren. Möglich wäre auch eine Marktwirtschaft auf Kreditbasis. Wir finden ja noch kein Geld als Tauschmittel, und da wäre es denkbar, daß die Bauern ihren Produktionsüberschuß in den Palast überführt und dafür Gutschriften erhalten hätten, mit denen man handeln und die man einlösen konnte. In diesem Falle hätte der Inhalt jener Pithoi nicht dem König, sondern den Produzenten gehört. Klar ist jedenfalls, daß die Masse der Vorräte die Menge dessen überstieg, was im Palast selber verbraucht werden konnte. Für Mallia weisen sie auf 5 bis 10000 Stadtbewohner hin 78 .

* 67 Herodot II 148 * 68 Plinius, Nat. hist. XXXVI 19/84fT * 69 BMC. IX Crete, S.20ff; pl.Vf.; D o o b 1990 * 70 Diodor IV 79,3 * 71 Evans IV S. 959 ff * 72 Strabon X 4,8 * 73 D i o d o r V 7 8 * 74 Siedlung und Fresken aus Akrotiri, ausgegraben von Marinatos * 75 Apollodor III 1,2 * 76 Bryce 1989 * 77 Helck 1979, S. 19ff; 83ff; 106ff * 78 Effenterre 1990, S. 356

61

6. Mykene

5g. Seit dem 15.Jh.v.Chr. finden wir achäische Herren in Knossos: Das bezeugen Linear-B-Tafeln und Kriegergräber nach mykenischer Art bei Knossos79. Vor 120080 folgte die Zerstörung der Paläste und das Ende der Kultur; Kreta bleibt ein unbedeutender mykenischer Außenposten neben Rhodos und Cypern. 5h. Um 1100 wurde Kreta von de dorischen Wanderung erfaßt81. Dorier besiedelten alle fruchtbaren Gebiete, die Überbleibsel der minoischen Kultur verschwanden. Die Kultur sank auf eine barbarische Stufe zurück. Reste der alten Bevölkerung, der „erdgeborenen Eteokreter" 82 hielten sich in Rückzugsgebieten, „eteokretische" Inschriften (bisher ungedeutet) gab es noch im 6. Jh. v. Chr. Homer 83 spricht vom hundertstädtischen Kreta, kennt aber nur sieben kretische Städte mit Namen. Was dauerte, waren kultische Traditionen, vorab in heiligen Höhlen - z. B. die Zeus-Höhle am Ida - , daneben blieb die mythische Erinnerung an die große Zeit Kretas lebendig.

6. Mykene 6a. Bald nach 2000 beginnt die erste indogermanische Einwanderung nach Griechenland84. Völker aus dem Donauraum stießen vor bis in die Peloponnes, verdrängten die Vorbevölkerung in die Berge oder unterwarfen sie ihrer Herrschaft. Ein um 1800 anzusetzender Zerstörungshorizont zieht sich durch viele Fundstätten Nordgriechenlands. Noch in historischer Zeit war die Erinnerung an die vorgriechischen Einwohner lebendig: sie heißen bei den griechischen Autoren: Pelasger, Leleger oder Karier. Ihre Ortsnamen und Kulte sind großenteils von den Griechen weiterbenutzt worden. 6b. Unsere Bezeichnung „Grieche" geht zurück auf lateinisch Graecus oder Graius, entsprechend dem etruskischen creicesiS, abgeleitet von einem Ortsnamen Graia auf Euböa (Ed. Meyer) oder in Böotien (Wilamowitz), mit deren Aussiedlern Etrusker und Römer früh in Berührung gekommen sind. Der Name Hellènes gehörte ursprünglich nur den Myrmidonen des Achilleus86 in Thessalien87 und wurde erst durch Hesiod88 und Archilochos auf die Griechen insgesamt ausgeweitet89. Homer kannte noch keinen festen gemeinsamen Griechen-Namen, ebensowenig wie er einen Barbarenbegriff besaß90, er verwendete die Bezeichnung Panhellênes91 oder sprach von Argivern, nach Argos, der Polis Agamemnons 92 . Aus der mykenischen Zeit stammen die ebenfalls von Homer für die Griechen benutzten Namen Achaioi, wie das hethitische Achijawa erweist93, und Danaoi94, das als Tanaja bei Thutmosis III um 1450 v. Chr. und als Danuna oder Dardunu um 1250 auf den Seevölkerlisten von Ramses II erscheint95. Die Griechen zerfielen anfangs in Stämme mit eigenen Mundarten. Zwei Wellen der ersten Einwanderung sind nach Dialekt und Siedlungsraum zu unterscheiden: Erstens die ionische Welle, die Attika, Euboia, Boiotien und die Argolis besiedelte, und zweitens die achäische Welle, die Thessalien und die Peloponnes erfaßte.

* 79 Helck 1979, S.52 1988 S. 38

*

*

80 die archäologischen Daten pendeln zwischen 1500 und 1200: Weiler

81 Diodor V 80

*

82 Strabon X 4,6

( X I X 174) spricht Homer von 90 Städten. * 86 Homer, Ilias II 684; IX 448

*

*

*

83 Homer, Ilias II 649; in der Odyssee

84 Kritisch hierzu Hampl 1975

87 Hesiod, fr. 5

*

*

85 s. u. X I 10 f!

88 Hesiod, fr. 4; Plutarch, Mor. 747 F;

Apollodor I 7,3 * 89 Strabon V I I I 6,5f; IX 5,6; Pausanias X 7,6 * 90 Thukydides I 3 * 91 Homer, Ilias II 530 *

92 I.e. I 30; II 108

*

93 s. o. 2f!

*

94 vgl. Pindar, Pyth. IV 48; Pausanias V I I I , 7

* 95 Ed. Meyer, G d A . II, S.224; Strobel 1976, S. 201 ff; Helck 1979, S. 30

62

II. Die kretisch-mykenische Palastkultur

6. Mykene

63

6c. Die kulturelle Blüte liegt jedoch erst ein gutes halbes Jahrtausend nach der Einwanderung, und das hat zu Versuchen einer Herabdatierung geführt. Das ist wenig plausibel, denn niemals wird Kultur plötzlich erzeugt, sondern in aller Regel geht ihr eine längere Inkubationszeit voraus. Auch die klassischen Griechen, die Römer und die Germanen saßen bereits Jahrhunderte lang in dem Land, wo sie dann ihre Kultur entwickelt haben. Wesentliches Element ist der äußere Anstoß: so wie die Kreter vom Orient gelernt haben, so haben die Mykenäer die Kreter zum Vorbild genommen, haben später die Römer von den Griechen, die Germanen von den Römern gelernt. Die frühesten Zeugnisse einer hohen Kultur begegnen auf der Peloponnes seit dem 16. Jh. Es sind die Funde aus den Schachtgräbern im Plattenring von Mykene 96 . Schliemann entdeckte Hunderte von Waffen, Schmuckstücken und Geräten; 13,5 Kilo Gold. Er meinte hier die Goldmaske Agamemnons gefunden zu haben, aber sie ist mindestens 300 Jahre älter. Das Gold ist wahrscheinlich ägyptischen Ursprungs 97 . 6d. Im 15. Jh. stießen die Mykenäer in die Ägäis vor, Knossos wurde erobert und von mykenischen Herren regiert 98 . Anschließend entwickelte sich auch die mykenische Palastkultur auf dem Festland unter dem Einfluß kretischer Handwerker. Anders als die kretischen Paläste sind die mykenischen Burgen befestigt, und zwar mit solch ungeheuren Blöcken, daß die antiken Autoren von Zyklopenmauern sprachen 99 . Schon Homer 100 bewunderte die Mauern von Tiryns, und Pausanias 101 verglich sie mit den Pyramiden Ägyptens. Zentren waren Mykene 102 , Argos und Tiryns 103 in der Argolis, wo schon in vormykenischer Zeit der Palast von Lerna 104 stand, weiterhin das messenische Pylos, das Eurotastal mit Amyklai und Vaphio, Attika mit dem Pelargikon auf der Akropolis105, Boiotien mit Theben, Orchomenos und Gla, der Inselburg, sowie Thessalien mit dem Palast von Volos. Der Höhepunkt der mykenischen Kultur lag im 14. und 13. Jh., aus dieser Zeit stammen die Kuppelgräber, die Megaron-Paläste und die Zyklopenmauern. 6e. In dieselbe Zeit fällt eine weit ausgreifende Seefahrt. Mykenische Keramik bezeugt Handel und Handelsniederlassungen im Westen bis Sizilien, Lipari, und Ischia (Pithecussae, die „Affeninsel"), im Osten bis Cypern, Ugarit und Ägypten. Mykenische Waffen wurden weit in den Donauraum hinein verhandelt, um 1200 finden sich dieselben Formen im Raum zwischen Ägäis und Nordsee. Die Mykenäer waren interessiert an britannischem Zinn und baltischem Bernstein 106 . Besonders intensiv war die Präsenz der Mykenäer in der Ägäis und Jonien 107 . Reich sind die Keramikfunde in Troja; in Milet sprechen mykenische Gräber für eine Siedlung. Milet (Milawata, Millawanda) wird in hethitischen Texten als Streitobjekt genannt zwischen Hethitern und Achijawa10*. Möglicherweise liefen die Verbindungen zwischen Griechenland und Kleinasien über Milet 109 .

* 96 G. Karo, Die Schachtgräber von Mykenai, MDAI (Athen) 40, 1915/27, S. 113 ff * 97 Helck 1979, S. 93 * 98 s. o. 5g! * 99 Strabon VIII 6,11 ; Pausanias II 25,8 * 100 Homer, Ilias II 559 * 101 Pausanias IX 36,5 * 102 Kilian 1987 * 103 Kilian 1988 * 104 P. G. Themelis, Early Helladic Monumental Architecture, MDAI (Athen) 99, 1984, S.335ff * 105 Herodot V 64; Pausanias 1 28,3 * 106 Bouzek 1985 * 107 Helck 1979, S. 150f * 108 Strobel 1976, S. 144ff; Bryce 1989 * 109 Helck 1979, S. 152 ff

64

II. Die kretisch-mykenische Palastkultur

7. Mykenische Gesellschaft 7a. Über die mykenische Gesellschaft sind wir besser im Bilde als über die des minoischen Kreta. Als Unterschicht sind überall die Vorbewohner, die Pelasger anzunehmen. Dafür spricht die ins Mykenische hinein- und darüber hinausreichende Tradition der Ortsnamen und der Verehrung vorgriechischer Gottheiten: sowohl Athene wie Apollon, die scheinbar griechischsten aller Götter, sind vorgriechisch. 7b. Über die Funktion der Unterschicht gibt es nur Vermutungen. Aber es ist anzunehmen, daß sie im Stande der Unfreiheit gelebt und die Landarbeit verrichtet hat. Je nach der Nähe und Ferne zu den mykenischen Herren mag sich diese Dienstbarkeit stärker oder schwächer fühlbar gemacht haben. Aus der spätmykenischen Zeit kennen wir einige große kollektive Arbeitsleistungen, vorab die (sog. minyischen) Deiche und Kanäle in Boiotien 110 und die Befestigungen von Tiryns, Mykene, Athen usw. aus Steinen von vielen Metern Länge. Dafür dürfen wir einheimische Fronarbeiter annehmen. 7c. Die Tontafeln unterscheiden zwischen Freien und Sklaven. Die Freien tragen die Bezeichnung e-reu-te-ro (eleutheroi), die Sklaven heißen do-e-ro (douloi). Ein Text aus Pylos nennt mehr als 730 Frauen, ebensoviele Kinder und 350 Männer mit Herkunftsangaben aus dem Ägäisraum, vielleicht Palastarbeiter 111 . Sie wurden zentral verpflegt. In den Palästen von Odysseus und Alkinoos sollen je fünfzig Mägde gedient haben 1 ' 2 . Anscheinend hat es auch solche Sklaven gegeben, die keinen privaten Herrn hatten, sondern mehreren gemeinsam gehörten. Dies wären dann Vorstufen der späteren Staatssklaven gewesen. Überhaupt geht die Sklaverei ja auf die Kriegsgefangenschaft zurück und ist insofern ursprünglich nicht privat, sondern kollektiv, die Beute gehört dem obersten Kriegsherrn und wurde von ihm verteilt. 7d. Gleichzeitig nennen die Täfelchen eine Fülle von Berufen, bei denen nicht klar ist, ob sie von Freien oder Unfreien ausgeübt wurden. Jedenfalls standen sie in Beziehung zur Palastverwaltung. Genannt werden unter anderem: Schafhirten, Ziegenhirten und Kuhhirten (die Gespanne tragen Namen); Jäger, Holzfäller und Köhler; Töpfer und Bäcker; Weber, Spinner, Schneider und Walker; Zimmerleute und Baumeister, Wagner, Schiffszimmerleute und Ruderer; Bronzeschmiede, Goldschmiede, Bogenmacher, Salbenköche, Lehrer und Ärzte. 7e. Die Gesellschaft der eingewanderten Mykenäer war eine Kriegergesellschaft. Das Heer bestand aus den waffentragenden Fußkämpfern. Sie waren gegliedert in Phratrien, in Gruppen, die gemeinsam kämpften und lebten. Noch in homerischer Zeit 113 spielen sie eine Rolle, vor allem in Rechtsstreitigkeiten. Ihr urtümlicher Charakter ergibt sich daraus, daß das indogermanische Wort phrater-Brader, das in der griechischen Sprache (zugunsten von adelphos) verloren gegangen ist, sich in diesem übertragenen Sinne politischer „Bruderschaft" gehalten hat. 7f. Über den Gemeinfreien steht ein Kriegeradel. Er ist archäologisch faßbar durch herausragende Grabbeigaben, insbesondere durch kostbare Waffenausstattung seit der Schachtgräberzeit. Es steht zu vermuten, daß es sich ursprünglich um einzelne hervorragende Krieger handelt, die dann durch die Gunst des Königs und die Erwerbung von Grundbesitz eine erbliche Vorrangstellung durchsetzen konnten. * 110 Strabon IX 2,16; J. Knauss, Der Damm in Takka-See MDAI (Athen) 103, 1988, S.25ff * 111 Strobel 1976, S. 131 ff * 112 Homer, Odyssee VII 103 ff; XXII 421 ff * 113 Homer, Ilias II 362 f; IX 63 f

8. Mykenisches Königtum

65

7g. Bei Homer 1 1 4 fahren die Herren auf Streitwagen in die Schlacht, steigen aber zum Kampfe ab. Ähnliches dürfen wir für die mykenische Zeit annehmen. Reiterei gibt es zwar schon bei den Hethitern und den Ägyptern seit dem 1 3 . J h . v . C h r . , begegnet aber in Griechenland erst seit dem 7. Jh. v. Chr. Wir kennen die Streitwagen von bildlichen Darstellungen 115 und aus den Linear-B-Texten. In der späteren Antike dienten sie noch als Triumph- und Rennwagen. Die mykenischen Herren wurden in Kuppel- und Kammergräbern beigesetzt und residierten in den großen oder kleinen Palästen. 7h. Die Stellung der Frau war weniger herausgehoben als in Kreta, aber immer noch angesehener als im archaischen und klassischen Hellas. Es gibt Siegelringe mit der Darstellung von Frauen auf der Jagd, auch die Palastfresken von Tiryns zeigen Frauen. Homer berichtet von Arete, der Frau des Phäakenkönigs Alkinoos, d a ß sie geradezu als Göttin verehrt worden sei und Streit unter Männern schlichte 116 .

8. Mykenisches Königtum 8a. An der Spitze des mykenischen Staatswesens stand wie in Kreta ein König. In den Tontafeln von Pylos wird seltsamerweise nie der Name, nur der Titel des Palastherrn genannt, er heißt wa-na-ka (wanax), „Herr" - ein Terminus, der noch bei Homer geläufig ist und auf den Tafeln stets im Singular steht. Der spätere griechische Königstitel basileus (qua-si-re-u) kommt gleichfalls vor, bezeichnet aber eine niedere Würde, den jeweils Ersten auf den Dörfern. Auch dies findet sich bei Homer 1 1 7 : die Freier der Penelope, wiewohl Untertanen des abwesenden Odysseus, heißen basileis. Der mykenische Königstitel wanax wird auf den Tontafeln auch den Göttern verliehen. Die bildliche Darstellung eines Königs ist ebensowenig identifizierbar wie in Kreta, doch verraten die Texte etwas über seine Kleidung: Er trug Purpur, seine Gefolgsleute Weiß 118 . 8b. Als Thronsaal gilt das im Zentrum der Burgen von Mykene, Tiryns und Pylos liegende sog. Megaron. Es ist jener giebelüberdachte Haustypus, der aus einem einzigen rechteckigen R a u m mit dem Herd - wie bei Homer - und einer zur Giebelseite offenen Vorhalle besteht. In Griechenland findet er sich seit dem Neolithikum (4. Jt.), und zwar im thessalischen Dimini. Er ist mithin vorindogermanisch, fehlt indes auf Kreta. Im nachmykenischen Griechenland wurde der Megaron-Typus als Wohnhaus aufgegeben, blieb aber die G r u n d f o r m des griechischen Tempels, der als Wohnsitz der Gottheit gedacht war. Aus der mykenischen Baukunst sind keine Tempel gesichert, doch nennen die Tafeln Götternamen, darunter die „Palastherrin" Potnia. Bezeichnend für die mykenischen Paläste ist, daß neben dem großen noch ein kleines Megaron liegt, vielleicht die Residenz der Königin 119 , doch könnte es auch dem lagetas120 gehört haben oder vom König für minder wichtige Anlässe genutzt worden sein 121 . 8c. Bestattet wurden die Fürsten der mykenischen Zeit in großen, nach kretischem Vorbild errichteten Kuppelgräbern 1 2 2 . Die eindrucksvollsten sind das sog. Schatzhaus des Atreus in Mykene 123 und das des Minyas bei Orchomenos 124 . Die Kuppelmaße des * 114 I.e. XVI 712ff * 115 s.u. 9j\ * 116 Homer, Odyssee VII 66ff * 117 I.e. I 394 * 118 Carlier 1984, S.52f * 119 Dörpfeld, Biegen * 120 s.u. 8f! * 121 Carlier 1984, S.26 * 122 Fundorte: Argolis, Lakonien, Messenien, Attika (Marathon, Thorikos, Menidi), Böotien, Thessalien und Ionien (Kolophon) * 123 Pausanias II 16,6 * 124 Pausanias IX 36,4

66

II. Die kretisch-mykenische Palastkultur

4— - 4

-4—

Abb. 4. Tiryns. 1. Ober-, 2. Mittel-, 3. Unterburg, nach: DAI (Athen), Tiryns. Forschungen und Berichte XI 1990.

8. Mykenisches Königtum

67

Atreus-Grabes wurden erst durch das Pantheon Hadrians in Rom übertroffen. Durch einen 35 m langen unbedachten Gang (dromos) gelangt man zu einer über 5 m hohen Prunktür, deren monolithischer Türsturz 9 m lang ist und 120 Tonnen wiegt. Das bienenkorbartige Innere besteht aus falschem Gewölbe. Höhe und unterer Durchmesser betragen etwa 15 m. Das Ganze ist mit Erde bedeckt, deren Gewicht den Bau zusammenhält. Die Toten lagen in Sarkophagen. Beide Gräber hatten ein kleines Nebengemach, das an das Verhältnis von großem und kleinem Megaron erinnert. In Messenien gibt es Kuppelgräber vielfach paarweise. Würdenträger und Wohlhabende wurden in Kammergräbern beigesetzt. Ihre Zahl steigt von 1400 und 1200 beträchtlich. 8d. Jede mykenische Burg war, ebenso wie jeder kretische Palast, ein Wirtschaftszentrum, wie die Vorratsräume und Werkstätten belegen. Dazu gehörte jeweils eine unbefestigte Vorstadt, doch besteht über deren Aussehen noch Unklarheit. 8e. Im allgemeinen dürfen wir davon ausgehen, daß jeder wanax, jeder Fürst, seinen Palast, die Stadt und das zugehörige Territorium wie ein König beherrscht hat. Er ernannte die Statthalter, Intendanten und Magazinverwalter. Aus den Ortsnamen des Pylos-Archivs können wir das Herrschaftsgebiet dieses Palastes etwa abstecken, es umfaßte die westliche Peloponnes, bestand aus zwei Regionen und enthielt 16 Siedlungen' 25 . Die Tontafeln deuten daraufhin, daß zwischen privatem (kleros) und königlichem Grundbesitz, te-me-no (to temenos), unterschieden wurde 126 . Letzterer konnte verpachtet werden. Bei Homer finden wir diesen Begriff für „Königsland, Krongut" 1 2 7 und „Tempelbezirk" 128 . 8f. Das höchste Amt nach dem König bekleidete der in Pylos und Knossos bezeugte ra-wa-ke-ta, griechisch la(wa)getas129. Der Titel bedeutet: Führer des Kriegsvolkes (laos)m. Der lagetas besaß wie der wanax ein temenos und ein Gefolge, sowie Handwerker und Handelsleute. Die als „Gefolgsmänner" zu übersetzenden e-que-ta (hepetas) waren Offiziere. Sie empfingen Kleider und Waffen aus den königlichen Magazinen und fuhren besondere Streitwagen. Auch Homer kennt diese Leute, er nennt sie basileism oder geronies"1, die Alten. Wenn das Fußvolk in den Texten nicht erscheint, liegt das daran, daß es sich um die Bürger handelt, die sich selbst bewaffneten. Die Nachrichten über die Waffenmagazine und die Remisen der Streitwagen zeigen eine straffe Zentralisierung des Kriegswesens. Es scheint auch militärische Außenposten gegeben zu haben, die dem Schutz gegen äußere und innere Gegner dienten. Der Rat der Alten, die aus Sparta bekannte gerousia, heißt mykenisch ke-ro-si-ja. 8g. In Pylos gibt es noch die te-re-ta (telestai), Amtleute, deren Ländereien abgabenfrei waren 133 , sowie einen Herold (ka-ru-ke, keryx), den auch Homer 134 kennt. Nicht immer sind die am Hofe lebenden Leute, die Pagen, Leibwächter, Ministerialen von den außerhalb wohnenden Vasallen zu unterscheiden. 8h. Ein Problem ist, wie wir uns das Verhältnis der verschiedenen Palastherren der kleinräumigen Kulturlandschaften vorzustellen haben. Ohne Zweifel besaß jeder von ihnen eine gewisse Selbständigkeit. Pylos dürfte kein Einzelfall sein. Andererseits müssen die beiden mächtigsten Paläste der Argolis, Mykene und Tiryns zusammengehört haben. Denn sie sperren sich gegenseitig den Verkehr: Mykene blockiert den Weg von Tiryns zum * 125 Palmer 1965, S. 89 * 126 Carlier 1984, S. 62f * 127 Homer, Ilias VI 194; XVIII 550; ders. Odyssee VI 293 * 128 Homer, Ilias II 696; VIII 48 * 129 Pindar, Ol. I 69; ders., Pyth. III 85 * 130 Carlier 1984, S. 106f erwägt auch eine Deutung als „Kronprinz" * 131 Homer, Odyssee I 394; VIII 41 * 132 Homer, Ilias II 53; IV 344 * 133 Carlier 1984, S.61; Palmer 1955, S. 11 f * 134 Homer, Ilias XVII 324

68

II. Die kretisch-mykenische Palastkultur

Isthmos, Tiryns den Weg von Mykene zum Meer. Daher waren beiden Burgen wohl stets Besitz derselben Familie, wie es der Mythos bezeugt. Ob es ein von Mykene beherrschtes „Großreich" gab135, ist unklar. Für eine Hegemonie Mykenes136 spricht außer dem Mythos der Reichtum der Grabfunde.

9. Homer 9a. Die Sagenüberlieferung ergänzt unser Bild der mykenischen Gesellschafts- und Herrschaftsordnung, muß aber mit Vorsicht aufgenommen werden, da sie erst viele hundert Jahre später aufgezeichnet worden ist. Homer weiß, daß die mykenische Welt polyzentrisch strukturiert ist. Fast alle Orte, die er als Mittelpunkte mykenischer Herrschaften nennt, haben sich archäologisch als solche erweisen lassen. Schliemann hat das zur Gewißheit erhoben für Troja, die Residenz des homerischen Priamos, dann für Mykene, wo Agamemnon geherrscht haben soll, und für Tiryns, die Burg des Eurystheus. Seitdem sind auch bei Pylos der sog. Palast des Nestor, in Amyklai der Sitz von Helena und Menelaos, in Argos der des Diomedes und auf Aigina der des Aiakos gefunden worden. Umgekehrt sind auch mykenische (Gla) und nachmykenische (Lefkandi) Großbauten gefunden worden, die bei Homer nicht genannt werden. Homer siedelt in diesen Burgen Fürsten an, die teilweise untereinander verwandt und verschwägert waren: Menelaos war der jüngere Bruder Agamemnons137, dieser versprach Achilleus eine Tochter zur Frau138 usw. 9b. Bei Homer steht an der Spitze der Griechen Agamemnon. Er verdankt, wie Minos vor ihm, seine Herrschaft dem Zeus. Im zweiten Gesang der Ilias heißt es: Agamemnon erhob sich mit dem Szepter (skeptron), das Hephaistos (der Götterschmied) gefertigt und dem Zeus als dem König der Götter und Menschen geschenkt hatte. Zeus gab es Hermes, dem Götterboten, der es Pelops, dem Pferdelenker, überbrachte. Es vererbte sich in der Familie weiter: über Atreus, den Volkshirten, an Thyestes, reich an Schafen, an Agamemnon. Er solle es tragen und regieren über viele Inseln und ganz Argos139. Zu Pausanias140 Zeit wurde das „Szepter Agamemnons" in Chaironeia kultisch verehrt. 9c. Hier haben wir ein Gottesgnadentum vor uns, eine charismatische Legitimation monarchischer Gewalt, die sich bis zu Elisabeth II Dei gratia regina von England gehalten hat. Verbunden damit sind die priesterlichen Funktionen des Königs. Agamemnon bringt das Opfer für den guten Flottenwind in Aulis, Artemis fordert seine Tochter Iphigenie141. Ebenso opfert der König vor Troja 142 . Einem gerechten Herrscher trägt die Erde reiche Ernten, liefert die Herde Lämmer, das Wasser Fische143. 9d. Das homerische Königtum ist erblich, und zwar auch über die Tochter oder die verwitwete Königin wie im alten Ägypten: Menelaos übernimmt mit Helena die Herrschaft über Sparta; Ödipus wird König von Theben als Mann der Jokaste, die unerkannterweise seine eigene Mutter war; die Freier der Penelope wollen Nachfolger ihres totgeglaubten Gatten Odysseus werden, obschon ein Sohn, Telemachos, da ist. Grund für die Erblichkeit * 135 F. Schachermeyr, in: Propyläen-Weltgeschichte III 1962, S. 59 * 136 so Carlier 1984, S. 132ff * 137 Homer, Ilias VII 470 * 138 I.e. IX 142ff * 139 I.e. II 101 ff; IX 96ff * 140 Pausanias 1X40,11 * 141 Apollodor VI 22 * 142 Homer, Ilias II 402 * 143 Homer, Odyssee XIX llOff; s.o. I 10 a!

9. Homer

69

der Herrschaft war die gemeinantike Auffassung vom Königsheil, das aus der göttlichen Gunst gegenüber Familien erwächst. Noch Philostrat 144 nannte ererbte Tugenden rühmlicher als erworbene. 9e. Trotz seines Gottesgnadentums ist Agamemnon nur primus inter pares. Den Königstitel teilt er mit seinen Fürsten: auch Menelaos, Odysseus und Achill tragen ihn, ja sogar die Gutsbesitzer auf Ithaka, die Freier der Penelope sind basileis145. Das Wort basileus ist steigerbar wie ein Adjektiv: Agamemnon ist basileuteros (königlicher) als Achilleus 146 und basileutatos (der Königlichste) unter allen Achäern 147 . Der Phäakenkönig Alkinoos hat zwölf szeptertragende Könige als Ratgeber 148 . Jeder König bezieht Abgaben 149 , jedem folgt seine Mannschaft ins Feld. Agamemnon führt das größte Kontingent von hundert Schiffen. Die übrigen Fürsten schulden ihm die Ehre des Ersten und Gefolgschaft im Kriege. Der König ist der oberste Kiegsherr, er ordnet das Heer nach Stämmen und Sippen 150 . Der Mythos berichtet, wie sich manche Herren ihrer Kriegspflicht entziehen wollten: Als die Königsboten kamen, verkleidete sich Odysseus als Bauer, bzw. täuschte Wahnsinn vor 151 , Achilleus wurde sogar unter die Mägde gesteckt 152 - aber beide mußten trotzdem mit. Die Gefolgschaftspflicht traf naturgemäß nicht alle: unter mehreren Söhnen entscheidet das Los, und ein kostbares Geschenk kann die persönliche Heeresfolge auch einmal ersetzen 153 . 9 f . Der König hat ein Vorrecht auf die Beute {gerasf™. Darauf gestützt, sichert Agamemnon sich die schöne Briseis für ein eigenes Nachtlager. Achilleus, dem er sie weggenommen hat, zieht sich daraufhin erzürnt aus dem Kampf um Troja zurück. Agamemnon kann Achilleus nicht zwingen mitzukämpfen, und auch dessen Leute sind dem direkten Zugriff des Königs entzogen. Jeder der Fürsten befehligt seine Leute (laoi) selbst und vertritt sie in der Heeresversammlung. 9g. Bei Homer sind Funktionen des Oberkönigs im Frieden nicht zu erkennen, er dürfte allenfalls als höchster Richter amtiert haben 155 . Kriege zwischen den einzelnen Herren meldet die Sage von den Sieben gegen Theben, Argolis gegen Boiotien. 9h. Unter den Institutionen sind der Rat des Königs und die Heeresversammlung zu nennen. Der Rat (boule) 156 wurde zu allen wichtigen Fragen berufen, er bestand aus den Fürsten (gerontes, basileis), die eigene Truppen führten. Regelmäßig war die Beratung mit Essen und Weintrinken verbunden, der König war Gastgeber 157 . Der „göttliche Sänger" unterhielt seine Gäste 158 . Die Freier in Ithaka verzehrten ungebeten das Gut des Odysseus. Tischgenossenschaft schuf Kontakte; hetairos und therapön bezeichnen denselben Mann in zwei Aspekten, so den Freund des Achilleus: Patroklos. 9i. Die Volksversammlung (agore) 159 besteht aus den Kriegern. Der König beruft und leitet sie. Verhandelt wird über die öffentlichen Belange (demia), zumal über Krieg und Frieden, die Reden werden durch Beifall oder Murren begleitet. Der König kann auch entgegen der Stimmung im Heer entscheiden, wie der Fall des Chryses lehrt: Gegen die

* 144 Philostrat, Vitae soph. 61 If. * 145 Homer, Odyssee I 394; Unterkönige des Alkinoos: Odyssee VIII 41 * 146 Homer, Ilias IX 160; vgl. 392 * 147 I.e. IX 69 * 148 Homer, Odyssee VIII 390f; XIII 12 * 149 demia: Homer, Ilias I 231; IX 71 f; XVII 250; ders., Odyssee XIX 197 * 150 Homer, Ilias II 362 f * 151 Apollodor VI 7 * 152 Apollodor III 174 * 153 Homer, Ilias XIII 669 * 154 I.e. 1118 * 155 I.e. XVI 542; ders., Odyssee XIX 109 * 156 Homer, Ilias I 258 * 157 I.e. IX 70ff; XVII 250 * 158 s.u. 9 k\ * 159 I.e. II 51; ders. Odyssee II 26

70

II. Die kretisch-mykenische Palastkultur

Bitten des Heeres verweigerte Agamemnon die Freigabe der Priestertochter 160 . Ein besonderes Ansehen genießen die weisen Alten, namentlich Nestor; kleine Leute dürfen reden, aber haben einen schweren Stand, so Thersites. Die Heeresversammlung hat auch eine Bedeutung für die Rechtsprechung, insbesondere bei politischen Fällen. Es gibt eine Art Lynch-Justiz, die mit direkter Vollstreckung verbunden ist161. 9j. Das Städtewesen bei Homer zeigt ältere und jüngere Merkmale. Auf der einen Seite verschenken die Könige Städte und Landschaften 162 , wohl in der Erwartung auf Kriegsfolge, so daß wir ein feudalistisches Element fassen. Auf der anderen zeigt die »Schildbeschreibung« eine Gerichtsverhandlung, bei der ein gewählter Schiedsmann 163 , umgeben von Ältesten, vor dem Volk auf dem Markte Recht sprach 164 - also ganz demokratisch. 9k. Die historische Auswertbarkeit Homers für die mykenische Zeit ist strittig 165 . Einzelne seiner Helden tragen vorgriechische Namen, so Anchises, Achilleus, Theseus, Minos und Odysseus 166 . Zahlreiche Geräte, die Homer beschreibt, begegnen unter dem mykenischen Fundgut in verblüffender Ähnlichkeit: der zweihenklige Becher Nestors 167 , der Helm aus Eberzähnen 168 , das silbergenagelte Schwert 169 und anderes 170 . Dennoch gibt Homer nicht das Bild einer differenzierten, zentralistischen Palastwirtschaft mit den verfeinerten Formen einer Spätkultur, sondern eher das einer archaischen Gesellschaft, wie sie zu seiner Zeit bestand und dann im europäischen Mittelalter wiederkehrt: so das feudale Verhältnis zwischen dem König von Gottes Gnaden, dem Ritteradel und dem Gemeinfreien, die ländliche, naturalwirtschaftliche Atmosphäre, die aristokratische Lebensform überhaupt und nicht zuletzt den Sänger selbst171. 91. Besonders umstritten ist die Geschichtlichkeit des Kampfes um Troja 172 , von Herodot und Eratosthenes auf die Zeit um 1200 datiert 173 . Die bis in byzantinische Zeit bezeugte Stadt Ilion wurde um 750 v. Chr. von aiolischen Griechen besiedelt, nachdem sie um 1200 verlassen worden war. Das ältere Ilion, sofern mit diesem eine Namenskontinuität besteht, reicht zurück bis etwa 2500 v. Chr. Von den insgesamt 46 Bauphasen gehört Troja VI in die mykenische Zeit. Troja VII A brannte nach einer Eroberung ab, wurde aber wieder aufgebaut 174 . Ohne archäologisch erkennbaren Grund wurde Troja VII B verlassen. Die Bodenforschung hat Handel zwischen Griechenland und der Troas festgestellt. Der auf hethitischen Tontafeln um 1280 genannte, im Westen residierende Fürst Alaksandu von Wilusa 175 erinnert an den homerischen Alexandros (Paris) von Ilios (Wihos) 176 . Trotzdem läßt sich der Zug Agamemnons archäologisch ebensowenig nachweisen, wie uns die Einnahme Babylons durch Kyros, die Zerstörung von Persepolis durch Alexander oder die Eroberung Roms durch Alarich ohne schriftliche Zeitzeugen bekannt

* 160 Homer, Ilias I 11 ff * 161 Hotner, Odyssee II 192; XVI 424; XXII 216; Homer, Ilias III 57 * 162 I.e. IX 149; 483; ders., Odyssee IV 174 * 163 vgl. Homer, Ilias XXIII 486 * 164 I.e. XVIII 497ff * 165 F. Hampl, Die Ilias ist kein Geschichtsbuch, 1962. In: Ders., Geschichte als kritische Wissenschaft, II 1975, S. 51 ff * 166 Kamptz 1958/82, S. 346 ff * 167 Homer, Ilias X 261 ff * 168 I.e. X 261 ff * 169 I.e. II 45; XVI 135 * 170 Zeus mit der Schicksalswaage (Ilias VIII 68ff) auf einer Vase des 13.Jhs. aus Enkomi auf Cypern: P. Dikaios, A Guide of the Cyprus Museum, Nicosia 1961, S.35f * 171 Homer, Odyssee I 153f; IV 17; VIII 44ff * 172 Strobel 1976, S.38ff * 173 Herodot II 145; Eusebios, Chron. zu 1182 v.Chr. * 174 Biegen 1964, S. 147ff * 175 E.Laroche, Catalogue des textes hittites, 1971 Nr.76 * 176 Zuerst D . D . Luckenbill, Classical Philology 6, 1911, S. 85f, der eine Übertragung des griechischen Namens in Keilschrift vermutete; Kamptz 1958/82, S.94f

10. Bedeutung

71

wäre. Der größere Zusammenhang legt es näher, daß Troja VII A nicht durch Peloponnesier zerstört worden ist, sondern durch Phryger, die von Thrakien einwanderten und das Hethiterreich zerschlugen 177 . Der Troja-Mythos hat einen historischen Kern, der sich allerdings nicht sauber herausschälen läßt 178 . 9m. Um 1100v.Chr. gab es in Hellas eine Zerstörungswelle: entweder gerieten die Fürsten untereinander in Zwist oder aber die einwandernden Dorier haben einen Palast nach dem andern erobert 179 . Die Keramik wechselt von Subhelladisch III B zu Subhelladisch III C. Ein Teil der Mykenäer wanderte aus nach Cypern 180 , wo sich submykenische Formen noch über ein halbes Jahrtausend hielten. Wir finden dort Pferde- und Streitwagengräber, Paläste (Vouni), sowie Keramik, Goldbearbeitung und Silbenschrift in mykenischer Nachfolge. Andere flohen in die arkadischen Berge (Aigyra), wo man später noch ähnlich sprach wie in Cypern. Der Rest wurde von den Doriern unterworfen, die zwar gewisse mythische und religiöse Traditionen weiterführten 181 , aber insgesamt die mykenische Kultur vernichteten. In den folgenden Dark Ages gibt es einen einzigen Fortschritt, die Verarbeitung des Eisens, die von Kleinasien ausgehend in homerischer Zeit Griechenland erreichte 182 . Sonst zeigen sich nur Rückschläge. Es verschwand die Schriftlichkeit, das Siegelwesen, die Stadtkultur, der Steinbau, das Kunsthandwerk und die in ihm erreichte Technik. All dies begann erst nach langer Pause von neuem.

10. Bedeutung 10a. Die Geschichte Europas beginnt in Kreta. Hier hat sich die erste Hochkultur auf europäischem Boden gebildet, ausgezeichnet durch Palast- und Städtebau, durch Kunst und Schrift, durch Seefahrt und Staatlichkeit. Während wir für die früheren Zeiten lediglich über materielle Hinterlassenschaften verfügen, setzt mit den Linear-B-Tafeln und dem griechischen Mythos die sprachliche Überlieferung ein, die den Übergang von der prähistorischen in die historische Zeit ausmacht. Von jetzt ab lassen sich politische Systeme und individuelle Persönlichkeiten greifen. Was immer sich hinter den Königsnamen Minos und Agamemnon verbirgt, frei erfunden sind sie kaum. 10b. Das späte zweite Jahrtausend lebt im Gedächtnis der Sage fort als das heroische Zeitalter der Griechen. Es entspricht darin der Patriarchenzeit bei den Hebräern und der Völkerwanderung in der germanischen Tradition. Die Kriege der Goten und Franken in der Spätantike gaben den Stoff für die Heldenepen, so wie der Kampf um Troja für die Gesänge Homers. Für die Griechen waren Homers Epen die Gründungsurkunden ihrer Kultur. Die Zugehörigkeit der eigenen Stadt, der eigenen Vorfahren zur Sagenwelt war ein Wesensbestandteil des historischen Selbstbewußtseins. So hat etwa der Schiffskatalog zu Beginn der Ilias aus aktuellem Anlaß spätere Zusätze bekommen 183 . Um territoriale * 177 H. Otten, Neue Quellen zum Ausklang des Hethitischen Reiches, Mitteilungen der Deutschen Orientgesellschaft 94, 1963, S. 1 ff * 178 Carlier 1984, S. 133 * 179 Ed. Meyer, GdA. II 1, S. 569 fT. D a ß durchziehende Seevölker en passant die Paläste zerstört und den nachfolgenden Doriern Raum geschaffen hätten, ist unwahrscheinlich. * 180 G.Hill, A History of Cyprus, I 1949 * 181 Tempel über den mykenischen megara in Mykene und Athen, Menelaion in Sparta * 182 Homer erwähnt neben Bronze (chalkos) auch Eisen (sideros), in der Odyssee öfter als in der Ilias * 183 Homer, Ilias II 487ff

72

II. Die kretisch-mykenische Palastkultur

Ansprüche zu stützen, hat man noch im 6. Jh. Homerverse 184 gefälscht oder sich dieses gegenseitig vorgeworfen 185 . Für uns sind die Gesänge Homers der Anfang unserer literarischen Tradition. „Noch auf den heutigen Tag haben die homerischen Gesänge die Kraft", schreibt Goethe 186 , „uns wenigstens für Augenblicke von der furchtbaren Last zu befreien, welche die Überlieferung von mehreren tausend Jahren auf uns gewälzt hat." 187 10c. Die kretisch-mykenische Kultur ist das Produkt einer Synthese aus nordischem Volkstum und orientalischem Formensinn. Wer will, kann dies im Mythos allegorisch ausgedrückt finden. Minos galt als ein Sohn von Zeus und Europa 188 . Europa war eine phönizische Königstochter aus Tyros oder Sidon 189 , sie verkörpert das asiatische Moment. Sie wurde später mit Demeter gleichgesetzt und in Kreta als Göttin verehrt. Zeus, der Himmelsgott, war eine der wenigen Gottheiten, die von den Griechen mitgebracht worden waren. Gleichwohl glaubten sie später, Zeus sei auf dem Berge Ida in Kreta von Gaia, der Erdmutter, geboren worden 190 . Die in der kretisch-mykenischen Kultur dokumentierte Begegnung zwischen Morgen- und Abendland ist ein Leitmotiv der europäischen Geschichte geblieben. lOd. Die Relevanz der kretisch-mykenischen Kultur liegt nicht nur darin, daß sie den Anfang der europäischen Geschichte darstellt, sondern ebenfalls in den Umständen ihres Erlöschens. Die hoch entwickelte minoische Zivilisation ist den mykenischen Kriegern zum Opfer gefallen; deren eigene, von Kreta inspirierte Kultur ging unter, entweder unmittelbar vor oder in der dorischen Einwanderung. Das Defensivpotential der Zyklopenmauern überstieg die Kraft der Angriffswaffen um ein Vielfaches; und trotzdem konnte es die Fortdauer der Kultur nicht gewährleisten. Um 1200 v.Chr. ist es aus mit ihr. lOe. Damit haben wir hier ein erstes Beispiel dafür, wie hochentwickelte Systeme von Barbaren vernichtet werden können. Das Ende des römischen Reiches durch die Germanen, des persischen Reiches durch die Araber, des byzantinischen Reiches durch die Türken sind spätere Fälle, vielleicht nicht die letzten, in denen die Barbarei über die Kultur triumphiert.

* 184 I.e. II 557f * 185 Aristoteles, Rhet. I 15,13; Strabon IX 1,10 * 186 Goethe 49, S. 111 * 187 Wohlleben 1990 * 188 Homer, Ilias XIV 321 * 189 Apollodor III 2 - 5 * 190 Diodor V 70

Literatur zu II

73

Literatur zu II Forschungen zu Kreta und Mykene bringen die Publikationen des >Istituto per gli studi Micenei ed Egeo-Anatolici< zu R o m (>Incunabula GraecaStudi MiceneiKadmos< und >MinosKyropädieAvesta< vereinigt die heiligen Schriften, doch wurde es erst um 300 n. Chr. kanonisiert 363 . Ahuramazda, der „Herr der Weisheit", war für die Perser der Schöpfer der Welt und die Verkörperung des Guten. Als Herr des Himmels wurde er mit dem griechischen Zeus gleichgesetzt364. Er stand in dauerndem Kampf mit dem Bösen, mit Ahriman, der am Ende der Zeiten überwunden werden sollte365. Daneben und darunter gab es eine Mehrzahl von - zumeist regional verehrten - Göttern und Geistern, insbesondere Anahita (Athena) und Mithra (Helios). Eine besondere Bedeutung im Kult besaß das heilige Feuer, zumal das „Königsfeuer" 366. Die Gottesverehrung war bildlos 367 . 9b. Gegen Entartungserscheinungen der persischen Religion wandte sich (um 600 ?) der Prophet Zoroaster, so sein griechischer Name, lateinisch: Zarathustra 368 . Er lebte in Nordost-Iran. Ob seine in den Gathas (Hymnen) des >Avesta< erhaltene Lehre 369 die Großkönige erreicht hat, ist unklar 370 . Dagegen spechen die Sarkophag-Bestattungen, dafür die unblutigen Staatsopfer, die aus Gerste bestanden. Sicher waren später die Sassaniden Zoroastrier 371 . Die Kosmologie Zarathustras unterschied drei Weltalter. Die erste Zeit der Schöpfung stand unter dem Zeichen des Guten, die zweite Zeit der Mischung erfüllt der Kampf zwischen Gut und Böse. Es folgt das Jüngste Gericht und die dritte Zeit der Trennung von Gut und Böse. Ein Heiland, der Saoschyant, bringt die Verklärung 372 . Bei Griechen und Römern war Zarathustra eine Sagenfigur. Er soll schon am Tag seiner Geburt gelacht haben, zwanzig Jahre ohne zu altern von Käse gelebt, zwei Millionen Verse geschrieben und Saatzeitvorschriften verfaßt haben. Seine Lebenszeit wird auf 5000 Jahre vor dem trojanischen Krieg angegeben 373 . Er steht hinter dem Sarastro von Mozarts »Zauberflöte«. 9c. Die persische Priesterschaft der Magier (magoi) wird als Stamm der Meder beschrieben 374 . Ähnlich wie bei den jüdischen Leviten 375 verbindet sich hier ein ethnisches mit einem sakralen Element. Die Magier setzten ihre Toten aus 376 und opferten Menschen 377 . Als Sternkundige begegnen sie uns in den Weisen aus dem Morgenlande in der Weihnachtsgeschichte 378 . Erst die christliche Legende des Mittelalters hat daraus die

* 359 H e r o d o t III 135 * 360 H e r o d o t IV 43 f * 361 Kent 1953, S. 147, irrig Strabon XVII 1, 25 * 362 C. Clemen, Fontes historiae religionis Persicae, 1920 * 363 s.u. XVII 8! * 364 S t r a b o n XV 3,13f * 365 Plutarch, M o r . 370 A B * 366 X e n o p h o n , Cyr. VIII 3; D i o d o r XVII 1 1 4 , 4 * 367 H e r o d o t I 131 ; Strabon XV 3,13f * 368 Der N a m e bedeutet „ D e r mit den gelben Kamelen": W. Eilers in: C o m m é m o r a t i o n Cyrus, III 1974, S . 3 * 369 Boyce 1975/82 * 370 d a f ü r Boyce, dagegen Sancisi-Weerdenburg * 371 Widengren 1965, S. 154f; s.u. XVII 8! * 372 Boyce I 1975, S. 229ff * 373 Plinius, Nat. hist. VII 15; XI 97/242; XVIII 55; X X X 2/2ff * 374 AT. Jeremia 39, 3; H e r o d o t I 140 * 375 s.o. III 7 c! * 376 Strabon XV 3,20 * 377 H e r o d o t VII 114 * 378 N T . Matthäus-Evangelium 2

130

IV. Das Perserreich der Achaimeniden

heiligen drei Könige gemacht. Schon die Griechen haben die Magier mit Magie, Zauberei, verknüpft, historisch zu Unrecht. Zugang zu ihren Lehren erhielten Nichtperser nur durch Genehmigung des Großkönigs 379 . Die altpersische Feuerreligion hat sich bei den Parsen in Indien, besonders in Bombay, bis in die Gegenwart erhalten. 9d. Die frühen Achaimeniden haben religiöse Toleranz beobachtet. Kyros hat sich in Babylon unter den Schutz des Marduk gestellt und rühmt in seinem »Kyros-Zylinder« die Bautätigkeit für diesen und alle anderen Götter 380 . Anders als zuvor mußten die reichen babylonischen Tempel allerdings Steuern zahlen. 538 gestattete Kyros den Juden die Heimkehr. Der Erlaß ist im Buch Esra überliefert, in einer kürzeren aramäischen Fassung 381 und einer längeren hebräischen 382 . Erstere soll aus dem Palastarchiv von Ekbatana stammen und lautet: „Im 1. Jahr des Königs Kyros. König Kyros befiehlt, das Gotteshaus zu Jerusalem möge wieder aufgebaut werden als eine Schlachtopfer-Stätte. Höhe und Breite sollen 60 Ellen betragen. Darunter sind drei Schichten von Quadersteinen, darüber eine Decke von Holzbalken zu legen. Die Kosten bestreitet der königliche Hof. Auch soll man die goldenen und silbernen Geräte zurückgeben, die Nebukadnezar aus dem Tempel zu Jerusalem weggenommen und nach Babylon gebracht hat." Der Satrap von Syrien erhob Einspruch, aber Dareios vollendete den Auftrag im Jahre 515. Die Ausführung lag beim Hohenpriester Josua und beim persischen Statthalter Serubabel (Zerubabel). Er war vermutlich ein in Babylon geborener Jude, möglicherweise aus der Familie Davids. Mit ihm verbanden die Propheten Haggai 383 und Sacharja 384 messianische Hoffnungen. Ebenso kümmerten sich die Großkönige um den Kult in Ägypten; als Nachfolger der Pharaonen ernannten sie auf Vorschlag des Satrapen die Priester 385 . 9e. Zu den Zeugnissen für Toleranz gehört das Opfer, das die Feldherren des Dareios 490 dem Apollon von Delos brachten 386 , die Stiftung nach Ephesos 387 und die Schonung Delphis durch Mardonios 388 , während umgekehrt der Spartanerkönig Agesilaos in persischen Heiligtümern opferte 389 . Ob Kambyses den ägyptischen Apis-Stier getötet hat, wie Herodot 390 berichtet, ist sehr fraglich 391 . Xerxes bezeugte einer heiligen Platane in Lydien seine Verehrung 392 . Wenn er das Branchidenorakel von Didyma 393 , dem Dareios Asylrecht verliehen hatte 394 , und die Akropolis von Athen 395 zerstört hat, so sollten damit Empörer gestraft und die Niederbrennung des Artemis-Tempels von Sardes396 gerächt werden. Xerxes plünderte jedoch den Tempel von Babylon und berichtet: „Wo früher die Götzen verehrt worden waren, da verehrte ich Ahuramazda in der richtigen Weise"397.

10. Ende und Ausblick 10a. Die „Epoche der Achaemeniden" bildet nach Mommsen 398 den „Höhepunkt der Herrlichkeit Irans". Aber er währte nur kurz. Wie die meisten Monarchien des Altertums, * 379 Philostratos, Vitae soph., 484 * 380 Berger 1975 * 381 AT. Esra 6,3-5; Eilers 1971 * 382 AT. Esra 1,2-4 * 383 AT. Aggäus (Haggai) 2,20 ff * 384 AT. Zacharias (Sacharja) 9 ff * 385 Spiegelberg 1928 * 386 Herodot VI 97 * 387 Strabon XIV 1, 22 * 388 Herodot IX 42 * 389 Xenophon, Ages. XI 1 * 390 Herodot III 29 * 391 Frye 1984, S. 97 * 392 Aelian, Var. hist. II 14 * 393 Strabon XIV 1,5 * 394 Herodot I 46; Tacitus, Ann. III 63 * 395 Herodot VIII 53 * 396 Herodot V 102 * 397 Kent 1953, S. 151; Mayrhofer 1979, S. 171; Herodot I 183; Arrian III 16,4; VII 17 zu Babylon * 398 Mommsen, Rom. Gesch. V 340

10. Ende und Ausblick

131

so ist auch die persische nach längerer innerer Dekadenz durch äußeren Anstoß zugrundegegangen. Xenophon 399 beschreibt sie: Allenthalben Mangel an Zucht und Leistung, überall Gewalt und Genuß. Statt der Krieger wimmelte es von Türhütern, Bäckern, Köchen, Mundschenken, Badedienern, Tafelsklaven, Schminkdienern usw. Piaton 400 betont vor allem die Vernachlässigung der Erziehung am Hofe und das zunehmend despotische Gebaren gegenüber den eigenen Völkern. Vom üppigen Leben der Perser erzählte man in Ägypten wie in Persien 401 . Der letzte Dareios hatte angeblich nur Lebensgenuß im Sinn402. Er setzte einen Preis aus für den Erfinder einer neuen Lust 403 . „Wenn eine Geschichte der Welt", schrieb Herder 179 1 404, „uns mit großen Buchstaben sagt, daß Ungebundenheit sich selbst verderbe ..., so sagts die Persische Geschichte". 10b. Die Eroberung Alexanders hat dem Perserreich ein Ende gesetzt. Nur in Kappadokien hielt sich ein Seitenzweig der Achaimeniden 405 . Die ungeheure Größe der Heere, die Dareios Kodomannos gegen Alexander zusammengebracht hat 406 , und die märchenhaften Goldschätze, die in den Residenzen angehäuft waren, konnten das Reich nicht retten. Es litt an Strukturproblemen, die kaum zu meistern waren. Der Vorgänger des letzten Achaimeniden, Artaxerxes III Ochos, hatte Rebellionen niederzuwerfen. Am stärksten opponierten: Babylonien, Ägypten und Kleinasien. Diese drei Aufstandsherde zeichnen sich aus durch politische Traditionen, durch Reichtum und durch kulturelles Niveau. Um das große Reich zu halten, dafür fehlte es den Persern an Menschen, insbesondere an Intelligenz. Insofern befanden sie sich in einer weniger günstigen Lage als spätere reichsbildende Völker, wie Griechen, Römer und Germanen. Treffend wiederum Herder 407 zum Perserreich: „Seine Wurzel war so klein, seine Äste dagegen waren so groß, daß es notwendig zu Boden stürzen mußte." 10c. Es ist gestürzt, wurde aber wieder aufgerichtet: in hellenistischem Stil durch die Parther, in iranischem Geist von den Sassaniden, im Zeichen Mohammeds mit den Arabern. Alle späteren Dynastien Irans haben sich das achaimenidische Erbe zu eigen gemacht, bis hin zu Mohammed Reza Schah Pahlewi. Es steht zu erwarten, daß die durch den Sturz des Schah in den Hintergrund gedrängte Achaimenidentradition irgendwann wieder hervortritt. lOd. Diese genetische Relevanz beschränkt sich freilich nicht auf den vorderasiatischen Raum. Altpersische Einrichtungen sind übernommen worden von Alexander und den hellenistischen Herrschern, sind eingeflossen ins Imperium Romanum und damit in die Monarchien des europäischen Mittelalters. Fast alle repräsentativen und ideologischen Elemente des späteren Königtums lassen sich auf persische Vorbilder zurückführen. Der Achaimenidenstaat ist die Brücke des Alten Orients nach Europa. In diesem Sinne hatte Hegel408 Recht: „Das Prinzip der Entwicklung beginnt mit der Geschichte Persiens, und darum macht diese den eigentlichen Anfang der Weltgeschichte. " lOe. Das Perserreich bildet jene politische Großraumorganisation, mit der die altorientalische Geschichte abschließt. Hier können wir bereits im Kern alle Probleme studieren, mit denen spätere Vielvölkerstaaten zu ringen hatten. Das Achaimenidenreich beruhte auf der Herrschaft eines Hauses. Als sie zerbrach, folgte eine Zeit der * 399 Xenophon, Cyr. VIII 8; ders., Hell. VII 1 * 400 Piaton, Gesetze 694 D ff * 401 Aelian, Var. hist. V 1 * 402 anders: Nylander in: J. Carlsen (Hg.), Alexander the Great, 1993, S. 145ff * 403 Athenaios 144 EF; 539 B * 404 Herder, Ideen XII 2 * 405 Diodor XXXI 19f * 406 Arrian III 8 * 407 Herder, Ideen XII 2 * 408 Hegel, 1831/1961, S.256

132

IV. Das Perserreich der Achaimeniden

kämpfenden Staaten, bis die antike Geschichte wiederum in einem Großraumsystem endete, dem römischen Imperium. Es war auf der Herrschaft eines Rechtswesens aufgebaut. Als auch dies zerfiel, folgte abermals eine Zeit der Völkerkriege, an deren Ausgang wir heute stehen. Die künftige Großraumgestaltung könnte der Weltstaat sein, der sich auf die Herrschaft des Geldes stützen dürfte. Ob das einen Fortschritt darstellt, bleibt abzuwarten.

Literatur zu IV

133

Literatur zu IV Als Nachschlagewerke dienen das »Reallexikon der Assyriologie« (1928 fi) und die »Encyclopaedia Iranica« (1985 ff)- Neuere Forschungen bieten die »Archäologischen Mitteilungen aus Iran« (AMI), die »Zeitschrift für Assyriologie«, »Iranica Antiqua«, »Acta Iranica«, »Persica« und »Journal of Near Eastern Studies« (JNES). Balcer, J. M„ Herodotus and Bisitun, 1987 Benveniste, E., Relations lexicales entre la Perse et la Grèce ancienne. In: La Persia e il mondo grecoromano 1966 (Tagungsband Rom, Accademia dei Lincei) Berger, P. R., Der Kyros-Zylinder etc. , Zeitschrift für Assyriologie 64, 1975, S. 192ff Boyce, Mary, A History of Zoroastrianism, I/II, 1975/82 Briant, P., Rois, Tributs et Paysans, 1982 Burn, A. R., Persia and the Greeks, 1962 Calmeyer, P., Zur bedingten Göttlichkeit des Großkönigs, AMI. 14, 1981, S. 55 ff Calmeyer, P., Die statistische Landcharte des Perserreiches I, AMI. 15, 1982, S. 105 ff; II AMI. 16, 1983, S. 141 ff The Cambridge History of Iran, 1968 ff Cameron, G. G., Persepolis Treasury Tablets, 1948 Commémoration Cyrus. Actes du Congrès de Shiraz 1971, I-III 1974 Cook, J. M., The Persian Empire, 1983 Dandamaev, M. A., A Political History of the Achaemenid Empire, 1989 Dandamaev, M. A., Iranians in Achaemenid Babylonia, 1992 Demandi, A., Studien zur Kaaba -i- Zerdoscht, Archäologischer Anzeiger 1968, S. 520 ff Demandi, A., Die Ohren des falschen Smerdis, Iranica Antiqua 9, 1972, S.94ff

Driver, G. R., Aramaic Documents of the Fifth Century B.C., 1954 Eilers, W., Der Keilschrift-Text des Kyros-Zylinders. In: Ders. (Hg.), Festgabe deutscher Iranisten zur 2500 Jahrfeier Irans, 1971, 156 ff Fauth, W., Der königliche Gärtner und Jäger im Paradeisos, Persica 8, 1979 S. 1 - 5 4 Frye, R. N., The History of Ancient Iran, 1984 Gillis, D„ Collaboration with the Persians, 1979 Greßmann, H., Altorientalische Texte und Bilder zum Alten Testament, 1926 Guyot, P., Eunuchen als Sklaven und Freigelassene in der griechisch-römischen Antike, 1980 Harper, P. O. (et alii), The Royal City of Susa, 1992 Hennig, W. B., The Murder of the Magi, Journal of the Royal Asiatic Society 1944, S. 133 ff Hinz, IV., Achämenidische Hofverwaltung, Zeitschrift für Assyriologie 61, 1971, S.260ff Hinz, W„ Neue Wege im Altpersischen, 1973 Hofstetter, J., Griechen in Persien, 1978 Hornblower, S., Mausolus, 1982 Hrouda, B., Mesopotamien, Babylonien, Iran und Anatolien. 1971 Humbach, H., Die Gathas des Zarathustra, I/II 1959 Junge, P. J., Hazarapatis, Klio 33, 1940, S. 13 ff

134 Kent, R. G., Old Persian, 1953 (Inschriften-Sammlung mit englischer Übersetzung) Koch, Heidemarie, Steuern in der achämenidischen Persis? Zeitschrift für Assyriologie 70, 1980 S. 105 ff Koch, Heidemarie + D. N. MacKenzie, (Hgg.), Kunst, Kultur und Geschichte der Achaimenidenzeit und ihr Fortleben, 1983 Koch, Heidemarie, Die achämenidische Poststraße von Persepolis nach Susa, AMI. NF. 19, 1986, S. 133ff Koch, Heidemarie, Persien zur Zeit des Dareios, Kl. Sehr, aus dem vorgesch. Seminar der Philipps-Universität Marburg, 25, 1988 Mayrhofer, M., Alltagsleben und Verwaltung in Persepolis, 1972 Mayrhofer, M., Ausgewählte kleine Schriften, 1979 Metzger, H. (ed.), Fouilles de Xanthos VI, 1979 (Zur Pixodaros-Inschrift) Nöldeke, Th., Aufsätze zur persischen Geschichte, 1887 N y ¡ander, C., Jonians in Pasargadae, 1970 Olmstead, A. T., History of the Persian Empire, 1948 Porten, B., Archives from Elephantine, 1968 v. Prasek, J., Geschichte der Meder und Perser bis zur makedonischen Eroberung, 1906 Sancisi- Weerdenburg, Heleen, Political Concepts in Old Persian Royal Inscriptions, In: K. Raaflaub (Hg.), Anfänge des politischen Denkens in der Antike, 1993, S. 145 ff Sancisi-Weerdenburg, Heleen + Kuhrt, Amélie (Hgg.), Achaemenid History, I-VIII 1986 ff

IV. Das Perserreich der Achaimeniden v. Sachsen-Meiningen, Feodora, Proskynesis in Iran. In: F. Altheim (Hg.), Geschichte der Hunnen, II 1960 S. 125 ff Schmidt, Erich F., Persepolis I 1953; II 1957; III 1970 Seibt, G. F., Griechische Söldner im Achaimenidenreich, 1977 Spiegelberg, W., Drei demotische Schreiben aus der Korrespondenz des Pherendates, Sitzungsberichte der Akademie Berlin 1928, S.604ff Stronach, D., Pasargadae, 1978 Szemerenyi, O., Iranica V, in: Acta Iranica 5, 1975 (S. 375ff. zum hazarapatis) Trümpelmann, L., Ein Weltwunder der Antike, Persepolis, 1988 Trümpelmann, L., Zwischen Persepolis und Firuzabad. Gräber, Paläste und Felsreliefs im alten Persien, 1992 Walser, G. (Hg.), Beiträge zur Achämenidengeschichte, 1972 Walser, G., Hellas und Iran, 1984 Widengren, G., Die Religionen Irans, 1965 Widengren, G., Der Feudalismus im alten Iran, 1969 Wiesehöf er, J., Der Aufstand Gaumatas und die Anfänge Dareios' I. , 1978 Wiesehöf er, J., Die dunklen Jahrhunderte der Persis. Untersuchungen zu Geschichte und Kultur der Färs in frühhellenistischer Zeit (330-140 v. Chr.), 1993 Wiesehöfer, J., Das antike Persien, 1994

V. Das spartanische Doppelkönigtum

137 1. Begriff a. b. c.

modern antik Bedeutung

c. G e r o n t e n d. Wahl e. Aufgaben f. Ephoren g. F u n k t i o n e n seit Chilon

2. Quellen a. Literarische Quellen b. Archäologische Quellen c. Idealtyp

3. Geschichte a. b. c. d. e. f. g.

Dorische L a n d n a h m e Phylen Kreta Eisenverarbeitung Tarent Messenische Kriege Peloponnesischer Bund, Perserkriege h. Peloponnesischer Krieg

4. Gesellschaft a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k. 1.

Ritter, agathoergoi Spartiaten Landlose Periöken Amyklai Sklaven und Heloten ihre Stellung ihre Abgaben Kriegsdienst, N e o d a m o d e n krypteia Demütigungen Aufstände

5. Könige a. Lykurg b. R h e t r a c. Mischverfassung d. Könige e. Insignien f. F u n k t i o n e n g. Religiöse Aufgaben h. K r o n g ü t e r i. Absetzbarkeit j. Konstitutionelle M o n a r c h i e

7. Lebensweise a. b. c. d. e. f.

Dienst Syssitien Luxusverbot Eisengeld Goldverbot Kommunismus

8. Kriegszucht a. Gymnastik b. Kriegsführung c. Feigheit d. Heldentod e. P h o b o s und Nike f. Auszeichnungen g. Xenophobie h. Söldner

9. Erziehung a. Staatsaufsicht b. Altersklassen c. H a a r t r a c h t d. Homosexualität e. Schule f. Musik, Tyrtaios g. Geißelungen h. Einbürgerung i. Frauen j. Ehe k. Säuglinge

10. Ende und Ausblick a. b. c. d. e. f. g. h. i.

Epaminondas Dekadenz Edelmetall Reformversuche Tyrannen Römer Mittelalter Bewunderer Tadler

6. Institutionen a. „Apella" b. Gerusia

Literatur zu V

139

Diese Lazedämonier starben, nicht Tod, nicht Leben für Ehre achtend, sondern Tod und Leben mit Ehre bekrönt zu haben. Beethoven 1816

1. Begriff la. Für das Staatswesen des antiken Sparta 1 gibt es keinen eingeführten Begriff. Zunächst handelt es sich im weitesten Sinne um eine Polis, doch unterscheidet sich Sparta schon äußerlich von anderen griechischen Städten darin, daß wir in der frühen und hohen Zeit keine Burg in der Mitte, keine Stadtmauer rundherum, keine Steinhäuser und kein Straßengitter vorfinden, sondern statt dessen erst vier dann fünf benachbarte Dörfer im Eurotas-Tal ohne Verbindung zur See2. Insofern stellt Sparta auch äußerlich einen Sonderfall der griechischen Polis dar, den Xenophon für innere Einrichtungen bezeugt: Spartas Staatswesen sei gänzlich anders als das der meisten anderen Griechen 3 . Ib. Die Spartaner haben ihre Stadt offiziell Lakedaimön genannt 4 , der Name ist vorgriechisch und begegnet bereits bei Homer gleichbedeutend neben dem Namen Sparta5. Die Staatsform hieß kosmos6, was Ordnung, Staats- und Lebensordnung bedeutet, und nicht eigentlich auf die besondere Staatsform abhebt. Die übrigen Griechen sprachen einfach von hoi Lakedaimonioi, den Männern aus Lakedaimön, so wie der Staat der Athener einfach hoi Athenaioi genannt wurde. Hier dürften noch Erinnerungen an die Wanderzeit andauern, die den Staat nur auf das Personalprinzip, nicht auf das Territorialprinzip gründeten. Wer heute das spartanische System kennzeichnen will, könnte vom Krieger- oder Lagerstaat 7 Sparta sprechen, oder neutraler vom „Doppelkönigtum". Letzteres empfiehlt sich mit Rücksicht auf die Einmaligkeit dieser Institution: eine kollegiale Monarchie ist als Dauereinrichtung im Altertum sonst unbekannt 8 . lc. Unter den Zeitgenossen hat Sparta das höchste Ansehen genossen. Wenn wir heute Athen den ersten Rang einräumen, so lassen wir uns durch die demokratischen Institutionen und die kulturellen Leistungen beeindrucken, namentlich durch die Bauten, die Perikles zu eben diesem Zwecke errichten ließ9. Thukydides vermerkte hingegen, daß dann, wenn Sparta verödet sein werde und bloß noch wenige Tempelruinen übrig wären, niemand die Vormachtstellung dieser Stadt vermuten würde 10 . Daß Sparta tatsächlich das höhere * 1 Burckhardt, GK. I, S. 91 ff; Busolt + Swoboda 1926, S. 633 ff; Ehrenberg 1924; Jones 1967; Clauss 1983; Christ 1986; Powell 1989; Link 1994 * 2 Der Hafen Gytheion (Pausanias III 21,6ff) war nur über eine Bergstraße erreichbar * 3 Xenophon, Lac. 1,2; ders., Mem. IV 4,15 * 4 Thukydides V 18,10 * 5 Strabon X 1,4 * 6 Herodot I 65,4 * 7 stratopedon: Piaton, Gesetze 666 E; Isokrates VI 81 * 8 zum „dioskurischen Doppelkönigtum" bei den Germanen s.u. XVIII 6 c! * 9 Plutarch, Per. 12 * 10 Thukydides I 10

140

V. Das spartanische Doppelkönigtum

Ansehen genoß, bezeugt Herodot f ü r Kroisos 11 , und für die hellenische Symmachie in den Perserkriegen 12 , Alkibiades für die Griechen seiner Zeit 13 und Xenophon für die Jahre nach dem Peloponnesischen Kriege 14 . Sparta wurde um Hilfe angegangen, sobald irgendeine griechische Stadt sich durch die Nachbarn verletzt fühlte 15 . Strabon und Livius wiederholen dies aus der Perspektive der Römerzeit 16 .

2. Quellen 2a. Die Quellenlage für Sparta ist wesentlich schlechter als für Athen. Unter den wenigen spartanischen Autoren ist nur der Dichter Tyrtaios 17 für das Staatsleben bedeutsam. Tyrtaios lebte um 640, stammte aus Lakonien oder aus Milet 18 , wurde aber von der attischen Überlieferung für einen gebürtigen Athener ausgegeben 19 . Was Piaton 2 0 vor Augen hatte, als er von den Schriften Lykurgs sprach, ist unklar. Ein rätselhaftes Dokument ist die Große Rhetra, eine Art Grundgesetz, von Plutarch in seiner Lykurg-Vita überliefert, die viele legendäre Elemente enthält. Wichtig sind die ebenfalls von Plutarch verfaßten Lebensbeschreibungen von Lysandros, Agesilaos, Agis und Kleomenes. Dazu kommen drei Anekdotensammlungen Plutarchs: über die Sitten 21 , die Männer 2 2 und die Frauen Spartas 23 . Sowohl Herodot als auch Thukydides überliefern wertvolle Nachrichten zur spartanischen Verfassung; Xenophon, der lange im Dienste Spartas gestanden hat, schrieb eine Kurzbiographie von Agesilaos und einen Abriß über den Staat der Lakedaimonier. Weniger ergiebig sind die lateinischen Lebensabrisse von Pausanias, Lysander und Agesilaos bei Cornelius Nepos. Reich an topographischen und historischen Details ist der kaiserzeitliche Reiseführer des Pausanias über Lakonien 2 4 und Messenien 25 . Für die messenischen Kriege ist er unsere Hauptquelle. Verloren sind gleichfalls die Verfassungsbeschreibungen von Aristoteles 26 und seinem Schüler Dikaiarch, welch letztere jährlich im Amtslokal der Ephoren der Jungmannschaft vorgelesen wurde 27 . 2b. Ebenfalls enttäuschend sind die archäologischen, epigraphischen und numismatischen 28 Dokumente. Eindrucksvolle Reste sind vom Menelaion und vom Heiligtum der Artemis Orthia gefunden worden. Die meisten Relikte gehören der hellenistisch-römischen Zeit an. 2c. Die Verfassung Spartas hat früh Bewunderer gefunden. Kritias, der Onkel Piatons, rühmte den spartanischen Kosmos in Prosa und Versen 29 . Xenophon und Piaton huldigten dem Lakönismos20. Sokrates, der Lehrer der drei, nennt die Spartaner besonnen, ordentlich, behende, genügsam, großmütig, diszipliniert, mutig, ausdauernd, tatkräftig, strebsam und

* 11 Herodot I 56; 68 f * 12 Herodot VIII 2 * 1 3 Thukydides VI 92,5; VIII 2,4 * 14 Xenophon, Lac. 1,1; ders., Hell. III 1,3; IV 1,8; ders., Anab. VI 6,9 und 12; VII 1,30 * 15 Xenophon, Lac. 14,6 * 16 Strabon VIII 5,5; Livius X X X I X 37,5: principes Graeciae * 17 griechisch und deutsch von Z.Franyo + P . G a n , Frühgriechische Lyriker, 1981, S. 16ff. Griechischer Text mit italienischem Kommentar von C. Prato 1968 * 18 Suidas, Tau 1205 * 19 Piaton, Gesetze 629 A; Strabon VIII 4,10 * 20 Piaton, Gesetze 858 E * 21 Plutarch, Instituta Laconica, in: ders., Mor. 236 F ff * 22 Plutarch, Apophthegmata Laconica, in: ders., Mor. 208 A ff * 23 Plutarch, Lacaenarum Apophthegmata, in: ders., Mor. 240 C ff * 24 Pausanias III * 25 Pausanias IV * 26 Diogenes Laertios V 27 * 27 Suidas, Delta 1062 * 28 Für die Spätzeit: Grünauer - v. Hoerschelmann, 1978 * 29 VS. 88 B 6ff; B 32ff * 30 Xenoph., Hell. IV 4, 14

3. Geschichte

141

ehrgeizig31. Es ist offensichtlich, daß unsere Quellen das Bild von Sparta stilisieren, daß der politische Alltag am Eurotas sehr viel normaler war, als uns die Überlieferung glauben machen will32. Dennoch soll im folgenden der tradierte Idealtyp der spartanischen Verfassung wiedergegeben werden, denn er ist es gewesen, der Mit- und Nachwelt beeindruckt hat.

3. Geschichte 3a. Die historische Voraussetzung für den spartanischen Staat bildet die dorische Landnahme 33 , die zweite große Einwanderung aus dem östlichen Europa in den Mittelmeerraum in der Zeit nach 1200 v. Chr. Während die Italiker über die Adria nach Italien eindrangen 34 , die Phryger über den Bosporus nach Kleinasien hinübergingen 35 und das Hethiter-Reich zerstörten 36 , die Arier über den Kaukasus nach Persien und Indien vorstießen 37 und die Seevölker mit den Philistern bis nach Ägypten zogen 38 , wanderten die später so genannten Aioler, sodann die Dorier durch Nordgriechenland 39 nach Thessalien, Böotien und in die Peloponnes. Die mykenischen und aiolischen Griechen wurden auf den Westen beschränkt, auf die Landschaften Messenien, Arkadien, Elis und Achaia. Aber auch hier setzte sich später der dorische Dialekt durch 40 . 3b. Die Dorier müssen vor ihrer Wanderung eine politische Einheit gebildet haben, denn die schon Homer 41 bekannten drei Phylen (Stämme) der Hylleer, Dymanen und Pamphyler begegnen uns nicht nur in Sparta, sondern auch in anderen dorischen Gemeinden. In der spartanischen Heeresgliederung erscheinen sie bis ins späte 7. Jh. 42 . Korinth und Argos, sowie Sparta, wo nach Homer 43 Menelaos und Helena gewohnt hatten, wurden dorisch. Eine mythische Rechtfertigung der dorischen Landnahme liefert die Sage von der Rückkehr der Herakliden 44 , nach der Weltchronik von Eusebios im Jahre 1098 v.Chr. 3c. Dorische Scharen gingen dann von der Peloponnes aus auf die Inseln Kythera, Thera und Melos, nach Kos und Rhodos und auf das gegenüberliegende kleinasiatische Festland, wo die dorische Hexapolis entstand, ein Kultbund um den Zeus von Triopion. Die wichtigsten Städte waren Knidos und Halikarnassos 45 . Von Thera aus wurde um 630 Kyrene gegründet, wo Könige aus dem Hause des Battos regierten 46 . Dorisch wurde auch Kreta, dessen Verfassung der spartanischen so ähnlich war, daß man stritt, wer wen nachgeahmt habe 47 . 3d. Mit der dorischen Einwanderung verschwand die kretisch-mykenische Kultur, das zivilisatorische Niveau sank. Allerdings vollzog sich in jener Zeit der Übergang von der Bronze- zur Eisenverarbeitung. Man darf sich dies nicht so vorstellen, als ob die Dorier mit Eisenwaffen gegen die bronzebewehrten Achäer angetreten wären. Vielmehr ist die Verbreitung des Eisens ein sehr langsamer Vorgang. U m 2500 v. Chr. findet sich in * 31 Piaton, Alk. 122 C * 32 Tigerstedt 1965/74; Clauss 1983 * 33 Zur Diskussion über deren Problematik: Lehmann 1985 * 34 s.u. XIII 3 a! * 35 s.o. II 6 a, 9 1!* 36 s.o. II 9 m!* 37 s.o. I V i a . ' * 38 s.o. III 3 c! * 39 B. Hansel, Wanderungen in Südeuropa etc., Iiiria 15,2 1985, S.223fT * 40 Strabon VIII 1,2 * 41 Homer, Odyssee XIX 177 * 42 Tyrtaios, fr. 1 * 43 Homer, Odyssee II 359; IV 1 ff * 44 Apollodor II 169ff * 45 Herodot I 144 * 46 Herodot IV 145fT * 47 Aristoteles, Politik 1269 a 25; 1271 a 20; Strabon X 4,17; Pausanias III 2,4

142

V. Das spartanische Doppelkönigtum

kleinsten Mengen Schmiedeeisen in Ägypten, um 1700 erscheint es in den Gesetzen Hammurabis. Zwischen 1400 und 1200 setzt sich die Eisentechnik bei den Hethitern in Kleinasien durch, von ihnen verbreitet sie sich in die Ägäis, ja ins mykenische Kreta. Homer nennt die Bronze noch sehr viel häufiger als das Eisen, zumal in der älteren Ilias. Lakonien besaß Eisenerzgruben 48 , die bis in die Neuzeit ausgebeutet wurden 49 . 3e. Die äußere Geschichte Spartas ist geprägt durch das Bestreben, eine Landmacht auf der Peloponnes aufzubauen. Dem diente die Aufnahme verschiedener Gruppen von Zuwanderern in den spartanischen Kosmos 50 . Übersee blieb uninteressant. Während die übrigen griechischen Städte die Küsten des Mittelmeeres besetzten, gründeten die Spartaner nur Thera 51 und Tarent in Unteritalien, um 700 besiedelt von den Partheniern, den Jungfrauen-Kindern, die aus der Verbindung der spartanischen Sklaven mit den Frauen ihrer Herren hervorgegangen waren, als diese jahrelang im Krieg gegen Messenien standen 52 . 3f. Im übrigen verbrauchten die Spartaner ihren Geburtenüberschuß in den Kämpfen gegen ihre Nachbarn. Seit der Mitte des 8. Jhs. herrschte Kriegszustand, so gegen Argos, gegen Tegea, gegen Arkadien und vor allem gegen Messenien 53 . In den beiden ersten messenischen Kriegen während des späten 8. und des 7. Jhs. wurde diese reiche Landschaft nach einem letzten, neunzehnjährigen Kampf um die Festung Ithome erobert 54 . Damals entwickelte sich der spartanische Kosmos, dessen militärische Überlegenheit auf der geschlossenen Schlachtreihe schwerbewaffneter Fußkämpfer, auf der Hoplitenphalanx beruhte 55 . Der dritte messenische Krieg wurde durch das Erdbeben von 464 ausgelöst. Sparta verlor viele Krieger, die Messenier wurden geschlagen 56 . Ein Teil wanderte aus und gründete die Stadt Messina auf Sizilien57. 3g. Im 6. Jh. entstand der Peloponnesische Bund 58 , eine hegemoniale Symmachie 59 , deren Mitglieder 60 zwar keine Steuern an Sparta zahlten 61 , aber Spartas Führung im Kriege anerkannten, sobald ein Beschluß zum Kriege mit Mehrheit gefaßt war. Das Recht der Mitglieder, einzeln Kriege zu führen, auch gegeneinander, war dadurch nicht berührt. Doch in den Perserkriegen bewährte sich die Kampfgemeinschaft. Der Heldentod des Spartanerkönigs Leonidas in den Thermopylen 48062 und der Sieg, den der Vormund und Vetter seines Sohnes, Pausanias, 479 bei Plataiai 63 errang, bilden den Abschluß der großen Zeit Spartas. 3h. Es folgt der Aufstieg Athens, dessen kulturelle Führung auch durch den Sieg Spartas im Peloponnesischen Krieg 404 nicht beendet wurde. Athen förderte die Demokratien, Sparta die Oligarchien 64 und legte in mehrere griechische Städte Besatzungen unter Harmosten 65 , doch hat diese Großmachtpolitik die innere Ordnung untergraben. Nach der Angliederung von Theben und Olynth 380 v. Chr. war Sparta die stärkste Macht zu Land und See66. Mit der Niederlage gegen Theben 371 bei Leuktra beginnt der Abstieg Spartas 67 . * 48 Stephanus von Byzanz, S.408 (Meineke) nach Daimachos. * 49 Curtius 1852, S. 206 * 50 Herodot IV 145; Strabon VIII 5,4; 6,11 * 51 Herodot IV 147ff * 52 Aristoteles, Politik 1306 b 30; Strabon VI 3,2 f; Justin III 4,5 ff * 53 Pausanias IV * 54 Strabon VI 3,3 * 55 Tyrtaios, fr. 8 * 56 Plutarch, Kimon 16f * 57 Diodor XV 66,5 * 58 Wickert 1961 * 59 Ehrenberg 1965, S. 137 * 60 aufgezählt bei Thukydides II 9,2; III 86,2; Diodor XII 42,4 * 61 Thukydides I 19 * 62 Herodot VII 184ff; Pausanias III 4,7 * 63 Herodot IX 25ff; Pausanias III 4,9; V 23 * 64 Diodor XV 45,1 * 65 Diodor XIV 10,1 f; Plutarch, Lys. 13 * 66 Diodor XV 23,3 * 67 Xenophon, Hell. VI 4,4 ff; Strabon IX 2,39

4. Gesellschaft

143

4. Gesellschaft 4a. Die Gesellschaft Spartas zerfiel in erbliche Klassen, deren Vorbilder man in Ägypten vermutete 68 . Sparta kannte in klassischer Zeit, wie das alte Israel, keinen Adel. Die mehrfach erwähnten 300 Ritter (hippeis) erinnern nur in ihrem Namen an den Reiteradel. Sie kämpften zu Fuß 6 9 . Eine Reitertruppe wurde erst 424 im Peloponnesischen Krieg aufgestellt 70 . Die Dreihundert wurden vom König 71 oder von den Ephoren 7 2 als Leibwache des Königs ausgewählt 73 , und es war eine hohe Ehre, dazu zu gehören 74 . Bisweilen dienten sie auch als Ehrengeleit 75 . Berühmt wurden die Dreihundert, die 480 mit Leonidas in den Thermopylen fielen. Das von Simonides (?) auf sie gedichtete Epigramm 7 6 hat Schiller 77 1795 übersetzt: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest/uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl." Die fünf ältesten Ritter wurden jährlich durch jüngere ersetzt und dienten im Jahr ihres Ausscheidens unter dem Titel agathoergoi als Gesandte 7 8 . M a n hat im Altertum stets auf den sozialen Rang der Gesandten geachtet, er bestimmte das Gewicht ihrer Worte. 4b. Der Staat wurde getragen von den schwerbewaffneten Kriegern, den Hopliten. Sie zerfielen in zwei ungleiche Gruppen, die Spartiaten und die Periöken. Spartiaten und Periöken bildeten zusammen die Lakedaimonier oder Spartaner. Die Spartiaten, auch als die Gleichen, homoioi, bezeichnet, waren der Kern der lakedaimonischen Mannschaft 7 9 . Sie lebten in fünf, später sechs Dörfern, die nur wenige Kilometer auseinanderlagen. Ihre Verstreutheit ist der G r u n d für den N a m e n „Sparta": Etymologen 8 0 jedenfalls haben ihn von speirö ~ „säen, verstreuen" abgeleitet. Sie waren kenntlich an ihren langen Haaren 8 1 . Während die griechischen Hopliten sonst ihr ererbtes 82 oder ihr persönliches Emblem 8 3 im Schilde führten: einen Adler, einen Stierkopf, ein Gorgoneion oder ähnliches, zeigten die Schilde der Lakedaimonier einheitlich ein Lambda, die ihrer messenischen Hilfstruppen 8 4 ein My 85 . 4c. Jede Spartiatenfamilie war im Besitz eines der ursprünglich wohl gleichgroßen 9000 Landlose (kleros ib ). Diese Besitzgleichheit 87 geht auf eine Teilung zurück, vermutlich bei der Landnahme 8 8 . Das Landlos galt als Geschenk des Zeus und war unveräußerlich. Nur durch Erbe, auch über die weibliche Linie, konnte der Eigentümer wechseln. Hier haben wir wieder eine Parallele zum alten Israel. Grundbesitz und Teilnahme am gemeinsamen Leben waren Voraussetzung für das volle Bürgerrecht. Lykurg soll die „arithmetische" Gleichheit durch eine „geometrische" ersetzt haben, die auf die unterschiedliche Leistung der Spartiaten und Periöken Rücksicht nahm 8 9 . 4d. Ein Teil der eingewanderten Lakedaimonier hingegen besiedelte die Ränder der Ebene. Diese Periöken (Umwohner) 9 0 waren zivilrechtlich den Spartiaten gleichgestellt,

* 68 Herodot VI 60; Isokrates XI 17 * 69 Herodot I 82; VIII 124; Strabon X 4,18; Anthologia Graeca VII 244 * 70 Thukydides IV 55 * 71 Herodot VII 205 * 72 Xenophon, Lac. 4,3 * 73 Thukydides V 72 * 74 Plutarch, Lyk. 25; ders., Mor. 208 B; Diodor XV 32,1; vgl. Thukydides V 67,1 * 75 Herodot VIII 124 * 76 Herodot VII 228 * 77 Schiller, Der Spaziergang. In: Ders. II S. 164 * 78 Herodot I 67,5 * 79 Herodot VII 234 * 80 Stephanus von Byzanz, S.407 (Meineke); Curtius 1852, S. 220 * 81 Herodot I 82,8; Plutarch, Lys. 1 * 82 Pausanias V 25,9 * 83 Aischylos, Sieben gegen Theben, 387ff; Plutarch, Alkibiades 16 * 84 s.u. 4 i! * 85 Paroemiographi Graeci II S.497, nach Eupolis um 420 v.Chr. * 86 Xenophon, Lac. 7,3; Plutarch, Lyk. 8; 16 * 87 Polybios VI 45 * 88 Piaton, Gesetze 684 E * 89 Plutarch, Mor. 719 B * 90 Hampl 1937

144

V. Das spartanische Doppelkönigtum

dienten im Heere 91 , besaßen Privatsklaven und Grundeigentum. Wir hören von 30.000 Periökenlosen (kleroi). Abgesehen von Kythera, das durch einen jährlich aus Sparta entsandten Kytherodiken regiert wurde 92 , verwalteten sie ihre hundert als poleis bezeichneten Dörfer selbst 93 , genossen aber im Gesamtstaat weder aktives noch passives Wahlrecht, waren mithin keine Vollbürger. Dies ist eine Besonderheit in der antiken Verfassungsgeschichte, wo sonst Grundbesitz und Kriegsdienst mit den politischen Rechten verbunden sind. Ursache für die Benachteiligung der Periöken war, daß sie wegen ihrer entfernten Wohnsitze am gemeinsamen Leben nicht teilnehmen konnten 9 4 . Ein Handwerk auszuüben war den freien Lakedaimoniern untersagt 95 . 4e. Die mykenisch-achäische Oberschicht scheint wenigstens teilweise in die Reihen der Spartiaten aufgenommen worden zu sein. Darauf deutet die Tatsache, daß die mykenische Siedlung Amyklai 96 als fünftes Dorf den vier älteren gleichgestellt wurde 97 . Weiterhin spricht dafür, daß die Spartaner kultische Traditionen der mykenischen Zeit weitergeführt haben 98 . Schließlich scheint auch das Doppelkönigtum hier seine Wurzeln zu haben. Eine Legende erklärt es mit einer Zwillingsgeburt bei den Herakliden", aber die beiden Königsfamilien hatten getrennte Sippengräber 100 . Dies könnte darauf zurückgehen, daß die mykenischen Krieger sich unter Beibehaltung ihres Königs mit den Spartanern zusammengeschlossen haben. Herodot bezeugt den Anspruch spartanischer Könige, nicht dorischer, sondern achäischer Herkunft zu sein101. 4f. Die Masse der Vorbewohner hatte indessen ein anderes Schicksal. Sie wurden als Kriegsgefangene betrachtet und deshalb als Heloten (heilötes von haliskomai, gefangen werden) bezeichnet 102 . Trotz ihrer überwiegend vordorischen, in Lakonien sogar vormykenischen Abkunft nahmen sie die Sprache ihrer Herrn an. Auch später eroberte Gebiete, so seit dem 7. Jh. Messenien, wurden als Helotenland behandelt 103 . Die Spartaner galten als die Erfinder der Sklaverei 104 . Die als Diener verwendeten Sklaven 105 werden von den Heloten unterschieden 106 . 4g. Der Status der Heloten wird als Zwischenstellung zwischen Sklaven und Freien angegeben 107 . Das erklärt sich daraus, daß dem Staat die letzte Entscheidungsbefugnis reserviert war. Der Staat hatte zwar die Heloten auf die einzelnen Spartiaten aufgeteilt, diesen jedoch nur begrenztes Verfügungsrecht über die Heloten eingeräumt. M a n könnte deswegen von Kollektivsklaverei sprechen, wie wir sie auch aus Byzanz 108 , Milet 109 , Thessalien (Penesten) und Kreta (Mnoiten) kennen 110 . Der Spartiate durfte seine Heloten nicht verkaufen, denn damit wäre die Besitzgleichheit bedroht gewesen. Weiterhin durfte er seine Sklaven nicht freilassen, wie es in Athen und vor allem in Rom möglich war 111 . Freilassungen waren Vorrecht des Staates. Anders als die Sklaven im sonstigen Altertum besaßen die Heloten ihre Häuser und Geräte, ähnlich wie die schollengebundenen Leibeigenen im Mittelalter. So wie die Periöken verfügten sie in späterer Zeit über eigenes

* 91 Herodot IX 11 * 92 Thukydides IV 53; Herodot VII 235 * 93 Strabon VIII 4,11 * 94 Athenaios 674 B * 95 Aelian, Var. hist. VI 6 * 96 Strabon VIII 5,4; Pausanias III 19,6; Stephanus von Byzanz, S. 407 (Meineke) * 97 Pausanias III 2,6; Ehrenberg in: Christ 1986, S. 149f * 98 Pausanias III 19,6ff * 99 Herodot VI 51 ff * 100 Pausanias III 12,8; 14,2 * 101 Herodot V 72; VII 159 * 102 Talbert 1989; Oliva in: Christ 1986, S.317ff * 103 Strabon VI 3,3; Athenaios 272 A * 104 Plinius, Nat. hist. VII 57 * 105 Athenaios 142 E * 106 Piaton, Alk. 122 D * 107 Pollux III 83; D. Lotze, Metaxy eleutherön kai doulön, 1959 * 108 Athenaios 271 B * 109 Strabon XII 3,4 * 110 Pollux III 83 * 111 Strabon VIII 5,4

145

4. Gesellschaft

Geld 112 . Das Zahlenverhältnis der Heloten zu den beiden Gruppen der Lakedaimonier schätzt Ehrenberg 1 ' 3 für das frühe 5. Jh. folgendermaßen: 5000 Spartiaten, 60.000 Periöken und 200.000 Heloten. Ihr Schutzgott war Poseidon, dessen Tempel auf Tainaron bot ihnen Asyl114. 4h. Aus dem fünften Tyrtaiosfragment 115 wird geschlossen, daß die messenischen Heloten im 7. Jh. die Hälfte des Bodenertrages abliefern mußten. Dies kann kaum immer die Regel gewesen sein. Denn da die Spartaner nichts exportierten und jeder Luxus verpönt war116, gönnten sie diesen ihren Sklaven117. Vorteilhaft für die messenischen Heloten jenseits des Taygetos-Gebirges dürfte sich die räumliche Trennung von ihren Herren ausgewirkt haben. Sie standen nicht unter deren direkter Aufsicht. Dennoch bemerkt Aristoteles 118 : „Läßt man die Heloten gewähren, so werden sie zügellos und maßen sich dasselbe an wie ihre Herren; geht es ihnen schlecht, so sind sie erbittert und trachten ihren Herren nach dem Leben". Das Gefahrliche an den Heloten war, daß sie nicht, wie die Sklaven im übrigen Griechenland, ethnisch gemischt oder gar Barbaren waren, sondern gleichfalls Griechen, und zwar bodenständig. 4i. Im Gegensatz zu den antiken Sklaven sonst, leisteten die Heloten Hilfsdienste im Kriege. Der einzelne Spartiat nahm bis zu sieben Heloten als Gepäck- und Schildträger mit ins Feld 119 . Den Speer trug der Spartiat selbst120. Bei Plataiai kämpften sie als Leichtbewaffnete 121 ; von den schweren Waffen blieben Sklaven ausgeschlossen 122 . Im 4. Jh. dienten sie als Ruderer 123 . Wenn Heloten als Hopliten ins Heer aufgenommen wurden, hat man sie anschließend freigelassen und als Neodamoden, als Neubürger minderen Rechts eingestuft 124 . Sie wurden den Periöken gleichgestellt125. Kinder von Spartanern mit Helotenfrauen, sogenannte mothakes oder nothoi, nahmen an der Staatserziehung (agoge) teil126, ebenso einzelne Fremde, sogenannte trophimoi. Erhielten sie ein Landlos (kleros), wurden sie Spartiaten, andernfalls blieben sie hypomeiones, „Minderbürger". Söhne aus solchen Mischehen haben es bisweilen weit gebracht 127 . 4j. Die Heloten bildeten eine dauernde Bedrohung für Sparta. „Von jeher waren alle Maßnahmen in Sparta diktiert vom Wunsch nach Sicherheit vor den Heloten" 128 . Im Peloponnesischen Krieg, als die Gefahr eines Helotenaufstandes einmal besonders groß war (424 v. Chr.), ließen die Spartaner unter den Heloten die 2000 Tüchtigsten auswählen, angeblich zur Freilassung für den Heeresdienst. Als damit die gesamte Elite zusammengebracht war, wurde sie auf einen Schlag beseitigt129. Um den Zorn der Götter abzuwenden, wurde den Heloten regelmäßig jedes Jahr erneut förmlich der Krieg erklärt 130 . Wir hören von einer Sitte, der krypteia (Geheimdienst), die darin bestand, daß junge Spartaner einmal im Jahr Heloten erschlugen, bloß um Schrecken zu erzeugen 131 . Dadurch wurde verhindert, daß die jungen Leute mit den Heloten paktierten 132 .

* 112 Plutarch, A g i s 4 4 * 113 Ehrenberg 1957/65, S. 38 * 114 T h u k y d i d e s I 128 * 115 Pausanias IV 14,5; Aelian, Var. hist. VI 1 * 116 Plutarch, K i m o n 14; Aelian, Var. hist. III 34 * 117 Aelian, Var. hist. III 20 zitiert Lysandros * 118 P o l y b i o s II 6,4 * 119 H e r o d o t IX 10,1; 2 8 f * 120 Kritias, VS. 88 B 37 * 121 Herodot IX 28,2; 30; 61,2; 85,2; Sklaven als Leichtbewaffnete in anderen Städten: Aelian, Var. hist. X I X 46.

* 122 X e n o p h o n , Lac. 12,4 * 123 X e n o p h o n , Hell. VII 1 * 124 Thu-

kydides V 34; VII 19,3; X e n o p h o n , Hell. III 1,4; Pollux III 83 271 C D

*

126 A t h e n a i o s 271 E F

*

K l e o m e n e s 8,1; Aelian, Var. hist. XII 43 Lyk. 28

*

*

131 Aristoteles, fr. 611,10 ( R o s e )

Gesetze 760 C ff, für die Magnetenstadt.

* 125 Pausanias IV 16,6; A t h e n a i o s

127 X e n o p h o n , Hell. III 5,12; V 3,9; Plutarch, Lys. 2; ders., 128 T h u k y d i d e s IV 80 *

*

129 1. c.

*

130 Plutarch,

132 Eine ähnliche Einrichtung beschreibt Piaton,

146

V. Das spartanische Doppelkönigtum

4k. Zu diesen militärischen kamen psychologische Maßnahmen. Wenn ein spartanischer König gestorben war, wurden die Heloten zu öffentlicher Trauer gezwungen 133 und mußten bekennen, daß just dieser König der beste aller Könige gewesen sei. Heloten wurden zum Weintrinken angehalten und dann in betrunkenem Zustand den jungen Spartanern als abschreckendes Beispiel vorgeführt 134 . Sobald die Staatsraison einen Verstoß gegen menschliche oder göttliche Gebote verlangte, wurden die Heloten zur Durchführung genötigt. Sie mußten Mützen aus Hundefell tragen und erhielten jährlich eine Anzahl von Stockschlägen, damit sie nicht vergäßen, daß sie Sklaven waren. Wenn einer mehr sein wollte, wurde er selbst hingerichtet, sein Herr aber bestraft, weil er seinen Sklaven nicht im Zaume hielt135. Der Abstand zwischen Freien und Sklaven war in Sparta wesentlich größer als in Athen 136 . 4L Das tradierte Helotenbild wirkt überzeichnet. Dennoch sind die Spannungen glaubhaft bezeugt durch mehrere Helotenaufstände 137 . Sie konnten stets niedergeschlagen werden, bis Epaminondas Messenien befreite 138 . Gefragt, warum die Spartaner ihre Äcker den Heloten überließen, antwortete ein König: Wir haben sie erworben, indem wir uns nicht um die Landwirtschaft, sondern um uns selbst kümmerten 139 .

5. Könige 5a. Im Altertum war man der Ansicht, daß der spartanische Kosmos das Werk des Lykurg 140 sei. Er soll einem der beiden Königshäuser angehört haben, aber nicht selbst König gewesen sein. Nach weiten Reisen hätte er den Spartanern, die bis dahin den schlechtesten Gesetzen gefolgt seien, die besten Gesetze gegeben. Die Pythia in Delphi hätte sie bestätigt 141 und befohlen, Lykurg als Gott zu ehren 142 . Er besaß in Sparta einen Tempel 143 . Daß Gesetzgeber von Göttern inspiriert worden seien, kennen wir auch von Moses 144 , Minos 145 und Numa 146 . 5b. Die antike Überlieferung zu Lykurg ist widersprüchlich und jung. Erst Simonides 147 und Herodot 148 nennen ihn, in den Tyrtaios-Fragmenten kommt er nicht vor. Möglicherweise hat Chilon oder ein anderer Reformer des 6. Jh. seine Gesetze als die des sagenhaften Lykurg ausgegeben 149 . Die Lebensbeschreibung Lykurgs bei Plutarch ist weitgehend legendär, enthält aber alte Überlieferungen. Zu ihnen zählt die Große Rhetra, eine Verfassungskunde gemäß dem Spruch der Pythia, die unter anderem die Einrichtung eines Ältestenrates und einer Volksversammlung vorsieht 150 . Es handelt sich offenbar um den Versuch, die Macht der Könige einzugrenzen. Die Datierung Lykurgs und der Großen Rhetra ist umstritten 151 , vielleicht gehören sie ins 8. Jh. v. Chr. Die Grundzüge der Staatsordnung Spartas waren somit schriftlich festgelegt, die Einzelheiten hingegen sollten nicht aufgezeichnet werden 152 . Ihre klassische Form besaß die spartanische Verfassung seit etwa 550. * 133 Pausanias IV 14,5 * 134 Plutarch, Demetr. 1,4 * 135 Athenaios 657 D * 136 Kritias, VS.88 B 37 * 137 Plutarch, Kimon 16; Xenophon, Ages. II 24 * 138 s.u. 7 1! * 139 Plutarch, Mor. 217 A * 140 Herodot I 65 f; Plutarch, Lyk. passim; Ed. Meyer 1892, S. 211 ff * 141 Xenophon, Lac. 8,5; Fontenrose 1978 * 142 Diodor XVI 57 * 143 Herodot I 66 * 144 AT. 2. Mose 19f * 145 Piaton, Gesetze 624 AB * 146 Livius I 21 * 147 Plutarch, Lyk. 1 * 148 Herodot I 65 * 149 Ehrenberg 1925 * 150 Plutarch, Lyk. 6; Welwei, in: Christ 1986, S. 351 ff * 151 Bringmann und Welwei in: Christ 1986, S. 351 ff; 426ff * 152 Plutarch, Lyk. 13

5. Könige

147

5c. Gemäß der antiken Staatstheorie fällt die spartanische Ordnung unter die Kategorie der gemischten Verfassungen 153 . Piaton 154 sprach von einer „gemischten Königsherrschaft" (basileia symmiktos), die Elemente der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie verband 155 . In den Königen wurde das monarchische Element gesehen, im Rat der Alten das aristokratische und in der von den Ephoren geleiteten Volksversammlung das demokratische Element. Diese Mischung wurde als Grund für die Güte dieser Staatsordnung angegeben, die vor allem wegen ihrer Stabilität gelobt wurde. Pausanias 156 , Lysander 157 , Kinadon 158 und Agis IV159 sind mit ihren Reformen gescheitert. 5d. Die spartanischen Könige wurden nicht als basileis, sondern als archagetai, „Anführer", bezeichnet 160 . Das Königtum war erblich in den Familien der Agiaden und der Eurypontiden 161 . Standen mehrere Söhne für die Nachfolge zur Verfügung, so wurde nach dem Charakter entschieden 162 . Erhoben sich Zweifel an der Herkunft, so konnte auch ein amtierender König abgesetzt und verbannt werden 163 . 5e. Antike Könige zierten sich gewöhnlich mit Purpur, Szepter, Leibwachen und Orakeln164. In Sparta sah das anders aus. Dem dortigen Lebensstil gemäß hören wir nichts von Insignien165, nichts von einem Palast. Die Könige wohnten wie alle Spartiaten in Holzhäusern von sprichwörtlicher Einfachheit 166 . Sie hatten im Frieden keine Garde 167 und fuhren auf einem staatlichen Korbwagen, der als kannathron politikon, nicht als kannathron basilikon bezeichnet wird168. Agesilaos kleidete sich anspruchsloser als ein Privatmann in Athen 169 . Erst in hellenistischer Zeit tragen die Könige nach Ausweis der Münzen das Diadem 170 . Das Königssiegel des Areus (309-265) zeigt einen Adler, der eine Schlange in den Fängen hält171. Nach seinem Tode wurde der König zehn Tage nach der Art der asisatischen Barbaren beklagt 172 . 5f. Die wichtigste Aufgabe der Könige war die Führung im Felde 173 . Nach einem Streit 506 v. Chr. wurde bestimmt, daß fortan nur jeweils ein einzelner das Kommando übernehmen dürfe 174 ; die Volksversammlung bestimmte, welcher 175 . Er war mit seinen hundert Leibwächtern der erste beim Auszug und der letzte bei der Heimkehr 176 . Entsprechend dachte man bloß einen der Dioskuren als Schlachtenhelfer anwesend 177 . Auch zwei Ephoren zogen seitdem mit in den Krieg 178 . Der König erhielt einen besonderen Anteil an der Beute179. Wenn die Lage es erforderte, wurden statt der Könige auch Land- und Seekommandanten ernannt, so 425 der Trierarch Brasidas 180 und 408 der Nauarch Lysandros 181 . Im Frieden genossen die Könige zahlreiche Ehrenrechte, sie entschieden * 153 Aristoteles, Politik 1265 b 30; Polybios VI 3,7f * 154 Piaton, Gesetze 692 A * 155 Piaton, Gesetze 712 D * 156 Er versuchte, die Ephoren zu entrechten: Aristoteles, Politik 1301 b 20. * 157 Er versuchte ein Wahlkönigtum ohne Rücksicht auf dynastische Legitimation einzuführen: Plutarch, Lys. 24ff; Bommelar 1981 * 158 Er versuchte, die Rechte der Spartiaten einzuschränken: Aristoteles, Politik 1306 b 35. * 159 Er plante eine Sozialreform: Plutarch, Agis 16ff * 160 Strabon VIII 5,5 * 161 Plutarch, Lys. 24. Zum Ursprung des Doppelkönigtums s. o. 4 e! * 162 Plutarch, Pyrrhos 26; Xenophon, Ages. 1,4 * 163 Herodot VI 64ff * 164 Plutarch, Mor. 801 D * 165 Xenophon, Ages. XI 11 * 166 Xenophon, Ages. VIII 7 * 167 Plutarch, Mor. 208 B * 168 Xenophon, Ages. VIII 7 * 169 Plutarch, Mor. 210 B; Aelian, Var. hist. VII 13 * 170 Grünauer-von Hoerschelmann 1978 * 171 Flavius Josephus, Antiquitates XII 4,10 * 172 Herodot VI 58 * 173 Aristoteles, Politik 1285 a, b * 174 so Herodot V 75; Xenophon, Hell. V 3,10; anders Herodot VII 149; Xenophon, Hell. II 2,7 * 175 Diodor XV 22,2; 51,3 * 176 Herodot VI 56 * 177 Herodot V 75. Das hölzerne Doppelbild beschreibt Plutarch, Mor. 478 A. * 178 Herodot IX 76; Xenophon, Hell. II 4,36; ders., Lac. 13,5 * 179 Herodot IX 81; Polybios II 62 * 180 Thukydides IV 11,4f * 181 Plutarch, Lys. 2

148

V. Das spartanische Doppelkönigtum

Erbschafts- und Familienstreitigkeiten 182 , regierten aber nicht. Ihre politische Bedeutung beschränkte sich auf den Sitz in der Gerusia, im Rat. Durch offizielle Gastfreundschaft (proxenia) zu auswärtigen Adelsfamilien unterhielten die Könige Verbindungen über die Grenzen hinweg 183 . Später verloren sie dieses Recht 184 . 5g. Wie in der Antike allgemein hatten die Könige Spartas kultische Funktionen 1 8 5 : sie waren Priester des spartanischen Stammesgottes, des lakedaimonischen Zeus, und des Himmelsgottes, des Zeus Uranios 186 . Ihnen oblagen die Staatsopfer 187 . Auch den Verkehr mit der Pythia in Delphi regelten sie, dafür gab es spezielle Gesandte, die pythioim. Die Orakel wurden beim König niedergelegt. Lacedaemonii omnia ad oracula referre consuerantw9. Innen- wie außenpolitische Maßnahmen wurden auf Geheiß der Pythia vorgenommen 190 , bisweilen wurde sie bestochen 191 . 5h. Die Könige besaßen Krongüter in den Periöken-Städten und bezogen Abgaben von dort 192 . Piaton 193 behauptet, die spartanischen Könige seien die reichsten Männer in Hellas, aber wenn das stimmen sollte, so hatten sie von ihrem Reichtum nicht viel. Am gemeinsamen Leben der Spartiaten mußten sie nicht teilnehmen 194 . Sie speisten in einem besonderen Staatszelt 195 . 5i. Ihren geringen Befugnissen entspricht es, daß sie nicht sakrosankt waren. Hatte ein König die Gesetze verletzt, so wurde er dreimal geladen und vor ein Sondergericht gestellt, bestehend aus dem zweiten König, den Ephoren und der Gerusie 196 . Einer der berühmtesten Regenten Spartas, Pausanias, Sieger über die Perser bei Plataiai 479, ist in einem solchen Verfahren verurteilt worden, nachdem er sich allein auf der Schlangensäule verewigt hatte und selbstherrlich aufgetreten war 197 . Er suchte Asyl im Tempel der Athena Chalkioikos, und da man ihn dort nicht greifen konnte, wurden die Eingänge vermauert, und er mußte verhungern 198 . Die Könige Leotychides 199 und Pleistoanax 200 wurden wegen Bestechlichkeit verbannt, König Agesilaos wegen Demagogie bestraft 201 , Agis IV wegen Verfassungsbruch gehenkt 202 . 5j. Sparta hat das Königtum noch in einer Zeit bewahrt, zu der es im übrigen Hellas längst abgeschafft war. Aristoteles sah darin den Vorzug, daß so das höchste Staatsamt dem Ehrgeiz Einzelner verschlossen blieb und das Volk von ehrgeizigen Aufsteigern verschont wurde. Er dachte an Lysander, der das Königtum zu einem echten Wahlamt machen wollte 203 . Da die faktische Staatsleitung bei den gewählten Ephoren lag und sowohl Könige als Ephoren jeden Monat einen Eid auf die bestehende Staatsordnung leisteten, haben wir in Sparta eine konstitutionelle Monarchie vor uns 204 . Plutarch nennt die spartanische Staatsform eine autokratike kai authekastos oligarchia, eine autokratische und unkontrollierte Oligarchie 205 . Das aber entsprach nicht dem Selbstverständnis: König Archidamos II sagte, an der Spitze des Staates stünden nicht die Könige, sondern die Gesetze und die gesetzmäßigen Behörden 206 . * 182 Plutarch, Kleom. 10 * 183 Herodot VI 57; Xenophon, Lac. 15,5 * 184 Xenophon, Lac. 13,10 * 185 Xenophon, Lac. 13,2ff; 13,11; 15,2; Aristoteles, Politik 1285 a 5 * 186 Herodot VI 56 * 187 Xenophon, Lac. 15,2 * 188 Herodot VI 57 * 189 Nepos, Lysander 3,1 * 190 Fontenrose 1978 * 191 Herodot V 63 * 192 Xenophon, Lac. 15,3 * 193 Platon, Alk. I 123 * 194 Herodot VI 57; Xenophon, Lac. 15,5 * 195 Xenophon, Lac. 15,4 * 196 Pausanias III 5,2 * 197 Herodot III 81; Tod Nr. 19; Thukydides I 132 * 198 Thukydides I 132ff * 199 Herodot VI 72 * 200 Thukydides V 16 * 201 Plutarch, Mor. 482 D; ders., Ages. 5 * 202 Plutarch, Per. 22; ders., Agis 20; ders., Mor. 216 D * 203 Plutarch, Lys. 24ff * 204 Katanomon basileia: Aristoteles, Politik 1285 a; 1287 a; Platon, Gesetze 684 A; 692 B; Xenophon, Lac. 15,7 * 205 Plutarch, Mor. 826f * 206 Plutarch, Mor. 218 C; Xenophon, Ages. VII 2

6. Institutionen

149

6. Institutionen 6a. Die Volksversammlung, die alle Spartiaten über 30 Jahren umfaßte und monatlich unter dem Vorsitz der Ephoren tagte, hieß vermutlich Apella 207 . Man versammelte sich ursprünglich in Waffen, später mit Stöcken ausgerüstet, schließlich ganz unbewaffnet. Die Apella hatte weder das Recht der Initiative noch das der Debatte, sie äußerte nur Beifall über Vorschläge von Ephoren oder Geronten. Die Abstimmung erfolgte nicht durch Stimmsteine, sondern durch Zuruf. Bei Unklarheit wurde im Hammelsprung ausgezählt 208 . Verhandelt und entschieden wurde über Nachfolgeprobleme im Königtum 209 , Wahlen von Beamten und Offizieren, Entscheidung über Krieg und Frieden 210 , Verträge, Freilassung von Heloten und Gesetzesänderungen. Hielten Geronten und Könige einen Volksbeschluß für schädlich, so galt er nicht 2 ".

ARCHAG ETAI (KÖNIGE)

t

i

23

4

±

i_ ••-28 GERONTEN-

0

5 PHYLAI-

(VOLKS VERSAMMLUNG)

LOCHAI

DIE O R G A N E D E S S P A R T A N I S C H E N S T A A T E S Abb. 9.

6b. Jede griechische Polis besaß einen Rat. In Sparta ist es ein Rat der Alten, die Gerusia, die nach Bedeutung und Funktion dem römischen Senat und dem Areopag in Athen entspricht. Die Gerusia, die auch in anderen dorischen Städten vorkommt 212 , ist gewiß nicht erst von Lykurg eingerichtet 213 , sondern vermutlich ebenso alt wie das Königtum. Denn der König ist es, den der Rat beraten soll214. * 207 Nach Plutarch (Lyk. 6) brauchten die Spartaner das Wort apellazein für ekklesiazein - „eine Bürgerversammlung abhalten"; apella findet sich bei Hesych 5944 und in kretischen Inschriften, bei den (nicht-spartanischen) Autoren heißt die Volksversammlung Spartas wie überall ekklesia. * 208 Thukydides I 87,2 * 209 Xenophon, Ages. I 5; IV 5 * 210 Xenophon, Hell. II 2, 19 * 211 Plutarch, Lyk. 6; unklar ist die bei Xenophon (Hell. III 3,8) bezeugte „kleine ekklesia" * 212 Aristoteles, Politik 1306 a 15; Diodor XVI 65,6 * 213 so Plutarch, Lyk. 5f * 214 Piaton, Gesetze 691 e

150

V. Das spartanische Doppelkönigtum

6c. Die Gerusie bestand aus 28 lebenslang amtierenden Mitgliedern 215 , die über 60 Jahre alt waren und keinen Kriegsdienst mehr leisteten216. Dazu traten die beiden Könige 217 . Xenophon betont mehrfach das hohe Ansehen der alten Männer; Plato 218 erklärte die Gerusie für ebenso stark wie das Königtum, und Demosthenes 219 nannte Sparta deswegen eine Oligarchie. Ähnlich wie in Rom gaben in Sparta die Alten den Ton an. Xenophon begründet dies mit der langen Erfahrung, aber Aristoteles 220 tadelt das: es gebe ein Greisenalter nicht nur des Körpers, sondern auch des Geistes. Aristoteles moniert weiter, daß man sich um das Amt bewerben mußte. Denn das setze Ehrgeiz voraus, der in diesem Alter kindisch sei. 6d. Die Wahl der Geronten erfolgte durch die Volksversammlung auf eine archaische Weise. Wenn eine Vakanz eingetreten war, wurden die Bewerber einzeln vorgeführt. Das dabei vollführte Geschrei der Menge wurde von einer Kommission nach der Lautstärke registriert. Die Kommission saß hinter einem Vorhang, so daß sie die Akklamation unbeeinflußt beurteilen konnte. Der Sieger erhielt zwei Kränze, einen für sich und einen für eine Frau, nicht unbedingt für seine eigene, sondern für die, die er am meisten schätzte 221 . Daß ein Spartiate seine eigene Frau liebte, ist einmal bezeugt 222 . Als König Agesilaos neugewählten Geronten je eine Kuh schenkte, bestraften ihn die Ephoren, weil Gaben abhängig machen 223 . 6e. Die Geronten berieten die laufenden Geschäfte der Innen- und Außenpolitik und entschieden schwere Gerichtsfälle, namentlich Mordprozesse 224 . In der älteren Zeit tagten sie unter dem Vorsitz der Könige. Das änderte sich mit der Einführung der Ephoren, die dann wohl auch die Leitung der Gerusie übernahmen 225 . 6f. In den meisten griechischen Städten ist die Regierung irgendwann auf Beamte übergegangen: In Athen auf die Archonten, in Rom auf die Consuln, in Sparta und einigen anderen dorischen Städten auf die fünf Ephoren (Aufseher) 226 . Den Wechsel in der Jahresbenennung nach dem älteren König zu der nach dem ältesten Ephoren verbindet Plutarch 227 mit dem König Theopompos um 750, Diogenes Laertios 228 mit dem Ephoren Chilon um 560. Ihre hohe Stellung kam darin zum Ausdruck, daß die Ephoren allein von allen Spartanern zur Begrüßung der Könige sich nicht erheben mußten 229 , während umgekehrt die Könige vor den Ephoren aufstanden 230 . Die Fünfzahl wurde wohl im Hinblick auf die fünf Gemeinden festgesetzt, so daß wir ursprünglich ein repräsentatives Element vor uns haben. Die Ephoren wurden jährlich von der Apella gewählt, jeder Spartiate war wählbar ohne vorausgegangene Prüfung. Dies tadelt Aristoteles 231 , weil es zur Wahl auch armer Spartiaten führe, die sich bestechen ließen. Wiederholte Wahl war untersagt. 6g. Mit der Reform des Chilon 555 v.Chr., der zu den Sieben Weisen zählt 232 , wurden die Ephoren, die in der Großen Rhetra nicht vorkommen, aufgewertet und neben die Könige gestellt. Ihre Befugnisse, die zuvor nur das Gerichtswesen betroffen hatten, waren * 215 Polybios VI 45,5; Pausanias III 5,2; Plutarch, Lyk. 26 * 216 Herodot I 65 * 217 Plutarch, Lyk. 5 * 218 Platon, Gesetze 692 a * 219 Demosthenes, or. XX 108 * 220 Aristoteles, Politik 1270 b 40 * 221 Plutarch, Lyk. 26 * 222 Aelian, Var. hist. XII 34 * 223 Plutarch, Mor. 482 D * 224 Xenophon, Lac. 10,2; Plutarch, Mor. 217 A * 225 Busolt + Swoboda S.681 * 226 Herodot I 65 * 227 Plutarch, Lyk. 7; ders., Mor. 779 E * 228 Diogenes Laertios I 65 * 229 Xenophon, Lac. 15,6 * 230 Plutarch, Mor. 817 A * 231 Aristoteles, Politik II 6,14 * 232 Diogenes Laertios I 68

7. Lebensweise

151

jetzt so umfassend, daß Aristoteles 233 sie „tyrannisch" nennen konnte. Rechenschaft mußten sie nur den nachfolgenden Ephoren geben. Sie machten die Außenpolitik 234 , leiteten Gerusia und Apella, führten die Kapitalprozesse gegen Spartiaten 235 , entschieden Zivilsachen, regelten die Abgaben und konnten die Könige anklagen, ebenso jeden anderen Beamten. Sie überwachten den lykurgischen „Kosmos", indem sie ohne Umschweife gegen jeden Bürger vorgehen durften, der sich ihnen widersetzte 236 , ähnlich wie der römische Magistrat. Nach Aristoteles 237 stellte das Ephorat das Volk zufrieden, das darin Anteil an der Staatsgewalt besaß.

7. Lebensweise 7a. Für keine antike Staatsform ist es erforderlich, die Lebensführung der Bürgerschaft eigens zu behandeln. Beim spartanischen Staat aber ist es notwendig, denn die Lebensweise der Spartiaten sagt mehr über das System aus als seine Institutionen. Oberster Grundsatz dieser Ordnung war, daß das Leben im Frieden der Vorbereitung auf den Krieg zu dienen habe 238 , daß der Einzelne nichts, der Staat alles bedeutete. Das gesamte Leben war reglementierenden Traditionen unterworfen, die jede Ausbildung von Einzel- und Gruppeninteressen gegenüber dem traditionellen Staatsinteresse verhinderten 239 . Das höchste Ideal war die Kriegstüchtigkeit; der Verzicht auf Stadtmauern 2 4 0 sollte sie erzwingen: „Männer sind die besten Mauern der Stadt" heißt es bei Alkaios 241 . 7b. Das Leben des Spartiaten war ein ununterbrochener Dienst. Kein Spartiat übte ein Handwerk aus 242 . Privatleben und Familienleben gab es nicht 243 . Die Männer aßen in etwa 15-köpfigen „Brotgemeinschaften" (syssitiai). Sie hießen auf Kreta „Männermahle" (andreia), in Sparta auch „Liebesmahle" 244 (phiditia) oder „Zeltgemeinschaften" (syskenia)245. Jeder Teilnehmer mußte bestimmte Nahrungsmittel abliefern; die Kost war derb, aber nahrhaft 2 4 6 . Auch getrunken wurde maßvoll 247 . Die Könige erhielten die doppelte Portion 248 . Als die Thasier dem König Agesilaos ihre besten Leckerbissen zukommen ließen, gab er diese an die Heloten weiter, weil er seine Leute nicht kulinarisch korrumpieren wollte 249 . Bekannt ist die spartanische Blutsuppe, die „schwarze Brühe". Ein Mann aus der Stadt Sybaris, die für ihren Luxus berühmt war, probierte die Brühe und erklärte, jetzt verstehe er die Tapferkeit der Spartaner. Lieber stürbe er zehntausend Mal den Heldentod, als daß er noch einen Löffel dieser Suppe äße 250 . 7c. Wie im Essen, so war auch in Kleidung, Mobiliar, Bauweise, Fahrzeug usw. jeder Luxus untersagt 251 . Lykurg ließ die „überflüssigen" Handwerker austreiben 252 . Zum Bau der Blockhäuser, in denen die Spartiaten wohnten, durften bloß Säge und Beil verwendet werden 253 . Die archäologischen Funde zeigen indes, daß Sparta bis ins 7. Jh. an der

* 233 Aristoteles, Politik II 6,14 * 234 Herodot IX 7ff; Xenophon, Hell. II 2, 13; III 1, 1; Polybios IV 34 * 235 Plutarch, Mor. 221 F * 236 Xenophon, Lac. 8,4 * 237 Aristoteles, Politik 1270 b 25 * 238 Aristoteles, Politik 1333 b * 239 Plutarch, Lyk. 25 * 240 Plutarch, Mor. 190 A; 212 E; 230 C; Valerius Maximus III 7 ext. 8 * 241 Alkaios, fr. 35,10 (Diehl) * 242 Plutarch, Ages. 26 * 243 Plutarch, Lyk. 25 * 244 Aristoteles, Politik 1271 a 25 * 245 Xenophon, Lac. 5,2 * 246 Herodot IX 82 * 247 Kritias VS. 88 B 6; Athenaios 142 DE * 248 Xenophon, Ages. 51 * 249 Athenaios 657 A * 250 Athenaios 138 D * 251 Thukydides I 10 * 252 Plutarch, Lyk. 9 * 253 Plutarch, Mor. 189 E

152

V. Das spartanische Doppelkönigtum

allgemeinen Kulturentwicklung Griechenlands teilgenommen hat. Die „dorische" Tempelordnung stammt allerdings nicht aus Sparta, sondern soll nach Vitruv 254 von dem Sagenkönig Doros in Argos erfunden worden sein. Sie wurde später der klassische Stil, in dem u. a. der Parthenon in Athen errichtet wurde. 7d. So wie in Rom den Senatoren, war in Sparta den Spartiaten das Geschäftsleben untersagt 255 . Die Pythia soll Lykurg prophezeit haben, nur die Liebe zum Gelde könne Sparta verderben 256 . Die als Geldersatz verwendeten eisernen Spieße257 hatte es in archaischer Zeit auch bei anderen Griechen, so in Naukratis 258 und Byzanz 259 , gegeben, wie die Münzbezeichnungen obolos (Spieß) und drachme (Handvoll Spieße) zeigen260. Als Tauschmittel waren sie ebenso unpraktisch 261 wie das aes signatum der römischen Republik. Seneca 262 spricht von Ledermünzen der Spartaner. Noch zu Plinius' Zeiten trugen die Spartaner keine goldenen, sondern eiserne Fingerringe 263 . 7e. Der private Besitz von Gold und Silber war verboten, und dies wurde durch Haussuchungen kontrolliert 264 . Erst Piaton 265 berichtet von privatem Geldbesitz. Der König Leotychidas floh vor der Anklage mit einem Sack Silber, mit dem er bestochen worden war, nach Tegea 266 . Als durch Lysander 267 nach 404 große Mengen an Tributen nach Sparta kamen, wurde auf privaten Besitz von Edelmetall die Todesstrafe gesetzt und ein prominenter Harmost deswegen hingerichtet 268 . Für Agesilaos war Geldbesitz zumindest außerhalb Spartas dann selbstverständlich 269 . Der „ K a u f eines Landgutes durch Lysander 270 und die Geldstrafe für einen Offizier 377 v. Chr. zeigt die Normalisie271

rung . 7f. Das Privateigentum unterlag einem Gebrauchskommunismus. Jeder, der etwas brauchte, durfte es nehmen, wo er es fand. Xenophon 272 exemplifiziert dies an den Sklaven, Hunden, Pferden und den Verkehrsmitteln: wenn ein Spartaner rasch irgendwohin mußte, habe er das erstbeste Pferd nehmen können, ohne den Eigentümer fragen zu müssen. Im übrigen wurde auf die Gleichheit des Besitzes geachtet, sie ging erst in der letzten Phase der spartanischen Geschichte verloren.

8. Kriegszucht 8a. Die Spartaner galten als die tapfersten Griechen 273 . Die Spartana disciplina, schreibt Livius274, sei dura et horrida gewesen. Abgesehen von Tänzen und Götterfesten diente die tägliche Beschäftigung der Kriegsbereitschaft. „Der Zweck ihres Daseins ist der Sieg mit den Waffen" 275 . Man betrieb Gymnastik, Polizeistreife im Lande und die besonders geachtete Jagd 276 . Lakonische Jagdhunde schätzten noch die Römer 277 . Seit 716 begegnen

* 254 Vitruv IV 1,3 * 255 Xenophon, Lac. 7,2 * 256 Diodor XII 12,5; Paroemiographi Graeci II, S. 320 * 257 Micheli 1947 * 258 Herodot II 135 * 259 Pollux VII 105; IX 77ff; Aristophanes, Wolken 249 * 260 Plutarch, Lys. 17; Athenaios 596 C * 261 Xenophon, Lac. 7,5; Plutarch, Lyk. 9 * 262 Seneca, De benef. V 14,4 * 263 Plinius, Nat. hist. XXXIII 4/9 * 264 Xenophon, Lac. 7,6 * 265 Piaton, Alk. I 122 e * 266 Herodot VI 72 * 267 Aelian, Var. hist. XIV 29 * 268 Diodor XIV 10,1 f; Plutarch, Lys. 16ff * 269 Xenophon, Ages. IV 1; XI 5; 8 f * 270 Aelian, Var. hist. XIV 44 * 271 Diodor XV 27,3; vgl. Aelian, Var. hist. III 10 * 272 Xenophon, Lac. 6,3 * 273 Herodot IX 48; 71 * 274 Livius XXXVIII 17,12 * 275 Libanios, or. V 23 * 276 Xenophon, Lac. 4,7; Libanios, or. V 23 * 277 Athenaios 28 A; Varrò, De re rust. II 9,5

8. Kriegszucht

153

Spartaner auf den Siegerlisten von Olympia, vor 600 dominieren sie hier mit großem Abstand 2 7 8 . Spazierengehen war verboten 279 . 8b. Insgesamt wird das Leben im Frieden als so hart geschildert, d a ß den Spartiaten der Krieg als Erholung vorgekommen sei280. Aus diesem Grunde jedoch sei die F ü h r u n g zurückhaltend gewesen mit Kriegserklärungen 281 . Der Krieg war der Zucht abträglich. Im Felde trug man rote Mäntel 282 und einheitlich gezeichnete Schilde 283 . Die Spartaner kämpften in Schwurgemeinschaften (enömotia) zu 30284, Mann gegen Mann. Reiterei und Bogenschützen wurden erst 424 eingeführt 285 . 3 77 zerfiel der spartanische Machtbereich in zehn Wehrkreise. Bei der Aushebung rechnete man einen Reiter gleich vier Hopliten gleich acht Leichtbewaffnete 286 . 8c. Feigheit wurde mit Ächtung bestraft 2 8 7 . Den „Zitterer" stieß man aus der Gemeinschaft, nicht aber aus dem Lande. Xenophon 2 8 8 beschreibt die Demütigungen, die ein solcher M a n n hinnehmen mußte: er bekam bunte Streifen an den Rock genäht, durfte sich nur den halben Bart stehen lassen, wurde von den Frauen verschmäht und konnte von jedem geschlagen werden. Wenn der Betreffende bei nächster Gelegenheit den Heldentod suchte, wurde das als Sühne nicht akzeptiert, weil er „aus G r ü n d e n " gefallen sei289. Wer seinen Schild wegwarf, wurde auch in Athen ehrlos 290 . 8d. Ein ehrenvoller Tod wurde über ein ehrloses Leben gesetzt, und dies erscheint Xenophon eine vernünftige Regel, weil im Kampfe derjenige überlegen sei, der das größte Risiko eingehe 291 . Heldentod war somit kein Selbstzweck. Gefallene Feinde wurden nicht der Waffen beraubt 292 , fliehende nicht weit verfolgt 293 , das wußte man und floh desto eher. Auf den Grabmälern durften nur N a m e n von solchen Männern erscheinen, die den Heldentod gefunden hatten, und von solchen Frauen, die im Kindbett gestorben waren 294 . Gewarnt vor der Zahl der Gegner antwortete König Agis: Ein Spartaner fragt nicht, wie zahlreich die Feinde sind, sondern wo sie stehen 295 . 8e. Eine besondere kultische Ehrung genoß die personifizierte Furcht, der Phobos. Er hatte seinen Tempel gleich neben dem Speisehaus der Ephoren. Den Phobos, schreibt Plutarch 296 , ehren sie nicht wie einen D ä m o n , den sie vertreiben wollen, und weil sie ihn für schädlich halten, sondern weil sie glauben, daß der Staat am meisten durch die Furcht zusammengehalten wird. Die bei den Griechen üblicher Weise geflügelt dargestellte Siegesgöttin (Nike-Victoria) wurde in Sparta gefesselt abgebildet, damit sie ihnen nicht entschwebe. Die Athener nahmen ihr in derselben Absicht bloß die Flügel 297 . 8f. Da die Herrschaft dem einzelnen Spartiaten keinerlei Gewinn oder Genuß brachte, verteilte der Staat Auszeichnungen. Unsere Quellen sind voll davon, welche Rolle private und öffentliche Belobigungen spielten. Plutarch 298 berichtet, daß überall in Sparta Schilder mit Sprüchen aufgestellt waren, auf denen die Ideale Spartas verherrlicht wurden.

* 278 Th. Klee, Zur Geschichte der griechischen Agone, 1918, S. 110 * 279 Aelian, Var. hist. II 5 * 280 So Alkibiades bei Aelian, Var. hist. XIII 38 * 281 Plutarch, Lyk. 22 * 282 Xenophon, Lac. II 3; Aelian, Var. hist. VI 6 * 283 s.o. 4 b! * 284 Herodot I 65; Thukydides V 68 * 285 Thukydides IV 55,2 * 286 Diodor XV 31,2 * 287 Thukydides V 34,2 * 288 Xenophon, Lac. 9,6 * 289 Herodot IX 71 * 290 Lysias X 1 * 291 Xenophon, Lac. 9,1 f * 292 Aelian, Var. hist. VI 6 * 293 Thukydides V 73; Plutarch, Lyk. 22 * 294 Plutarch, Lyk. 27 * 295 Plutarch, Mor. 215 D * 296 Plutarch, Agis 30 * 297 Pausanias III 15,7 * 298 Plutarch, Lyk. 27

154

V. Das spartanische Doppelkönigtum

8g. Es ist klar, daß ein solches System die Isolierung benötigt. Die spartanische Fremdenfeindlichkeit war sprichwörtlich 299 . Herodot kannte nur zwei Bürgerrechtsverleihungen an Fremde 300 . Wir hören von Fremdenvertreibungen 3 0 '. Fremde brachten neues Gedankengut mit, und da das delphische Orakel die spartanische Ordnung für die beste aller Verfassungen erklärt hatte, konnten fremde Ideen diesen Kosmos nur verschlimmbessern 302 . Umgekehrt war den Spartiaten die Auswanderung bei Todesstrafe verboten 303 , ins Ausland reisen durften kriegspflichtige Spartaner nur mit Erlaubnis der Behörden 304 . Spartaner, die doch im Ausland gewesen sind, haben sich fremden Idealen gegenüber anfällig gezeigt. Der berühmteste Fall ist der des Regenten Pausanias 305 . Fremdenfeindlichkeit galt bei den Griechen als barbarisch 306 . 8h. Die Xenophobie - das Wort kommt im antiken Griechisch nicht vor - wurde im Laufe der Zeit durch Handel und Kriegswesen untergraben. Seit dem Peloponnesischen Krieg bezahlte Sparta Söldner 307 . Umgekehrt dienten spartanische Söldner 401 dem persischen Prinzen Kyros 308 . 361 ging König Agesilaos als Söldnerführer nach Alexandrien 309 , 255 rettete der spartanische Condottiere Xanthippos K a r t h a g o vor den Römern 3 1 0 ; nach der Niederlage von Sellasia floh König Kleomenes III zu Ptolemaios III 311 .

9. Erziehung 9a. Die Spartaner haben früh die politische Bedeutung der Erziehung erfaßt. Sie wurde nicht in und von der Familie vollzogen, sondern war Sache der Gemeinschaft. Kein Vater hatte irgendwelche Vorrechte in der Erziehung seiner Kinder, jeder Erwachsene besaß die väterliche Gewalt über alle Kinder 312 . 9b. Mit dem 7. Lebensjahr begann die agöge, die staatlich kontrollierte Lebensführung. Der Junge wurde aus der Familie herausgenommen, er lebte, aß und schlief fortan mit Altersgenossen zusammen. Die einzelnen Gruppen unterstanden selbstgewählten A n f ü h rern aus den 20- bis 30jährigen sogenannten Eirenen 313 . Diese bildeten im Heer eine eigene Abteilung 314 . Die Oberaufsicht führte ein Knabenvogt (paidonomosf^. Der Spartaner war angeblich nie ohne Aufsicht und nie ohne Betätigung für den Staat 316 . 9c. Die jungen Spartaner lernten Kälte und Hunger ertragen 317 . Die Gewöhnung an den Gehorsam begann mit symbolischen Handlungen, indem etwa die Ephoren die Haartracht kontrollierten und das Stutzen des Bartes vorschrieben 318 . Alle zehn Tage wurden die Jugendlichen von den Ephoren unbekleidet auf ihre Kondition hin geprüft 319 . Die Antwort auf die Frage, warum die Spartaner lange Haare trügen 320 lautete: weil es der

* 299 Thukydides I 144,2; II 39,1; Plutarch, Mor. 238 E * 300 Herodot IX 35 * 301 Aelian, Var. hist. XIII 16, ebenso aus Apollonia am ionischen Meer. * 302 Plutarch, Agis 10 * 303 Xenophon, Lac. 14,4; Plutarch, Lyk. 27; ders., Agis 11 * 304 Isokrates, or. XI 18 * 305 Thukydides I 130; Aelian, Var. hist. III 47; IV 7; IX 41; Athenaios 535 E * 306 Strabon XVII 1,19 * 307 Thukydides V 6; Plutarch, Kleom. 28 * 308 Xenophon, Anab. I 1,9; 4,1 f * 309 Xenophon, Ages. II 28ff * 310 Diodor XXIII 14; Polybios I 32; Livius, Epit. 18 * 311 Polybios V 35; Plutarch, Kleom. 30ff * 312 Xenophon, Lac. 2,10; 6,1 * 313 Plutarch, Lyk. 17 * 314 Herodot IX 85 * 315 Xenophon, Lac. 2,2 * 316 Xenophon, Lac. 2,11; 3,2 * 317 Xenophon, Lac. 2,3 f * 318 Plutarch, Agis 30; ders., Mor. 232 E * 319 Aelian; Var. hist. XIV 7 * 320 Aristophanes, Vögel 1280 ff; Strabon VI 3,2

155

9. Erziehung

billigste Schmuck sei, die Schönen schöner und die Häßlichen schrecklicher mache 321 . Ihr Haarschnitt machte sie auswärts kenntlich 322 . 9d. Eine besondere Rolle spielte die Knabenliebe, angeblich in Kreta 323 oder in Theben erfunden 324 . Die Homosexualität zwischen erwachsenen Spartanern und Heranwachsenden diente nach gemeingriechischer Ansicht der Erziehung 325 . Sie wurde vom Staat gefördert, weil der Glaube herrschte, daß durch die päderastische Betätigung die Seele des Liebhabers auf den Geliebten überging326. Für dessen Verfehlungen haftete der Liebhaber327. So wurden Bindungen geschaffen, die eine Individualisierung der Heranwachsenden verhinderten und ein Aufgehen in der spartanischen Lebensform erleichterten. Besonders deutlich ist das in Kreta. Hier war es üblich, daß der Knabe beim Sport, bei der Jagd oder beim Reigen unter den Männern einen Liebhaber fand, der ihn entführte und mit ihm für zwei Monate in die Berge ging. Nach der Rückkehr erhielt er seine Waffen und wurde in die Männerwelt eingeführt 328 . Wegen einer solchen Sozialisierung förderten die Spartaner ebenso die lesbische Liebe329. In Theben bildete die durch Knabenliebe zusammengehaltene Heilige Schar die Kerntruppe, mit der Epaminondas 371 die Spartaner bei Leuktra besiegte330. Wegen dieser gemeinschaftsstiftenden Wirkung wurde die Homosexualität von Piaton 331 der Heterosexualität ethisch übergeordnet. Nach Xenophon und Aelian wäre die spartanische Knabenliebe allerdings „platonisch" gewesen332. 9e. Es gab früh öffentliche Schulen, doch wurden Lesen und Schreiben, wie es heißt, nur nach Bedarf gelehrt 333 . Das Interesse an der Literatur blieb gering334. Wie alle Griechen - angeblich auch Perser und Inder 335 - lasen die Spartaner Homer, dessen Gedichte Lykurg auf die Peloponnes gebracht haben soll336. Der „Kriegsdichter" Homer erzog die Spartaner, der „Arbeitsdichter" Hesiod die Heloten 337 . Ein Theater gab es in Sparta nicht 338 . Philosophie und Rhetorik waren verboten 339 . Man schätzte Kürze mit Witz, den noch von uns sogenannten Lakonismus 340 . Plutarch 341 hat ein ganzes Buch mit »Sprüchen der Spartaner« überliefert 342 . Kritik an den eigenen Gesetzen war der Jugend untersagt 343 , ebenso das Lob fremder Gesetze 344 . 9f. Gepflegt wurde die Musik 345 , speziell die Chorlyrik, die im Dienste der staatlichen Ideale stand. Der bekannteste spartanische Dichter, Tyrtaios (7. Jh.), war Feldherr im Zweiten Messenischen Krieg 346 und hat ausschließlich Lieder zum Preise des Vaterlandes gedichtet, die auch als Marschlieder im Felde gesungen wurden 347 . Die Spartaner zogen mit Flötenmusik in den Kampf 3 4 8 , nach den Perserkriegen gehörte sie zu den Schul* 321 Plutarch, Mor. 189 E F

*

322 Pausanias X 14,2

*

323 A t h e n a i o s 602 F nach T i m a i o s

* 324 Aelian, Var. hist. XIII 5 * 325 Platon, Alk. 122 B * 326 Plutarch, A g i s 2 4 * 327 Aelian, Var. hist. III 10; 12

*

328 Strabon X 4,21

*

329 Plutarch, Lyk. 18

* 331 Piaton, Symp. 191 E; 192 A ; anders in den Gesetzen 841 D .

*

*

330 Plutarch, Pel. 1 9 f

332 X e n o p h o n , Lac. II 13;

Aelian, Var. hist. III 12 * 333 Plutarch, M o r . 221 C * 334 T h u k y d i d e s IV 84,2; Aelian, Var. hist. XII 50; Strabon II 3,7 * 335 Aelian, Var. hist. XII 48 * 336 Aristoteles, fr. 611,10 ( R o s e ) ; Aelian, Var. hist. XIII 14

*

337 Aelian, Var. hist. XIII 19 nach K l e o m e n e s

*

338 Plutarch, M o r . 239 B

* 339 A t h e n a i o s 611 A * 340 Plutarch, Lyk. 20 * 341 Plutarch, M o r . 208 ff * 342 Eine A u s w a h l aus verschiedenen

Quellen:

M.

Clauss,

Sprüche der Spartaner,

Inselbücherei

Nr.

1023,

1985.

* 343 Piaton, Gesetze 634 d * 344 D e m o s t h e n e s , or. X X 106 * 345 Plutarch, Mor. 238 C; anders Aelian, Var. hist. XII 50

* 346 Strabon VIII 4,10

* 347 s . o . 2 a! * 348 X e n o p h o n , Ages. II 15;

ders., Lac. 13,8; Plutarch, Lyk. 21; A t h e n a i o s 517. Eine Darstellung des Flötenbläsers vor der Phalanx findet sich auf der Chigi-Kanne, einer protokorinthischen O i n o c h o e , hergestellt in Korinth, g e f u n d e n in Etrurien, heute in der Villa Giulia in R o m (s. o. I 9 b!). Die Schildzeichen beweisen, d a ß es sich nicht um Spartiaten handelt, s . o . 4 b!

156

V. Das spartanische Doppelkönigtum

fächern 349 . Während andere Völker Kriegstrompeten vorzogen, wählten die Spartaner die Flöte deshalb, weil sie eine besänftigende Wirkung ausübe 350 . Die Profession des Flötenspielers war, wie die des Kochs und des Herolds, in bestimmten Familien erblich 351 . Die Spartaner hielten streng an den alten Weisen fest. Als jemand eine neue Lyra mit neun statt sieben Saiten vorführte, griff einer der Ephoren selbst zum Beil und haute die beiden neuen Saiten wieder heraus 352 . Die siebensaitige Lyra galt als Erfindung des um 650 in Sparta lebenden Musikers Terpander, der auch die Notenschrift eingeführt haben soll 353 . Der Lehrer Lykurgs soll durch seine Musik einen Bürgerkrieg in Sparta beendigt haben 354 . Tonarten, denen man eine verweichlichende Wirkung zuschrieb, waren verboten 355 , ähnlich wie in Kreta 356 . Statthaft war die dorische Tonart (döristi), die von Piaton 3 5 7 und Aristoteles 358 deswegen gelobt wird, weil sie zur Tapferkeit erziehe. D ä m o n , der Musikphilosoph aus dem Freundeskreis des Perikles, behauptete, die dorische Tonart mache Betrunkene nüchtern 359 . Sie begegnet später unter den Kirchentonarten, Bach hat eine dorische Tokkata für Orgel 360 komponiert. 9g. Die spartanischen Erziehungsideale waren Gehorsam, Abhärtung, Schweigen, Selbstbeherrschung. M a n ermunterte die Knaben zum Stehlen, damit sie Umsicht lernten - oder Geduld beim Ertragen von Schlägen, wenn sie erwischt wurden 361 . Berühmt waren die blutigen Selbstgeißelungen der Jünglinge am Altar der Artemis Orthia 3 6 2 unter dem ermunternden Zuruf der Zuschauer. Nach spartanischem Glauben hatte Iphigenie aus Tauris das hölzerne Kultbild der Artemis mitgebracht, das Menschenopfer verlangte. Lykurg habe dies durch die Geißelung ersetzt 363 . Epiktet 364 erklärte die Geißelungen für erzieherisch vernünftig, und Plutarch 3 6 5 berichtet, er habe gesehen, wie sich einzelne Jugendliche zu Tode gegeißelt hätten. 9h. Der A u f n a h m e des Jugendlichen in die Bürgerschaft war eine doppelte Kontrolle vorgeschaltet. Zuerst mußte er eine Tischgemeinschaft finden, die ihn einstimmig akzeptierte, sodann mußte ein Volksbeschluß über die Einbürgerung herbeigeführt werden. Mit dem zwanzigsten Lebensjahr trat der Spartaner als eiren ins Heer ein, und lebte fortan in Männerhäusern 3 6 6 . Mit dem dreißigsten kam er in die Volksversammlung, durfte heiraten und wenigstens stundenweise zu Hause schlafen. Die Wehrpflicht erlosch mit dem sechzigsten Lebensjahr. 9i. Die Spartaner haben auch über die Jugend hinausblickend für ihren Staat gesorgt, indem sie eine biologische Bevölkerungspolitik betrieben. Zu diesem Zweck wurden auch die Mädchen zum Sport herangezogen. Erstens sollte dies das Gebären erleichtern 367 , und zweitens sollten die Männer 3 6 8 zwar nicht mit mathematischer, aber doch mit erotischer Gesetzmäßigkeit zum Heiraten gebracht werden. Denn man turnte nackt und gemeinsam 369 . Bei den Mädchen ist das Wort gymnos vermutlich als „leichtbekleidet" zu verstehen. Das lehren Bronzestatuetten laufender Mädchen aus Olympia und ein Vorwurf gegen die

* 349 Aristoteles, Politik VIII 6,6 * 350 Gellius I 11 * 351 Herodot VI 60 * 352 Plutarch, Agis 10 * 353 Suidas, Tau 354 * 354 Plutarch, Lyk. 779 A * 355 Aristoteles, fr. 611,11 (Rose) * 356 Strabon X 4,20 * 357 Piaton, Staat 399 a * 358 Aristoteles, Politik VIII 5,8 * 359 Martianus Capella 926; Damon, VS. 37 A 8 * 360 Johann Sebastian Bach, Edition Peters III Nr. 3 * 361 Xenophon, Lac.2,6ff; Aristoteles, fr.611,13 (Rose) * 362 Dawkins 1929 * 363 Pausanias III 16,7ff * 364 Epiktet, Diatr. I 2 * 365 Plutarch, Lyk. 18; Athenaios 350 C * 366 Plutarch, Lyk. 17 * 367 Plutarch, Lyk. 14 * 368 Piaton, Staat 458 D * 369 Properz III 14

157

9. Erziehung

sittenlose „Spartanerin" Helena bei Euripides 370 : „Selbst wenn ein Spartanermädchen die Absicht hätte, könnte sie nicht sittsam sein, wo sie das Haus verläßt, im Kreise junger Männer mit nackten Schenkeln und geschürztem Kleid am Wettlauf teilnimmt." Dennoch heißt es, auch beim Tanz - eine große Rolle spielte der Mädchenreigen, zu dem der Dichter Alkman (um 620) die Chorlyrik verfaßte - seien die Mädchen unbekleidet 371 gewesen und ließen sich so vor Fremden sehen 372 . Voreheliche Liebe zu Mädchen wurde „nach Knabenart" vollzogen 373 . 9j. Um die Ehe von privaten Motiven zu lösen, wurden, wie Athenaios 374 überliefert, die heiratsfähigen Jünglinge und Jungfrauen in einen dunklen Raum gesperrt und mußten sich hier finden. Vermutlich steckt irgendein mißverstandenes Ritual hinter dieser Anekdote. Nach der Heirat wurde ein Zusammenleben des Paares und ein häufiger Geschlechtsverkehr unterbunden. Die Begründung dafür lautete, daß die Kinder um so kräftiger würden, je seltener die Eltern verkehrten 375 . Die freie Stellung der Frau in Sparta, die nicht auf Haus- und Textilarbeit beschränkt blieb376, wurde außerhalb kritisiert. Lykurg habe vergeblich versucht, heißt es, auch sie den Gesetzen zu unterwerfen 377 . Plutarch sammelte Sprüche von Spartanerinnen, die ihren Staat verherrlichen 378 . Auf die Bemerkung, Sparta sei die einzige Stadt, wo die Frauen die Männer beherrschen, erwiderte Gorgo, die Frau des Leonidas: „Wir sind auch die einzigen Frauen, die Männer gebären" 379 . Auch die Mütter forderten von ihren Söhnen den Heldentod 380 . 9k. Einem Vater von drei Söhnen wurde der Wehrdienst erlassen, vier Söhne brachten Abgabenfreiheit 381 . Sobald eine Ehe unfruchtbar zu bleiben drohte, wurde Partnertausch empfohlen 382 . Ehebruch war kein Delikt 383 . Wir hören davon, daß mehrere Männer zugleich mit derselben Frau verheiratet waren, daß Männer ihre Frau an Freunde, die Kinder haben wollten ausliehen 384 . Wer trotz alledem unverheiratet blieb oder keine Kinder hatte, unterlag in der Öffentlichkeit diskriminierenden Gepflogenheiten oder wurde gar vor Gericht gestellt385. Strafbar war es, zu spät oder eine Unwürdige zu heiraten 386 . Die Unverheirateten mußten die Kosten für das Fest des Fruchtbarkeitsgottes Karneios übernehmen 387 . Einmal im Jahr durften die verheirateten Frauen die unverheirateten Männer durchprügeln 388 . Die Kinder gehörten nicht dem Vater, sondern dem Staat. Über die Aufzucht eines Neugeborenen entschied eine Behörde. Kränkliche Kinder wurden ausgesetzt, d. h. den Göttern anheimgestellt 389 . In Theben mußten Eltern, die ihre Kinder aussetzen wollten, diese bei den Behörden abliefern, die sie unter der Bedingung in die Sklaverei verkauften, daß sie aufgezogen wurden 390 . Die Rechtfertigung dieser Bevölkerungspolitik lieferte die Rassezüchtung der Haustiere 391 .

* 370 Euripides, Andr. 595 ff

*

371 Plutarch, M o r . 227 E; VS. 90, 2, 9 (II S . 4 0 8 )

*

372 Athe-

naios 566 E * 373 A t h e n a i o s 602 E * 374 A t h e n a i o s 555 C * 375 X e n o p h o n , Lac. 1,5 * 376 Xenop h o n , Lac. 1,3

*

377 Aristoteles, Politik II 6,8

*

378 Plutarch, Mor. 240 C ff

*

379 Plutarch,

M o r . 227 E * 380 Aelian, Var. hist. XII 21 * 381 Aristoteles, Politik II 6,3; Aelian, Var. hist. VI 6 nennt statt vier: fünf.

*

382 H e r o d o t V 3 9 f ; VI 62; X e n o p h o n , Lac. 1,7f; Plutarch, Pyrrhos 28

* 383 Plutarch, Lyk. 15; ders., M o r . 242 B * 384 Polybios XII 6 b 8 * 385 Pollux III 48; VIII 4 0 * 386 opsigamia

und kakogamia:

Pollux III 48

*

387 H e s y c h i o s s. v. Karneatai, p. 414, K a p p a 4 0

* 388 A t h e n a i o s 555 C, im kultischen Z u s a m m e n h a n g .

*

Var. hist. II 7 * 391 Piaton, Staat 459; Plutarch, Lyk. 15

389 Plutarch, Lyk. 15 f

*

390 Aelian,

158

V. Das spartanische Doppelkönigtum

10. Ende und Ausblick 10a. „Kein Gesetzgeber hat je einem Staate diese Einheit, dieses National-Interesse, diesen Gemeingeist gegeben, den Lykurgus dem seinigen gab", schrieb Schiller 17 8 9392. Die Rigorosität der Lebensführung erklärt es, wie die Spartaner es geschafft haben, die Führungsposition auf der Peloponnes und den ersten Rang unter den Griechen so lange zu behaupten. Erst die Niederlage bei Leuktra gegen die schiefe Schlachtordnung 393 des Epaminondas von Theben 394 im Jahre 371, der Messenien selbständig machte, bedeutete die Wende. Weder bei Chaironeia noch am Alexanderzug haben sich die Spartaner beteiligt, ein von Persien unterstützter Aufstandsversuch wurde 331 durch Alexanders Statthalter Antipatros niedergeworfen 395 . Alexander nannte das einen „Mäusekrieg" 396 . 10b. Mit der Niederlage bei Leuktra verbanden die antiken Betrachter den Beginn des Niedergangs Spartas. Als Grund vermutete man die Preisgabe der alten Sitten. König Areus (309-265) führte angeblich einen geradezu persischen Luxus ein und wurde darin von einzelnen Spartanern noch übertroffen 397 . Plutarch 398 tadelt, daß sich die Spartaner von den Prinzipien des lykurgischen Kosmos gelöst und gemäß einer vom Ephoren Epitadeus eingebrachten Rhetra den Boden veräußerbar gemacht hätten 399 . Schon Aristoteles 400 verweist auf die Konzentration des Grundbesitzes und die abnehmende Bürgerzahl, und diese hängt ebenfalls mit dem Abweichen vom Kosmos Lykurgs zusammen, weil das die alte Besitzgleichheit beseitigte und größere Zahlen von Minderbürgern schuf (hypomeiönes). Im Jahre 480 zählte Sparta 8000 Spartiaten 401 , zur Zeit des Aristoteles 402 waren es keine 1000 mehr, damals befanden sich zwei Fünftel des Landes im Besitz der Frauen. Die Schwester des Königs Agesilaos züchtete Rennpferde 403 . Die größten Grundbesitzer im 3. Jh. waren zwei Frauen 404 . Ende des 3. Jhs. v. Chr. gab es bloß noch etwa 100 grundbesitzende Spartiaten 405 , die in der Lage waren, die Abgaben zu den gemeinsamen Mahlzeiten zu leisten. Und je reicher diese letzten Spartiaten wurden, desto weniger waren sie bereit, sich den asketischen Lebensformen zu unterwerfen. 10c. In der späteren Zeit verdingten sich die Spartaner als Söldner bei persischen Satrapen 406 und sizilischen Tyrannen 407 , bei karthagischen Sufeten 408 und ptolemäischen Königen 409 . Damit fanden Edelmetalle Eingang. Xenophon klagt über die neuerliche Goldgier der Spartaner 410 . Das Gesetz, daß die Frauen keinen Goldschmuck tragen dürften 411 , verschwand. Das Hetärenwesen hielt Einzug 412 . Silbermünzen, und zwar den Alexander-Typ, schlug zuerst König Areus (309-264) nach 267413, Kleomenes III und Nabis prägten in hellenistischer Manier mit ihrem Porträt. Die letzten Münzen Spartas stammen aus der Zeit des Herulerkrieges 267 n.Chr. Die Vorderseiten zeigen den römischen Kaiser, die Rückseiten den Apollon von Amyklai, die Athena Chalkioikos oder die Dioskuren. * 392 Schiller XVI, S.106 * 393 Xenophon, Hell. VI 4,12f; Diodor XV 55,2 * 394 Cornelius Nepos, Epam. 15 * 395 Arrian III 13,4ff; Plutarch, Agis 3 * 396 Plutarch, Ages. 15 * 397 Athenaios 141 F ff * 398 Plutarch, Agis 5 * 399 I.e. * 400 Aristoteles, Politik 1270 a 20; 1307 a 35 * 401 Herodot VII 234 * 402 Aristoteles, Politik 1270 a 30 * 403 Xenophon, Ages. IX 6 * 404 Plutarch, Agis 4 * 405 Plutarch, Agis 5 * 406 Klearchos, Cheirisophos * 407 Diodor XIV 58,1; 63,4 * 408 Xanthippos * 409 Kleomenes III * 410 Xenophon, Lac. 14,3; Piaton, Alk. 122 E * 411 Aristoteles, fr. 611,13 (Rose) * 412 Athenaios 574 C D ; Nepos, praef. 4 * 413 Grünauer von Hoerschelmann 1978, S. l l O f ; Tafel I 1

10. Ende und Ausblick

159

lOd. Dem Vollbürgerschwund wäre zu steuern gewesen: durch Aufnahme von Neu bürgern und Bodenreformen. Im 3. Jh. haben Agis IV und Kleomenes III diese Maßnahmen eingeleitet, doch fanden sie bei den präsumtiven Nutznießern nicht genügend Rückhalt 414 . Vor allem haben die beiden Könige sofort wieder die militärische Expansion aufgenommen und sind dabei am achäischen Bund und an Makedonien gescheitert. Die GroßmachtTräume waren mit der Niederlage gegen Makedonien bei Sellasia 222 für immer vorbei 415 , von den 6000 Spartiaten sollen damals 5800 gefallen sein. lOe. In der Folgezeit finden wir Tyrannen in Sparta, die zahlreiche Sklaven zu Bürgern erhoben 416 und mit Leibwächtern und Söldnern 417 regierten, so Machanidas 4 1 8 und den „eigensinnigen kleinen Raubherrn" 4 1 9 Nabis, den letzten Sproß des Königshauses, der den seit 295 bezeugten Pfahlgraben um die Stadt 420 zu einer Mauer ausbaute 421 und sich mit römischer Hilfe bis 192 gegen die Achäer halten konnte 422 . Danach mußte Sparta seine Mauern wieder schleifen 423 und dem achäischen Bund beitreten. 189 wurden die Söldner entlassen und die Verfassung Lykurgs endgültig abgeschafft 424 . Die Neubürger wurden vertrieben 425 , und der „echte" Demos setzte sich ein kolossales Denkmal, das noch Pausanias 426 im 2 . J h . n . C h r . auf dem Markt von Sparta bewunderte. „Je tiefer das wirkliche Sparta sank, desto mehr wurde das frühere verklärt", schrieb Burckhardt 427 . 10f. Die Römer benutzten die Spartaner als Gegengewicht gegen die Achäer, betrieben eine spartafreundliche Politik und genossen die Sympathie vor allem der Periöken und Heloten 428 . Sparta wurde im 2. Jh. civitas libera429 und gehörte zur Klientel der Claudii 430 . Der reiche Gaius Julius Eurykles 431 hatte unter Augustus die Stellung eines Hegemon über die Stadt und prägte Münzen mit seinem Namen 4 3 2 . Unter der römischen Herrschaft kam es zum ersten Mal zu einem sicheren Wohlstand 433 . Sparta wurde die neben Korinth bedeutendste Stadt auf der Peloponnes. Die alten Einrichtungen - von Königtum und Helotie abgesehen 434 - arbeiteten weiter 435 , aber die politische Selbständigkeit war längst dahin. Flavius Josephus 436 bemerkte um 100n.Chr., es gebe keine spartanische Verfassung mehr. Trotzdem waren noch im 4. Jh. n. Chr. die Selbstgeißelungen am Artemis Orthia-Altar eine Touristenattraktion 4 3 7 . 3 9 5 wurde Sparta von Alarich geplündert 438 . 10g. Die Byzantiner gaben die Siedlung auf zugunsten der fränkischen, durch Wilhelm II Villehardouin errichten Bergfestung Maitresse-Mistra, wo Goethe Faust mit Helena verband. Der dritte Akt von Faust II spielt vor dem Palaste des „Menelas" zu Sparta, und im dritten Akt wird er beschrieben 439 . 1771 wurde Sparta von Truppen der Zarin Katharina II erobert, aber konnte nicht gehalten werden. Erst 1834 ließ König Otto von Wittelsbach Sparta neu aufbauen.

* 414 Plutarch, Agis und Kleomenes passim-, Bengtson 1975 * 415 Polybios II 64f; Plutarch, Kleom. 35ff * 416 Plutarch, Philop. 16 * 417 Polybios XIII 6ff * 418 Plutarch, Philop. 10 * 419 Mommsen RG. I S. 717 * 420 Pausanias I 13,6 * 421 Pausanias VII 8,5 * 422 Livius XXXV 35 * 423 Pausanias VII 8,5 * 424 Plutarch, Philop. 15f * 425 Livius XXXVIII 34 * 426 Pausanias III 11,10 * 427 J. Burckhardt, GK. I S.91 * 428 Strabon VIII 5,5 * 429 Plinius, Nat. hist IV 8/16 * 430 Sueton, Tib. 6,2; V. DeFalco, L'epicureo Demetrio Lacone, 1923, S.7; 95 * 431 Pfohl Nr. 72 * 432 Grunauer + v. Hoerschelmann 1978, Tafel 19 ff * 433 P. Cartledge + A. Spawforth 1991 * 434 Strabon Vili 5,4 * 435 Pausanias III 11,7 * 436 Josephus, c. Ap. II 31 * 437 Libanios, or. I 23 * 438 Zosimos V 6,5 * 439 Goethe, Faust II, 8994ff; Th. Däubler, Sparta. Ein Versuch, 1923, S. 60: „Faust, ein spartanisches Weihespiel"

160

V. Das spartanische Doppelkönigtum

10h. Einen nennenswerten Einfluß auf spätere Staatsordnungen hat der spartanische Kosmos nicht ausgeübt. Dennoch wird er, wie Friedrich Schiller 1789 schrieb „einem philosophischen Forscher der Menschengeschichte immer sehr merkwürdig bleiben" 440 . Denn länger als die meisten anderen großen Staaten des Altertums hat Sparta seine Eunomia ohne Bürgerkrieg, ohne Verbannung, ohne Tyrannenregime 441 bewahren können und im allgemeinen auch eine besonnene Außenpolitik betrieben 442 . So verstehen wir die Bewunderung, die dieses Gemeinwesen nicht nur bei den Lakonizonten unter Griechen wie Römern gefunden hat 443 , sondern auch bei den Juden der Makkabäer-Zeit. Damals schrieb der Hohepriester Jonathan an den Spartanerkönig Areus, Juden und Spartaner seien Brüder 444 . Besonders Interesse fand der Spartanische Kosmos bei den Stoikern 445 . Im 18. Jahrhundert gehörte die Gesetzgebung Lykurgs zu den Mustern antiker Staatskunst 446 . Samuel Adams, der Anführer der Boston Teaparty träumte davon, in Amerika ein „christliches Sparta" zu errichten, doch scheiterte dies, wie er am 2. VII. 1785 schrieb, weil die Amerikaner auf ihren Luxus nicht verzichten wollten 447 . lOi. Dennoch hat Sparta auch Kritik erfahren. Bereits Aristoteles 448 erklärte den spartanischen Militarismus für unmenschlich, und ähnliche Stimmen verlauten im Deutschen Idealismus. Bei Hegel449 heißt es: „Die Staatsbildung Spartas beruht auf Anstalten, welche vollkommen das Interesse des Staates sind, die aber nur die geistlose Gleichheit und nicht die freie Bewegung zum Ziel haben." Noch entschiedener äußerte sich 1789 Schiller450, der Dichter der Freiheit. Er hat die Unmenschlichkeit der Spartaner gegen die Sklaven und die Degradierung des Menschen zu bloßen Mitteln für den Staat zum Anlaß genommen, den spartanischen Staat für seinen „traurigen Egoismus" zu tadeln. „Diese bewunderungswürdige Verfassung ist im höchsten Grade verwerflich, und nichts Traurigeres könnte der Menschheit begegnen, als wenn alle Staaten nach diesem Muster wären gegründet worden." Schiller sieht den Sinn jedes Staates in dem, was dieser für die Entfaltung der Individualität, für die „Kultur" leistet - und da schneidet Sparta schlecht ab. Schiller meint, und ich mit ihm, „daß Fortschreitung des Geistes das Ziel des Staats seyn soll."

* 440 Schiller XVI, S. 114 * 441 Thukydides 1 18 * 442 cunctatores: Livius VL 23, 15 * 443 Aristeides bei Plutarch, Arist. 2; Kimon bei Plutarch, Kim. 14; Kritias bei Xenophon, Hell. II 3,34; Xenophon, Ages. I 4; Diod. XVI 57; Tigerstedt 1965/74 * 444 AT. 1. Makkabaer 12 * 445 Persaios bei Athenaios 140 F * 446 Rawson 1969 * 447 Samuel Adams, The Writings of Samuel Adams, ed. H . A . C u s h i n g , I-IV 1904-1908 * 448 Aristoteles, Politik 1333 b * 449 Hegel 1831/1961, S. 368 * 450 Schiller XVI, S. 93 ff

Literatur zu V

161

Literatur zu V Neuere Forschungen bringt außer den Zeitschriften zur Alten Geschichte, s. o. Literatur zu I, das Journal of Hellenic Studies.

Andreev, J. V., Sparta als Typ einer Polis, Klio 57, 1975, S. 73-82 Bengtson, H., Kleomenes III. , König von Sparta. In: Ders., Herrschergestalten des Hellenismus, 1975, S. 165-184 Berve, H., Sparta, 1937 Bommelar, J. F., Lysandre de Sparte, 1981 Bringmann, K., Die soziale und politische Verfassung Spartas ein Sonderfall der griechischen Verfassungsgeschichte? Gymnasium 87,1980, S. 465-484 Carlier, P., La Royauté en Grèce avant Alexandre, 1984 Cart ledge, P., Sparta and Lakonia. A regional history 1300-362 B. C„ 1972 Cart ledge, P., Agesilaos and the Crisis of Sparta, 1987 Cartledge, P. + Spawforth, A., Hellenistic and Roman Sparta, 1989 Cawkwell, G. L., The Decline of Sparta, Classical Quarterly 33, 1983, S. 385-400 Christ, K. (Hg.), Sparta, 1986 (WdF. 622) Clauss, M., Sparta. Eine Einführung in seine Geschichte und Zivilisation, 1983 Curtius, E., Pelöponnesos. Eine historisch-geographische Beschreibung der Halbinsel, I 1851, II 1852 David, E., Sparta between Empire and Revolution (404-243 B. C.), 1981 Devereux, G., La Psychoanalyse et l'histoire. Une Application à l'histoire de Sparte, Annales ESC 20, 1965, S. 18-43 Dawkins, R. M., The Sanctuary of Artemis Orthia, 1929

MacDowell, D. M., Spartan Law, 1986 Drews, R., Basileus. The Evidence for Kingship in Geometrie Greece, 1983 Ehrenberg, V., Spartiaten und Lakedaimonier (1924), in: Ders. , Polis und Imperium, 1965, S. 161-201 Ehrenberg, V., Neugründer des Staats, 1925 Ehrenberg, V., Der Damos im archaischen Sparta, Hermes 68, 1933, S. 288-305 Fontenrose, J., The Delphic Oracle. Its Responses and Operations with a Catalogue of Responses. 1978 Forrest, W. G., A History of Sparta 950-192 B. C. , 1968 Grunauer-von Hoerschelmann, Susanne, Die Münzprägung der Lakedaimonier, 1978 Gschnitzer, F., Ein neuer spartanischer Staatsvertrag und die Verfassung des peloponnesischen Bundes, 1978 Hampl, F., Die lakedaimonischen Periöken, Hermes 72, 1937, S. 1 - 4 9 Hooker, J. T., The Ancient Spartans, 1980 Jones, A. H. M., Sparta, 1967 Kiechle, F., Lakonien und Sparta, 1963 Kiechle, F., Messenische Studien, 1959 Kirsten, E., Die Entstehung des spartanischen Staates (1936). In: Ders. , Landschaft und Geschichte in der antiken Welt, 1984, S. 35-55 Link, S. Der Kosmos Sparta, 1994 Mac Dowell, D. M., Spartan Laws, 1986 Meyer, Ed., Lykurgos von Sparta, in: Ders. , Forschungen zur alten Geschichte, Bd. 1, 1892, S. 211 ff

162 Micheli, H„ The Iron Money of Sparta, Phoenix Suppl., 1947, S. 42ff Nilsson, M. P., Die Hoplitentaktik und das Staatswesen, in: Klio 22, 1929, S. 240-249 Noethlichs, K. L., Bestechung etc. , Historia 36, 1987, S. 129 ff Norvin, W., Zur Geschichte der spartanischen Eunomia, Classica et Mediaevalia 2, 1939, S. 247-293 u. 3, 1940, S. 47-85, S. 86-118 Oliva, P., Sparta and Her Social Problems, 1971 Poralla, P., Prosopographie der Lakedaimonier bis auf die Zeit Alexanders d. Gr. , 1913/85

V. Das spartanische Doppelkönigtum Powell, A., Classical Sparta, 1989 Rawson, E., The Spartan Tradition in European Thought, 1969 Talbert, R. J., The Role of the Helots in the Class Struggle at Sparta, Historia 38, 1989, S.22ff Tigerstedt, E. TV., The Legend of Sparta in Classical Antiquity, I 1965, II 1974 Welwei, K. W., Die spartanische Phylenordnung im Spiegel der Großen Rhetra und des Tyrtaios, Gymnasium 86, 1979, S. 178-196 Wickert, K., Der peloponnesische Bund, 1961

VI. Die griechische Tyrannis

165 1.

Begriff: a. b. c. d. e. f.

2.

4.

8.

Korinth: Bakchiaden Kypselos Periander Athen: Kylon Drakon Peisistratos Vertreibung Hippias Syrakus: Gelon Hieron Dionysios I Dionysios II Agathokles, Hieran II

Ehebündnisse, Proxenie Städtegründung Kriege Sizilien

Kulturpolitik a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k. 1. m. n.

9.

Unterschichten gefördert Adel geduckt: Ährengleichnis Verbannung Luxusverbote Phylenreform Sozialpolitik Landwirtschaft Töpferei Technik Münzen Steuern

Außenpolitik a. b. c. d.

Beispiele a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k. 1. m.

5.

7.

Entstehung a. Verfassungskreislauf b. Wachstum der Städte Spätere Stadtkönige c. Große Kolonisation d. Handwerk und Handel Hopliten-Taktik e. Prosperität f. Schiedsmänner und Tyrannen

Innenpolitik a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k.

Quellen a. Quellen zur älteren Tyrannis: Syrakus b. Mutterland c. zur jüngeren Tyrannis d. Archäologie

3.

6.

Verbreitung ältere und jüngere Tyrannis Archilochos Wortbedeutung Selbstbezeichnung, Anrede Tyrann: Interpretation

Bauten: Korinth Samos Athen: Akropolis Piräus, Agora Sizilien Stiftungen Bildende Kunst Spiele Religion und Theater Literatur: Samos, Athen Korinth, Sizilien Piaton in Syrakus Renaissance

Niedergang a. b. c. d. e.

Innerer Widerstand Äußerer Widerstand Tyrannenmörder Widerstandsrecht Tyrannentopik

Herrschaft a. b. c. d. e. f. g.

Funktionen u. Institutionen Zeremoniell: ältere, jüngere Tyrannis Dynastie Burg Leibwache und Söldner Entwaffnung

10. Bedeutung a. b. c. d.

ökonomisch, sozial, politisch antizipierte Demokratie plebiszitäre Diktatur Stesichoros

Literatur zu VI

167 Wenn überhaupt Unrecht getan werden muß, lohnt es sich nurfiir die Tyrannis. Euripides

1. Begriff la. Der Begriff tyrannis bezeichnet eine Form monarchischer Stadtherrschaften, die im 7. Jh. aufgekommen ist, sich rasch über die griechische Welt ausgebreitet hat, im 5. Jh. deutlich zurückgeht, dann abermals um sich greift und erst im Hellenismus verschwindet oder zum Stadtkönigtum wird. Nur in Randgebieten konnte sie sich halten. Die Forschung unterscheidet dementsprechend zwischen einer älteren, vorklassischen Tyrannis 1 und einer jüngeren, nachklassischen 2 . Ib. Die ältere Tyrannis läßt sich als Ausdruck einer Wachstumskrise beim Ubergang von der Aristokratie zur Demokratie begreifen, während die jüngere Tyrannis eine Zerfallskrise der Polisdemokratie anzeigt, die gegen äußere oder innere Bedrohung eines starken Mannes bedurfte. Die zweite Krise führte in den hellenistisch-römischen Flächenstaat. Die Tyrannis war nur möglich, bevor die Polisgesinnung erstarkt war, und erst wieder, nachdem sie zugunsten privater Interessen erlahmt war. ic. Die Wörter tyrannos und tyrannis fehlen noch bei Homer, sie begegnen zuerst im 7. Jh. bei Archilochos von Paros: „Mir liegt an Gyges und seinem vielen Golde nichts, mich treibt kein Ehrgeiz. Die Werke der Götter sind mir gleichgültig, ich strebe nicht nach einer Tyrannis, all dies liegt meinen Augen fern" 3 . Das ist insoweit untypisch, als die Tyrannis sonst als eine höchst beneidenswerte Stellung erschien 4 . Das Wort tyrannos soll auf den Lyder Gyges zuerst angewandt worden sein5. Es wird von Hippias 6 als „tyrrhenisch" bezeichnet. Wahrscheinlich hängt es mit etruskisch turan - „Herr, Herrin" und dem Namen des Königs Turnus zusammen 7 ; sicher ist es nicht griechisch, wahrscheinlich kleinasiatisch 8 . Id. Tyrannos heißt ursprünglich soviel wie „Herr", ohne negativen Akzent. Im wertfreien Sinn begegnet tyrannos als Beiname von Göttern, so bei der ägyptischen Göttin Isis9, bei dem kleinasiatischen Sklavengott Men Tyrannos 10 und bei Heroen (so bei »Ödipus Tyrannos« von Sophokles), selten in der Politik". Im politischen Bereich wird das Wort seit * 1 Berve 1967; Kinzl 1979; Stahl 1987; Barcelö 1993 * 2 Stroheker 1958; Frolov 1975; Meister 1984 * 3 So spricht bei ihm der Zimmermann Charon: Aristoteles, Rhet. 1418b; Plutarch, Mor. 470 C; Archilochos, fr. 22 (Diehl) * 4 Euripides, Phoen. 524f; ders. bei Plutarch, Mor. 18 D; 125 DE; s.o. Motto! * 5 Euphorion von Chalkis, fr. 1; in: FHG. III S. 72 * 6 Hippias, VS. 86 B 9 * 7 W. Brandenstein, RE. VII A, 1948, S. 1409 * 8 Pompeius Festus 355/534 * 9 Pfohl Nr. 136 * 10 Dittenberger Nr. 1042 * 11 Thukydides VI 59,3

168

VI. Die griechische Tyrannis

Alkaios 12 und Solon 13 abfällig gebraucht. Kein griechischer Tyrann hat sich jemals nachweislich selbst „Tyrann" genannt, und dies unterscheidet den Terminus tyrannos von dem Terminus dictator, der in der Verfassung der römischen Republik ein zwar außerordentliches, aber eben doch gesetzmäßiges Amt, eine Magistratur, bezeichnet 14 . In der römischen Kaiserzeit seit Constantin 15 bedeutet tyrannus soviel wie Gegenkaiser, Usurpator. le. Nach Xenophon 1 6 herrscht ein König gesetzmäßig über Freiwillige, ein Tyrann jedoch gesetzlos über Unfreiwillige. So ist es verständlich, wenn Polybios 17 schreibt, alle Monarchen wollten, zu Recht oder Unrecht, Könige heißen. Demgemäß haben sich die Tyrannen in der Regel als König (basileus n ), als Herr (despotes), oder als Herrscher (koiranos, anassön, dynastes, archöri) anreden lassen. Gelon und Hieron nannten sich selbst nur mit dem Namen 19 , wurden von anderen hingegen als basileus (König), söter (Retter) und euergetes (Wohltäter) gefeiert 20 . Das nimmt geradezu hellenistische Titel vorweg 21 . 1f . Wo der Begriff tyrannos verwendet wird, ist er stets das Ergebnis einer Interpretation. Die Tyrannis erscheint durch die Überlieferung hochgradig typisiert. Piaton, 22 Xenophon 23 und Aristoteles 24 kennzeichnen den Tyrannen dadurch, daß er ohne Rücksicht auf die Gesetze regiere und nur für seinen privaten Vorteil arbeite. Die Tyrannis erscheint als Frucht der Hybris und gilt allenthalben als die schlechteste aller Staatsformen, wiewohl die Nachrichten über einzelne Tyrannen durchaus positive Züge erkennen lassen.

2. Quellen 2a. Die Quellen über die ältere griechische Tyrannis verteilen sich ungleichmäßig. Zeitgenössisch sind Hymnen von Pindar und Bakchylides auf Hieron von Syrakus. Xenophons Schrift »Hieron« ist ein sokratischer Dialog zwischen dem Tyrannen und dem Dichter Simonides über die gerechte Herrschaft, ideengeschichtlich bedeutsam 25 , aber historisch unergiebig. Nachrichten über die frühen Tyrannen Siziliens verdanken wir Herodot aus dem 5. Jh. und Diodor aus augusteischer Zeit, vermutlich weitgehend nach dem verlorenen Werk des Timaios. Dieser war ein Sohn des Tyrannen von Tauromenion 26 , wurde von Agathokles verbannt und lebte später in Athen. 2b. Zeitgleiche historiographische Berichte fehlen für das Mutterland; die erhaltenen Texte sind mindestens ein Jahrhundert von den Ereignissen getrennt. Am besten dokumentiert ist die Herrschaft der Peisistratiden in Athen, namentlich durch Herodot und Thukydides, sowie durch Aristoteles' »Politik« und »Athenaion Politeia«. Vereinzelte Nachrichten liefern Piaton und Plutarch. Die Herrschaft der Kypseliden in Korinth wird von den genannten, auf Athen fixierten Gewährsmännern nur am Rande erwähnt. Von

* 12 Alkaios, fr. 87 (Diehl) über Pittakos von Mytilene * 13 Plutarch, Sol. 35,1 * 15 Dessau Nr. 694 * 16 Xenophon, Mem. IV 6,12 * 17 Polybios Pyth. I 60; III 70; ders., Olymp. I 23; Herodot III 42; V 35; 44; 113; VI VII 8; Diodor XI 26,6; 38,2; 51; Photios 224 B 5; Nicolaus Damascenus nus Porphyrogenitus, Excerpta histórica II 1, S. 342; Suidas, Beta 144

14 * 14 Livius XXVII VI 3,10 * 18 Pindar, 23; VII 161; Polybios 23 (59) bei Constanti* 19 Meiggs Nr. 28 ff

* 20 Diodor XI 26,6 * 21 s. u. X 4 k! * 22 Platón, Staat IX, passim * 23 Xenophon, Hieron, passim; ders., Mem. IV 6,12 * 24 Aristóteles, Politik 1279 b 5; 1293 b 25; 1295 a * 25 Strauss + Kojéve 1948/63 * 26 Plutarch, Timoleon 10

3. Entstehung

169

Periander schrieb Diogenes Laertios 27 eine Philosophenbiographie. Er gehörte zu den Sieben Weisen. 2c. Der Schwerpunkt der jüngeren Tyrannis liegt in Sizilien. Zeitgenössische Berichte haben wir in den echten Briefen Piatons, namentlich dem 7., 8. und 3. Eine zusammenfassende Darstellung überliefert Diodor 28 . Dessen Geschichte Siziliens benutzten Plutarch für die Viten von Dion und Timoleon, ebenso Pseudo-Aristoteles in den »Oeconomica« und Nepos in seiner lateinischen Kurzbiographie von Dion. Plutarch hat keinen Tyrannen einer Biographie gewürdigt. 2d. Inschriften von Tyrannen trugen deren Weihgeschenke, soweit man sie nicht später entfernt hat 29 . Die sizilischen Münzen 30 sind künstlerisch unübertroffen, lassen aber nicht erkennen, ob sie unter Tyrannen oder in Demokratien geprägt wurden. Das „Demarateion" heißt nach Gelons Frau Demarete. Sie stiftete das Edelmetall; daß sie selbst dargestellt sei, ist nicht überliefert 31 . Die Münzen zeigen vielmehr die Stadtgöttin von Syrakus, Arethusa-Artemis. Eindrucksvoll sind die Reste der Bauten 32 .

3. Entstehung 3a. Piaton 33 und Aristoteles 34 haben die Entstehung der Tyrannis aus dem Verfassungskreislauf erklärt 35 . Am Anfang hätten Könige regiert, die sich durch Leistung ausgezeichnet hätten. Ihre Nachkommen aber wären degeneriert. Die besseren Bürger wollten sich eine korrupte Alleinherrschaft nicht gefallen lassen und hätten statt der Monarchie die Aristokratie durchgesetzt. Nachdem die Adligen dann über die Anarchie die Herrschaft in den Händen hielten, hätten sie diese zur persönlichen Bereicherung mißbraucht, und die Aristokratie sei zur Plutokratie, die Herrschaft der Besten zur Herrschaft der Reichen abgesunken. Dagegen seien als Führer der Unzufriedenen Tyrannen aufgestanden, bis sie ihrerseits ihre Stellung mißbrauchten und der Demokratie Platz machen mußten. Die immer extremere Demokratie führte dann über anarchische Gruppenkämpfe zum Sieg des geschicktesten Parteiführers 36 . So erscheint die Tyrannis in der Folge der Verfassungen zweimal: am Anfang und am Ende der Demokratie. 3b. Für die neuere Geschichtswissenschaft, die sich an Thukydides 37 anlehnt, bietet sich ein etwas anderes Bild. Das Aufkommen von Tyrannen-Herrschaften sieht sie im Zusammenhang mit dem Wachstum der Städte. Die Siedlung in Dörfern verlor an Bedeutung; seit dem 9./8. Jh. dominiert die Stadt im griechischen Siedlungsbild. Nur die abgelegenen und zurückgeliebenen Landschaften hielten an der dörflichen Struktur fest. In den Städten gab fortan der Adel den Ton an, Könige hielten sich nur in Randgebieten. In Kyrene endet die Herrschaft der Battiaden um 450 v. Chr.; auf Cypern behaupteten sich Stadtkönige bis in den Hellenismus; 38 in Pantikapaion auf der Krim regierte die als gerecht gerühmte Dynastie der Spartokiden bis etwa 100 v. Chr.; 39 in Skepsis in Phrygien überlebte die Königsfamilie den Übergang in die Aristokratie und die Demokratie. 40 * 27 Diogenes Laertios I 7 * 28 D i o d o r X I I I - X V I * 29 s.u. 5 b! 8 i! * 30 B M C . 2, Sicily * 31 D i o d o r XI 26,3 * 32 s.u. 8 a - f ! * 33 Piaton, Staat VIII f * 34 Aristoteles, Politik 1286 b * 35 D e m a n d t 1993, S . 8 6 f f ; 210ff * 36 A n o n y m u s Jamblichi, VS. 89,7,12 * 37 Thukydides I 13 * 38 G . H i l l , A History of Cyprus, I 1949, S. 156 ff * 39 Aeneas Tacticus V 2; Aelian, Var. hist. V I 1 3 ; Strabon VII 4,4 * 40 Strabon XII 1,52

170

VI. Die griechische Tyrannis

Abb. 10.

3. Entstehung

171

3c. Zur gleichen Zeit vollzog sich eine Bevölkerungszunahme. Es kam zur großen griechischen Kolonisation, die teils vom Mutterland, teils von den älteren Kolonien in Kleinasien (namentlich von Milet 41 ) und der Ägäis (insbesondere von Euboia 42 ) ausging. Zwischen 750 und 550 wurden viele Tochterstädte in Unteritalien und Sizilien gegründet, weitere entstanden an der französischen und spanischen Mittelmeerküste, einige auch in der Kyrenaika, an der Südküste Kleinasiens, im Marmarameer und im Pontos-Raum. Schließlich saßen die Griechen, nach dem Wort Piatons, 43 um das Mittelmeer herum wie die Frösche um einen großen Teich. 3d. Mit dem Fortschritt des Handwerks nahm die Sklaverei zu, weitete sich der Handel aus. Neue, bürgerliche Schichten wurden reich, der grundbesitzende Adel verlor an Einfluß. Dies gilt auch im Kriegswesen. Spielten in der frühgriechischen Welt erst die Streitwagen und später die Reiterei militärisch die wichtigste Rolle, so gewann seit etwa 700 die geschlossene Schlachtreihe (phalanx) schwer gepanzerter Hopliten (Fußkämpfer) Bedeutung, in der die begüterten Bürger kämpften. Die Phalanx gibt es zwar schon bei Homer, 44 doch spielte sie damals nur eine sekundäre Rolle gegenüber den Wagenkämpfern. Die Phalanx-Taktik, von Tyrtaios 45 um 650 beschrieben, blieb in kaum veränderter Form durch die ganze Antike führend, bis der Verfall der Disziplin in der Spätantike der Reiterei wieder das Übergewicht verschaffte. 3e. Die Verbindung zwischen Tyrannis und wirtschaftlicher Prosperität zeigt sich deutlich an der Verbreitung dieser Herrschaftsform. Sie taucht auf in den am weitesten entwickelten Städten: Zuerst auf dem Festland, in Korinth und Sikyon um 660, seit 615 mit Panaitios von Leontinoi auf Sizilien458, um 560 folgt Athen, sodann finden wir Tyrannen auf den Inseln, in Samos, in Kleinasien, vor allem in Milet und im weiteren Kolonialgebiet. Thukydides 46 betrachtete die Tyrannis als Folge des Wohlstands in den Städten. 3f. Der Übergang der Vorherrschaft vom grundbesitzenden Adel auf das gewerbetreibende Bürgertum vollzog sich nicht reibungslos. Es kam zu bürgerkriegsähnlichen Situationen (stasis), die entweder friedlich durch Schiedsmänner (diallaktes, aisymnetes) oder gewaltsam durch Tyrannen an der Spitze der Unzufriedenen gelöst wurden. Die Volkswahl für Schiedsrichter bei Wettkämpfen kannte schon Homer 47 , möglicherweise gab der Sport das Modell für die Entscheidung von Streitfällen. Die Befugnisse dieser Aisymneten gingen weit. Aristoteles 48 nennt sie „gewählte Tyrannen" und verweist auf Pittakos von Mytilene, der zum Alleinherrscher gewählt worden war (587-579), um die Rückkehr der verbannten Adligen zu verhindern, und sich von diesen als Tyrann von miserabler Geburt beschimpfen lassen mußte 49 . Pittakos benutzte seine Tyrannis, um die Oligarchie in eine Demokratie zu überführen. Er war sozusagen Solon, Peisistratos und Kleisthenes in ein und derselben Person und verkörpert so die kürzeste Form der Entwicklungsfunktion der Tyrannis. 50 Mit Recht gehört er neben Solon, Periander und Peisistratos zu den Sieben Weisen.51

* 41 Strabon XIV 1,6 * 42 Strabon X 1,9 * 43 Piaton, Phaidon 109 b * 44 Homer, Ilias VI 6; XI 90; XVI 215 * 45 Tyrtaios, fr. 8,35 ff (Diehl) * 45 a Eusebios-Hieronymus Chron. z. J. * 46 Thukydides 1 1 3 * 47 Homer, Odyssee VIII 258 f * 48 Aristoteles, Politik 1285 a * 49 kakopatris, Alkaios, fr. 87 (Diehl) * 50 Strabon XIII 2,3 * 51 Pausanias I 23,1; Snell 1971

ìli

VI. Die griechische Tyrannis

4. Beispiele 4a. Die Geschichte der griechischen Tyrannis läßt sich an drei Städten besonders gut ablesen: an Korinth, an Athen und an Syrakus. Korinth trägt zwar einen vorgriechischen Namen, gewann aber Bedeutung erst durch den Zuzug von Doriern, vielleicht aus Argos 52 , um 900 v. Chr. Homer 53 betont den Reichtum der Stadt. Hier war das Königtum abgelöst worden durch eine Aristokratie, innerhalb deren das Geschlecht der Bakchiaden seit dem 8. Jh. fünf Generationen lang 54 eine führende Stellung einnahm 55 . Aus ihren 200 Mitgliedern wählten sie jährlich einen Mann, der die königliche Macht ausübte 56 . Diese Herren gründeten 734 Syrakus 57 und Kerkyra 58 . exportierten Vasen und waren vor allem im Schiffsbau führend. Sie bauten Schiffe, auch für andere Städte, um 704 für Samos 59 . Die älteste Seeschlacht soll um 660 zwischen Korinth und Kerkyra ausgetragen worden sein60. 4b. 657 kam es zum Staatsstreich des Kypselos 61 . Dieser Mann, von väterlicher Seite her Arkadier 62 , über seine Mutter mit den Bakchiaden verwandt 63 , gehörte zu einer benachteiligten Gruppe innerhalb des Adels und zeichnete sich zunächst als Polemarch aus 64 . Mit dem dabei gewonnenen Anhang, d. h. den als Hopliten dienenden Bauern und Handwerkern, vertrieb er die angeblich im Luxus verweichlichten 65 Bakchiaden und errichtete eine dreißigjährige Tyrannis 66 . Die Angehörigen seiner Dynastie bezeichneten sich selbst als Kypselidai61. 4c. Unter seinem Sohn Periander (625-585) erlebte die Stadt ihre Blüte; die auswärtigen Verbindungen reichten bis Ägypten. Daran erinnert der Name seines Neffen und Nachfolgers Psammetich, mit dessen Sturz durch die inzwischen reichgewordenen Bürger 584 die Tyrannis in Korinth endete 68 . Sie hat sich hier 73 Jahre gehalten, länger dauerte sie nur in Sikyon, dort genoß sie etwa 100 Jahre einen guten Ruf 6 9 . 4d. In Athen brachen die Spannungen später aus. Der erste Versuch, hier eine Tyrannis zu errichten, stammt von Kylon. Dieser Athener hatte sich im Jahre 640 durch einen olympischen Sieg einen Namen gemacht, die Tochter des Tyrannen von Megara geheiratet und besetzte die Akropolis. Das Volk unterstützte ihn jedoch nicht, sondern folgte noch den Alkmaioniden, jenem mächtigsten athenischen Adelsgeschlecht. Kylon wurde vertrieben, seine Anhänger mußten sterben, obwohl sie das Asyl Athenas beanspruchten. Diese Verletzung des Asylrechtes wurde den Alkmaioniden immer wieder vorgehalten 70 . 4e. Die nächsten Sturmzeichen waren die Gesetzesaufzeichnungen Drakons 62171 und die Wirren, die zur Verfassungsreform Solons im Jahre 594/3 führten 72 . Auch Solon verdankt seinen Ruhm Erfolgen im Kriege, und zwar dem gegen Megara um Salamis 73 . Solon hätte sich, wie er schreibt, zum Tyrann machen können, das aber widersprach seinem Gewissen 74 .

* 52 Pausanias II 4,2 * 53 Homer, Ilias II 570 * 54 Pausanias II 4,3 f * 55 Strabon VIII 6,20 * 56 Diodor VII 9,6 * 57 Thukydides VI 3,1 * 58 Strabon VI 2,4 * 59 Thukydides I 13,3: 300 Jahre vor dem Ende „dieses" Krieges * 60 Thukydides I 13,4 * 61 Diodor VII 9,3 * 62 Pausanias V 18,7 * 63 Herodot V 92 * 64 Nikolaos von Damaskus 22 bei Constantinus Porphyrogenitus, Excerpta histórica III S . 2 0 f * 65 Aelian, Var. hist. I 19 * 66 Herodot V 92; Diodor VII 9 * 67 Pfohl Nr. 40 * 68 Nikolaos von Damaskus 23 bei Constantinus Porphyrogenitus, Excerpta histórica III S. 21 f; Eusebios-Hieronymus, Chron. zu 588 * 69 Aristoteles, Politik 1315 b; Strabon VIII 6,25 * 70 Herodot V 71; Thukydides I 126; Plutarch, Sol. 12 * 71 Aristoteles, Ath. Pol. 4 * 72 Aristoteles, Ath. Pol. 5ff; Plutarch, Sol. 14ff * 73 Plutarch, Sol. 8 * 74 s.u. VII 4!

4. Beispiele

173

4f. Im Jahre 582 kam es zu einem zweiten vergeblichen Versuch, eine Tyrannis zu errichten, unter dem Archonten Damasias. 75 Erfolg hatte erst 561 Peisistratos 75a . Er führte seinen Stammbaum auf den gleichnamigen Sohn Nestors zurück 76 , mütterlicherseits war er mit Solon verwandt 77 . Auch Peisistratos begann seine politische Laufbahn durch militärische Auszeichnungen, ebenfalls im Kampf gegen Megara 78 . In den innerattischen Auseinandersetzungen standen sich damals die Bewohner der Ebene unter dem Eteobutaden Lykurg und die Bewohner der Küste unter dem Alkmaioniden Megakles gegenüber. Peisistratos führte eine dritte Gruppe, die bei Herodot 79 als hyperakrioi, bei Aristoteles 80 und Plutarch 81 als diakrioi bezeichnet wird und sich anscheinend aus dem bergigen Norden Attikas rekrutierte. Möglicherweise handelte es sich bei diesen, schon für die Zeit Solons bezeugten 82 Fraktionen um sozialökonomische Interessengruppen: in der Ebene die Grundbesitzer, an der Küste Handwerker und Händler, in den Bergen Hirten und Kleinbauern. Jedenfalls heißt es von Peisistratos, er sei besonders volksnah eingestellt gewesen, und diese Linie entspricht seiner späteren Politik. 4g. Nachdem er 560 seine Macht durch eine Leibwache gesichert hatte, regierte er zunächst 5 Jahre. Dann wurde er vertrieben, aber bald danach zurückgerufen, weil selbst die Alkmaioniden ohne ihn nicht fertig wurden. Aber er zerstritt sich wiederum mit ihnen und mußte abermals gehen. Mit Hilfe seiner Gold- und Silberbergwerke in Thrakien 83 schuf er sich eine Machtbasis, warb Söldner an, entwickelte ein weitgespanntes Netz außenpolitischer Verbindungen 84 und ergriff 546 nach einem Sieg über die Aristokraten ein drittes Mal die Herrschaft über Athen und Attika. Peisistratos regierte fortan unangefochten als Volksführer {prostates tou démoiìf5. Seine Gärten öffnete er allen 86 , den Späteren schien seine Regierung eine Goldene Zeit 87 . Plutarch überliefert eine Reihe von Anekdoten, aus denen die Weisheit des Tyrannen spricht 88 . 4h. Peisistratos vererbte die Herrschaft seinem Sohn Hippias, der von 528 bis 510 an der Macht war. Als Symptom für den Widerstand gegen das Regiment wird die Ermordung Hipparchs, eines Bruders von Hippias durch die sog. Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton im Jahre 514 gewertet 89 . Die Vertreibung gelang jedoch erst, als sich die Alkmaioniden mit den Spartanern verbündeten und die Akropolis belagerten 90 . In den folgenden sozialen Konflikten, die zur Reform des Kleisthenes führten, zeigte sich die Wirkung des Peisistratidenregiments auf die Entwicklung der Stadt. Sie erscheint in der neuen Phylenordnung neben Küste und Binnenland als eigener Faktor, während in den Kämpfen, die Peisistratos an die Macht gebracht hatten, zwar an der Küste, in der Ebene und auf den Bergen sich Parteien bildeten, noch nicht jedoch in der Stadt 91 . 4i. Wie in Athen, so entstand auch in Syrakus die Tyrannis aus einem sozialen Konflikt. Syrakus, aus fünf Städten zusammengewachsen 92 , war die größte Stadt der griechischen Welt 93 . Als Tochterstadt von Korinth 94 hatte sie eine aristokratische Verfassung, gegen die sich um das Jahr 485 das Volk und die Sklaven erhoben. Der „grundbesit* 75 Aristoteles, Ath. pol. 13 * 75a Euseb. Chron. z. J. * 76 Herodot V65; Homer,Odyssee XV 46 * 77 Plutarch, Sol. 1 * 78 Herodot I 59; Aristoteles, Ath. pol. 14,1; 17,2; Plutarch, Sol. 8 * 79 Herodot I 59 * 80 Aristoteles, Ath. pol. 13,4 * 81 Plutarch, Sol. 29 * 82 Plutarch, Mor. 805 DE * 83 s. u. 6i! * 84 s. u. 7 b! * 85 Aristoteles, Ath. pol. 28,2 * 86 Athenaios 532 F * 87 Aristoteles, Ath. pol. 16,7 * 88 Plutarch, Mor. 189 B-D * 89 s. u. 9 c! * 90 Herodot V 62fT * 91 Aristoteles, Ath. pol. 13,14; 21,4 * 92 Strabon VI 2,4 * 93 Diodor XIII 96,4 * 94 Thukydides VI 3,1

174

VI. Die griechische Tyrannis

zende" Adel (gamoroi) wurde vertrieben und fand Hilfe bei Gelon. Er war Sohn des Deinomenes 95 , nach dem die ganze Dynastie „Deinomeniden" heißt. Gelon war als Reiterführer des Tyrannen von Gela zu dessen Nachfolger aufgestiegen. Er führte nun die Gamoren nach Syrakus zurück 96 , regierte als strategos autokratör milde und gerecht97 und brachte die Stadt zu hoher Blüte. Seinen Gegnern stellte er sich, indem er seinen Rücktritt anbot, wodurch er nur umso mehr geliebt wurde 98 . Im Jahre 480 besiegte er gemeinsam mit seinem Schwiegervater Theron von Akragas die Karthager unter Hamilkar bei Himera" und war damit der mächtigste Mann der griechischen Welt. Seine Frau Demarete vermittelte den Frieden mit Karthago 100 . Nach dem Sturz von Dionysios II 345 wurden alle Tyrannenstatuen eingeschmolzen außer denen von Gelon 101 . 4j. Ihm folgte 478 sein Bruder Hieron I, der zuvor Gela beherrscht hatte 102 . Er schlug die Etruskerflotte bei Cumae 474103, weitete seine Macht durch Annexion und Kolonisation aus und hielt einen glänzenden Hof. Er bescherte der Stadt einen langen Frieden 104 . Die Taten von Theron, Gelon und Hieron wurden nach ihrem Tode besungen 105 . Der dritte Bruder Thrasybulos, der als hart galt und Söldner einsetzte, wurde vertrieben 106 . Es folgte von 466 bis 406 eine demokratische Phase. 4k. Die jüngere Tyrannis in Syrakus setzte ein, als die Karthagergefahr erneut einen Retter verlangte. 406 ließ sich Dionysios I zum strategos autokratör wählen, erhielt eine Leibwache und setzte sich gegen den Widerstand der Oberschicht durch 107 . Seine Kriege gegen Karthago verliefen wechselhaft, zeitweise verfügte er über die Hegemonie Siziliens und Unteritaliens. Unter allen griechischen Tyrannen war er zweifellos der mächtigste 108 . 41. Nach einer Regierung von 38 Jahren 109 folgte ihm 367 sein Sohn Dionysios II110, der durch seine vorübergehende Freundschaft zu Piaton 111 berühmt geworden ist. Piatons wirklicher Freund in Syrakus war jedoch Dion 112 , der mit karthagischer Hilfe 357 Dionysios vertrieb. Dion wurde nolens volens seinerseits Tyrann 113 , endete durch Mord, und Dionysios II kehrte zurück. 345 wurde er von den Syrakusanern und Korinthern unter Timoleon abgesetzt und nach Korinth gebracht 114 . D a r a u f h a b e n die Syrakusaner an der Frau und den Kindern des Tyrannen eine beispiellos grausame Rache genommen 115 . 4m. Im Jahre 317 kam es zum dritten Male zur Errichtung einer Tyrannis, als sich Agathokles gegen die drohenden Karthager zum Oberfeldherrn erheben ließ116. 304 nahm Agathokles den Königstitel an117, so wie dies kurz zuvor die Nachfolger Alexanders getan hatten, und seitdem betrachteten sich die Herren von Syrakus als Könige. Hieron II (275-215) 118 lieferte 264 den Anlaß zum ersten Punischen Krieg 119 ; die Herrschaft seiner Nachfolger, die sich an Karthago anlehnten, wurde 212 durch die Römer gebrochen 120 .

* 95 Diodor XI 67,2 * 96 Herodot VII 155f * 97 Diodor XI 26,4; 38,1; 67,2 f * 98 Diodor XI 26,5; 38; Aelian, Var. hist. VI 11; XIII 37 * 99 Herodot VII 165 ff; Diodor XI 20ff * 100 Diodor XI 26,3 * 101 Dion Chrysostomos, or. 37, 21 * 102 Herodot VII 156; Eusebios, Chron. z.J. * 103 Diodor XI 51 (nennt Hieron basileus); Meiggs Nr. 29 * 104 Polybios VII 8 * 105 Arrian I 12,2 * 106 Diodor XI 66,4; 68,5ff * 107 Diodor XIII 94f * 108 Isokrates or. V 65 * 109 Cicero, Tuse. V 57 * 110 Diodor XIII 96,4; XV 74,5 * 111 Piaton, ep. VII 327 D * 112 Plutarch, Dion passim-, Burckhardt, GK. I S. 184ff * 113 Nepos, Dion 6f * 114 Plutarch, Tim. 13; Diodor XVI 70; s.u. 8m! * 115 Plutarch, Tim. 13; ders., Mor. 821 D; Aelian, Var. hist. VI 12; IX 8 * 116 Diodor XIX 1 - 9 * 117 Diodor XX 54,1 (falsch eingeordnet) * 118 Polybios I 8,3 ff * 119 Polybios I 10,7ff * 120 Polybios VIII 37; Plutarch, Marcellus 13ff

5. Herrschaft

175

5. Herrschaft 5a. Die Tyrannen herrschten wie Könige. Sie waren zumeist begabte Militärs und führten das Heer, bestimmten die Amtsträger, machten Innen- wie Außenpolitik und sprachen Recht in höchster Instanz 121 . Mit den jeweils vorgefundenen Institutionen sind sie in der Regel behutsam verfahren, Verfassungsänderungen haben sie vermieden. Die solonischen Gesetze blieben unter den Peisistratiden in Geltung 122 ; Solon erhielt nach seinem Tode unter Peisistratos sogar eine Ehrenstatue auf der Agora 123 . Wahrscheinlich stammen das älteste Rathaus Athens 124 und der Bau für das Volksgericht 125 aus der Peisistratidenzeit. Wie in Korinth, so wurden in Athen Jahr für Jahr die Oberbeamten vom Volk gewählt, wobei Peisistratos selbst126 oder seine Anhänger ins Archontat kamen 127 . Peisistratos hat ebenso den alten Adelsrat, den Areiopag, bestehen lassen; von einem Bürger verklagt und vorgeladen, soll er sich dort in eigener Person verteidigt haben 128 . Gelon 129 , Dionysios I130 und Agathokles 131 haben bisweilen die Volksversammlung einberufen; die Kommandos vergab Dionysios an Familienmitglieder und Freunde 132 . Wahlen und Beschlüsse erfolgten wie zuvor. Nach seinem Tode übernahm sein Sohn die Herrschaft durch Volksbeschluß 133 . 5b. Der Tyrann besaß weder, wie der gewählte Aisymnet 134 oder der römische dictatorni ein demokratisches Amt noch, wie der dynastisch legitimierte König, eine monarchische Würde, sondern eine bloße Machtposition. Dies bezeugt die kaum entwickelte sakrale und zeremonielle Seite. Trotz mancher Anleihen bei den orientalischen Fürsten der Zeit 136 finden wir bei den frühen Tyrannen im allgemeinen keine Herrschaftsattribute wie Purpur und Krone, Szepter und Thron 137 , keine ruhmredigen Inschriften 138 , keine Münzbilder, keine Proskynese, kein Gottesgnadentum, keine Mausoleen 139 . Die heroischen Ehren, die Gelon nach seinem Tode erhielt, werden auf seine Beliebtheit zurückgeführt 140 , während Hieron schon zu Lebzeiten heroisiert werden wollte 141 . Peisistratos hat sich allerdings bei seiner ersten Rückkehr von Athena, vertreten durch das Blumenmädchen Phye142, geleiten lassen, später gibt es den Hauspriester Onomakritos am Hofe, der eine Sammlung von Orakeln besaß, denn wie die Könige von Sparta so haben auch die Tyrannen von Athen mit Göttersprüchen Politik gemacht 143 . 5c. Erst die späteren Tyrannen von Kleinasien und Sizilien entwickelten ein regelrechtes Hofzeremoniell. Dionysios I soll ein langes Gewand, einen goldenen Kranz und einen „tragischen" Mantel angelegt haben 144 . Er fuhr, von seiner Garde du Corps geleitet, in einem weißen Viergespann durch die Stadt 145 und ließ sich als Dionysos darstellen 146 . Der

* 121 Dionysios I: Plutarch Mor. 175 E; anders Peisitratos s.u. * 122 Herodot I 59; Thukydides VI 54,6; Aristoteles, Ath. pol. 16; Plutarch, Soi. 31 * 123 Aelian, Var. hist. VIII 16 * 124 Buleuterion: Camp 1989, S.44 * 125 Heliaia: Camp 1989, S.54f * 126 Thukydides VI 54,7 * 127 Thukydides VI 56 * 128 Aristoteles, Ath. pol. 16 * 129 Diodor XI 26,5 * 130 Diodor XIV 64ff * 131 Diodor XIX 9,1 * 132 Diodor XIV 63,4; XV 7,4 * 133 Diodor XVI 4f * 134 Aristoteles, Pol. 1285a 30; s. o. 3f! * 135 s. u. XIII 8 n! * 136 Fadinger 1993 * 137 Livius XXIV 5 * 138 Meiggs Nr. 28f * 139 Diodor XI 38,2ff * 140 I.e. XI 38,5 * 141 I.e. XI 49,2 * 142 Herodot I 60; Aristoteles, Ath. pol. 14. Phye wurde die Frau von Hipparchos: Athenaios 609 CD. Zu einer möglichen Vasendarstellung: J. Boardman, Herakles, Peisistratos and Sons, Revue Archéologique 1, 1972, S. 57 ff * 143 Herodot VII 6 * 144 Athenaios 535 E * 145 Livius XXIV 5 * 146 Dion Chrysostomos, or. 37,21

176

VI. Die griechische Tyrannis

Scheiterhaufen, den sein Sohn nach seinem Tode für ihn errichtete, war ein Wunderwerk 147 . Dionysios II nannte sich einen Sohn Apollons 148 . Klearch (gest. 352), ein Bewunderer des älteren Dionysios 149 , trat in Herakleia Pontika als Sohn des Zeus auf, mit Purpurmantel, Goldkranz und Adler 150 . Agathokles verzichtete auf ein Diadem, obschon er sich seit 304 als König ausgab 151 . Er trug stattdessen den „königlichen" Purpurmantel 152 , einen Myrtenkranz, angeblich um seine Kahlheit zu verbergen 153 . Lysias von Tarsos bevorzugte einen goldenen Lorbeerkranz 154 . Der Ring des Polykrates trug nach mediterraner Sitte das Emblem des Herrschers 155 . Auch Hermias von Atarneus (gest. 344) beglaubigte seine Befehle durch seinen Siegelring156. Er nannte in seinen Urkunden neben sich auch seine „Gefährten" (hetairof51). 5d. Fast alle Tyrannen stützten sich auf Familienangehörige 158 und versuchten, Dynastien zu bilden 159 . So wie die alten Stadtkönigtümer der Herakliden in Sparta und der Battiaden in Kyrene, so haben Tyrannenfamilien wie die Orthagoriden in Sikyon, die Kypseliden in Korinth, die Peisistratiden in Athen, die Deinomeniden und später die Dionyse in Syrakus eine erbliche Herrschaft angestrebt. Dies ist jedoch spätestens in der dritten Generation gescheitert. Eine rühmliche Ausnahme bildet Agathokles, der auf dem Totenbett den Syrakusanern die Demokratie zurückgab 160 . Dauerhafte Dynastien entstanden erst, als die jüngere Tyrannis unter hellenistischem Einfluß sich in ein Stadtkönigtum verwandelte. 5e. Die Tyrannen residierten gewöhnlich in der Stadtburg, der jeweiligen Akropolis. Dies gilt vermutlich für die Peisistratiden in Athen 161 , sicher für Polykrates in Samos 162 , für kleinasiatische Herren 163 und für die Tyrannen in Akragas 164 und Syrakus. Sie wohnten in der Burg auf der Wachtelinsel Ortygia 165 . Ausgegraben wurde der Tyrannenpalast in Larisa am Hermos 166 . 5f. Dem Militärwesen galt die besondere Aufmerksamkeit der Tyrannen. Polykrates besaß die stärkste Flotte in der Ägäis 167 . Dionysios II verfügte über 400 Schiffe, 100.000 Fußkämpfer und 9.000 Reiter 168 . Es gab Tyrannen, die auf eine Garde verzichten konnten, wie Kypselos in Korinth 169 und Agathokles in Syrakus 170 , und solche, die sich mit Anhängern aus der Bürgerschaft umgaben, wie Peisistratos mit den 50 „Keulenträgern", die später auf 300 vermehrt wurden 171 . Seine dritte Machtergreifung hat er mit Soldtruppen bewerkstelligt 172 , gewiß kein sympathischer Zug, aber auch der Sturz der Peisistratiden war nur durch auswärtige Truppen zu erreichen. In jedem Falle ist eine solche Haustruppe seit Periander mit seinen 300 Speerträgern 173 ein gewöhnliches Machtinstrument der Tyrannen 174 . Die Leibwächter von Phalaris in Akragas trugen eine graue Uniform. Die Tracht * 147 Athenaios 206 E * 148 Plutarch, Mor. 338 B * 149 Diodor XV 81,5 * 150 Justin XVI 5,9 f * 151 Diodor XX 54,1 * 152 I.e. XX 34,3; 5 * 153 Aelian, Var. hist. XI 4 * 154 Athenaios 215 C * 155 Diogenes Laèrtios I 57; Strabon XIV 1,16 * 156 Diodor XVI 52,6; Strabon XIII 1,57; Polyaen VI 48 * 157 Tod Nr. 165 * 158 Polyaen I 23 * 159 Diodor XXI 16,3; Justin XVI 5,18; Nikolaos von Damaskus 23 bei Constantinus Porphyrogenitus, Excerpta historica II 1, S. 342 * 160 Diodor XXI 16,4 * 161 Herodot I 59; V 64; Aristoteles, Ath. Pol. 14f * 162 Sueton, Calig. 21 * 163 Justin XVI 4,11 * 164 Polyaen V 1,1 * 165 Diodor XIV 7,3; Livius XXIV 5: regia * 166 J. Boehlau + K.Schefold, Larisa am Hermos, I 1940 * 167 Thukydides III 104 * 168 Aelian, Var. hist. VI 12 * 169 Aristoteles, Politik 1315 b. Anders Kypselos' Sohn Periander: Herodot V 92 * 170 Diodor XIX 9,7 * 171 Aristoteles, Ath. pol. 14; Plutarch, Sol. 30 * 172 Aristoteles, Ath. pol. 15 * 173 Nikolaos von Damaskus 23 bei Constantinus Porphyrogenitus, Excerpta historica II 1, S. 342; Diogenes Laèrtios I 98 * 174 Diodor XXII 5,2; Livius XXIV 5

6. Innenpolitik

177

wurde nach seinem Tode verboten 175 . Dionysios I hielt eine landfremde Leibwache 176 und kämpfte mit campanischen und keltischen Söldnern 177 . Aristoteles erklärte dies für typisch tyrannisch, doch gilt das erst für die spätere Zeit. Den Dionysen von Syrakus wird eine regelrechte Polizeiherrschaft nachgesagt, die Bürger seien bespitzelt worden, Tischgemeinschaften (Syssitien) und Clubs (Hetairien) hätten den Verdacht der Tyrannen geweckt, die Erziehung sei überwacht worden 178 . 5g. Die Bürger wurden in der Regel entwaffnet, die Waffen unter Verschluß genommen 179 . Dies entsprang wohl der Furcht der Tyrannen vor Widerstand, entspricht aber einer allgemeineren Entwicklung zu einem staatlichen Waffenmonopol und zu einer Zivilisierung der Bürgerschaft. Das öffentliche Auftreten in Waffen war auch in Sparta nicht üblich und galt in klassischer Zeit als Merkmal zurückgebliebener Bergvölker 180 .

6. Innenpolitik 6a. Machtgrundlage der Tyrannen war gewöhnlich zunächst ihr Anhang bei den Unterschichten, die sie an die Herrschaft gebracht hatten. Aristoteles 181 stellt dies als Regel hin und führt die Maßnahmen gegen die Reichen auf, die für Peisistratos, Dionysios und Theagenes von Megara überliefert sind. Es heißt, daß generell Frauen und Sklaven, also stets die Benachteiligten, auf Seiten der Tyrannen gestanden hätten 182 . Klearch von Herakleia am Pontos vertrieb die Adligen und gab deren Frauen an ihre Sklaven 183 . Dionysios I hat Tausende von Sklaven freigelassen und Neubürger aufgenommen, die ihm ergeben waren 184 . Zugunsten der kleinen Handwerker begrenzten die Kypseliden die Sklaveneinfuhr nach Korinth 185 , hier war das Handwerk weniger verachtet als in anderen griechischen Städten 186 . Dionysios I konfiszierte die Güter des Adels in Gela 187 und teilte den Boden von Syrakus neu auf 188 , Agathokles enteignete die 600 Reichen, verfügte Schuldentilgung und eine Bodenreform 189 . 6b. Das Vorgehen der Tyrannen gegenüber den Aristokraten erläutert am besten das von Herodot 190 überlieferte Ährengleichnis. Kypselos, der Tyrann von Korinth, war gestorben, und sein Sohn Periander wußte nicht recht, wie er seine Herrschaft sichern könnte. Da schickte er einen Boten zu dem befreundeten Tyrannen von Milet mit der Bitte um Rat. Dieser machte mit dem Boten einen Spaziergang durch die Felder, hörte sich die Probleme aus Korinth an, aber antwortete nichts dazu. Stattdessen riß er schweigend alle Ähren aus, die über das Korn besonders hoch aufragten. Der Bote erzählte dies kopfschüttelnd Periander wieder, aber dieser verstand das Rezept. Indem er jeweils die herausragenden Männer als mögliche Anführer des Widerstandes beseitigte, regierte er unangefochten. Aristoteles 191 meinte, diese Taktik sei nicht nur Tyrannen, sondern allen * 175 Plutarch, Mor. 821 E * 176 Cicero, Tusc. V 58 * 177 Justin X X 5,4fT * 178 Aristoteles, Pol. 1313 b * 179 Aristoteles, Ath. pol. 15,3f; Aristoteles, Politik 1311 a; Plutarch, Sol. 30; anders Thukydides VI 56; Polyaen I 23,2; V 2 * 180 Thukydides I 5f * 181 Aristoteles, Politik 1305 a 5; 1310 b 15; Athenaios 509 A * 182 Aristoteles, Politik 1313 b 35 * 183 Justin XVI 5,2ff * 184 Diodor XIV 7,4f; 58,1 * 185 Nikolaos von Damaskus 23 bei Constantinus Porphyrogenitus, Excerpta historica 11,1 S.342 * 186 Herodot II 167 * 187 Diodor XIII 93,2 * 188 Diodor XIV 7,4 * 189 Diodor XIX 9 * 190 Herodot V 92; Aristoteles, Pol. 1284 a 25; 1311 a 20 * 191 Aristoteles, Politik III 8,3

178

VI. Die griechische Tyrannis

Herrschaftsformen von Nutzen, das Scherbengericht in der Demokratie sei im Prinzip dasselbe. 6c. Die führenden Aristokraten flohen vor dem Tyrannen ins Exil. Das hatte für diesen zwei Vorteile: er wurde Widersacher los und gewann deren Besitz, den er an seine Söldner und Untertanen verteilen konnte 192 . Von dieser Zeit an lebte gewöhnlich ein erheblicher Teil griechischer Bürger in der Verbannung, je nachdem, welche Gruppe daheim am Ruder war. Allerdings haben niemals alle Adligen das Land verlassen. Während der ersten Tyrannis des Peisistratos waren die Alkmaioniden in Attika geblieben, und ihr Anführer Megakles hat dem zurückberufenen Tyrannen seine Tochter vermählt 193 . Unter der Herrschaft des Hippias, 525, war der Alkmaionide Kleisthenes sogar Archon 1 9 4 , doch ging die Familie nach dem Mord an Hipparch 514 außer Landes. Sie müssen außerhalb Attikas über reichen Besitz verfügt haben, denn in Delphi ließen sie den Apollontempel erneuern 195 . 6d. Die Einschränkungen, denen Adlige unter der Tyrannenherrschaft ausgesetzt waren, betrafen zunächst die Schaustellung des Reichtums. Periander erließ ein Luxus verbot 196 . Gelon beschränkte den Aufwand beim Grabkult in Syrakus 197 , Pittakos in Mytilene 198 , Peisistratos in Athen 1 9 9 . 6e. Von langfristiger Wirkung blieb die Auflösung der alten, durch aristokratische Tradition geprägten Phylenordnung. In Griechenland gliederte sich die Bürgerschaft der Städte militärisch und politisch in Phylen, in denen, so wie in den tribus der römischen Republik, die alten Familien gewöhnlich eine starke Stellung besaßen. Deswegen finden wir Phylenreformen zugunsten einer rein geographischen Gliederung, die Polykrates in Samos 200 und der Orthagoride Kleisthenes in Sikyon 201 durchführte. Dessen Enkel, der Alkmaionide Kleisthenes, hat eine entsprechende Umgliederung in Athen vorgenommen 2 0 2 , die Demokraten schlössen sich hier in ihrer Politik gegen die Gentilordnung den Tyrannen an. Was Peisistratos in Attika erreicht hat, ist die Aufhebung der adligen Gerichtsbarkeit. Er ersetzte die aus dem Geburtsadel stammenden Richter durch Demenrichter 2 0 3 , die staatlich autorisiert waren, nicht mehr bloß traditionell. 6f. Unter die Sozialpolitik der Tyrannen fällt die staatliche Versorgung der Kriegsinvaliden und Kriegswaisen in Athen 204 und Samos 205 , die A u f n a h m e von Neubürgern in Korinth, Athen und Syrakus 206 . Wir hören von dem Versuch, den Zuzug vom Land in die Stadt einzuschränken 207 . Dahinter steht die Absicht, die Unzuträglichkeiten zu verhindern, die mit einer Landflucht immer verbunden sind. Dieselbe Politik liegt der Begrenzung der Sklavenzahlen 208 und dem Verbot des Schuldenmachens zugrunde 209 . Dazu hat Periander von Korinth ein Aufsichtsamt (boule episkopön)2'0 eingerichtet. Zu den wirtschaftlichen M a ß n a h m e n gehört das Gesetz gegen das Herumlungern, das f ü r Periander und Peisistratos 211 überliefert wird. Periander soll die Hetären ersäuft haben 212 . Das Mußeverbot wurde

* 192 Diodor XXII 5,2; Polyaen V 31 * 193 Herodot I 61 * 194 Meiggs Nr. 6 c * 195 Herodot V 62f * 196 Herakleides Pontikos, fr. 5, in: F H G . II S.213 * 197 Diodor XI 38,2 * 198 Cicero, De leg. II 65 * 199 I.e. 64: bald nach Solon * 200 Th. Lenschau, Polykrates, RE. XXI 2,1952, S. 1731 * 201 Herodot V 68 * 202 Aristóteles, Ath. pol. 21 * 203 I.e. 16,5; H. C. Harrell, Public Arbitration in Athenian Law, 1936 * 204 Plutarch, Sol. 31 * 205 Paroemiographi I S. 146 * 206 Diodor XI 72,3 * 207 Aristóteles, Ath. pol. 16; Diogenes Laèrtios I 98 * 208 Nikolaos von Damaskus 23 bei Constantinus Porphyrogenitus, Excerpta histórica II 1, S. 342 * 209 Herakleides Pontikos, fr. 5, in: F H G . II S.213 * 210 I.e., emendavit Muellerus * 211 Plutarch, Sol. 31; Aelian, Var. hist. IX 25 * 212 Athenaios 443 A

6. Innenpolitik

179

in der Demokratie beibehalten: Als ein Spartaner vernahm, ein Athener wäre wegen Müßiggangs verurteilt worden, erklärte er diesen für den einzigen freien Athener 213 . Eine zwielichtige Sache war die An- und Umsiedlungspolitik der sizilischen Tyrannen 214 . Damit beseitigten sie nicht nur Notstände, sondern schufen auch neue. Spätere folgten ihnen, denken wir an die Siedlungspolitik bei Alexander 215 , den Diadochen 216 und den Imperatoren 217 . 6g. Für die Landwirtschaft hat sich namentlich Peisistratos eingesetzt. Armen Bauern gab er Darlehen von Zugvieh und Saatgut 218 , auf Inspektionsreisen orientierte er sich über den Zustand des Landes 219 . Die Öl- und Weinproduktion diente seit dem 6. Jh. zunehmend der Ausfuhr. Polykrates hat neue Hunde-, Ziegen-, Schaf- und Schweinerassen eingeführt 220 , Anaxilas von Rhegion soll den Hasen nach Sizilien gebracht 221 , Dionysios I die Platane über Rhegion nach Italien eingeführt haben 222 . 6h. Innerhalb der Industrie war die Töpferei der wichtigste Sektor. Sowohl in Korinth als auch in Athen bedeuten die Zeiten unter den Tyrannen ausgesprochene Blütephasen. Unter den Kypseliden von Korinth wurde im 7. Jh. der regulierbare Töpferofen für den Dreistufenbrand der schwarzfigurigen Malerei erfunden. Eine Zeitlang beherrschte korinthische Keramik den mediterranen Markt. In Athen fällt der Höhepunkt der schwarzfigurigen Vasenmalerei sowie der Übergang von der schwarz- zur rotfigurigen Technik in die Peisistratidenzeit (um 530). Erhebliche Mengen dieser Keramik wurden exportiert, insbesondere nach Etrurien 223 und ins Schwarzmeergebiet. Sie verdrängte die korinthische Ware vom Markt. 6i. Fortschritte machte ebenso die Metalltechnik. Die Peisistratiden erschlossen die Silbergruben von Laureion in Attika, die mit Sklaven betrieben wurden 224 , und die im thrakischen Strymon-Gebiet 225 . Aus der Zeit um 530 stammt der Bronze-Apoll vom Piraeus, der älteste griechische Hohlguß 226 . Unter Polykrates wurde das doppeltgedeckte Schiff 227 , unter Dionysios I die Pentere (ein Kriegsschiff mit fünf Ruderreihen) 228 und das Katapult erfunden 229 , Hieron II ließ durch den Mathematiker Archimedes (erschlagen 212) das größte Schiff seiner Zeit bauen 230 . 6j. Im engsten Zusammenhang mit der Wirtschaftsförderung stand eine Umordnung des Finanzwesens. Nach 700 wurden in Lydien die ersten Münzen geprägt 231 . Pheidon von Argos setzte das dorische Gerätegeld in Form von Eisenspießen 232 außer Kurs und weihte es der Hera, in deren Heiligtum es 1894 von Ch. Waldstein gefunden wurde 233 . Pheidon begründete mit seinen, in Ägina geprägten silbernen „Schildkröten" die älteste griechische Währung (um 670 v. Chr.). Außerdem hat Pheidon Maße und Gewichte reformiert 234 . Die

* 213 Plutarch, Lyk. 24; ders., Mor. 221 C * 214 Polyaen I 27, 3 zu Gelon-, Diodor XI 49 zu Hieron und Theron; XIV 96,4 zu Dionysius I * 215 s.u. IX Se.' * 216 s.u. X 6 b! * 217 s.u. XV 91! * 218 Aelian, Var. hist. 9,25; Aristoteles, Ath. pol. 16 * 219 Aristoteles, Ath. pol. 16 * 220 Athenaios 540 C D * 221 Pollux V 75 * 222 Plinius, Nat. Hist. XII 3/7 * 223 s.u. XI 2d! * 224 S. Lauffer, Die Bergwerkssklaven von Laureion, 1979, S. 13; 256 * 225 Herodot I 64 * 226 Boardman 1978, S.81 * 227 Plutarch, Per. 26; Paroemiographi II S.637 * 228 Diodor XIV 41,3 * 229 Diodor XIV 50,4; nach Aelian (Var. hist. VI 12) erfand Dionys es persönlich. * 230 Athenaios 206ff * 231 Xenophanes, VS.21 B 4; Herodot I 94 * 232 Plutarch, Lys. 17; Seltman 1924, S. 117 ff * 233 Ch. Waldstein (Sir C. Walston), The Argive Heraeum, 1902. Die Spieße befinden sich im Nationalmuseum Athen, Numismatische Sammlung * 234 Xenophanes I.e.; Strabon VIII 3,33; 6,16; P. Courbin, Valeur Comparée etc., Annales E. S. C. 14, 1959, S. 209fT.

180

VI. Die griechische Tyrannis

Tyrannen in Korinth begannen bald ihrerseits zu prägen 235 ; in Athen haben das dann einzelne Adlige mit ihren „Wappenmünzen" nachgemacht. Ihre Embleme erscheinen ebenfalls auf den Schilden der gleichzeitigen Vasenmalerei 236 . Unter Hippias wurde die Familienprägung der Eupatriden ersetzt durch die erstmals zweiseitig bebilderte Staatsprägung mit dem Kopf der Athena vorn und ihrem heiligen Vogel, dem Steinkauz hinten 237 . An diesen Dingen ist in der Demokratie nichts verändert worden. Das staatliche Münzmonopol blieb erhalten. Das Silber der peisistratidischen Münzen stammt, wie Metalluntersuchungen bestätigt haben, aus dem Strymongebiet in Thrakien, wo die Tyrannen ihre Bergwerke besaßen 238 . Dionysios I prägte angeblich zeitweilig Zinn anstelle von Silber239. 6k. Die wichtigsten Einnahmen waren Hafenzölle, die auch in Athen erhoben wurden, daneben Marktgebühren 240 . Peisistratos hat eine zehnprozentige Bodenertragssteuer eingeführt 241 , sein Sohn Hippias senkte sie auf 5% 242 . Steuern erhoben die Tyrannen auch in Syrakus 243 . So wie die Geldwirtschaft das Aufkommen der Tyrannen begünstigt hat, haben diese die Geldwirtschaft gefördert.

7. Außenpolitik 7a. Eine wichtige Stütze der Tyrannen waren ihre Außenbeziehungen. Als Aristokraten haben sie Ehebündnisse mit Herren anderer Städte geschlossen, auf die sie im Notfall zählen konnten. Periander heiratete die Tochter des Tyrannen von Epidauros 244 ; Kylon war Schwiegersohn des Tyrannen von Megara 245 ; Peisistratos hatte als Nebenfrau eine Argiverin, die Witwe eines Kypseliden 246 ; seine dritte Gemahlin gehörte zu den Alkmaioniden 247 , die ihrerseits mit den Tyrannen von Sikyon verschwägert waren 248 . Ähnlich im Westen. Gelon von Syrakus ehelichte die Tochter Therons von Akragas und dieser in zweiter Ehe eine Nichte Gelons 249 . Dionysios I hat aus politischen Gründen zwei Frauen geheiratet, angeblich in derselben Nacht 250 , Agathokles verschwägerte sich mit den Ptolemäern 251 und mit Pyrrhus 252 . Kleinasiatische Tyrannen waren mit den Achämeniden versippt 253 . Demselben Zweck dienten Staatsfreundschaften. Die Kypseliden beherbergten die Stiftungen der Lyderkönige in ihrem Schatzhaus zu Delphi 254 . Sie waren Gastfreunde (proxenoi) der Tyrannen von Milet 255 und pflegten Kontakte mit den Pharaonen 256 , wie das auch Polykrates getan hat 257 . Die Peisistratiden unterhielten gute Beziehungen zu Argos, Naxos und Sparta, zu Eretria, Theben und Thessalien 258 . U m die Goldminen im Pangaion zu * 235 BMC. 12, Corinth * 236 Seltman 1924, S. XVIII; kritisch zu den „Eupatriden-Münzen": R. J. Hopper, in: Essays in Greek Coinage presented to Stanley Robinson, 1968, S. 16ff * 237 Aristoteles, Oec. 1347a; Seltman 1924, S . 4 0 f f * 238 Herodot I 64; Aristoteles, Ath. Pol. 15,2 * 239 Aristoteles, Oec. 1349; Pollux IX 79 * 240 Herakleides 1. c. * 241 Aristoteles, Ath. pol. 16; Herodot I 64 * 242 Thukydides VI 54 * 243 Plutarch, Mor. 175 E; Aristoteles, Pol. 1313 b 25; Diodor X X 4,5 * 244 Herodot III 50; Pausanias II 28,8; Diogenes Laertios I 94 * 245 Herodot V 70 f; Thukydides I 126 * 246 Aristoteles, Ath. pol. 17 * 247 Herodot I 61 * 248 Herodot VI 26 * 249 Timaios, fr. 93, in: Jacoby, Fr. griech. Hist. Nr. 566 * 250 Diodor XIV 45,1; Aelian, Var. hist. XIII 10 * 251 Justin XXIII 2,6 * 252 Plutarch, Pyrr. 9; Appian III 11,1 * 253 Dionysios von Herakleia: Strabon XII 3,10 * 254 Herodot I 14 * 255 Herodot I 20; V 92 * 256 Aristoteles, Pol. 1315 b; Meiggs Nr. 7 * 257 Herodot III 40f; IV 162; zum Siegelring des Polykrates: Herodot III 42 * 258 Herodot I 61; 64; V 63; Aristoteles, Ath. pol. 17

8. Kulturpolitik

181

schützen, befreundeten sie sich mit den Königen von Makedonien 259 . Herodot meldet, daß die Tyrannen sich gegenseitig gestützt hätten 260 , ähnlich wie gleichartige Systeme zu anderen Zeiten, so die Heilige Allianz und der Dreikaiserbund im 19. und die faschistoiden Staaten im 20. Jh. Umgekehrt hielten auch die Demokratien zusammen. 261 7b. Mehrfach wurde der Versuch unternommen, abhängige Tochterstädte zu gründen und so Außenposten zu gewinnen. Bakchiaden und Kypseliden in Korinth haben Städte in Arkadien 262 und am ionischen Meer gegründet 263 , darunter Kerkyra (Korfu) und Ambrakia, sowie an der Nordägäis Poteidaia 264 . U m die Schwarzmeer-Route zu sichern, gewannen die Athener Städte an den Meerengen, so Chersones durch den mit Peisistratos verfeindeten älteren Miltiades 265 , Sigeion und Rhaikelos bei Saloniki durch Peisistratos selbst266. Wichtigste Außenstationen in der Ägäis waren Delos und Naxos 267 . Städtegründer waren ebenfalls die Tyrannen in Sizilien268, Ancona und die dalmatinischen Inseln wurden durch sie besiedelt 269 . Agathokles baute eine Stadt in Nordafrika 2 7 0 . Daß Fürsten ihre Gründungen nach sich selbst benennen, kommt erst unter orientalischem Einfluß im Hellenismus auf 271 . 7c. Die meisten Tyrannen gewannen ihr Ansehen, vielfach auch ihre Stellung durch militärische Leistungen - so Kypselos 272 , Peisistratos 273 , Dionysios I274, Agathokles 275 und Hieron II, der nach einem Sieg über die Mamertiner zum König ausgerufen wurde 276 . Bisweilen urteilten sie als gewählte Friedensrichter. Den Schiedspruch im Streit mit Mytilene um Sigeion erteilte Periander zugunsten Athens 277 . Im allgemeinen haben die Tyrannen eine friedliche Politik betrieben, dies erklärt Herodot 278 damit, daß sich eben kein Bürger für einen Tyrannen schlagen würde. Jetzt aber, wo demokratische Gleichheit herrsche, arbeite und kämpfe jeder gern für „seine" Stadt. 7d. Zahlreiche Kriege führten die syrakusanischen Tyrannen, nicht nur gegen die Karthager. Denn das war ihre raison d'etre. Hippokrates von Gela eroberte in Sizilien um 490 eine Griechenstadt nach der anderen 279 . Dionysios I unterwarf die Sikuler 280 , stürmte mehrere Städte in Unteritalien 281 und plünderte etruskische Tempel 282 . Agathokles verschenkte auch Städte als Mitgift 283 wie ein Agamemnon 284 .

8. Kulturpolitik 8a. „Immerhin aber ist zu sagen, daß die ganze Kultur, besonders Kunst und Wissenschaft, unter haltbaren Tyrannien so gut oder besser zu gedeihen pflegte als in der Freiheit." Damit hat Jacob Burckhardt 285 recht behalten. Was an bleibenden Leistungen mit dem Namen der Tyrannen verbunden ist, liegt auf dem Gebiet der Kulturpolitik. Sie * 259 Herodot V 94 * 260 Herodot VIII 142,5 * 261 s.u. VII 6 d! * 262 Athenaios 609 E * 263 Strabon X 2,9 * 264 Thukydides I 56 * 265 Herodot VI 34 ff; Pausanias VI 19,6 * 266 Herodot V 65; 94; Aristoteles, Ath. pol. 15 * 267 Herodot I 64; Thukydides III 104 * 268 Diodor XI 49; Strabon VI 1,5; 2,3 * 269 Diodor XV 13f * 270 Hippagreta: Appian VIII 110 * 271 Phintias nach Phintias um 280: Diodor XXII 2,2 * 272 Nikolaos von Damaskus 22 bei Constantinus Porphyrogenitus, Excerpta histórica III S . 2 0 * 273 Aristoteles, Ath. pol. 14,1; 17,2 * 274 Diodor XIII 94,5 * 275 Diodor XIX 3 * 276 Polybios I 9,8 * 277 Herodot V 95; Aristoteles, Rhetorik 1375 b * 278 Herodot V 78 * 279 Herodot VI 23; VII 154f; Thukydides VI 5,3 * 280 Diodor XIV 96,4 * 281 Kaulonia: Diodor XIV 106,3; Rhegion: XIV 111; Kroton: Livius XXIV 3 * 282 Apollon und Leukothea: Aelian, Var. hist. I 20 * 283 Diodor XXI 4 * 284 Homer, Ilias IX 149; 483; Odyssee IV 174 * 285 Burckhardt WB. 1868/1935, S. 89

182

VI. Die griechische Tyrannis

war eng mit der Wirtschafts- und Religionspolitik verknüpft. Die Tyrannen übernahmen die mäzenatischen Traditionen des Adels und suchten diesen zu übertreffen. Das steigerte sich bisweilen ins Gigantische. 8b. Kypselos errichtete das Schatzhaus der Korinther in Delphi 286 , es war das erste in seiner Art. In Korinth baute Periander eine Wasserleitung und den großen dorischen Apollontempel 287 . Periander unternahm den von Caesar 288 und Nero 289 wiederholten, doch erst 1893 gelungenen Versuch, den Isthmos von Korinth zu durchstechen 290 . Stattdessen wurde eine Schiffsschleife (diholkos) eingerichtet 291 . Erfolgreich war der Durchstich des Isthmos von Leukas 292 . In Sikyon hatte Kleisthenes eine Säulenhalle errichtet, die noch in der Kaiserzeit seinen Namen trug 293 . 8c. Polykrates, der das Meer beherrschte 294 , errichtete in Samos außer einer Burg 295 Schiffshäuser und eine Mole. Er holte Facharbeiter aus der Fremde 296 , darunter Eupalinos aus Megara. Der von ihm angelegte Wassertunnel 297 ist etwa 1 km lang. Er wurde von zwei Seiten begonnen, man traf sich in der Mitte. Die Wasserleitung hat die ganze Antike hindurch funktioniert, ebenso wie der Brunnen des Theagenes in Megara 298 . 8d. Die Baupolitik kennen wir am besten bei den Peisistratiden in Athen. Auf der Akropolis haben sie residiert, vermutlich im Bezirk der Artemis Brauronia 299 . Es gibt Reste zahlreicher anderer, aus Poros, noch nicht aus Marmor errichteter Bauten, unter ihnen ist der von Hippias erstellte alte Athenatempel, das (sie) Hekatompedon. Es war der erste Tempel aus Stein in Athen und blieb Zentralheiligtum auch nach dem Bau des Parthenon 300 . In großer Zahl sind im Perserschutt Weihgaben der attischen Bevölkerung an Athena gefunden worden. Soweit diese Objekte Inschriften tragen, stammen sie von kleinen Leuten und nicht, wie die Weihgeschenke in Olympia oder Delphi von großen Herren 301 . 8e. Im Piraeus befestigten die Peisistratiden Munychia 302 . Auf der Agora bauten sie den Tempel des Apollon Pythios und den Zwölfgötteraltar, der als Asyl galt 303 und von dem aus die Straßenentfernungen gemessen wurden 304 ; weiterhin den Neunröhren-Brunnen, das Ende der ältesten Athener Wasserleitung 305 . Im Nordwesten Athens erhielt der Heros Akademos sein Temenos; südöstlich der Akropolis wurde mit dem Bau des gigantischen Tempels für den olympischen Zeus begonnen 306 , der allerdings erst unter dem Kaiser Hadrian fertiggestellt wurde 307 . Zwischen Beginn und Vollendung lagen 650 Jahre, ebenso wie beim Kölner Dom (1248 bis 1880). Vermutlich stammen auch der Demeter-Tempel in Eleusis und der Apollon-Tempel auf Delos von Peisistratos 308 . Die Baugesetze aus dem peisistratidischen Athen verboten, daß die Obergeschosse überragten, daß die Treppen auf die Straßen gingen, daß die Türen sich nach außen, in den Straßenverkehr öffneten 309 .

* 286 Herodot I 14; Plutarch, Mor. 164 A; 399 F; 724 B * 287 Herodot III 52 * 288 Dio XLIV 5,1 * 289 Sueton, Nero 19; Dio LXIII 16 * 290 Diogenes Laértios I 99; weitere Versuche unternahmen Demetrios Poliorketes, Herodes Atticus und Morosini 1687 * 291 Thukydides III 15; VIII 7 ff * 292 Strabon X 2,9 * 293 Pausanias II 9,6 * 294 Thukydides III 104 * 295 regia: Sueton, Caligula 21 * 296 Athenaios 540 C ff * 297 Herodot III 60; H. J. Kienast, in: Architectura 1970, S.97ff * 298 Pausanias I 40,1 * 299 Herodot I 59; Pausanias I 23,7 * 300 Pausanias I 26,6 * 301 Ingeborg Scheibler, Griechische Künstlervotive der archaischen Zeit, Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 30, 1979 S.7f * 302 Aristoteles, Ath. pol. 19,2 * 303 Herodot VI 108 * 304 Thukydides VI 54; Camp 1989, S.46ff * 305 Thukydides II 15; Pausanias 114,1; Camp 1989, S. 49f * 306 Aristoteles, Politik V 9,4 * 307 Philostrat, Vitae soph. I 25, 533 * 308 Herodot I 64; Thukydides III 104 * 309 Aristoteles, Oec. 1347

8. Kulturpolitik

183

8 f . Wie in Athen haben auch in Sizilien die Tyrannen fleißig gebaut. In Akragas (Agrigent) errichtete Phalaris den riesigen Zeus-Tempel und befestigte die von den Sikanern bedrohte Stadt 310 . Theron ließ durch den Baumeister Phaiax ein Kanalsystem anlegen 311 . In Syrakus stiftete Gelon zwei Tempel 312 ; Dionysios I baute die Inselburg Ortygia aus 313 , befestigte die Stadt mit einer 27 km langen Mauer und legte in der Oberstadt das Felsenkastell Euryalos an, die größte Festung der damaligen Welt 314 . Hieron II wetteiferte mit den hellenistischen Königen als Mäzen beim Wiederaufbau von Rhodos 219 315 . 8g. All diese Bauten galten primär der Ehre der Stadt und der Götter und erst sekundär derjenigen der Bauherrn, denn keiner trägt die Bauinschrift eines Herrschers, so wie wir es in Persien und seit dem Hellenismus allenthalben vorfinden. Die Namen der Tyrannen standen lediglich auf ihren kostbaren Weihgeschenken 316 . Nach Olympia 317 und Delphi 318 stifteten die Deinomeniden von Syrakus goldene Dreifüße, nach Delphi zudem den berühmten Wagenlenker 319 , die Kypseliden dedizierten dem Zeus von Olympia die Kypselos-Lade 320 , eine Goldstatue 321 und eine Goldschale 322 . Polykrates schenkte dem Apollon von Delos die Nachbarinsel Rheneia 323 . Dionysios II stiftete dem Apoll in Delphi Kunstwerke 324 . In der demokratischen Zeit wurden die Namen der Tyrannen teilweise ausgemerzt und durch die Namen der Städte ersetzt 325 . 8h. Wie die Architektur, so florierten auch die bildenden Künste unter den Tyrannen: die Skulptur 326 , die Vasenmalerei 327 , die Münzprägung 328 . Anders als in der orientalischen und römischen Hofkunst bleibt die Person des Tyrannen auch hier im Hintergrund. Bildhauer, Maler und Stempelschneider haben Götter und Helden abgebildet, nie aber den Tyrann als Person oder die Tyrannis als System verherrlicht. Von keinem Herrscher vor dem 4. Jh. besitzen wir ein Porträt, von keinem ein Mausoleum. Von keinem Kunstwerk der Peisistratidenzeit können wir sagen, ob es während der Herrschaft oder während der Verbannung des Tyrannen hergestellt ist. Die Kunst blieb polisbezogen, aber unpolitisch. 8i. Der Polis kam ebenso die Verschönerung der Spiele zugute. Peisistratos hat das kurz vor seiner Herrschaft gestiftete 329 Panathenäenfest, das als Geburtstag Athenas galt 330 , in die Form gebracht, die von der Demokratie dann beibehalten wurde 331 . Durch ihre Sportwettkämpfe genoß es einen weitverbreiteten Ruf, die Sieger erhielten Öl in besonderen Amphoren 332 . Peisistratos bewegte sich hier in den Spuren des Periander von Korinth, auf den die Isthmischen Spiele zurückgehen 333 , und des Kleisthenes von Sikyon, der in Olympia mit einem Viergespann siegte334 und die pythischen Spiele ausgestaltet hat 335 . Sein Vater Kypselos stiftete einen Schönheitswettbewerb für Frauen 336 . Die sizilischen Tyrannen

* 310 Diodor XIX 108; Polyaen 5,1 * 311 Diodor XI 25,3 * 312 I.e. 26,7 * 313 Diodor XIV 7 * 314 Diodor XIV 18; XX 29,8 * 315 Diodor XXVI 7 * 316 T o d N r . 7 f f * 317 Pausanias VIII 42,8; Weihungen des älteren Miltiades nach Olympia: Pausanias VI 19,6 * 318 Diodor XI 26,7; Athenaios 231 F; Meiggs Nr. 28 * 319 s.u. 8 i! * 320 Dion Chrysostomos, or. XI 45; Pausanias V 17,5 * 321 Strabon VIII 6,20; Diogenes Laertios I 56; * 322 Pfohl Nr. 40 * 323 Thukydides I 13; III 104 * 324 Diodor XVI 57 * 325 Herodot I 14 * 326 Camp 1989, S.41 * 327 J. Boardman, Schwarzfigurige Vasen aus Athen, 1974 * 328 s.o. 6 j! * 329 Markellinos, Vita Thuc. 3 * 330 Kallisthenes, fr. 52, in: Jacoby, F. gr. Hist. Nr. 124 * 331 Thukydides I 20; VI 56f; Aristoteles, Ath. pol. 18,3, Jenifer Neils, Goddess and Polis. The Panathenaic Festival in Ancient Athens, 1992 * 332 J. Frei, Panathenaic Prize Amphoras, 1973; Heibig I Nr. 650; 920 * 333 K. J. Beloch, Griechische Geschichte, I 2, 1926, S.279 * 334 Herodot VI 126 * 335 Pausanias X 7,6 * 336 Athenaios 609 E

184

VI. Die griechische Tyrannis

haben sich an den Festspielen des Mutterlandes erfolgreich beteiligt, so Gelon, Theron und Hieron. Ihr Bruder Polyzelos337 wurde berühmt durch den von ihm errungenen Wagensieg 447v.Chr., für den er den 1896 ausgegrabenen „Wagenlenker von Delphi" stiftete338. Anaxilas von Rhegium ließ seinen Sieg mit dem Maultiergespann auf seine Münzen setzen339. Ein Sieg im olympischen Wagenrennen machte Kylon so berühmt, daß er versuchen konnte, in Athen eine Tyrannis zu errichten340. 8/ Wie die Spiele, so wurde die Religion überhaupt von den Tyrannen gefördert. In der Familie der Deinomeniden war das Priestertum der Erdgötter erblich341. Unter Kypselos hatte die Aphrodite von Korinth angeblich über tausend Hierodulen für die Tempelprostitution342. Peisistratos entsühnte die heilige Insel Delos, indem er die Toten umbetten ließ343 und brachte aus seinem Heimatort Brauron den Artemis-Kult nach Athen344; den Göttern von Eleusis bauten die Peisistratiden ein Heiligtum auch in Athen; aus dem Bergdorf Eleutherai holten sie den Dionysos Eleuthereus und richteten ihm südlich der Akropolis einen heiligen Bezirk ein345. Dieser wurde später zum Dionysos-Theater ausgebaut. 534 zog Thespis aus Ikaria mit seinem Karren durch Attika und bereicherte die Dionysos-Feste mit seinen Wechselgesprächen, aus denen das Drama hervorging346. 8k. Das Interesse der Tyrannen an der Literatur347 spiegelt sich in den großen öffentlichen Bibliotheken - den ersten Europas - von Peisistratos in Athen, von Polykrates in Samos348 und Klearch von Herakleia349. Den Polykrates pries Anakreon. 350 Peisistratos bewirtete den Epiker Orpheus aus Kroton 351 und soll den Schiffskatalog in der Ilias352 gefälscht haben, um Athens Ansprüche auf Salamis zu stützen353. Hipparch hat, schon unter Peisistratos354, die einzelnen Gesänge Homers nach Athen geholt, durch Onomakritos in die gültig gebliebene Ordnung gebracht355 und sie bei den Panathenäen vortragen lassen356. Er soll ein Schiff für den Dichter Anakreon von Teos ausgesandt und Simonides von Keos um sich gehabt haben357. Die Bildung der Bevölkerung hätte ihm am Herzen gelegen358. Selbst auf dem Lande konnte man damals lesen, wenn es zutrifft, daß Hipparch Hermen mit Sprüchen für die Bauern aufstellen ließ359. 81. In Korinth hat angeblich schon Kypselos ein Symposion für die Sieben Weisen organisiert360. Sein Sohn Periander, der ein Lehrgedicht von zweitausend Versen verfaßt haben soll361, wurde selbst zu dieser Gruppe gerechnet362, ebenso Pittakos von Mytilene363. Perianders Hofsänger war Arion, der nach der Überlieferung von einem Delphin vor dem

* 337 Diodor XI 48,3 * 338 Identifiziert durch Basisinschrift: F. Chamoux, L'Aurige, Paris 1955; Hampe in: Gnomon 32, 1960, S . 6 4 f * 339 Pollux V 75; BMC. I Italy, S.373 * 340 Herodot VII 70 f; Thukydides I 126 * 341 Herodot VII 153 * 342 Strabon VIII 6,20 * 343 Herodot I 64; Thukydides III 104 * 344 Plutarch, Sol. 10 * 345 Pausanias I 38,8; Kern, Dionysos, RE. V 1, 1903, S. 1022 * 346 Marmor Parium A 43; Diogenes Laértios III 56; Suidas, Theta 282 * 347 Weber 1929 * 348 Athenaios 3 A; Gellius VI 17,1 * 349 Photios 222 b 25 * 350 Pausanias I 2,3; Diodor XIV 1,16; Aelian, Var. hist. IX 4 * 351 Orpheus, VS. 1 A l ; nicht zu verwechseln mit dem Sänger Orpheus * 352 Homer, Ilias II 557 * 353 Strabon IX 1,10 * 354 Aelian, Var. hist. XIII 14; Cicero, D e oratore III 137 * 355 Pausanias (VII 26,13) und die Anthologia Graeca (XI 442) schreiben es Peisistratos selbst zu. R. Merkelbach, Untersuchungen zur Odyssee, 1969, S. 239ff * 356 Aelian, Var. hist. VIII 2 * 357 Platon, Hipparch 228 B; Aristoteles, Ath. pol. 18,1 * 358 Piaton, Hipparch 228 D ; Aelian, Var. hist. XIII 14 * 359 Scholien zu Demosthenes X X 112; Corpus Inscriptionum Atticarum I 522; Suidas, Tau 981 * 360 Diogenes Laértios I 40 * 361 I.e. I 97 * 362 I.e. I 94ff * 363 Pausanias I 23,1

8. Kulturpolitik

185

Ertrinken gerettet wurde 364 . Er hat den Dithyrambos in die fortan gültige Form gebracht 365 . Der weise Skythe Anacharis besuchte Periander 366 . Ibykos 367 und Anakreon 368 lebten am Hofe des Polykrates. Die sizilischen Tyrannen förderten die Literatur ungewöhnlich großzügig. Hieron I von Syrakus zog Aischylos 369 , Pindar 370 , Bakchylides 371 , Simonides 372 und Xenophanes 373 an seinen Hof. Dionysios I komponierte und dichtete selbst374, er trat mit einer Tragödie »Hektors Lösung« hervor, die 367 in Athen preisgekrönt wurde 375 . Den Dichter Philoxenos, der das Drama kritisierte, warf der Tyrann in die Latomien 376 . Die Athener ehrten ihn mit mehreren Inschriften 377 . Lysias jedoch forderte in Olympia zum gemeingriechischen Kampf gegen ihn auf 378 . Mehrere Tyrannen haben Geschichte geschrieben (Duris, Antandros), andere verfaßten Dramen und Gedichte 379 oder trieben Philosophie. Klearch von Herakleia am Pontos war Schüler Piatons 380 und hat sich als Tyrann mit Philosophen umgeben. 8m. Piaton selbst wurde von Dionysios II, der sich als Sohn des Musenführers Apoll betrachtete 381 , nach Syrakus geholt und feierlich empfangen 382 , doch wollte sich der Tyrann dann nicht umerziehen lassen383. So ist Piatons Versuch, in Syrakus seinen Idealstaat zu verwirklichen, gescheitert, und fortan gehörte der Tyrannenmord zum ethischen Lehrgut der Akademie. Die Beziehungen von Dionysios II zu den Pythagoreern bilden den historischen Hintergrund für die Verschwörung Dämons 384 , die Schiller in der »Bürgschaft« gestaltete. Dionysios II hat seinen Lebensabend in Korinth im Dienste der Kultur als Schulmeister verbracht 385 , während die umgekehrte Karriere vom Lehrer zum Tyrannen bezeugt ist für Dionysios I386, Athenion von Athen 387 und Lysias von Tarsos 388 . In der Neuzeit kennen wir diese Laufbahn von Mussolini, Lumumba und Mao Tse-tung. 8n. Die Kulturpolitik der griechischen Tyrannen erinnert an diejenige bei den Stadtherren der italienischen Renaissance, den Medici in Florenz, den Sforza in Mailand, den Scala in Verona. Auch sie stützten sich auf die Unzufriedenheit im Volk mit der Signorie und haben durch den kulturellen Glanz ihrer Hofhaltung den tyrannischen Charakter ihres Stadtregiments zu überstrahlen versucht. Unser historisches Wissen beeinträchtigt zuweilen den ästhetischen Genuß. Indem uns Charakter und Motive der Mäzene mißhagen, verlieren wir die Lust an den von ihnen geförderten Werken. Die Kunst hat jedoch Anspruch auf ästhetische Autonomie, sonst müßten wir die nach Revolutionen üblichen Bilderstürme gutheißen, ja selbst den Parthenon und den Petersdom abreißen, die beide mit erschwindelten Geldern erbaut wurden.

* 364 Herodot I 23 f * 365 Herodot 1. c. * 366 Athenaios 437 F * 367 Suidas, Iota 80, dort die Kranich-Geschichte zu Schillers Ballade * 368 Suidas, Alpha 1916 * 369 Vita Aeschyli 8; 16; Pausanias I 2,3 * 370 Aelian, Var. hist. IX 1 * 371 I.e. IV 15 * 372 I.e. IX 1; Pausanias I 2,3 * 373 Clemens Alexandrinus, Strom. I 64, in: ders., Bd. II S . 4 0 , 2 0 ed. Stählin * 374 Plutarch, Tim. 15; Diodor XIV 109; XV 6f; 73 * 375 Diodor XV 74 * 376 Aelian, Var. hist. XII 44 * 377 Tod Nr. 108; 133; 136 * 378 Plutarch, Mor. 836 D * 379 Mamerkos von Kutane: Plutarch, Timoleon 31 * 380 Athenaios 85 AB; Photios 222 b 10 * 381 Plutarch, Mor. 338 B * 382 Plutarch, Dion 13; Aelian, Var. hist. IV 18 * 383 Piaton, ep. 7; Diodor XV 7; Diogenes Laertios III 18 ff * 384 Cicero, De off. III 45; Diodor X 4,3 f; Jamblichos, Vita Pyth. 234 f * 385 Valerius Maximus VI 9 ext. 6; Porphyrios, Vita Pyth. 234 * 386 Diodor III 96,4 * 387 Athenaios 211 D ff * 388 Athenaios 215 BC

186

VI. Die griechische Tyrannis

9. Niedergang 9a. Die griechische Tyrannis war eine kurzlebige Staatsform. Aristoteles 389 erklärt das more geometrico: je geringere Macht die Monarchen hätten, desto länger hielte sich die Monarchie. Die Tyrannis erzeuge einen ihrer Macht entsprechenden inneren Widerstand und erliege diesem kurz über lang. Er organisierte sich in Männerfreundschaften, wie sie gegen Phalaris, Hippias und Dionysios I bezeugt sind. Polykrates soll deswegen die Ringschule von Samos geschlossen haben 390 , und auch der Versuch von Dionysios, die Symposien in Syrakus zu unterbinden 391 könnte damit zusammenhängen. Ohne Frage war der Freiheitswille der Bürgerschaft auf der einen Seite und die Dekadenz im Herrscherhaus auf der anderen der wichtigste innere Grund für den Zerfall der Tyrannis. Sie litt unter dem Widerspruch, daß sie zur Lösung einer Krise eingerichtet war und beseitigt wurde, sowohl wenn sie die Krise gelöst hatte - dann brauchte man sie nicht mehr - , als auch, wenn sie sich als unfähig erwies, die Krise zu lösen - dann konnte man sie nicht gebrauchen. Die konstitutionelle Schwäche der Tyrannis lag in ihrer einseitigen Exekutivaufgabe, ohne demokratische oder charismatische Legitimation. 9b. Die ältere Tyrannis führt hinüber in die Freiheit der Demokratie, die jüngere in den Wohlstand unter einer hellenistischen oder der römischen Großmacht. Nachdem die persischen Großkönige schlechte Erfahrungen mit ihren Satellitenfürsten gemacht hatten, haben Diadochen und Imperatoren keine Klienteltyrannen mehr akzeptiert. Tyrannenstädte hatten stets unter den Nachbarmächten Widersacher. Insbesondere Sparta galt - trotz seiner Hilfe für Dionysios I392 - als Erbfeind aller Tyrannen 393 ; vermutlich deshalb, weil die eigene Verfassung ständig durch einen Volksführer bedroht war, der sich an die Spitze der Heloten stellen könnte. Plutarch 394 überliefert eine Liste von Tyrannen, die von Sparta gestürzt wurden. Die berühmtesten sind die Peisistratiden in Athen. 9c. Tatsächlich haben die sogenannten Tyrannenmörder, Harmodios und Aristogeiton, für die Begründung der attischen Demokratie ebensoviel oder ebensowenig geleistet wie die Attentäter vom 20. Juli 1944 für den Parlamentarismus in Deutschland. Herodot 395 , Thukydides 396 und Aristoteles 397 berichten, daß die Verschwörer eine Privatrache vollzogen, und daß die Herrschaft des Peisistratos viel erträglicher gewesen sei, als die nationaldemokratische Ideologie das hinstelle. Diese historische Kritik hat sich jedoch gegen den politischen Mythos nicht durchgesetzt. Weil man sich, zumal in den Zeiten der Spannung mit Sparta, ungern daran erinnerte, wer die Tyrannis wirklich gestürzt hatte. Die Demokratie legitimierte sich aus dem Gegensatz zur Tyrannis, und das führte zu einer Schwarz-Weiß-Malerei, wie sie die historische Selbstrechtfertigung gewöhnlich erzeugt. Vor dunkler Folie glänzt man heller398. 9d. Harmodios und Aristogeiton sind die Freiheitshelden des politischen Widerstandes geblieben. Aus Plato 399 und Diodor 400 wissen wir, daß sie als Erneuerer der Isonomie weiterlebten. Es gab einen regelrechten Kult für diese Männer. Sie erhielten Statuen, * 389 Aristoteles, Politik V 9,1 * 390 Athenaios 602 D * 391 Plutarch, Mor. 175 E * 392 Diodor XIV 58,1; 64,4 * 393 Thukydides I 18; Aristoteles, Pol. 1312 b 5 * 394 Plutarch, Mor. 859 D * 395 Herodot V 55-65 * 396 Thukydides I 20; VI 54ff * 397 Aristoteles, Ath. pol. 18; ders., Pol. 1311 a 35 * 398 Zur Tyrannenfeindschaft: Valerius Maximus II 10 ext. 1 (zu Rhodos) und das Gesetz von etwa 280 v. Chr.: P. Frisch (ed. ), Die Inschriften von Ilion, 1975, Nr.25 * 399 Piaton, Symp. 182 C; ders., Hipparch 228 B ff * 400 Diodor X 17

10. Bedeutung

187

zuerst von Antenor, dann von Kritios und Nesiotes die an der prominentesten Stelle der Agora aufgestellt wurden 401 und als Schildzeichen der Athena auf Panathenäen-Vasen erscheinen. Ihre angeblichen Gräber zeigte man noch in der Kaiserzeit den Touristen 402 , ihre Namen durften nicht an Sklaven vergeben werden, ihre Nachkommen genossen Steuerfreiheit 403 . Die Peisistratiden wurden dagegen geächtet, ihre Inschriften getilgt, die Statue von Hipparchs Sohn wurde umgeschmolzen in eine Tafel für die Namen von Verrätern! 409 schwuren die Athener einen Eid, jeden Tyrannen-Anwärter zu töten und jeden Tyrannenmörder zu ehren wie Harmodios und Aristogeiton 404 . Trinklieder auf die Freiheitshelden kannte noch Athenaios 405 . Der Tyrannenmord wurde fortan widerspruchslos verherrlicht, das Attentat zum Schutze von Leben und Freiheit aufs höchste gepriesen406. Erst die christliche Staatsphilosophie hatte Bedenken gegen einen aktiven politischen Widerstand 407 . 9e. Das Gegenbild sind dann die zahllosen Schauergeschichten der Tyrannentopik - ein unerschöpfliches Thema der Rhetorik 408 . Phalaris von Akragas ließ sich angeblich einen hohlen Bronzestier gießen, in dem er seine Gegner röstete und deren Geschrei er als das Muhen des Stieres bezeichnete. Ausprobiert hat er das an dem Erzgießer selbst409. Dionys soll in Syrakus durch seine Steuern die Bürger innerhalb von fünf Jahren an den Bettelstab gebracht 410 , in Lokroi das ius primae noctis gefordert haben 411 . Von allen Bürgern gehaßt, habe er sich in seine Burg eingeschlossen und sich von seinen Töchtern mit heißen Walnußschalen rasieren lassen, weil er das Schermesser des Barbiers fürchtete. Dem Schmeichler Damokles habe er einmal Tyrannenglück vorgeführt, indem er ihm im goldenen Speisesaal alle Genüsse Siziliens präsentierte, aber über seiner Liege ein Schwert an einem Faden aufhing 412 .

10. Bedeutung 10a. „Die Despotie schafft große Charaktere", heißt es bei Goethe. Das gilt auch umgekehrt: Bedeutende Männer haben die Tyrannis geschaffen. Unter ihr hat sich ein ökonomischer, sozialer und politischer Fortschritt vollzogen. Der ökonomische Fortschritt besteht in den technischen und agronomischen Neuerungen, in der Herausbildung eines exportierenden Handwerks. Der soziale Fortschritt liegt in der Entstehung einer Bürgerschaft, die sich in den Städten und an der Küste konzentrierte. Es war eine Schicht, die im Zuge der ökonomischen Maßnahmen der Tyrannen prosperierte und im Gefolge ihrer Kulturpolitik das Selbstbewußtsein entfaltete, das die Grundlage der Demokratie abgab. Daß die Tyrannen dies zwar bewirkten, nicht aber bezweckten, gehört zur Ironie der

* 401 Pausanias I 8,5; S. Brunnsaker, The Tyrant-Slayers of Kritios and Nesiotes, Lund 1955 * 402 Pausanias I 29,15 * 403 Demosthenes XX 29; Andokides I 98 * 404 Andokides I 96 ff * 405 Athenaios 695 AB * 406 Schmidt-Lilienberg 1901; Friedel 1937 * 407 NT. Paulus, Römerbrief 13 * 408 Pars pro toto: Megapenthes in Lukians »Kataplus« * 409 Diodor XXXII 25. Ein tatsächlich 146 v. Chr. in Karthago erbeuteter, aus Sizilien stammender Bronzestier (Diod. I.e.) dürfte Anlaß für das Gerücht gegeben haben, bei dem die Erinnerung an den Moloch mitgeschwungen haben könnte. Gelon forderte von den Karthagern, die Sitte des Kinderopfers einzustellen: Plutarch, Mor. 175 A; 552 A. * 410 Aristoteles, Politik V 9,5 * 411 Strabon VI 1,8 * 412 Cicero, Tusc. V 58 ff

188

VI. Die griechische Tyrannis

Geschichte. Der politische Fortschritt ist in einem Gewinn an Staatlichkeit zu sehen, der die Tyrannis überlebt und überwunden hat. Es war die Stärkung der staatlichen Gerichtshoheit, der Wehrhoheit und Münzhoheit. Die patriarchalisch-gentilizischen Gewalten gingen vom Adel auf die Stadt über und blieben in der Demokratie erhalten. 10b. Die Bedeutung der älteren Tyrannis liegt mithin in ihrer Geburtshilfe für die Demokratie. Jacob Burckhardt 413 sprach von der „Todeskrankheit der Aristokratie" und der „antizipierten Demokratie". D a ß die Tyrannen ihrer Herkunft nach zur Oberschicht gehörten, besagt über ihre Zielsetzung ebensowenig wie die Tatsache, daß Luther katholisch, Mirabeau ein Graf und Engels ein Fabrikant war. Auch der Teufel ist ein gefallener Engel - similes similibus obstant. Erst unter der jüngeren Tyrannis gab es Aufsteiger aus der Unterschicht zur Herrschaft. Berühmtester Fall ist Agathokles 414 . 10c. Die jüngere Tyrannis entstand, modern gesprochen, als plebiszitäre Diktatur in der Demokratie aus Spannungen zwischen Arm und Reich oder in außenpolitischen Notlagen. Zu allen Zeiten waren Wohlstand und Frieden eher Voraussetzungen als Folgen der Demokratie. Sobald jene bedroht sind, kommt der Retter, der Tyrann, und gibt den Leuten den Ratschlag des Peisistratos: jeder möge sich um das Seine kümmern, er selbst werde schon für den Staat sorgen 415 . lOd. Nach den Erfolgen des Phalaris von Akragas gegen die Karthager wollten ihn die Männer von Himera ebenfalls zum strategos autokratör wählen. Da trat der Dichter Stesichoros 416 vor sie und erzählte ihnen die folgende Fabel: „Das Wildpferd äste auf einer schönen Weide, doch der Hirsch erschien und machte ihm die Wiese streitig. Daraufhin bat das Wildpferd den Menschen, ihm zu helfen. Der kam gern, legte dem Pferd einen Sattel auf, das nun seine Weide und seine Freiheit zugleich verlor." 417 Die Tyrannis ist ein Lehrstück für die Politik überhaupt, wenn die Definition Paul Valerys stimmt: Die Politik ist die Kunst, wie man die Menschen daran hindert, sich in ihre eigenen Angelegenheiten einzumischen.

* 413 Burckhardt, GK. I 166 * 414 Diodor XIX 1,6 * 415 Aristoteles, Ath. poi. 15 * 416 gest. 560 v. Chr. Eusebios-Hieronymus, Chron. z. J. * 417 C. Halm (ed.), Fabulae Aesopicae, 1901 Nr. 175 aus Aristoteles, Rhet. II 20

Literatur zu VI

189

Literatur zu VI Neuere Forschungen finden sich in den Zeitschriften zur Alten Geschichte und zur griechischen Geschichte, s.o. Literatur zu I und V! Andrewes, A., The Greek Tyrants, London 1956 Barcelà, P., Basileia, Monarchia, Tyrannis, 1993 Berve, H., Wesenszüge der griechischen Tyrannis, HZ. 177, 1954, S. 1 - 2 0 Berve, H., Die Tyrannis bei den Griechen, I/II, 1967 Camp, J. M., Die Agora von Athen, 1989 Diesner, H. /., Griechische Tyrannis und griechische Tyrannen, 1960 Drews, R., Basileus, The Evidence for Kingship in Geometrie Greece, 1983 Fadinger, F., Griechische Tyrannen und Alter Orient. In: K. Raaflaub (Hg.), Anfänge des politischen Denkens in der Antike, 1993, S. 263ff Faure, P., Die griechische Welt im Zeitalter der Kolonisation, 1981 Finley, M. /., Das antike Sizilien, 1979 Friedet, H., Der Tyrannenmord in Gesetzgebung und Volksmeinung der Griechen, 1937 Frolov, E., Tyrannis und Monarchie im balkanischen Griechenland, in: E. Welskopf (Hg. ), Hellenische Poleis, I, 1973, S. 231-459 Frolov, E., Organisation und Charakter der Herrschaft Dionysios' des Alteren. Klio 57, 1975, S. 118 ff Heuß, A., Aristoteles als Theoretiker des Totalitarisme, Antike und Abendland 17, 1971, S. 1 - 4 4 Hirsch, Marga, Die athenischen Tyrannenmörder in Geschichtsschreibung und Volkslegende, Klio 20, 1926, S. 129 ff

Kinzl, A:.(ed.), Die ältere Tyrannis bis zu den Perserkriegen, 1979 (WdF. 510) Kluwe, E., Bemerkungen zu den Diskussionen über die drei „Parteien" in Attika zur Zeit der Machtergreifung des Peisistratos, Klio 54,1972, S. 101-124 Kolk, F., Die Bau-, Religions- und Kulturpolitik der Peisistratiden, Jahrbuch des DAI 92,1977, S. 99-138 Lahr, St. von der Dichter und Tyrannen im archaischen Griechenland, 1992 Meister, Angelika, Das Tyrannenkapitel in der »Politik« des Aristoteles, Chiron 7, 1977, S. 35-41 Meister, K., Agathocles. In: CAH. VIII 1, 1984, S. 384ff. Mossé, C., La Tyrannie dans la Grèce antique, 1969 Schenk Graf von Stauffenberg, A., König Hieron II von Syrakus, 1933 Schmidt-Lilienberg, H. G., Die Lehre vom Tyrannenmord, 1901 Seltman, C. T., Athens. Its History and Coinage Before the Persian Invasion, 1924 Shapiro, A. H., Art and Cult under the Tyrants in Athens, 1989 Snell, B., Leben und Meinungen der Sieben Weisen, 1971 (Tusculum) Stahl, M„ Aristokraten und Tyrannen im archaischen Athen, 1987 Strauss, L., Uber Tyrannis. Eine Interpretation von Xenophons »Hieron« mit einem Essay über Tyrannis und Weisheit von A. Kojève, 1948/63 Stroheker, K. F., Dionysios I, 1958 Weber, G., Poesie und Poeten an den Höfen vorhellenistischer Monarchen. Klio 74, 1992, S. 25 ff

VII. Die attische Demokratie

193

A. Geschichte und Gesellschaft 1.

Begriff a. Thema b. Athena c. demokratia d. demos e. Schlagworte

2.

Könige Kekrops, Erechtheus Theseus, Synoikismos Archonten Kylon, Drakon Handwerk Hopliten Demokratien sonst

Solon a. b. c. d. e. f. g. h. i. j.

5.

Aristoteles Historiker Inschriften Archäologie

Schiedsrichter Schuldentilgung, Sozialpolitik Timokratie Oberklassen Unterklassen Archontat; Ekklesia Bule Heliaia Elegien Peisistratos

Kleisthenes a. Phylenreform b. Dreiteilung

7.

Trittyen Demen Piraeus Phylen

Pentekontaetie a. b. c. d. e. f. g. h. i.

Vorgeschichte a. b. c. d. e. f. g. h.

4.

6.

Quellen a. b. c. d.

3.

c. d. e. f.

Perserkriege Themistokles, Flottenbau Seebund Hegemonie Athens Tribute Kriegspartei Kleruchen Perikles Peloponnesischer Krieg

Gesellschaft a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k. 1. m. n. o. p. q. r. s. t. u.

Struktur Adel Freie: Zahl Bürgerrecht Ephebie Reiche und Arme Einstellung zur Arbeit Handwerk Landwirtschaft Frauen Aristophanes Ehe Kinder Schule Fremde: Metöken Sklaven: Zahl ihre Verwendung: Polizei ihre Stellung ihre Freilassung Pasion Kritik

194

B. Verwaltung und Kultur 8. Institutionen a. Suum cuique b. Der Mensch als Bürger c. Organe

9. Beratende Organe a. b. c. d. e. f.

Areopag Ephialtes boulé: Solon Kleisthenes prytanis ihre Aufgaben

13. Finanzen a. b. c. d. e. f. g. h. i. j.

Münzen Kassen Einnahmen: Zölle Stiftungen: Liturgie Vermögenstausch: antidosis Ausgaben: Diäten, Sold, Korn Theatergeld: theörikon Poroi

14. Kultur 10. Beschließende Organe a. b. c. d. e. f. g. h. i. j.

Ekklesie ihr Ort ihre Befugnisse Heliaia, Nomothesie ihre Kammern ephesis, graphe paranomön Demenrichter Ostrakismos Durchführung Direkte Demokratie

11. Ausführende Organe a. b. c. d. e. f. g. h. i.

Archonten: Eponymos Polemarch und Thesmotheten Schreiber: grammateus Wahlmodus Strategen Militär Flotte Kleinere Behörden

12. Amtsträger a. b. c. d. e. f. g. h.

Beamte überhaupt keine Laufbahn Annuität, Kollegialität Los Losmaschine Kandidatenprüfung: dokimasia Dienstanklage: eisangelia Rechenschaft: euthynê

a. b. c. d. e.

Begabung Klassik: Literatur Kunst Religion Spätzeit

15. Niedergang a. Außenpolitik: 2. Seebund b. Innenpolitik: Demokratia vergottet c. Phokion d. Demetrios von Phaleron e. Athenion f. Hadrian g. Türken

16. Bedeutung a. b. c. d. e. f. g. h. i. j.

Antike Demokratiekritik: Herrschaft der Ungebildeten Fehlentscheidungen Kosten Asebieprozesse Demokratie-Renaissance Französische Revolution Nachteile der parlamentarischen Demokratie Vorzüge derselben Totenrede des Perikles

Literatur zu VII

195 Lysipp schuf das Standbild des Demos ohne Ohren. Gefragt, weshalb? sagte er: Weil das Volk sich nicht danach richtet, was es hört, sondern danach, was ihm beliebt. Gnomologium Vaticanum

A. Geschichte und Gesellschaft 1. Begriff la. Als Demokratie bezeichnet Aristoteles 1 jene Staatsform, die in der Stadt Athen und auf ihrem zugehörigen Staatsgebiet, der Halbinsel Attika - die Namen Attika und Athen sind stammverwandt - durch Solon 594 eingerichtet worden ist, nach dem Zwischenspiel der Tyrannis der Peisistratiden durch Kleisthenes 508 vollendet wurde und ihren Höhepunkt in den fünfzig Jahren (Pentekontaetie) zwischen den Perserkriegen (499-479) und dem Peloponnesischen Krieg (431-404) gefunden hat 2 . Im 4. Jh. sind die Institutionen ausgebaut worden, doch geht die außenpolitische Bedeutung Athens zurück. Im Kampf gegen Makedonien und Alexander verlor Athen 338 seine äußere, 322 seine innere Freiheit. Die Blüte der Demokratie fallt somit in die Zeit der Klassik, insbesondere in die Jahre unter Perikles (450-429) 3 . Ib. Der antike Name dieses Staates lautet, gemäß der griechischen Sitte, einfach hoi Athenaioi - „die Athener", allenfalls he boule kai ho demos tön Athenaiön - „Rat und Volk der Athener". Der Staat besteht aus den Bürgern: „Männer machen die Polis, nicht die Mauern" 4 . Der Stadtname ist abgeleitet vom Namen der vorgriechischen Göttin Athena 5 . In voller Rüstung soll sie dem Haupte des Zeus entsprungen sein6. Sie galt als Jungfrau, wurde dargestellt mit Helm, Schild und Speer und war die Schutzherrin der Stadt. Der Haupttempel der Stadt auf der Akropolis war der Tempel der Athena Polias, neben dem Parthenon 7 , ihr Kopf und das Bild ihres heiligen Vogels, der Eule (eigentlich der Steinkauz, Athena Noctua), zierten die Münzen und das Stadtsiegel. Die Panathenäen an ihrem Geburtstag waren ein Fest von überregionaler Bedeutung. Athena war die Göttin der Weisheit und des Textilhandwerks, der Ölbaum war ihr heilig. 1c. Die Staatsform wird in den offiziellen Dokumenten niemals erwähnt. Der Begriff demokratia ist erst seit etwa 430 belegt. Aischylos umspielt ihm um 475 in den »Hiketiden« (604). Im „Verfassungsgespräch" Herodots 8 wird „Demokratie einführen" umschrieben mit: „die Angelegenheiten (pragmatd) in die Mitte des Volkes legen." Die Macht der Menge * 1 Aristoteles, Ath. Pol. 41 * 2 Busolt + Swoboda S. 758 ff; Hignett 1958; Jones 1957/87; Hansen 1991; Ch. Meier 1993; Bleicken 1994 * 3 Plutarch, Them. 16 * 4 Alkaios, fr. 3 5 , 1 0 (Diehl); Thukydides VII 77; Appian XIV 50 * 5 Apollodor III 179 * 6 Pindar, Olympische Oden 7,35f * 7 Pausanias I 26,6 * 8 Herodot III 80ff

196

VII. Die attische Demokratie

(plethos archori) habe den Vorzug des schönsten Namens: isonomia, die Gleichberechtigung. Die Beamten sollen erlost werden und Rechenschaft ablegen, alle Beschlüsse gehen von der Gesamtheit aus. Der hier9 noch fehlende Begriff „Demokratie" erscheint dann in späteren Teilen von Herodots Geschichtswerk ganz selbstverständlich 10 . Offenbar ist er in der Zwischenzeit üblich geworden. Id. Die ursprüngliche Bedeutung ist nicht ganz klar. Kratos heißt Stärke, demos aber ist mehrdeutig. Während wir im Lateinischen die Unterscheidung zwischen populus „Gesamtvolk" und plebs - „niederes, nichtadliges Volk" haben, bezeichnet demos, wie unser Wort „Volk", beides11 und außerdem noch im territorialen Sinne die „Gemeinde" 12 . Somit heißt „Demokratie" entweder „Herrschaft des Gesamtvolkes über sich selbst", oder „Herrschaft des Nichtadels über das Gesamtvolk". Im ersten Fall läge eine idealisierende, im zweiten eine polemische Tendenz vor 13 . Letztere klang Aristoteles im Ohr, als er die Bezeichnung „Demokratie" für die radikale Spielart wählte, die gemäßigte hingegen „Politie" nannte 14 . le. Die wichtigsten Einrichtungen der Demokratie sind Volksversammlung und Volksrat, die zentralen Schlagworte lauten: Gesetz (nomos), Recht (dike), äußere und innere Freiheit (eleutheria, autonomiä), Gleichheit (isotes), gleiches Rederecht (isegoria), gleiches Stimmrecht (isopsephia). Gleicher Besitz (isomoiria) dagegen war eine nur bisweilen erhobene revolutionäre Parole 15 .

2. Quellen 2a. Über keine griechische Staatsform sind wir so genau unterrichtet wie über die attische Demokratie. Von den etwa 750 griechischen Städten des Altertums kennen wir keine so gut wie Athen, die Nachrichten über diese Stadt sind reicher als die über alle anderen griechischen Städte zusammen. Nirgends wurde so frei, so gern über alle politischen Fragen diskutiert, nirgends wurde so viel geschrieben und gelesen wie in Athen. Eine systematische Darstellung der Verfassung verdanken wir Aristoteles. Seine Sammlung von 158 Stadtverfassungen (politeiai poleöni6) ist bis auf klägliche Reste verloren 17 , doch entdeckte F. G. Kenyon 1890 unter einem Konvolut ägyptischer Papyri im Britischen Museum vier Rollen mit dem Text der »Athenaion Politeia«, verfaßt zwischen 329 und 322v.Chr., abgeschrieben um 100 n. Chr. 18 . Der Text ist vermutlich nicht von Aristoteles selbst, sondern eher von einem seiner Schüler verfaßt. Das legen bestimmte Widersprüche zur »Politik« des Aristoteles nahe19. Auch in seiner »Politik« geht Aristoteles oft auf Athen ein, er lebte dort und berichtet daher aus erster Hand. Die ebenfalls »Athenaion Politeia« betitelte, zu Unrecht Xenophon zugeschriebene Schrift ist eine oligarchische Polemik gegen die attische Demokratie.

* 9 und bei Herodot V 37: isonomia * 10 Herodot VI 43; 131 * 11 Homer, Ilias II 198ff; Xenophon, Mem. IV 2 * 12 s.u. 5d! * 13 Xenophon, Ath. Pol. 1,4 * 14 Aristoteles, Pol. III 5,2ff * 15 Aristoteles, Ath. Pol. 12 * 16 Diogenes Laértios V 27 * 17 herausgegeben von Valentinus Rose, 1886 (Teubner) * 18 Ausgaben: M. Chambers 1986 (Teubner); F. G. Kenyon, 1920 (Oxford); englische Übersetzung mit kurzem Kommentar: Aristotle, The Athenian Constitution, transl. P. J. Rhodes 1984 (Penguin Classics); große Kommentare von demselben, Oxford 1981 und mit deutscher Übersetzung von M. Chambers, Berlin 1990; kommentierte Übersetzung auch von M. Dreher 1993 (Reclam) * 19 Zur „Verfassung" Drakons und zur Beam ten wähl unter Solon: Rhodes 1981, S.61f

197

2. Quellen

Abb. 11.

Die Agora von Athen in klassischer Zeit, um 400 v. Chr. (Camp 1986, S. 101)

2b. Sehr gehaltvoll sind die Lebensbeschreibungen von Solon und Perikles aus der Feder Plutarchs, er behandelt außerdem Alkibiades, Aristides, Demosthenes, Kimon, Nikias, Phokion, Themistokles, nicht aber Kleisthenes 20 . Die großen zeitgenössischen Historiker Herodot, Thukydides und Xenophon schreiben über die Geschichte Athens und bringen dabei staatsrechtlich wichtige Nachrichten. Die Dramatiker, Philosophen und namentlich die kanonischen zehn attischen Redner 21 sind für Einzelheiten zumal des Staatsrechts bedeutsam, insbesondere Demosthenes 2 ' 3 .

* 20 beste deutsche Übersetzung: Plutarch, Große Griechen und Römer, deutsch von K. Ziegler, I-VI, 1954-1965 (Artemis) * 21 Plutarch, Mor. 832ff * 21 a H. Wankel, Demosthenes, Rede für Ktesiphon, 1976

198

VII. Die attische Demokratie

2c. Die archäologische Hinterlassenschaft des klassischen Athen ist ebenfalls reich. Für das Staatsrecht stehen die Inschriften an erster Stelle 22 , denn alle Staatsakte wurden veröffentlicht, vielfach auf Marmor. Allein auf der Agora wurden etwa 7500 Inschriften gefunden 2 3 . 403 unter Eukleides wurde die Schrift in die fortan gültige F o r m gebracht 24 . 2d. Wenig ergeben die Münztypen 2 5 und Vasenbilder 26 , auch die Skulptur sagt k a u m etwas über die Verfassung. Die Porträts sind noch nicht so lebensnah wie die der hellenistischen Zeit. Höchst aufschlußreich ist die Architektur 2 7 ; neben der Akropolis 2 8 und ihren Sakralbauten: Athena Polias-Tempel mit Erechtheion und dem alten hölzernen Kultbild, das an den Panathenäen bekleidet wurde 29 , Parthenon mit Athena-Statue des Phidias, Nike-Tempel und Propyläen, dann der Kerameikos mit den Töpferwerkstätten und den Gräbern, und vor allem die Agora mit den wichtigsten Amtsgebäuden: Rathaus (bouleuteriori) mit der Tholos (prytaneion), das Strategeion, das Staatsarchiv (metröon) und die Heliaia, der Zwölfgötteraltar, die Münzstätte und mehrere Hallen (Stoa Basileios, Stoa des Zeus Eleutherios, Stoa Poikile) 30 . Das Agora-Museum in der Attalos-Stoa macht den politischen Alltag ungemein lebendig. Auch über die Wohnkultur im klassischen Griechenland sind wir unterrichtet 3 1 .

3. Vorgeschichte 3a. Die Bewohner Attikas gehören zu den jonischen Griechen, die im 2. vorchristlichen Jahrtausend zusammen mit den Mykenäern aus dem D o n a u r a u m nach Hellas eingewandert sind 32 . Sie brachten ihre indogermanische Sprache mit, den Kult von Zeus und Hera und ihre Stammesgliederung. Ionier besiedelten damals Attika und Euböa, im frühen ersten Jahrtausend auch die Inseln der Ägäis und den mittleren Teil der kleinasiatischen Westküste von Smyrna bis Milet 33 . Die Erinnerung an diese erste griechische Einwanderung war in historischer Zeit erloschen, die Athener hielten sich für Erdgeborene, f ü r Autochthone 3 4 . Dennoch wußte noch Herodot etwas von vorgriechischen Pelasgern in Attika 3 5 . D a ß die Griechen nach Hellas eingewandert sind, ergibt sich aus linguistischen und archäologischen Befunden und ist erst im späten 19. Jh. erkannt worden 3 6 . 3b. Die älteste Staatsform, wie bei den Indogermanen auch sonst, war in Attika das Königtum. Auf der Akropolis soll nach der mythischen Tradition der schlangenbeinige, erdgeborene Heros Archegetes Kekrops gelebt haben 3 7 . Er gilt als erster König und Gründer der ursprünglich Kekropia genannten Stadt 38 und soll die Erdbestattung einge-

* 22 Auswahlsammlungen mit Erklärungen bieten Meiggs + Lewis 1969, Pfohl 1965 und Tod 1946/48. Neufunde veröffentlicht das Supplementum Epigraphicum Graecarum * 23 Camp 1989, S. 18 * 24 Plutarch, Arist. 1; Paroemiographi II S. 636; Scholia Ven. ad Homeri Iliadem, Eta 185 „nach Ephoros" * 25 BMC. XI Attica * 26 J. D. Beazley, Attic Red-Figure Vase Painters, 1942; J. Boardman, Rotfigurige Vasen, 1975 * 27 Judeich 1931, Travlos 1971 * 28 M.Schede, Die Burg von Athen, 1922; F. Brommer, Die Akropolis von Athen, 1985 * 29 F. Preißhofen in: E. Berger (Hg.), Parthenon-Kongreß Basel, I 1984, S. 15 ff * 30 Thompson + Wycherley 1972; Camp 1989 * 31 W. Hoepfner + E. L. Schwandner, Haus und Stadt im klassischen Griechenland, 1989 * 32 s.o. II 6a! * 33 Aelian, Var. hist. VIII 5 * 34 Thukydides I 2,3ff; Strabon VIII 1,2 * 35 Herodot I 56ff; II 50ff; VI 137; Strabon VII 7,10; IX 1,18 * 36 Ed. Meyer, in: Philologus 48, 1889, S.268ff und 49, 1890, S.479ff * 37 Strabon IX 1,18 * 38 Apollodor III 177

3. Vorgeschichte

199

führt haben 3 9 . G e m ä ß Eratosthenes beginnt mit ihm die attische Königsreihe 40 . Kekrops wurde als Wassermann unter die Sternbilder versetzt 41 . Als nächstbedeutender König wird der gleichfalls erdgeborene Erechtheus angeführt, der im Erechtheion verehrt wurde 42 . Er hat nach Herodot den N a m e n Kekropidai in Athenaioi umgeändert 4 3 . Schwiegersohn des Erechtheus war nach dem Mythos der eponyme Heros Ion, dessen vier Söhne die Namen für die attischen Phylen abgaben. Sein Vater war Apollon 4 4 . 3c. König Aigeus mußte Menschentribut an Minos zahlen, von dem Theseus Athen befreite, indem er den Minotauros tötete. Theseus soll durch Synoikismos, durch Zusammensiedlung der zwölf Städte Attikas Athen gegründet haben 4 5 . Pelargikon 46 , Quelltunnel und schriftliche Tradition 4 7 bezeugen, daß die Akropolis eine mykenische Burg trug, größer als die von Mykene. König Aigeus hat sich von der Mauer gestürzt, als er das Schiff seines Sohnes Theseus nach dem K a m p f mit dem Minotaurus mit schwarzen Segeln aus Kreta heimkehren sah 48 . Nach ihm wurde die Ägäis benannt. Unter den folgenden Königen wurden Kodros und sein Sohn Medon namengebend für die den Theseiden folgende stirps regia. U m 700 trat Eleusis mit dem berühmten Demetertempel in den Staatsverband ein, um 600 die Insel Salamis 49 . 3d. Vermutlich im 8. Jh. wurden die Könige Athens durch Archonten abgelöst, die der Adelsrat (Areopag) nach Ansehen und Reichtum (aristinden kai ploutinden50) wählte. Ihre Amtsdauer war zunächst lebenslänglich, dann zehnjährig und wurde 683 auf ein Jahr begrenzt 51 . Die Archonten waren anfangs Angehörige des Königshauses der Medontiden, später beliebige Adlige (eupatridai). Der Kreis der Wahlberechtigten erweiterte sich. Gleichzeitig wurde die Zahl der Archonten größer, ihre Amtsdauer kürzer. Der Königstitel erhielt sich im archön basileus51 und in den phylobasileis, den adligen Vorstehern der vier attischen Phylen 53 . 3e. Der Übergang vom Königtum zur Aristokratie und weiter zur Demokratie hat sich nicht reibungslos vollzogen. Nachdem in Athen der gewaltsame Versuch, eine Tyrannis zu errichten 634 (?), mit Kylon gescheitert war 54 und die sozialen Spannungen ungelöst anhielten, folgte die erste Aufzeichnung von Gesetzen durch D r a k o n 62155. D r a k o n hat keine Verfassung gegeben 56 , sondern dem adligen Faustrecht Einhalt geboten. Blutrache wurde durch staatliches Verfahren ersetzt, für unvorsätzliche Tötung konnte bzw. mußte Wergeid bezahlt werden, vorsätzliche Tötung konnte nur geahndet werden, wenn diese festgestellt und Fehde angesagt war. Das gentilizische Fehdewesen wurde so unter staatliche Kontrolle genommen, auf Eigentumsverletzungen stand Todesstrafe. 3f. Die allmähliche Demokratisierung hängt zusammen mit einer sozialen Entwicklung von überwiegend ländlich-bäuerlichen Verhältnissen zu einer stärker durch Handwerk und Handel getragenen Polis-Gemeinschaft. Diodor 5 7 behauptet, die älteste Gesellschaftsordnung Athens stamme aus Ägypten. An der Spitze stünden die Eupatriden als die Priester, unter ihnen die Geomoren als die ebenfalls grundbesitzenden Hopliten und darunter die * 39 Cicero, De leg. II 63 * 40 Eusebius, Chron. zu 1559 v. Chr. * 41 Hygin, Astr. II 29 * 42 Homer, Ilias II 547; Odyssee VII 81; Eusebius, Chron. zu 1485 v. Chr.; Pausanias I 26,5 * 43 Herodot VIII 44 * 44 Herodot V 66; VII 94 * 45 Strabon IX 1,20; Plutarch, Thes. 24 * 46 Herodot V 64 * 47 Pausanias I 28,3 * 48 Plutarch, Thes. 22 * 49 s.u. 9b! * 50 Aristoteles, Ath. Pol. 3 * 51 Eusebios, Chron. z.J.; Pausanias IV 15,1 * 52 s.u. lib! * 53 Pollux 8,111; Aristoteles, Ath. Pol. 8,3 * 54 Herodot V 71; Thukydides I 126 * 55 Eusebios, Chron. zu 624 v.Chr. * 56 so irrig Aristoteles, Ath. Pol. 4; s.o. Anm. 19! * 57 Diodor I 28,5

200

VII. Die attische Demokratie

Demiurgen, die Arbeiter und Bauern. Diese Schichtung geriet - wenn es sie jemals gegeben haben sollte - früh in Bewegung. Mit der Ausbreitung der Sklaverei und des Geldwesens stiegen neue Schichten auf, die politisch mitreden wollten. 3g. Dieser sozialökonomischen Entwicklung entspricht ein Bedeutungsschwund der adligen Reiterei zugunsten der aus Bauern und Handwerkern gebildeten schwerbewaffneten Hoplitenphalanx seit dem 7. Jh. und seit den Perserkriegen das zunehmende Gewicht der Kriegsflotte, deren Mannschaften stets als besonders demokratisch galten58. Gemäß dem antiken Grundsatz, daß politische Rechte dem Dienst im Heere entsprechen, gewannen somit jeweils neue Schichten Mitsprache im Staat. Allgemeine Wehrpflicht der Männer war selbstverständlich, Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige durften die Staatsheiligtümer nicht betreten59. Athen errichtete Kriegerdenkmäler mit den Namen der Gefallenen60. 3h. Die Entwicklung zur Demokratie läßt sich auch in anderen griechischen Städten beobachten. Schon vor Solon gab es demokratische Institutionen in Dreros auf Kreta61, nach ihm auf Chios. Eine Inschrift62 bezeugt demarchoi und basileis nebeneinander, sowie eine monatlich tagende boule demosia aus je 50 Vertretern jeder Phyle. Dieser Volksrat, der den Adelsrat anscheinend abgelöst hat, war Appellationsgericht. Die Beschlüsse (rhetrai) faßte das Volk. Auch in Chios begleitet die Demokratisierung den ökonomischen Aufstieg der Polis. Thukydides63 bezeugt ihren beispiellosen Wohlstand; Theopomp berichtet, daß dort die ersten Kaufsklaven verwendet wurden64; im Jahre 693 wurde hier das Schweißen von Eisen erfunden 65 . Demokratische Institutionen finden wir ebenfalls um 450 in Syrakus66 und Argos67.

4. Solon 4a. Den wichtigsten Schritt zur Lösung der inneren Gegensätze tat Solon68. In der Zeit um 600 lebten viele Bauern in drückender Abhängigkeit von den adligen Grundbesitzern. Zahlreiche ihrer Klienten (pelateis) und Sechstellöhner (hektemoroi) hatten ihre Äcker oder ihre Person verpfänden müssen oder waren gar als Schuldsklaven ins Ausland verkauft worden. Es kam zu einer bürgerkriegsähnlichen Situation, so daß Solon im Jahre 594 zum Archon und Schiedsrichter (diallaktes) erhoben wurde. Wir haben eine solche Amtsstellung in anderen Städten beim Übergang zur Tyrannis kennengelernt. Die Adligen stimmten der Wahl Solons zu, weil er nach seiner Herkunft aus dem attischen Königsgeschlecht zu ihnen gehörte69; das Volk akzeptierte ihn, weil er in seinen politischen Elegien70 Sympathien für die Ärmeren ausgesprochen hatte. Bekannt geworden war Solon, als er durch eine Gedichtrezitation in verstelltem Wahnsinn (poetis furere concessum est7i) die Athener bewog, den schon aufgegebenen Kampf gegen Megara wieder aufzunehmen, der dann zur Eroberung von Salamis führte 72 . Unterstützt hat ihn damals vor allem Peisistratos73. * 58 s.u. 5 e! * 59 Aischines III 176 * 60 Meiggs Nr. 33; 48 mit Lit.; vgl. 35; s.u. V 8 d ! * 61 Meiggs Nr. 2 * 62 Tod Nr. 1: u m 600; Meiggs Nr. 8: um 560 * 63 Thukydides VIII 45 * 64 Athenaios 165 B * 65 Eusebios, Chron. z.J. * 66 s.u. lOi! * 67 Thukydides V 31; 44; 59f. * 68 Plutarch, Sol. passim-, Aristoteles, Ath. Pol. 5ff; ders. Politik 1273 b 35 * 69 Plutarch, Sol. 1 * 70 deutsch von Franyö 1971 * 71 Plinius, ep. VII 4,10 * 72 Aelian, Var. hist. VII 19; Plutarch, Sol. 9; Meiggs Nr. 14 * 73 Strabon IX 1,11; Plutarch, Sol. 8

4. Solon

201

Dichtende Staatsmänner waren der Antike geläufig, auch die Neuzeit ist nicht ohne Beispiele, wenn wir an Friedrich d. Gr. oder M a o Tse-tung denken. 4b. Nach seiner Wahl führte Solon eine allgemeine Schuldentilgung durch, die euphemistisch 74 als „Lastenabschüttelung" (seisachtheia) bezeichnet wurde. Es folgte ein Verbot von Anleihen auf die Person und von Kinderverkauf. Athener wurden aus dem Ausland auf Staatskosten zurückerworben und wieder in ihre Bürgerrechte eingesetzt. Gegen den Grundadel richteten sich die Festlegung einer Höchstgrenze des Landeigentums 7 5 , das Ausfuhrverbot für Getreide und Wein 76 , die neuen Erbgesetze und die Einschränkung des Aufwandes bei der Bestattung 77 . Zugunsten des Handwerks wurde bestimmt, daß Väter, die ihre Söhne keine Lehre durchmachen ließen, den Anspruch auf Altersversorgung durch diese Söhne verloren 78 . Solons Gewichtsreform 7 9 diente der beginnenden Münzprägung und machte Athens Außenhandel konkurrenzfähig. Exportiert wurden vor allem Ol 80 , Vasen 81 und Silber. 4c. Der wichtigste Teil der solonischen Gesetze betrifft seine Verfassungsreform. Für das passive Wahlrecht wurde die adlige Geburt durch ein Mindesteinkommen ersetzt. Die Adligen ließen sich das gefallen, weil sie sowieso überwiegend den höheren Einkommensklassen angehörten; das Volk war zufrieden, weil im Prinzip nun jeder Archon werden konnte. Solons System nennt man 8 2 Timokratie - Herrschaft der Ehre, des Ansehens; nur wer als Hauswirt erfolgreich war, sollte ein Staatsamt bekleiden, das Unabhängigkeit erforderte. Besoldete Ämter gab es nur in Monarchien - es galt als schändlich, sich am Gemeinwesen zu bereichern 83 . Solon unterschied vier Klassen 84 auf der Rechnungseinheit: 1 Scheffel Getreide gleich 1 Schaf gleich 1 Drachme 8 5 . 4d. Die höchste Klasse bildeten die von Solon aus der Gesamtheit der Ritter ausgegliederten Fünfhundertscheffler (pentakosiomedimnoi) mit mindestens 500 Scheffeln Jahresrente. Dieses Einkommen wurde für Archonten 8 6 und Schatzmeister gefordert, und das galt noch unter Kleisthenes. Die zweite Klasse bildeten die sonstigen Ritter (hippeis) mit mindestens 300 Scheffeln. Trotz ihres Namens dienten zu Solons Zeit auch die „Ritter" überwiegend als Hopliten. Sie stellten die mittleren Beamten. 4e. Als dritte Klasse folgen die Zeugiten (zeugitai) mit mehr als 200 Scheffeln. Der N a m e kommt von zygon - „Joch" und bedeutet ursprünglich: nicht „Besitzer eines Rinderjoches", sondern „die in der Phalanx zusammengejochten Hopliten" 8 7 . Unter Solon wurden die Inhaber der niederen Ämter aus dieser Gruppe gewählt, seit Kleisthenes konnten sie Strategen werden, seit 457 Archonten 8 8 . Die Vermögensqualifikation wurde mithin ständig herabgesetzt. Die unterste Klasse bestand aus den Theten (thetes), den Lohnarbeitern. Sie nahmen nur an Volksversammlung und Volksgericht teil, dienten im Heer nicht als Hopliten, wie die Angehörigen der drei oberen Schätzklassen, sondern als Matrosen, Seeoffiziere oder Leichtbewaffnete. Seit 450 waren auch sie in bestimmte Ämter wählbar. Ihre Zahl war gering. Die wirtschaftlichen Proportionen verschoben sich überhaupt so, daß schließlich ein Pentakosiomedimne ein armer M a n n sein konnte 88 ". * 74 Plutarch, Mor. 807 E: „richtig chreon apokope" * 75 Aristoteles, Pol. 1266 b * 76 Plutarch, Sol. 24 * 77 Plutarch, Sol. 21; Cicero, De leg. II 64 * 78 Plutarch, Sol. 22 * 79 Aristoteles, Ath. Pol. 10 * 80 Plutarch, Sol. 24 * 81 s.u. XI 2 d! * 82 in Anlehnung an Aristoteles, Nik. Eth. 1160 a b * 83 Piaton, Gesetze 955 c; Aelian, Var. hist. X 17; Plutarch, Mor. 798 EF; 819 E; 820 B; 822 E * 84 Aristoteles, Ath. Pol. 7,3 * 85 Plutarch, Sol. 23 * 86 Plutarch, Arist. 1 * 87 Plutarch, Pelopidas 23 * 88 Aristoteles, Ath. Pol. 26 * 88a I.e. 47

202

VII. Die attische Demokratie

4 f . Solon reformierte weiterhin das oberste Staatsamt, das Archontat. In der älteren Zeit hatte der Areopag die Archonten ernannt. Solon ließ aus jeder der vier Phylen zehn Männer auswählen und aus diesen 40 durch das Bohnenlos die neun Archonten auslosen. Das Verfahren hieß: Auslosung aus Vorgewählten (klerösis ek prokritön). N a c h anderer Tradition wurden die Archonten vor und nach Solon gewählt 89 . 4g. Als zweiten Rat neben dem Areopag, dem alten Adelsrat, richtete Solon die Bulé, den Volksrat, ein 90 , bestehend aus 400 Buleuten, d . h . 100 erlösten 9 ' Räten der drei Oberklassen aus jeder Phyle. Anscheinend unverändert blieb die Volksversammlung, die Ekklesia. Der Begriff bezeichnet ursprünglich die „Herausgerufenen". 4h. Neu war indessen das von Solon eingerichtete Volksgericht (héliaia). Seine 6000 Mitglieder wurden jährlich aus allen Bürgern ausgelost, auch aus den Theten 92 . Die Heliaia war das Appellationsgericht gegen die Beamten und damit die höchste Entscheidungsinstanz im Staat. Diese M a ß n a h m e galt als eine der drei „demokratischsten" 9 3 . Die anderen sind die Bestimmung: „Wer im Bürgerkrieg nicht mit den Waffen für eine der beiden Parteien kämpft, wird der Bürgerrechte enthoben" 9 4 und die Einführung der Popularklage: „Wenn irgend einem Bürger Unrecht geschieht, kann jeder (d.h. nicht nur ein Verwandter) Klage erheben" 9 5 . Damit wurde das Volk als Gesamtheit für die Politik zur Verantwortung gezogen. Der Staat sollte Sache aller sein, res publica, wie die Römer später sagten. Die Gesetze wurden auf hölzerne Tafeln (axones) aufgeschrieben und in der Stoa Basileios aufgestellt 96 . Sie sollten zehn Jahre gelten 97 , wurden aber tatsächlich nie aufgehoben. 4i. Solon wurde angesichts der fortdauernden prekären Lage bedrängt, die Tyrannis zu übernehmen. Wir besitzen Elegien von ihm, in denen er sich öffentlich dafür rechtfertigt, die Tyrannis abgelehnt zu haben 9 8 . Auf die Frage, ob er die besten Gesetze gegeben habe, soll Solon geantwortet haben: „nein, aber die besten, die sich die Athener gefallen ließen" 99 . Hier wird die Politik als die Kunst des Möglichen begriffen. Plutarch überlegt, weswegen Solon nicht den Boden neu aufgeteilt habe wie Lykurg, und kommt zu dem Ergebnis, daß er zu schwach dazu gewesen sei. Angesichts des Mißtrauens gegenüber der Bereitschaft beider Parteien zum Frieden verließ Solon Athen und reiste für zehn Jahre ins Ausland, u . a . nach Ägypten 100 . Aristoteles betrachtete ihn als den Schöpfer der attischen Demokratie 1003 4j. N a c h Solons Abreise kam es zu weiteren Unruhen. Das Kräfteverhältnis spiegelt sich in der Verteilung der Archonten nach dem Putsch des Damasias 581 v.Chr.: zwei stellten die Handwerker, drei die Landbewohner und fünf die Adligen 101 . Es folgten Bürgerkriege, die zur Tyrannis des Peisistratos (560-527) führten 1 0 2 . Die Tyrannis schwächte den grundbesitzenden Adel, der zumal in der letzten Phase des Peisistratos an Einfluß verlor, und stärkte die Werktätigen. Sie brachte einen wirtschaftlichen Aufstieg; Athen enwickelte sich zum kommerziellen Zentrum. * 89 Aristoteles, Ath. Pol. 8 mit Rhodes 1981, S. 148; dagegen Aristoteles, Politik 1274 a mit Ruschenbusch 1966 * 90 Aristoteles, Ath. Pol. 8,4 * 91 Thukydides VIII 66 * 92 Aristoteles, Ath. Pol. 7 * 93 Aristoteles, Ath. Pol. 9 * 94 Aristoteles, Ath. Pol. 8,5; Plutarch, Sol. 20 * 95 Aristoteles, Ath. Pol. 9; Plutarch, Sol. 18 * 96 Camp 1989, S.44; Plutarch, Sol. 25; ders., Mor. 779 B; 780 C * 97 Herodot I 29; Plutarch, Sol. 25 nennt 100 Jahre * 98 Aristoteles, Ath. Pol. 11 f * 99 Plutarch, Sol. 15 * 100 Herodot I 29f; Aristoteles, Ath. Pol. 11,1; Plutarch, Solon 26 * 100a Aristoteles, Politik 1273 b 35 * 101 Aristoteles, Ath. Pol. 13 * 102 s.o. VI 4f!

5. Kleisthenes

203

5. Kleisthenes 5a. Die Vertreibung der Tyrannen 510103 brachte den inneren Frieden nicht. Der Adel, von Sparta unterstützt, hoffte auf Restauration. Das Volk, unter der Tyrannis gestärkt, verlangte Demokratie. Wir finden abermals eine Bürgerkriegssituation, und zwar zwischen dem Aristokraten Isagoras, der sich auf das Binnenland stützte und mit Hilfe der Spartaner sich kurze Zeit behauptete, und dem Alkmaioniden Kleisthenes, der die Küstenbewohner und die Städter anführte 1 0 4 . Kleisthenes, der ein Enkel des gleichnamigen Tyrannen von Sikyon war 105 und unter den Peisistratiden das Archontat bekleidet hatte 106 , setzte sich durch und vollzog 508/7, wahrscheinlich als Archon, die große Phylenreform. Damit schuf er, nach Herodot, die „Demokratie" 1 0 7 . 5b. Kleisthenes ging aus von einer sozialgeographischen Dreiteilung Attikas in Küste, Binnenland und Stadt. Berge und Ebene, die in den Kämpfen vor Peisistratos noch getrennt waren, sind jetzt im „Binnenland" zusammengenommen, die Stadt aber, die damals fehlte, erscheint als eigener Faktor. Dies ist das Ergebnis der Tyrannenzeit. Der Anteil der Städter an der Gesamtbevölkerung stieg von 30% im 5. Jh. auf 60% im 4. Jh. 5c. Die drei Gebiete zerlegte Kleisthenes in je zehn Teile und vereinigte dann je drei dieser insgesamt 30 Teile, und zwar aus jedem der drei Gebiete eines, zu einer einzigen Phyle 108 . An die Stelle der vier alten traten zehn neue Phylen 109 . Jede bestand somit aus drei Teilen (trittyes) in jeweils einer der drei Zonen. Vergleichen wir Attika mit einer Baumkuchen-Torte aus drei Ringen, die in zehn Stücke geschnitten ist, so stellt jedes Tortenstück eine Phyle dar. An der Spitze jedes Stückes liegt die städtische Trittys, in der Mitte die binnenländische, am Rande das zur Küste gehörige Phylendrittel. 5d. Jede Trittys war wiederum unterteilt in drei bis vier Demen (Gemeinden). Diese ursprünglich 100, später 174 Demen 110 verwalteten sich selbst, besaßen eigene Kulte, eigene Kassen und jährlich wechselnde Bürgermeister (demarchoi). Letztere führten die Bürgerlisten 111 , die Grundbücher und die Stammrollen der Wehrpflichtigen. Sie leiteten die Bürgerversammlungen, die örtlichen Götterfeste und überwachten die Ordnung. 5e. Eine Sonderstellung nahm der Demos Piraeus ein, der Hafen Athens. Themistokles baute ihn aus 112 , 460 wurde er durch die etwa 7 km „langen Mauern" mit Athen verbunden 113 . Der Demarch des Piraeus wurde von der Ekklesia bestellt 114 , der Piraeus galt stets als besonders demokratisch 115 . Der Hafen faßte 400 Schiffe 116 . Unklar ist die Zuordnung der Bürger, die in Oropos und auf Salamis wohnten. 5f. Die Funktionen der Phylen blieben im wesentlichen dieselbe wie bei Solon. Sie beschickten den Rat und stellten die Hoplitenregimenter auf. Die Anordnung der Phylen entlang der nach Athen führenden Straßen erleichterte die Einberufung 1 1 7 . U m den Gedanken der Abstammungsgemeinschaft zu bewahren, ließ Kleisthenes den Neuphylen durch das delphische Orakel je einen mythischen Heros als Stammvater zuweisen 118 . Mit seiner „Mischung des Volkes" 119 erstrebte Kleisthenes eine politische Integration der * 103 Herodot V 62 ff; s.o. VI 9 el * 104 Aristóteles, Ath. Pol. 20 * 105 Herodot V 67 * 106 Meiggs Nr. 6 * 107 Herodot V 66 ff; VI 131 * 108 Aristóteles, Ath. Pol. 21 * 109 Plutarch, Arist. 5; zum Fortbestand der Altphylen: Chambers 1990, S. 225 * 110 Strabon IX 1,16 * 111 Aristóteles, Ath. Pol. 21 * 112 Plutarch, Them. 19 * 113 Thukydides I 107f; II 13 * 114 Aristóteles, Ath. Pol. 54 * 115 Plutarch, Them. 19 * 116 Strabon IX 1,15 * 117 Siewert 1982 * 118 Herodot V 66; Aristóteles, Ath. Pol. 21,6 * 119 Aristóteles, Pol. VI 2,11

204

VII. Die attische Demokratie

Siedlungsräume. Es ließ sich auf die Dauer nicht verhindern, daß die städtische Trittys in den Phylen die führende Rolle einnahm, aber der Hauptzweck war erreicht: eine regionale Aufspaltung der Bürgerschaft kam nicht mehr vor. Mit Bürgerrechtsverleihungen an Metöken und Sklaven hat Kleisthenes seine neue Ordnung gefestigt120.

6. Pentekontaetie 6a. Die weitere Verfassungsentwicklung Athens hängt zusammen mit den außenpolitischen Ereignissen. 499 erhoben sich die ionischen Griechen gegen die Perserherrschaft121. 494 unterlagen sie, trotz der Unterstützung durch Athen122. Es folgen die persischen Rachezüge: 492 nach Thrakien123, 490 über die Ägäis nach Attika: Bei Marathon konnten die Athener unter Miltiades die Perser besiegen124. 480 erschien Xerxes persönlich in Griechenland, er durchbrach die von den Spartanern unter Leonidas verteidigten Thermopylen125 und zerstörte Athen126. Die Stadtbewohner hatten sich zum größeren Teil jedoch auf die Schiffe begeben, und zur See bei Salamis brachte die vereinigte griechische Flotte den Persern eine Niederlage bei127. 479 wurde auch das persische Landheer unter Mardonios bei Plataiai geschlagen128, die Inseln und die ionischen Städte warfen das persische Joch ab. Den Sieg verherrlichte Aischylos in seinem Drama »Die Perser«. Stolz auf die Freiheit betonte er, die Griechen seien keinem Untertan129. 6b. Zur Vorbereitung auf den Kampf gegen Persien hatte Themistokles seit 482 ein großes Flottenbauprogramm durchgesetzt, das Athen zur stärksten Seemacht der griechischen Welt erhob130. Die Flotte garantierte den Athenern Arbeit und Wohlstand, Hegemonie und Demokratie. Bezahlt wurden die Trieren131 aus den Einkünften der Silberminen von Laurion, die entsprechend dem Vorschlag des Themistokles nun nicht mehr auf die Bürger verteilt wurden132. Durch den Mauerbau von 479 stärkte er zugleich die Abwehrkraft Athens zu Lande133. So trat Athen neben Sparta, Korinth, Syrakus und Milet in die Reihe der wichtigsten griechischen Poleis. 6c. Athens Macht wuchs namentlich infolge der 478 durch Aristides organisierten Umwandlung der antipersischen Symmachie von 481134 in den delisch-attischen Seebund135. Er umfaßte vorab die durch Persien gefährdeten Städte Ioniens und der Ägäis, 425 waren es 400. Der Bund wurde zwischen Athen und den einzelnen Städten für alle Zeiten abgeschlossen. Er hielt seine Bundesversammlungen auf Delos ab, im Zentralheiligtum Apollons. Jedes Mitglied war im Synhedrion durch eine einzige Stimme repräsentiert, ungeachtet der Größe136. Die Beitragsleistungen waren so geregelt, daß die größeren Städte (Chios, Lesbos, Samos) Schiffe stellten, die kleineren Städte je nach ihrer Leistungsfähigkeit Gelder zahlten. Die Kasse war ebenfalls auf Delos und wurde durch ein Kollegium

* 120 Aristoteles, Pol. 1275 b 35; 1319 b 20 * 121 Herodot V 35; VI 99ff * 122 Herodot VI 6ff; V 97 ff * 123 Herodot VI 43 ff * 124 Herodot VI 94 ff; Meiggs Nr. 18 f * 125 Herodot VII 201 ff * 126 Herodot VIII 51 ff * 127 Herodot VIII 56ff; Meiggs Nr. 24f * 128 Herodot IX 17ff; Meiggs Nr. 27; Pausanias V 23 * 129 Aischylos, Perser 242 * 130 Plutarch, Them. 4; Podlecki 1975 * 131 Rekonstruktion: J. Morrison + J. Coates, The Athenian Triereme, 1986 * 132 Plutarch, Them. 4 * 133 Plutarch, Them. 19 * 134 Plutarch, Them. 6 * 135 Thukydides I 96; Plutarch, Aristides 24 f * 136 Thukydides III 11

6. Pentekontaetie

205

von Hellenotamiai verwaltet 137 , die von der attischen Volksversammlung aus der höchsten Einkommensklasse alljährlich bestimmt wurden 138 . Weitere 700 Athener sollen als Beamte in den verbündeten Städten tätig gewesen sein 139 . 6d. Im Laufe des 5.Jhs. trat die Vormachtstellung Athens im Bund immer stärker hervor. 454 wurde die Bundeskasse nach Athen verlegt 140 , seit 449 durften nur noch attische Münzen, Maße und Gewichte benutzt werden 141 . Bundesstädte, die ihren Austritt erklärten, wurden mit Krieg überzogen und erobert: Naxos um 470 142 , Thasos 466 143 , Euboia 446 144 , Samos 440 145 . U m die Verbindung mit den Seebundstädten zu stärken, haben die Athener dort jeweils die demokratische Partei unterstützt und eine demokratische Staatsform begünstigt 146 . Umgekehrt förderten die Spartaner gewöhnlich die oligarchischen Parteien 147 . Die außenpolitische Sympathie entspricht der innenpolitischen Systemverwandtschaft. 6e. Der Seebund war für Athen eine ergiebige Einnahmequelle. Nach Perikles 148 kassierte Athen jährlich 600 Talente (über 15.000 kg Silber), und die Nachfolger des Perikles steigerten die Beiträge auf 1500 Talente 149 . Aus den Beiträgen wurde die attische Flotte unterhalten, von den gehorteten Geldern kam ein Sechzigstel als Miete an die Athena Parthenos. Alle größeren Prozesse mußten in Athen geführt werden, das brachte Sportein 150 . Xenophon 1 5 1 schreibt: „Weil die Athener so arm sind, müssen sie eben ein bißchen ungerecht gegen ihre Bundesgenossen sein." 6 f . Der Zusammenhang zwischen innerer Funktionsfähigkeit und Expansion erklärt auch, weshalb der von den ärmeren Schichten getragene Flügel der Radikaldemokraten durchgehend die Kriegspartei in Athen gewesen ist, während die reicheren Schichten, die eher oligarchisch gestimmt waren, gegen die imperialistische Seebundpolitik der demokratischen Massen opponierten 1 5 2 . Wenn man davon ausgehen darf, d a ß in jedem System eine Affinität, wo nicht Identität besteht zwischen denjenigen Gruppen, die die Politik bestimmen, und denjenigen, die die Früchte dieser Politik ernten, so ist für die Volksherrschaft Athens nichts anderes zu erwarten. 6g. Weitere Gründe kommen hinzu. D a es keine Kriegskasse gab, war die erste Folge jeder Kriegserklärung eine Sondersteuer (eisphora) für die Reicheren 153 . Sie mußten also bereits zahlen, ehe der erste Schuß fiel. Wenn dann Eroberungen gemacht waren, verteilte der Demos sie als Siedlungsland an sog. Kleruchen 154 , d. h. arme Athener, die unbeschadet ihres Bürgerrechtes im „Ausland" siedelten (Euboia, Imbros, Lemnos, Skyros, Aigina, Samos und Lesbos), unter Episkopoi standen und durch Garnisonen und Phrurarchen geschützt wurden. Kleruchen wurden Zeugiten und dienten im Heer Athens als Schwerbewaffnete. Ein Krieg bedeutete für die, die etwas zu verlieren hatten, immer einen sicheren Verlust, aber f ü r die, die nichts zu verlieren hatten, einen mehr oder weniger wahrscheinlichen Gewinn.

* 137 Thukydides I 96 * 138 Aristoteles, Ath. Pol. 30, 2 * 139 Aristoteles, Ath. Pol. 24, 3 * 140 Justin III 6; Plutarch, Per. 12. Das Datum gemäß den inschriftlichen Tributlisten: Meiggs Nr. 39, vgl. 46; 50; 69; 75 * 141 Meiggs 1969 N r . 4 5 * 142 Thukydides I 98; 137 * 143 Thukydides I lOOf * 144 Strabon V 1,3 * 145 Thukydides I 117; Isokrates XV 111; Diodor XII 28; Meiggs Nr. 55 * 146 Meiggs Nr. 40 * 147 Diodor XV 45,1 * 148 Thukydides II 13 * 149 Plutarch, Aristides 24; Meiggs Nr. 69 * 150 Xenophon, Ath. Pol. I 16f * 151 Xenophon, Vect. 1,1 * 152 Thukydides IV 60; Xenophon, Ath. Pol. I 14ff * 153 Zuerst 428/7 v.Chr.: Thukydides III 19; Pollux VIII 129 f; Demosthenes XIV 19 * 154 Thukydides III 50; Xenophon, Hell. V 1,31

206

VII. Die attische Demokratie

6h. Der attische Seebund stellte die Hegemonie Spartas in Frage. Perikles hat auf den Konflikt hingearbeitet, war aber geschickt genug, die Kriegserklärung zu vermeiden, und dies hat ihm das Ansehen des großen Friedensfürsten eingetragen. Da Athen als Seemacht mit der Landmacht Sparta kaum Reibungsflächen hatte, mußte man die mit Sparta verbündeten Hafenstädte reizen, um die Schutzmacht herauszufordern. An den Rand des Krieges geriet man, als Athen gegen Korinth, das zum Peloponnesischen Bund gehörte, die Flotte von Kerkyra stärkte und die Tochterstadt Poteidaia belagerte 155 . Die Maßnahme, die den Krieg schließlich herbeiführte, war der Boykott, den Perikles über die Stadt Megara verhängt hat 156 . Durch die Seeherrschaft vermochte Athen jede griechische Hafenstadt mit friedlichen Mitteln zu ruinieren. 6i. Nach dem Sieg der von Persien unterstützten Spartaner im Peloponnesischen Krieg (431-404) war es vorbei 157 mit der polis tyrannos158 bzw. des „attischen Reiches Herrlichkeit" 159 . Der Seebund, gegründet zur Wahrung der Freiheit gegenüber den Persern, wurde zur Wiederherstellung der Freiheit von den Athenern 160 durch die Spartaner aufgelöst.

7. Gesellschaft 7a. Die Gesellschaft Athens bestand nach der mythischen Überlieferung ursprünglich aus den vier Phylen der Bauern, der Handwerker, der Priester und der Krieger 161 . In historischer Zeit war die wichtigste Unterscheidung die zwischen den Freien, den eleutheroi, die, nach der antiken Deutung des Wortes, hingehen konnten, wohin sie wollten, und den Sklaven (douloi), die das nicht konnten. Eine eigene Gruppe bildeten die Metöken (metoikoi), die ansässigen Fremden. 7b. An der Spitze der Freien stand der erbliche Adel, die Eupatriden „von guter Abstammung" 162 . Materielle Grundlage des Adels war Grundbesitz, seine politischen Vorrechte 163 verschwanden mit Ausnahme bestimmter Priesterämter. Der Adel war in Clubs (hetairiai) organisiert, heiratete untereinander, trieb Sport mit Pferden und förderte Kult und Kultur. Die mächtigste Familie waren die Alkmaioniden, ihr gehörten Kleisthenes und Perikles an. Ein zweites großes Geschlecht bildeten die Philaiden mit dem älteren und dem jüngeren Miltiades, Kimon und Thukydides 164 , ein drittes die Medontiden, denen die attischen Könige und die ersten Archonten entstammten. Solon, Peisistratos und Piaton waren Abkömmlinge dieser Familie. Bis zum Tode des Perikles kamen die meisten attischen Politiker aus den gehobenen Familien. Danach folgte, so meinte Aristophanes 165 , die Herrschaft der Wursthändler, Lampenfabrikanten und Kümmeltürken (Paphlagonier). 7c. Die Zahl der freien Athener wird von Ehrenberg 166 für die Zeit des Perikles auf maximal 300.000 geschätzt, 40.000 Bürger, davon 30.000 Wehrfähige 167 . Unter Alexander war die Zahl auf 21.000 gesunken 168 . Mit dem 18. Lebensjahr wurde der junge Mann auf Volksbeschluß in seine Phylenliste eingeschrieben. Die Namen standen ursprünglich auf * 155 Thukydides I 56 f * 156 Thukydides I 45 ff * 157 Xenophon, Hell. II 2 * 158 Thukydides I 122; 124; II 63; III 37 * 159 U. v. Wilamowitz, Reden und Vorträge, 1902, S.27 * 160 Thukydides III 10 * 161 Aristoteles, Ath. Pol. 21,2; Strabon VIII 7,1 * 162 Davies 1971 * 163 Plutarch, Thes. 25; Aristoteles, Ath. Pol. 3 * 164 Markellinos, Vita Thuc. 3 * 165 Aristophanes, Ritter 124ff * 166 Ehrenberg 1965, S.38 * 167 Herodot V 97; Thukydides II 13,6ff; Diodor XII 40,4 * 168 Plutarch, Phok. 28; Athenaios 272 C

7. Gesellschaft

207

geweißten Brettern, später auf Bronzetafeln neben den zehn Phylenheroen auf der Agora. Sie waren nach Jahrgängen geordnet, jeden Jahrgang bezeichnete sein Eponymos. Im 4. Jh. umfaßte ein Jahrgang etwa 500 Mann 169 . Jeweils hingen die Bürger vom 18. bis zum 60. Lebensjahr aus, diese 42 Jahrgänge wurden der Auslosung der Beamten und der Aushebung der Wehrpflichtigen zugrundegelegt 170 . 7d. Bürger wurde, wer von einem attischen Vater abstammte. So war die Mutter des Themistokles eine Thrakerin 171 . Seit 451 aber galt das von Perikles vorgeschlagene Gesetz, daß beide Großväter Bürger sein müßten. Die Stadt litt an Überfüllung 172 . Nach diesem Gesetz wären Kleisthenes, Themistokles und Kimon keine attischen Bürger gewesen. Perikles wurde selbst Opfer dieses Gesetzes, weil sein ihm später geborener Sohn von der Hetäre Aspasia aus Milet kein Bürger war und das Bürgerrecht erst durch Volksbeschluß erhalten mußte 173 . Versuche, das Bürgerrecht zu erschleichen, wurden mit dem Verkauf in die Sklaverei geahndet 174 . 7e. Im späteren 4. Jh. wurde unter spartanischem Einfluß die Verleihung des Bürgerrechts - und damit die Entlassung aus der Gehorsamspflicht gegenüber dem Vater 175 abhängig gemacht von der Teilnahme an einer zweijährigen Ephebie, einem Mittelding zwischen Wehrdienst und Staatserziehung. Während dessen lebten und aßen die 16-176 oder 18jährigen 177 Epheben gemeinsam auf Staatskosten, trieben Sport, versahen - angetan mit schwarzem Mantel (chlamys™) und breitkrempigem Hut (petasos179) - Wach- und Polizeidienste, waren der ordentlichen Gerichtsbarkeit entzogen und zahlten keine Steuern. Sie entstammten - jedenfalls nach 338 v. Chr. - auch der Thetenklasse 180 . Der Eid auf Staat und Verfassung, den alle Bürger 181 als Epheben schworen, lautete folgendermaßen: „Den heiligen Waffen werde ich keine Schande machen. Meinen Nebenmann in der Schlachtreihe werde ich nicht im Stich lassen. Allein und mit allen werde ich für die heimischen Heiligtümer kämpfen. Das Vaterland werde ich meinen Nachkommen nicht kleiner, sondern größer und besser, als ich es übernommen habe, hinterlassen. Meinen jeweiligen Vorgesetzten werde ich bereitwillig gehorchen, ebenso den Gesetzen, die das Volk erlassen hat oder noch erlassen wird. Wenn aber jemand die Gesetze aufheben oder ihnen nicht folgen will, so werde ich das nicht zulassen, allein und mit allen werde ich dagegen kämpfen. Die väterlichen Heiligtümer werde ich achten, die Götter seien meine Zeugen" 182 . 7 / Zu allen Zeiten gab es unter den freien Athenern eine beträchtliche Ungleichheit im Besitz. Die Extreme wurden jedoch korrigiert: die Reichsten wurden auf eine einfallsreiche Weise besteuert 183 , und die Ärmsten erhielten eine staatliche Fürsorge. Bei Aristoteles 184 heißt es: „Auch die Kontrolle über die Gebrechlichen liegt beim Rat: ein Gesetz verordnet nämlich, daß, wer weniger als drei Minen Vermögen hat und körperlich untauglich ist, ein Gewerbe zu treiben, nach einer Untersuchung durch den Rat von Staatswegen eine Pension von zwei Obolen täglich beziehen soll: für diese Ausgaben hat der Rat einen durch Los bestimmten besonderen Schatzmeister." * 169 Jones 1957/87, S. 82 * 170 Aristoteles, Ath. Pol. 53 * 171 Aelian, Var. hist. XII 43 * 172 Aristoteles, Ath. Pol. 26; 42; Plutarch, Per. 37; Aristophanes, Vögel 1649ff * 173 Aelian, Var. hist. VI 10; Plutarch, Per. 37; Lysias XIII 70 * 174 Aristoteles, Ath. Pol. 42; Plutarch, Per. 37: 5000 falsche Bürger in die Sklaverei verkauft. * 175 Dionysios von Halikarnassos, Ant. II 26,2 * 176 Censorinus XIV 8 * 177 Pollux VIII 105 * 178 Philostrat, Vit. Soph. II 1,5 = 550 * 179 Pollux VIII 164 * 180 Aristoteles, Ath. Pol. 42 * 181 Lykurg, or. in Leoer. 76 * 182 Stobaios 43,48 * 183 s.u. 13 e! * 184 Aristoteles, Ath. Pol. 49; Lysias X X I V

208

VII. Die attische Demokratie

7g. Trotz der bei Piaton 185 und Aristoteles 186 bezeugten Verachtung der Handarbeit 187 fehlt es nicht an Gegenstimmen. Götter schützten das Handwerk: Athena Ergane das Textilgewerbe, Hephaistos die Schmiedekunst, Dionysos und Demeter die Landarbeit. Odysseus, König von Ithaka, hatte Haus und Bett mit eigener Hand gebaut 188 ; er verstand es, Feuerholz zu spalten 189 und zimmerte sich ein hochseetüchtiges Floß ganz allein190. Sokrates war Steinmetz, er konversierte besonders gern mit Handwerkern 191 und vertrat die Ansicht, nur wer seine Hauswirtschaft (oikonomia) gut versorge, sei auch als Staatsmann verläßlich. Private und öffentliche Wohlfahrt werden nur durch ihre Größe unterschieden, sie bilden keinen Gegensatz 192 . Der Dienst für einen Privatmann sei ebensowenig schimpflich wie der Dienst am Gemeinwesen 193 . Es sei vernünftiger, Brot zu backen und Röcke zu nähen und überhaupt sich um das Nützliche zu kümmern als sein Leben mit Essen, Schlafen und Schlendrian zu verplempern 194 . Im 4. Jh. kamen tüchtige Staatsmänner aus der Unterschicht 195 . 7h. Demgemäß trieben die meisten freien Athener irgendein Gewerbe 196 . Müßiggang in Sparta der Stolz des freien Mannes - war in Athen strafbar 197 . Die Bedeutung des Handwerks ist bis in klassische Zeit gestiegen. Zu den wichtigsten Ausfuhrgütern gehörte die rotfigurige Keramik, die um 530 entstand und erst im Hellenismus durch Bronze und Silbergefäße verdrängt wurde. Nichts ist so zerbrechlich wie eine Vase, nichts so haltbar wie eine Scherbe. Demgemäß sind wir über die Tonwaren besser informiert als über Leder, Textil- und Metallprodukte. Attische Vasen 198 wurden in alle Teile der alten Welt verhandelt, die Etrusker schätzten sie als Grabbeigaben. Zentrum der Keramikproduktion war der Kerameikos, das Töpferviertel am Nordwestrand Athens. Hier lagen die zumeist kleineren Werkstätten. 7i. In der Landwirtschaft wurden neben anderen Artikeln 199 zunehmend Wein und Öl angebaut, bis in die Spätantike berühmt war der attische Honig 200 . Die guten attischen Feigen durften nicht exportiert werden; wer es dennoch versuchte, wurde von den Sykophanten, den „Feigenzeigern" denunziert 201 . Sie entsprechen den preußischen „Kaffee-Riechern", die allerdings ein Importverbot kontrollierten. Der Weizen mußte eingeführt werden, die Hälfte kam aus dem Krimgebiet 202 . Die Stadtherren von Pantikapaion (Kertsch) lieferten zu Vorzugsbedingungen und erhielten städtische Ehren dafür 203 . Der Verkauf unterlag städtischer Aufsicht 204 . 7j. Die Frauen nahmen teil am kultischen Leben mit den Festen und Theaterspielen, begegnen auch in selbständigen Berufen, besaßen aber keine politischen Rechte. Das aufwendige Auftreten der reichen Damen wurde durch Solon eingeschränkt, insbesondere der Kleiderluxus 205 . Noch Aristophanes geißelte ihn 206 . Die Sittenzucht über die Frauen unterstand in Athen einem staatlichen gynaikonomos, der auch Hochzeiten und Gelage

* 185 Piaton, Staat 590 c * 186 Aristoteles, Pol. 1278 * 187 ebenso: Herodot II 167; Plutarch, Perikles 2,1 * 188 Homer, Odyssee XXIII 173 ff * 189 Homer, Odyssee XV 321 ff * 190 Homer, Odyssee V 163 ff * 191 Piaton, Apol. 22 cd * 192 Xenophon, Mem. III 4,11 f * 193 Xenophon, Mem. II 8,3ff * 194 Xenophon, Mem. II 7,7f * 195 Phokion, Demetrios von Phaleron, Hyperbolos, Kleophon, Demades: Aelian, Var. hist. XII 43 * 196 Heichelheim 1938, S.369ff * 197 Plutarch, Mor. 221 C; Plutarch, Sol. 17 * 198 s.o. 2 d ! * 199 Athenaios 372 BC * 200 Hercher 1873, S. 722 * 201 Aristoteles, Ath. Pol. 35; Athenaios 74 E * 202 Demosthenes XVIII 73; 87; 241; XX 29 f; Strabon VII 4,6; Diodor XV 34,3 * 203 Demosthenes XX 29 ff * 204 Lysias XXII * 205 Plutarch, Sol. 21 * 206 Aelian, Var. hist. I 18

7. Gesellschaft

209

überwachte 207 . „Euer Ruhm," sagt Perikles den Frauen, „ist um so größer, je weniger ihr ins Gerede kommt, je weniger ihr hinter den Geboten der Natur zurückbleibt" 208 , anders als die Frauen in Sparta. Emanzipiert waren lediglich die Hetären, unter ihnen Aspasia, die Geliebte des Perikles, und Phryne, das Aphrodite-Modell des Praxiteles und des Malers Apelles209. Hetären gab es in Athen seit Solon 210 , der angeblich das erste staatliche Freudenhaus (demotikon pragma) einrichtete 211 . Während in der Frühzeit die Hetären von Korinth 212 und Naukratis 213 nach Zahl und Schönheit an erster Stelle standen, wurden sie später von den Athenerinnen überflügelt 214 . Es gab eine umfangreiche Literatur über sie215, vierzig Komödien waren nach ihnen betitelt, manche erwarben ungeheures Vermögen. Göttliche Ehren haben die Athener einzelnen Hetären allerdings erst im Hellenismus verliehen 216 . 7k. Die Frauenemanzipation wurde auf dem Theater behandelt. Aristophanes hat in zwei Komödien, in der »Lysistrata« und den »Ekklesiazusen«, den Gedanken durchgespielt, was geschähe, wenn die Weiber an die Macht kämen. Im ersten Falle zwingen sie die Männer durch Liebesentzug zum Frieden, im zweiten wird von Praxagora der Kommunismus ausgerufen, der aber im Kampf der Frauen um die schönsten Männer ein klägliches Ende findet. 71. Die Ehe wurde als Basis der Familie und des Nachwuchses betrachtet, eine Zustimmung der Braut zur Ehe war - anders als in Rom - nicht erforderlich, sofern Ansprüche auf ihr Erbgut erhoben werden konnten. Dafür verlieh Solon einer Erbtochter dreimal im Monat das Recht auf die ehelichen Pflichten ihres Mannes. Anderenfalls mußte sich dieser von einem Verwandten vertreten lassen217. Während des Männermangels im Peloponnesischen Krieg war die Doppelehe statthaft 218 . Nebenfrauen standen im Rechtsverhältnis des Konkubinats 219 . 7m. Für die Kinder sorgte ein Gesetz, das die Eltern verpflichtete, sie bis zum Heiratsalter zu ernähren 220 . Väter mußten ihren Söhnen ein Handwerk beibringen, wenn sie deren Unterstützung im Alter erwarteten 221 . Kriegswaisen erhielten Staatsgeld 222 . Kinder aus unehelichen Verbindungen hatten nur beschränktes Erbrecht gegenüber der väterlichen Hinterlassenschaft 223 . Der staatliche Kinderbeauftragte hieß paidonomos224. 7n. Daß die Athener schon unter Kleisthenes üblicherweise lesen und schreiben konnten, lehrt die Einführung des Ostrakismos 225 . Von Schulen hören wir erst später 226 . Der Schulbesuch gliederte sich in drei Stufen: den Elementar-Unterricht im Lesen, Schreiben, Rechnen und Turnen, den Grammatik-Unterricht im Gymnasium, wo man die Klassiker studierte, aber auch Musik, Geometrie und Astronomie betrieb, und den Rhetorik-Unterricht bei Sophisten und Philosophen, wo es vornehmlich um die praktische Redekunst ging. Die berühmteste Philosophenschule war Piatons Akademie 227 . Die Lehrer erhielten Schulgeld von den Eltern, der Staat übte ein Aufsichtsrecht aus. Es gab * 207 Athenaios 245; Aristoteles, Pol. IV 12,3; Plutarch, Sol. 21; Pollux Vili 112 * 208 Thukydides II 45 * 209 Athenaios 590 FG * 210 Plutarch, Sol. 23 f * 211 Athenaios 569 D * 212 Athenaios 527 E * 213 Herodot II 135 * 214 Athenaios 583 E * 215 Athenaios 567 A * 216 Athenaios 253 A * 217 Plutarch, Sol. 20 * 218 Athenaios 556 A; Diogenes Laértios II 26 zu Sokrates * 219 Lysias I 31 * 220 Hercher 1873, S.614 * 221 s.o. 4 b! * 222 Thukydides II 46,1; Aristoteles, Pol. 1268 a; Platon, Menex. 248 e; Diogenes Laértios I 55 * 223 Aristophanes, Vógel 1655f * 224 Aristoteles, Pol. IV 12,3 * 225 s.u. 8 ;7; trotz Plutarch, Arist. 7 * 226 Aischines, or. I 9; Demosthenes XVIII 129; aber Plutarch, Them. 10 zu Troizen * 227 Diogenes Laértios III 7

210

VII. Die attische Demokratie

Schülerschutzgesetze gegen zudringliche Liebhaber 228 . Denn im Gymnasium turnte man wie der Name (gymnos) sagt - nackt. 7o. Als Handelsstadt besaß Athen seit Solon eine große Kolonie von ansässigen Fremden. Perikles rühmte 229 , daß es in Athen, anders als in Sparta, keine Fremdenausweisungen gebe. Isokrates nannte Athen die fremdenfreundlichste Stadt 230 , und dieser Ruhm hielt sich bis in römische Zeit231, obschon die Metöken im Kult gewissen symbolischen Demütigungen unterworfen waren 232 . Xenophon 233 nennt Lyder, Phryger, Syrer und weitere Barbaren. Diese Metöken waren in besonderen Demenlisten eingeschrieben. Vor Gericht mußten sie sich durch ihren Bürgen (prostates) vertreten lassen, sie konnten keine Ehen mit Bürgerinnen eingehen und keinen Grund erwerben, zahlten 12 Drachmen Kopfsteuer (metoikion™) und Liturgien. Perikles wollte sie von Steuern befreien, um das Gewerbe zu fördern 235 . Sie dienten als Hopliten 236 und als Ruderer, am Staatskult nahmen sie teil. Die Bürgerrechte wurden ihnen gestuft verliehen. Die volle Aufnahme war an 6000 Stimmen in geheimer Abstimmung der Ekklesie gebunden und verlangte erhebliche Vorleistungen, gewöhnlich in Form öffentlicher Stiftungen 237 . Einzelne Exmetöken wurden sogar Strategen 238 . In der Spätzeit unter Alexander konnte auch ein Ball-Jongleur den Athenern so imponieren, daß sie ihn zum Mitbürger machten 239 . Der Durchschnittsanteil der Metöken betrug im 5. Jh. ca. 10%, im 4. Jh. bis 20% der Gesamtbevölkerung. Athenaios 240 nennt 10.000 Metöken neben 21.000 Bürgern in der Zeit um 300 v. Chr. 7p. Die Sklaven in Athen, wie in Griechenland überhaupt, waren überwiegend Fremde, zumeist Barbaren aus dem Schwarzmeergebiet oder Kleinasien 241 . In Athen war es verboten, kriegsgefangene Griechen als Sklaven zu kaufen 242 . Der wirtschaftliche Aufschwung während der Tyrannenzeit führte zu einem Anwachsen der Sklavenzahlen, sie pendeln im 5. Jh. um 25% der Gesamtbevölkerung, um 30% im 4. Jh. 243 . Die absoluten Sklavenzahlen wachsen bis etwa 360, aber dies entspricht dem Bevölkerungswachstum insgesamt. 7q. Die Sklaven erscheinen als Hausdiener, Pädagogen und Musikanten, arbeiteten auf dem Lande und in handwerklichen Privatbetrieben überwiegend mittlerer Größe von 20 bis 50 Arbeitern. Vielfach betrieben sie ein Gewerbe auf eigene Rechnung und zahlten dem Herrn eine Rente (apophora14A). Einen Einblick in Zahlen und Preise, in Herkunft und Berufe von Sklaven gewähren die Inschriften mit dem Versteigerungsgut der Hermokopidenfrevler von 4 1 5245. Der größte bekannte Sklavenhalter Athens war Nikias, er beschäftigte um 430 v. Chr. tausend Sklaven in Laurion, wo er staatliche Silbergruben gepachtet hatte 246 . Dort arbeiteten auch Staatssklaven (demosioi), sie waren gebrandmarkt wie unsere Rassepferde 247 . Tempelsklaven und Staatssklaven begegnen in niederen administrativen Funktionen als Aufseher der Normgewichte, der Pachtlisten und der Urkunden im Metroon. Zu den Kuriositäten der athenischen Demokratie gehört, daß die Polizei seit etwa 450 aus Sklaven bestand, aus 300 skythischen Bogenschützen 248 . Sie waren zunächst auf der * 228 Aischines I 9ff * 229 Thukydides II 39,1 * 230 Aelian, Var. hist. XII 52 * 231 Strabon X 3,18 * 232 Aelian, Var. hist. VI 1 * 233 Xenophon, Vect. 2,3 * 234 Plutarch, Mor. 842 B * 235 Diodor XI 43,3 * 236 Thukydides II 31 * 237 Plutarch, Mor. 835 F * 238 Aelian, Var. hist. XIV 5 * 239 Athenaios 19 A * 240 Athenaios 272 C * 241 Athenaios 265 C * 242 Plutarch, Mor. 842 A * 243 Ehrenberg 1965, S. 38 * 244 Aischines I 97 * 245 Thukydides VI 27; Meiggs Nr. 79, S. 247 * 246 Xenophon, Vect. 4,14; Plutarch, Nik. 4 * 247 Xenophon, Vect. 4,21 * 248 Andokides III 5; Pollux VIII 104; 131 f

7. Gesellschaft

211

Agora, dann am Areopag stationiert. Später stieg ihre Zahl auf 1000. Im 4. Jh. wurden sie aus Kostengründen abgeschafft. An ihre Stelle traten Epheben 249 . 7r. Sklaven wurden strafrechtlich härter behandelt als Freie, Folter als Beweismittel und Prügel als Strafe waren statthaft 250 . Sie konnten indes das Asylrecht der Tempel in Anspruch nehmen, wenn ihre Herren sie bedrohten. Im Peloponnesischen Krieg sind 20.000 Sklaven, vorwiegend aus den Silberminen von Laurion, zu den Spartanern übergelaufen 251 , während später die Sklaven von Chios massenweise zu den Athenern flüchteten 252 . Sonst erfahren wir in klassischer Zeit nichts von Unruhen. Insgesamt waren die Lebensumstände der Sklaven weniger hart als während der hellenistischen oder der frührömischen Zeit. Sie beteiligten sich an allen Sportarten außer dem Voltigieren 253 , durften sich in Vereinen organisieren und hatten Zugang zum Theater und zu den Mysterien, nicht indessen zum Staatskult. Mißhandlung von Sklaven war strafbar, weil man Unruhen befürchtete 254 . Die mit Sparta sympathisierenden Oligarchen haben sich daran gestoßen, daß in Athen die Sklaven dieselbe Kleidung trügen wie die Freien, daß sie allzu selbstbewußt aufträten und daß man einen solchen Burschen dann nicht ohne weiteres verprügeln dürfe. Pseudo-Xenophon 255 führte das darauf zurück, daß die Athener Sklaven zu gut lebten, insbesondere vom Seehandel profitierten. 7s. Freilassung von Sklaven stand im Belieben des Herrn. Häufig erfolgte der Freikauf durch angespartes „Vermögen", das der Sklave in Sonderleistungen zusammengebracht hatte. Zu diesem Zwecke gab es außerdem den Scheinverkauf an einen Tempel oder das sog. Eranos-Darlehen, das von mehreren „Tischgenossen" zinslos zur Verfügung gestellt wurde. Freigelassene erhielten in Athen nur Fremdenrecht, nicht Bürgerrecht wie in Rom, dazu war ein Volksbeschluß erforderlich. Vor dem Seesieg bei den Arginusen 406 beschloß die Ekklesie, alle dienstfähigen Sklaven freizulassen und auf die Schiffe zu setzen256. Pausanias erwähnt eine Inschrift zu Ehren von Sklaven, die für Athen gefallen waren 257 . Eine begrenzte Freilassung erfolgte unter der Bedingung der paramone, der ehemalige Sklave blieb in solchen Fällen bei seinem Herrn. 7t. Einzelne Sklaven haben eine beachtliche Karriere gemacht. Perikles ließ seinen Besitz durch den Sklaven Evangelos verwalten 258 . Der mehrfach von Isokrates 259 und Demosthenes 260 erwähnte Sklave Pasion (gest. 370 v. Chr.) wurde freigelassen, erhielt den Status eines Metöken und wurde als Bankier einer der reichsten Männer Athens. Er hatte Geschäftsverbindungen mit ganz Griechenland und dem Pontosgebiet. Nachdem er Vollbürger geworden war, schenkte er den Athenern 1000 Bronzeschilde aus seiner Waffenfabrik, die er seinerseits dann einem eigenen Freigelassenen verpachtete. 7u. Die Sklaverei ist der dunkelste Fleck in der attischen Demokratie und in der antiken Gesellschaft überhaupt. Philhellenen und Humanisten sind oft allzu rasch darüber hinweggegangen 261 . Sklaverei wurde als Selbstverständlichkeit betrachtet und nicht einmal vom Christentum grundsätzlich in Frage gestellt262. Um so beachtlicher bleibt, daß gerade in Athen die ersten Stimmen der Kritik erhoben wurden. Der Tragiker Euripides schrieb um 440: „Denn was den Sklaven Schande bringt, ist einzig der Name. In allem anderen sind * 249 s.o. 7 e! * 250 Lysias IV 16f; VII 35; XIII 27 * 251 Thukydides VII 27 * 252 Thukydides VIII 40 * 253 apobainein, Demosthenes LXI 23 * 254 Athenaios 267 A * 255 Xenophon, Ath. Pol. lOf; Piaton, Staat 563 b * 256 Xenophon, Hell. I 6,24; Aristophanes, Frösche 693f * 257 Pausanias I 29,7 * 258 Plutarch, Per. 16 * 259 Isokrates XVII * 260 Demosthenes XXXVI * 261 Anders Herder, Ideen II, Buch 15, Kap. 2,2 * 262 NT. Paulus an Philemon; 1. Petrus 2,18fT

212

VII. Die attische Demokratie

die Sklaven nicht schlechter als Freie, wenn sie tüchtig sind"263. Noch weiter ging der Sophist Alkidamas im 4. Jh.: „Die Gottheit hat alle frei erschaffen, die Natur niemanden zum Sklaven gemacht"264. Der Kyniker Diogenes lehnte die Sklaverei ab, weil sie die Herren verdürbe. Tatsächlich sei der Freie von seinem Sklaven abhängig und insofern verhinderte die Sklaverei nicht nur die Freiheit der Sklaven, sondern auch die Freiheit der Freien265.

* 263 Euripides, Ion 854f Chrysostomos, or. X

*

264 C. Müller (ed.), Oratores Attici, II 1863, S . 3 1 6

* 265

Dion

213 Demokratie sondern:

heißt nicht: Allen Jedem

das

dasselbe,

Seine. Cassius

Dio

B. Verwaltung und Kultur 8. Institutionen 8a. Die in einem Fragment des Cassius Dio erhaltene Definition der Demokratie, daß sie nicht einfach allen das Gleiche gewähre, sondern jeden nach Gebühr bedenke1, übernimmt eine alte Wesensbestimmung der Gerechtigkeit: suum cuique2. Gewiß behaupten auch Verfechter einer oligarchischen oder monarchischen Herrschaft, nach diesem Prinzip Güter und Ehren zu verteilen. Die Ermittlung dessen, was und wieviel dem Einzelnen zukommt, ist aber an ein freies Spiel der Kräfte gebunden, wie es das differenzierte System von Institutionen einer Demokratie am ehesten gewährleistet. 8b. Der Grundgedanke der attischen Demokratie war die Einheit von Mensch und Bürger. Politik sollte die Sache aller sein, weder das Vorrecht des Königs oder des Adels, noch die Aufgabe von Behörden und Fachleuten allein. Wer sich absonderte und seine Privatgeschäfte betrieb, galt als idiötes; wer sich bloß der Handarbeit widmete, war ein banausos. Der Sophist Protagoras lehrte, daß die Menschen ursprünglich nur je ein Göttergeschenk erhalten hätten: die Webekunst von Athena, die Metallbearbeitung von Hephaistos usw. Hermes aber hätte den Menschen im Auftrag des Zeus das Rechtsbewußtsein vermittelt, an ihm hätten alle Teil. So sei der demokratische Staat entstanden. Wem es aber an Rechtsempfinden fehle, den solle man bekämpfen wie eine Krankheit 3 . Den hier angedeuteten Umschwung zur totalitären Demokratie hat Protagoras später selber zu spüren bekommen 4 . 8c. Die Verwaltung der attischen Demokratie läßt sich in drei Abteilungen gliedern: 1. die beratenden Behörden, bestehend aus dem Adelsrat (Areopag) und dem Volksrat (Bulé); 2. die beschließenden Körperschaften, nämlich Volksversammlung und Volksgericht; 3. die ausführenden Beamten von den Archonten und Strategen bis hinab zu den Marktaufsehern und Gefängniswärtern. Sie sind nun im einzelnen zu betrachten.

* 1 Dio VI 23,5 * 2 Piaton, Staat 427 E; 432 F; Cicero, De rep. III 24 * 3 Diogenes Laértios IX 50 * 4 s. u. 15 e!

214

VII. Die attische Demokratie 0®®©©©®®®©

ARCHONTES +1 OB4MM4TEUS"

NACH DEM AMTS JAHR SITZ IM AREIO PAQ

• 10 STRATEGEN-

P

5of ^ o V ^ O ^ Y ^ V ^ Y ^ I B VORSITZ WECHSELT NACH 1-{0JAHR


01ympikos Logosc Philostrat, Vitae soph. 493; Isokrates, or. IV 166; Aelian, Var. hist. XIII 11 * 82 Xenophon, An. I 8f; Diodor XIV 19ff; Eunap, Vitae soph., praef. 453 * 83 Xenophon, Ages. I 8; 36; Diodor XV 31,3; Plutarch, Ages. 15; Pausanias IV 17,5 * 84 Diodor XVI 91 * 85 Plutarch, Alex. 10; Diodor XVI 94; zum „Philippsgrab" s.o. 2c! * 86 Diodor XVI 1, 3-6; XIX 51,6 * 87 Plutarch, Alex. 7; Aelian, Var. hist. IV 19 * 88 Plutarch, Alex. 26; Plinius, Nat. hist. VII 30/109 * 89 Aelian, Var. hist. Ill 32 * 90 s.o. 3g! * 91 Justin XI 1,10 * 92 Arrian I 1,2; Diodor XVII 4,9; Tod Nr. 183

4. Alexanderzug

273

auch die Begegnung mit Diogenes stattgefunden haben 93 . Anschließend mußte Alexander an der Donau die keltischen Völker zur Ruhe bringen94. Unterdes erhoben sich die Thebaner gegen ihn, aber in Eilmärschen zog er vor die Stadt, eroberte sie 335 und verkaufte die dreißigtausend Überlebenden gemäß Bundesbeschluß in die Sklaverei. Sechstausend waren gefallen. Die Stadt wurde zerstört, nur das Haus des Dichters Pindar blieb stehen95. 4b. 334 überquerte Alexander mit seinem Heer den Hellespont96, besuchte das Grab Achills bei Troja 97 und besiegte in der Reiterschlacht am Granikos die persischen Satrapen98. Schon damals hat sich Alexander selbst im Kampf ohne Rücksicht auf seine Person eingesetzt, er ist später mehrfach verwundet worden99. Auf dem Wege nach Süden wurden die griechischen Städte befreit100, Widerstand leisteten Milet101 und Halikarnassos102, wo persische Garnisonen standen. Die Verteidigung der Küste gegen Alexander unterstand dem Rhodier Memnon; er befehligte die griechischen Söldner der Perser103. Über Karien zog Alexander nach Phrygien; in Gordion durchschlug er den gordischen Knoten, an dessen Lösung die Prophezeiung der Weltherrschaft geknüpft war104. Der Tod Memnons 3 3 3105 erleichterte die Operationen, die 333 bei Issos zur ersten großen Schlacht gegen Dareios III Kodomannos (336-330) führten. Alexanders persönliches Eingreifen trieb den Großkönig in die Flucht, Harem und Hofstaat fielen in die Hand der Makedonen106. Ein Friedensangebot des Achaimeniden lehnte Alexander ab. Das bei Arrian107 erhaltene Antwortschreiben Alexanders motiviert den Krieg als Rache für die persischen Angriffe seit 490 und die Einmischungen der Perser in die griechischen Angelegenheiten. Alexander verfolgte den Perser zunächst nicht, sondern suchte, da er seine Flotte aus finanziellen Gründen aufgelöst hatte, erst die Mittelmeerküste zu sichern, und zog daher nach Süden. Die Phönikerstädte ergaben sich, Widerstand leistete die Inselstadt Tyros, die 332 durch einen Dammbau genommen wurde108. 4c. In Ägypten, das schon 374 der athenische Feldherr Iphikrates in Besitz nehmen wollte109, wurde Alexander als Befreier empfangen. An der westlichen Nilmündung gründete er 331 die Stadt Alexandria110, darauf „ergriff ihn das Verlangen" wie Arrian111 schreibt, das Orakel des Zeus Ammon in der Oase - das Wort stammt aus dem Altägyptischen112 - Siwa zu besuchen, weil es als unfehlbar galt. Die Griechen haben den ägyptischen Ammon, dem der Widder heilig war, mit ihrem Gotte Zeus gleichgesetzt113, und in der Zeit unmittelbar vor Alexander114 erfreute sich dieses Heiligtum einer großen Beliebtheit bei den Griechen. Der abenteuerliche Ritt zur Oase gelang. Danach wandte sich Alexander wieder gegen Dareios III und besiegte ihn bei Gaugamela 331 m . Babylon öffnete Alexander die Tore, in Susa erbeutete er den großen Königsschatz116.

* 93 Plutarch, Alex. 14; Diogenes Laertios VII 38 * 94 Arrian I 1 * 95 Arrian I 9,10; Plutarch, Alex. 11 * 96 Zur Topographie: TAVO. BV 1, 1985 * 97 Arrian I 11,7; Plutarch, Alex. 15 * 98 Arrian 1 1 3 * 99 Arrian 1 1 5 * 100 Tod Nr. 184 zu Priene; Arrian I 17,10 zu Ephesos; Demosthenes XVII 7 zu Eresos auf Lesbos * 101 Arrian I 18f * 102 Arrian I 20ff * 103 Arrian I 20,3 * 104 Plutarch, Alex. 18; Arrian II 3 * 105 Arrian II 1 * 106 Arrian II 7fT * 107 Arrian II 14,4fT * 108 Plutarch, Alex. 24; Arrian II 15,6ff * 109 Diodor XV 42,2 * 110 Strabon XVII l,6fT * 111 Arrian III 3,1 * 112 Strabon II 5,33; XVII 1,5 * 113 Pindar, Pyth. IV 16; Pausanias IX 6,1 * 114 Piaton, Gesetze 738 C; Plutarch, Alex. 3 * 115 Arrian III 8fT; Strabon XVI 1,3; Tacitus, Ann. XII 13 * 116 Arrian III 16

274

IX. Das Alexander-Reich

4d. 330 n a h m Alexander Persepolis ein, ließ den Palast plündern und setzte ihn in Brand. Dies war die Rache für die Zerstörung der Akropolis 480 117 . Er verfolgte Dareios nach Ekbatana und Rhagai, doch wurde der Flüchtling von einem seiner Großen bei der Annäherung Alexanders umgebracht 1 1 8 . Alexander konnte die Mörder jedoch fassen und ließ sie hinrichten 119 . Während der schweren K ä m p f e in Baktrien heiratete Alexander 328 Roxane, eine persische Fürstentochter 1 2 0 . Der Indus wurde überschritten, Taxila eingenommen und in einer letzten großen Feldschlacht der König Poros mit seinen Kriegselefanten niedergeworfen 121 . Alexanders Absicht, den Ganges und das Weltende zu erreichen, scheiterte am Widerstand seiner Truppen. Am Hyphasis (Satledsch) mußte er umkehren 1 2 2 . Er fuhr unter mancherlei K ä m p f e n mit 1800 neugebauten Schiffen 123 den Indus herunter, teilte das Heer, und während die Flotte in den persischen Meerbusen weiterfuhr, durchzog Alexander selbst unter großen Verlusten die gedrosische Wüste 124 . 4e. Alexander stattete dem G r a b m a l des Kyros einen Ehrenbesuch ab 125 und ließ es instandsetzen. 324 war er wieder in Susa, wo die Massen-Hochzeit der 10.000 Makedonen mit ihren persischen Mädchen stattfand 1 2 6 . Die längst offenkundigen Sympathien Alexanders gegenüber den Persern führten zur Meuterei von Opis, die in ein großes Versöhnungsfest ausklang 127 . 323 zog Alexander in Babylon ein. Diese Stadt sollte seine Hauptstadt werden 128 . Er empfing Gesandtschaften aus aller Welt 129 , bereitete eine Entdeckungsfahrt ins Kaspische Meer und eine Umsegelung Arabiens vor 130 , starb jedoch mit 32 Jahren am 29. Daisios, d . h . am 10. Juni 131 , vermutlich an der Malaria 1 3 2 . 4 f . Alexander hatte sich ein G r a b im Ammonion gewünscht 133 , Perdikkas aber ließ ihn zunächst einbalsamiert dreißig Tage unbestattet liegen 134 . Er wollte ihn dann in einem kostbaren, in zweijähriger Arbeit verfertigten Leichenwagen 135 nach Aigai in Makedonien bringen 136 , doch Ptolemaios jagte ihn ihm unterwegs ab 137 und ließ ihn in Memphis 1 3 8 , Ptolemaios II in Alexandria beisetzen 139 . Ptolemaios IV errichtete das Sema genannte Mausoleum für Alexander und die Ptolemäer 140 . So wie am Anfang des Alexanderreiches der Zufall des Attentats auf Philipp stand, so am Ende der Zufall des frühen Todes Alexanders.

5. Königtum 5a. Die Struktur des Reiches spiegelt sich in Alexanders Herrschafts-Titeln. Zunächst war er König der Makedonen, legitimiert dadurch, daß er der älteste Sohn Philipps II war und die Anerkennung des Heeres gefunden hatte. Als König war Alexander oberster * 117 Arrian III 18; VI 30,1 * 118 Arrian III 21; Curtius VI 6,13 * 119 Arrian III 27,8 * 120 Arrian IV 19; Plutarch, Mor. 338 D * 121 Arrian V 15f * 122 Arrian V 25; Plutarch, Alex. 62 * 123 Arrian VIII 19,7 * 124 Arrian VI 23 ff * 125 Arrian VI 29,9; Strabon XV 3,7; zur Identität: Demandt, Arch. Anz. 1968, S.520ff * 126 Arrian VII 4 * 127 Arrian VII 8ff * 128 Strabon XV 3,9f * 129 Arrian VII 19; s.u. 7h! * 130 Strabon XVI 1,11; 4,27 * 131 Arrian VII 24ff; D. M. Lewis, Alexander's Death Day, Classical Review 83, 1969, S. 271 f. Traditionell ist der 13. Juni 323 * 132 Arrian VII 24f; Aelian, Var. hist. III 23; Die Legende einer Vergiftung durch Iolas entstand sofort: Plutarch, Mor. 849 F * 133 Justin XII 15,7; Curtius X 54 * 134 Aelian, Var. hist. XII 64 * 135 Diodor XVIII 26ff; Rekonstruktion: H. Bulle, Der Leichenwagen Alexanders des Großen, Jahrbuch DAI, 21, 1906 * 136 Pausanias I 6,3 * 137 Aelian, Var. hist. XII 64 * 138 Pausanias IX 6,1 * 139 Strabon XVII 1,8; s.u. X 4 i! * 140 Zenobios III 94 = Paroemiographi Graeci I S. 81; Johannes Chrysostomos, or. 26,12, in: PG. 61, S. 581

5. Königtum

275

Kriegsherr und höchster Richter der Makedonen 1 4 1 . Er trug die Königsbinde (diadema)142. Der makedonische Staat zeigte auch unter Alexander noch feudale Strukturen. Der Grundadel, insbesondere Obermakedoniens, war kriegsfolgepflichtig, hatte aber auf seinen Liegenschaften vermutlich die patrimoniale Gerichts- und Finanzhoheit. Mit dem Königtum hatte Alexander weitere Herrschaftstitel von seinem Vater geerbt. So den eines lebenslangen Feldherrn (tagos) des thessalischen Bundes 143 . Ein Abfallversuch Thessaliens war 336 von Alexander ausmanövriert worden, danach n a h m ein Großteil der thessalischen Reiterei am Zuge gegen Persien teil. Weiterhin besaß Alexander von Philipp her Sitz, Stimme und exekutive Gewalt in der delphischen Amphiktionie. 5b. Alexanders wichtigster Herrschaftstitel gegenüber den Griechen war der eines Hegemon über den korinthischen Bund. Ihm gehörten neben Athen und Theben die meisten festländischen Städte außer Sparta an 144 . Als Feldherr dieses Bundes führte Alexander die griechischen, nicht-makedonischen Truppen im Perserkrieg bis zur Einnahme Ekbatanas. Danach wurden diese Kontingente zurückgeschickt, ebenso die Thessalier 145 . 5c. Wie die Perserkönige vor ihm 146 und die römischen Kaiser nach ihm 147 wurde Alexander von den Ägyptern als Pharao angesehen; doch hat er sich im Unterschied zu jenen in Memphis nach ägyptischem Ritual inthronisieren lassen 148 . Der Zug zum Aramonion und die Errichtung ägyptischer Tempel in Alexandria und Luxor-Theben 1 4 9 zeigen, daß Alexander den Ägyptern auch innerlich entgegengekommen ist. In Babylon wurde Alexander als Stadtkönig betrachtet. 5d. Seit wann Alexander die Absicht hatte, selbst Nachfolger des Großkönigs zu werden, ist unklar. Philipp dürfte einen solchen Plan schwerlich verfolgt haben. F a ß b a r wird Alexanders Programm seit dem Sieg bei Issos. Er schrieb damals an Dareios, die Götter hätten durch die Schlachtentscheidung ihn zum Herrn von Asien gemacht; wenn Dareios künftig mit ihm verhandle, solle er ihn als basileus tes Asias anreden oder aber kämpfen 1 5 0 . Nach dem Sieg bei Gaugamela ließ sich Alexander zum König von Asien ausrufen 1 5 1 . Den Titel „König der Könige" hat er allerdings nicht geführt 152 . Persische Gesinnung zeigte Alexander in der Beisetzung des Dareios in Persepolis 153 , sowie in der Strafe an den Mördern des Dareios 154 , in der Sorge um das Kyrosgrab 1 5 5 und in der Wahl Babylons zur künftigen Hauptstadt des Reiches 156 . 5e. Der Anspruch auf die Nachfolge der Achaimenidenkönige kommt zum Ausdruck in der makedonisch-persischen Mischtracht, die Alexander übernahm 157. Er trug gewöhnlich einen Purpurmantel (chlamys), ein rotweißes Hemd (chitön) und die ebenfalls rotweiße Königsbinde (diadema) um den weißen makedonischen Hut (kausia) 158 , erregte aber den Unwillen der Makedonen, als er die persische Tiara 159 aufsetzte 160 . Hosen und Jacken mit Ärmeln wie die Barbaren trug er allerdings nicht 161 . Auch das prachtvolle Audienz-Zelt, das

* 141 Hampl 1934 * 142 Appian XI 56; 64 * 143 Diodor XVI 14,2; Justin VIII 2,1; XI 3,2 * 144 Arrian I 1,2 * 145 Arrian III 19,5 * 146 s.o. IV 3 e! * 147 s.u. XV 8 n! * 148 PseudoKallisthenes I 34; van Thiel 1974, S . 4 8 f ; Arrian III 5 * 149 K. Baedeker, Ägypten und der Sudan, 1928, S. 268; Lexikon der Ägyptologie I 1975, S. 132 * 150 Arrian II 14,7ff * 151 Plutarch, Alex. 34 * 152 Plutarch, Demetr. 25 * 153 Arrian III 22,1 * 154 Arrian IV 7,3 * 155 Arrian VI 29,4 fT * 156 Arrian VII 15ff; Strabon XV 3,9f * 157 Plutarch, Mor. 330 A; „medisch-persische" Mischtracht: Plutarch, Alex. 45 * 158 Arrian VII 22,2; Curtius VI 6,4; Athenaios 537 EF; Lukian, Navigium 30 * 159 oder kitaris, s.o. IV 4 b! * 160 Arrian IV 7,4; Plutarch, Alex. 45 * 161 Plutarch, Alex. 45; ders., Mor. 330 A

276

IX. Das Alexander-Reich

Alexander unterwegs benutzte162, war persischen Ursprungs. Die Briefe an Griechen siegelte er mit dem alten makedonischen Siegel, für die Schreiben an Perser verwendete er das des Großkönigs. 163 Wer den König ansprach, nahm den Helm ab164. Während Alexander im Umgang mit Makedonen und Griechen sich einfach gab165, entfaltete er bei Audienzen für Orientalen asiatischen Prunk 166 . 5f. Zu den Pflichten des Königs und zu den Mitteln seiner Herrschaft gehörte das Spenden. Alexander hat bei jeder Gelegenheit Geschenke verteilt und Feste gegeben167. Die Opfer waren mit großen Gelagen verbunden, die Spiele bestanden aus sportlichen und musischen Wettkämpfen 168 . Die Feiern kulminierten in der Massenhochzeit von Susa169. Bei der Meuterei von Opis hat Alexander den Kriegern vorgehalten, was er für sie getan hat170. Der Herrscher als Gastgeber ist uns schon bei Homer begegnet171, wir finden ihn wieder bei den Kelten172. Auch Augustus173 berichtet in seinem öffentlich ausgestellten Testament ausführlich über seine Wohltaten gegenüber dem römischen Volk. 5g. Über die letzten Ziele Alexanders sind wir im Unklaren. Ob er die Weltherrschaft angestrebt hat174, ist umstritten. Von keinem Politiker wissen wir, was er „wirklich gewollt" hat, und vermutlich ist die Frage falsch gestellt, denn sie beruht auf der zweifelhaften Voraussetzung, daß die Staatsmänner selber wissen, was sie wollen. In der Regel hängen die Pläne der Menschen von ihren Möglichkeiten ab, und diese hat Alexander nicht ausloten können. Offenkundig hat er in seiner Selbstauffassung eine Entwicklung durchgemacht vom makedonischen Volkskönig über den Schutzherrn aller Griechen zum König von Asien und gottgesandten Völkerversöhner175. Unter seinen nachgelassenen Papieren fanden sich Pläne zur Unterwerfung des westlichen Mittelmeerraumes176. Die Echtheit dieser >Hypomnemata< ist umstritten, doch an den Plänen zur Umsegelung Arabiens177 ist nicht zu zweifeln. Insofern hat er mit der Idee einer Pambasileia über die Oikumene zumindestens gespielt. 5h. Im engen Zusammenhang mit Alexanders Herrscherstellung steht seine Vergöttlichung178. Alexander hat nach seinem Sieg über Dareios von den Griechen göttliche Ehren gefordert und erhalten. Sogar die Spartaner haben ihm einen Kult eingerichtet179. In Athen wurde er auf Antrag des Demades180 als 13. Gott verehrt181, doch nur bis zu seinem Tode. Danach wurde der Antragsteller zu einer Geldstrafe verurteilt182. Alexanders Apotheose ist bei einem Teil der Griechen auf Widerstand gestoßen, und dies erweckt den Eindruck, als ob der Herrscherkult orientalischen Ursprungs sei. Das aber trügt. 5i. Die Perser hielten Götter und Menschen auseinander. Der Großkönig betrachtete den Himmelsherrn Ahura Mazda zwar als den, der ihm die Herrschaft verliehen hat und sie ihm bewahrte, aber erscheint nicht selbst als gottähnliche Person. Er war lediglich Herrscher von Gottes Gnaden 183 . Aus diesem Grunde läßt sich die Proskynese184 schwer mit der Vergöttlichung verknüpfen. 327 forderte Alexander in Baktrien auch von * 162 Aelian, Var. hist. IX 3; Athenaios 539 C-F * 163 Curtius VI 6,6 * 164 Curtius IX 3,4 * 165 Polyaen IV 3,24 * 166 Athenaios 539; Arrian IV 7,4 * 167 Das erste: Arrian I 11,1. Das letzte: Plutarch, Alex. 72 * 168 Arrian IV 8f; VI 28,3; VII 29,4 * 169 Arrian VII 4,4; s.u. 9g! * 170 Arrian VII 8 * 171 s.o. II 9h! * 172 s.u. XIV öe-g! * 173 Monumentum Ancyranum 15ff * 174 so Diodor XVII 50,2 * 175 Plutarch, Alex. 47 * 176 Diodor XVIII 4,2-5 * 177 Arrian VII 19,6 * 178 Taeger 1957, S. 171 ff * 179 Aelian, Var. hist. II 19 * 180 Aelian, Var. hist. V 12; dagegen sprach Pytheas: Plutarch, Mor. 804 B * 181 Diodor XVI 95; Plutarch, Mor. 842 D * 182 Athenaios 251 B * 183 s.o. IV 4 g! * 184 s.o. IV 4 c!

5. Königtum

277

den Griechen die ihm von den Persern erwiesene Begrüßung, die mit einer Verbeugung verbundene Kußhand 1 8 5 . Die Griechen lehnten das ab, und Alexander ließ die Forderung fallen. 5j. Die Ägypter glaubten ihren Pharao ebenfalls unter dem besonderen Schutz der Götter, aber darüber hinaus beanspruchte der Pharao auch selbst einen gottgleichen Rang gegenüber den Untertanen. In Ägypten wurde Alexander so wie die Achaimeniden zuvor als Gott betrachtet, als der Sohn des Sonnengottes Ammon-Re. Als solchen begrüßten ihn die Priester im Ammonium 186 . Möglicherweise hat das eine Wandlung in Alexanders Selbstauffassung gefördert 187 . Alexander ist im Kostüm des Zeus Ammon mit dessen Hörnern aufgetreten und hat sich so darstellen lassen 188 . Wenig später haben auch das Branchidenorakel von Didyma und die erythräische Sibylle Alexander als Sohn des Zeus angesprochen 189 . 5k. Bei den Griechen wurde der Abstand zwischen Gott und Mensch durch Halbgötter überbrückt. Der Heros war ein Zwischenwesen. Eheliche Verbindungen zwischen Göttern und Frauen, Göttinnen und Männern sind eine geläufige Vorstellung des Mythos. Der menschliche Gatte wird dabei gewöhnlich durch den Gott nur vertreten. Auch Herakles hatte außer Zeus noch einen sterblichen Vater, den Mann der Alkmene, Amphitryon. Die letzte Umformung dieses Gedankens ist die Zeugung Jesu durch den Heiligen Geist, neben dem Joseph ebenfalls wenigstens als Scheingatte standgehalten hat. 51. Zu Alexanders Zeiten war es allgemein anerkannt, daß die makedonischen Könige von Herakles abstammten 190 . Eine ähnliche Herkunft schrieben sich die benachbarten Molosserkönige 191 und andere vornehme Familien in Griechenland zu192. Philipp II ließ seinen Anspruch auf bestimmte Städte damit begründen, daß Herakles sie einmal besessen habe 193 . Isokrates 194 forderte Philipp auf, Herakles nachzueifern und den Perserkönig zu unterwerfen, danach bliebe ihm nur noch übrig, ein Gott zu werden 195 . Tatsächlich hat sich Philipp als 13. Gott darstellen lassen196. In Olympia errichtete er einen Rundtempel für sich und seinen Sohn 197 . Alexander erschien bisweilen im Kostüm des Herakles 198 und brachte damit das beim babylonischen Neujahrsfest übliche mythische Rollenspiel der Herrscher zu Ansehen, das unter den Diadochen 199 und Imperatoren 200 beliebt wurde 201 . Den Kopf des Herakles mit dem Löwenfell setzte Alexander auf seine Silbermünzen und forderte Einlaß nach Tyros, um seinem Ahnherrn Herakles (Melkart) zu opfern 202 . Der Sage nach war Herakles ein Sohn des Zeus, und daher konnte sich Alexander auch als Götterenkel ansehen. Alexander hat es nicht gefordert, aber geduldet, als Sohn des Zeus oder des Ammon 203 bezeichnet zu werden, hat indessen seinen Vater Philipp niemals verleugnet 204 . 5m. Göttliche Ehren für Sterbliche erwiesen die Griechen Stadtgründern und Freiheitshelden, sozusagen den Neugründern. In Athen waren das Harmodios und Aristogeiton 205 . Unter den Spartanern erhielten heroische Ehren Brasidas in Amphipolis 206 , göttliche Ehren * 185 Plutarch, Alex. 74 * 186 I.e., Alex. 27 * 187 I.e. * 188 Athenaios 537 E; Clemens Alexandrinus, ed. Stählin I S. 42,8; seit 297 v. Chr. zeigen Münzen des Lysimachos den gehörnten Alexander * 189 Strabon XVII 1,43 * 190 s.o. 3c! * 191 Pausanias I 11 * 192 Herodot V 65 * 193 Bickermann + Sykutris 1927 * 194 Isokrates, or. V 113 f * 195 Isokrates, ep. 3,5 * 196 Diodor XVI 92,5; 95,1 * 197 Pausanias V 20,9 f * 198 Athenaios 537 F * 199 Kleopatra als Isis: Plutarch, Ant. 54 * 200 Augustus als Apollon: Sueton, Aug. 70 * 201 älteres Beispiel: Dionysios I: Dio Chrysost. 37,21 * 202 Plutarch, Alex. 24; Arrian II 16,7 * 203 Athenaios 538 B * 204 Arrian VII 9 * 205 s.o. VI 9 c! * 206 Thukydides V 11,1

278

IX. Das Alexander-Reich

Lysander in Kleinasien 207 und Agesilaos in Thasos 208 . Die Selbstvergottung und der Anspruch auf Gottessohnschaft findet sich unter den kleinasiatischen Tyrannen des 4. Jhs. bei Klearch von Heraklea 2 0 9 und bei Nikagoras von Zelea 210 . Aus diesem R a u m kommen später die ersten Angebote, Augustus als Gott zu ehren 2 " - offenbar fassen wir hier eine regionale Theologie. Alexanders Vergöttlichung ist von manchen Zeitgenossen bespöttelt worden 212 . Sie lieferte aber nicht nur einen Baustein für die hellenistische und die römische Herrscherauffassung, sondern ist auch selbst lange volkstümlich geblieben 213 . Kulte für Alexander finden sich bis in die Spätantike in Spanien 214 , an der Nordküste des Schwarzen Meeres 215 und in der Kyrenaika 2 1 6 - in Gegenden, die Alexander nie besucht hat.

6. Heer 6a. Die Machtgrundlage Alexanders war sein Heer. Als er im F r ü h j a h r 334 die Dardanellen überquerte, führte er 30000 M a n n zu F u ß und 5000 zu Pferd mit sich 217 , etwa 9000 Fußsoldaten und wenige Reiter blieben unter dem Befehl des Antipatros in Makedonien zurück. Von Alexanders 30000 Fußsoldaten waren nur 12000 Makedonier, allerdings sämtlich schwerbewaffnet. 6b. Die makedonischen Fußkämpfer teilten sich in das Volksaufgebot, das nach Landschaften gegliedert war, und das persönliche Gefolge des Königs {pezhetairoi), bestehend aus Grundbesitzern, die Philipp auf dem neuerworbenen Land angesiedelt hatte. Das Volksaufgebot, die Phalanx, betrug 9000 M a n n ; die Königstruppen, die Hypaspisten (Schildträger), umfaßten 3000. Unter ihnen bildete das agema Alexanders Leibwache. 6c. Ebenso stark wie die Makedonen war zunächst die Anzahl der Griechen im Fußvolk. Die Kontingente des korinthischen Bundes waren teils schwer, teils leicht bewaffnet (Hopliten und Peltasten), auch Söldner waren darunter. Die Griechen waren stets als Söldner geschätzt. K o d o m a n n o s führte 50000 griechische Söldner gegen Alexander ins Feld 218 , die sich als dessen gefährlichste Gegner erwiesen. W o Alexander ihrer habhaft wurde, hat er sie entweder zusammenhauen lassen, in die Bergwerke gesteckt oder ins eigene Heer übernommen. Neben den 12000 Makedonen und 12000 Griechen bleiben d a n n 6000 weitere Fußsoldaten verschiedener Herkunft: kretische Bogenschützen, Agrianer mit Wurfspießen, Thraker und andere 219 . Als Kern der Schlachtarmee dienten natürlich stets die Makedonen, die griechischen Bundestruppen wurden vorwiegend zur Sicherung des Nachschubs und für Besatzungen benutzt. Die Festungs-Garnisonen unterstanden später nicht den Satrapen oder Strategen, sondern dem König direkt. 6d. Unter den Reitern waren die „Hetären", die Gefährten des Königs, die wichtigsten. Sie waren ebenfalls nach Landschaften gegliedert und umfaßten 2000 Mann. Neben den Hetärenreitern waren die gleichfalls 2000 M a n n starken Thessalier 220 das wichtigste Kontingent der Reiterei. Thessalien war ja seit homerischer Zeit 221 ein Zentrum der * * * * I

207 210 213 216 18,3;

Plutarch, Lys. 18 * 208 Plutarch, Mor. 210 D * 209 Justin XVI 5,8 ff; Taeger 1957, S. 164 Athenaios 289 BC; Taeger 1957, S. 165 * 211 D i o LI 20,6f. * 212 Aelian, Var. hist. IX 37 Lukian, Dial. mort. 13,2 * 214 Dio XXXVII 52,2 * 215 Ammianus Marcellinus XXII 8,40 Prokop, De aed. VI 2,15f * 217 Arrian I 11,3 * 218 Arrian I 12; 16; II 7,6; 8,6 * 219 Arrian II 7,5 * 220 Arrian I 14,3; II 8,9 * 221 Homer, Ilias IV 202

7. Reichsverwaltung

279

griechischen Pferdezucht. Streitwagen hat Alexander nie eingesetzt, offenbar haben diejenigen des Großkönigs 222 mehr psychologisch als militärisch gewirkt. Ähnliches gilt für die 200 Kriegselefanten, mit denen Alexander nur in Indien kämpfte 223 . Im allgemeinen führte Alexander die Reiterei selbst, und zwar auf dem rechten Flügel, und eröffnete den Kampf. Damit übernahm er das Normalschema der griechischen Taktik. 6e. Die Heeresversammlung 224 hatte in der makedonischen Monarchie gewisse politische Rechte 225 , Alexander respektierte diese. Im Hochverrats-Prozeß gegen Philotas fungierte das Heer als Gericht 226 . Nach Alexanders Tod trat es zur Nachfolgeregelung zusammen 227 . 6f. Die Heeresführung bestand überwiegend aus makedonischen Adligen. Sie hatten großenteils schon unter Philipp gedient, waren vielfach mit Alexander befreundet und dienten als Kriegsrat 228 . Wichtigster Mann Alexanders war Parmenion, ein weitblickender und erfahrener General Philipps 229 . Aus dieser Gruppe von Männern wählte Alexander seine Satrapen aus, und sie stellten später nach Alexanders Tod die Mehrzahl der Diadochen. Weniger wichtig waren die Griechen im Stab Alexanders, sie hatten jedoch große Bedeutung in den technischen Abteilungen: als Ingenieure, Architekten, Pioniere usw. Sie konstruierten Brücken und Belagerungsmaschinen, bauten Stollen und Erdwerke und waren für den Städtebau unentbehrlich. Die technische Leistungsfähigkeit von Alexanders Armee zeigte sich, als Alexander am Indus eine Flotte von fast 2000 Schiffen bauen ließ230. Und diese Schiffe waren hochseefähig, wie die Expedition des Nearchos von der Indusmündung in den persischen Golf beweist. 6g. So wie nach ihm Napoleon, der „neue Alexander" 231 , führte der „alte" Alexander einen wissenschaftlichen Stab mit: Landvermesser (Bematisten, d.h. Schrittzähler 232 ), Geographen, Botaniker, Historiker 233 , Zoologen und Philosophen (Anaxarchos 234 , Onesikritos 235 , Pyrrhon 236 ). Strabon 237 rühmte Alexanders Leistungen als Entdecker. Als Kriegsberichterstatter fungierte Kallisthenes, ein Neffe des Aristoteles 238 . Das Kriegstagebuch (die Ephemeriden) führte Eumenes von Kardia 239 . Die Bedeutung des Alexanderzuges für die Kenntnis des Orients im Westen ist kaum zu überschätzen, sein Namensvetter Alexander von Humboldt 240 verglich ihn mit der Entdeckung Amerikas.

7. Reichsverwaltung 7a. Alexanders Reichsverwaltung hat nur allmählich Gestalt angenommen. Ihm fehlte die Zeit. So finden wir in Alexanders Umgebung zwar die auch bei den Diadochen 241 oft genannten „Freunde" 242 , die meisten der Nachfolger stammen aus diesem Kreise, aber es gab noch keine eigentlichen Hofminister. - Von besonderer Dringlichkeit war die * 222 Arrian III 11,6 * 223 Arrian VI 2,2; VIII 19,1 * 224 Granier 1931 * 225 Curtius VI 8,25 * 226 Arrian III 26 * 227 Diodor XVIII 4,3 * 228 Diodor XVII 53,3 * 229 Plutarch, Mor. 177 C * 230 Arrian VI 1 f * 231 Goethe am 29. August 1827 zu G. Parthey * 232 Philonides: Pausanias VI 16,5; Berve 1926 I, S . 5 1 f ; Pfohl Nr.57; T o d N r . 188; Baiton: Athenaios 442 B * 233 Anaximenes von Lampsakos: Diogenes Laertios V 10; Gnomologium Vaticanum 78; Kallisthenes: Diogenes Laertios V 10; Arrian IV lOff * 234 Diodor XVII 112 * 235 Plutarch, Alex. 65 * 236 Diogenes Laertios IX 61 * 237 Strabon II 1,6 * 238 Plutarch, Alex. 55 * 239 Plutarch, Eum. 1 * 240 A. v. Humboldt, Kosmos, II 1847, S.186 * 241 s.u. X 4f< * 242 philoi: Diodor XVII 104,1

280

IX. Das Alexander-Reich

Finanzverwaltung. Als Alexander den Perserzug eröffnete, hatte er 60 Talente bar und 1300 Talente Schulden243, der Heeressold kostete monatlich 200 Talente (1 Talent = 26,2 kg Silber). Der gemeine Mann erhielt eine Drachme am Tag244. Alexander mußte, als er aufbrach, Krongüter verkaufen, um seine Soldaten bezahlen zu können245. Alexander wußte wie Machiavelli246: Geld genügt nicht, um gute Soldaten zu finden, gute Soldaten aber verstehen es, Geld zu finden. 7b. Die Lage blieb auch nach dem Sieg am Granikos gespannt, denn die befreiten Griechenstädte zahlten zwar, aber doch nur in bescheidenem Umfang. Die Flotte kostete jeden Monat 100 Talente und wurde aufgelöst247. Erst nach dem Sieg bei Issos und der Eroberung des Perserlagers war Alexander aus den Geldnöten heraus. Als er dann noch die Hauptstädte mit den Schatzkammern in Besitz genommen hatte248, bekamen die Münzmeister Arbeit. Die Beute wird auf 120000 Talente beziffert249. Alexander hat das Geld mit vollen Händen ausgeteilt und zuweilen auch in die Luft gejagt: der Scheiterhaufen für seinen Freund Hephaistion (gest. 324) soll 12000 Talente gekostet haben250. 7c. Alexander ernannte Finanzinspektoren, die Einnahmen und Ausgaben beaufsichtigten, Domänen verwalteten und Königsland nach griechischem Recht verpachteten. Die alten Tarife wurden beibehalten. Die Inspektoren waren nicht den Satrapen, sondern einem zentralen Schatzmeister251, Harpalos, unterstellt252. Während Alexanders Abwesenheit herrschte im Finanzwesen üble Mißwirtschaft. Der ägyptische Inspektor Kleomenes monopolisierte die Getreideausfuhr und bereicherte sich um 8000 Talente253, Harpalos selbst floh bei Alexanders Rückkehr mit 6000 Söldnern und 5000 Talenten nach Athen, wo Demosthenes sich bestechen ließ, seine Aufnahme aber nicht erreichte254. Alexander hat den Schuldigen den Prozeß gemacht255, der Makedone Kleander wurde hingerichtet256. Der Nachfolger des Harpalos, Antimenes, führte die erste staatliche Versicherung gegen Sklavenflucht ein257. Alexanders Gesamteinnahmen betrugen 15000 Talente jährlich. Privatvermögen des Königs und Staatsschatz waren nicht getrennt258. 7d. Folgenreich war Alexanders Münzpolitik. Die Ausmünzung großer Teile des persischen Staatsschatzes brachte den Handel in Schwung. Das Prägerecht hatten nicht mehr wie unter den Achaimeniden die Satrapen, sondern die Städte. Von 336 bis 325 schlugen 26 Städte etwa 5000 Typen für Alexander259. In Konkurrenz zu den älteren Münzfüßen wurde die attische Silberdrachme samt deren Vielfachen eingeführt, allmählich vereinheitlichte sich das System. Standard-Münze war die Tetradrachme, auf der Vorderseite Herakles im Löwenfell, auf der Rückseite den thronenden Zeus mit dem Sinnbild der prägenden Stadt und die Inschrift: (Basileös) Alexandrou. Die Goldstatere tragen ebenfalls das Bild des Zeus oder der geflügelten Nike hinten und vorn den Kopf der Athena. Porträtmünzen Alexanders sind erst nach seinem Tode geprägt worden. 7e. Die Territorialverwaltung hatte auf die unterschiedlichen Traditionen Rücksicht zu nehmen. Alexander zeigte hierin dieselbe Flexibilität wie die persischen Großkönige. Bevollmächtigter Stellvertreter in Europa, Regent in Makedonien und damit wichtigster * 243 Arrian VII 9,6 * 244 Arrian VII 23,3 * 245 Plutarch, Alex. 15 * 246 Machiavelli, Disc. II 10 * 247 Arrian I 20,1 * 248 Plutarch, Alex. 36f * 249 Diodor XVII 71 * 250 Justin XII 12,12 * 251 epi tön chrématón * 252 Arrian III 6,6; 19,7 * 253 Arrian VII 23,6 * 254 Plutarch, Dem. 25; ders., Mor. 846 A-C; Diodor XVII 108,8; Justin XIII 5,9 * 255 Arrian VI 27; Curtius X 1; Tarn 1948/68, S. 112f * 256 möglicherweise erst unter Ptolemaios: Tarn 1948/68, S. 608 * 257 Berve 1926 II, S . 4 4 f ; Aristoteles, Oek. II 34; 38 * 258 Tarn 1948/68, S. 137 * 259 Price 1991

8. Städte

281

Mann in Griechenland war Antipatros als „Strategos von Europa" 2 6 0 : er verwaltete das Amt Alexanders als Hegemon des korinthischen Bundes und schlug 331 einen von Persien unterstützten 261 Aufstand der Spartaner unter Agis III nieder 262 . Alexander nannte das den „Mäusekrieg" 263 . 7f. In Kleinasien wurden die Kompetenzen der Satrapen beibehalten und nur die Männer ausgewechselt: die Stellen der am Granikos besiegten persischen Satrapen wurden mit Makedonen besetzt 264 . Wie ihre Vorgänger vereinigten sie militärische und zivile Befugnisse in derselben Hand. In Karien bestätigte Alexander eine Frau als Herrin einer Satrapie: Ada, die Schwester Maussolos. Alexander ließ sich von ihr adoptieren 265 . In Babylon bestätigte Alexander dann zum ersten Mal einen persischen Satrapen, Mazaios, im Amt 266 . Dies hat er später überwiegend getan, aber die militärische Befugnis wurde in diesen Fällen jeweils einem makedonischen Strategen übertragen. Auch im weiteren Osten war Alexander bestrebt, den lose gefügten persischen Feudalstaat stärker zu zentralisieren und die Macht der Satrapen durch Gebietsaufteilung abzuschwächen 267 . 7g. Diesem Zwecke diente die Zulassung von Immediateingaben: jeder Untertan konnte sich unter Umgehung des zuständigen Satrapen unmittelbar an den König wenden. In Alexanders letzten Monaten nahm dies, erweitert um Bittsteller aus Griechenland, Ausmaße an, die Alexander sehr bald gezwungen hätten, eine größere Hofverwaltung einzurichten. Sein früher Tod erübrigte dies. 7h. Unter dem Aspekt des Verhältnisses zum König lassen sich auf dem Boden des persischen Reiches mehrere Territorialtypen unterscheiden. Der weitaus größte Teil war durch die Satrapienordnung erfaßt. Daneben aber finden wir erbliche Klientelkönigtümer: Ada von Karien, die Stadtkönige von Cypern und Phönizien 268 und den König Poros in Indien, der im Amte blieb 269 . Ariarathes von Kappadokien wurde erst nach Alexanders Tod bezwungen 270 . Eine Vorstufe zum Klientelstatus bezeugte die Überreichung von Geschenken durch Huldigungs-Gesandtschaften, wie sie beispielshalber die Libyer und mehrere italische Völker nach Babylon schickten. Daß auch die Römer darunter gewesen seien271, ist spätere Legende 272 . Eine Sonderstellung besaßen weiterhin einzelne Tempel mit ihrem Umland: Jerusalem, Bambyke-Hierapolis am Euphrat und die großen ägyptischen Heiligtümer.

8. Städte 8a. Wichtigste Sonderkategorie innerhalb der Satrapienordnung bildeten die Städte. An ihrer Spitze stand Babylon, die künftige Hauptstadt 273 . Es war klar, daß hier der König selbst das Sagen gehabt hätte. Eindeutig definiert war auch die Stellung der Phönikerstädte. Sie entsprach dem Zustand unter den Achaimeniden. Soweit die Städte Stadtkönige hatten (Sidon, Arados, Byblos)274, traten diese in die Position von Vasallenkönigen. Dasselbe gilt * 260 Arrian I 11,3; H.Bengtson, Die Strategie in der hellenistischen Zeit, 1937, S. 12ff * 261 Arrian II 13,4ff; Diodor XVII 48,1 * 262 Diodor XVII 62f; Arrian III 16,10; Plutarch, Demosth. 24 * 263 Plutarch, Ages. 15 * 264 Arrian I 17 * 265 Arrian I 23,7f * 266 Arrian III 16,4; VII 18,1 * 267 Eine Übersicht der Satrapien Alexanders enthält Diodor XVIII 5f; Tarn 1948/68, S. 614 ff * 268 s.u. 8a! * 269 Arrian VI 2,1 * 270 Diodor XVIII 16,1 * 271 Plinius, Nat. hist. III 9/57 nach Kleitarch * 272 Tarn 1948/68, S.71 Iff * 273 Strabon XVI 1,5 * 274 Arrian II 20,1; Curtius IV 1,16; Diodor XVI 42; XVII 47; Justin XI 10,8

282

IX. Das Alexander-Reich

für die neun Stadtkönige von Cypern 275 , insbesondere Salamis 276 . Die orientalischen Städte unterstanden wohl den Satrapen. 8b. Umstritten ist die Rechtslage der kleinasiatischen Griechenstädte. Alexander war als Befreier aufgetreten und begrüßt worden. Die perserfreundlichen Stadttyrannen wurden allenthalben vertrieben 277 und stattdessen demokratische 278 Verfassungen eingeführt. Alexander hat zunächst den Eindruck erweckt, als ob er den befreiten Städten die volle staatsrechtliche Handlungsfreiheit zugestehe. Dies spricht aus der Tatsache, daß er mit ihnen jeweils einen Kriegsbund gegen den Großkönig schloß. Dieses Bündnis gab ihm das Recht, eine Kriegssteuer einzuziehen, die man als freiwillige Leistung der Städte oder als Fortsetzung des Persertributs ansehen konnte. In einem Falle ließ er den Tribut sogar bestehen, bei Ephesos - allerdings war er künftig an den dortigen Artemistempel abzuführen 279 . 8c. Problematisch ist, ob diese Städte freie Verbündete oder aber reichsuntertane Kommunen sein sollten. Exemplarisch ist der Fall von Chios. Alexander gestattete die Heimkehr der von der Perserpartei verbannten Bürger, Wiederherstellung der Demokratie und Aufzeichnung der Gesetze, die dem König vorzulegen seien. Die Chier sollten 20 Trieren zur Flotte beisteuern. Die flüchtigen Perserfreunde seien verbannt und vogelfrei; wer gefaßt werde, sei dem Synhedrion der Griechen in Korinth zur Aburteilung vorzuführen. Streit zwischen Heimkehrern und Eingesessenen wolle er, Alexander, selbst entscheiden. Bis der Friede unter den Bürgern hergestellt sei, solle eine Besatzung in der Stadt liegen280. Garnisonen lagen ebenfalls in Rhodos 281 , das um Hilfe gegen die persische Flotte gebeten hatte, sowie in Side282, dessen Loyalität zweifelhaft war. Die Selbständigkeit der Stadt wird durch die höhere Gewalt des Königs einerseits gewährleistet, andererseits begrenzt. 8d. Die Städte des Korinthischen Bundes waren autonom. Das schon von Philipp sorgsam geschonte Athen wurde auch von seinem Sohn mit Achtung behandelt 283 . Er sandte seine erste Beute, die Schilde vom Granikos, der Athena Parthenos 284 , respektierte die Weigerung, Lykurg auszuliefern 285 und ehrte den Strategen Phokion 286 . Dennoch hat Alexander bisweilen in diese Städte in durchaus autokratischer Weise hineinregiert. Dies tat er, als er 324 durch Nikanor, den Adoptivsohn des Aristoteles, bei den olympischen Spielen das Dekret (diagramma) verlesen ließ, daß die griechischen Städte ihre Verbannten, von denen damals 20000 im Exil lebten, wieder aufzunehmen hätten 287 . Mindestens teilweise dürfte es sich dabei um Söldner gehandelt haben, die Alexander nun entließ und wieder in ihre Heimatstädte zurückführen wollte. Die Modalitäten der Rückkehr regelten die Städte selbst, wie Inschriften aus Mytilene und Tegea bezeugen 288 . Zur Regelung der Besitzansprüche wurden Sondergerichte eingesetzt, bisweilen aus Bürgern befreundeter Städte. Jeder Heimkehrer erhielt ein Haus mit Garten zurück; hatte er mehr, sollte ihn der neue Besitzer entschädigen. Trotz der inneren Autonomie verkehrten die Griechenstädte nicht auf gleichem Fuß mit Alexander. Sie ehrten ihn an seinem Geburtstag durch Festgesandt-

* 275 Arrian II 20,3 u. 6; G. Hill, A History of Cyprus, I 1949, S.143ff * 276 Arrian II 20 * 277 Plutarch, Alex. 34 * 278 Arrian I 17,10; 18,2; II 5,8; III 2; Demosthenes XVII 7 * 279 Arrian I 17,10 * 280 Tod Nr. 192; Pfohl Nr. 107 * 281 Arrian II 20,2 * 282 Arrian I 26,5 * 283 Plutarch, Alex. 60 * 284 Arrian I 16,7 * 285 Plutarch, Mor. 841 E * 286 Aelian, Var. hist. I 25; XI 9 * 287 Diodor XVII 109; XVIII 8,4f; Plutarch, Mor. 221 A * 288 Tod Nr. 201 f

9. Menschheitsidee

283

Schäften 289 , einige trugen ihm freiwillig göttliche Ehren an 290 . Daher kann kein Zweifel bestehen, daß diese Städte ihre außenpolitische Selbständigkeit verloren hatten und als Empörer behandelt worden wären, sobald sie sich gegen Alexander gestellt hätten, wie es Aspendos geschah 291 . Als staatsrechtliche N o r m dürfte daher eine Zugehörigkeit der Griechenstädte Kleinasiens zum Alexanderreich anzusehen sein. 8e. Alexanders Neugründungen wurzeln in dem Bevölkerungsüberschuß der griechischen Welt. Er war ja auch die Ursache für das Söldnerwesen. Bereits Isokrates 292 hatte Philipp II empfohlen, diese heimatlosen Männer in neuzubauenden Städten Kleinasiens anzusiedeln. Plutarch 293 spricht von über 70 Neugründungen - eine der ersten war Smyrna 294 , aber nachweisbar sind nur k n a p p 20 neue Städte, die Alexander überdauert haben 295 . Sie hießen überwiegend Alexandreia mit einem Beinamen, z. B. Alexandreia eschate, die „äußerste, fernste Alexanderstadt" am Jaxartes (Chodschent am Syr-Darja). Die Sitte, Neugründungen nach Königen zu benennen, ist orientalisch 296 ; in Griechenland hat sie Philipp II eingeführt 297 . Die erste Alexandropolis baute der 16jährige Alexander noch unter Philipp 298 . Fast alle neuen Städte lagen östlich des Tigris. Neugründungen standen auf Königsland und fügten sich somit in die Satrapienordnung ein - im Gegensatz zu den Griechenstädten des Westens. 8f. Den Kern der Bürgerschaft bildeten in der Regel Kriegsinvaliden aus den griechischen und makedonischen Verbänden. Ihre Frauen waren überwiegend Einheimische, dazu kamen Händler und Handwerker aus dem jeweiligen Lande. Inwieweit diese Nichtgriechen Bürgerrecht besaßen, ist zweifelhaft. Entweder waren sie in Landsmannschaften organisiert neben der griechischen Bürgerschaft, oder aber sie mußten Griechen werden, um gleiche Rechte zu genießen. 8g. U m f a n g und F o r m der Selbstverwaltung der Neugründungen sind unbekannt; ob es Rat und Volksversammlung gab, ist offen. Selbständig war aber wohl das Gerichtswesen; man richtete nach dem jeweiligen Stadtrecht, das sich meist an das einer griechischen Stadt des Mutterlandes anlehnte, und nach den königlichen Verordnungen. Im Verlauf der Diadochenzeit sind einige dieser Städte a u t o n o m geworden. Alexanders Kolonisierungstätigkeit hatte wirtschaftliche, militärische, politische und kulturelle Aspekte. So sehr dies als Leistung Alexanders, der sicher der größte Städtegründer der Geschichte war, anerkannt werden muß, so sehr m u ß doch auch das Schicksal der Siedler bedacht werden. Auf die Nachricht von Alexanders Tod sammelten sich Tausende zur Heimkehr, doch besiegten Alexanders Generale sie und zwangen sie zu bleiben 299 .

9. Menschheitsidee 9a. Das zentrale gesellschaftliche Problem des Alexanderreiches war das Verhältnis von Griechen und Barbaren 3 0 0 . Diese Zweiteilung der Menschheit ist sehr alt. Der Begriff barbaros steht seit Homer 301 lautmalend für Leute, die kein Griechisch, sondern ein

* 289 Tod Nr. 293 * 290 Arrian VII 23,2 * 291 Arrian I 27 * 292 Isokrates, or. V 120 * 293 Plutarch, Mor. 328 E * 294 Pausanias VII 5,1 ff * 295 Tarn 1948/68, S . 5 0 0 f f * 296 Cyropolis: Curtius VII 6,16 * 297 Diodor XVI 3,7 * 298 Plutarch, Alex. 9 * 299 Diodor XVIII 4 * 300 Tarn 1948/68, S . 7 4 8 f f * 301 Homer, Ilias II 867

284

IX. Das Alexander-Reich

unverständliches Bla-Bla sprechen. Als wichtigste Gruppe der Barbaren erschienen früh die Asiaten. Seit den Perserkriegen gewann diese ursprünglich sprachliche Abgrenzung auch einen politischen Akzent: der Barbar war nicht nur Untermensch, sondern auch Feind. Piaton 302 bezeichnete gelegentlich die Barbaren als die natürlichen Feinde; Xenophon 303 nannte den Perserhaß „edel"; Isokrates 304 , der große Propagandist des Rachekrieges gegen Persien, forderte gegen die Barbaren den Kampf und zwischen den Griechen Eintracht: Homonoia. Aristoteles 305 betrachtete alle Barbaren, voran diejenigen aus Asien, als Sklaven von Natur aus. Er gab seinem Schüler Alexander den Rat, die Griechen als freie Männer, die Barbaren aber als Sklaven zu behandeln. 9b. Plutarch 306 berichtet, daß Alexander diesen Rat verworfen habe. Vielmehr habe er sich als Schiedsrichter und Ordner der Menschheit gefühlt, von Gott gesandt, alle Menschen zu einem einzigen Körper zusammenzufügen und die Völker in einem riesigen Mischkrug zu vermengen. Alexander hätte erklärt, man dürfe nicht Griechen und Fremde nach ihrem Gewände und ihren Waffen unterscheiden, sondern Grieche sei, wer anständig und tüchtig sei (arete besitze), und wer nichts tauge, der sei ein Barbar. Dieses Programm bestätigt der Geograph Eratosthenes. Von ihm erfahren wir, daß Alexander die Unterscheidung der Menschen nach Griechen und Barbaren abgelehnt und diese Ablehnung zum Ausdruck gebracht habe in seiner Königstracht 307 . 9c. Politisch wirksam wurde das Homonoia-Programm durch die allmähliche Gleichstellung der Perser in der Reichsverwaltung. Wo immer es ging, hat Alexander Einheimische als Satrapen eingesetzt oder bestätigt. Selbst als er damit schlechte Erfahrungen machen mußte, hat er an dem Prinzip festgehalten. Von den 18 persischen Satrapen, die Alexander bestellt hatte, mußte er nach seiner Rückkehr zehn absetzen: teils hatten sie sich unfähig gezeigt, teils hatten sie sich bereichert, teils erschienen sie unzuverlässig 308 . Dies letztere beruhte darauf, daß sie als Einheimische Eigeninteressen entwickelten. Von den persischen Satrapen, die Alexander weiterregieren ließ, haben zwei später Dynastien gebildet: Atropates, von dem die Landschaft Aserbeidschan noch heute ihren Namen führt, und Phrataphernes im späteren Parthien 309 . 9d. Im Verlaufe des Feldzuges ging Alexander dazu über, Asiaten in sein Heer einzustellen. Er veranlaßte in Baktrien die Ausbildung von 30000 jungen Persern in der griechischen Schrift und in makedonischen Waffen 310 . Es ist kein Fall bekannt, in dem die persischen Krieger Alexander den Gehorsam verweigert hätten, während dies bei den Makedonen mehrfach vorkam. 9e. Sechs Widerstandsaktionen sind von Bedeutung, drei Verschwörungen und drei Meutereien. Sie richteten sich gegen Alexanders Eroberungspläne, gegen sein Gottkönigtum und gegen seine „barbarenfreundliche" Verschmelzungspolitik 311 . 330 ließ Alexander seinen verdienten Reitergeneral Philotas hinrichten und beseitigte zugleich dessen Vater Parmenion, das Haupt der altmakedonischen Partei 312 . Der Mord an Kleitos, der den König geschmäht hatte, geschah im Rausch 313 ; Kallisthenes wurde 327 wegen seines Protestes gegen die Proskynese abgeurteilt 314 . * 302 Platón, Staat 470 C * 303 Xenophon, Ages. VII 7 * 304 Isokrates, or. IV 184; V; XII 163 * 305 Aristóteles, Pol. I 1,5 * 306 Plutarch, Mor. 329 B-D * 307 Strabon I 4,9; Plutarch, Mor. 330 A; Plutarch, Alex. 45; Diodor XVII 77 * 308 Tarn 1948/68, S. 141 * 309 Arrian VII 4,5; 6,4; Diodor XVIII 3,3 * 310 Plutarch, Alex. 47; Arrian VII 6 * 311 Arrian VII 6 * 312 Arrian III 26 * 313 Arrian IV 8f * 314 Plutarch, Alex. 50-55

10. Bedeutung

285

9f. Die Meutereien fanden statt 329 in Hyrkanien 3 1 5 , 325 in Indien 316 und 323 in Opis, dem späteren Seleukia am Tigris. Damals hat sich Alexander auf seine persischen Kontingente gestützt und die Makedonen in ihrem Königsstolz erschüttert: sie beschwerten sich darüber, daß Alexander die Perser zu seinen Verwandten gemacht habe 317 . Alexander ließ dreizehn Unruhestifter hinrichten, zog sich in seinen Palast zurück, aß nicht und trank nicht, bis die Makedonen nachgaben. Es kam zu einer großen Versöhnungsorgie, bei der Alexander im Kreise von Makedonen und Persern und anderen Völkern, die sich ausgezeichnet hatten, aß und trank und das berühmte Gebet sprach, in dem er alles Gute, Eintracht (homonoia) und Gemeinsamkeit in der Herrschaft für Makedonen und Perser herabflehte. Griechische Priester und persische Magier vollzogen die Opfer und 9000 M a n n sangen das Siegeslied 318 . 9g. Nicht nur die Gleichstellung, sondern auch eine regelrechte Verschmelzung der Völker war Alexanders Absicht. Er selbst hatte angeblich von Barsine, der persischen Witwe Memnons, einen Sohn namens Herakles 319 , n a h m dann in Roxane eine baktrische Prinzessin zur Frau 3 2 0 und heiratete 324 in Susa noch Stateira, eine Tochter des Darius 3 2 '. Hier veranstaltete er die erwähnte Massenhochzeit makedonischer Soldaten mit orientalischen Frauen. Seinen Generalen und Freunden suchte er Prinzessinnen aus, achtzig Ehen stiftete er so, die nach persischem Brauch vollzogen wurden. Sodann legalisierte Alexander sämtliche Verbindungen, die seine Soldaten bisher mit einheimischen Frauen eingegangen waren. Es waren angeblich über 10000, und ihnen allen schenkte Alexander eine Mitgift 322 . 9h. D a ß diese Verschmelzungspolitik Alexanders eigene Idee war, zeigte sich nach seinem Tod, als viele Makedonen ihre persischen Frauen verstießen. Die späteren Diadochen haben außer in Baktrien wieder eine Völkertrennung eingeführt, wie sie griechischem Denken entsprach. Griechen regierten, Barbaren wurden regiert. Auch Alexanders Besitzpolitik fand nur bedingt Nachfolge. Hatte er den einheimischen Herren ihre Ländereien belassen, so wurden diese später von einzelnen Nachfolgern (Eumenes, Antigonos?) doch noch zugunsten der Eroberer enteignet. Dennoch wirkte die Hellenisierung weiter. Alle Welt, schreibt Plutarch, liest nun Homer, zitiert Euripides 323 . Okzidentale Rationalität floß in den Osten, orientalische Religiosität in den Westen.

10. Bedeutung 10a. So wie Kyros von den Griechen 324 , erhielt Alexander von den Römern den Beinamen des Großen 3 2 5 . Friedrich „der G r o ß e " wurde von den zeitgenössischen Franzosen und Engländern gekürt und auch Karl der Große, Peter und Katharina verdanken ihre Beinamen nicht der Eitelkeit ihrer Angehörigen, wie Wilhelm „der Große" 3 2 6 , oder ihrer * 315 Plutarch, Alex. 47 * 316 Arrian V 25 * 317 Arrian VII 11,6 * 318 Arrian VII 11; Plutarch, Alex. 71 * 319 Plutarch, Alex. 21; Diodor XX 28; nach Tarn 1948/68, S. 6441T unhistorisch * 320 Arrian IV 18f * 321 Arrian VII 4,4 („Barsine"); lustin XII 10,9 * 322 Arrian VII 4; Plutarch, Alex. 70 * 323 Plutarch, Mor. 328 CD * 324 s.o. IV 3d! * 325 Ältester Beleg um 200v.Chr. bei Plautus, Most. 775. Seit wann und weshalb der um 340 hingerichtete karthagische Feldherr Hanno der Große seinen Beinamen trägt (Pompeius Trogus, prol. 20), ist unklar. * 326 seit gestern, 2. IX. 1993, wieder auf dem Deutschen Eck

286

IX. Das Alexander-Reich

eigenen Ruhmsucht wie Pompeius „Magnus", der imitator Alexandri327. Die oft gestellte Frage nach der Berechtigung für diese Auszeichnung 328 läßt sich nicht verbindlich beantworten, weil niemand dafür kompetent ist - schon gar nicht die Historikerzunft. Sie hat primär zu registrieren und kann im Falle Alexanders nur den beispiellosen Eindruck feststellen, den der Makedone auf Mit- und Nachwelt gemacht hat. 10b. Alexander ist der einzige antike Staatsmann, der sowohl in der Bibel329 als auch im Koran 330 vorkommt. Er heißt dort der „Zweigehörnte", vermutlich weil sein Kopf auf den Münzen des Lysimachos seit 297 die Ammonshörner trägt 331 . Alexander fand Eingang in den Orient über den volkstümlichen Alexander-Roman 332 , eine anonyme phantastische Beschreibung seiner Abenteuer. Es wurde das am weitesten verbreitete profane Buch des christlichen und islamischen Mittelalters. Alexander galt als Muster des Ritters und Königs, des Entdeckers und Kavaliers 333 - bis zu Händeis Vertonung von Drydens >Alexanderfest< (1725) und zu Thorvaldsens Alexanderfries für Napoleons Residenz auf dem Quirinal (1812). Stets haben die Menschen ihre Vorstellung vom großen Mann in Alexander hineingespiegelt 334 . Bis in die Neuzeit beflügelte er die historische Einbildungskraft 335 . 10c. Appian 336 verglich Alexander mit einem Blitz, hat doch sein Reich kaum dreizehn Jahre gehalten. Durch den frühen Tod des Königs hatte es nicht Zeit, sich zu konsolidieren 337 . Aber es ist auch zweifelhaft, ob es bei einer längeren Lebensdauer des Königs Festigkeit gewonnen hätte. Dagegen sprechen die inneren Divergenzen und Kommunikationsschwierigkeiten über die großen Entfernungen hinweg. Es fehlt die Substruktur, wie sie erst das Imperium Romanum besessen hat. Das Alexanderreich basierte auf dem Charisma des jungen Königs. lOd. Der „Blitz aus Makedonien" führte zu einem Umschwung der politischen Großwetterlage. Vor Alexander dominiert die Polis, jenes System von Kleinstaaten, die teilweise bewundernswert durchdacht waren, wie die attische Demokratie, aber eben doch auf städtische Territorien beschränkt blieben. Zwischen diesen Stadtstaaten herrschte Konkurrenz oder Kriegzustand. Polisübergreifende Organisationen waren entweder Bündnisse von zweifelhafter Stabilität, wie das achäische Koinon, oder aber kaschierte Hegemonien, wie der attische Seebund, in dem die Mitgliedstädte schließlich bloß Untertanen waren. lOe. Im Reich Alexanders liegt der Versuch vor, die bewohnte Welt zusammenzufassen, die Partikularinteressen einer Idee des Ganzen zu unterwerfen 338 und mit dem Flickenteppich rivalisierender Kleinstaaten Schluß zu machen. Alexander beanspruchte das Verdienst, den Kriegszustand zwischen den Völkern beendet zu haben, und ließ sich von seinem Hofmaler Apelles darstellen, wie vor seinem Triumphwagen der Kriegsgott gefesselt einhergeht. Nicht der Sieg über die Barbaren, sondern der über den Krieg, den Polemos, wird hier verkündet. Augustus hat dieses Bild in dem von ihm erbauten Forum aufstellen

* 327 Plutarch, Pompeius 13; 46 * 328 A. Demandt, Gibt es Maßstäbe für historische Größe? Jahrbuch der Berliner Wiss. Ges. 1990, S.75ff * 329 AT. Daniel 8,21; 10,20; 1. Makk. 1,1 * 330 Koran, 18. Sure >Die HöhleIskandarname< des Persers Nizami (gest. 1209), deutsch von Ch. Bürgel 1991 * 334 Demandt 1972 * 335 Toynbee 1969; Briant 1982 * 336 Appian, praef. 10 * 337 Zum Gedankenspiel einer solchen Eventualität: A. Demandt, Ungeschehene Geschichte, 1986, S.68ff * 338 Arrian VI 27,5

10. Bedeutung

287

lassen, Claudius ersetzte den Kopf Alexanders durch den des Augustus 339 . So begab sich Augustus mit seiner Friedensidee in die Nachfolge Alexanders; als Siegelring benutzte er eine Gemme mit dessen Bild340. Ohne Alexander wären die hellenistischen Großreiche, das Imperium Romanum und die Ausbreitung des Christentums kaum vorstellbar. Jesus wäre ein jüdischer Sektierer geblieben, denn die Mission setzte nicht nur die Pax Romana voraus, sondern auch die Verbreitung des Griechischen als koiné, als Weltsprache, die mit Alexander beginnt. 10f. Es hat immer Stimmen gegen Alexander gegeben 341 . „Wer kann sich des Lachens enthalten, wenn er all der großen Männer gedenkt, die so viel von jenem mazedonischen Narren geschwärmt haben?" So Mandeville 17 1 4342, ähnlich schon Seneca 343 und die indischen Gymnosophisten, mit denen Alexander über die Frage disputiert haben soll: Wieviel Erde braucht der Mensch? 344 Wer will, kann mit ihnen Alexander als Urbild des unersättlichen Eroberers ansehen, als den größten Imperialisten aller Zeiten 345 . Die positiven Stimmen überwiegen aber. Thomas von Aquino schrieb: monarchia Graecorum in Alexandro incipit et in eodem finitur - zu deutsch: Alexander war der einzige König der Griechen, der den Namen verdient 346 . Droysen 347 und Tarn 348 haben auf Alexander die Idee von der Brüderlichkeit aller Menschen zurückgeführt, die in der Stoa und im Christentum philosophisch vertreten worden ist, die in der Französischen Revolution zum erklärten Ziel einer umfassenden politischen Ordnung erhoben wurde und seitdem in den Präambeln aller Verfassungen in Ost und West auftaucht. 10g. Als Alexander nach Babylon kam, hat er dem Gotte Marduk zu Ehren dessen Zikkurat, den Tempelturm Esagila im Temenos Etemenanki, erneuern wollen 349 . Von 10000 Arbeitern ließ er Ziegel brennen, und die Baugrube ausheben. Dann starb er, und das Loch blieb liegen350. Bis heute 351 . Im Alten Testament 352 hat Gott die Menschen, die den babylonischen Turm errichten wollten, damit bestraft, daß er sie in Völker und Sprachen zersplitterte. Alexander hat den Turm vollenden und die Einheit der Menschheit wiederherstellen wollen. Die Aufgabe ist noch immer unerledigt. Ist es Sakrileg, an ihr weiterzuarbeiten? Koinonia und Homonoia sind heute so erstrebenswert wie zu Zeiten Alexanders, wenn auch mit anderen Mitteln.

* 339 Plinius, Nat. hist. XXXV 16 * 340 Sueton, Aug. 50 * 341 Hoffmann 1907 * 342 B. Mandeville, Bienenfabel, 1714/1914, S. 38 * 343 Seneca, De benef. VII 2f; Julian 264 D * 344 PseudoKallisthenes, Alexander-Roman III 4 * 345 so ähnlich Curtius Rufus passim * 346 Thomas Aquinates, De regimine principum, III 12/53 * 347 Droysen 1833/1966, S. 277 * 348 Tarn 1948/68, S. 748ff * 349 Arrian III 16,4 * 350 Strabon XVI 1,5 * 351 Autopsie 3. I. 1965 * 352 AT. 1. Mose 11

288

IX. Das Alexander-Reich

Literatur zu IX Neuere Forschungen bieten die Zeitschriften zur griechischen Geschichte, s.o. Lit. zu II! Badian, E., The Deification of Alexander the Great. Festschrift Charles Edson, Thessalonike 1981, S. 27 ff Bengtson, H., Philipp und Alexander der Große, 1985 Berve, H., Das Alexanderreich auf prosopographischer Grundlage, I + II, 1926 Bickermann , E. + Sykutris, J., Speusipps Brief an König Philipp, 1927 Bieber, Margaret, Alexander the Great in Greek and Roman Art, 1964 Böhm, Claudia, Imitatio Alexandri im Hellenismus, 1989 Bosworth, A. B., A Historical Commentary on Arrian's History of Alexander, I, 1980 (nur Bücher I—III) Bosworth, A. B., Conquest and Empire. The Reign of Alexander the Great, 1988 Briant, P., Imperialismes antiques et idéologie coloniale dans la France contemporaine: Alexandre le Grand modèle colonial. In: Ders., Rois, Tribus et Paysans, 1982, S. 281 ff Carlsen, J. (u. a. Hgg.), Alexander the Great, Reality and Myth, 1993 (Analecta Romana Instituti Danici, Suppl. XX) Demandi, A., Politische Aspekte im Alexanderbild der Neuzeit. Archiv für Kulturgeschichte 54, 1972, S.325-363 Droysen, J. G., Alexander der Große, 1833/1966 Errington, M., Geschichte Makedoniens, 1986 Fredricksmeyer, E. A., Alexander, Zeus Ammon and the Conquest of Asia. In: Transactions of the American Philological Association, 121, 1991, S. 199ff Granier, F., Die makedonische Heeresversammlung, 1931

Griffith, G., A History of Macedonia, 1979 Hamilton, J. R., Plutarch, Alexander. A Commentary, 1969 Hammond, N. G. L. + Griffith, G. T., A History of Macedonia, II 550-336 B. C., 1979 Hammond, N., The Macedonian State, 1992 Hampl, F., Der König der Makedonen, 1934 Hampl, F., Alexander der Große, 2. Aufl. 1965 Hatzopoulos, M. (Hg.), Philip of Macedon, 1980 (Bilder) Heckel, W„ The Marshals of Alexander's Empire, 1992 Heisserer, A. J., Alexander and the Greeks. The Epigraphical Evidence, 1980 Hoffmann, W., Das literarische Porträt Alexanders des Großen im griechischen und römischen Altertum, 1907 Lauffer, S., Alexander der Große, 1978 Merkelbach, R., Die Quellen des griechischen Alexander-Romans, 1977 Pearson, L., The Lost Histories of Alexander, 1960 Price, M. J., The Coinage in the Name of Alexander the Great, 1991 Seibert, J., Alexander der Große (Erträge der Forschung 10), 1972 Taeger, F., Charisma, I 1957 Tarn, IV. W„ Alexander der Große, 1948/1968 (grundlegend!) van Thiel, H., Leben und Taten Alexanders von Makedonien. Der griechische Alexander-Roman nach der Handschrift L, 1974

Literatur zu IX Toynbee, A. J., Some Problems of Greek History, 1969 Will, W. (Hg.), Alexander Magnus. Zu Alexander d. Gr. Festschrift G. Wirth zum 60. Geburtstag, I/II, 1987/1988

289 Wirth, G., Studien zur Alexandergeschichte, 1985 Zähmt, M., Hellas unter persischem Druck? Archiv für Kulturgeschichte 65, 1983, S. 249-306.

X. Die hellenistischen Monarchien

293 1. Begriff a. Definition b. Begriff Hellenismus c. Verbreitung

2. Quellen a. b. c. d. e.

Verlorene Historiker Erhaltene Historiker Jüdische Texte Inschriften, Münzen, Papyri Archäologie

3. Großmächte a. b. c. d. e. f. g. h. i.

Reichsteilung Jahr der Könige Makedonien Seleukidenreich Gräko-Baktrien, Indien Ägypten Außenpolitik: Gleichgewicht Eingriffe ins Nachbarland Kleinmächte

4. Königtum a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k. 1. m.

Würde Absolutismus Privatstaat Nachfolge, Krönung Heiratspolitik Rat und Hof Zeremoniell Herrscherverehrung allgemein Alexanderkult Königskult Beinamen Königsideal Vorbild

5. Verwaltung a. b. c. d. e.

Heer Heeres- und Volksversammlung Beamte Gaue Außenbesitz

6. Städte a. Stadtbild b. Gründungen c. Alexandria

d. e. f. g. h. i. j. k.

Museion Stiftungen Selbstverwaltung? Tribute Garnison Korrespondenz Tempelstaaten der Seleukiden der Ptolemäer

7. Wirtschaft a. b. c. d. e. f. g. h. i.

Planwirtschaft Landbau Monopole: Handel Geld Banken Einnahmen und Ausgaben Geographie Entdeckungen Technik

8. Gesellschaft a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k. 1. m. n.

Einwanderer, kein Adel Sklaven Orientalen Apartheid Einwanderer Koiné, Ansippung Fellachen Aufstieg der Orientalen Mischung, Doppelnamen Juden Frauen Religion Sarapis und Isis Pompe des zweiten Ptolemaios

9. Niedergang a. b. c. d.

Ende des Gleichgewichts Römer Testamente zugunsten Roms Dekadenz

10. Bedeutung a. b. c. d.

Verfallszeit Modernität Parallelen Außenpolitik

Literatur zu X

295 Der griechische Kosmos schuf durch den Hellenismus die innere Lebensform für die halbe Erde. Bern 1949

1. Begriff la. Die hellenistischen Monarchien 1 bezeichnen jene Königreiche im östlichen Mittelmeer-Raum, die nach dem Tode Alexanders im Juni 323 von seinen Nachfolgern, den Diadochen, gegründet wurden und unter Augustus im September 30 v. Chr. endgültig im römischen Reich aufgingen. Die drei wichtigsten sind das Ptolemäerreich am Nil mit der Hauptstadt Alexandria, das Seleukidenreich in Syrien mit der Residenz Antiochia und das Antigonidenreich in Makedonien mit der Königsstadt Pella. Ib. Das Wort Hellenismus 2 begegnet zuerst im Zweiten Makkabäerbuch 3 . Es bezeichnet dort das „griechische Wesen" der hellenisierten Juden und wird mit allophylismos „Fremdartigkeit" erläutert. Als der Apostel Paulus nach Jerusalem kam, unterhielt er sich mit den „Griechen". Die Apostelgeschichte 4 spricht hier nicht von hellènes, sondern von hellënistai. Derselbe Begriff erscheint zuvor 5 bei einem Streit innerhalb der christlichen Gemeinde zwischen Hebräern und „Hellenisten". Gemeint sind einerseits aramäisch, andererseits griechisch sprechende Diaspora-Juden, die Christen geworden waren. Das Wort hellénistes erscheint hier zum ersten Male, es ist abgeleitet von hellënizein „griechisch sprechen". Für Aristoteles 6 war dies der Anfang aller Literatur und Wissenschaft; hellënismos ist die Fähigkeit, griechisch zu sprechen. Beides pflegt man nur von geborenen Nichtgriechen zu sagen. Der Leidener Philologe Claudius Salmasius nannte das biblische Griechisch 1643 lingua hellenistica im Unterschied zur lingua Graeca. Somit drückt bereits der ältere Sprachgebrauch das aus, was Johann Gottfried Herder in der Einleitung seiner »Erläuterungen zum Neuen Testament« von 1775 aus dem „mißbrauchten Allemannswort Hellenismus" heraushörte. lc. Johann Gustav Droysen hat 1836 den aufs Judentum beschränkten Begriff auf den gesamten Orient ausgeweitet, indem er den Hellenismus bestimmte als die „Vermischung des abend- und morgenländischen Lebens" 7 . Droysen nannte den Hellenismus auch jene Zeit, in der das Griechentum „weltläufig" geworden sei. Die Griechen waren immer beweglich, dennoch können wir extensive und intensive Phasen ihrer Geschichte unterscheiden. Eine erste extensive Phase bildet die große Kolonisation in der archaischen Zeit, ihr folgt die intensive Phase der Klassik, die dann ausmündet in die abermals extensive Phase * 1 Überblick: Burckhardt, GK. IV S . 3 9 5 f f * 2 Bichler 1983 * 3 AT. 2. Makkabäer 4,13 * 4 NT. Apostelgeschichte 9,29 * 5 ebenda 6,1 * 6 Aristoteles, Rhet. 1407 A 19 f * 7 Bichler 1983; Momigliano 1991, S. 177ff

296

X. Die hellenistischen Monarchien

des Hellenismus. Die griechische Zivilisation wurde international. Die Randvölker übernahmen Elemente hellenistischer Kultur: Etrusker 8 und Karthager im Westen9; Thraker 10 , Skythen11 und Kelten im Norden 12 ; Perser13, Araber, Juden und Inder im Osten14. Nur die Ägypter hielten an ihrer Kultur fest. Schon Herodot 15 bemerkte, sie nähmen keine fremden Bräuche an.

2. Quellen 2a. Der Hellenismus war die schreibfreudigste Zeit des Griechentums. Die Bücher wurden in den Hauptstädten gesammelt: Nicht nur in den Bibliotheken von Pergamon und Alexandria16, sondern ebenso in denen von Antiochia17, Pella18, Athen und anderen Orten. Dennoch ist von den vielfach bezeugten Werken der Zeithistoriker und Philosophen keines erhalten. Hieronymus von Kardia, Phylarchos von Naukratis, Timaios von Tauromenion, Duris von Samos, Poseidonios von Apameia und andere sind nur in Fragmenten überliefert. Hermann Strasburger hat 1977 das Verhältnis der verlorenen zu den erhaltenen Geschichtswerken auf 40:1 berechnet19. Ein wesentlicher Grund für die überwiegend in byzantinische Zeit zu datierenden Verluste dürfte darin liegen, daß diese Werke dem klassizistischen Sprachideal nicht entsprachen. 2b. Unter den weitgehend erhaltenen Historikern steht quantitativ Diodor voran. Er stammt aus Sizilien20 und schrieb seine »Bibliotheke« genannte Weltgeschichte in 40 Büchern unter Caesar und Augustus21. Die Zeit von 323 bis 60 v. Chr. behandelt er in den Büchern 18 bis 40. Ein ähnliches Kompendium des unter Augustus schreibenden Pompeius Trogus ist in lateinischer Kurzfassung durch Justinus erhalten. Appian 22 bietet eine Übersicht der Seleukidenzeit von Seleukos I bis Antiochos XIII23, namentlich gutes Material zu Roms Kriegen im Osten. Wichtige Nachrichten, zumal für die Beziehung zwischen Rom und den griechischen Mächten liefert der zu einem Drittel erhaltene Polybios24. Unter den Viten Plutarchs sind einschlägig die von Phokion, Eumenes, Demetrios Poliorketes und Pyrrhos. Die Chronologie beruht weitgehend auf der Weltchronik von Eusebios, die in der lateinischen Fassung von Hieronymus erhalten ist. Verstreute Nachrichten bieten aus der Kaiserzeit Pausanias, Strabon und Athenaios. 2c. Eine eigene Gruppe literarischer Quellen sind die jüdischen Texte in griechischer oder aramäischer Sprache. Relevant sind die >Antiquitates< und die Schrift gegen Apion von Flavius Josephus aus der Zeit um 80n.Chr., das Daniel-Buch aus dem Alten Testament, aus den Apokryphen das Erste Makkabäer-Buch und der Aristeas-Brief25.

* 8 s.o. XI 4 a; lOf! * 9 Jonische Säulen in Karthago: Appian VIII 96; Stadtteil „Megara" 116; General „Diogenes" 126 * 10 Seuthopolis nach griechischem Muster erbaut um 300 v. Chr. * 11 Justin IX 2; Renate Rolle, Die Welt der Skythen, 1980, S. 139ff * 12 s.u. XIV 4h; i; 6f! * 13 s.u. XVII 3 b! * 14 s.u. 3 e! * 15 Herodot II 91 * 16 S. u. 6j!Hier lagen auch die verlorenen königlichen Hypomnemata: Diodor III 38,1 * 17 Suidas, Epsilon 3801, nach Euphorion * 18 Plutarch, Aem. 28 * 19 H. Strasburger, Studien zur Alten Geschichte III, 1990, S. 181 * 20 Diodor I 4,4; Inscr. Graecae XIV 588 * 21 Eusebios, Chron. zu 49 v.Chr. * 22 Text mit Übersetzung und Kommentar: O. Veh + K. Brodersen 1987; 1989; 1991 * 23 Appian XI 52ff * 24 s.o. VIII 2 a! * 25 deutsch bei E. Kautzsch, Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, I/II 1900

3. Großmächte

297

2d. Umfangreich sind die inschriftlichen Zeugnisse 26 , namentlich die Briefe der Könige an die Städte 27 . Aus den ägyptischen Inschriften ragt der Stein von Rosette 28 hervor, er enthält Verfügungen von Ptolemaios V zu seinem Regierungsantritt 197 v.Chr. in Hieroglyphen, demotischer und griechischer Schrift. Der Stein wurde 1799 von Soldaten Napoleons bei AI-Raschid gefunden und kam als Kriegsbeute ins Britische Museum. Er ermöglichte Champollion 1822 die Übersetzung der Hieroglyphen. Die wichtigsten Papyri aus Ägypten hat Michael Rostovtzeff zusammengestellt 29 . Als geschlossener Komplex ist das Zenon-Archiv aus Philadelphia im Fayum bedeutsam. Zenon war Sekretär eines Dioiketes unter Ptolemaios II um 250 und Grundbesitzer, von ihm sind rund 2000 Dokumente erhalten 30 . Die Münzen belehren uns über Titel und Porträts der Könige 31 . Zumal für die frühe Seleukidenzeit gibt es Keilschrifturkunden aus dem unteren Mesopotamien 32 . 2e. Archäologische Ausgrabungen hellenistischer Städte sind namentlich in Kleinasien durchgeführt worden, besonders eindrucksvoll sind Priene, Milet, Ephesos, Pergamon und Herakleia am Latmos. Die Reste von Alexandria in Ägypten, Antiochia in Syrien und Seleukia in Mesopotamien sind kärglich. Die Köpfe der Könige kennen wir von Münz- und Marmorbildern 33 .

3. Großmächte 3a. Die Herausbildung der monarchischen Flächenstaaten, die sich nach dem Tode Alexanders 323 auf dem Territorium seines Reiches gebildet haben, hat schwere Kämpfe gekostet. Als der junge König 323 in Babylon gestorben war, erhob das Heer Alexanders schwachsinnigen Halbbruder Philipp III Arrhidaios und Alexanders nachgeborenen Sohn Alexander IV zu Königen 34 . Die Reichsverweserschaft und den mesopotamisch-syrischen Raum übernahm Alexanders Siegelbewahrer Perdikkas, die Randländer wurden nach seinem Vorschlag 35 einzelnen Generalen unterstellt 36 . Perdikkas und die späteren Inhaber der zentralen Landschaft Syrien haben große Anstrengungen unternommen, die Reichseinheit zu bewahren. Dabei standen sie regelmäßig einer Koalition der Flügelmächte gegenüber 37 . Insbesondere Makedonien und Ägypten bemühten sich, von der Zentralmacht unabhängig zu werden. 3b. Der Einheitsgedanke trat allmählich in den Hintergrund. Perdikkas fiel 321 durch eine Offiziersrevolte 38 , Philipp III Arrhidaios wurde 316 mit seiner Gattin Eurydike Adeia von Olympias ermordet 39 , von Kassander aber in der Königsnekropole zu Aigai feierlich beigesetzt 40 . 311 kam es zu einer Abgrenzung der Interessensphären der Generale 41 , 310

* 26 Dittenberger, Sylloge; ders., OGIS * 27 Welles 1934 * 28 O G I S . 9 0 = Arend Nr. 305; E . A . W . Budge, The Rosetta Stone in the British Museum, 1929; Thissen 1966 * 29 Cambridge Ancient History VII, 1928, S . 8 8 9 f f * 30 Rostovtzeff 1941/55 pass. * 31 B.V. Head, Historia Numorum, 1911; BMC 6, 1882 (The Ptolemies); Zu den Seleukiden: Newell 1938 und 1941 * 32 A. Falkenstein, Topographie von Uruk, 1941; Funck 1984 * 33 R. R. R. Smith, Hellenistic Royal Portraits, 1988 * 34 Diodor XVIII 2; Justin XIII 2; Appian XI 52 * 35 Justin XIII 4,9; Curtius X 10,1; Pausanias I 6,2 nennt Ptolemaios * 36 Diodor XVIII 3 * 37 Diodor XXI 2; Appian XI 53 f * 38 Diodor XVIII 36; Nepos, Eumenes 5,1 * 39 Diodor XIX 11 * 40 Diodor XIX 52,5; Athenaios 155 A. Vermutlich im „Philippsgrab" zu Vergina; s.o. IX 2 c! * 41 Diodor XIX 105,1

298

X. Die hellenistischen Monarchien

mußten Alexander IV und seine Mutter Roxane sterben, weil Kassander in eigenem Namen regieren wollte 42 . Es folgt eine königlose Zeit, bis sich im „Jahr der Könige" 4 3 307/306 ein General nach dem anderen - meist nach einem Sieg - zum König erhob. Als erste taten dies Antigonos Monophthalmos (der Einäugige) 44 und sein Sohn Demetrios in Syrien, ihnen folgten Ptolemaios in Ägypten 45 , Seleukos in Babylonien, Lysimachos in Thrakien, Kassander in Makedonien 46 und Agathokles in Syrakus 47 . 301 scheiterte der letzte Versuch, die Reichseinheit zu retten, in der Schlacht bei Ipsos durch die Niederlage des Antigonos 48 . Das Ergebnis dieser Kämpfe war die Herausbildung selbständiger Reiche unter den „Diadochen" (Nachfolgern) Alexanders. Die drei wichtigsten waren Makedonien, Syrien und Ägypten. 3c. Makedonien 49 , das seit 283 unter den Nachkommen des Antigonos Monophthalmos stand, behauptete die Hegemonie über Griechenland, zeitweilig auch über die Inselwelt. Athen unterlag 322 im lamischen Krieg 50 , der bei Amorgos auch die Seeherrschaft beendete, und abermals 261 im chremonideischen Krieg gegen Makedonien. Die letzte Erhebung von Sparta wurde 222 bei Sellasia niedergeworfen 51 . Die Unterstützung durch die Ptolemäer reichte nicht hin, um den Poleis in Hellas ihre Unabhängigkeit von den Makedonen zu sichern, die in Korinth, Demetrias und Chalkis Festungen besetzt hielten 52 . Trotz seiner geringen Fläche war Makedonien wegen der Stärke seiner Heere eine Großmacht. Die inneren Verhältnisse blieben vergleichsweise traditionell. 3d. Das Seleukidenreich entstand, nachdem in der Schlacht bei Ipsos 301 Antigonos Monophthalmos gefallen war. Seleukos Nikator, der Satrap Babyloniens, baute um 300 eine neue Hauptstadt Seleukia bei Babylon 53 , doch verlagerte sich der Schwerpunkt des Reiches bald wieder näher ans Mittelmeer, nach Syrien, wo Seleukos 293 v. Chr. als Residenz die Stadt Antiocheia gründete 54 . Sein Reich war der größte, aber uneinheitlichste der Diadochenstaaten, ein Flickteppich. Zentrum war die Tetrapolis mit Antiocheia, Seleukeia, Laodikeia und Apameia. Die Außenbezirke waren immer prekär. In Kleinasien machten sich die Könige von Pontos, Bithynien und Pergamon 55 selbständig. Persien und das südliche Mesopotamien wurden um 250 von dem persischen Reitervolk der Parther in Besitz genommen, während die Seleukiden mit den Ptolemäern stritten 56 . 3e. Damit verloren die gräko-baktrischen Satrapien in Afghanistan und im Pandschab die Verbindung zum Westen 57 . Sie machten sich selbständig und entfalteten - namentlich unter Eukratides 58 - eine beträchtliche Ausstrahlung nach Mittelasien (Turfan) und Indien. Unter seinem Nachfolger Menandros Soter (155-130 v. Chr.) erreichte die griechischindische Macht - bezeugt durch die Stadtgrabung Ai-Khanum am Oxus 59 - ihren Höhepunkt. Menanders Münzen zeigen das Rad Buddhas 60 , die indischen Quellen nennen

* 42 Diodor XIX 52,4; 105,2 * 43 Droysen 1878, S. 139 * 44 Briant 1973 * 45 Diodor X X 53,2; Appian XI 54; Pausanias I 6,3 * 46 Plutarch, Demetr. 18 * 47 Diodor X X 54,1 * 48 Plutarch, Demetr. 28f; 33; Appian XI 55; Diodor XXI 1,1 f; 4b * 49 Errington 1986 * 50 Diodor XVIII 9 f f * 51 Plutarch, Ar. 46; ders., Kleom. 23 f; IG. XI 4,1097 * 52 Zonaras IX 16 * 53 Plinius, Nat. hist. VI 122 * 54 Eusebios, Chron. zu 304-301 v.Chr.; AT. 1. Makkabäer 3,37; 6,63; Malalas VII 252 ff * 55 zuerst erwähnt: Xenophon, Anab. VII 8,8; ders., Hell. III 1,6 * 56 Appian XI 65 * 57 Altheim + Rehork 1969 * 58 Strabon XV 1,3 * 59 C. Rapin, Greeks in Afghanistan: Ai Khanum, in: J. P. Descoeudres (ed.), Greek Colonists and Native Populations, 1990, S. 329ff * 60 A. N. Lahiri, Corpus of Indo-Greek Coins, 1965, plate XXVI 7

3. Großmächte

299

ihn Milinda 61 . Als er starb, wollte jede Stadt seine Asche, darum wurde sie aufgeteilt 62 . Die künstlerische Gestalt der Buddha-Statue entstammt griechischen Vorbildern der griechisch-indischen Gandhara-Kultur, der Maurya-König Ashoka von Pataliputra (gest. 231) warb mit 14 aramäisch-griechischen Felsenedikten für den Buddhismus 63 . Das östlichste ist 1958 bei Kabul - ebenfalls eine Alexander-Gründung - gefunden worden 64 . Um 130 verloren die Griechen im Osten ihre Selbständigkeit, nachdem sie zuvor schon Buddhisten geworden waren. Aus der Zeit um 100 v. Chr. stammt die Stele von Besnagar, die bezeugt, daß der Grieche Heliodoros den Vishnu verehrte 65 . 3f. Das reichste unter den großen hellenistischen Königreichen war Ägypten, wo Alexanders Leibwächter Ptolemaios und dessen Nachkommen Könige waren 66 . Nach dem Vater des Ptolemaios, Lagos, heißen die Ptolemäer auch Lagiden. Das ptolemäische Ägypten ist wegen der Papyrusfunde historisch am genauesten erforscht, bildet das geschlossenste System und gilt als hellenistischer Musterstaat 67 . 3g. Das außenpolitische Verhältnis der hellenistischen Staaten untereinander wird mit dem Begriff der Gleichgewichtspolitik 68 beschrieben. Sie ist jedoch nur als Resultat, nicht als Absicht erkennbar. Das Ziel jeder der drei Großmächte war die Hegemonie, die militärische, wirtschaftliche und politische Vorrangstellung 69 . Fast jeder König wollte ein neuer Alexander sein70. Antiochos III erhielt für seinen Zug in die oberen Satrapien ebenfalls den Beinamen des Großen 71 . Umkämpft waren dabei vor allem zwei Streiträume. Makedonen und Ptolemäer bemühten sich um Einfluß in Hellas und auf den Ägäis-Inseln, wobei die Makedonen wirkungsvoll mit Besatzungen (Korinth 302-243; Athen 322-307; 261 -229) arbeiteten, die Ptolemäer sich weniger erfolgreich auf Subventionen und Diplomatie beschränkten. Um dem Gegner die Herrschaft über die Städte zu erschweren, wurden immer wieder Freiheitsdekrete verkündet 72 . Seleukiden und Ptolemäer stritten sich um die kleinasiatische Südküste 73 , Cypern 74 , Palästina 75 und Koilesyrien 76 . 3h. Trotz der zahlreichen Kriege wurden die gegnerischen Zentralgebiete mit den Hauptstädten geschont, die Eigenstaatlichkeit auch außenpolitisch respektiert. Innenpolitische Eingriffe in den Nachbarstaat unterblieben. Höchstens wurde einmal ein genehmer Thronfolger aufgezwungen, der aber mindestens über einen Elternteil aus dem angestammten Geschlecht kam. Aufstände im Nachbarstaat boten die Gelegenheit, diesem Randgebiete abzunehmen. 3i. Die hegemonialen Bestrebungen haben nie zu dauernden Erfolgen geführt, weil sich gegen den Angreifer die übrigen Staaten jeweils zusammenschlössen. Die Bündnisse wechselten rasch. Seit 250 ungefähr gelang es mehreren Kleinstaaten, durch geschicktes Paktieren zwischen den drei Großmächten an Bedeutung zu gewinnen. Insbesondere

* 61 Dazu das Paliwerk »Die Fragen des Milinda« (Milinda-panha, übersetzt von F. O. Schräder, 1907) an den buddhistischen Mönch Nagasena; T. W. Rhys Davids, The Questions of King Milinda, 1894 * 62 Plutarch, Mor. 821 E * 63 Glasenapp 1974, S.326f; U. Schneider, Die großen Felsenedikte Aschokas, 1978 * 64 Pfohl Nr. 111 * 65 Tarn 1951, S.313; 380f; 391; 406 * 66 Diodor XVIII 3,1 ;14,1 * 67 Zur Geographie: TAVO 3 - 4 * 68 Rostovtzeff 1941/55, S. 142 * 69 Polybios V 102,1 * 70 Zonaras IX 22; 24 * 71 Appian XI 1,1 * 72 Im Jahre 319: Diodor XVIII 55,2; im Jahre 315: Diodor XIX 61,3f; 62,1; im Jahre 311: Diodor XIX 105,1; im Jahre 304: Diodor XX 100,6; 102f * 73 Appian XI 1 f * 74 Eusebios, Chron. zu 310 * 75 Flavius Josephus, Ant. XII 3,3 * 76 Polybios V 67; 79ff; Appian XI l f ; Flavius Josephus, Ant. XII 3,3

300

X. Die hellenistischen Monarchien

Rhodos, zeitweilig die größte Seemacht 77 , Bithynien, Pergamon und die koina waren an der Erhaltung des Gleichgewichts interessiert, wie wir aus der regen diplomatischen Tätigkeit ersehen 78 . Zu den Kennzeichen der Zeit gehört, daß immer wieder unbeteiligte Staaten zwischen Kriegführenden einen Frieden zu vermitteln suchten 79 .

4. Königtum 4a. Das Königtum aller Diadochenreiche wurzelt einerseits in der Alexandernachfolge (idiadoche), andererseits in der Akklamation der jeweiligen Heere. Aus dieser Entstehung erklären sich mancherlei Eigentümlichkeiten der hellenistischen Monarchien. Zunächst die Tatsache, daß die Staaten nicht unabhängig von ihrer Regierungsform existierten. Die Könige waren nicht Könige „von" Syrien oder Ägypten, sondern Könige „in" Syrien und Ägypten. Das Königtum ist kein staatliches Amt, sondern, wie schon bei Homer, eine

* 77 Diodor XXXI 38 * 78 F. Adcock + D. J. Mosley, Diplomacy in Ancient Greece, 1975, S. 99ff; L. Mooren, in: E. Olshausen (Hg.), Antike Diplomatie, 1979, S. 256ff * 79 Diodor XX 99,3 zum Jahre 304; Livius XXVII 30 zum Jahre 208

4. Königtum

301

persönliche Würde. Der Staat war begrifflich gegen das Königtum nicht abgegrenzt. Im Hinblick auf den Staat sprach der Monarch von „seinen Angelegenheiten" 80 . Eine Ausnahme bildete nur das frühe Makedonien. Der König war hier König der Makedonen, und ein besonders rechtlich gesinnter König nannte das Volk neben sich und schrieb: „König Antigonos (Doson) und die Makedonen" 8 1 . 4b. D a die hellenistischen Könige Völker unterschiedlicher Rechtstradition regierten, beanspruchten sie unumschränkte Gewalt. Das gemeinsame Gesetz war der Wille des Königs 82 . Wir haben somit einen Absolutismus vor uns. Der stoische Makedonenkönig Antigonos G o n a t a s (gest. 239) bezeichnete das Königtum als endoxos douleia, einen ruhmvollen Dienst 83 - danach nannte sich der Stoiker Friedrich d. Gr. den premier serviteur de l'État. Theodor Mommsen 8 4 schrieb: „So darf die Monarchie der Lagiden zusammengestellt werden mit der fridericianischen, von der sie in den Grundzügen sich nicht entfernte." 4c. Die Armee betrachtete die Könige als Heerkönige, denen gegenüber noch gewisse Rechte der Heeresversammlung galten 85 ; die Orientalen sahen in ihnen Nachfolger der einheimischen Könige. Seleukos war seit 312 König von Babylon, die Ptolemäer waren zugleich Pharaonen. Theoretisch galt das gesamte eroberte Land als Besitz des Königs. Die Untrennbarkeit von Souverän und Person verwischte die Unterschiede zwischen Staatshoheit und Privatbesitz des Königs. Dies hatte zur Folge, daß ein hellenistischer König testamentarisch sein Reich einer fremden Macht übereignen konnte 86 . 4d. Thronfolger war in der Regel der älteste Sohn 87 . U m das zu sichern, haben einzelne Könige ihre Söhne schon zu Lebzeiten als Mitherrscher eingesetzt 88 oder gar zu deren Gunsten abgedankt. Nicht selten wurden auch thronberechtigte Verwandte vorsorglich umgebracht 8 9 . F ü r die Pharaonenkrönung von Ptolemaios V im Jahre 197 liefert der Stein von Rosette mancherlei Einzelheiten. Er berichtet, daß sich die ägyptischen Priester zur K r ö n u n g nach ägyptischem Ritus in Memphis versammelt und für den neuen Herrscher Ehrenstatuen in allen Tempeln beschlossen hätten, weil er einen Steuernachlaß und eine Amnestie verkündet habe, weil er den Tempeln ihre Rechte bestätige, die Weihegebühren für die Priester nicht erhöhe, auf bestimmte Abgaben von Weizen, Wein und Leinen verzichte und sich an den Begräbniskosten für die heiligen Tiere beteilige 90 . Die Nekropole der Apis-Stiere in Sakkara bei Memphis wurde erst in ptolemäischer Zeit vollendet. 4e. Wie in den meisten vorindustriellen Königreichen begründeten Eheverbindungen unter Fürsten Hoheitsansprüche auf fremde Territorien 91 . D a r u m hielten alle Diadochen um die Hand von Alexanders verwitweter Schwester Kleopatra an 92 . G e m ä ß Makedonischem Brauch nahmen die Könige zumeist nur eine Gemahlin 9 3 . Sie wurde im Zuge einer ausgefeilten Heiratspolitik 94 aus anderen hellenistischen Königshäusern oder auch aus nichtgriechischem Adel gewählt 95 . Zuweilen kam eine Wahl aus der griechischen Bürger-

* 80 pragmata, Polybios V 41, * 81 IG. XI 4,1097 aus Delos * 82 Appian XI 61 * 83 Aelian, Var. hist. II 20 * 84 Mommsen RG. V, S.559 * 85 s.u. 5 b! * 86 s.u. 9 c! * 87 AT. 1. Makkabäer l , 8 f * 88 Diodor X X X I 19,6; Appian XI 54; 59; O G I S . 9 0 * 89 Plutarch, Demetr. 3; Polybios V 34,1 * 90 s.o. 2d! * 91 Appian III 11,1; Diodor XIX 52,1 * 92 Diodor X X 37,4 * 93 Anders Seleukos Nikator: Plutarch, Demetrios 31,3; Mithridates VI von Pontos: Appian XII 107; Plutarch, Pompeius 36 * 94 Appian XI 5; 55; 65; Polybios XVI 18ff; Livius X X X V 13,4; Strabon XII 4,7; J. Seibert, Historische Beiträge zu den dynastischen Verbindungen in hellenistischer Zeit, 1967 * 95 Lysimachos heiratete eine Odrysin: Pausanias I 10,5; Seleukos die Perserin Apamea: Arrian VII 4,6; Plutarch, Demetrios 31,3

302

X. Die hellenistischen Monarchien

Schaft vor96. So entstand die „Familie der Könige". Bei den Ptolemäern setzte sich die pharaonische bzw. persische Sitte der Geschwisterheirat durch. Daß dies zur Degeneration des Königshauses97 geführt hätte, wird behauptet, aber exogame Dynastien sind genauso schnell degeneriert. Mehrehe blieb die Ausnahme98. 4f. Der König regierte mit Hilfe von schriftlichen Erlassen, die als „Brief (epistole) oder als „Verordnung" (prostagma) formuliert waren. Dafür hatte er einen epistoliagraphos". Seine Berater bildeten ein synhedrionm oder consiliumm, sie gehörten zum Kreise seiner „Freunde" (philoi102) und „Verwandten" (syngeneis, propinquim), gestaffelt nach Hofrangtiteln. Sie trugen Purpur 104 . Staatsrat, Kanzlei105, Leibwächter (sömatophylakes) und Pagen (basilikoi paidesm) bildeten den Hofstaat (aule)101. Eine bisweilen zweifelhafte Rolle spielten die Eunuchen in den hohen Hofämtern Alexandrias108. Eunuchen wurden nach persischem Vorbild als Schatzmeister eingestellt109. Über die Verordnungen wurde ein Amtsjournal geführt. Der wichtigste Mann neben dem König trug den Titel ho epi tön pragmatön110 oder dioiketes. Dieser „Hausverwalter" war der erste Helfer des Königs in Finanz- und Wirtschaftsfragen, praktisch Leiter der gesamten Verwaltung - außer dem Heer und der Außenpolitik111. 4g. Die monarchische Repräsentation blieb vom makedonischen Erbe bestimmt, d.h. einfach. Der König erhielt bei seiner, von Opfern begleiteten Ausrufung (anakleteria112) eine weiße Binde um den Kopf (Diadem113), trug einen Purpurmantel 114 , einen goldenen Brustpanzer115 und ein Szepter116. Sein Wagen war besonders prächtig117. Der (leere) Thron galt als Sinnbild der Königsherrschaft 118 . Die Führung eines königlichen Siegels119 entsprach altorientalischem Brauch. Die Seleukiden siegelten mit dem Bilde eines Ankers120. Es gab keine besonderen Umgangsformen und keine besondere Anrede für den König. Was von Palästen (ta basileia, he aulem) bekannt ist, unterscheidet sich (anders als in Persepolis und Babylon) nur durch Umfang und Ausstattung von reichen Privathäusern. Des Königs Geburtstag wurde bisweilen sogar monatlich gefeiert122, bei seinem Tode herrschte Staatstrauer. Nach persischem Vorbild zeigten die Münzen das Bild des Monarchen, nach orientalischer Sitte wurden die Regierungsjahre zur Datierung benutzt123. An den Höfen trug man die makedonische Tracht. 4h. Die charismatische Legitimation der hellenistischen Monarchen lieferten Vorzeichen, Orakel und Träume124. Wichtiger war die Herrscherverehrung in der Nachfolge Alexanders125. Schon Philipp war von den griechischen Städten als Retter (söter) * 96 Livius XXXVI 11; Athenaios 439 EF; Plutarch, Pompeius 36 * 97 Strabon XVII 1,11 * 98 Plutarch, Demetr. 14; Appian XI 65 * 99 Athenaios 195 B * 100 Polybios V 41,6; Diodor XXVIII 2; Fl a vi us Josephus, Ant. XII 5,5 * 101 Livius LIV 26,12 * 102 Diodor XXXI 2,1; AT. 1. Makkabäer 2,18; 3,38; Flavius Josephus, Ant. XII 7,3; Athenaios 195 B * 103 Livius XXX 42,6 * 104 I.e. * 105 Polybios IV 87,8 * 106 Athenaios 195 B * 107 Polybios V 34,4 * 108 Diodor XXX 15; 18; Plutarch, Pomp. 77; Plutarch, Demetr. 25; Dio XLII 36,1; 39,1 * 109 Plutarch, Demetr. 25 * 110 Polybios V 41,2 * 111 „Wirtschaftsdirektor": Rostovtzeff 1941/55, S. 197 * 112 Polybios XVIII 55,3; XXVIII 12,8 * 113 Polybios XV 25,5; 26,5 f; Valerius Maximus VII ext. 5; AT. 1. Makkabäer 6,14; 8,14; Appian XI 56; 64 * 114 AT. 1. Makkabäer 8,14 * 115 Historia Augusta, Max. 29,8 * 116 Dio LI 6,5 * 117 I.e. * 118 Athenaios 202 B; Plutarch, Alex. 73 * 119 AT. 1. Makkabäer 6,14 * 120 Justin XV 4,5 f; Appian XI 56 * 121 Polybios XV 31,2 f; Strabon XVII 1,8 * 122 Dittenberger Nr. 463; OGIS Nr. 56; 222 * 123 W. Leschhorn, Antike Ären, 1993 * 124 Appian XI 56; Diodor XIX 55,7f; 90,4 * 125 Taeger 1957, S. 234ff; Dvornik 1966, S. 205 ff

4. Königtum

303

gefeiert worden 126 . Ihre Bereitschaft, einflußreichen Männern kultische Ehren zu bezeugen 127 , dokumentiert sich am deutlichsten am Empfang der Athener für Demetrios Poliorketes, nachdem dieser 307 Athen von den Makedonen befreit hatte 128 . Außer den zahlreichen Ehrenbezeugungen säkularer und religiöser Natur, spricht der Hymnus an Demetrios für sich: „Freue dich, Sohn des mächtigen Gottes Poseidon (Anspielung auf seine Flotte) und der Aphrodite (Schmeichelei gegenüber seiner Schönheit). Denn die anderen Götter (d.h. die eigentlichen Götter) sind weit entfernt oder sie existieren überhaupt nicht, oder kümmern sich nicht im geringsten um uns. Dich aber sehen wir gegenwärtig, nicht aus Holz oder Stein (wie die Kultbilder in den Tempeln) sondern wirklich" 129 . 4i. Zu diesem spontanen Kult seitens der Städte kam der von den Herrschern verordnete. Er begann mit jenem Dekret, das Alexander nach seiner Rückkehr aus Indien 324 nach Griechenland sandte und das seine eigene Vergöttlichung befahl 130 . Die Diadochen übernahmen den Alexander-Kult. Ptolemaios II hat die Leiche Alexanders, die sein Vater nach Memphis gebracht hatte 131 , in Alexandria, in dem Sema genannten Bauwerk 132 beigesetzt und ihm einen Kult eingerichtet 133 . Es entstand die Legende, daß die Ptolemäer ebenfalls von Herakles abstammten 1 3 4 , während die Seleukiden Apoll zum Ahnherrn erkoren 135 . 4j. In Makedonien, wo zwar auch ein fortschreitender Absolutismus zu beobachten ist, hat eine kultische Verehrung für die Monarchen indessen nie stattgefunden. Im Seleukidenreich und im Ptolemäerreich wurde der Königskult jeweils in der zweiten Herrschergeneration eingeführt. Antiochos I baute seinem Vater Seleukos (gest. 280) einen Tempel 136 , Ptolemaios II hat zunächst die Verehrung seines toten Vaters, sodann die seiner verstorbenen Schwester und seiner selbst angeordnet, mit Tempeln und Kultbildern, Priestern, Festen und Opfern. Dazu kam der Schwur beim D ä m o n , d.h. beim Genius des Königs, dem damit eine rächende Funktion zuerkannt wurde. Der hellenistische Herrscherkult war straff organisiert. Die einzelnen Strategien (Gaue) hatten ihren Oberpriester (archiereus), der in manchen Fällen mit dem Strategen personengleich war. Die Seleukiden haben nach dem Königspriester datiert. Besondere Aufmerksamkeit wurde den militärischen Jugendorganisationen 1 3 7 gewidmet (den neoi), um die Loyalität des Nachwuchses zu sichern. Zu Ehren der königlichen Stifter wurden nach dem Vorbild der Olympischen Spiele in Alexandria, Antiochia, Pergamon und anderen Metropolen regelmäßige Festspiele eingerichtet. Sie wurden mit großem Gepränge vor einem Publikum aus aller Welt begangen. Die Schauspieler bildeten eine internationale Gilde dionysischer Techniten, die von allen Seiten Spenden und Vorrechte erhielt und in diplomatischen Formen mit den Herrschern verkehrte 138 . 4k. Im Zusammenhang mit dem Herrscherkult stehen die Herrschernamen und Ehrentitel der hellenistischen Könige. Alexanders Halbbruder Arrhidaios nannte sich nach 323 „Philippos". Dies knüpft an die orientalische Sitte an, dem König mit dem Herrschafts* 126 Demosthenes XVIII 43 * 127 Göttliche Ehren für Antigonos: OGIS. N r . 6 von 311 v.Chr. * 128 Plutarch, Demetr. lOff * 129 Athenaios 253 * 130 Aelian, Var. hist. II 19 * 131 Pausanias I 6f; Diodor XVIII 26ff. * 132 Zenobios, proverbia III 94 = Paroemiographi Graeci I S. 81 * 133 Strabon XVII 1,8; Pseudo-Callisthenes III 34 * 134 Curtius Rufus IX 8,22; Pausanias I 6,2 u. 8 * 135 Justin XV 4,3 * 136 Appian XI 63 * 137 C. A. Forbes, Neoi, 1933 * 138 Tarn 1966, S. 134f

304

X. Die hellenistischen Monarchien

antritt einen Thronnamen zu verleihen 139 , der durch seine Aussage oder durch Assoziationen den König erhöhen soll. Schon in der älteren griechischen Tyrannis gibt es Beispiele, wenn etwa Gelon als söter oder euergetes bezeichnet wird 140 . Diese Beinamen kommen aus dem Kultischen: neos Dionysos (der neue Dionysos), theos (der Gott), epiphanes (der auf Erden erschienene Gott); oder aus dem politisch-militärischen Bereich: söter (Retter, Heiland), euergetes (Wohltäter), nikatör (Sieger). Andere Beinamen appellieren an das dynastische Empfinden, indem sie das harmonische Familienleben der Könige betonen: eupatör (der gute Vater), philopatör (der seinen Vater liebt), philometör (der seine Mutter liebt), philadelphos (der seine Geschwister liebt). Andere wieder, zumal der Spätzeit, verkünden die Sympathie gegenüber Mächten, auf die Rücksicht zu nehmen war: philhellen (der Griechenfreund), philorhömaios (der Römerfreund). Schließlich hat der Volkswitz Spitznamen erdacht: auletes (der Flötenspieler), tryphön (der Schlemmer), physkön (der Schmerbauch). 41. Das Ideal des Königtums ist im Hellenismus vielfach literarisch behandelt worden 141 . Der König wird auf das Beispiel von Zeus und Herakles verwiesen; Menschenliebe und Gerechtigkeit, Vernunft und Frömmigkeit erscheinen als die eigentlichen Herrschertugenden, der König wird als Hirte des Volkes, als Sonne seines Landes, als Seele des Staatskörpers 1 4 2 und als lebendes Gesetz (nomos empsychos) gefeiert 143 . 4m. Das hellenistische Königtum hatte Vorbildwirkung f ü r die jüngere griechische Tyrannis (Hieron II von Syrakus, Areus und Nabis in Sparta), für die karthagischen Herren von Spanien (Hasdrubal), für die Sklavenkönige in Sizilien (Eunus „Antiochos") und Pergamon (Aristonikos) und insbesondere für das römische Kaisertum. Dessen innere Geschichte bis hin zu Diocletian läßt sich geradezu als eine stufenweise Angleichung an hellenistische Herrschaftsformen beschreiben.

5. Verwaltung 5a. Die wichtigste Grundlage der hellenistischen Monarchie war das Heer. Es bestand aus einer makedonischen Garde (agema) von Hopliten und Reitern, einer mehr oder weniger griechisch-makedonischen Phalanx und einer wachsenden Anzahl von Söldnern, die einzeln oder in G r u p p e n angeworben wurden 144 und in der Spätzeit revoltierten 145 . Das Ptolemäerreich besaß 200000 Fußkämpfer, 40000 Reiter, 300 Kriegselefanten und 2000 Streitwagen, dazu 1500 große und 2000 kleine Kriegsschiffe 146 . Auch Kamele und Panzerreiter (kataphraktoi) wurden eingesetzt 147 . Seleukos hielt 500 indische Elefanten in Apameia 1 4 8 . Eine neuartige Rolle spielten die Kriegsmaschinen' 4 9 zu Land wie zur See 150 . Ein Teil der Armee war stets mobil, er bildete ein stehendes Heer 151 ; der größere Rest war, jedenfalls im Frieden, aufgesiedelt, bei den Seleukiden in Städten, bei den Ptolemäern in * 139 AT. 1. Makkabäer 6,17; s.o. IV 4f! * 140 Diodor XI 26,6 * 141 Demandt 1993, S. 139 * 142 A. Demandt, Metaphern für Geschichte 1978, S. 496f * 143 Aristeas-Brief 187ff; Stobaios IV 7,61 ff * 144 AT. 1. Makkabäer 4,35; Livius XXXI 43,5f; Polybios V 79; XV 25,16 * 145 Diodor XXXIII 20 zu 140 v.Chr. * 146 Appian, praef. 10; Mitteis + Wilcken I 1, S. 381 ff * 147 Polybios V 79ff; Zonaras IX 20; AT. 1. Makkabäer 6,37; Flavius Josephus, Ant. XII 3,3; Appian XI 32f; Diodor III 36 * 148 Strabon XVI 2,10; Livius XXXV 32,4 * 149 Appian XI 16; Athenaios 206 D; s.u. 7 i! * 150 Appian XI 24ff * 151 Strabon XVI 2,10

5. Verwaltung

305

Dörfern. Mit dem System der Militärsiedler erreichten die Könige zwei Zwecke: sie sparten Sold, der ganz oder überwiegend mit dem Landlos abgegolten war, und sie gewannen Steuer zahlende Landarbeiter. Durch die Erblichkeit des Landloses konnten überdies die Soldatensöhne zum Kriegsdienst verpflichtet werden. Diesen Militärsiedlern (katoikoi kleruchoi) dürfte die Hauptmasse aller griechischen Einwanderer zuzurechnen sein. Die Soldaten bauten die neugegründeten Städte selbst 152 . Der Oberbefehlshaber trug den Titel chiliarchos- „Tausendschaftsführer". Er war neben dem dioiketes der zweite Mann im Reich 153 . 5b. Bei den alten Makedonen besaß die Heeresversammlung als ekklesia pandemos154 politische Rechte 155 , und Spuren davon haben sich im Hellenismus erhalten 156 . Wir finden im wesentlichen vier Funktionen: erstens die Ausrufung 1 5 7 oder Bestätigung des neuen Königs 158 und seiner Frau 159 , zweitens die Bestellung von Vormündern unmündiger Könige 160 und Feststellung ihrer Volljährigkeit 161 , drittens die Anerkennung königlicher Testamente 162 und viertens die Aburteilung von politischen Gegnern und Staatsverbrechern 163 : Ptolemaios gegen Eumenes 164 , Kassander gegen Olympias 165 , Antigonos gegen Kassander 166 . Später haben jedoch nur die Garnisonen der Hauptstädte Politik machen können. In Alexandria ist es schließlich zu einer regelrechten „Prätorianerherrschaft" gekommen 167 . Als ekklesia versammelte sich das Volk bisweilen in Staatsangelegenheiten im Stadion 168 . 5c. Die zweite Säule, auf der die hellenistischen Monarchien ruhten, war der Beamtenapparat, eine straff zentralisierte Verwaltung. Sie leitet sich nicht aus der griechischen Polis her, die ja keine Lebenszeitbeamten kannte, sondern einerseits aus der orientalischen Tradition des achaimenidischen bzw. pharaonischen Reiches und andererseits aus der griechischen Privatwirtschaft, der Gutsverwaltung. Die hellenistischen Amtsträger waren Berufsbeamte. Sie wurden vom König eingesetzt, besoldet, befördert und entlassen. Die Versetzung war schwierig, da der Beamte auch Land als Entschädigung erhielt. Die Beamten konnten durch Anklage beim Strategen oder beim König zur Rechenschaft gezogen werden. Ihre Ausbildung empfingen sie innerhalb ihrer Laufbahn. Da eine Weisungsbefugnis von den höheren gegenüber den niederen Beamten bestand, können wir von einer Beamtenhierarchie sprechen, von einer Bürokratie. An der Spitze standen der dioiketesm und der chiliarchno. Im Laufe der Zeit trennte sich die militärische von der zivilen Verwaltung, und die zivile drängte die militärische zurück. Alle höheren Beamten waren Griechen. 5d. Die Territorialstruktur der hellenistischen Staaten ist durch die Tradition des Alexanderreiches geprägt. Die größte Fläche umfaßte das Königsland, das von Strategen und Satrapen regiert wurde 171 . Alexander hatte den einheimischen Satrapen die militärische Befugnis entzogen und auf makedonische Strategen übertragen. Diese gewannen an

* 152 Appian XI 58 * 153 Diodor XVIII 37,7; 48,4f; Rostovtzeff 1941/55, S. 3: „Groß-Wesir" * 154 Plutarch, Demetr. 38; Diodor XVIII 39,4 * 155 Briant 1973, S. 279ff * 156 Diodor XIX 61 * 157 Plutarch, Demetr. 18,1 * 158 Appian XI 61 * 159 Kern der von Goethe (Wilhelm Meister I Kap. 17) zitierten Stratonike-Legende: Plutarch, Demetrios 38; Appian XI 59ff; Lukian, De dea Syria 17f * 160 Diodor XVIII 36, 6f * 161 Polybios XV 25ff * 162 Diodor XVIII 4,3 * 163 Curtius VI 8,25 * 164 Diodor XVIII 37,2 * 165 Diodor XIX 51; Justin XIV 6,6 * 166 Diodor XIX 61 * 167 Strabon XVII 1,12; Diodor XXXIII 22 * 168 Diodor XXX 16; XXXI 15a * 169 s.o. 4f! * 170 s.o. 5a! * 171 Appian XI 45; 62

306

X. Die hellenistischen Monarchien

Bedeutung und übernahmen schließlich die gesamte Verwaltungsarbeit ihrer Gaue (nomoi). In Ägypten wurde die Gaustrategie durch Ptolemaios III (246-221) in die bleibende F o r m gebracht. Der Stratege verlor seinen militärischen Charakter, er beaufsichtigte das Siedlerland und war höchster Richter im Gau. Ihm unterstand ein königlicher Schreiber (basilikos grammateus). Untereinheiten der Gaue waren die Bezirke (topoi) unter je einem toparchos und Dörfer (kömai) unter gewählten Bürgermeistern. Vom Königsland konnte der König Stücke als Lehen oder Eigentum übertragen (ge en aphesei), zumeist vergab er nur die Einkünfte daraus 1 7 2 . Über die Verwaltungs- und Eigentumsgrenzen wurden Kataster geführt 173 . 5e. Einen zweiten Territorialtypus bildeten die Außenbesitzungen, das waren für Ägypten: Kyrene, Syrien, Phönizien, Cypern 174 , rotes und indisches Meer (d.h. deren Küsten), sowie mehrere Hafenstädte in Südkleinasien 175 . Sie unterstanden gleichfalls Strategen, zuweilen mit erweiterten Vollmachten (strategos autokratör). Cypern und Kyrene dienten den Ptolemäern auch als Sekundogenitur 1 7 6 . Daneben finden wir dort einen Flottenkommandanten (nauarchos) und Oberpriester des Herrscherkultes (archiereus). Im Seleukidenreich entsprechen diesem Territorialstatus die ethne, poleis und dynastai, mit denen der König eine ungleiche Symmachie schloß 177 ; es sind sozusagen feudale Enklaven unter örtlichen Dynastien.

6. Städte 6a. Als dritter Typ der territorialen Rechtsordnung sind die Städte und Tempelstaaten zu nennen. Die Städte waren die Zentren des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens. Schon äußerlich bieten sie das Bild einer enormen Prosperität: Säulenstraßen und respektable Privathäuser, Marktplätze und Gymnasien, Tempel, Theater und Palastanlagen bestimmen das Stadtbild. Seit der ionischen Kolonisationsperiode im 8. und 7. Jh. waren nie so viele Städte in so kurzer Zeit entstanden, und der U m f a n g der hellenistischen Residenzstädte mit mehreren Hunderttausenden von Einwohnern war im Okzident überhaupt noch nicht erreicht worden. Sie alle besaßen zahlreiche Kultgemeinden und Fremdenkolonien sowie ein ausgedehntes Vereinswesen, aus der Kleinstadt Troizen kennen wir fürs Jahr 146 deren 23 178 . 6b. Die Welle der Neugründungen 1 7 9 begann mit Philipp und Alexander 180 und wurde fortgesetzt von den Seleukiden 181 . Sie stifteten über 70 Städte, die größte war Seleukia (Opis) am Tigris mit 600.000 Einwohnern 1 8 2 , Antiochia hatte über 120.000 183 . Die Städte erhielten ihren N a m e n zumeist nach den Heimatstädten in Makedonien 1 8 4 und nach den Königen oder ihren Angehörigen. Zehn Städte wurden nach Apama, der persischen Gattin von Seleukos benannt. Jedem Neubürger wurde Bau-, Garten- und Ackerland zunächst * 172 Funck 1978 * 173 Mitteis + Wilcken I 1, S. 176 ff * 174 Symmachie des ersten Ptolemäers mit den cyprischen Stadtkönigen: Diodor XIX 59,1 * 175 Polybios V 34 * 176 Diodor XXXI 33 * 177 Diodor XIX 57,3 * 178 Tarn 1966, S. 110; zu Ägypten: Brashear 1993 * 179 Tscherikower 1927; Habicht 1970 * 180 s.o. IX 8 e! * 181 Appian XI 57; Malalas VIII 252-261; Eusebios, Chron. zu 304ff; G. Downey, A History of Antioch in Syria, 1961 ; Grainger, Cities 1990 * 182 Strabon XVI 1,5; Plinius, Nat. hist. VI 30/122 * 183 AT. 1. Makk. 11,45 * 184 Appian XI 57: Beroia in Makedonien und in Syrien, wie Berlin in Brandenburg und in Maryland

6. Städte

307

steuerfrei „verliehen", starb er ohne Erben, fiel sein kleros an den König zurück. Die neue Stadt war mit Markt und Mauern, mit Tempeln und Theatern, mit Gymnasium und Bädern ausgestattet. Auf der jeweiligen Akropolis residierten der königliche Statthalter (iepistates), eine Selbstverwaltung war nicht vorgesehen 185 . Diese Städtepolitik diente der militärischen Sicherung und der wirtschaftlichen Erschließung. 6c. Die bedeutendste Stadt des Hellenismus war Alexandria, die goldene Stadt 186 , der Schlüssel zu Ägypten 187 . Es lag „bei" (pros), nicht „in" Ägypten 188 . In dieser größten Hafenstadt der Alten Welt lebten unter Kleopatra 300.000freie Bürger 189 . Die Palastanlagen füllten ein Drittel der Stadt 190 . Berühmt war der Leuchtturm Pharos 191 . Die Ptolemäer haben nur noch die Griechenstadt Ptolemais 192 gebaut. In Alexandria waren die Nichtgriechen, so die Juden 193 , in eigenen Gemeinden, politeumata, zusammengefaßt, sie sind größtenteils in die griechischen Lebensformen hineingewachsen. In den Städtegründungen wirkt die hellenistische Monarchie am deutlichsten weiter. Zahlreiche ihrer Städte florieren * 185 Orth 1977 * 186 Athenaios 20 B * 187 Sueton, Vesp. 7; Stadtbeschreibungen liefern der Aristeas-Brief lOOff; Herondas I 26ff (Deutsch bei Arend Nr. 3110; Strabon XVII 1,6ff; Diodor XVII 52 und Achilles Tatius V i f * 188 Strabon I 3,17 * 189 Diodor XVII 52,6; Strabon XVII 1,6ff * 190 Strabon XVII 1,8 * 191 Strabon XVII 1,6; Flavius Josephus, Bell. Jud. IV 10,5 * 192 Plinius, Nat. hist. VI 34 * 193 Flavius Josephus, Bell. Jud. II 18, 7; VII 10,1

308

X. Die hellenistischen Monarchien

heute noch: In Griechenland Thessalonike, in der Türkei Antakia (Antiocheia), in Syrien Latakia (Laodikeia), in Jordanien Amman (Philadelphia), in Ägypten Alexandria usw. Bis in den Anfang unseres Jahrhunderts haben sich fast überall griechische Gemeinden gehalten. 6d. Alexandria war eine politische, wirtschaftliche und geistige Metropole. Das im Palastbezirk Beta gelegene194 Museion195 mit seinem Vortragsraum, seiner Wandelhalle, seinem Speisesaal und seinen 700.000 Büchern196 wurde Kunst- und Kulturzentrum. Ptolemaios II hatte die Schriften der Griechen, Chaldäer, Ägypter und Römer sammeln und übersetzen lassen197, ebenso die Septuaginta-Bibel198. Er erwarb die Bücherei des Aristoteles und kaufte namentlich in Athen und Rhodos 199 . Kallimachos erstellte den ersten Bibliothekskatalog200. Das weckte den Ehrgeiz der Könige von Pergamon. Auch sie vermehrten ihre Bücher. Ein Ausfuhrverbot von Papyrus (chartae) durch Ptolemaios II soll zur Erfindung des „Pergaments" geführt haben201. 200.000 Rollen der pergamenischen Bibliothek hat später Antonius der Kleopatra geschenkt202. Schon Ptolemaios II und noch Kleopatra schätzten den Umgang mit Philosophen203. Die „Philologen" des Museions aßen gemeinsam, hatten eine gemeinsame Kasse und unterstanden einem vom König ernannten Oberpriester204. Man kann insofern von einer Universität reden. Ptolemaios IV stiftete Homer einen Tempel205. Die Mediziner Alexandrias haben als erste Anatomie betrieben206. Eratosthenes berechnete den Erdumfang, nachdem Aristarch von Samos das heliozentrische System entdeckt hatte207. Wissenschaftler, Literaten und Künstler waren beweglich, sie suchten sich ihren Arbeitsort nach Belieben und bildeten eine internationale Schicht. Ein Satiriker spottete über die Gelehrten, die sich im Museion wie Vögel in einem Käfig mästen ließen208, um den König mit ihrem Gezänke zu belustigen. 6e. Der umfangreichen Gründung neuer Städte entspricht die Förderung der Städte im Mutterland. Die Könige wetteiferten um die Gunst Athens, schon die ersten Diadochen haben beträchtliche Spenden nach Athen geschickt209. Seleukos I lieferte die von Xerxes entführte Bibliothek des Peisistratos nach Athen zurück210. Stiftungen211 und Bauten wie Attalos-Stoa und Olympieion in Athen212, Schutzversprechen und Freiheitsdekrete dienten dem Einvernehmen der Könige mit der griechischen Öffentlichkeit, auf deren Unterstützung sie Wert legten. Darüber hinaus nahmen die Städte dem König Verwaltungsarbeit ab. Gerade im Seleukidenreich haben die Könige das Territorium ihrer Städte erweitert und organisiert, denn die seleukidische Stadtverwaltung hat die ptolemäische Perfektion nie erreicht. Für Ägypten ist wahrscheinlich, daß alle Griechen, die nicht direkt in königlichen Diensten standen, in Alexandria Bürgerrecht besaßen. Es gab kein Staatsbürgerrecht.

* 194 Philo, Flacc. 973 A; Strabo XVII 1,8 * 195 Blum 1977,S. 133 ff * 196 Strabo II 1,5; Gellius VI 17,3; Flavius Josephus, Ant. XII 2,1; Plutarch, Caes. 49; E. A. Parsons, The Alexandrian Library, 1952 * 197 Synkellos p. 271 (Bonn); ders., ed. Mosshammer 1984 S. 327 * 198 s.u. 8j! * 199 Athenaios 3 AB * 200 Blum 1977 * 201 Plinius, Nat. hist. XIII 21/70. Leder als Schreibstoff nennt jedoch schon Herodot V 58 * 202 Plutarch, Anton. 58 * 203 Aristeas-Brief 321; Philostratos, Vit. soph. 486 * 204 Strabon XVII 1,8 * 205 Aelian, Var. hist. XIII 22 * 206 Namentlich Erasistratos: H. Haeser, Lehrbuch der Geschichte der Medicin, 1875, I S. 229 ff * 207 Plutarch, Mor. 923 A; S. Sambursky, Das physikalische Weltbild der Antike, 1965 * 208 Athenaios 22 D * 209 Plutarch, Mor. 851 E * 210 Gellius VI 17,1 f * 211 Diodor XXVI 8; XXXI 36; Hildegard Schaaf, Untersuchungen zu den Gebäudestiftungen in hellenistischer Zeit, 1992 * 212 Athenaios 194 A

6. Städte

309

6 f . So durchsichtig dieses Verhältnis gegenseitigen Gebens und Nehmens zwischen den Städten und Königen ist, so schwer durchschaubar ist dagegen das Rechtsverhältnis 213 . Im Frieden von 311 war die Autonomie der Griechenstädte vereinbart worden 2 ' 4 , doch blieb sie nicht unangefochten. Zeichen der Selbständigkeit war der Besitz einer boule, in der gegebenenfalls auch Orientalen saßen 215 . Je älter und gefestigter die Tradition einer Stadt war, desto geringer ihre Abhängigkeit vom König. In den Neugründungen war der königliche Einfluß durch den epistates stark. Aus diesem Grunde haben die Könige auch den Zusammenschluß alter Städte zu Städtebünden gefördert, zu koina. Denn wenn ihr Einfluß auf die innerstädtischen Angelegenheiten begrenzt blieb, so konnten sie ihren Willen doch über den Bundesbeamten zum Ausdruck bringen. 6g. Das Minimum an politischen Rechten alter Städte war die Besetzung der kommunalen Ämter. Dies galt auch da, wo der König selbst die Verfassung diktiert hatte. Dazu kamen im allgemeinen Münzrecht und Finanzhoheit, obwohl gerade die Kontrolle der städtischen Finanzen vielfach von den Königen durchgeführt wurde. Im allgemeinen zahlten die Städte Steuern oder Tribute an den König 216 , nur in besonderen Fällen wurde dies erlassen. 6h. Was die Städte vor allem verloren, war die außenpolitische Freiheit. Wenn die Könige mit ihnen in einer Symmachie lebten, war das meist nur eine schmeichelhafte Illusion eines Protektorates. Dies zeigt sich darin, daß die Städte keine Militärhoheit besaßen. Zwar hatten sie das Privileg, keinen Wehrdienst leisten zu müssen, doch mußten sie dafür vielfach eine königliche Garnison dulden. Der Kommandant, der strategos tes poleös, besaß zuweilen auch zivile Befugnisse in der Stadt, die dem König Eingriffe in die Rechtsprechung ermöglichten. Erlaubt und beliebt waren indes Proxenie-Verträge, die Bürgerrechte an stadtfremde Personen oder Familien vergaben, und Isopolitie- bzw. Sympolitie-Abkommen, aufgrund derer die Einwohner zweier Städte ein doppeltes Bürgerrecht erhielten. Diese Patenschaften waren oft die Folge von Stiftungen oder Schiedssprüchen und verflochten die hellenistische Gesellschaft über die Staatsgrenzen hinweg 217 . 6i. Im allgemeinen waren die Könige auf eine behutsame Behandlung der Städte bedacht. Anstatt selbst innerstädtische Konflikte zu entscheiden, ernannten sie Schiedsmänner, anstatt Verordnungen zu erlassen, schrieben sie Briefe und äußerten Wünsche 218 . Das Abhängigkeitsgefühl der Städte schlägt sich nieder in den zunehmenden Ehrungen für die Könige 219 . 6j. Neben Königsland und Stadtgebiet besaß das Territorium der Tempel einen eigenen rechtlichen Status. Land und Leute gehörten nominell dem Gott, in seinem Namen regierte der Hohepriester, dessen Würde oft erblich war. Die Seleukiden 220 behandelten die Tempelstaaten (Hierapolis, Komana, Zela, Jerusalem, Uruk) ähnlich wie Städte. Die Tempelversammlung wurde zur ekklesia, es bildeten sich Vereine. In Uruk 221 gab es einen epistates und einen dioiketes des Königs; keine Besatzung, aber eine griechische Kolonie. Babylon 222 besaß ebenfalls eine griechische Gemeinde (politeuma), eine boule und ein theatron. Griechische Inschriften haben sich auf Scherben erhalten. 6k. Im Unterschied zu den Seleukiden versuchten die Ptolemäer, die großen und reichen Heiligtümer Ägyptens in den Staatsorganismus einzugliedern. Zu diesem Zweck * 213 Orth 1977 * 214 Diodor XIX 105,1 * 215 Cohen 1978 * 216 Plutarch, Mor. 182 A; Diog. Laert. II 140 * 217 Tarn 1966, S. 97 ff * 218 Welles 1934; Pfohl Nr. 113 * 219 Habicht 1970 * 220 Tarn 1966,S. 160ff * 221 McEwan 1981; Funck 1984 * 222 McEwan 1981

310

X. Die hellenistischen Monarchien

haben sich die Könige in den Tempeln mitverehren lassen (synnaoi theoi) und wie zuvor die Achaimeniden die Ernennung der Priester beansprucht. Die Tempelwirtschaft wurde staatlicher Aufsicht unterstellt, griechische Kontrollbeamte, ja sogar griechische Priester kommen vor. Boden- und Gewerbeprodukte wurden besteuert. Das Asylrecht wurde nur behutsam vergeben. Es begrenzte die Staatsgewalt, bot den staatlich Verfolgten Zuflucht und schuf bisweilen Räuberhöhlen 2 2 3 . Die Blüte des Städtewesens beschränkt sich im wesentlichen auf die griechischen Städte. Memphis und Theben in Ägypten, Jerusalem und Tyros im syrischen Raum, Susa und Babylon in Mesopotamien nahmen an diesem Aufschwung nur sehr begrenzt teil oder verödeten gar 224 . Viele Orientalen zogen in griechische Städte und wurden über den Sport im Gymnasium hellenisiert.

7. Wirtschaft 7a. Die hellenistischen Monarchen haben eine planmäßige Wirtschaftspolitik betrieben. Besonders gut bekannt ist Ägypten. Hier haben wir es mit einer staatlichen Planwirtschaft zu tun. Das Prinzip dieses Systems spricht ein Papyrus aus Tebtunis 2 2 5 aus: „Niemand hat das Recht, zu tun, was er will, denn alles ist aufs beste geregelt" 226 . Diese Politik knüpft an pharaonische Traditionen an, die mit griechischer Intelligenz verbessert wurden. Durch Beseitigung von Korruption, Leerlauf und privatem Durcheinander sind Leistungen erzielt worden, die Ägypten zum reichsten Land, den ägyptischen König zum reichsten Herrscher der damaligen Welt gemacht haben. Der größte Handelsplatz der bewohnten Welt war bis in die Zeit des Augustus Alexandria 227 . 7b. Grundlage war die Landwirtschaft. Sie wurde bis ins letzte Dorf durchorganisiert. Die Bestellung des Landes erfolgte auf behördliche Anweisung: Saatgut und Werkzeug lieferte der Staat. Feldarbeit und Ernte wurden im Kolchosbetrieb durchgeführt und staatlich überwacht. Nach jeder Ernte wurde zunächst der staatliche Anteil abgezogen, dann der Privatanteil erst freigegeben. Durch die Einführung moderner Anbaumethoden und besserer Frucht- und Tierarten wurden die Erträge gesteigert. Fruchtwechsel erlaubte die Einbringung von zwei Weizenernten statt einer, so wurde Ägypten zur K o r n k a m m e r des östlichen Mittelmeerraumes. Den Anteil des Königs schätzt man auf ein Drittel der Erträge. Kanalbau, D a m m b a u und Wegebau wurden zugeteilt und nach Ermessen entlöhnt 228 . In Babylonien führten die Makedonen den Weinbau ein 229 . 7c. Ähnlich war das Gewerbe geregelt, doch blieb hier privatem Unternehmertum ein gewisser Spielraum. Er wurde begrenzt durch Monopolbestimmungen, die allerdings nur Teile der Produktion betrafen. Sie galten einerseits für Grundnahrungsmittel: Öl, Salz, Fische, Bier, Honig und Datteln 230 , daneben für Papyrus, Textilien, Glas und diverse Luxusartikel. Das Transportwesen, das Bankwesen und der Außenhandel blieben gleichfalls in Staatshand. Staatsarbeiter durften den Wohnort nicht wechseln, waren aber am Gewinn beteiligt. Dem Schutz der heimischen Wirtschaft diente ein wohlüberlegtes Zollsystem, das bis zu 50% aufschlug. Der Außenhandelsüberschuß war beträchtlich: die Handelsrouten wurden erweitert, besonders der Osthandel 2 3 1 . * 223 Strabon XIV 1,23; Tacitus, Ann. III 60ff * 224 Strabon XVI 1,5 * 225 Papyrus Tebtunis III 703 * 226 Arend 1978 Nr. 302 * 227 Strabon XVII 1,13 * 228 Arend Nr. 301 ff * 229 Strabon XV 3,11 * 230 Strabon XVII 1,51 * 231 s.u. 7h!

311

7. Wirtschaft

7d. Eine wichtige Funktion im Wirtschaftsleben spielte das Geldwesen. Durch den Anschluß an die Münzprägung Alexanders hatten die hellenistischen Staaten gleichen M ü n z f u ß : die attische Drachme. Später ließ Ägypten ihn fallen. Der M ü n z f u ß wurde vom attischen auf den phönikischen umgestellt, denn Tyros war neben Alexandria der wichtigste Hafen der Ptolemäer 232 . Schließlich liefen drei Metalle im Ptolemäerreich um: Kupfer für den einheimischen Gebrauch (daneben bestand Tauschhandel), Silber für die Griechen im Lande und Gold für die Außenpolitik. Das Wechselmonopol beanspruchte der König. 7e. Für die auswärtigen Geldgeschäfte war die königliche Staatsbank (basilike trapezä) in Alexandria zuständig. Für den Binnenbedarf besaß sie zahlreiche Zweigstellen. Die in Athen entwickelte Buchführung der Banken wurde verfeinert, der gesamte Geschäftsverkehr schriftlich abgewickelt. Die königlichen Lagerhäuser, thesauroi, erledigten Bankgeschäfte wie Geldwechsel, Darlehen, Hypotheken, Giroverkehr, Spareinlagen, Aktienhandel (Inhaberpapiere) etc. Viele Geschäfte wurden in Naturalien, speziell in Getreide vollzogen. Die wichtigste internationale Bank befand sich auf Delos 233 . 7f. Die Einnahmen des Königs bestanden aus den Erträgnissen der Krongüter und einem komplizierten Steuersystem. Sie wurden von einem idiologos verwaltet 234 . Zöllner (telönai) pachteten die Steuern, sie wurden nicht direkt erhoben. Die Ausgaben galten der Hofhaltung, der Besoldung von Heer und Beamtenschaft, sowie außenpolitischen Zwekken. Steuerschulden konnten mit Gefängnis und bei Einheimischen mit Verkauf in die Sklaverei geahndet werden. 7g. Derselbe Zug von Modernität, der aus dem Wirtschafts- und Geldsystem spricht, ist für den Hellenismus überhaupt kennzeichnend. Es kommt zu einem Aufschwung in Naturwissenschaft und Technik. Schon unter dem letzten Pharaonen Naktanebos besaß Eudoxos von Knidos (gest. 352) eine Sternwarte in Heliopolis 235 . Aristarch (gest. 230) entwickelte das heliozentrische Weltbild, erkannte die Drehung der Erde 236 und führte 238 v. Chr. das Sonnenjahr ein. Eratosthenes (gest. 202) berechnete den U m f a n g der Erdkugel, die er in 360 Meridian-Grade zu 700 Stadien einteilte 237 . Er behauptete, wie schon Eudoxos von Knidos 238 , Indien sei von Spanien aus westwärts über den Atlantik zu erreichen 239 . Kolumbus hat es dann ausprobiert. Auch Arat meinte, die Wege nach Osten und nach Westen begegneten sich 240 . 7h. Der Hellenismus war ein Zeitalter der Entdeckungen. Während Alexander nach Indien zog, segelte Pytheas von Massilia in den Atlantik. Auf der Suche nach einer Seeverbindung zu den Zinninseln erreichte er von Gades aus in fünf Tagen das Heilige Vorgebirge (Finisterre) 241 . Pytheas behauptet, Brittannien, die Insel Thüle und die gesamte Nordküste Europas bis zum Ende der Welt befahren zu haben, von Gades bis zum Tanais (Don), woran schon Strabo begründete Zweifel hegte 242 . Wichtiger waren indes die Entdeckungen im Osten. Ptolemaios II Philadelphos förderte die Erforschung und Erschließung Afrikas 2 4 3 und schickte Gesandte nach Indien 244 . Der berühmteste Indienfahrer war * 232 B M C . VI (The Ptolemies) 1882, S . X X I V

*

233

F. Preisigke, G i r o w e s e n im griechischen

Ä g y p t e n , 1910; R. Bogaert, G r u n d z ü g e des Bankwesens im alten Griechenland, 1986 b o n X V I I 1,12; Zeugnisse aus der Kaiserzeit: D e s s a u Nr. 1413f; 2690; 8850 1,30

* 236 Plutarch, Mor. 923 A

298 A 9 * 239 Strabon I 4,6. Stichtenoth 1959

*

* 237 Strabon II 5,34

*

*

234 Stra-

235 Strabon X V I I

* 238 bei Aristoteles, D e caelo II 14 =

* 240 Strabon II 3,8 * 241 Strabon III 2,11 * 242 Strabon II 4,1 f;

243 D i o d o r III 36f; Plinius, Nat. hist. VI 33/167

21/58; e b e n s o Seleukos I: Strabon II 1,9

*

244 Plinius, N a t . hist. VI

312

X. Die hellenistischen Monarchien

Eudoxos von Kyzikos 245 . 117 v. Chr. wurden, wie es scheint, die Monsune entdeckt und die Schiffahrt von Aden nach Indien über das offene Meer möglich 246 . Ptolemaios II erneuerte zudem den Kanal zwischen Rotem Meer und Nil 247 . 7i. Ebenso bedeutsam waren die technischen Neuerungen des Hellenismus. Heron von Alexandria (um 200 v. Chr.?) entdeckte die Nutzbarkeit des Dampfdruckes. Neben seinen mathematischen und astronomischen Schriften hinterließ er Abhandlungen über Hebekräne, Wasseruhren, Gewölbebauten, Zahnradwinden, Flaschenzüge, Spiegeloptik, Katapulte und alle möglichen Automaten 2 4 8 . Diese Schriften sind großteils ins Arabische übersetzt worden und haben die Technikentwicklung bis zu Otto von Guericke (gest. 1686) beeinflußt. Das durch Archimedes für Hieron II gebaute, dann an Ptolemaios II geschenkte Schiff Syrakusia stellte alle anderen Schiffe 249 nach G r ö ß e und Ausstattung in den Schatten 250 , das Brackwasser wurde mit Hilfe einer Schraubenpumpe entfernt 251 . Der Hohlspiegel, mit dem Archimedes die römischen Schiffe in Brand gesetzt haben soll, ist wohl eine antike Fabel 252 , dagegen zählt die Belagerungsmaschine Helepolis, mit der Demetrios Poliorketes Rhodos angriff, zu den wohlbezeugten technischen Mirakeln der hellenistischen Welt 253 , ebenso die Hochdruck-Wasserleitung für die Burg von Pergamon. U m 100 v. Chr. wurde in Ägypten das Glasblasen, in Kleinasien die Bleiglasur erfunden.

8. Gesellschaft 8a. Die Bevölkerung des Seleukidenreiches wird auf 30 Mill. geschätzt, die des Ptolemäerreiches auf 8 Mill. 254 Innerhalb der Staaten bestand ein doppelter Gegensatz: die Trennung in soziale Schichten und die Aufteilung in nationale Gruppen. D a die Griechen eingewandert waren und niemand mit den Leistungen seiner Vorfahren prunken konnte, gab es keinen Adel, ähnlich wie in Amerika. Die hellenistischen Monarchien waren Beamtenstaaten, und es lag im Interesse des Königs, Ämter nach Tüchtigkeit und Treue zu vergeben, nicht nach Geburt. Die von den Königen verliehenen Ränge waren nicht erblich. Einen einheimischen Adel gab es im persischen Bereich. Er spielte aber nur eine geringe Rolle. 8b. Ebenfalls unbedeutend blieb zunächst die Rolle der Sklaven 255 . Im Seleukidenreich mag sie größer gewesen sein, ist aber schwer faßbar. In Ägypten wurde die Landarbeit von Fellachen betrieben. Dort lassen sich Sklaven von freien Arbeitern oft nicht unterscheiden. Ehen zwischen Freien und Unfreien kommen vor. Wenn wir von der Sondergruppe der Tempelsklaven, den Hierodulen, absehen, so waren die Sklaven vorwiegend im Hause, d. h. nicht in der Produktion tätig. Sie begegnen uns im griechischen Umfeld 2 5 6 , zumal bei den Reichen. Sklaven galten als Luxus und unterlagen einer besonderen Steuer. Aus Ägypten kennen wir Sklavenklubs. U m 200 kam, von Delphi ausgehend, der Freikauf in Übung. Der Sklave übereignete seine Ersparnis dem Gott und dieser kaufte ihn damit von seinem * 245 Strabon II 3,4 * 246 Plinius, Nat. hist. VI 26/100; Strabon II 3,4; Rostovtzeff 1941/55, S. 732ff * 247 Diodor I 33,11; Strabon XVII 1,25 * 248 C. R. Tittel, Heron, RE. VIII 1912, S. 992ff * 249 Die Wunderschiffe von Ptolemaios Philopator beschreibt Athenaios 203 E ff * 250 Athenaios 206 D ff * 251 Athenaios 208 F * 252 Diodor XXVI 18; Zonaras IX 4 * 253 Plutarch, Demetr. 20; Athenaios 206 D * 254 Diodor I 31; Josephus, Bell. Jud. II 16,4 * 255 Mitteis + Wilcken I 1, S.27f; Heinen 1976 * 256 Scholl 1990

8. Gesellschaft

313

Herrn 257 . - Ein schlimmes Los hatten die Kriegsgefangenen, die in den königlichen Steinbrüchen und Goldbergwerken arbeiteten. Agatharchides von Knidos 258 hat Schilderungen hinterlassen 259 , die an das Märchen vom jungen König bei Oscar Wilde erinnern. Im Späthellenismus gewann die Sklaverei Bedeutung durch die kleinasiatischen Seeräuber, die ihre Beute nach Delos verkauften. Hier sollen bis zu 10000 Sklaven täglich angeboten worden sein, wobei nach 146 die Römer als wichtigste Abnehmer auftraten 260 . 8c. Das größere soziale Problem war der Gegensatz zwischen Griechen und Orientalen. Die Ägypter werden mit der Peitsche gezüchtigt, die Griechen mit dem Stock, schreibt Philon 261 . Der Anteil der Griechen betrug höchstenfalls 1% an der Gesamtbevölkerung. Alexander hatte mit der griechischen Zweiteilung der Menschheit in Hellenen und Barbaren programmatisch gebrochen und gegen den Widerstand in seinem eigenen Heere die Gleichberechtigung von Griechen und Orientalen durchgesetzt 262 . Seleukos und Ptolemaios versuchten zunächst, dieses Konzept beizubehalten. Doch verstärkten sich bald die Erfahrungen, die schon Alexander mit einheimischen Verwaltungsbeamten hatte machen müssen: die gleiche Volkszugehörigkeit begünstigte feudalistische und partikularistische Tendenzen. 8d. Aus diesen Gründen ist bald eine Trennung durchgeführt worden: im Seleukidenreich wurde den einheimischen Satrapen das Heereskommando entzogen und griechischen Strategen übertragen; im Ptolemäerreich wurde die gesamte Beamtenschaft aus Griechen gebildet, lediglich die unterste Beamtenschicht auf der Ebene der Dorfschulzen blieb ägyptisch. Gesellschaftspolitisch galt somit das Prinzip der Apartheid, Mischehen waren unzulässig, wenigstens theoretisch 263 . Getrennt war auch das Recht. Nach dem Personalitätsprinzip unterstanden die Griechen griechischem, die Ägypter ägyptischem, die Juden jüdischem Recht usw. Griechen und Ägypter besaßen auch eine getrennte Gerichtsorganisation in ihrer eigenen Sprache. Für Prozesse zwischen Verschiedenstämmigen gab es besondere Gerichte. 8e. Um das griechische Element zu stärken, haben die Könige Einwanderer begünstigt und zu Hunderttausenden in ihre Reiche gezogen. Diese Griechen konnten als Soldaten oder Beamte in den Königsdienst eintreten, erhielten aber auch als Privatleute das Bürgerrecht in den griechischen Städten des Ostens und trieben Gewerbe, Handel oder Landbau. In diesem Falle wurden sie von der Zwangsarbeit und dem Kriegsdienst befreit. Daß die Ptolemäer dabei in erster Linie die Tüchtigkeit der Einwanderer und erst in zweiter Linie ihre nationalen Sympathien im Auge hatten, ergibt sich daraus, daß ins Heer auch Karer, Galater und Juden, in die Städte ebenfalls Juden und Phöniker aufgenommen wurden. Zur Betreuung der Fremden soll Ptolemaios II in allen Städten einen Fremdenvogt installiert haben 264 . 8f. Die Stammesunterschiede der Griechen untereinander verschwanden mit der Zeit. Am längsten bewahrten die Makedonen ihre Eigenart, die Bezeichnung „Makedone" wurde jedoch ein Standesbegriff, selbst Juden führten ihn 265 . Im übrigen entstand so etwas wie ein Einheitsgrieche. Die Lokaltraditionen traten zurück: in der Kunst, im Kult, im Recht und in der Sprache. Im klassischen Griechenland gab es keine Hochsprache, sondern * 257 Tarn 1966, S. 110; 122 * 258 bei Photios 250,24ff = 447b ff; Diodor III 12-48; F H G . Ill S. 190-197 * 259 Woelk 1966; St. M. Burstein, Agatharchides of Cnidus, 1989 * 260 Strabon XIV 5,2 * 261 Philo, Flacc. 10 * 262 s.o. IX 9! * 263 Antoninus Liberalis 39 * 264 Flavius Josephus, Ant. XII 2,12 * 265 Flavius Josephus, c. Ap. II 4

314

X. Die hellenistischen Monarchien

lediglich mehrere nebeneinander gesprochene Mundarten, unter denen das Attische die wichtigste war. Im Hellenismus entwickelte sich eine gemeingriechische Verkehrssprache (koine). Ihre Verbreitung zeigt sich darin, daß - wie der Aristeasbrief bezeugt - das Alte Testament in sie übersetzt (Septuaginta) und das Neue Testament in ihr abgefaßt wurde, von Nichtgriechen und vorwiegend für Nichtgriechen auf griechisch geschrieben. Der Wunsch nach Zugehörigkeit zur griechischen Kultur äußert sich in mythischer Ansippung. Manetho betrachtete Danaos und Aigyptos, die Stammväter der Griechen und Ägypter, als Brüder 266 ; ein Sohn des Achilleus, Neoptolemos oder Pyrrhos, wurde zum sagenhaften Urvater der Molosser in Epirus erhoben 267 ; König Pyrrhos erscheint als Nachfolger Achills 268 . Juden und Spartaner erscheinen bei Josephus als Stammverwandte 2 6 9 . Die Römer beriefen sich Seleukos gegenüber auf ihre angebliche Blutsverwandtschaft mit ihm über ihre trojanische Herkunft 2 7 0 ; Kelten und Germanen setzten diese Selbsteinreihung fort 271 . 8g. Während die Ptolemäer die Griechen begünstigten, beschränkten sie sich gegenüber den Fellachen auf ein Entgegenkommen, das diese davon abhalten sollte, sich gegen die europäische Minderheit zu erheben. Insgesamt hat auch der Wohlstand der Bauern in der frühen hellenistischen Zeit zugenommen, und ein Fellache verdiente mehr, als ein freier griechischer Arbeiter auf Delos. Seiner Rechtsstellung nach war der L a n d m a n n frei und nutzte dies oft, um sich dem staatlichen Zugriff zu entziehen 272 . 8h. In der späteren Zeit haben die Orientalen in den hellenistischen Staaten an Einfluß gewonnen. In Ägypten gilt als Wende die Schlacht bei Raphia 217, wo die Ptolemäer mit Hilfe von 20 000 ägyptischen Soldaten einen großen Sieg über die Seleukiden erfochten 273 . N a c h ihrer Rückkehr waren die Ägypter, die der König mit einem Dolmetscher anreden mußte 274 , nicht mehr bereit, ihre Benachteiligung hinzunehmen 2 7 5 , und einzelne von ihnen stiegen in die höheren Ämter auf. Ptolemaios V hat sich 197 wieder nach ägyptischem Ritus in Memphis krönen lassen 276 . Somit setzte sich langfristig doch das Konzept Alexanders durch. 8i. Isokrates 277 hatte erklärt, Grieche sei man nicht durch Herkunft (genos) und Aussehen (physis), sondern durch Vernunft (dianoia) und Bildung {paideusis). Das erleichterte eine Vermischung von Griechen und Einheimischen. Seit Euripides gibt es den Begriff des mixobarbaros2n, seit Polybios den Ausdruck mixhellen279 für den Halb- oder Mischgriechen. Im Niltal wurden Griechen ägyptisiert, in Alexandria die Ägypter hellenisiert. Seit etwa 150 v. Chr. tragen auch einzelne Orientalen griechische und einzelne Griechen orientalische Namen. Die Juden führten vielfach einen zweiten, griechischen, später auch römischen Namen, denken wir an Simon Petros, Saulus Paulus oder Johannes Marcus 280 . So hat sich das griechische Element in der Kultur, das orientalische in der Religion durchgesetzt. Die alten Sprachen lebten fort, wie die seleukidischen Keilschrifttafeln f ü r Mesopotamien 2 8 1 und der Stein von Rosetta für Ägypten bezeugen 282 .

* 266 Flavius Josephus, c. Ap. I 15 * 267 Apollodorus, epit. VI 12 * 268 Diodor XXII 10,11 * 269 Flavius Josephus, Ant. XII 4,10 * 270 Sueton, Claud. 25,3 * 271 s.u. XVIII 5f! * 272 Braunert 1964 * 273 Polybios V 65; 8 0 - 8 7 * 274 I.e. 83,7 * 275 I.e. 107,1 ff * 276 Rosetta-Stein, s.o. 2 d ! * 277 Isokrates, Paneg. 50 * 278 Euripides, Phoen. 140; Piaton, Menex. 245d; Xenophon, Hell. II 1,15 * 279 Polybios I 67,7; Plutarch, Crassus 31 * 280 NT. Apostelgeschichte des Lukas 12,12; 13,9; vgl. Flavius Josephus, Ant. XII 5,1 * 281 Funck 1984 * 282 s.o. 2 d !

8. Gesellschaft

315

8j. Ein erstaunliches Phänomen ist die Hellenisierung des Judentums, insbesondere unter den Gebildeten und in der Diaspora 2 8 3 . Geistiges Zentrum der Juden war nicht Jerusalem, sondern Alexandria, wo sie den Bezirk Delta bewohnten 2 8 4 , nachdem sie von Ptolemaios I als Kriegsgefangene mitgenommen und von seinem Sohn freigelassen worden waren 285 . Sie hatten eine eigene Gemeinde (politeuma) und Gemeindevorsteher 2 8 6 . Alexandrinisches Bürgerrecht erhielten sie erst unter Caesar 287 . Unter Ptolemaios II entstand die »Septuaginta«, die griechische Übersetzung des Alten Testaments 288 . Ptolemaios III verehrte im Tempel zu Jerusalem Jahwe 289 , wie einen der Landesgötter. Auch die frühen Seleukiden schätzten die Juden und gaben ihnen und ihren Städten gleiche Rechte mit den Griechen 290 . Zwischen Juden und Griechen kam es dennoch vielfach zu Auseinandersetzungen 291 . Der Makkabäer-Aufstand 2 9 2 gegen Antiochos IV um 165 begründete die Herrschaft der Hasmonäer; seit 105 v. Chr. führen sie den Königstitel. 8k. Die Tendenz zur Gleichberechtigung zeigt sich ebenfalls in der fortschreitenden Emanzipation der Frau 293 . Die Frau gewann das Recht, vor Gericht im eigenen Namen auszusagen, im Wirtschaftsleben erscheint sie als selbständige Unternehmerin. Frauen durchliefen die Schulbildung aller Stufen, übten sich mit den M ä n n e r n im Gymnasion 2 9 4 , sie betätigten sich im Kulturleben als Dichterinnen, Philosophinnen, Malerinnen und besaßen eigene Vereine. Wir finden Inschriften für Frauen, die sich durch Stiftungen einen N a m e n machten, Gymnasiarchien und Agonothesien übernahmen, so in Kleinasien, Sparta und Kyrene. Frauen erscheinen in Stadtämtern als amtierende Archonten (Delphi, Priene, Thasos), Prytanen und Stephanophoren 2 9 5 . Bedeutende Frauen erhielten die Proxenie und das Bürgerrecht auswärtiger Städte. Diese Position haben sich führende Frauen auch in der römischen Kaiserzeit bewahrt. Frauen aus dem Königshaus 2 9 6 von Phila 297 und Arsinoe II 298 bis Kleopatra VII 299 griffen in die Politik ein. Andererseits sind neugeborene Mädchen sehr viel häufiger ausgesetzt worden als Knaben - es sei denn, die Mutter war Sklavin. Unfreie waren begehrt 300 . 81. Der kosmopolitische Zug in der sozialen Entwicklung wiederholt sich im Bereich der Religion. Westliche und östliche Kulte lebten zusammen 3 0 '. Die olympischen Götter büßten an Bedeutung ein, da sie eng mit dem Poliswesen verbunden waren und ihre wichtigsten Kultplätze im Mutterland besaßen. Den neuen Religionstyp verkörperten die orientalischen Erlösungsreligionen, die in jeder Stadt ihre Gemeinde hatten. Religion wurde Privatsache, das verbindende Element war der Herrscherkult 3 0 2 . 8m. Die folgenreichsten Neuerungen vollzogen sich in Ägypten. Ptolemaios I hat mit Hilfe griechischer und ägyptischer Priester (dem Eumolpiden Timotheos, vielleicht auch Demetrios von Phaleron und Manetho) den Kult des Sarapis aufgebaut 3 0 3 . Dieser Sarapis war eine Verschmelzung des beliebtesten ägyptischen Gottes Osiris-Apis und des höchsten

* 283 Corpus Inscriptionum Iudaicarum Nr. 1432; 1440ff; Hengel 1969 * 284 Flavius Josephus, Bell. Jud. II 8 * 285 Synkellos p.271 (Bonn); ders., ed. Mosshammer 1984, S.327 * 286 Aristeas-Brief 310 * 287 Flavius Josephus, c. Ap. II 49 * 288 Flavius Josephus, Ant. XII 2; der Aristeas-Brief enthält die Entstehungslegende * 289 Flavius Josephus, c. Ap. II 5; ders., Ant. XII 2 * 290 I.e. XII 3,1 f * 291 I.e. * 292 Flavius Josephus, Ant. XII 6ff; AT. 1. Makkabäer passim; Daniel-Buch passim * 293 Tarn 1966, S. 113 ff; Schneider 1967, S. 78 ff * 294 Athenaios 566 E * 295 H. W. Pieket, Epigraphica II 1969 * 296 Macurdy 1932 * 297 Diodor XIX 59,3 * 298 Justin XXIV 2 * 299 Plutarch, Anton. 25ff; Appian XIV 90; Volkmann 1953 * 300 Tarn 1966,S.117f; 123 * 301 Appian XI 58 * 302 s.o. 4 j! * 303 Tacitus, Hist. IV 83f

316

X. Die hellenistischen Monarchien

griechischen Gottes Zeus. Die Bildung künstlicher Mischreligionen wird als Synkretismus bezeichnet 304 . Dieser Religionstypus unterscheidet sich von „gewachsenen" und „offenbarten" Religionen freilich nur graduell. Bei näherer Betrachtung erweisen sich alle Religionen als zusammengesetzt aus Elementen verschiedenen Ursprungs. Eine ähnliche Regulierung erfolgte in der Gleichsetzung von Isis und Demeter, die mit Mysterien verehrt wurde. Die Ptolemäer haben vor allem in ihren Außenbesitzungen die Kulte von Sarapis und Isis propagiert. Beide genossen weit in die römische Zeit hinein Verehrung. Ohne Folgen blieben die buddhistischen Missionsgesandtschaften, die König Ashoka gemäß seinem 13. Felsenedikt an Antiochos II, Ptolemaios II, Antigonos Gonatas und andere hellenistische Herrscher gesandt hat 305 . Erfolgreicher waren die Missionare einer anderen orientalischen Erlösungsreligion; das Christentum aber fällt bereits in die römische Zeit. 8n. Das größte religionspolitische Spektakel war der Dionysos-Festzug, den Ptolemaios II im Winter 271/70 zu Ehren seiner Eltern in Alexandria abhielt 306 . Auf diesen Ptolemaia, einem Vierjahresfest, wurde der gesamte Prunk des Orients vorgeführt mit Zehntausenden von Schauspielern, Priestern und Soldaten. Alle möglichen Götter, Geister und Gespenster zogen vorbei, große Helden und seltene Tiere, Silber, Gold und Edelstein, Musikanten und Trabanten und ein goldener Phallos von 60 Meter Länge und einem Stern auf der Spitze ...

9. Niedergang 9a. Seit der Zeit um 200 mehren sich die Symptome für den Niedergang der hellenistischen Welt: Mord, Gift und Palastintrigen bei den Seleukiden 307 wie bei den Ptolemäern 3 0 8 ; Aufstände in Ägypten 309 und Syrien 310 . Die innenpolitischen, aus der kolonialen Situation erwachsenen Schwierigkeiten Ägyptens ermunterten die beiden anderen Großmächte zu einem offensiven Bündnis: Philipp V von Makedonien und Antiochos III von Syrien verschworen sich 203 gegen Ägypten, um es aufzuteilen 311 . Damit war das Prinzip der Koexistenz verletzt. Die Kleinstaaten vermochten das Gleichgewicht nicht herzustellen und suchten nach einem neuen Bündnispartner. Sie fanden ihn in Rom 3 1 2 . 9b. Die Römer haben 197 bei Kynoskephalai die hegemonialen Bestrebungen Philipps V von Makedonien gebrochen und sich anschließend wieder zurückgezogen 313 . 190 traten sie bei Magnesia in Lydien den weitausgreifenden Plänen von Antiochos III entgegen, besiegten ihn und nahmen ihre Truppen abermals zurück 314 . Erst als die Kriege unter den hellenistischen Mächten kein Ende nahmen, schritt der Senat ein. Antiochos IV wurde daran gehindert, Ägypten zu annektieren 315 . D a n a c h ging R o m zögernd dazu über, Könige abzusetzen und Provinzen einzurichten. 148 wurde Makedonien Provinz 316 , 133 auch das Reich Pergamon 3 1 7 , 63 ein Großteil des Seleukidenreiches 318 und 30 Ägypten 319 . Aus Dankbarkeit errichtete Rhodos im Tempelbezirk der Athena dem personifizierten Populus * 304 Plutarch, Mor. 490 B * 305 s.o. 3 e! 306 Athenaios 196ff; E. E. Rice, The Grand Procession of Ptolemy Philadelphia, 1983 * 307 Appian XI 66 ff * 308 Justin XXX 1 f; Appian XI 51 * 309 Diodor XXXI 15a; 17b * 310 I.e. 40a; Appian XI 48 * 311 Polybios XV 20,4; vorsichtiger Porphyrios bei Hieronymus, Comm. in Danielem 11,13 f * 312 Polybios XV 20; Livius XXXI 2; 14ff * 313 Appian IX 7ff; Polybios XVIII 22,9; Plutarch, Flamin.8 * 314 Livius XXXVII 10,12; Appian XI 33f * 315 Appian XI 66 * 316 Livius, per. 49f; Diodor XXXII 9; 15 * 317 Livius, per. 58 * 318 Appian XI 50f; Plutarch, Pomp. 33 * 319 Dio LI 5ff

10. Bedeutung

317

Romanus eine Kolossalstatue von fast 1 5 m Höhe 320 . Abgesehen von wenigen Nachzüglern in Kleinasien endet die hellenistische Monarchie mit dem Selbstmord der Kleopatra durch den Schlangenbiß am 12. August 30v.Chr. 3 2 1 . 9c. Es gab hellenistische Könige, denen die Unhaltbarkeit ihres Systems selbst klar war. Dies ergibt sich daraus, daß fünf von ihnen testamentarisch den populus Romanus als Erben ihrer Herrschaft eingesetzt haben 322 . Im Jahre 1 5 5 v . C h r . tat dies Ptolemaios VIII aus Kyrene 323 , 133 v.Chr. folgte Attalos III von Pergamon 3 2 4 , dessen Erbschaft die Römer antraten, ebenso wie die zweite testamentarische Überlassung Kyrenes 96 v. Chr. durch Apion 325 , Cyperns 80 v. Chr. durch Ptolemaios XI 326 und Bithyniens durch Nikomedes IV 74 v. Chr. 327 . 9d. Als G r u n d für den Niedergang betrachteten die Römer den Verlust der Kriegstugend im Wohlstand, in der Orientalisierung der Makedonen. Sie seien zu Syrern, Parthern und Ägyptern degeneriert 328 . Polybios 329 ließ die Dekadenz der Könige im Luxus bereits nach Ptolemaios III (246-221) beginnen. Das Heer diente vorwiegend zu Paradezwecken 330 , die Führungspositionen wurden zunehmend mit Fremden besetzt, nicht zuletzt mit Römern 3 3 1 .

10. Bedeutung 10a. Plutarch verband mit dem Tode des Demosthenes das Ende der griechischen Freiheit 332 . Darin sah man das Ende der griechischen Klassik. Bis ins späte 19. Jh. hinein galt der Hellenismus aus diesen beiden Gründen als Verfallszeit. Dabei wurde nicht in Betracht gezogen, daß die Kanonisierung der Klassik, die unter diesem Begriff 333 ohnedies erst der römischen Kaiserzeit entstammt, der Sache nach hellenistischen Ursprungs ist. Ebensowenig wurde bedacht, daß die innere Freiheit den Griechenstädten erhalten blieb und die äußere Freiheit nur soweit eingeschränkt war, daß sie keine Kriege mehr auf eigene Rechnung führen konnten. Plutarch aber wußte das. Er meinte, die Römer hätten den Griechen so viel Freiheit gelassen, wie sie vertrügen 334 . 10b. Eine positive Würdigung des Hellenismus unter politischen und zivilisatorischen Aspekten brachte erst das 19. Jh., als Droysen den Hellenismus die „moderne Zeit des Altertums" nannte 335 . Er erkannte, daß in der Tradition der europäischen Staatlichkeit die hellenistischen Monarchien den ersten Versuch darstellen, den Partikularismus der Poliswelt zu überwinden und große Länder auf der Basis zentraler Planung politisch und wirtschaftlich zu erfassen. Innerhalb der antiken Kulturentwicklung überrascht der Helle-

* 320 Polybios X X X I 4 * 321 D i o LI 14,1; Livius, per. 133; Plutarch, Anton. 86 (Biß in den Arm); Fulgentius, D e aetatibus 14 (Biß in die Brust); A. E. Samuel, Ptolemaic Chronology, 1962, S. 159 * 322 Niedermayer 1954 * 323 Pfohl Nr. 115; SEG. IX 7; die Bestimmung wurde nicht ausgeführt * 324 OGIS. Nr. 338 vgl. 335; Cicero, D e lege agraria II 50; Florus II 20 = I 35,2; Livius, per. 58; Plutarch, Gracchen 14; Strabon XIII 4,2; Vellerns V 4,1 * 325 Cicero, D e lege agraria II 51; Appian XII 121; XIII 111 * 326 Cicero, D e lege agraria II 41 f * 327 Appian XII 71; XIII 111 * 328 Livius X X X V I I I 17,11 * 329 Polybios V 34; Strabon XVII 1,11 f * 330 Athenaios 194 C ff; D i o d o r X X X I 16; Polybios X X X 2 5 f * 331 Cicero, Pro Rabirio 23; Tacitus, Ann. II 67; Justin X X X 2,8 * 332 Plutarch, Demosth. 3 * 333 classicus scriptor: Gellius X I X 8,15 * 334 Plutarch, Mor. 8 2 4 c * 335 J. G. Droysen, Historik, 1937, S . 3 8 4 , von 1843

318

X. Die hellenistischen Monarchien

nismus durch den vergleichsweise modernen Charakter einer Urbanen Weltzivilisation, bestimmt durch Technik und Ökonomie, durch Mobilität und Individualismus, durch Mischung von Völkern und Kulturen. 10c. Die hellenistische Phase verhält sich zur klassischen und archaischen Zeit ähnlich, wie unsere Neuzeit zur europäischen Klassik und zum Mittelalter. In der antiken wie in der abendländischen Geschichte beobachten wir die Erweiterung des Lebensraumes durch Entdeckung und Eroberung bis an die Grenzen physischer Existenzmöglichkeiten. Verbunden damit ist beide Male die Aufrichtung einer Herrschaft über zivilisatorisch unterlegene, numerisch aber überlegene Völker, eine Art von Kolonialregime. Hellenistische Einflüsse reichen im Norden bis nach Südrußland, im Osten bis Indien und Mittelasien, bestimmen im Westen die Kultur der Karthager, Kelten und Römer. Hellenisierung bedeutete Modernisierung und Rationalisierung auf vielen Lebensgebieten: Fortschritt in Naturwissenschaft und Technik, Verbesserung der Wirtschaft, Entstehung eines Weltmarktes, Aufschwung des Wohlstandes und der Urbanisierung. Das öffentliche Leben wurde durch eine Großstadtzivilisation mit allen Licht- und Schattenseiten bestimmt: Reichtum und Luxus auf der einen, Armut und Proletarisierung auf der anderen Seite, nebst häufigen sozialen Unruhen. lOd. Außenpolitisch entstand ein Regelsystem, das den internationalen Verkehr in feste Formen brachte und die „Einheit des griechischen Rechts im gesamten Umfang des graecomacedonischen Hellenismus" verwirklichte 336 . Die Labilität des hellenistischen Staatensystems beruht nicht zuletzt darauf, daß fast jeder tüchtige Herrscher ein großer Eroberer sein wollte. Sua retiñere privatae domus, de alienis certare regiam laudem esse, soll Tiridates gesagt haben 337 : „Ein Privatmann verdient Lob, wenn er sich um sein eigenes Haus kümmert, ein König aber, wenn er um die Güter anderer streitet." So haben diese anderen sich an die Römer gewandt. Sie wurden die Testamentsvollstrecker Alexanders.

* 336 Mitteis 1900, S. 19f * 337 Tacitus, Ann. XV 1

Literatur zu X

319

Literatur zu X Neuere Forschungen präsentieren die Zeitschriften zur griechischen Geschichte s.o. Literatur zu I! Nützlich ist das »Kleine Lexikon des Hellenismus« von H. H. Schmitt und E. Vogt, 1993. Allen, R. E„ The Attalid Kingdom. A Constitutional History, 1983 Altheim, F. + Rehork, J. (Hgg.), Der Hellenismus in Mittelasien, 1969 Aristeas-Brief. In: E. Kautzsch (Hg. ), Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments II 1900/1921, S. 1-31 Austin, M. M., The Hellenistic world from Alexander to the Roman Conquest. A Selection of Ancient Sources in Translation, 1981 Bagnall , R. S. +Derow, P., Greek Historical Documents in the Hellenistic Period, 1981 Bell, H. /., Cults and Creeds in Graeco-Roman Egypt, 1953 Bevan, E. R., A History of Egypt under the Ptolemaic Dynasty, 1927 Bichler, R., Hellenismus. Geschichte und Problematik eines Epochenbegriffs, 1983 Bikerman, E., Institutions des Seleucides, 1938 Blum, R., Kallimachos und die Literaturverzeichnung bei den Griechen, 1977 Brashear, W., Vereine im griechisch-römischen Ägypten, 1993 Braunen, H., Die Binnenwanderung, 1964 Briant, P., Antigone le Borgne, 1973 Cohen, G. M., The Seleucid Colonies, 1978 Droysen, J. G., Geschichte des Hellenismus, I 1877, II 1878, III 1878 Dvornik, F., Early Christian and Byzantine Political Philosophy, 1966

Errington, M., Geschichte Makedoniens, 1986 Fräser, P. M., Ptolemaic Alexandria, 1972 Funck, B., Zu den Landschenkungen hellenistischer Könige, Klio 60,1978 S.45ff Funck, B., Uruk zur Seleukidenzeit, 1984 Gehrke, H.-J., Der siegreiche König. Überlegungen zur Hellenistischen Monarchie, Archiv für Kulturgeschichte 64, 1982, S. 247 ff. Gehrke, H.-J., Geschichte des Hellenismus, 1990 v. Glasenapp, H., Die Philosophie der Inder, 1974 Grainger, J. D., The Cities of Seleukid (sic) Syria, 1990 Grainger, J. D., Seleukos Nikator, 1990 Griffith, G. T„ The Mercenaries of the Hellenistic World, 1935 Gruen, E. S., The Hellenistic World and the Coming of Rome, 1984 Habicht, Ch., Gottmenschentum und griechische Städte, 1970 Habicht, Ch., Athen in hellenistischer Zeit, 1994 Hengel, M., Judentum und Hellenismus, 1969 Hölbl. G„ Geschichte des Ptolemäerreiches, 1994 Klose, P., Die völkerrechtliche Ordnung der hellenistischen Welt in der Zeit von 280 bis 168 v. Chr., 1972 Lesquier, J., Les institutions militaires de l'Egypte sous les Lagides, 1911 Macurdy, G. H., Hellenistic Queens, 1932

320 McEwan, G., Priest and Temple in Hellenistic Babylonia, 1981 Mehl, A., Seleukos Nikator und sein Reich, 1986 Mitteis, L., Aus den griechischen Papyrusurkunden, 1900 Mitteis, L. + Wilcken, U., Grundzüge und Chrestomathie der Papyruskunde, I 1911, II 1912 Momigliano, A., Hochkulturen im Hellenismus, 1975/79 Murray, O., Aristeas and Ptolemaic Kingship. Journ. Theol. Studies 18, 1967, S. 337-371 Newell, E. T., The Coinage of the Eastern Seleucid Mints. Seleucos I to Antiochus III, 1938 Newell, E. T., The Coinage of the Western Seleucid Mints. Seleucos I to Antiochus III, 1941 Niedermayer, G., Fünf Testamente hellenistischer Herrscher zugunsten der Römer, 1954 Orth, W., Königlicher Machtanspruch und städtische Freiheit, 1977 (zu den Seleukiden) Peremans, W., Prosopographia Ptolemaica, 1959 ff Préaux, Claire, Le monde hellenistique, I/II 1978 Rostovtzeff, M., Die hellenistische Welt. Gesellschaft und Wirtschaft. I-III 1941/1955 San Nicolo, M., Das Vereinswesen im ptolemäisch-römischen Ägypten, 1913 Schneider, C., Kulturgeschichte des Hellenismus I/II, 1967/69

X. Die hellenistischen Monarchien Scholl, R., Corpus der ptolemäischen Sklaventexte, 1990 (mit deutscher Übersetzung) Seibert, J., Das Zeitalter der Diadochen, 1983 Stichtenoth, D., Pytheas von Marseille. Über das Weltmeer, 1959 Taeger, F., Charisma, I 1957 Tarn, W. W„ The Greeks in Bactia and India, 1951 Tarn, W. W. + Griffith, G. T., Die Kultur der hellenistischen Welt, 1966 Thierfelder, H., Die Geschwisterehe im hellenistisch-römischen Ägypten, 1960 Thissen, H. J., Studien zum Raphiadekret, 1966 Tscherikower, V., Die hellenistischen Städtegründungen 1927 Volkmann, H., Kleopatra, 1953 Walbank, F. W., The Hellenistic World, 1981 Waldmann, H., Die kommagenischen Kultreformen, 1973 Welles, C. B., Royal Correspondence in the Hellenistic Period, 1934/1966 Welwei, K. W„ Abhängige Landbevölkerungen auf »Tempelterritorien« im hellenistischen Kleinasien und Syrien. Ancient Society 19, 1979, S. 97-118 Will, E„ Histoire politique du monde hellénistique, I 1966, II 1967 Woelk, D., Agatharchides von Knidos. Über das Rote Meer. Übersetzung und Kommentar. 1966

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

323 1. Begriff a. Name und Land b. Nomen Etruscum

2. Quellen a. b. c. d. e.

Schrift Bücher Inschriften Archäologie: Nekropolen, Vasen Griechische und lateinische Autoren

3. Kultur und Religion a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k.

Kultur Herkunft Pelasger, Ägäis Römer, Aeneas Sprache Religion, Priester, Gladiatoren disciplina Etrusca, Schulen Materielle Kultur Kontinuität Villanova Ligurer

4. Geschichte a. b. c. d. e.

Griechen, Delphi Karthago, Pyrgi-Bleche Rom, Tarquinier Campanien und Po-Ebene Raetien, Runen

5. Wirtschaft a. b. c. d. e. f.

Eisen, Kupfer Ausfuhr Münzen Gold Landwirtschaft Grenzsteine

6. Gesellschaft a. b. c. d. e. f. g.

Männer Frauen, Mutterrecht? Adel Unfreie, lautni Familie, Namen Familiengräber Klienten, Metöken, etera

7. Städtebund a. b. c. d. e. f. g. h. i. j.

Städte in Außengebieten Stadtgott, evocatio Stadtbild Filialstädte Souveränität:Kriege Kultbund für Voltumna, Amphiktionie Bundesfest und -priester Gemeinsame Kriege Kultbünde der Außengebiete

8. Könige a. b. c. d.

rex Etruriae, praetor, strategos Stadtkönige Titel, Aufgaben Insignien, Unterbeamte

9. Adelsrepubliken a. b. c. d. e. f. g. h.

Aristokratie Senat, zilath Volksversammlung Beamte, purth Standesvertreter Unruhen Volsinii Nigidius

10. Ende und Bedeutung a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k. 1. m. n.

Zwei Völkertode Unterwerfung durch Rom Bürgerrecht Einfluß auf Rom vermitteln Religion vermitteln Griechisches Kaiserzeit saeculum Vegoia und Vergil Etrurien in der Kaiserzeit Mittelalter und Neuzeit Rezeption: Annius von Viterbo Antiklassizismus Etruskomanie

Literatur zu XI

325 Die Staatsform der Etrusker war die des Glücks und der Freiheit - es war die föderative Staatsform. Sismondi

1. Begriff la. Die Landschaft zwischen dem mittelländischen, östlich von Sardinien „tyrrhenisch" genannten Meer 1 im Westen, den Apenninen im Osten, dem Arno im Norden und dem Tiber im Süden 2 heißt in der lateinischen Literatur Etruria, seine Bewohner Etrusci. Gleichbedeutend ist der Name Tuscia bzw. Tusci, woher der spätere Name der Toskana stammt. Die Griechen bezeichneten die Etrusker als Tyrrhenoi oder Tyrsenoi,3 daher trägt das angrenzende Mittelmeer seinen besonderen Namen. Die Etrusker nannten sich selbst Rasenna.4 Sie erscheinen in der Geschichte um 700 v. Chr., standen um 500 auf ihrem Höhepunkt und gerieten danach allmählich unter römische Herrschaft. Ib. Die politische Körperschaft der Etrusker heißt in den lateinischen Quellen summarisch nomen Etruscum,5 genauer duodecim Etruscorum populi, wobei der Zwölfstädtebund angesprochen ist,6 oder einfach Etrusci, wie man die Angehörigen einer Polis oder eines Stammes zu kennzeichnen pflegte. Zwischen der politischen und der ethnischen Gemeinschaft wird nicht unterschieden.

2. Quellen 2a. Tacitus berichtet, der Korinther Demaratos, der Vater des römischen Königs Tarquinius Priscus, habe den Etruskern das griechische Alphabet beigebracht. 7 Tatsächlich verwendeten sie seit dem 7. Jh. griechische Buchstaben. 8 Sie übernahmen das chalkidische bzw. euböische Alphabet, das die Griechen in Pithecussae und Cumae benutzten. Über 60 erhaltene Inschrift-Alphabete, zumeist auf Tongefäßen 9 dienten didaktischen oder auch magischen Zwecken, ähnlich dem germanischen Futhark. 2b. Die Tusciae historiae aus dem 2. Jahrhundert vor Christus 10 und die Werke der auctores Tuscin sind verloren. Wir kennen lediglich dem Namen nach den etruskischen Tragödiendichter Volnius 12 und mehrere Titel anonymer Kultbücher: Libri Etruscorum,13 * 1 So schon bei Thukydides IV 24 * 2 Strabon V 2,1; Plinius, Nat. hist. III 5/53 ff * 3 Herodot I 166; Strabon V 2,2 * 4 Dion. Hal., Ant.I 30 * 5 Livius IX 41,6 * 6 s.u. 7 g! * 7 Tacitus, Ann.XI 14; Livius I 34,2 * 8 C. Camporeale, in: Die Etrusker und Europa, 1993, S . 8 6 f f * 9 Beispiele: Die Etrusker und Europa, 1993, Nr. 204-208 * 10 Censorinus 17,6 * 11 Kaiser Claudius: Dessau Nr. 212 * 12 Varrò, Ling. Lat. V 55 * 13 Cicero, De div.II 50

326

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

Libri Acherontici,u Libri Tagetici vel Vegoici,15 Libri exercituales,16 fulgurales et rituales,17 die Unterwelts- und Zukunftsfragen behandelten. Die Libri rituales18 bestimmten, in welchen Formen Städte zu gründen, 1 9 Altäre und Tempel zu weihen seien, welche Achtung Stadtmauern und Stadttore verdienten, 20 wie tribus, curiae und centuriae zu ordnen und Heere aufzustellen seien und alles, was Krieg und Frieden betreffe. Vermutlich wurden alle diese Texte ins Lateinische übersetzt, so wie dies für die Libri Augurum bezeugt ist. 21 Erhalten blieb die Mumienbinde aus Agram - Zagreb. Es handelt sich um einen liber linteus, der auf rätselhaftem Wege nach Ägypten gelangt war und dort als Mumienbinde zweckentfremdet wurde. Der Text bietet einen Kalender mit Opferanweisungen, 2 2 vermutlich aus dem 2. Jahrhundert vor Christus. 2c. Inschriftenfunde beweisen, daß die Etrusker auch auf den Dörfern lesen und schreiben konnten. 2 3 Etruskisch ist für uns ohne Schwierigkeiten lesbar, allerdings nicht ohne weiteres übersetzbar. Etwa 8700 Texte, überwiegend von rechts nach links geschriebene Grabinschriften, sind erhalten. 24 Sie reichen bis in die Zeit der ausgehenden Republik. 25 Die meisten lassen sich inzwischen auch deuten, aber bloß deswegen, weil sie sehr kurz sind und formelhaft die wenigen bisher übersetzbaren Wörter verwenden. Die Grabinschriften enthalten wenig individuelle Aussagen, so daß Sprachgut und Sprachkultur nur teilweise erschlossen werden können. Wir kennen etwa 40 Wörter: Verwandtschaftsbezeichnungen, Opferbegriffe und die Zahlwörter von Eins bis Sechs. Sie stehen auf einem Würfel; wir wissen aber nicht, welches Wort welche Zahl bezeichnet. 26 Die schriftlichen Selbstzeugnisse der Etrusker bleiben mithin für ihre Staatsform unergiebig. 2d. Außerordentlich reich hingegen sind die archäologischen Dokumente, 2 7 insbesondere aus dem Totenkult. Die Verstorbenen sind in Nekropolen mit dem größten Luxus beigesetzt worden. Sie wurden schon zu Caesars Zeit von Grabräubern geplündert. 28 Die reichen Gräber beginnen um 7 5 0 v . C h r . , neben der älteren Brandbestattung begegnet die Körperbestattung. Die Totenstädte, zumal die von Caere (Cerveteri), bestehen aus festen Kammergräbern für jeweils die ganze Familie, dazwischen liegen Straßen, und alles ist planmäßig angelegt. Die Grabanlagen sind unsere wichtigste archäologische Quelle für die Etrusker, insbesondere die Wandmalereien - überwiegend aus Tarquinii - , die religionsund kulturgeschichtliche Aufschlüsse vermitteln. Neben griechischen Mythen werden bisweilen auch Szenen der etruskischen Geschichte wiedergegeben 29 . Dazu kommen Kleinfunde, unter denen sich Zehntausende von eingeführten schwarz- und rotfigurigen Vasen aus Attika befinden. H a u p t f u n d o r t ist Vulci. Die größten Sammlungen etruskischer Kunst besitzen das Museo della Villa Giulia in Rom, 3 0 das Museo Gregoriano Etrusco im

* 14 Amobius, Adversus nationes II 62; einen Unterweltstext bietet der Ziegel von Capua in Berlin: Die Etrusker und Europa, 1993, Nr. 209 * 15 Ammian XVII 10,2 * 16 Ammian XXIII 5,8 * 17 Cicero, De div. I 72 * 18 Pompeius Festus, S. 358 f, ed. Lindsay * 19 vgl. Varrò, Ling. Lat. V 143 * 20 Daher das Sakrileg des Mauersprungs von Remus: Livius I 7,2; Plutarch, Romulus 11 * 21 Varrò, Ling. Lat. V 21; 58; VII 51 * 22 Bonfante 1983, S. 138f * 23 Die Schüler schrieben auf Wachstafeln mit eisernen Griffeln, die in R o m verboten waren: Isidor, Etym. VI 9,1 f * 24 Pauli 1893ff; Stoltenberg 1956; Pallottino 1968; Bonfante 1983; Rix 1991 * 25 Dessau Nr. 4958 * 26 Bonfante 1983, S. 78 f * 27 Eine gute Zusammenstellung bietet der Katalog »Die Etrusker und Europa« 1993. * 28 Sueton, Caes. 81,1 * 29 Tomba François: Heibig IV S. 204ff * 30 G. Proietti, Il museo Nazionale di Villa Giulia, 1980. Die wichtigsten Stücke sind beschrieben bei Heibig III, S . 4 6 8 f f

3. Kultur und Religion

327

Vatikan 31 und das Archäologische Museum in Florenz. Wertvolle Etruskerstücke finden sich im Britischen Museum, im Louvre und in Berlin.32 2e. Die meisten Aufschlüsse für Staat und Gesellschaft verdanken wir den griechischen und römischen Autoren. 33 Das Werk, das Kaiser Claudius (41-54 n. Chr.) vor seinem Regierungsantritt in zwanzig Büchern auf Griechisch über die Etrusker geschrieben hat, 34 ist verloren. Kurze, aber wesentliche Informationen liefern unter den älteren griechischen Autoren Herodot und Aristoteles, unter den jüngeren Dionysios von Halikamassos, Diodor und Strabon, alle etwa aus der Zeit des Augustus. Aus der lateinischen Literatur steht Livius an erster Stelle, doch findet sich auch bei Varro, Cicero und beim älteren Plinius Stoff. Die lateinischen Inschriften aus der römischen Zeit bezeugen das Fortleben alter munizipaler Institutionen. 35

3. Kultur und Religion 3a. Die Etrusker haben nur zeitweilig eine politische Einheit gebildet (s. u. 8 a!). Das, was sie zu einem Volk gemacht hat, war ihre Kultur. Die Etrusker sprachen eine gemeinsame Sprache, pflegten gleichartige Lebensformen und huldigten denselben Göttern. Gegenüber allen anderen Völkern Italiens wurden sie als fremdartig empfunden, und so behauptet Dionysios von Halikarnassos 36 , die Etrusker unterschieden sich von jedem italischen Volk nach Sprache und Lebensart. 3b. Die Andersartigkeit der Etrusker warf schon im Altertum die „Etruskerfrage" auf. Wo kamen diese Leute her? Die älteste Antwort darauf gab bereits im frühen 7. Jh. v. Chr. Hesiod. 37 Er erklärte die Tyrsener zu Nachkommen von Odysseus und der Zauberin Kirke, deren Insel man später mit Monte Circeo in Campanien gleichsetzte. 38 Ebenso fabulös schreibt Herodot: 39 In einer Zeit, die gemäß der mythologischen Tradition kurz vor den Kampf um Troja fällt, d. h. ins 13. Jh. v. Chr., sei im westlichen Kleinasien eine Hungersnot ausgebrochen. Als sie kein Ende nehmen wollte, erfanden die Lyder, um Essen zu sparen, den Würfel und den Ball. Einen Tag spielten sie, den anderen Tag aßen sie. Die Not aber hielt an, und nach 18 Jahren beschlossen die Lyder, die Hälfte des Volkes durch das Los zur Auswanderung zu bestimmen. Der Sohn des Königs, Tyrsenos, habe diese Lyder von Smyrna aus über See ins Land der Umbrer geführt, und nach ihm hätten die Tyrsener den Namen angenommen. Auf eine Völkerverschiebung deutet der Name des Flusses Umber (Ombrone), der durch Etrurien fließt. In die Frühzeit führt auch die Nennung der Thiras in der »Genesis« 40 und der Turscha oder Turascha unter den Seevölkern auf ägyptischen Inschriften des 13. Jhs. v.Chr. 41 3c. Hellanikos, der in der Zeit Herodots schrieb, identifizierte die Tyrsener mit den Pelasgern, 42 jenem rätselhaften vorgriechischen Volk, 43 das zumal im nordgriechischen * 31 Das Wichtigste bei Heibig I, S.467ff * 32 Die Welt der Etrusker, Ausstellung Berlin 1988 * 33 Umfassend ausgewertet von Müller + Deecke 1877 * 34 Sueton, Claudius 42,2 * 35 Dessau Nr. 6576ff * 36 Dion. Hai., Ant.I 30 * 37 Hesiod, Theogonie 1011 ff; Briquel 1991 * 38 Plinius, Nat. hist. III 9/57 * 39 Herodot I 94; Appian VIII 66; Plinius, Nat. hist. III 19/112 * 40 AT. 1. Mose 10,2 * 41 Ed. Meyer, 1892, S. 27; Skutsch 1907, S.730; W. v. Bissing, Die Überlieferung über die Turuscha, Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 35, 1928, S. 177 ff * 42 bei Dion. Hai., Ant. I 28; ebenso Sophokles, fr. 256; s.o. II 3 b! * 43 Ed. Meyer 1892; F. Lochner-Hüttenbach, Die Pelasger, 1960

328

Abb. 20.

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

Besiedlung Italiens 1200 - 500 v. Chr.

3. Kultur und Religion

329

Raum bezeugt ist.44 Die Pelasger seien aus Griechenland nach Italien vertrieben worden und hätten sich hier Tyrsener genannt. Herodot 45 betrachtete Tyrsener und Pelasger als Nachbarn in der Nordägäis. Als Seeräuber in der Ägäis nennt bereits der (pseudo-) homerische Hymnus an Dionysos 46 um 600 v. Chr. Tyrsenoi. 3d. In römischer Zeit ist die Herkunft der Etrusker aus Kleinasien zwar durch Dionys 47 bestritten worden, sonst aber die herrschende Ansicht gewesen.48 Tarchon, der Sohn oder Bruder des Tyrrhenus, galt als Gründer von Tarquinii 49 und anderen Etruskerstädten. Plinius 50 verband die Version Herodots mit der des Hellanikos, indem er annahm, daß die Lyder Pelasger gewesen seien und die Umbrer zurückgedrängt hätten. Die Einwanderungssage bietet eine Parallele zur Aeneas-Sage, 51 die ja auch von Ankömmlingen aus Kleinasien, von Nachkommen der Trojaner, erzählt. 52 Bei Vergil sind Tyrrhenus und Tarchon Mitkämpfer des Aeneas. 53 3e. Zur Lösung der Etruskerfrage lassen sich Argumente gewinnen aus der Sprache, aus der Religion und aus der materiellen Kultur. Zunächst zur Sprache! Was inzwischen vom Etruskischen deutbar ist54, läßt sich an keine bekannte Sprachfamilie angliedern. Es sind zahlreiche Vorschläge gemacht worden, die von einer Verbindung mit dem Baskischen im Westen bis zu einer Verwandtschaft mit dem Ur-Indischen im Osten reichen. Das Etruskische ist sicher keine indogermanische Sprache. Die einzige zuverlässige Parallele zum Etruskischen scheint eine 1886 gefundene Inschrift 55 von der Insel Lemnos in der Ägäis, die nach Thukydides 56 von „tyrsenischen Pelasgern" bewohnt war. Die Inschrift legt es nahe, das Etruskische mit kleinasiatischen Sprachen zu verknüpfen, die verschollen sind. 3f. Neben der Sprache zeigt die Religion 57 der Etrusker eigentümliche Züge. Unter ihnen fällt zunächst die weit entwickelte Weissagung auf. Aus der Beobachtung des Vogelfluges (auspicium), der Eingeweide von Opfertieren (haruspicina58) und des Blitzschlages suchte man die Zukunft zu ermitteln. 59 Die Technik der Leberschau 60 findet dabei verblüffende Parallelen in Mesopotamien. 6 ' Die Götterwelt hingegen steht eher unter italischem und griechischem Einfluß. Die Götter tragen teils griechische (Aplun für Apollon, Aritimi für Artemis), teils italische (Uni für Juno, Menrva für Minerva), teils etruskische Namen. Letztere werden vielfach zu griechisch-römischen Göttern in Entsprechung gesetzt (Tinia gleich Juppiter, Turan gleich Venus) 62 , doch gibt es daneben auch Weihungen an orientalische Götter 63 und rein etruskische Gottheiten. Zu ihnen zählt die Bundesgöttin Voltumna und der Unterweltsdämon Tuchulcha, der einen Raubvogelschnabel trägt. 64 Das Totenreich ist das zweite große Thema der etruskischen Religion. Die * 44 Homer, Ilias XVI 233 * 45 Herodot I 57 * 46 Homer, Hymne VII 9; Athenaios 672 B * 47 Dion. Hal., Ant. I 28,2 ff * 48 Valerius Maximus II 4,4; Appian VIII 66; Isidor, Etym. XIV 4,22; XVIII 16,2; Pompeius Festus, S.340, ed. Lindsay; Stephanos von Byzanz s.v. Agylla * 49 Strabon V 2,2 * 50 Plinius, Nat.hist.III 5/50 * 51 Sie ist „ein Produkt des griechisch-etruskischen Kulturaustauschs." Strasburger 1968/82, S. 1023 * 52 Die kanonische Fassung bietet Vergils Aeneis * 53 Vergil, Aeneis X 153; XI 612 * 54 s.o. 2 a! * 55 Inscriptiones Graecae XII 8 Nr. 1; Umzeichnung bei Bonfante 1983, S. 51 * 56 Thukydides IV 109,4 * 57 Müller + Deecke 1877, II S. I f f * 58 Erfunden in Tarquinii: Cicero, De div. II 50 * 59 Junior, Expositio totiusmundi 56 * 60 Etruskische Lebermodelle: Die Etrusker und Europa,1993, Nr. 194f; L.B. van der Meer, The Bronze Liver of Piacenza, 1987 * 61 AT. Hesekiel 21,26; Lebermodell aus Ton, gefunden bei Emar in Syrien, heute in Aleppo, 1200 v.Chr. Im Berliner Ausstellungskatalog »Land des Baal« 1982 Nr. 153 * 62 Götterliste bei Müller + Deecke 1877, II S. 541 f * 63 Astarte auf den Pyrgi-Blechen: Heibig III S. 349 * 64 Tomba dell'Orco bei Tarquinia: Die Etrusker und Europa, 1993, S. 241

330

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

»Libri Acherontici« lehrten, welches Tierblut, welchen Göttern geopfert, die Seelen göttlich und unsterblich mache. 65 Aus dem etruskischen Totenkult stammt der von den Römern dann übernommene Gladiatorenkampf, 6 6 ursprünglich wohl ein Menschenopfer für den Hammergott Charun.61 Gladiatoren kämpften in Rom seit 264 v. Chr. bei Volksfesten und Gelagen. 68 Menschenopfer sind für Tarquinii zum Jahre 358 v. Chr. bezeugt. 69 Die Priesterämter waren erblich, wie ursprünglich in Athen und Rom. 70 3g. Die etruskische Theologie (disciplina Etrusca71) wurde zu allen Zeiten von den Römern bewundert. Vornehme Römer haben ihre Söhne früh auf etruskische Schulen geschickt 72 - später nach Athen. Wie die Geschichte vom ungetreuen Schulmeister aus Falerii lehrt, 73 gab es in den etruskischen Städten um 400 v. Chr. öffentliche Schulen für die Kinder der principes. Diodor 74 rühmt den hohen Stand der Bildung bei den Etruskern. Auf dem Lande sprach man Mundart. 7 5 Unter den literarisch vermittelten Stoffen muß die griechische Mythologie einen hervorragenden Platz eingenommen haben; die bildlichen Darstellungen 76 beweisen, daß die Etrusker die Mythen kannten. 3h. Wie die Sprache und die Religion, so zeigt auch die materielle Kultur seit dem 7. Jh. Beziehungen zum Osten. Das beschränkt sich nicht auf Funde, die sich als Einfuhrgut nach Italien deuten lassen, sondern schließt auch solche ein, die ähnliche Lebensgewohnheiten bezeugen. Für den orientalischen Ursprung der etruskischen Kultur spricht ihre Ausbreitung von der See her. Die ältesten Zentren sind auf den vorgelagerten Inseln festgestellt worden, voran Elba, gefolgt von den Küstenstädten zwischen Populonia im Norden, dem einzigen natürlichen Hafen Etruriens, 77 und Graviscae, dem Hafen von Tarquinii im Süden. Von hier aus drang die Kultur immer weiter ins Innere vor. Die zuerst besetzten Plätze liefern uns den wirtschaftlichen Grund für eine Einwanderung der Orientalen: es sind die ergiebigsten Eisenerzlager Italiens. 3i. Gegen die orientalische Herkunft der Etrusker wird angeführt, daß sich in der materiellen Kultur, insbesondere in den Bestattungsriten des später etruskischen Raumes kein Bruch zeigt, den man mit jener Einwanderung verbinden könnte. Die Bodenfunde bezeugen eher eine Kontinuität der Bevölkerung. Was sicher nicht stattgefunden hat, ist eine plötzliche Masseneinwanderung. Wahrscheinlich sind zuerst kleinere Gruppen erschienen, die andere nachgezogen und so allmählich die Vorbewohner durchdrungen und überschichtet haben. Die frühgeschichtlichen Wanderungen bestehen ja überwiegend aus kleinen, aber gut organisierten Kriegerverbänden, die sich die jeweilige Vorbevölkerung unterwerfen, ihre mitgebrachte Kultur einmischen und sich selbst durch Eheverbindungen allmählich den Vorbewohnern angleichen. Die Streitfrage, ob die Etrusker aus dem Orient eingewandert seien78 oder sich unter orientalischem Einfluß in Italien gebildet haben 79 entschiede die Sprache, wenn klar wäre, daß sie tatsächlich aus dem Osten stammt. Irgendwelche Leute sind gewiß aus dem Orient gekommen, wir wissen nur nicht, wie viele. * 65 Arnobius, Adversus nationes II 62 * 66 Athenaios 153 F; Isidor, Etym. X 159; Diodor XXXIII 21a * 67 Tertullian, Apol. XV 5 * 68 Athenaios 153 F; Valerius Maximus II 4,7 * 69 Livius VII 15, 10; auch die römischen Menschenopfer im Zweiten Punischen Krieg (Livius XXII 57, 6) erfolgten auf Geheiß der etruskischen Libri Fatales. Müller + Deecke 1877, II S . 2 0 * 70 Livius V 22,5; Müller + Deecke 1877, II S. 3 ff * 71 Cicero, De div.II 50 * 72 Livius IX 36,3 * 73 Livius V 27 * 74 Diodor V 20,4 * 75 Livius X 4,10 * 76 auf Sarkophagen, Spiegelrückseiten, Bronze-Cisten und Grabfresken * 77 Strabon V 2,6 * 78 Pfiffig; Alföldi * 79 v. Vacano; Heurgon

4. Geschichte

331

3j. Die Etrusker sind in keinem Fall in ein unbesiedeltes Gebiet eingewandert. Sie bilden mindestens die dritte Welle von Eindringlingen in diesen Raum. Ihnen voraus ging die Einsickerung indogermanischer Völker aus Zentraleuropa. Sie kamen im 2. Jt. v. Chr. über die Adria. Am Ende steht die Landnahme der Umbrer. Dieser Bevölkerungsschicht wird die Villanova-Kultur zugeschrieben, 80 1854 benannt nach einem Fundort bei Bologna. Die Villanova-Kultur vertritt die Urnenfelderkultur in Italien, sie gehört in die frühe Eisenzeit und füllt die Zeit von etwa 1000 bis 600 v. Chr. Der Formenschatz zeigt enge Verbindungen zum mittleren Donauraum. 3k. Aber auch die indogermanischen Italiker kamen nicht in menschenleeres Land. Hier saßen bereits Bauern, die sprachlich mit den Umwohnern des westlichen Mittelmeerraumes verwandt waren und sich in den Ligurern bis in historische Zeiten hinein erhalten haben. Sie werden zuweilen als bodenständig bezeichnet, aber so etwas gibt es natürlich nicht. Da alle Mutationen in der Stammesgeschichte jeweils nur einmal stattgefunden haben, mithin alle Menschen von einem einzigen Elternpaar abstammen, gäbe es echte Ureinwohner nur im Paradiese. Doch aus diesem sind sie bekanntlich vertrieben worden.

4. Geschichte 4a. Seit etwa 700 v. Chr. drang von der Küste des tyrrhenischen Meeres eine neue, reiche Zivilisation ins Hinterland vor und verschmolz mit der Villanova-Kultur. Gleichzeitig besetzten die Griechen Sizilien und die Küsten von Unteritalien. Der Handel zwischen Etruskern und Griechen zeigt ein Kulturgefalle: während kaum Spuren etruskischer Kultur in der griechischen Welt zu finden sind, begegnen uns griechische Spuren in der etruskischen Zivilisation auf Schritt und Tritt. Die Übernahme der griechischen Lebensformen schloß kriegerische Auseinandersetzungen nicht aus. Immer wieder kam es zu Kämpfen, überwiegend waren es Seeschlachten mit den Westgriechen, die von den Etruskern anfangs siegreich, später unter erheblichen Verlusten geschlagen wurden. 540 vertrieben die Etrusker die Griechen von Korsika, wo die Phokaier 564 die Stadt Alalia (Calaris) gegründet hatten. 81 Die Etrusker unterlagen jedoch 524, 504 und 474 bei Cumae. 82 Um 480 bekämpfte Anaxilaos, der Tyrann von Rhegion, etruskische Piraten. 83 Tyrrhenische Seeräuber verunsicherten zuvor die Ägäis. 84 Dennoch blieben die Griechen der wichtigste Handelspartner. Die Etruskerstadt Caere besaß ein Schatzhaus in Delphi; 85 Spina hatte ebenfalls ansehnliche Weihegaben dorthin gestiftet 86 und war im delphischen Amphiktionenrat vertreten; 87 auch Weihungen nach Olympia sind bekannt: die älteste Stiftung eines „Barbaren" war der Thron des Etruskerkönigs Arimnestos. 88 4b. Sicherster Bundesgenosse der Etrusker war Karthago, das auch seinerseits ein Vordringen der Griechen ins westliche Mittelmeer verhindern wollte. 89 Einvernehmen zwischen Karthago und Etrurien bezeugen die 1964 im Heiligtum der Weißen Göttin von Pyrgi, der Hafenstadt von Caere-Cerveteri, gefundenen Goldbleche mit punischer und etruskischer Beschriftung aus dem 5. Jh. 90 Dionysios I, der mit den Karthagern wie mit den * 80 Kahler 1960 Nr. 1 * 81 Herodot I 165; Diodor V 13,4 * 82 Diodor V 9; XI 51; Pausanias X 11,3; Tod Nr. 22 * 83 Strabon VI 1,5; Diodor V 9; * 84 Homer, Hymnus VII 6ff; Athenaios 672 B * 85 Strabon V 2,3 * 86 Plinius, Nat. hist. III 20/120 * 87 Strabon V 1,7; IX 3,8 * 88 Pausanias V 12,5 * 89 Herodot I 166; Aristoteles, Politik 1280 a 30 * 90 Texte bei Pallottino 1968, S0.109ff. Eine etruskische Inschrift aus Karthago: ebd. S. 94 Nr. 724; Heibig III S. 349

332

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

Etruskern verfeindete Tyrann von Syrakus, plünderte um 380v.Chr. den genannten Leukothea-Tempel.91 4c. Innerhalb des eigentlichen Etrurien durchdrang die etruskische Kultur alle sozialen Schichten. Außerhalb hingegen öffneten sich vor allem die Oberschichten etruskischem Wesen, teilweise ist der Adel dort selbst etruskischer Herkunft. Das berühmteste Beispiel ist das frühe Rom, eine latinische Siedlung, die unter der Führung etruskischer Könige aufblühte und diese dann verjagte. Gemäß der Überlieferung dauerte die Herrschaft der Tarquinier aus Tarquinia in Rom von 616 bis zum regifugium 509, als Brutus das Königtum durch Magistrate ersetzte.92 4d. Noch um 500 war die etruskische Macht in der Ausdehnung begriffen. Vor allem Campanien - das Hinterland von Neapel - zeigt etruskischen Einfluß.93 Vorort war Volturnum, das spätere Capua. 94 Die Apenninen wurden nach Norden überschritten, und zahlreiche Kolonien entstanden in der Po-Ebene.95 Auf dem Wege dorthin liegt die etruskische Pflanzstadt Misano-Marzabotto. Als Hauptstadt der Etrusker nördlich der Apenninen wird die Stadt Felsina, das später keltische Bononia (Bologna) bezeichnet96. Die Kontakte mit den Kelten sind alt97. Einen etruskischen Namen trägt die Stadt Ravenna, 98 auch Mantua ist vorkeltischen, etruskischen Ursprungs. 99 An der ehemaligen Po-Mündung wurde die jüngst ausgegrabene100 Lagunenstadt Spina gegründet, die durch den Handel über die Adria mit Athen reich wurde. Seit der Niederlage der Etrusker zur See bei Cumae 474 gegen die Griechen101 versperrte die syrakusanische Flotte den Seeweg um Italien herum nach Osten. Aus diesem Grunde unterstützten die Etrusker 414 die Expedition der Athener gegen Syrakus.102 Das adriatische Meer trägt seinen Namen nach der Etruskerstadt Hatria 103 4e. Die Etrusker in der Po-Ebene gerieten seit etwa 400 unter den Druck der Kelten104. Ein Teil der Etrusker wurde in die Alpentäler abgedrängt und erscheint dort unter dem Namen der Raeter.105 Später erstreckte sich Raetien bis an die obere Donau („Ries"). Das nordetruskische Alphabet gelangte, vielleicht über die Markomannen, im 1. Jh. n. Chr. zu den Nordgermanen, die daraus das Runen-Alphabet entwickelten.106 Die älteste, vor 200 v. Chr. datierte germanische Inschrift trägt ein Helm aus Negau in Krain,107 in nordetruskischen Buchstaben lesen wir HARIGASTI TEIVA HIL. 108 * 91 Strabon V 2,8; Aelian, VH.I 20 * 92 Livius I 60,3 * 93 Polybios II 17,1; Vellerns I 7,2; Strabon V 4,8; Pausanias (IV 35,12; VIII 7,3) rechnete Dikaiarchia-Puteoli zum Etruskerland. * 94 Livius IV 37,1 * 95 Strabon V 1,10. Die nordetruskischen Münzen: Catalli 1990, S. 101 ff. * 96 princeps Etruriae; Plinius, Nat.hist. III 20/115 * 97 Plutarch, Cam. 15 * 98 Müller + Deecke 1877, I S . 138 * 99 Plinius, Nat. hist. III 20/115 * 100 N. Alfieri, Das antike Spina und seine Wiederentdeckung, 1958; Scavi di Spina, 1960ff; P.E. Arias, Contributo a Spina etrusca, Monumentset mémoires, 61, 1977, S.25ff * 101 Diodor XI 51 * 102 Thukydides VI 88 * 103 Livius V 33,8; Plinius Nat. hist. III 20/120 * 104 s.u. XIV 3b! * 105 Livius V 33; Plinius, Nat. hist. III 23/130; Justin XX 5,9. Zur materiellen Kultur: I. R. Metzger + P. Gleirscher(Hgg.), Die Räter I Reti, Chur 1992 (Ausstellungskatalog) * 106 Bonfante 1983, S.92ff. Die älteste literarische Erwähnung der Runen findet sich bei Venantius Fortunatus (VII 18, 19) im 7. Jh.: barbara fraxineis pingatur rhuna tabellis; s.u. XXI 2 b! * 107 Bezw. in der Steiermark, bezw. in Slowenien bei Marburg an der Drau, Helm B bezw. 22 heute im kunsthistorischen Museum in Wien. Abgebildet mit Literaturangaben in: Die Etrusker und Europa, 1993, Nr. 357. * 108 Die letzten Buchstaben sind unsicher, ebenso Deutung und Datierung: R. Egger, Römische Antike und frühes Christentum, II 1963, S. 292 ff

333

5. Wirtschaft

5. Wirtschaft 5a. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen 1 0 9 für den kulturellen Aufstieg Etruriens liegen in der Eisengewinnung. Seit dem 8. Jh. wurden die Erzlager auf Elba 110 , bei Populonia 1 1 1 und im übrigen Etrurien intensiv genutzt. M a n glaubte, das Eisenerz wüchse nach. 112 Ob die in jener Zeit bis Campanien vorgestoßenen Griechen bei der Ausbeutung eine Rolle gespielt haben, ist ungewiß. Vor und neben der Eisenproduktion besaß die Kupfergewinnung 1 1 3 eine gewisse Bedeutung. Beide Metalle wurden im Tagebau gewonnen und an Ort und Stelle verhüttet. Die Schlackenberge wurden seit dem 1. Weltkrieg ein zweites Mal ausgeschmolzen, sie enthielten noch 30 Prozent Metall. 5b. Das gewonnene Eisen wurde teilweise gleich weiter verarbeitet, vor allem zu Waffen. Eisen war der wichtigste Ausfuhrartikel Etruriens, Hauptabnehmer waren die Griechen in Italien und Südgallien, nicht zuletzt Athen. Die griechischen Vasen aus den etruskischen Gräbern wurden wohl überwiegend mit Roheisen bezahlt. Als Scipio 205 v. Chr. zum Zuge gegen Karthago rüstete, lieferte die Etruskerstadt Arretium 3.000 Schilde und ebensoviele Helme, 50.000 Speere und anderes" 4 . Der N a m e Arretium-Arezzo liegt wahrscheinlich dem deutschen Wort „Erz" zugrunde. 5c. Die Münzprägung 1 1 5 fand in Etrurien im 5. Jh. Eingang. Sie stand unter griechischem Einfluß, namentlich von Massilia. Eine Besonderheit etruskischer und später römischer Prägungen ist, daß die Stücke, so wie unsere heutigen Münzen, Wertangaben in F o r m von Zahlzeichen (II, V, X) zeigen. Wie in der griechischen Welt, so prägte auch bei den Etruskern jede Stadt für sich, so etwa Populonia (etr. Pupluna), Tarquinia (etr. Tarchna), Vetulonia (etr. Vatluna) und Volterra (etr. Velathri). Es gab auch Gemeinschaftsprägungen. Die Etrusker prägten bis zum Bundesgenossen-Krieg 116 . 5d. Derjenige Gewerbezweig, der die höchste Bewunderung verdient, war die Goldschmiedekunst. Sie zeigt bereits am Anfang eine technische Höhe, die im Altertum niemals übertroffen worden ist. Von bestimmten Arten der Granulation heißt es sogar, daß sie bis heute nicht wieder erreicht seien. In der Zeit um 400 rühmte der Athener Sophist Kritias die goldgetriebenen Schalen und die Erzprodukte der Tyrsener. 117 Das Rohgold stammt aus dem P o , " 8 aus Ägypten oder Gallien. 5e. Neben der Metallindustrie war die Landwirtschaft die wichtigste Erwerbsquelle. Der Boden Etruriens galt im Altertum als fruchtbar, 1 1 9 die Verkarstung ist erst nachantik. Auch die Malaria besaß damals noch keine Bedeutung. Teilweise wurde sie durch planmäßige Entwässerung in Schranken gehalten. 120 Scipio requirierte 205 in Arretium außer dem genannten Metall Getreide, Segeltuch und Nadelholz. 121 Das etruskische Getreide wurde zuweilen auch nach R o m verhandelt, 122 der etruskische Wein, wie die Amphorenfunde lehren, von den Griechen um Massilia geschätzt. 123

* 109 Müller + D e e c k e 1877, I S . 2 1 6 f f * 110 Vergil, Aeneis X 1 7 3 f ; Plinius, N a t . hist. III 6/81; X X X I V 41/152; D i o d o r V 13,1 f *

111 Strabon V 2,6; Aristoteles, Mirabilia 93

2, 6; Servius zu Vergils Aeneis X 177

*

*

112StrabonV

113 in Caere: S t e p h a n o s v o n Byzanz s . v . Agylla; in Elba:

Aristoteles, Mirabilia 93 * 114 Livius X X V I I I 45, 16 * 115 Müller

+

Deecke

I 1877,

S.377ff;

E. J. Haeberlin, A e s Grave, 1910 (Standardwerk); B. V. Head, Historia N u m o r u m , 1911, S. 11 ff; Catalli 1990 * 116 Pfiffig 1968, S. 122 * 117 Kritias, VS. 88 B 2 * 118 Plinius, N a t . hist. X X X I I I 21/66 * 119 D i o d o r V 40,3; Martianus Capella 637 * 120 Plinius, N a t . hist. III 2 0 / 1 2 0 * 121 Livius X X V I I I 45, 1 4 f f * 122 Livius IV 25,4 * 123 Die Etrusker und Europa, 1993, S. 1 6 8 f f

334

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

5 f . Als Charakteristikum der etruskischen Landwirtschaft gilt die religiöse Verehrung des Juppiter, etruskisch Tinia, in seiner Eigenschaft als Schützer der Eigentumsgrenzen. Die Aufteilung des Bodens mit Hilfe heiliger Grenzsteine 124 wird mit dem mythischen Regiment Juppiters verbunden; in der vorhergehenden goldenen Zeit Saturns soll das Setzen von Grenzsteinen als Verbrechen gegolten haben. In dieser mythologischen Überlieferung könnte sich eine historische Erinnerung gehalten haben, der Übergang vom Gemeineigentum zum Privatbesitz am Lande. Die mythische Prophetin Vegoia begründet die soziale Garantie des Privatlandes als Schutzmaßnahme gegenüber dem Landhunger der Mächtigen. 125 Rousseau schrieb 1754 in seinem Zweiten Discours: Le premier qui ayant enclos un terrain s'avisa de dire: „Ceci est à moi", et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile. Wenn er damit Recht hat, waren die Etrusker die Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Sie erachteten das Eigentum des Einzelnen nicht als Raub an der Gemeinschaft, wie später Proudhon, sondern als Sicherung vor dem Raub.

6. Gesellschaft 6a. Wie in allen antiken Staatswesen bestand bei den Etruskern die wichtigste Gruppe aus den Gemeinfreien. Es waren diejenigen Männer, die als schwerbewaffnete Fußtruppe, als Hopliten, die Legionen 126 bildeten, die als Seeleute die Kriegs- und Handelsschiffe bemannten, in großem Stile Seeraub betrieben 127 und denen in der Heimat Grund und Boden gehörte. Kriegsdienst und Grundbesitz sind auch in Etrurien Voraussetzungen des Bürgerrechts. Wie wir aus den umfangreichen Grabfunden erschließen können, gab es eine verhältnismäßig homogene Mittelschicht von beträchtlichem Wohlstand. Die bildlichen Darstellungen weisen auf die Feste, auf das Handwerk und das Kriegswesen. Die Römer betrachteten die Etrusker als Erfinder der Trompete, die für die Taktik von erheblicher Bedeutung war. 128 Als Zeichen einer fortgeschrittenen Entwicklung kann es gelten, daß die Etrusker vergleichsweise früh Söldner ins Feld geschickt haben, 129 darunter Kelten. 130 6b. Einen hohen sozialen Rang nahm die Frau ein.131 Während in Rom die Frauen lediglich den Familiennamen ihres Vaters trugen (Cornelia, Claudia), besaßen die Etruskerinnen, ebenso wie die Griechinnen, einen Vornamen. Nicht nur Hetären, wie bei den Griechen, sondern auch ehrbare Frauen nahmen an Gelagen teil.132 Den Römerinnen war das Weintrinken verboten - der Kuß diente der Kontrolle 133 - , dagegen tranken die Etruskerinnen viel und gern. Nach Athenaios 134 waren sie führend in der Körperpflege, hatten keine Scheu, sich unbekleidet zu zeigen, und nahmen es auch mit der ehelichen Treue nicht so genau. Doch wäre es bei ihnen unüblich, Säuglinge auszusetzen. Der Reichtum früher Frauengräber 135 entspricht dem literarisch bezeugten Goldschmuck der Etruskerin* 124 ein Beispiel: Stoltenberg 1956, S. 38 * 125 Gromatici I S. 350f * 126 Livius X 5,4 * 127 Diodor XVI 82,3; Strabon VI 1,5; 2,2 * 128 Diodor V 40,1; Athenaios 184 A; Pompeius Festus 444f * 129 Livius II 12,7; Nigidius Figulus bei Johannes Lydos, De Ostends 27 * 130 A p p i a n i l i 6,1; IV 11 * 131 Rallo 1989 * 132 B. Andreae, in: Die Etrusker und Europa, 1993, S. 232ff; Kähler 1958, Tafel 11; ders. 1960, S. 4 0 f * 133 Polybios VI I I a * 134 Athenaios 517 D - 518 B * 135 z.B. Die Tomba Regolini-Galassi, um 650 v.Chr., 1863 in Caere gefunden, deren Beigaben ins Museo Gregoriano Etrusco im Vatikan kamen: Heibig I, S . 4 7 9 f

6. Gesellschaft

335

nen i36 . Tanaquil, die etruskische 137 Gemahlin des Tarquinius Priscus, wird von Livius 138 als selbstbewußte Frau geschildert. In den Inschriften erscheint neben dem Vaternamen zuweilen der Muttername 1 3 9 . Maecenas, der etruskische Freund des Augustus, führte auch das mütterliche Gentilicium Cilnius. 140 Dennoch hat sich der von Johann Jakob Bachofen (1815-1887) gezogene Schluß, die etruskische Gesellschaft sei überhaupt mutterrechtlich angelegt gewesen, 141 nicht halten lassen. 6c. In den Quellen ist häufig von principes die Rede, von vornehmen Etruskern, die das Volk zum Kriege zusammenriefen 142 und in einer, dem römischen Senat ähnlichen Körperschaft die Politik berieten. Aus den Grabfunden ergibt sich, d a ß einzelne Etrusker großen Reichtum besaßen; eine klare Scheidung zwischen ärmeren Adligen und reicheren Bürgern hingegen ist archäologisch nicht möglich. Erbliche Vorrechte dieses Adels, wie sie in R o m die Patrizier genossen, lassen sich weder aus den schriftlichen noch aus den materiellen Dokumenten erschließen. Vielleicht besaßen die zuweilen gefundenen Streitwagen, die allerdings bloß friedlichen Zwecken dienten, den Charakter von Standesabzeichen. 143 Athenaios beschreibt den Gelage-Luxus der reichen Etrusker. Sie tränken aus goldenen Bechern, 144 ließen sich von nackten Sklavinnen bedienen und praktizierten die Knabenliebe. Bei allen Gelegenheiten hörten sie Flötenmusik, beim Teigkneten, beim Faustkampf und beim Auspeitschen von Sündern und Sklaven. 145 6d. Eine historisch gut bezeugte Gruppe von Unfreien, etruskisch lautni,146 stand im persönlichen Dienst der Reichen. Wir finden sie als Hausdiener, als Mundschenken, als Musikanten und Schauspieler. Wenn sich die antiken Autoren darüber wundern, daß die Sklaven im selben Stil lebten wie die Freien, daß sie wie diese in eigenen Häusern wohnten und üppiger gekleidet auftraten, als es Sklaven eigentlich zukomme, 147 dann ist sicher diese persönliche Dienerschaft gemeint. Ungewöhnlich ist, d a ß Heiraten mit Freien offenbar keine Schwierigkeiten machten: es gibt Belege für die Ehe zwischen freien Männern und minderfreien Frauen und umgekehrt. Auch kommt es vor, daß lautni außerhalb der familia heirateten. In diesen Fällen folgte die Frau dem Manne. Sklaven im Sinne des römischen Rechts begegnen uns in Etrurien dann in republikanischer Zeit. Als im 2. Jh. die Kriegsgefangenen aus Griechenland, Karthago und Gallien zu Abertausenden in Italien einströmten, wurden sie auch in Etrurien eingesetzt und lebten dort offenbar unter besonders harten Bedingungen 148 . 6e. Die etruskische Gesellschaft kannte die gemeinantiken Formen vertikaler Bindung, insbesondere die Familie und die Hintersassen, die Klientel. Diese gentilizische Struktur zeigt eine hohe Stabilität. An der Spitze der Großfamilie stand der pater familias, neben ihm die Ehefrau, darunter die Kinder und das minderfreie Hausgesinde. Das zusammen ergibt die familia, die Hausgemeinschaft. Die Grabinschriften der Beamten nennen Vornamen, Familiennamen, Vatersnamen, bisweilen Muttersnamen. 1 4 9 Im Unterschied zu den Grie* 136 Ovid, Amores III 13, 25 f * 137 Martianus Capella 279; 294 * 138 Livius I 34 * 139 So auch bei den Sokrern in Bruttium: Polybios XII 5,6 * 140 Tacitus, Ann.VI 11,2 * 141 J.J. Bachofen, Die Sage von Tanaquil (1870), in: ders., Gesammelte Werke VI, 1951; s.o. II 4 c - h ! * 142 Livius IX 36,12 * 143 Im Grab Regolini-Galassi: Heibig I, Nr. 670. In einem Grab aus Monteleone di Spoleto: Kahler 1960, Nr. 10 * 144 Athenaios 28 B. Grabfunde bestätigen die Nachricht. * 145 Athenaios 153 D; 517 D - 518 B nach Timaios und Theopompos * 146 Müller + Deecke, I 1877, S. 505f: „Freigelassene" * 147 Diodor V 40,3f * 148 Plutarch, Gracchen 8,7 * 149 Hirata 1972, S. 159

336

Abb. 21.

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

Nekropole von Caere-Cerveteri (nach J. Heurgon)

7. Städtebund

337

chen besaßen die Etrusker Familiennamen, ein nomen gentile, das die Zugehörigkeit des Einzelnen zur Sippe des Vaters zum Ausdruck bringt. Da die Helden der römischen Gründungssage wie Romulus und Numitor nur einen einzigen Namen tragen, stammt das römische Namenswesen mit praenomen, nomen gentile, Filiation und cognomen offenbar von den Etruskern. Viele römische Namen, vor allem praenomina, sind etruskisch, so Marcus, Caius, Aulus, Tullus und Lars. Außerdem scheinen die Etrusker neben der natürlichen Verwandtschaft die rechtliche gekannt zu haben, etwa durch Adoption oder Freilassung. Innerhalb einiger dieser riesenhaften Familien begegnen uns griechische, ägyptische und jüdische Namen, die auf ehemalige Sklaven hindeuten 150 . Griechische Metöken lebten in Graviscae, 151 auch verbannte Griechen fanden Aufnahme. 152 6 f . Archäologisch spiegelt sich diese Familienstruktur in der Grabkultur: Herrschte in der älteren Zeit die kleine, nur für ein Ehepaar angelegte Grabkammer vor, so werden seit dem 5. Jh. auch die übrigen Familienmitglieder im gleichen Grab beigesetzt, die größten Anlagen bergen bis zu 200 Tote. In dieser gemeinsamen Familiengruft liegt eine soziale Bindung, die ein Strukturmerkmal der Gesellschaft war. 6g. Hinzu tritt die verstreut wohnende Klientel, die ihrerseits aus entsprechend aufgebauten Familien bestand. Zwischen den Klienten, griechisch penestai, etruskisch etera, und dem Herrn bestand ein Treueverhältnis, das darin zum Ausdruck kommt, daß diese Klienten mit ihren Söhnen dem Herrn in den Krieg folgten. 153 Wenn der etruskische Ausdruck etera von dem griechischen hetairos abgeleitet ist, dann ist die Gefolgschaft bestimmend für den Charakter der Abhängigkeit. Noch im Bundesgenossenkrieg im Jahre 91 sind die Etrusker mit diesen Leuten gegen Rom marschiert. 154

7. Städtebund 7a. Grundlage der politischen Ordnung bei den Etruskern war die Stadt. 155 Die Etrusker waren die ersten Städtebauer in Italien. Ihre ältesten Städte bevorzugten natürliche Befestigungslagen und zeigen ein planloses Gewirr von engen Straßen, ganz so, wie es die altmediterranen Städte etwa des minoischen Kreta 156 oder des frühen Israel 157 kennzeichnet. Seit dem 6. Jh. v. Chr. tritt im Mittelmeer-Raum das Schachbrettmuster auf, sowohl bei den Griechen in Kleinasien (Milet) und Sizilien (Agrigent, Metapont, Selinus) als auch bei den Etruskern. Während aber den griechischen Schachbrettstädten ein rechtwinkliges Gitter von Straßen zugrunde liegt, das sich nach dem Gelände richtet, beruhen die etruskischen Städte auf einem Achsenkreuz in der Windrose (Marzabotto, Vetulonia 158 ). Die Römer, die auch im Städtebau Erben der Etrusker waren 159 , nannten die Nordsüd-Achse cardo, die Ostwest-Achse decumanus und die Häuserviertel insulae. Etruskischem Wesen entspricht es, daß jede Stadtgründung mit religiösen Zeremonien umgeben war, die von den Römern nachgemacht wurden. * 150 Heurgon 1981, S.98 * 151 Weihinschrift des Kaufmanns Sostratos: G.Camporeale in: Die Etrusker und Europa 1993, S. 50. * 152 Dion. Hal., Ant. VII 10 * 153 Dion. Hal., Ant. IX 5; Livius IX 36,12 * 154 Appian XIII 36 * 155 Die etruskischen Städte listet Plinius, Nat. hist. Ill 8/50 auf. * 156 s.o. II 4 b! * 157 s.o. Ill 7j! * 158 Mansuelli, in: Mostra dell' Etruria Padana I, Rom 1960, S. 214ff * 159 Varro, Ling. Lat. V 143; Hygin in: Gromatici, S. 166; Dion. Hal., Ant. IV 13,3; Livius I 44, 4 f

338

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

7b. Zeigen die Städte des eigentlichen Etrurien einen durch und durch etruskischen Charakter, so ist das in den Außengebieten anders. In Perusia lebten neben den herrschenden Etruskern die Umbrer weiter, in Spina finden wir daneben die eingeborenen Veneter. Capua bestand aus einem etruskischen und einem oskischen Stadtteil, abgesehen von den zugezogenen Sabinern; Praeneste und Rom hatten überwiegend latinische Einwohner, aber eine etruskische bzw. etruskisierte Oberschicht. Dies zeigt, daß die ethnischen, kulturellen und politischen Verhältnisse sich nicht decken müssen. 7c. Wichtig als einheitstiftendes Moment war die gemeinsame Verehrung der Stadtgottheit. Alle antiken Städte besaßen einen solchen Schutzgott, dessen Tempel im Mittelpunkt der Stadt lag und zu dessen Fest sich alles versammelte. Als bestes Beispiel für den Glauben an die Realität dieser Schutzmacht mag das Ritual der evocatio bei den Römern gelten. Bevor sie 396 die Etruskerstadt Veji eroberten, riefen sie deren Schutzgöttin Juno Regina heraus, indem sie ihr große Versprechungen machten. 160 7d. Veji soll die Größe Athens besessen haben 161 . Seit dem 6. Jh. wurden Stadtmauern errichtet, die von Luna bestand aus Marmor, 162 die von Tarquinii war 10 km lang. Außerhalb lagen die Totenstädte. Die Römer hielten das altitalische Atrium-Haus, das um einen Säulenhof herum angelegt ist, für eine etruskische Erfindung. 163 Das Wort atrium selbst stammt von der Etruskerstadt Hatria. 164 Die Etrusker haben den griechischen Tempeltyp nachgebaut, mit drei Zellen versehen und auf ein Podium gestellt. Das berühmteste Beispiel ist der Tempel des Capitolinischen Juppiter. 165 Von den Etruskern übernahmen die Römer den Gewölbebau. 166 7e. Wie bei den Phöniziern, Griechen und Römern so finden wir auch bei den Etruskern Filialstädte. 167 Populonia galt als colonia von Volaterrae; zu Veji gehörten Sabate, Fidenae und wohl auch Capenae. Analog dem Verhältnis zwischen Athen und Piraeus, Rom und Ostia, ist das zwischen Stadt und Hafen bei Tarquinii und Graviscae, Caere und Pyrgi zu denken. 168 Die castella Volsiniensium169 waren die Burgstädte im Territorium von Volsinii. Das Stadtgebiet heißt lateinisch ager,170 auf ihm lagen Dörfer. 171 Vermutlich waren die abhängigen Städte und Dörfer mit der Mutterstadt wie bei den Griechen durch gemeinsames Stadtbürgerrecht verbunden. Zum erstenmal verliehen die Römer ihr Bürgerrecht den Bewohnern des etruskischen Caere, allerdings ohne Wahlrecht, 172 vermutlich in Anlehnung an eine etruskische Rechtsform, das municipium172a. 7f. Die etruskischen Städte waren außenpolitisch souverän, es waren Stadtstaaten im griechischen Sinne. Dies zeigt sich in den zahlreichen Kriegen, die sie untereinander geführt haben. Es gibt Inschriften, die den Sieg der einen über die andere Etruskerstadt verherrlichen, und Grabfresken, in denen diese Kämpfe dargestellt sind. 173 Wir finden Zusammenschlüsse einzelner Etruskerstädte 174 gegen andere oder gegen fremde Mächte. Selbst mit * 160 Livius V 21,3 ff; das Ritual wurde angeblich wiederholt bei der Eroberung Karthagos 146v.Chr. Macrobius (III 9,7f) tradiert den Text. * 161 Dion. Hai., Ant. II 54. Zur Stadtgröße sonst: Heurgon 1981, S.201 * 162 Müller + Deecke I 1877, S.226; Rutilius II 63 f * 163 Diodor V 40, 1; Kahler 1960, S. 53 * 164 Varro, Ling. Lat. V 161 * 165 Vitruv 71, 20; 99,7ff; Coarelli 1974, S. 39ff * 166 Müller + Deecke, I 1877, S. 242ff; Gewölbe kannte auch die altorientalische und griechische Baukunst: G. Morolli, in: Die Etrusker und Europa 1993, S. 224ff * 167 Müller + Deecke 1877, I S. 334 ff * 168 Diodor XV 14,3 * 169 Livius IX 41,6 * 170 Ager Nepesinus: Livius V 19,7; ager Rusellanum: Livius X 4,5 * 171 Livius X 4,7 * 172 Gellius XVI 13,7 * 172a s.u. XIII 3 e! * 173 Heurgon 1981, S. 364 * 174 Dion. Hai., Ant. III 51

7. Städtebund

339

solchen verbündete man sich, wenn es nützlich schien, so mit den Römern und den Galliern, den Griechen und Karthagern. 7g. Die etruskischen Städte waren zusammengeschlossen in einem Kultbund für die Göttin Voltumna, 175 deren Heiligtum, das fanum Voltumnae176 in Volsinii,177 dem heutigen Orvieto, 178 stand. Die Quellen 179 sprechen anfangs von zwölf Städten, von den duodecim Etruriae populi,180 und dies bezeugt, daß wir hier den üblichen Typus einer Amphiktionie vor uns haben 181 . Wir kennen das von den Israeliten, den Griechen, Kelten und Germanen. Später haben siebzehn Städte sich als zugehörig betrachtet, wenn auch zu verschiedenen Zeiten. 182 Unter den Römern waren es fünfzehn. 183 7h. Die als legatim oder principesWi bezeichneten Abgeordneten dieser Städte traten in jedem Frühjahr 1 8 6 zum concilium Etruriae zusammen, es gab ein großes Bundesfest, bei dem, wie in der deutschen Kirchweih, neben den religiösen Zeremonien auch Schaustellungen zur Belustigung des Volkes und ein Jahrmarkt stattfanden. 187 Gleichzeitig wurde ein Priester, ein sacerdos, gewählt, und wir hören davon, daß ehrgeizige Adlige aus den Städten durch aufwendige Schaustellungen die Gunst der zwölf Völker erringen und dieses Priesteramt erhalten wollten. Es scheint mithin im Turnus neu besetzt worden zu sein.188 Diese Sitte läßt sich bis in die christliche Zeit nachweisen. Noch unter Constantin wurde jährlich ein sacerdos gewählt, der auf dem Provinzialkonzil in Volsinii Theater- und Gladiatorenspiele abhielt. 189 7i. Trotz der Rivalitäten und Kriege zwischen den Städten wurden auf dem Landtag vielfach militärisch-politische Angelegenheiten verhandelt. In Notfällen konnten, wie beim keltischen Konzil oder beim germanischen Thing, außerordentliche Tagsatzungen einberufen werden. 190 Die Etrusker schlössen - trotz der Polisautonomie - insgesamt Verträge mit fremden Mächten. 191 Als gemeinsame Unternehmungen werden weiterhin die Kolonisierung der Po-Ebene und Campaniens überliefert 192 . Drei Beispiele bezeugen, daß die Etrusker zuweilen geschlossen ins Feld zogen. Es sind die Schlachten gegen die Römer am Vadimonischen See 310,193 bei Rusellae 302194 und bei Sentinum 295.195 Das Volksaufgebot erfolgte unter Androhung des Ausschlusses. 196 Doch half das nicht 197 immer. 7j. Eine ähnliche Amphiktionie wie die um das fanum Voltumnae scheint im etruskischen Campanien bestanden zu haben, auch dort finden wir einen Zwölfstädtebund um Capua 198 mit Nola, Pompeji, Herculaneum, Sorrentum, Acerra und Nocera, und eine dritte gab es vermutlich in der Etruria Padana, der etruskischen Po-Ebene um Mantua 199 .

* 175 Varro, De lingua Latina V 46, nennt Vertumnus als deus Etruriae princeps * 176 Livius IV 23,5; 25,7; 61,2; V 17,6; VI 2,2 * 177 Properz IV 2,2fT * 178 Die Lage des Heiligtums ist unsicher * 179 Livius V 1,5; Appian XVII 49; Servius zu Aen. VIII 475; Dessau Nr.6576 * 180 Veji, Caere, Tarquinii, Vulci, Rusellae, Vetulonia, Volsinii, Clusium, Perusia, Cortona, Arretium, VolaterraePopulonia * 181 s.o. I 10 g! * 182 Müller + Deecke 1877,1 S.327 * 183 Dessau Nr. 6615 * 184 Livius IV 23,5 * 185 Livius VI 2,2 * 186 Livius IV 25,7; 61,2; V 1,4; VI 2,2 * 187 Livius VI 2,2: mercatores * 188 Livius V 1,4f * 189 Dessau Nr. 705 * 190 Livius IV 23,5; s.u. XIV 9 b c ! ; XVI 5 f! * 191 Aristoteles, Politik 1280 a 35 * 192 s.o. 4d! * 193 Livius IX 39,5 * 194 Livius X 3,6; 4,5 * 195 Livius X 27,6 * 196 Dion. Hai., Ant. III 57 * 197 Livius VI 3,1; IX 32,1 * 198 Strabon V 4,3; Müller + Deecke 1877, I S. 160ff * 199 Livius V 33

340

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

8. Könige 8a. Die militärischen Unternehmungen des Etruskerbundes bedurften eines gemeinsamen Oberbefehls. Vergil200 und Strabon 201 überliefern, daß die früheste Organisationsform eine gesamtetruskische Erbmonarchie gewesen sei, die nach der Landnahme und der Kolonisationsphase dann zerfiel. Der später amtierende Etruskerkönig - wir kennen nur Arimnestos mit Namen 202 - wurde möglicherweise jährlich von den zwölf lucumones (s. u.) auf dem Jahresfest gewählt, er präsidierte dem concilium Etruriae. Daß er mit dem sacerdos personengleich ist,203 scheint fraglich. 204 Nach Livius205 verliehen die Etrusker dem gemeinsam gewählten König je einen Liktor, so daß der rex Etruriae zwölf Liktoren hatte wie die römischen Konsuln nach dem Sturz des Tarquinius Superbus. Diodor verbindet die Liktoren mit einem strategos,106 er ist wohl identisch mit dem autokratör,201 etruskisch zilath mechl rasnal.m In der Nachfolge der etruskischen Bundesfeldherren begegnet während der römischen Kaiserzeit das Amt eines praetor Etruriae oder praetor Etruriae XV populorum,209 Kaiser Hadrian 210 bekleidete es ehrenhalber, es ist bis ins 4 . J h . n . C h r . nachgewiesen. 211 8b. Die etruskischen Städte unterstanden in der älteren Zeit dynastisch legitimierten Stadtkönigen. Das ist bezeugt unter anderem für Veji,212 Arretium 213 und Caere. 214 Die meisten Nachrichten haben wir über Lars Porsenna, den König von Clusium-Chiusi, bei dem die 510 v.Chr. aus Rom vertriebenen Tarquinier Hilfe gefunden haben sollen.215 Er führte im Kampf gegen Rom 216 auch etruskische Krieger aus anderen Städten und wird als König von Etrurien bezeichnet. Plinius 217 berichtet von seinem prachtvollen Grab in Form eines Labyrinths bei Clusium. 8c. Der Titel der Stadtkönige, die unter göttlichem Schutz standen, 218 lautete lucumo,2i9 er vererbte sich. Später galt Lucumo als Eigenname des Königs Tarquinius Priscus vor dessen Übersiedlung nach Rom. 220 Einzelne Königsgeschlechter, stirpes regiae, überlebten die Abschaffung des Königtums und bestanden noch unter der römischen Herrschaft fort. Der bekannteste Nachkomme etruskischer Könige ist Maecenas; Maecenas atavis edite regibus, beginnt Horaz seine Gedichtsammlung. Die Vorfahren des Maecenas waren Könige in Arretium. 221 Auch der Kaiser Otho stammte aus etruskischem Adel. 222 Der etruskische Stadtkönig war oberster Heerführer, vielleicht auch oberster Priester und Richter. An den Nundinen, den wöchentlichen Markttagen, gab er eine Audienz. 223 * 200 Vergil, Aeneis X 198 ff; Müller + Deecke 1877, I S. 125 ff * 201 Strabon V 2,2; ebenso Alföldi 1977, S. 169 * 202 Pausanias V 12,5. Ob er der oder ein König der Etrusker war, ist unklar. * 203 so Heurgon 1957, S.88 * 204 so Müller + Deecke 1877, I S. 332 * 205 Livius I 8,3 * 206 Diodor V 40,1 * 207 Dion. Hal., Ant. III 61 * 208 Hirata 1972, S. 161 * 209 Dessau Nr. 1047; 5013; 6615; Liou 1969 * 210 Historia Augusta, Hadr.19 * 211 Die Etrusker und Europa, 1993 Nr. 231 * 212 Livius IV 17,1 u. 8; V 1,3; 21,8; Properz IV 10,27; Plutarch, Cam. 5; hegemön * 213 Horaz, Carm. I 1,1 * 214 Pallottino 1968, S. 110, frühes 5. Jh.; Heibig III S. 349 * 215 Livius II 9ff; Vergil, Aen. VI 646ff; W.Ehlers, Porsenna, RE. 43, 1953, S.315ff * 216 Seinen Sieg belegen Tacitus (Hist. III 72), Dion. Hal. (Ant.V 3 4 0 und Plinius (Nat., hist. XXXIV 39/139). Die annalistische Tradition bei Livius ist unzuverlässig. * 217 Plinius Nat. hist. XXXVI 19,4/91 * 218 Di regum: Livius II 6,7 * 219 lucumones Etruriae potentes: Censorinus 4,13; Servius zu Aen. II 278; VIII 475 * 220 Livius I 34,1; Macrobius I 6,8; Strabon V 2,2 * 221 Horaz, carm. I 1,1; Livius X 3,2; Silius Italicus V 122; Macrobius II 4,12 * 222 Sueton, Otho 1 * 223 Macrobius I 15,13

9. Adelsrepubliken

341

Neben dem König finden wir einen Schreiber, der eine ähnliche Tracht trug wie der König und den Sold auszahlte 224 . 8d. Die Insignien der etruskischen Könige kennen wir teils aus bildlichen Darstellungen,225 teils aus der Literatur, 226 teils aus der von den Römern fortgeführten Tradition. Der König trug einen goldenen Kranz und am Halsband eine bulla aurea,227 ein golddurchwirktes Purpurhemd sowie die toga praetexta, bzw. einen bestickten Purpurmantel, wie er auch bei den Königen von Persien und Lydien üblich war. 228 Hier greifen wir wieder orientalische Einflüsse. Bei den Römern legte später der Triumphator den etruskischen Königsstaat an, zu dem auch der zweirädrige Streitwagen, der Triumphwagen, gehört. 229 Der König saß auf einem Thron (thronos)230, genauer: einem elfenbeinernen Klappstuhl, den man auf den Wagen (currus) stellen und mit ins Feld nehmen konnte, die sella curulis, wie die Römer den daraus abgeleiteten Amtssitz des Konsuls nannten 231 . In der Hand hielt der König ein Szepter mit dem Adler Juppiters, der auf den römischen Legions-Standarten wiederkehrt. Vor dem König her marschierten die Liktoren im Gänsemarsch mit den Rutenbündeln, den fasces und den Beilen; die römischen Amtsdiener setzten diese Tradition fort 232 . Auch die toga praetexta der Senatoren ist etruskisch. 233

9. Adelsrepubliken 9a. Im späten 5. Jh. wurden die Stadtkönigtümer durch Adelsrepubliken von principes234 ersetzt. Im Falle von Veji könnte die Niederlage des Königs Lars Tolumnius gegen die Römer (428 v. Chr.?) 235 der Anlaß gewesen sein. Über ganz Etrurien soll sich ein Haß gegen die Könige ausgebreitet haben. 236 Die Ursache dieser Entwicklung muß tiefer liegen. Denn sie verläuft, von Phasenverschiebungen abgesehen, parallel in Athen, Karthago (?), Rom und bei den Kelten. Überall treten an die Stelle der Könige Beamte aus der Oberschicht. 9b. In den etruskischen Städten finden wir hinfort Senat und Volk als Körperschaften, ähnlich wie zuvor boule kai démos bei den Griechen oder senatus populusque hernach in Rom. Den Senat bildet der Adelsrat, der ordo principumP1 Seine Mitglieder tragen anscheinend den auf den Inschriften, vor allem in Tarquinia, häufigen Titel zilath. Ob dieser Rat schon in der Königszeit bestanden hat, ist unklar. Für Rom ist es überliefert, und so wird man auch neben den etruskischen lucumones schon Adelsversammlungen annehmen dürfen. In einzelnen Fällen ist innerhalb des Adelsrates noch ein engerer Kreis der sieben Vornehmsten, der Septem principes senatus überliefert. 238 Er ist vielleicht identisch mit den Magistraten, die den Senat einberiefen. 239

* 224 Die Geschichte von Mucius Scaevola dürfte in ihren kulturhistorischen Randbedingungen verläßlich sein: Livius II 12,7; Die Etrusker und Europa, 1993, Nr. 210 * 225 Namentlich die Feldherrnciste aus Praeneste in Berlin: Kahler 1960, Nr. 23 * 226 Pompeius Festus, S.430, ed. Lindsay * 227 Eine Goldkapsel mit einem Amulett gegen den bösen Blick, d.h. gegen Impotenz; Florus I 5 * 228 Dion. Hai., Ant. III 6,1 * 229 Strabon V 2,2; Appian VIII 66 * 230 Pausanias V 12,5 * 231 Florus I 5 * 232 Liktoren und Fasces bei den Volskern: Appian II 5,3 * 233 Livius I 8,3; Diodor V 40; Plutarch, Romulus 25- Macrobius I 6,7; Florus I 5 * 234 Livius V 27 zu Falerii; ders. VI 10,2 zu Nepete; ders. IX 36,5 zu Caere * 235 Livius IV 19f * 236 Livius V 1,3 * 237 In Veji: Livius IV 58,6; in Falerii: V 27, lOf; in Volsinii: Valerius Maximus IX 1 ext. 2; in Perusia: Appian XVII 48; in Arretium: Livius XXVII 24 * 238 Livius XXVII 24,4 * 239 Livius V 27, 10

342

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

9c. Neben den städtischen Senaten gab es Volksversammlungen, ähnlich wie in den griechischen Städten und in Karthago. Livius spricht von forum et curia.240 Während der Frühzeit erscheinen die principes als Wortführer auf den concilia populi.2M Sie gaben noch in der republikanischen Zeit den Ton an, 242 wurden indessen bisweilen von Volksvertretern angegriffen, weil sie im Kampf gegen Rom zauderten. 243 Da die Namen der drei alten römischen tribus etruskisch waren, 244 ist eine entsprechende Dreiteilung auch in den Etruskerstädten plausibel. 245 Der Verfassungswandel in Etrurien könnte mit der römischen Sage von der Heeresreform des Servius Tullius zusammenhängen, der Etrusker war und auch den Namen Mastarna trug. 246 Die legendäre servianische Reform setzte anstelle religiös-traditionaler Gliederung den ökonomisch-militärischen Zensus. 9d. Die Zentralgewalt des Königs scheint zunächst an einen Beamten gekommen zu sein, dessen jährliche Wahl in Veji mit Unruhen verbunden war. 247 Das führte dort 404 dazu, daß man wieder einen König bestellte.248 Während wir in Rom schon früh jeweils zwei Oberbeamte vorfinden, die Konsuln, scheinen die Etrusker immer nur einen einzigen princeps civitatis besessen zu haben. Diesen Rang auf den etruskischen Inschriften wiederzufinden, hat Schwierigkeiten gemacht. Ein Teil der Forschung 249 setzt den princeps civitatis der Texte mit dem purth der Inschriften gleich und leitet dieses Wort aus dem griechischen prytanis her, dem Ratsvorsteher in den ionischen Städten oder Korinth. Auch eine direkte Herleitung aus der indogermanischen Wurzel pr - „der erste" 250 ist erwogen worden. 9e. Unter den schwer zu deutenden Beamtentiteln der etruskischen Inschriften sind zwei von besonderem Interesse, der zilath parchis, vielleicht der Beamte der Herren, und der zilath eterav, der Beamte der Klienten. 251 Wir hätten demnach bei den Etruskern Standesvertreter der Ober- wie der Unterschicht, so wie wir bei den Griechen den prostates tou demou, bei den Römern den tribunus plebis, den Vertreter des niederen Volkes kennen. Dies erlaubt den Schluß, daß die Unterschicht innerhalb der freien Bürgerschaft aus ihrer Klientelbindung herausgewachsen ist und ein Standesbewußtsein gewonnen hat. Sie besaß gesetzlich verankerte Mitsprache im Staat. In Tarquinia und Clusium scheint dieser „Volkstribun" indessen nicht, wie in Rom, vom Volk gewählt, sondern vom Adelsrat für das Volk bestimmt worden zu sein. Immerhin ist es wohl kein Zufall, daß diejenigen Städte, in denen wir solche Volksvertreter finden, von den Aufständen verschont blieben, die für andere überliefert sind. 9 f . Die soziale Entwicklung, die von der Königsherrschaft zur Adelsrepublik geführt hatte, blieb hier nicht stehen. Einerseits bedeutete der wachsende Reichtum einzelner Familien ein Ärgernis, gegen das sich bürgerkriegsähnliche Unruhen richteten. Im Jahre 302 kam es in Arretium zu einer Erhebung gegen das wegen seines Reichtums verhaßte Geschlecht der Cilnii, aus dem Maecenas stammt. 252 Das wurde sofort von den Römern zu einem Zug gegen die Stadt benutzt. 253 Andererseits aber hat auch die politische Emanzipation der Unterschichten innere Zwiste ausgelöst.

* 240 Livius V 27,11 * 241 Livius II 44,8 * 242 Livius V 27 * 243 Livius X 13,3 * 244 Varrò, De lingua Latina V 55 * 245 Mantua: Servius zu Vergils Aeneis X 202; Müller + Deecke 1877, I S.355ff * 246 Kaiser Claudius: Dessau Nr. 212 * 247 Livius V 1,3: annua ambitici * 248 I.e. * 249 Hirata 1972, S.163f * 250 griechisch prötos, lateinisch primus * 251 Rix 1991, S.73 (AT. 1, 105); Hirata 1972, S. 161 * 252 s.o. 8 d! * 253 Livius X 3

10. Ende und Bedeutung

343

9g. Volsinii, das alte caput Etruriae, hatte sich 280 v. Chr. Rom unterwerfen müssen, 254 aber seine innere Autonomie behalten. Nachdem die ehemaligen Abhängigen 255 zunächst nur langsam in den dortigen Senat eingedrungen waren, scheinen die im Kriege vorgenommenen Massenfreilassungen, verbunden mit dem außenpolitischen Mißerfolg der Vornehmen, deren Rücktritt vom Regiment bewirkt zu haben. Die Unterschichten übernahmen die Macht. 256 In dieser Position sollen sie eine Schreckensherschaft über den Adel ausgeübt, dessen Besitz enteignet und die luxuriöse Lebensweise verboten haben. Schließlich hätten sie sogar die allgemeine Weibergemeinschaft ausgerufen und gesetzlich festgelegt, keine Tochter eines Adligen dürfe einen Standesgenossen heiraten, sofern sie von einem „Sklaven" nicht wenigstens entjungfert worden sei.257 Die Adligen wandten sich an Rom um Hilfe, 264 wurde Volsinii erobert. 258 Die Empörer mußten sterben und die Überlebenden wurden in die Ebene an den See von Bolsena 259 umgesiedelt. Der Stadtberg verödete. 260 9h. Die Angst der etruskischen Herren vor den Unterschichten spricht aus dem Motiv, weswegen die Etrusker das von den Römern dann übernommene Peristyl-Haus erfunden haben sollen. Sein Abschluß nach außen habe Schutz bei sozialen Unruhen geboten 26 '. Ähnliches ersehen wir aus einem Buch über Blitzdeutung, das Nigidius Figulus zur Zeit Ciceros aus dem Etruskischen ins Lateinische übersetzt hat und das um 540 durch den Byzantiner Johannes Lydos 262 ins Griechische übertragen wurde. „Wenn es am 20. Juni donnert, gibt es Bürgerkrieg; wenn es am 27. Juni donnert, erheben sich die Söldner gegen die Beamten; wenn es am 19. August donnert, werden Frauen und Sklaven Morde begehen; wenn es am 11. September donnert, bereiten die Hörigen einen Umsturz vor; wenn es am 24. Oktober donnert, siegt das Volk über die Herrschenden, weil diese uneinig sind; wenn es am 26. November donnert gibt es Bürgerkrieg mit vielen Toten." Die Etrusker haben es nicht verstanden, die aufstrebenden Unterschichten so an der Herrschaft zu beteiligen, daß der Staat nach außen handlungsfähig blieb. Dieser Konflikt hat den Verlust der Selbständigkeit beschleunigt. Die Römer haben dieses Problem besser gelöst.

10.

Ende und Bedeutung

10a. Der Geograph Strabon 263 unterscheidet zwei Formen, in denen Völker aus der Geschichte verschwinden. Im ersten Fall werden die Menschen ausgerottet und das Land verwüstet; im zweiten ändert sich bloß der Volksname (to ethnikon) und die Staatsform (to systema), die Menschen aber bleiben. In der Regel liegt diese zweite Variante vor, so auch bei den Etruskern. 10b. Seit dem 4. Jh. verloren sie im Süden eine Stadt nach der anderen an Rom. Die Rivalität mit Veji, der urbs opulentissima Etrusci nominis,2M wird in die Zeit des Romulus zurückdatiert. 265 3 96 wurde die Stadt zerstört, ihr Gebiet an die römische Plebs * 254 CIL. I, 2. Aufl., S.46 * 255 nach Pfiffig 1968, S. 112 eher Plebejer als Sklaven * 256 Vielleicht meint Aristoteles, Mirabilia 94, auch diesen Vorgang, den er in „Oinarea" lokalisiert. * 257 Zonaras VIII 7; Valerius Maximus IX 1 ext. 2; Orosius IV 5,3 ff * 258 Livius, Per. 16; Aurelius Victor, De viris illustribus 36; Florus I 21; Orosius IV 5,3f * 259 Livius XXVII 23,3; Prokop, Bell. Goth. I 4,14 * 260 Ausgrabungen seit 1946: Torelli + Andreae 1974, S. 267 ff * 261 Diodor V 40,1 * 262 Johannes Lydos, De ostentis 27ff = Bonn, S. 306fT * 263 Strabon IX 5,12 * 264 Livius V 22,8 * 265 Livius I 15; Dion. Hal., Ant.II 54f; III 6,1; Plutarch, Romulus 25

344

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

verteilt. 266 Als Grund des Niedergangs nennt Diodor 267 das von ihm eingehend beschriebene Luxusleben, l'art d'être heureux (Stendhal), in dem die Etrusker ihre frühere Kriegstüchtigkeit eingebüßt hätten. Das lateinische Wort für „Verschwender", nepos, kommt aus dem Etruskischen. 268 Die Römer arbeiteten mit allen Mitteln: mit gezielter Eroberung einzelner Städte 269 und Umsiedlung der unterworfenen Bürgerschaft von den Bergeshöhen in ungeschützte Lagen, so Volsinii 264270 und Falerii 241,271 weiter mit einer ausgeklügelten Bündnispolitik gegenüber schwankenden Gemeinden 272 , sowie mit der Anlage von Straßen 273 und Militärkolonien in wichtigen Regionen. 274 10c. So geriet Etrurien unter römische Kontrolle. Im zweiten Punischen Krieg wurde Rom von acht Etruskerstädten unterstützt. 275 Die Etrusker erhielten 89 v.Chr. im Bundesgenossenkrieg das römische Bürgerrecht 276 , wurden jedoch nur in zehn der 35 tribus eingeschrieben, so daß sie als Wähler nicht ins Gewicht fielen.277 Sie übernahmen die lateinische Sprache 278 und sind im römischen Reich aufgegangen. Daß dies nicht ohne Blutverluste ablief, beruht auf den römischen Bürgerkriegen, in die auch die Etrusker hineingezogen wurden. Octavians Sieg im Perusinischen Krieg 279 bedeutete das Ende der Etruskerzeit. Properz 280 rühmte Augustus dafür, die Opferaltäre des alten Etruskervolkes ausgelöscht zu haben. lOd. Obschon die Etrusker als Volk aus der Geschichte verschwunden sind, kommt ihnen eine hohe kulturhistorische Bedeutung zu. Sie haben griechische und orientalische Elemente aufgenommen, weiterentwickelt und diese einerseits an die Kelten 281 , andererseits an die Römer weitergegeben. Das gesamte Staatszeremoniell Roms 282 ist etruskischer Herkunft; omnia decora et insignia, quibus imperii dignitas eminet,283 Von den Etruskern stammten wesentliche Teile der Religion 284 und des Kalenders, 285 das Flötenspiel und der Tanz, 286 ebenso Maße und Gewichte 287 und die Namen der drei ältesten tribus.2m Den Vicus Tuscus auf dem Möns Caelius sollen zur Zeit des Romulus Etrusker unter ihrem dux Caele Vibenna bewohnt haben. 289 Unter den historischen Personen Roms begegnen zahlreiche etruskische Namen. 290 Der Name „ R o m " selbst ist etruskisch, 291 ebenso wie der Name des Tiber, 292 und alles spricht dafür, daß die Etrusker es waren, die aus den latinischen und * 266 Livius V 21 f * 267 Diodor V 40,4; Athenaios 153 D * 268 Pompeius Festus 166 * 269 292 v. Chr. Rusellae; 280 v. Chr. Vulci und Volsinii * 270 s.o. 9g! * 271 Polybios I 65; Livius, Per. 19 * 272 351 und 308 v.Chr. Tarquinii; 353 v. Chr. Caere * 273 Viae Aurelia, Clodia, Cassia, Flaminia, Amerina * 274 Kolonien latinischen Rechts: 373 v.Chr. Sutri und Nepet-Nepi, 273 v.Chr. Cosa; römischen Rechts: 264 v.Chr. Castrum Novum, 247 v. Chr. Alsum, 245 v.Chr. Fregenae, 191 v.Chr. Pyrgi, 183 v.Chr. Saturnia, 181 v.Chr. Gravisca. * 275 Livius XXVIII 45, 14ff * 276 Appian XIII 49 * 277 Appian XIII 67 * 278 Die späteste etruskische Inschrift ist vielleicht die Bilingue des Blitzdeuters und Eingeweideschauers Lucius Cafatius aus der Zeit Caesars, Dessau Nr. 4985 * 279 Appian XVII 49 * 280 Properz II 1,29 * 281 V. Kruta, Etruskische Einflüsse auf die keltische Kunst, in: Die Etrusker und Europa, 1993, S. 206ff * 282 Alföldi 1970 * 283 „alle Zier und Zeichen, die den Glanz der Herrschaft ausmachen", Florus I 5; er nennt: fascesjrabeae (Konsulartoga), curules (Amtsstuhl), anuli (goldene Siegelringe der Senatoren), phalerae (Kriegsorden), paludamenta (Purpurmantel), praetexta (Senatorentoga), sowie die Triumphalinsignien. * 284 s.o. 3f-g! * 285 Varro, Ling. Lat. VI 28 * 286 Histrio aus dem Etruskischen: Livius VII 2,4ff; Valerius Maximus II 4,4; Tacitus, Ann. XIV 21. Ludus von Lydus: Dion. Hai., Ant. II 71; Appian VIII 66; Isidor, Etym. XVIII 16,2; Hesych, Lambda 1360 * 287 Pfiffig 1968, S. 123 * 288 Varro, Ling. Lat. V 55 * 289 I.e. V 46; Tacitus, Ann. IV 65 * 291 I.e., S. 579ff * 292 Vergil, Aeneis VII 242

* 290 Schulze 1904, S . 6 2 f f

10. Ende und Bedeutung

345

sabinischen Siedlungen eine wirkliche Stadt gemacht haben. Dionysios von Halikarnassos293 meldet mit Grund: Viele Historiker halten Rom für eine etruskische Stadt. lOe. Den stärksten Einfluß haben die Etrusker auf die Religion der Römer ausgeübt. Der capitolinische Tempel und die capitolinische Trias - lateinisch: Iuppiter, luno, Minerva; etruskisch: Tinia, Uni, Menrva - sind etruskischer Herkunft. 294 Tarquinius Superbus soll dafür 40.000 Pfund Silber aufgewendet haben. 295 Das Kultbild aus Terrakotta wurde von dem etruskischen Künstler Vulca aus Veji geschaffen. 296 Nach der Eroberung von Volsinii raubten die Römer 2000 Götterbilder. 297 Noch unter Augustus ist von tyrrhenischen Horoskopen die Rede. 298 Allzeit haben die Römer sich in religiösen Fragen als Schüler der Etrusker empfunden. 299 Ihr Wort caerimonia, wovon unser Wort „Zeremonie" stammt, ist abgeleitet von der Etruskerstadt Caere. Hier sollen die Vestalinnen den Galliersturm überdauert haben, wofür die Caeriten ein vermindertes Bürgerrecht in Rom erhielten. 300 10f. Nicht nur ihre eigene, sondern auch griechische Kultur haben die Etrusker an die Römer vermittelt: das Theaterwesen, die Doppelflöte, 301 den Kampf in geschlossener Schlachtreihe 302 und wahrscheinlich das Alphabet. Dies könnte indes auch unmittelbar aus der Griechenstadt Kyme-Cumae in Campanien stammen. Die Römer haben ihr etruskisches Erbe nie verleugnet. Zu ihm gehört die lateinische Bezeichnung für die Griechen, Graeci, etruskisch Creices.303 10g. Unter den Kaisern hat sich insbesondere Claudius (41-54) für die Etrusker interessiert. Er schrieb nicht nur ein Geschichtswerk über sie304, sondern setzte sich auch im Senat dafür ein, die etruskische Priesterschaft der haruspices zu erneuern. 305 Bis in die christliche Spätantike haben die Römer etruskische Rituale und Weissagungen geschätzt, 306 so auf Julians Perserzug 3 63,307 während der Belagerung Roms durch Alarich 408,308 ja sogar noch während der Kämpfe Justinians mit den Ostgoten im Jahre 5 52.309 In der Auseinandersetzung mit dem Christentum war die etruskische Religion ein Bollwerk des Heidentums. 10h. Daneben gibt es auch etruskische Erbschaften in der europäischen Tradition. Verdienstorden 310 und bischöflicher Krummstab 311 sind bloße Kuriosa, aber die Säkular-Vorstellung hat auf das Geschichtsdenken Einfluß genommen. Die Etrusker glaubten an das gleichsam naturgesetzliche Altern der Völker und sahen das ihre im 1. Jh. v. Chr. vor dem Ende. lOi. Endzeitvorstellungen verbinden häufig Furcht und Hoffnung. Die pessimistische Stimme vernehmen wir bei der mythischen Seherin Vegoia. Am Ende des achten Säkulums - vermutlich zu Beginn des Bundesgenossenkrieges 91 v. Chr. - prophezeite sie ein göttliches Strafgericht über die Menschen, die aus Habsucht ihre Grenzen überschreiten. Kriege und Krankheit, Unwetter und andere Naturkatastrophen stünden bevor. 312 Die optimistische Fassung lieferte Vergil im Herbst des Jahres 4 0 v . C h r . mit seiner vierten * 293 Dion. Hal., Ant. I 29,2 * 294 Livius I 55 * 295 Plutarch, Popl. 15 * 296 Plinius, Nat. hist. X X X V 157 * 297 I.e. X X X I V 16/34 * 298 Strabon XVI 2,39 * 299 Livius IX 36,3; Tacitus, Ann. XI 15 * 300 Strabon V 2,3 * 301 Athenaios 154 A * 302 Athenaios 273 F * 303 Schulze 1904, S. 81; 212; Bonfante 1983, S. 15 * 304 s.o. 2e! * 305 Tacitus, Ann. XI 15 * 306 Ammian XVII 10,2 libri Tagetici vel Vegoici * 307 Ammian XXIII 5,10; X X V 2,7 * 308 Zosimos V 41 * 309 Prokop, Bell. Goth. IV 21,15ff * 310 s.o. 10 d! * 311 lituus, Müller + Deecke 1877, II S.212; Die Etrusker und Europa, 1993, Nr. 189; Alföldi 1970, S. 142f * 312 Gromatici I S . 3 5 0 f ; Censorinus 17,5 f; Plutarch, Sulla 7

346

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

Ekloge. 313 Er hat jener Erlösungsstimmung vorgearbeitet, die der christlichen Mission die Arbeit erleichterte. lOj. Abgesehen von der kulturellen Wirkungsgeschichte besaß das frühe Etrurien auch ein regionales Nachleben. Augustus machte Etruria zur siebten italischen Region, 314 Diocletian stellte sie, gemeinsam mit Umbrien, unter die Verwaltung von correctores.315 Nach den Stürmen der Völkerwanderung finden wir seit 569 einen langobardischen Herzog der Toskana, seit 774 einen fränkischen Grafen. 1077 weilte Papst Gregor VII bei der Markgräfin Mathilde von Tuszien in Canossa, wo Kaiser Heinrich IV Kirchenbuße leistete. 10k. Im Spätmittelalter war Florenz der Kulturmittelpunkt nicht nur der Toskana; durch Dante wurde das Toskanische zur italienischen Hochsprache. 316 Nachdem unter den Staufern die Toskana unter Reichsverwaltern gestanden hatte, stiftete Karl V 1531 das Herzogtum, Pius V 1569 das Großherzogtum Toskana. Die Habsburger regierten hier bis 1860, damals entschied eine Volksabstimmung für den Anschluß an das sich vereinigende Italien. 101. Die bloß territorialgeschichtliche Kontinuität Etruriens bewirkte keine Rezeption, wie sie die Israeliten und Perser des Altertums erlebt haben, wie sie den Kelten und Germanen, vor allem aber den Griechen und Römern zuteil wurde. Dennoch bilden die Etrusker eine eigene Facette in der Wirkungsgeschichte der Antike. Ihre Entdeckung fallt in die Zeit der Humanisten der Renaissance 317 . Der Dominikaner Annius von Viterbo (1432-1502), Forscher und Phantast, veröffentlichte 1498 in seinen »Antiquitates« den von ihm gefälschten »chaldäischen Berossus« und identifizierte darin den biblischen Noah mit dem römischen Gott Janus, von dem er die Etrusker herleitete. Sie wurden damit zum Urvolk Europas. Annius unternahm Ausgrabungen und meinte, das vierte Labyrinth, das Grabmal des Porsenna in Clusium 318 , entdeckt zu haben. Cosimo di Medici sammelte etruskische Altertümer wie die Chimäre von Arezzo 319 und fand in der etruskischen Ursprungslegende eine dynastische Legitimation, die hinter jene des Heiligen Römischen Reiches zurückreichte. 10m. Der patriotisch motivierte etruskische Mythos wurde in der Folgezeit durch die Fortschritte der Forschung in den Schatten gestellt. Winckelmann widmete 1764 das dritte Kapitel seiner »Geschichte der Kunst des Altertums« den Etruskern. Kataloge etruskischer Kunstwerke erschienen, und umfangreiche Ausgrabungen öffneten die Nekropolen. Zugleich aber erhoben sich neue Probleme, so daß die Etrusker weiterhin das Rätselvolk der Alten Welt blieben. Zumal aus einer romantischen, antiklassizistischen Stimmung heraus brachte man ihrem Geheimnis Interesse entgegen. Mit ihrem Bemühen um Totenkult und Zukunftsschau auf der einen Seite und ihrer ungehemmten Lebenslust auf der anderen verkörperten sie die Gegenseite zur inneren Ausgewogenheit der griechisch-römischen Welt. * 313 Ed. Norden, Die Geburt des Kindes, 1924/58 * 314 Plinius, Nat.hist. III 8/50 * 315 Laterculus Veronensis 10,5 bei O. Seeck (ed.), Notitia Dignitatum, 1876, S.250; Dessau Nr. 1217 * 316 G. Boccaccio, Das Leben Dantes (1360), 1965, S. 11 * 317 A. Momigliano, Wege in die Alte Welt, 1991, S. 97ff behandelt die Anfänge der Etruskologie; der Teil II des Katalogs: Die Etrusker und Europa, 1993, S.273, ist der Wiederentdeckung der Etrusker und ihrer Rezeption gewidmet. * 318 Plinius, Nat. hist. XXXVI 19,4/91 * 319 Heute im archäologischen Museum von Florenz: Die Etrusker und Europa, 1993, Nr. 379; Kähler 1960 Nr. 21

10. Ende und Bedeutung

347

lOn. Die Liebe zu den Etruskern war gewöhnlich mit einem Haß auf Rom verschwistert. Wo immer für die Religion und für die Vergangenheit, aber gegen Fortschritt und Aufklärung Partei ergriffen wurde, suchte man bei den Etruskern ideologische Unterstützung. Für sie begeisterten sich Simonde de Sismondi (gest. 1842) und Stendhal (gest. 1842), David Herbert Lawrence (gest. 1930) und Aldous Huxley (gest. 1963)320 Die Polemik von Bachofen 321 gegen Mommsen ist die Aversion der Romantik gegen den Fortschritt, der Protest des Etruskophilen gegen den Römerfreund. Die Etruskomanie bildet ein eigenes Kapitel in der Geschichte des europäischen Irrationalismus. All das bestätigt den Spruch von Friedrich Schlegel: „Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte oder wünschte; vorzüglich sich selbst." 322

* 320 Die Etrusker und Europa, 1993, S . 4 4 4 f f * 321 13. XII. 1862 * 322 Fr. Schlegel, Fragmente, 1904, S. 55

Briefe vom 4. III. 1849; 24.1.; 16. III.;

348

XI. Die etruskischen Stadtstaaten

Literatur zu XI Neuere Forschungen bieten die Zeitschriften zur Alten und zur römischen Geschichte, vgl. Lit. zu I und XIII! Alföldi, A., Römische Frühgeschichte, 1964 Alföldi, A., Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, 1970 Alföldi, A., Das frühe Rom und die Latiner, 1977 Banti, Luisa, Die Welt der Etrusker, 1960 Bonfante, G. + L., The Etruscan Language, 1983 Briquel, D., L'origine Lydienne des Étrusques, 1991 Catalli, F., Monete Etrusche, 1990 Coarelli, F. u.a., Le città etrusche, 1973 Cristofani, M., Die Etrusker, 1985 Die Etrusker und Europa, Katalog zur Ausstellung in Berlin, 1993 Heurgon, J., L'état etrusque, Historia 6, 1957, S. 63-97 Heurgon, J., Classes et Ordres chez les Etrusques. Recherches sur les structures sociales dans l'antiquité classique, Colloques nationaux etc., Caen 1969, S. 29-24 Heurgon, J., Die Etrusker, 1981 Hirata, R., Eine Betrachtung über das etruskische Ämterwesen, Altertum 18, 1972, S. 158-167 Hus, A., Les siècles d'or de l'histoire etrusque (675-475 avant J.-C.), 1976 Kunkel, IV., Zum römischen Königtum. In: Ders., Kleine Schriften 1974, S.345-366; und: lus et Lex (Festschrift Gutzwiller) 1959, S. 1 - 2 2 Liou, B., Praetores Etruriae XV populorum, 1969 Meyer, Ed., Die Pelasger. In: Ders., Forschungen zur Alten Geschichte I, 1892, 1 ff

Müller, Karl Otfried, Die Etrusker. Neu bearbeitet von Wilhelm Deecke I/II, 1877 (grundlegend) Ogilvie, R. M., Das frühe Rom und die Etrusker, 1983 Pallottino, M., Die Etrusker, 1965 Pallottino, M., Testimonia linguae Etruscae, 1968 Pallottino, M., Etruskologie, 1988 Pauli, C., Corpus Inscriptionum Etruscarum, 1893-1902 Pfiffig, A. J„ Bündnisverträge zwischen Rom und den etruskischen Stadtstaaten, Gymnasium 75, 1968, S. 110 ff Pfiffig, A. .]., Einführung in die Etruskologie, 1972 Railo, A., Le Donne in Etruria, 1989 Rix, H., Etruskische Texte, I/II 1991 Schulze, W., Zur Geschichte lateinischer Eigennamen, 1904. Steingräber, St., Etrurien. Städte, Heiligtümer, Nekropolen, 1981 Stoltenberg, H. L„ Die wichtigsten etruskischen Inschriften, 1956 Strasburger, H., Zur Sage von der Gründung Roms (1968). In: Ders., Studien zur Alten Geschichte II 1982, S. 1017 ff. Thulin, C. O., Die etruskische Disziplin, I/III, 1905/1909 Torelli, M. +Andreae, B., Die Städte der Etrusker, 1974 Torelli, M., Storia degli Etruschi, 1990 Weeber, K. W„ Geschichte der Etrusker, 1979

XII. Die Handelsrepublik Karthago

351

1. Begriff a. Verbreitung b. Stadtname, Staatstyp

2. Quellen a. b. c. d. e.

Punische Schrift Inschriften, Münzen Literatur verloren Griechisch-römische Autoren Archäologie

3. Phönizier a. b. c. d. e. f.

Ursprünge Frühzeit Stadtkönige Handel Expeditionen: Afrika im Westen

4. Geschichte Karthagos a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k. 1.

Gründung Topographie Mutterstadt Tyros Bodenzins, Numidia, „Afrika" Einflußzonen Romvertrag Niederlassungen, Metöken Sizilien Pyrrhos 1. Punischer Krieg Annexion Spaniens 2. Punischer Krieg

5. Gesellschaft a. b. c. d. e.

Schichtung Bürger Sklaven Fremde: Griechen Mentalität

6. Verfassung a. b. c. d. e. f.

Mischverfassung Volk Rechte Großer Rat Mitglieder Kleiner Rat

g. h. i. j. k. 1. m.

Gericht der 104 Funktionen Beamte Könige? Sufeten Aufgaben Unterbeamte

7. Heer a. b. c. d. e. f. g.

Strategen Flotte Heer, Elefanten Söldner Außenbezirke Spanien Numidien

8. Wirtschaft a. b. c. d. e. f. g. h. i. j.

Bedeutung Produktion Handel Partner Atlantik, Zinn Afrika, Gorilla Sahara Geld Reichtum Luxus?

9. Religion a. b. c. d.

Baal, Priester Kinderopfer: Ben Hinnom Erstlinge Opfergedanke

10. Ende und Folgen a. b. c. d. e. f. g. h.

3. Punischer Krieg Römische Zeit Geringe Wirkung Hohes Ansehen: Stabilität Übertragbarkeit der Zivilisation Typus Venedig Primat der Ökonomie Aktualisierungen

Literatur zu XII

353 Die Konstitution der Polis ist eine phönizische Erfindung. Nietzsche

1. Begriff la. Die Geschichte der meerbeherrschenden Handelsrepublik (thalassokratör') von Karthago beginnt mit der Gründung der Hafenstadt 20 km östlich vom heutigen Tunis im 9. Jahrhundert 2 und endet mit der Zerstörung durch Rom im Dritten Punischen Krieg 146 v. Chr. Aus der Zeit vor 600 wissen wir nahezu nichts. In der letzten Phase, zwischen dem Zweiten und dem Dritten Punischen Krieg, d.h. von 200 bis 146, war Karthago politisch von den Römern geknebelt, florierte aber ökonomisch 3 . Die bedeutsamste Zeit liegt zwischen 600 und 200v.Chr. Im 5. und 4.Jh. war Karthago eine Großmacht, zeitweilig mächtiger als Etrusker, Römer und die Tyrannen von Syrakus. Ib. Der Stadtname, lateinisch Karthago - eines der wenigen Wörter im Lateinischen, die mit K, nicht mit C anlauten - , griechisch Karchedön, punisch Qart-hadascht, bedeutet „Neustadt" und verweist auf die Gründung durch Phönizier aus Tyros 4 . Wahrscheinlich lautete ihre offizielle Selbstbezeichnung bis ins 4. Jh. hinein: die Tyrier aus Karthago. Die Staatsform im allgemeinen Sinne war die einer polis, deswegen hatte Aristoteles in seine Sammlung von 158 politeiai5 auch die Verfassung Karthagos aufgenommen. Als handelnd erscheinen jeweils „die Karthager". Die Staatsform im engeren Sinne wird von Aristoteles 6 und Polybios 7 als Mischverfassung bestimmt. Dominant war eine reiche Kaufmannsschicht, die sich ähnlich wie eine griechische Oligarchie oder Plutokratie regierte, so daß wir den Staatstyp als Handelsrepublik bezeichnen können.

2. Quellen 2a. Die Erfindung der Buchstaben, der „Gedankenhelfer" 8 , gilt als Leistung der Phönizier 9 . Die frühesten Alphabetinschriften stammen aus der Zeit zwischen 1500 und 1000 vom Sinai und vom Sarkophag des Königs Achiram von Byblos 10 . Die Stadtchronik von Tyros 11 ist verloren. Von den phönikischen Konsonantenzeichen leiten sich die * 1 Diodor V 20,4; Appian VIII 57 * 2 Justin XVIII 6 * 3 Appian VIII 67; 69 * 4 Justin XVIII 6; Vergil, Aen. I 13,20; Appian VIII 1,1 * 5 Diogenes Laertios V 27 * 6 Aristoteles, Pol. II 8 * 7 Polybios VI 51 * 8 Kritias, VS. 88 B 2 * 9 Plinius, Nat. Hist. VII 57/192. Kritisch dazu Helck 1979, S. 165 ff * 10 AOT. 440; gefunden 1929, heute im Nationalmuseum Beirut * 11 Josephus, c. Ap. I 17/107

354

XII. Die Handelsrepublik Karthago

STAMMTAFEL DER B U C H S T A B E N S C H R I F T

1 OSTGRIECHISCH (ATTISCH)

WESTGRIECHISCH LATEINISCH ETRUSKISCH

RUNEN

UMBRISCH

1 1 GOTISCH KOPTISCH (WULFILA)

KAROLING. MINUSKEL FRAKTUR DEUTSCHE DRUCKSCHRIFT SCHREIBSCHRIFT (SÜTTERLIN)

Abb. 22.

OSKISCH

1 RENAISSANCE-MINUSKEL I

ANTIQUA DRUCKSCHRIFT

(MESROP)

LATEINISCHE SCHREIBSCHRIFT

2. Quellen

355

syrische, hebräische und arabische Schrift her. U m 750 vermittelten die Phönizier den Griechen ihre Buchstaben 12 . Die Griechen haben das mit dem Kadmos-Mythos in Verbindung gebracht. Kadmos sei auf der Suche nach seiner Schwester Europa von Tyros nach Theben gekommen und habe die Griechen schreiben gelehrt, so Pindar 13 und Herodot 14 . Die Griechen machten die für ihre Sprache entbehrlichen Konsonanten zu Vokalzeichen und schufen damit die Grundlage für alle späteren europäischen Buchstabenschriften, auch für das lateinische und kyrillische Alphabet, sowie für die Runen. 2b. Wir besitzen aus dem Herrschaftsbereich der Karthager über 6000 Inschriften, überwiegend auf Grabsteinen 15 und auf Münzen 16 . Diese Texte sind allerdings dürftig und als historische Quelle unergiebig. Aus einem punischen Tempelarchiv haben sich über 3000 Siegel von Papyrus-Urkunden erhalten. Die Texte sind verloren 17 . 2c. Von der umfangreichen punischen Literatur der Karthager ist ebenfalls keine Zeile erhalten 18 . Dasselbe gilt für die punisch-griechischen Texte. Solche gab es, weil die Karthager wie andere antiken Randkulturen eine innere Hellenisierung durchgemacht haben. Hannibal hatte in seinem Gefolge zwei griechisch schreibende Historiker, Silenos aus Sizilien19 und Sosylos aus Elis oder Sparta 20 . Sie sollten seinen Ruhm und sein Recht gegenüber der griechischen Welt vertreten. Aber auch in der Stadt Karthago selbst schrieb und las man zunehmend griechisch 21 . 2d. Aus diesen Gründen sind wir auf griechische und lateinische Autoren verwiesen. Für die Verfassung liefert Aristoteles in seiner »Politik« wichtigen Stoff. Die meisten Nachrichten werden jedoch im Zusammenhang mit den Punischen Kriegen zwischen Karthago und Rom überliefert: von Polybios und Livius, von Diodor und Justin, von Appian und Cornelius Nepos, der Kurzbiographien von Hamilkar Barkas und Hannibal hinterlassen hat. Die vom späteren Kaiser Claudius (41-54 n. Chr.) auf Griechisch verfaßten acht Bücher karthagischer Geschichte 22 sind verloren. Gutes landeskundliches Material bietet Strabon in seiner Beschreibung Nordafrikas. Das Epos »Punica« des Silius Italicus aus der Zeit um 90 n. Chr. enthält nichts Wesentliches zur Verfassungsgeschichte. 2e. Die archäologische Hinterlassenschaft Karthagos 23 ist bescheiden. Kulturell zeigen auch die Phönizier 24 wenig Eigenständigkeit, ihr Formengut besteht aus orientalischassyrischen, ägyptischen und später auch griechischen Elementen. Die wichtigsten Funde beherbergt das Bardo-Museum in Tunis. Die Topographie des antiken Karthago kennen wir durch antike Beschreibungen 25 , die wichtigsten Plätze und Bauten sind archäologisch nachgewiesen, zuletzt durch eine internationale Kampagne der Unesco seit 1974.

* 12 Lilian H. Jeffery, The Local Scripts of Archaic Greece, 1990, S. 22 * 13 Athenaios 28 C * 14 Herodot V 58f * 15 Corpus Inscriptionum Semiticarum, Paris 1881 ff; J. B. Chabot (ed.). Répertoire d'épigraphie sémitique, I-IV, 1900ff * 16 G. K. Jenkins, Coins of Punic Sicily I-IV, Schweizer Numismatische Rundschau 50-57; 1971-1978 * 17 F. Rakob, in: MDAI (Rom) 98, 1991, S. 57ff; D. Berges, I.e., 100, 1993, S.245ff * 18 Huß 1985, S.504ff; Sznycer in: Huß, 1992, S. 321 ff * 19 Nepos, Hann. 13,3; Strabon III 5,7 * 20 Polybios III 20,5; Diodor XXVI 4; Nepos, Hann. 13,3 * 21 s.u. 5 dl * 22 Sueton, Claud. 42,2 * 23 Benichon-Safar 1982; Rakob 1991 * 24 Moscati 1988 * 25 Appian VIII 95f; 127ff; s.u. 3 gl

356

XII. Die Handelsrepublik Karthago

3. Phönizier

357

3. Phönizier 3a. Karthago ist eine Gründung der Phönizier aus Tyros 26 . Die Phönizier gehören zu den Semiten, die aus der arabischen Halbinsel kommend im 3. Jahrtausend die südsyrische Küste besiedelten. Sie bezeichneten sich selbst als Kanaaniter. Dieser Name kommt vermutlich von babylonisch kinahhu - „Purpur" 2 7 , und damit hängt die griechische Bezeichnung Phoinikes zusammen. Sie stammt von dem Wort für purpurnes Rot, phoinix. Purpurschnecken waren bis in die Spätantike ein wichtiger Exportartikel Phöniziens 28 . Die frühen Römer haben das griechische Phi noch mit P wiedergegeben, und daher heißen bei ihnen die Phoinikes „Poeni" und die Kriege gegen die „Poeni" aus Karthago „punische" Kriege. 3b. Noch Herodot 29 wußte, daß die Phönizier ihre später so bedeutenden Hafenstädte nicht immer besessen haben, sondern aus dem Hinterland an die Mittelmeerküste vorgedrungen waren. Sidon, Tyros und Byblos sind die bedeutendsten unter ihnen. Das Städtewesen selbst haben die Phönizier in Syrien vorgefunden, so Ugarit und Byblos an der Küste; auch Mari, Ebla und Jericho im Binnenland sind älter. Seit etwa 1500v.Chr. unterstanden die Phönizier ägyptischer Oberhoheit, die Pharaonen hatten in den wichtigsten Häfen Statthalter. Mit dem Niedergang des Pharaonenreiches um 1200 wurden die Phönizier selbständig. In derselben Zeit versank auch die Meeresherrschaft des minoischen Kreta in den Stürmen der Seevölker und der dorischen Wanderung 30 , und damit begann für die Phönizier die große Zeit der Seefahrt und des Handels. 3c. Politisch waren die Phönizier ähnlich wie die benachbarten Philister in selbständigen Stadtkönigtümern organisiert 31 . Die Vormacht lag zuerst bei Sidon 32 und nach der Zerstörung der Stadt durch die Assyrer 667 v. Chr. bei Tyros („Fels"), der Inselstadt. Die Stadtkönige haben sich jeweils einzeln an die Kontinentalmächte ihres Hinterlandes angelehnt. König Ahab von Israel (871-852) war mit der tyrischen Königstochter Isebel vermählt 33 . Assyrer und Chaldäer übten eine lose Oberhoheit über Phönizien aus, erst unter den Persern war es mit der Selbständigkeit vorbei: fortan waren die phönizischen Städte Klientelkönigtümer der jeweiligen Landmacht. 3d. Den phönizischen Handel mit Ägypten bezeugt der Wenamun-Papyrus aus dem 11. Jh. v. Chr. 34 , er berichtet vom Besuch eines Amon-Priesters aus Theben/Karnak, der in Byblos Holz kaufte. Aus dieser Zeit stammen auch die ältesten phönizischen Funde der Ägäis 33 . Tyros besaß zwei Häfen und handelte mit Metall und Glas, Textilien und Farbstoffen. König Hiram lieferte um 950 Salomon Libanon-Zedern und Zimmerleute für den Bau des Jerusalemer Tempels, während Israel mit Lebensmitteln zahlte und „zwanzig Städte" abtrat 36 . Als große Seefahrer, listige Kaufleute und skrupellose Sklavenhändler erscheinen die Phönizier seit Homer 37 . Die ausführlichste literarische Überlieferung liegt im Alten Testament vor, eine Wehklage des Propheten Hesekiel (um 600) über den bevorstehenden Untergang der stolzen Inselstadt Tyros zählt die Handelspartner und Handelsgüter

* 26 Appian VIII 1 * 27 Nuzi-Texte; s.o. III 3b! * 28 Strabon XVI 2,23 * 29 Herodot I 1 * 30 s.o. II 5A/ * 31 s.o. 2 a! Strabon XVI 2,14 * 32 daher heißen die Phönizier in Tyros „Sidonier": 1. Könige 5,20 * 33 AT. 1. Könige 16,31; Josephus, Ant. VIII 13,1 * 34 Bunnens 1979, S.394; Arend Nr. 38 * 35 Niemeyer 1989, S.21 * 36 AT. 1. Könige 5,15ff; 9,10iT * 37 Homer, Odyssee XIII 272f; XIV 288ff; XV 415 ff; Plinius, Nat. hist. VII 57/199; Aelian, Var. hist. IV 20

358

XII. Die Handelsrepublik Karthago

auf, die damals umgeschlagen wurden 3 8 : Mit der phönizischen Gründung 3 9 Tartessos (Tarschisch) in Spanien 40 wurden Silber, Eisen, Zinn und Blei gehandelt; mit Griechenland (Javan): Sklaven, Zimt und Bronze; mit Armenien (Togarma): Wagen, Pferde und Maultiere; mit Arabien: Elfenbein, Gewürze, Gold, Ebenholz, Pferdedecken und Schafe; mit Syrien: Rubine, Purpur, Teppiche, Leinen, Korallen; mit Juda und Israel: Weizen, Balsam, Honig, Öl und Mastix; mit Damaskus: Wein und Wolle; mit Mesopotamien: Tücher und Holzwaren. Strabon 4 1 behauptet, die Phönizier hätten wegen des Handels das Rechnen erfunden. 3e. Die Phönizier waren die bedeutendsten Seefahrer des Altertums 4 2 . Sie erfanden neue Schiffstypen 43 und entwickelten die Nachtseefahrt 4 4 , die sich am Polarstern orientierte 45 . Die größten Leistungen der Phönizier waren die Umsegelungen Afrikas. Die früheste ist die im Auftrage des Pharao Necho um 600 v. Chr., die Herodot 4 6 beschreibt. Sie ging vom Roten Meere aus. Strabon 4 7 nennt phönizische Kolonien am Persischen Golf. 3f. Die Phönizier segelten mit ihren Handelsschiffen früh nach Westen und durchquerten die Straße von Gibraltar 4 8 . Vor allem das Zinn aus Britannien machte diese Routen lohnend, weil man es zur Legierung der Bronze benötigte. H a n d in H a n d ging die Anlage von Stützpunkten. Überliefert oder nachgewiesen 49 sind solche auf Cypern (Kition), in der Ägäis 50 , auf Malta (Melite), in Westsizilien, auf Sardinien, auf Ibiza (Ebusus), an der spanischen Südküste (Malaca, Toscanos, Gades51) und seit etwa 1000 in Nordafrika. Die erste phönizische Niederlassung dort war Utica (Ityke) 5 2 . Diese Stadt blieb Tyros tributpflichtig 53 und war später als die „zweite Stadt neben Karthago" 5 4 selbständig, wenn auch schwach. Lepcis M a g n a ist eine G r ü n d u n g von Sidon 55 , Anzia in Mauretanien von Tyros 56 . Ein Handelskontor gab es ebenfalls in Memphis. Die phönizischen Faktoreien waren meist zugleich Heiligtümer 57 .

4. Geschichte Karthagos 4a. Nach Timaios 58 wurde K a r t h a g o im 38. Jahr vor der ersten Olympiade, d.h. 8 1 4 v . C h r . gegründet, nach Josephus 59 143 Jahre nach Salomos Tempelbau in Jerusalem, und zwar von Dido alias Elissa aus Tyros, der Schwester des Königs Pygmalion. Dido hat nach der römischen, von Naevius und Vergil behandelten Sage den aus Troja geflohenen Aeneas aufgenommen und ihm ihre Liebe geschenkt. Als er sie verließ, schleuderte sie den Fluch hinter ihm her, der die römisch-punische Erbfeindschaft begründete 6 0 . Die Sage von Pygmalion und Galatea 6 1 auf Cypern ist phönizisch.

* 38 AT. Hesekiel 27 * 39 Arrian II 16,4 * 40 M.Koch, Tarschisch und Hispanien, 1984 * 41 Strabon XVII 1,3 * 42 Diodor V 20,1; Strabon XVI 2,23 * 43 Plinius, Nat. hist. VII 57/208 * 44 Strabon XVI 2,24; Plinius, Nat. hist. VII 57/209 * 45 Strabon I 1,6 * 46 Herodot IV 42 * 47 Strabon XVI 3,4; 4,27 * 48 Strabon XVI 2,22 * 49 Bunnens 1979, S.394f * 50 Kythera: Pausanias I 14,7; Melos: Festus 89/124; weiteres bei Helck 1979, S. 158ff * 51 Diodor V 29; XXV 10,1; Vellerns I 2,3; Justin XLIV 5,2 * 52 Justin XVIII 5,12; Plinius, Nat. hist. XVI 79/216 * 53 Josephus, c. Ap. I 18/119 * 54 Strabon XVII 3,13; Appian VIII 75 * 55 Sallust, Jug. 78 * 56 Josephus, Ant. lud. VIII 13,2 * 57 Herakles-Melkart bei Tartessos: Appian VI 1,2 * 58 Dionys von Halikarnassos, Ant. I 74 * 59 Flavius Josephus, c. Ap. I 17 f * 60 Vergil, Aen. IV 615 ff; Justin XVIII 4,3 ff * 61 Ovid, Metam. X 243 ff

359

4. G e s c h i c h t e K a r t h a g o s \ ( klti >''•'•> Vilm

1' / Urt! Haptistefrium

Basilari/ rnajouari

sal

Rasüika>

Zisternen*

// X

lUirn. Fiit'dJwF

.

^

@

Amulliftlf/ltur

PdsHikaj I SP Cjrpritvv i

V

,Jt¿ y '

lup.. l'täber ítyrRab Iadliger Priester) "'-xVißrtel. 1 >

t H s / l IhJ Knnvrten -Lager ^Úfili^^nefestiffurig

SH

ito

rrinnùuis

Pius

Puniscine Zeit. : JUiin:!'

] Panische. Stadt Tor iOO v. Chr. ]Erweiterung nach. iOO v.Chr. Puntschc Hauten iu Mauern xxx l'uniscile. Grüber

Hiuuisclie Z e i t : jney 8t Ulfen.} k-noSctàffe >Jtritach -Sciliqttan, derTaniiiu.des Baal Ilalfpnnn. ^

Pan..

Grüb&:

Römische NeugriiruUuig unter Gwsarit .Ausbau. unterAuxjustus i &/Z9 (w Chi\, erneuert nach* dem Prande. 146 n.Chr. SüiSi C3 Hör/tische. Pauten,> Römisctie Plureiriteitung \ I i t Gesanuausdehmmg der Stadt Verkleinerung des Stadtgebietes au/' den. Ruunv des' blauen.. rom. Straßen. netv.es nach der Eroberung durch die, Vcmdalen, i39 rv. Chr. UM* Ii Ch/istlictu flasiWfen w. a..

Karthago

MiltinUil) 1 : >0 0 0 0 200 W)0 000 000 ÍUOO A b b . 24.

4b. Die früheste Niederlassung der künftigen Karthager war vermutlich der Küstenhügel Sidi bou Said 62 , doch lockte dann die Halbinsel in der Bucht von Tunis und ihr fruchtbares Hinterland, das Bagradas-Tal. Die meisten topographischen Nachrichten erfahren wir im Zusammenhang mit der Zerstörung der Stadt 146v.Chr. 6 3 . Wir hören von 13 m hohen und über 30 km langen Mauern 6 4 mit ihren zahlreichen Türmen und den Ställen auf der Innenseite für 300 Elefanten und 4000 Pferde, von Kasernen für 24.000 Söldner, vom viereckigen Handelshafen und dem mit ihm verbundenen runden Kriegshafen, in dessen Mitte die Admirals-Insel lag, rundherum Hallen für 220 Kriegsschiffe. Auf der 1807 von Chateaubriand identifizierten Akropolis Byrsa („die Haut" 6 5 )

* 6 2 N i e m e y e r 1 9 8 9 , S. 10 * 6 3 A p p i a n V I I I 9 5 f ; 127 f f * 6 4 L i v i u s , p e r . 51 * 6 5 D i e G r ü n d u n g s sage: Vergil, A e n . I 65 ff; Justin X V I I I 4 f f

360

XII. Die Handelsrepublik Karthago

befand sich ein Tempel für Eschmun-Asklepios, an den Straßen zum Forum standen sechsstöckige Häuser66. Innerhalb der Mauern lag die Gartenstadt Megara61, das weitere Stadtgebiet war durch die „phönizischen Gräben" geschützt68. Außerhalb lagen zahlreiche befestigte Behausungen69. 4c. Die Beziehungen der Tochterstadt Karthago zur Mutterstadt Tyros70 waren ganz ähnlich wie die einer griechischen Apoikie zu deren Metropolis: ein Pietätsverhältnis, das nicht nur im kultischen Leben seinen Ausdruck fand: Die Phönizier weigerten sich 525, Kambyses beim geplanten Seezug gegen Karthago zu unterstützen 71 . Von der Beute des eroberten Sizilien brachten die Karthager, so wie von allen Staatseinnahmen 72 , den Zehnten dem Melkart-Herakles nach Tyros73. Als Alexander 333 Tyros belagerte, befand sich eine Festgesandtschaft aus Karthago dort, um die Jahresfeier des Melkart-Herakles zu begehen74. Die Karthager haben den Tyriern damals Hilfe gegen Alexander versprochen. Noch im 2. und 3. Vertrag mit Rom (343 u. 279 v. Chr.) bezogen die Karthager Tyros mit ein75. 4d. Die Problematik der formalen Eigenstaatlichkeit spricht aus dem Curiosum, daß die Karthager den Berberfürsten des Hinterlandes bis um die Mitte des 6. Jhs. Bodenzins für ihr Stadtgelände bezahlt haben76 und erst mit dessen Ablösung aus „Tyriern" zu „Libyern" wurden77. Die Abhängigkeit kehrte sich um. Die Städte im karthagischen Herrschaftsgebiet Afrikas wurden kriegsfolgepflichtig78. 237 rebellierten die Numider vergeblich gegen die karthagische Herrschaft. Das Hinterland hieß „Afrika" 79 , dieser Name hat in römischer Zeit die seit Homer 80 für den Kontinent übliche Bezeichnung „Libyen" verdrängt. Die Grenze des Namens Africa nach Osten, nach Kyrene bildeten die Arae Philaenorum, wo zwei Karthager sich lebendig begraben ließen, um den Gebietsanspruch zu beglaubigen81. In späterer Zeit war dies die Grenze zwischen dem lateinischen und dem griechischen Nordafrika. Schon bald nach der Gründung wurde Karthago eine „Art von Schutzmacht für das westliche Phönikertum" 82 . 4e. Die wichtigsten Gegner erwuchsen den Karthagern seit dem späten 8. Jh. in den griechischen Siedlern, namentlich aus dem 734 gegründeten Syrakus, und dies, obschon Karthager und Griechen einen durchaus andersartigen Typus von Ausbreitung aufweisen. Ging es den Griechen vorab um landwirtschaftlich nutzbaren Siedlungsraum, so war es den Karthagern in erster Linie um Handelsstützpunkte zu tun, um Märkte, Häfen und Stapelplätze. Diese unterschiedlichen Interessen waren deswegen unvereinbar, weil beide mit politischen Machtansprüchen verbunden waren. Es bildeten sich Einflußzonen heraus, die Griechen beherrschten Ostsizilien, die italische, französische und nordspanische Küste, die Karthager aber das gesamte südlich davon gelegene Mittelmeer. 4f. Sicherste Bundesgenossen der Karthager waren zunächst die Etrusker 83 und in deren Gefolge die Römer, beides Mächte, die an der Zurückdämmung der Griechen interessiert waren. 536 erfochten Karthager und Etrusker einen gemeinsamen Sieg über die griechischen Phokäer bei Korsika 84 ; unmittelbar nach der Lösung Roms von der etruski* 66 Strabon XVII 3,14f * 67 Appian VIII 117 * 68 Appian VIII 32; 54 * 69 Appian VIII 101 * 70 Appian VIII 89 * 71 Herodot III 19 * 72 Diodor XX 14,2 * 73 Justin XVIII 7,7 * 74 Quintus Curtius IV 2,10 * 75 Polybios III 24f; Livius XXXIV 61,13 * 76 Justin XVIII 5,14; XIX 2,4 * 77 Dion Chrysostomos XXV 7; Kontext unklar. * 78 Appian VIII 111 * 79 Zonaras IX 14; Dio XLII 9,4 * 80 Homer, Odyssee IV 85; XIV 295 * 81 Mela I 33ff; Sallust, Jug. 79 * 82 Ehrenberg 1927/65, S.556 * 83 Aristoteles, Pol. 1280 a 35; s.o. XI 4 b! * 84 Herodot 1166ff; Strabon VI 1,1

4. Geschichte Karthagos

361

sehen Königsherrschaft 509 (?) folgte der erste Vertrag mit Rom 85 . Die Römer verpflichteten sich, nicht über das Schöne Vorgebirge (nordwestlich von Karthago) nach Westen hinauszufahren, in Notfallen binnen fünf Tagen zurückzukehren und ihre Waren in Gegenwart karthagischer Herolde zu verkaufen. Die Karthager boten den Römern in Sizilien Gleichstellung, versprachen, die italischen Bundesgenossen Roms zu verschonen, sich in Italien nicht festzusetzen und bei Raubüberfällen nicht an Land zu übernachten. Das Raubgut durften sie mitnehmen, aber die eroberten Städte müßten sie den Römern unzerstört ausliefern. 4g. In der Folgezeit breitete sich das Netz karthagischer Niederlassungen immer weiter aus. Strabon 86 spricht von 300 abhängigen Städten allein an der afrikanischen Atlantik-Küste. Daneben lebten karthagische Kaufleute in fremden Städten in der Art von Metöken. Wir begegnen diesen Händlern rund ums Mittelmeer: im etruskischen Pyrgoi, in Athen und Delos, im oberägyptischen Theben und im feindlichen Syrakus. Überall wo Gewinn lockte, ließen sie sich nieder. Aristoteles 87 meinte, der soziale Friede in Karthago beruhe darauf, daß die Reichen den Armen in fremden Ländern Gewinnmöglichkeiten eröffneten. Umgekehrt finden wir auch phönizische, griechische und römische Kaufleute in Karthago 8 8 . 4h. Seit dem 6. Jh. hören wir von Eroberungen und Stadtgründungen der Karthager, zunächst auf Malta und Gozo 89 , Sizilien und Sardinien 90 . Während Sardinien ganz unter punische Herrschaft geriet, kam es in Sizilien zu schweren Kämpfen mit den Griechen. 480 wurden die Karthager von Gelon bei Himera besiegt 9 '; Hamilkar sühnte die Niederlage durch Selbstopfer und erhielt einen Kult nach griechischem Muster 92 . Im Anschluß an die sizilische Expedition der Athener (415-413), die für die Griechen eine erhebliche Schwächung bedeutete, gelang den Karthagern die Eroberung großer Teile Westsiziliens. Im 4. Jh. kämpften die Stadtherren von Syrakus Dionysios I93 und Timoleon 94 gegen Karthago, Agathokles landete 310 sogar in Afrika 95 , aber die Karthager waren von der Insel nicht zu vertreiben. 4i. 343 v. Chr. wurde ein neuer Staatsvertrag mit Rom ausgehandelt 96 , diesmal unter Einschluß von Utica und Tyros; ein dritter fallt ins Jahr 27997. Inhalt war wieder die Abgrenzung der Einflußzonen und das Verhalten im Machtbereich des anderen. Man wollte trotz der beiderseitigen Expansion einen Krieg vermeiden, der aber in der Logik der Entwicklung lag, sobald die griechische Pufferzone verschwand. Seit dem frühen dritten Jahrhundert ging es mit der griechischen Macht im westlichen Mittelmeer bergab. König Pyrrhos von Epirus versuchte 280 nochmals, die Griechen Unteritaliens und Siziliens nach beiden Seiten hin zu verteidigen, indem er gegen Karthago wie gegen Rom kämpfte 98 . Dies führte die beiden Westmächte ein viertes und letztes Mal zusammen 99 . Pyrrhos unterlag 100 . 4j. Mit dem politischen Niedergang des Westgriechentums gerieten dann Rom und Karthago aneinander. Im ersten Punischen Krieg (264-241) verloren die Karthager Sizilien an die Römer 101 , 237 benutzten diese den großen Söldneraufstand in Karthago, um auch Sardinien zu annektieren 102 . * 85 Polybios III 22 * 86 Strabon XVII 3,3 u. 15 * 87 Aristoteles, Pol. VI 3,5 * 88 HuB 1985, S.486 * 89 Diodor V 12 * 90 Justin XVIII 7; Diodor IV 29,6 * 91 Herodot VII 165fT * 92 Herodot VII 167 * 93 Diodor XIV 45 ff * 94 Plutarch, Tim. 25 ff * 95 Diodor XX passim * 96 D i o dor XVI 69,1 * 97 Polybios III 24f * 98 Plutarch, Pyr. 22 ff * 99 Livius, Per. 13 * 100 Plutarch, Pyr. 25f * 101 Polybios I 62,8; Appian V 2,2 * 102 Polybios I 67ff

362

XII. Die Handelsrepublik Karthago

4k. Die Karthager drangen daraufhin in Spanien vor 103 , das unter Hamilkar Barkas („der Blitz") zum stärksten Außenposten Karthagos wurde 104 . Die Barkiden handelten zumeist im Einvernehmen mit der Mutterstadt 105 . Hamilkars Schwiegersohn Hasdrubal gewann fast alle Stämme Spaniens zu einem Bündnis 106 . Der Name „Hispania" für die cuniculosa Celtiberia101 ist punischen Ursprungs und bedeutete „Kaninchenland" 108 . Auch die Balearen, die damals karthagisch wurden, tragen einen punischen Namen, sie lieferten berühmte Schleuderer 109 . 41. Der zweite Punische Krieg (218-201) ist politisch von Rom, militärisch von Hamilkars Sohn 110 Hannibal ausgegangen, dem größten Gegner Roms 111 und einem der bedeutendsten Feldherrn der Antike 112 . Sein Kriegsziel war die Befreiung der Italiker von Rom 113 , d.h. Eindämmung, keineswegs aber eine Vernichtung des römischen Staates. Spätere Autoren berichten, der Krieg sei um die Weltherrschaft geführt worden 114 . Das trügt. Die Interessen der Karthager lagen primär auf wirtschaftlichem Gebiet, so daß ein Fortbestand Roms durchaus wünschenswert erschien. Rom hingegen hat rigoros politisch kalkuliert, mit hohen Opfern an Menschen und Gut Karthago niedergezwungen und in einen Satellitenstatus herabgedrückt. Von 201 bis 195 herrschte Hannibal 115 , gestützt auf das Volk, bis Rom die Auslieferung verlangte und Hannibal in den Osten floh 116 , wo er sich unter römischem Druck 182 das Leben nahm 117 .

5. Gesellschaft 5a. Die Einwohnerschaft Karthagos bestand aus denselben drei Klassen, die in den griechischen Städten festzustellen sind: aus Bürgern, Sklaven und Fremden. Die Bürgerschaft zerfiel in das Volk (demos, plebs) und den Adel (aristoi, nobiles). Während die römischen Senatoren keine Geld- und Handelsgeschäfte betreiben durften 118 , waren die karthagischen Ratsherren nicht nur Grundherren, sondern auch Geschäftsleute 119 . Der Stolz auf die Familie spricht aus den Ahnenlisten der Grabinschriften. Die Adligen trafen sich in Speisegemeinschaften (phiditia) und bildeten Clubs (hetairiai). Sie benutzten ein Bad, das dem Volk verschlossen war 120 . Zwei Familien ragen heraus: die Magoniden, die im 5. Jahrhundert regierten, und die Barkiden, die im 3. Jahrhundert die Volkspartei führten: mit Hamilkar Barkas, Hasdrubal und Hannibal. Zwischen den Adelsfamilien gab es oft schwere Konflikte. 5b. Die Zahl der Bürger wird von Strabon 121 für das 2. Jh. mit 700.000 angegeben, doch sind dagegen archäologische und historische Bedenken erhoben worden. Danach dürften in der Stadt nicht mehr als 200.000 Menschen gewohnt haben; es ist aber möglich, daß eine erhebliche Anzahl zusätzlich außerhalb der Stadt gelebt hat. Das Bürgerrecht wurde in der Regel durch Geburt erworben. Heiraten großer Karthager mit Ausländerinnen zeigen, daß * 103 Barceló 1988 * 104 Polybios II 1,5ff * 105 Appian VII 2f * 106 s. u. 7/7 * 107 Catull 37,18 * 108 Strabon III 2,6; 5,2; Aelian, Nat. anim. 13,15 * 109 Strabon 1115,1; XIV 2,10; Plinius, Nat. hist. III 11/77 * 110 Diodor XXIII 22; XXV 13 * 111 Polybios III 11,7: Schwur ewiger Romfeindschaft, historisch unsicher * 112 Hoffmann 1962; Charles-Picard 1967; Christ 1974; Seibert 1993 * 113 Polybios III 77,7; 85,4 * 114 Appian VI 9 * 115 Zonaras IX 14;18 * 116 Diodor XXIX 3 * 117 Zonaras IX 21 * 118 Livius XXI 63 * 119 Aristoteles, Pol. 1316 b 5 * 120 Valerius Maximus IX 5 ext. 4 * 121 Strabon XVII 3,15

6. Verfassung

363

zumindest für die Oberschicht beidseitige karthagische Abstammung nicht erforderlich war. Hamilkar, der Feldherr von 480, war Sohn einer Syrakusanerin 1 2 2 . 5c. Die Zahl der Sklaven war beträchtlich, um 350 unternahm H a n n o einen vergeblichen Staatsstreich mit Hilfe von 20.000 Sklaven 123 . Im zweiten Punischen Krieg wurden einmal 5.000 Rudersklaven gekauft 1 2 4 . Die Sklaven konnten rechtsgültige Ehen eingehen 125 . Freigelassene erhielten den Status von „Sidoniern" 126 , eine minder angesehene Stellung im Vergleich zu den Karthagern, die sich selbst als „Tyrier" bezeichneten. 5d. Unter den Fremden in Karthago kennen wir die griechische Kolonie 127 . Sie m u ß bedeutend gewesen sein. Die Karthager liebten die griechische Kunst 128 . Griechen haben auch das Bürgerrecht erhalten, wie sich in den karthagischen Gesandten griechischer Volkszugehörigkeit in Syrakus zeigt 129 . Zahlreiche Kontakte lieferte das Söldnerwesen 130 und die Religion 131 . Das Buch des Karthagers Teukros über Mechanik war wohl, wie der N a m e des Autors, griechisch 132 . In Krisenzeiten wurden griechische Sprache und Schrift in Karthago verboten 133 . Hannibal hatte griechische Ratgeber 134 , griechische „Hofhistoriker" 135 und sprach und schrieb selbst auch griechisch 136 und Latein 137 . Charon von Karthago, vielleicht ein Metöke, schrieb griechische Geschichtswerke 138 . 5e. Das Bild, das die griechischen und lateinischen Autoren von den Puniern entwarfen, entsprach der politischen Spannung. Die Karthager, schreibt Plutarch 139 , sind ein hartes und finsteres Volk, unterwürfig gegenüber ihren Herrschern, streng gegenüber ihren Untertanen. In Zeiten der Furcht sind sie äußerster Feigheit fähig, in Zeiten des Zorns äußerster Grausamkeit 1 4 0 . Hartnäckig halten sie an ihren Entschlüssen fest, und was Plutarch besonders verwundert: sie leben mäßig und verzichten auf Vergnügungen, Gelage und die Annehmlichkeiten des Lebens. Die Römer verwendeten fides Punica sprichwörtlich für Treulosigkeit 141 , auch romkritische Autoren berichten darüber 1 4 2 .

6. Verfassung 6a. Karthago war eine civitas liberaM, d . h . eine Republik. Regiert wurde nicht nach der Willkür der Herrschenden, sondern gemäß dem Gesetz (kata nomön)w. Als politisches Subjekt erscheint der Plural „die Karthager". Zur Frage nach dem Souverän bietet der Vertrag zwischen Hannibal und Philipp V von 215 145 wichtigen Aufschluß. Dabei steht auf karthagischer Seite: Hannibal als strategos, es folgen die karthagischen gerousiastai, die ihn begleiten (der Rat), und die Karthager, die im Heer dienen (das Volk). Unter der naheliegenden Voraussetzung, daß hier ein Abbild des karthagischen Staates im karthagischen Heere vorliegt, bestätigt sich die These des Polybios 146 , daß Karthago so wie R o m und Sparta eine aus demokratischen, aristokratischen und monarchischen Elementen

* 122 Herodot VII 166 * 123 Justin XXI 4,6 * 124 Appian VIII 9 * 125 Plautus, Casina 67ff * 126 Huß 1985, S. 497f * 127 Diodor XIV 77,5 * 128 Diodor XXXII 25 * 129 Polybios VII 2,3f * 130 s. u. 6 p! * 131 Diodor XIV 77,5 * 132 Diogenes Laertios VIII 82 * 133 Justin XX 5,12f * 134 Hippokrates und Epikydes: Polybios VII 2,3f * 135 s.o. 2 c! * 136 Dio XIII 54,3; Nepos, Hann. 13 * 137 Zonaras VIII 24 * 138 Suidas, Chi 137 * 139 Plutarch, Mor. 799 D * 140 Diodor XIII 57; 62; XXV 5; 10,2; Kreuzigung erfolgloser Feldherren s.u. 7 a ! * 141 Sallust, Bell, lug. 108,3; Ausonius XVIII 6,42 * 142 Appian VIII 4; 31; 33; 35; 62; 64 * 143 Justin XIX 2,5 * 144 Diogenes Laertios III 82; Diodor XIII 43,5 * 145 Polybios VII 9 * 146 Polybios VI 51

364

XII. Die Handelsrepublik Karthago

gemischte Verfassung besessen habe. Schon Aristoteles 147 vertrat dies, er parallelisierte die karthagische mit der spartanischen und der kretischen Staatsform. 6b. Betrachten wir nun die drei Ebenen von unten nach oben! Die Volksversammlung (griechisch démos, ekklësia oder plëthos; lateinisch contio) umfaßte die wehrhaften freien Vollbürger. Sie waren Herr über alles, was das Volk betraf 148 : die Wahl der Beamten, einschließlich der Oberbeamten 149 , und - nach der Behandlung durch den Rat - die Entscheidung über Krieg und Frieden 150 . Streitfragen wurden vor das Volk gebracht, wenn Sufeten und Rat uneinig waren; waren sie einig, konnte die Volksversammlung nichtsdestoweniger berufen werden, und zwar von den Sufeten. Die Volksversammlung fungierte auch als Volksgericht und sprach Verbannungsurteile aus 151 . Eine besondere Rolle spielten die Gefolgschaften der großen Familien, es gab offenbar auch etwas der römischen Klientel Entsprechendes. 6c. Das Volk stimmte nicht nur ab wie in Sparta, sondern hatte auch wie in Athen das Recht auf Rede 152 und entschied selbst gegen die Stimme des Rates 153 . Insofern enthält die karthagische Verfassung Elemente einer direkten Demokratie. In der späteren Zeit vertrat die demokratische Partei (hoi dëmokratizontes) eine nationalistische Außenpolitik 154 ; Hannibal versuchte, über den Rat hinweg mit dem Volk zu regieren 155 . Polybios 156 meinte, darin liege die entscheidende Schwäche im Vergleich zu Rom. 6d. Wo Geld und Leistung die Volksmeinung beherrschen, wie in Karthago, schreibt Aristoteles 157 , da dominiert die aristokratische Komponente. Der Rat der Alten 158 heißt in den griechischen Quellen gerousia159, gerontion160 oder boulëi61, seltener synklëtos162 oder synhedrion163. Er wurde von den Römern 164 als senatus bezeichnet und unterstand dem besonderen Schutz der (Himmels-) Göttin 165 . Der Große Rat behandelte alle außenpolitischen Fragen und war die eigentlich regierende Macht 166 . Damit ist die karthagische Verfassung noch oligarchischer als die spartanische und die römische. Aristoteles sah darin keinen Einwand gegen den Misch-Charakter, er meinte, stets müsse das mittlere Element das stärkste sein, um eine Koalition der beiden anderen auszubalancieren. 6e. Seit dem 5. Jh. gehörten dem Rat anscheinend 300 Mitglieder an 167 , die unter dem Vorsitz der Sufeten im bouleutërion168 tagten. Die Mitgliedschaft war lebenslänglich, abgestimmt wurde in besonderen Fällen namentlich 169 . Meitzer 170 betrachtet die 300 Ratsherren als die Vertreter der 300 großen Familien in Karthago. Über eine Wahl hören wir nichts, wahrscheinlich war die Mitgliedschaft erblich. Der Große Rat befand über Gesetzgebung, Verwaltung, Außenpolitik 171 , Aushebung und Mobilmachung, doch mußten die Sufeten jeweils zustimmen.

* 147 Aristoteles, Pol. 1272-73 * 148 Polybios VI 51,2 * 149 Diodor XXV 8; Appian VII 3; Livius XXI 3,1; Aristoteles, Pol. 1273 a,b * 150 Zonaras VIII 21; IX 14 * 151 Justin XVIII 7,16; Diodor XIII 43,5; XVI 81,3 * 152 Appian VIII 55 * 153 Aristoteles, Pol. 1273 a 10 * 154 Appian VIII 35; 68; 70 * 155 Livius XXXIII 46,7 * 156 Polybios VI 51,7f * 157 Aristoteles, Pol. 1293 b 15 * 158 seniores, ita senatum vocabant: Livius XXXIV 61,15 * 159 Aristoteles, Pol. 1272 b; Diodor V 11,3 * 160 Polybios VI 51,2 * 161 Appian VIII 38;65 * 162 Polybios X 18,1; XXXVI 4,6 * 163 Polybios XXXVI 3,7; Diodor XXV 16 * 164 Livius XXI 3,2; XXX 7,5; Valerius Maximus II 7 ext. 1; Justin XX 5,13 * 165 Appian VIII 84 * 166 Diodor V 11,3; XIII 43,4; XXXII 6,4 * 167 Polybios XXXVI 4,6; Diodor XXXII 6,1 * 168 Appian XI 8 * 169 kaf andra: Appian VIII 65 * 170 Meitzer II 1896, S. 31 ff * 171 Diodor XXIII 12; Appian VI 10

365

6. Verfassung

6 f . Aus dem Großen Rat wurde der Kleine Rat gewählt. Polybios unterscheidet ihn von der synkletos als gerousiam. Er umfaßte 30 Mitglieder 173 . Diese seniorum principes bildeten das sanctius consilium mit der maxima ad ipsum senatum regendum vis. Die Dreißig regierten den Großen Rat, führten die Geschäfte, in wichtigen Fällen übernahmen sie die Gesandtschaften 174 . 6g. Nachdem um die Mitte des 5. Jhs. die Familie der Magoniden ein Jahrhundert den karthagischen Staat auf verfassungsmäßige Weise beherrscht hatte, wurde zur Beschränkung derartiger Vormachtstellungen der Staats-Gerichtshof der 104 bestellt 175 . Er umfaßte die beiden Sufeten, die zwei Strategen und 100 Angehörige des Großen Rates, die gemäß ihrer Würdigkeit (aristinden) von den Pentarchien (Fünfmännerkollegien) auf Lebenszeit gewählt wurden 176 . Dieser potentissimus ordo richtete über die Strategen' 77 . Die Pentarchien ergänzten sich selbst. 6h. Ursprünglich nahmen die 104 die Rechenschaft der heimgekehrten Feldherren ab, konnten Geld-, Verbannungs- und Todesstrafen aussprechen. Später erstreckte sich die Kontrolle auch auf die Sufeten; Meitzer spricht von einer „politischen Polizei". Aristoteles178 bezeichnet den Rat der 104 als megiste arche, weil er in letzter Instanz Urteile sprach, und verglich ihn mit den spartanischen Ephoren, sofern diese ohne eigentlichen Oberbefehl die Kriegsführung der Könige kontrollierten. Einzelne Mitglieder der 104 begleiteten die Feldherren im Kriege. In der letzten Phase der karthagischen Selbständigkeit wuchs die Kontrolle der 104 zu einer regelrechten Herrschaft aus, die Hannibal dann beseitigte, indem er die Amtszeit auf ein Jahr begrenzte 179 . 6i. Die Beamten wurden vom Volk nach Ansehen und Besitz gewählt. Die höchsten Beamten, Sufeten und Feldherren kamen aus der Schicht der Reichsten 180 . Piaton 181 behauptet geradezu, der Sufetat (basileia) werde in Karthago verkauft, und Aristoteles 182 kritisierte das: es führe zur Bestechung und zu Verzicht auf Leistung. Polybios 183 stellte diese in Karthago übliche Praxis des Stimmenkaufs in Gegensatz zu Rom, wo ambitus unter Strafe stand 184 . Im Unterschied zu allen griechischen und römischen Stadtverfassungen waren in Karthago Ämter kumulierbar 185 . Aus der Tatsache, daß ehemalige Beamte im weiteren Rat saßen und daß dieser dennoch eine fixe Zahl von 300 umfaßte, ergibt sich, daß die Beamten bereits vorher dem Rat angehört hatten. 6j. Die oberste Exekutive lag ursprünglich vermutlich bei den Stadtkönigen 186 . Dafür spricht die Existenz von Königen in anderen phönikischen Städten, die anachronistische Verwendung des Königstitels für die Sufeten (s.u.) und die Mythologie, die Dido als Stadtkönigin ansah. Karthago hat innenpolitisch wohl dieselbe Entwicklung durchgemacht wie viele antike Stadtstaaten: vom Königtum zur Aristokratie und weiter zur populären Herrschaft eines Feldherrn - Hannibal. 6k. Nachfolgebeamte der Könige waren die beiden 187 jährlich wechselnden 188 Sufeten. Das Wort ist semitisch, es bedeutet „Richter" (hebr. schophthim) und wird auch bei den * 172 P o l y b i o s X 18,1; X X X V I 4,6; A p p i a n VIII 80; D i o d o r XIII 4 3 , 4 und X X I I I mit gerousia

möglicherweise den großen Rat.

*

12,1 meint

173 P o l y b i o s I 87,3; Livius X X X 16,3; D i o d o r

X X X I I 6,3 * 174 Livius X X X 16,3 * 175 Justin X I X 2 , 5 f * 176 Livius X X X I I I 46,1 * 177 Justin X I X 2,6; s . u . 6 m !

* 178 Aristoteles, Pol. 1272 b 3 0 f f * 179 Livius X X X I I I 46,7

X X X I I I 46,3 * 181 Piaton, Staat 544 d , e ; D i o g e n e s Laertios III 82

*

180

* 183 P o l y b i o s VI 56,4 * 184 I.e. ; Livius VII 15,12 * 185 Aristoteles, Pol. 1273 b 5 * 186 1985, S. 459 * 187 N e p o s X X I I I 7,4 * 188 Z o n a r a s VIII 8,2

Livius

* 182 Aristoteles, Pol. 1273 a 35 Huß

366

XII. Die Handelsrepublik K a r t h a g o

Israeliten vor Saul189 für die Staatslenker gebraucht. In Tyros finden wir beispielshalber Sufeten in der Zeit von 562 bis 555190. Judices „regierten" später Alanen 191 und Goten 192 . Das deutsche Wort „richten" ist verwandt mit lateinisch regere - „regieren", wovon rex - „König" herkommt. Sufeten gab es bei den Karthagern mindestens seit der Mitte des 6. Jhs. 193 . Die griechischen Autoren bezeichnen diese Beamten zumeist irreführend als basileis194, die römischen Historiker sprechen von reges195 oder praetores196. Damit werden die Sufeten als Imperiumsträger gekennzeichnet. Könige waren sie nicht, denn das Sufetenamt war weder rechtlich an bestimmte Familien gebunden noch lebenslänglich. Livius197 und Nepos 198 verglichen die Sufeten mit den römischen Konsuln und bezeugen damit Annuität und Kollegialität. Wie den Konsuln die Liktoren 199 dienten den Sufeten viatores (Büttel) 200 . 61. Die Sufeten waren summi magistratus201 und die höchsten Richter 202 . Sie saßen täglich auf den Richterstühlen am Forum 203 , verwalteten die Finanzen 204 , sie beriefen und leiteten die Volksversammlung 205 und präsidierten dem Rat 206 , zu dessen Mitgliedern sie zählten. Als eponyme Beamte gaben sie ihre Namen dem Jahr 207 . Auch in den karthagischen Pflanzstädten gab es Sufeten: etwa in Gades 208 . In römischer Zeit erscheinen sie noch auf Inschriften 209 . In der Spätzeit kommen auch vier Sufeten vor 210 . 6m. Über die Unterbeamten hören wir wenig. In Karthago gab es einen Quaestor 211 , dem die Münzprägung 212 unterstand. Gewesene Quaestoren wurden in den Rat der 104 gewählt 213 . Auch in Gades ist ein Quaestor bezeugt 214 . Zwischen Sufeten und Quaestoren gab es Konflikte 215 . Ein praefectus morum schritt beim Verdacht von Knabenliebe ein216. Das afrikanische Territorium wurde in sieben Bezirken von Präfekten verwaltet 217 .

7. Heer 7a. Im 5. und 4. Jh. lag die Kriegsführung bei den Sufeten, die dann durch Ämterkumulation zu Strategen gewählt wurden 218 oder kraft ihrer Sufetenbefugnis kommandierten 219 . Später, wohl im Zusammenhang mit den auswärtigen Kriegen, wurden jedoch zusätzlich Strategen bestimmt, die neben den Sufeten als die höchsten Beamten galten 220 . 221 wählte das Heer in Spanien Hannibal zum Nachfolger seines Schwagers Hasdrubal, und die karthagische Volksversammlung bestätigte dies221, desgleichen der Rat 222 . Das Amt des Strategen war nicht befristet und wohl auch nicht immer besetzt. Unterlag ein Stratege im Kampf, wurde er auf Befehl der Regierung gekreuzigt 223 . Während der Belagerung der * 189 A T . Richter * 190 Flavius Josephus, c. Ap. I 21 * 191 A m m i a n X X X I 2,25 * 192 A m m i a n X X X I 3,4 * 193 Justin XVIII 7,16ff * 194 H e r o d o t VII 165; Aristoteles, Pol. 1273 a; D i o d o r XIII 43,5; Z o n a r a s VIII 8 * 195 N e p o s X X I I I 7,4 * 196 Livius X X X I I I 46,3 * 197 Livius X X X 7,5 * 198 N e p o s X X I I I 7,4 * 199 s . u . XIII 8 V. * 200 Livius X X X I I I 46,5 * 201 Livius X X V I I I 37,2 * 202 Livius X X X I V 61,15 * 203 celeberrimo loco: Livius X X X I V 61,14 * 204 N e p o s X X I I I 7,5 * 205 Livius X X X I I I 46,5 * 206 Livius X X X 7,5 * 207 H u ß 1985, S.460 * 208 Livius X X V I I I 37,2 * 209 Dessau N r . 6797ff; 9395 * 210 H u ß 1977, S. 427ff * 211 Livius X X X I I I 46,3 f; punisch rab: H u ß 1985, S.465 * 212 s.u. 8 h! * 213 Livius I.e. * 214 Livius X X V I I I 37,2 * 215 Livius X X X I I I 46,5 * 216 N e p o s X X I I 3,2 * 217 Picard in: H u ß 1992, S.302 * 218 D i o dor XII 43,5 zu 410 * 219 D i o d o r XIV 54,5 zu 396 * 220 Aristoteles, Pol. 1273a * 221 Polybios III 13,4; A p p i a n VII 3 * 222 A p p i a n VI 8 * 223 D i o d o r X X I I I 10,1; X X I V 11; Z o n a r a s VIII 11; 14; 17; Plutarch, Tim. 22; Polybios I 24,6; 79,4; Justin XXI 4,7; X X I I 7,8; Livius X X V I I I 37,2; Valerius M a x i m u s II 7 ext. 1

7. Heer

367

Stadt durch Scipio wurde Hannibal zum strategos autokratör gewählt 224 , zum Befehlshaber mit unbegrenzten Vollmachten. Dieses Amt begegnet in Notzeiten auch bei den Griechen 225 . 7b. Die Karthager waren unkriegerisch, sie machten mit Geld Politik. Anfangs besaßen sie hauptsächlich Seestreitkräfte. Die Flotte unterstand einem nauarchos226. Im ersten Punischen Krieg kämpften 350 Kriegsschiffe 227 , gerudert meistens von karthagischen Bürgern. Karthagos Seemacht war so stark, daß H a n n o 264 sagen konnte, gegen den Willen Karthagos könnten sich die Römer nicht einmal die H ä n d e im Meer waschen 228 . Auch Erfindungen im Schiffswesen werden ihnen nachgerühmt, so die navis quadriremis129, die Verdopplung des Steuermanns 2 3 0 und die Verwendung des Spartgrases für Seile und Matten 2 3 1 . Die Römer haben im ersten punischen Krieg ein gekapertes karthagisches Schiff als Muster für ihre eigene Flotte verwendet 232 . 7c. Die Landmacht zeigte ein buntes Gemisch: die karthagische „heilige Schar" bestand aus 2500 Bürgern 233 , die Libyer machten die Hauptmasse aus. Die numidischen Klientelfürsten stellten die Reiterei. Der Hipparch (Reiterführer) besaß einen hohen Rang, so Maharbal 2 3 4 und Himilko 149235. Die durch Hannibals Alpenübergang 2 3 6 berühmt gewordenen Kriegselefanten benutzte man im Westen seit Pyrrhos 237 . Die Karthager verwendeten indische Elefantenführer 2 3 8 , aber afrikanische Tiere 239 . In Sizilien stellten die Karthager auch Streitwagen ins Feld 240 . Piaton 241 lobt, daß die karthagischen Krieger auf dem Marsch keinen Wein trinken durften. Nach Aristoteles 242 wurden die Karthager für die Teilnahme an einem Krieg mit einem Armring ausgezeichnet. 7d. Die afrikanischen Truppen wurden ergänzt durch spanische, keltische, italische, sardische, korsische und griechische Söldner 243 . Die Karthager führten auch Griechen gegen Griechen ins Feld, trauten ihnen aber nicht 244 . 397 ließ Dionysios I einen griechischen Söldnerführer kreuzigen, der für K a r t h a g o gekämpft hatte 245 . Von den Tyrannen verbannte Griechen standen auf Seiten Karthagos 2 4 6 . Der spartanische Condottiere Xanthippos rettete die Stadt 255 vor Regulus 247 . Die Oberkommandierenden der Hilfstruppen tragen in den griechischen Texten den Titel boetharchos2m. Vom Heer ging die größte innere Gefährdung der karthagischen Verfassung aus. Es kam wiederholt zur Unbotmäßigkeit von Feldherren, die sich auf die Armee stützten 249 . Besonders gefährlich war der Aufstand von Söldnern 250 . Die Erhebung von Spendios und Mathos 241-237, die Karthago an den Rand des Untergangs brachte 251 , ist der Gegenstand von Flauberts R o m a n »Salammbo« * 224 Appian VIII 31 * 225 Athen: Thukydides VI 26; Syrakus: Diodor XIX 9,4; M. Schede, Strategos autokratör, 1932 * 226 Appian VIII 24; 96 * 227 Polybios I 25 * 228 Zonaras VIII 9; Diodor XXIII 2 * 229 Vierruderer: Plinius, Nat. hist. VII 57 * 230 Aelian, Var. hist. IX 40 * 231 Plinius, Nat. hist. XIX 9 * 232 Zonaras VIII 15 * 233 Diodor XVI 80,4; 73,3 * 234 Livius XXII 6,11 * 235 Zonaras IX 27 * 236 Livius XXI 32ff * 237 Plutarch, Pyr. 15 * 238 Polybios I 40,15; Appian VII 41 * 239 Appian VIII 9; Aelian, Nat. anim. II 11. In der Spätantike gab es keine Elefanten mehr in Mauretanien: Isidor, Etym. XIV 5,12 * 240 Diodor XIV 54,5; XVI 67,2 * 241 Plato, Gesetze 674 a * 242 Aristoteles, Pol. 1324 b 10 * 243 Herodot VII 165; Polybios I 43,2; 67,7; Diodor XII 44; XVI 73;81; XXIX 6,1; Appian IV 2,3; Zonaras VIII 5; 10; 16 * 244 Polyaen V 2,16; Plutarch, Tim. 30 * 245 Diodor XIV 53,4 * 246 Diodor XIX 8,6; XX 29,5f * 247 Diodor XXIII 14; Appian VIII 3; Zonaras VIII 13 * 248 Polybios I 79,2; Appian VIII 70; 74 * 249 Diodor X X lOff * 250 Das erläutert die Namensgeschichte der „Knocheninseln" (Osteaden), benannt nach den Resten ausgesetzter Meuterer: Diodor V 11 * 251 Polybios I 6 5 - 8 8 ; Zonaras VIII 17

368

XII. Die Handelsrepublik Karthago

(1862). Ein Söldnerführer war vermutlich auch der 146 bezeugte karthagische General Diogenes 252 . 7e. Unbefriedigend war auch die Organisation der Außenbesitzungen. Sie wurden mit Söldnern ruhig gehalten 253 . Das hat in Krisenzeiten Abfallbewegungen nicht verhindern können. Gegenüber den abhängigen Städten, die unter selbstgewählten Sufeten und Quaestoren standen (Gades) 254 , beanspruchte Karthago Weisungsbefugnis und Kriegsfolge. Auch in Friedenszeiten mußten sie Tribute in Höhe des Zehnten zahlen 255 und karthagische Schiffe benutzen. Allianzen waren ihnen verboten. Die sizilische Epikratie 256 war in städtische Territorien aufgeteilt, unter denen möglicherweise das 396 gegründete 257 Lilybaion eine Führungsstellung innehatte. Hier residierte der Stratege, der die karthagischen Truppen auf Sizilien befehligte, und später der römische Praetor 258 . 7f. Das Strategenamt für Spanien war seit Hamilkar praktisch in der Familie der Barkiden erblich 259 . Sie führten karthagische Siedler dorthin 260 und gründeten Städte: Akra Leuke - Alicante 261 und Carthago Nova - Cartagena 262 . Hamilkars Schwiegersohn 263 Hasdrubal, der nach oder neben der Tochter Hamilkars eine iberische Prinzessin zur Frau hatte 264 , hieß bei den Einheimischen „Großer König" 265 . Die Barkiden bauten in Cartagena eine Königsburg 266 und ließen dort Münzen prägen wie hellenistische Könige 267 . Ihr Porträt zeigt das Diadem. Das afrikanische Hinterland hat erst Hannibal nach römischem Muster als Provinzen geordnet 268 . Neben den abhängigen Städten nennt der Vertrag von 215 noch verbündete Städte und Völker 269 . 7g. Fatal wurde es für Karthago, daß es das westlich angrenzende Numidien nicht eingliedern konnte. Die Numider waren „Nomaden" und gefürchtete Reiter. Während des Zweiten Punischen Krieges rangen die Numiderfürsten Masinissa und Syphax um die Vorherrschaft. Zunächst kämpfte Masinissa auf karthagischer, Syphax auf römischer Seite. Masinissa war verlobt mit Sophonisbe, der Tochter von Hasdrubal Gisgonis, einer karthagischen Patriotin. U m aber Syphax zu gewinnen, gab Hasdrubal diesem seine Tochter. Darauf ging Masinissa zu Scipio über, nahm Syphax im Zweikampf gefangen und heiratete Sophonisbe nun doch. Der gefangene Syphax überzeugte Scipio, daß Sophonisbe den Masinissa wieder auf die karthagische Seite ziehen würde. Scipio verlangte die Auslieferung der Frau, Masinissa aber ließ ihr Gift zukommen, und sie nahm sich das Leben 270 . Diese Geschichte wurde oft literarisch behandelt, so von Corneille und Voltaire. Gluck machte eine Oper daraus.

8. Wirtschaft 8a. Wichtiger als Politik, Krieg und Kultur war bei den Karthagern das Wirtschaftsleben. Bei ihnen findet sich ein ökonomisches Denken schon in früher Zeit, wie es allenfalls im Hellenismus von den Griechen erreicht worden ist. Während die griechische Außen* 252 Appian VIII 126 * 253 Polybios I 79,2 zu Sardinien; Appian VIII 68 zu Spanien * 254 Livius XXVIII 37,2 * 255 Livius XXXIV 62,3 * 256 Piaton, ep. 7, 349c; Diodor XIV 54,2 * 257 Diodor XIII 54,4; XXII 10,4 * 258 Polybios VII 2,3 * 259 Zonaras VIII 19; 21 * 260 Appian VI 56 * 261 Diodor XXV 10,3 * 262 Polybios II 13; Diodor XXV 12 * 263 Diodor XXV 12 * 264 Diodor XXV 12; Appian VI 23 * 265 Zonaras IX 8 * 266 Polybios X 10,9 * 267 Robinson 1956 * 268 Charles-Picard 1967, S.237ff * 269 Polybios VII 9 * 270 Appian VIII 26ff

8. Wirtschaft

369

politik überwiegend bevölkerungspolitisch bestimmt war, die römische aber machtpolitisch, haben die Karthager wirtschaftlich gedacht. 8b. Über die karthagische Produktion wissen wir wenig: bekannt sind Metallverarbeitung, Textilindustrie und ein rationalisierter Landbau auf Latifundienbasis. Das afrikanische Hinterland bestand großenteils aus Landgütern reicher Karthager, die mit einheimischen Arbeitskräften in abhängiger Stellung wirtschafteten. Die selbständigen libyschen Bauern hatten ein Viertel des Ertrages abzuliefern 271 . Das gesamte Territorium war durch einen Limes geschützt 272 . Nach der Eroberung von Karthago haben die Römer ein wissenschaftliches Werk des Karthagers Mago, 28 Bücher über den Landbau, ins Lateinische übersetzen lassen 273 . Die Römer übernahmen von den Puniern den Granatapfelbaum, malum Punicum. 8c. U m den Handel zu sichern, haben die Karthager überall Märkte zu eröffnen versucht, durch Gewalt, durch Verträge oder durch Niederlassungen. Ihr Ziel waren Handelsmonopole; wo sie nicht erreichbar waren, traten Verträge über gegenseitige Vorteile an deren Stelle. Zu ihrem Schutz wurde ein ausgedehntes Stützpunktsystem angelegt. Aristoteles274 überliefert es als eine Besonderheit, daß die Karthager Handelsverträge mit anderen Staaten abschlössen. Innerhalb ihres Machtbereiches forderten die Karthager das alleinige Seefahrtsrecht. Schiffe, die nach Westen über Karthago hinausfuhren, wurden versenkt 275 . Nach Karthago selbst durften fremde Schiffe kommen, aber die übrigen nordafrikanischen Häfen wurden allein von Karthago angelaufen. 8d. Die wichtigsten Handelspartner waren Ägypten und Phönizien, vor allem seit die Ptolemäer den phönizischen M ü n z f u ß eingeführt hatten, sodann Griechenland, Campanien und Etrurien. Italien lieferte Öl und Wein, erhielt Textilien, Früchte, Gold, Edelsteine und afrikanische Sklaven. Malta lieferte Baumwolle, Lipari Alaun, Korsika Wachs, Honig und vor allem Sklaven. Elba bot Eisen, die Balearen erhielten Lasttiere und Früchte und boten d a f ü r Wein und besonders geschätzte Sklavinnen. Die Inschriften Karthagos nennen Händler für Salz, Leinen, Eisen, Gold, Elfenbein, Weihrauch, Schilfrohr und Salben 276 . Natürlich gab es auch den unspezifizierten Händler. Ein punischer K a u f m a n n in der Komödie »Poenulus« 277 des Plautus handelt z. B. gerade mit Flöten, Schuhriemen, Nüssen und afrikanischen Mäusen. 8e. Der Handel mit dem Westen galt vor allem dem spanischen Silber und dem britannischen Zinn. Es wurde auf den Zinninseln, den Kassiteriden, gefunden 278 , die wahrscheinlich Cornwall und die Bretagne bezeichnen 279 . Die Route wurde geheimgehalten, daher bezweifelte Herodot 2 8 0 die Existenz der Zinninseln. Der älteste Umschlagplatz 281 war Tartessos 282 an der M ü n d u n g des Baltis (Guadalquivir). Hier wohnten die Turdetani, der zivilisierteste unter den iberischen Stämmen 2 8 3 . U m 1150 hatten die Phönizier Gades gegründet; dagegen suchte Tartessos Hilfe bei den Griechen 284 , zu denen schon seit dem frühen 7. Jh. Verbindung bestand 285 . Die Phokaier gründeten damals Mainake, die westlichste griechische Niederlassung 286 . Auch Griechen besuchten die Zinninseln 287 . U m * 271 Polybios I 72,1 f * 272 Phlegon, Mirabilia 18 = Jacoby, F.gr.Hist. 257 F 36,18 * 273 Varro, Rust. I 1,10; Plinius, Nat. hist. XVIII 5 * 274 Aristoteles, Pol. 1280 a 35 * 275 Strabon XVII 1,19 * 276 Huß 1985, S.482 * 277 Plautus, Poen. 1011 ff * 278 Diodor V 38,4 * 279 Cary + Warmington 1929, S. 72 * 280 Herodot III 115 * 281 Herodot IV 152: emporion * 282 biblisch Tarschisch: AT. 1. Mose 10,4; 1. Könige 10,22; 22,49; s. o. 3 d ! * 283 Strabon III 2,14f * 284 Herodot I 163 * 285 Herodot IV 152 * 286 Avienus 426ff * 287 Plinius, Nat. hist. VII 57/197

370

XII. Die Handelsrepublik Karthago

500 v. Chr. wurden Tartessos und Mainake zerstört, der Weg für die Karthager zu den Zinninseln war frei. Epochal war die im Staatsauftrag unternommene Fahrt des Himilko zur „Westspitze Europas" 2 8 8 . 1881 wurde die Abschrift einer angeblich in Parahyba, Brasilien gefundenen punischen Inschrift bekannt. Wenn sie echt ist 289 , dann f u h r Kolumbus auf den Spuren der Karthager. 8f. U m 500 hat auch die Kolonisationsfahrt des Sufeten H a n n o an der afrikanischen Westküste stattgefunden 2 9 0 . Wir wissen von ihr, weil H a n n o nach seiner Rückkehr im Tempel des Baal H a m m o n einen Bericht angeschlagen hat, von dem Reste in griechischer Übersetzung erhalten sind 291 . H a n n o kommandierte eine Flotte von 60 Fünfzigruderern und angeblich 30.000 Männern und Frauen, durchquerte die Säulen des Herakles, legte 7 Kolonien an und passierte die Kanarischen Inseln. Wie weit er gelangt ist, bleibt unklar. Cary und Warmington 2 9 2 vermuten bis Sierra Leone, frühere Autoren meinten bis zum Kamerunberg, Oikonomides 2 9 3 verweist auf zwei Stellen beim älteren Plinius 294 , nach denen H a n n o Afrika bis Arabien umsegelt hätte 295 , doch endet der erhaltene Text mit dem Entschluß zur Umkehr. Auf dieser Fahrt jagten die Karthager einmal behaarte Wilde, die um sich bissen und vom Dolmetscher „Gorillas" genannt wurden. Danach erhielten die heute so heißenden Affen 1847 ihren Namen 2 9 6 . U m 480 hat nach Strabon 2 9 7 Mago Afrika umsegelt. 8g. Schließlich müssen noch die Expeditionen genannt werden, die die Karthager durch die Sahara unternommen haben 298 . Aus Zentralafrika bezogen sie, teilweise durch Vermittlung der Garamanten, Elefanten 299 , Sklaven, Straußenfedern, Straußeneier, Edelsteine und Gold. 8h. Seltsamerweise haben die Karthager gezögert, die Geldprägung zu übernehmen. Erst um 330 wurden nach dem Vorbild der sizilischen Griechen in K a r t h a g o Münzen geprägt. Sie zeigen den (umgedeuteten?) Kopf der syrakusanischen Arethusa, ein Pferd, das mit der Gründungslegende Karthagos zusammenhängt 3 0 0 , und eine Palme, deren griechischer N a m e n phoinix auf den Volksnamen phoinikes hinweist. Bereits um 400 jedoch beginnen die karthagischen Münzen in Sizilien. Sie tragen die Aufschrift Karthadascht Karthago und waren für den Truppensold bestimmt. Dasselbe gilt für die Heeresmünzen mit der Aufschrift machanat. Einige der karthagischen Städte prägten eigene Münzen, so Eryx, Motye und Carthago Nova. Der Handel spielte sich sonst in Naturalien ab. Kurz vor der Eroberung sollen die Karthager Ledergeld benutzt haben, eine Art von staatlichem Kreditgeld 301 . Dies setzt die Existenz einer staatlichen Depositenbank voraus, die erst von den Venezianern wieder erfunden wurde. 8i. Karthago war berühmt für seinen Reichtum. „Die Karthager wurden an Stärke nur von den Griechen, an Reichtum nur von den Persern übertroffen" 3 0 2 . Zu den Gewinnen, die aus dem privaten Handel erzielt worden sein müssen, kamen staatliche Einnahmen aus Tributen, Zöllen und seit Hamilkars Erschließung des silberreichen Spanien 303 aus den * 288 Avienus 113ff; Plinius, Nat. hist. II 67/169 * 289 C. Gordon, in: Orientalia 37,1968, S.75ff; S.425ff; L. Delekat, Phönizier in Amerika, 1969; dagegen Bunnens 1979, S.43f * 290 Plinius, Nat. hist. VI 36; Mela III 90 * 291 Oikonomides 1977; Blomquist 1979 * 292 Cary + Warmington 1929, S. 101 f * 293 Oikonomides 1977,13f * 294 Plinius, Nat. hist. II 67; V 1,8 * 295 vgl. Herodot IV 43 * 296 Mela III 93; Savage, in: Boston Journal of Natural History 5, 1847, S.417 * 297 Strabon II 3,4 * 298 Athenaios 44 E * 299 Appian VIII 9; 79 * 300 Vergil, Aen. I 441 ff * 301 Piaton, Eryxias 399e-400a * 302 Appian VIII 2 * 303 Appian VI 19; 54

9. Religion

371

Bergwerken 304 . Während des Söldneraufstandes 241 erpreßten die Römer von den Karthagern 3200 Talente Silber305 , 23 7 abermals 1200306 und 201 gar 10.000307. 8j. Dem Reichtum Karthagos entsprach kein vergleichbarer Aufwand. Plinius spricht von der opulentia Carthaginis magnae, weshalb man den Karfunkelstein lapis Carchedonius, Chalzedon, zubenannt habe 308 . Daß die Karthager an ihrem Luxus zugrunde gegangen seien, ist gewiß unhistorisch 309 . Im Gegensatz zu den literarischen Zeugnissen stehen die archäologischen Befunde. Trotz aller Macht und allem Reichtum hat es in Karthago keine eigenständige Kunst, kaum importierten Luxus gegeben, wie ihn die griechischen Vasen in Gallien und Etrurien darstellen, allenfalls ein wenig ägyptischen Nippes.

9. Religion 9a. Die Religion der Karthager ist geprägt durch die phönizisch-kanaanäische Herkunft und durch den griechischen Einfluß. Der höchste Himmelsgott war Baal (der „Herr"). Sein Name steckt in dem von Hasdrubal (Meine Hilfe ist Baal), Hannibal (Baal ist mir gnädig), Maharbal (Der Diener Baals). Baal wurde als Stier verbildlicht und mit dem ägyptischen Ammon gleichgesetzt. Er führt auch den Titel Moloch (der „König"). Neben ihm wurde die „himmlische" Tanit (richtiger: Tinit), bisweilen identifiziert mit der syrischen Astarte, verehrt, die lateinische Dea Caelestis (Juno, Venus oder Diana), sowie Melkart, der „Herr der Stadt", der griechische Herakles. An rein griechischen Kulten finden wir die 396 aus Sizilien übernommene Verehrung von Demeter und Persephone 310 . Die Priester zählten in Karthago zu den führenden Persönlichkeiten 3 ". 9b. Länger als in anderen antiken Staaten hat sich bei den Karthagern die Sitte des Menschenopfers gehalten 312 . Während solche bei Griechen 313 und Römern 314 nur für die Frühzeit belegt sind und später seltene Ausnahmen blieben, waren sie bei den Puniern stets üblich. Für die Kanaaniter in Palästina sind Kinderopfer durch die Bibel bezeugt. Die Erstgeburt gehört Gott 315 . Obschon das Gesetz und die Propheten Menschenopfer ablehnten, haben auch die Juden oft im Hinnom-Tal bei Jerusalem, hebräisch Ge-(ben)-hinnom, griechisch Gehenna, ihre Kinder dem Moloch „durchs Feuer gehen lassen" 316 . Gehenna ist das Urbild der Hölle. 9c. Die Karthager opferten so wie die Tyrier 317 der Tanit, dem Melkart (Hercules) 318 und vor allem dem Baal, der deswegen mit dem kinderfressenden Kronos bzw. Saturn gleichgesetzt wurde. Besonders wertvoll waren, wie die Inschriften zeigen, die Kinder der Vornehmen, und zwar die erstgeborenen Söhne. Gekaufte Sklavenkinder und Tieropfer (Vögel, Ziegen) galten als minderwertig. Ursprünglich regelmäßig, wurden später nur in Notzeiten Kinder geopfert, insbesondere bei Belagerungen. Diodor 319 bezeugt für 310 über * 304 Diodor V 38,2 * 305 Polybios I 63,3 * 306 Polybios I 88,12 * 307 Polybios XV 18,7 * 308 Plinius, Nat. hist. XXXVII 25/92; Petronius Arbiter 55 * 309 Conruerunt Poerti luxu, Ausonius XI 8,14 * 310 Diodor XIV 77,5 * 311 Appian VIII 80 * 312 Justin XVIII 6,11 ff; Plinius, Nat. hist. X X X V I 4/39; Euseb, Vita Const. I 13; Brown 1991 * 313 D. D. Hughes, Human Sacrifice in Ancient Greece, 1991 * 314 Livius XXII 57,6 zu 216 v. Chr. ; Verbot 97 v. Chr. : Plinius, Nat. hist. X X X 3/12; jedoch Historia Augusta, Comm. 9,6 * 315 AT. 2. Mose 13,2 u. 12fT; 4. Mose 8,17f; NT. Lukas-Evangelium 2,23 * 316 AT. 2. Könige 16,3; 17,17; 21,6 * 317 Quintus Curtius IV 3,23 * 318 Plinius, Nat. hist. XXXVI 4/39

372

XII. Die Handelsrepublik Karthago

500 Kinderopfer auf einmal. 1921 wurde der Opferplatz (Tophet) in Karthago entdeckt. Die Ausgrabungen haben Gebeine von hochgerechnet 20.000 Kindern, meist unter drei Jahren, zu Tage gefördert. Jedes Kind wurde in versiegelter Urne beigesetzt. Die Grabsteine nennen die Vorfahren, es handelt sich mithin vielfach um Kinder aus guten Familien 320 . Ähnliche Opferplätze gab es in Hadrumetum (Sousse), auf Sizilien (Motya) und Sardinien (Tharrus, Sulci). 9d. Dem griechischen Empfinden für Philanthropie erschien diese Sitte barbarisch, obschon sie, mythologisch abgelöst 321 , vereinzelt noch vorkam 322 . Jedenfalls forderte Gelon in seinen Friedensverhandlungen 480 v. Chr., die Karthager sollten die Kinderopfer einstellen 323 . Die Römer haben dies dann einfach verboten 324 , dennoch wurde die Sitte heimlich weiter geübt 325 . Porphyrios 326 bezeugt, daß Hadrian sie nochmals untersagt habe. Der religiöse Gedanke ist derselbe, der dem Kreuzestod Jesu theologisch zugrundeliegt: Gott wird durch ein Menschenopfer versöhnt 327 . „Ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung" heißt es im Hebräerbrief 328 .

10. Ende und Folgen 10a. „Wird je ein Weltteil dem kunstreichen Europa das danken können, was Griechenland dem rohern Phönizien dankte?" Diese Frage Herders 329 können wir noch nicht beantworten; wäre sie zu bejahen, so bliebe es bei einem kleinen Dank. Der Einfluß der Phönizier und Karthager auf die nachfolgende Geschichte ist gering geblieben. Die Handelsrepublik hat ein gewaltsames Ende gefunden. Als die Stadt trotz der politischen Entmachtung von 201 und trotz der Vertreibung Hannibals 195 wieder aufzublühen begann 330 - das bestätigen die archäologischen Befunde 331 - wurden in Rom die Kreise um den älteren Cato unruhig. Während Scipio Nasica sich für die Erhaltung der Stadt einsetzte - sie wäre ein „Wetzstein" für Rom 332 - , entfachte Cato mit seinem ewigen Ceterum censeo Carthaginem esse delendamm die Kriegsstimmung. Dies führte zum dritten punischen Krieg (149-146). Karthago unterlag 334 , wurde vom jüngeren Scipio dem Erdboden gleichgemacht 335 und mit einem Fluch belegt336. Die Überläufer beider Seiten ließ Scipio bei den Siegesspielen den Bestien vorwerfen 337 . Das Territorium wurde in die römische Provinz Africa verwandelt. 10b. Karthago erlebte aber unter Rom eine Auferstehung. 122 begann Gaius Gracchus, eine Junonia genannte römische Bürgerkolonie auf dem Stadtgebiet Karthagos anzulegen338, doch gelang ihm dies ebensowenig wie später Caesar 339 . Erst unter Augustus wurde

* 319 Diodor X X 14,4ff; XXIII 13 * 320 Pedley 1980, S. 1; vgl. Tacitus, Ann. XVI I f f * 321 Iphigenie in Aulis, vgl. das „Opfer" Isaaks; 1. Mose 22 * 322 Plutarch, Them. 13; Aelian, Var. hist. XII 28; Clemens Alexandrinus, ed. Stählin I 32,2 zu Pella * 323 Plutarch, Mor. 175 A; 552 A * 324 Paulus, Sent. V 23,16 * 325 Tertullian, Apolog. 9,2 * 326 Porphyrios, De abstinentia II 5,6 * 327 NT. Markus-Evangelium 10,45; Matthäus-Evangelium 20,28 * 328 NT. Hebräer-Brief 9,22 * 329 J. G. Herder, Ideen II S. 76 * 330 Appian VIII 67; 69 * 331 Pedley 1980 * 332 Orosius IV 23,10 * 333 So nicht wörtlich überliefert. Sinngemäß: Cicero, Cato maior 18; Plutarch, Cato maior 27; Appian VIII 69 * 334 Zonaras IX 26ff * 335 Appian VIII 132 * 336 Macrobius III 9,10, überwiegend als unhistorisch betrachtet, trotz der altertümlichen Formel. * 337 Livius, Per. 51 * 338 Solin 27,11 * 339 Dio XLIII 50,3; Plutarch, Caes. 57

373

10. Ende und F o l g e n

Karthago wieder besiedelt340, und zwar auf dem alten Grundriß 341 . Nach Rom und Alexandria wuchs Karthago zur drittgrößten Stadt des Imperiums heran 342 . Die Religion hielt sich bis in die Zeit Augustins 343 , ebenso der Titel .vw/ev344; die Sprache überdauerte die Kaiserzeit 345 bis in die Tage Prokops 346 . Im Jahre 425 n. Chr. ließen die Kaiser eine Stadmauer errichten, auf die man unter der Pax Romana verzichtet hatte 347 , aber 439 wurde die Stadt von den Vandalen erobert 348 . 697 kamen die Araber, Ibn Chaldun erwähnt die Ruinen der Stadt, und hinfort blieb Karthago ein Dorf, bis Karl V im Kampf gegen die arabischen Seeräuber 1535 auch dieses Dorf zerstörte. 10c. Was blieb? Wir sprechen von einer Hellenisierung des Orients, einer Romanisierung des Okzidents, nicht aber von einer Punisierung Nordafrikas. Die Karthager besaßen nur eine „Mondlichtkultur" 349 , die ägyptische und griechische Einflüsse spiegelt. Immerhin haben die Römer einzelne Errungenschaften von ihnen übernommen 350 . Die politische Hegemonie währte nicht lange. Zwar vermochten die Karthager zuerst den Griechen, später den Römern ihre Herrschaft streitig zu machen und schienen kurze Zeit, nach Hannibals Sieg bei Cannae 216, im Begriff, ein Imperium Punicum zu errichten 351 . Dennoch ist Karthago schließlich ohne erkennbare Nachwirkungen untergegangen. Der zivilisatorische Einfluß auf die Berber wurde von der römischen, dann von der arabischen Kultur überlagert. lOd. Karthago ist insofern weniger unter genetischen als unter typologischen Gesichtspunkten interessant. Seine Verfassung wurde von den Griechen zu den guten Staatsformen gerechnet. Isokrates 352 erklärte, Karthager und Lakedaimonier besäßen die besten Gemeinwesen, weil sie im Frieden oligarchisch, im Kriege aber monarchisch regiert würden. Ähnlich äußerte sich Aristoteles 353 . Eratosthenes, der alexandrinische Gelehrte, demonstrierte an den Karthagern, wie unsinnig die Griechen handelten, wenn sie alle Nichtgriechen als Barbaren verachteten 354 . Polybios 355 entwickelte an Rom, Sparta und Karthago den Typus der Mischverfassung, die dem Kreislauf von Monarchie über Oligarchie zu Demokratie und Tyrannis entzogen sei und stabil bleibe. Zwar sind tatsächlich alle Versuche, eine Alleinherrschaft zu errichten, gescheitert: so um 550 Malchus 356 , um 525 Hanno 357 , um 340 Hanno der Große 358 und 308 Bomilkar 359 , aber kaum eine antike Stadt hatte unter solchen Bürgerkriegen zu leiden wie Karthago. lOe. Als Lehrbeispiel ist Karthago unter drei anderen Aspekten ergiebig. Zum ersten bietet es ein frühes Beispiel für die Übertragbarkeit zivilisatorischer Errungenschaften. Karthagos Verhältnis zur griechischen Kultur ähnelt dem Philhellenismus der Etrusker und Kelten, es erinnert an das Verhältnis Japans zu Amerika bzw. Europa. Beidemale kopiert man Lebensformen einer als fortschrittlich empfundenen Konkurrenz. Einzelne Karthager haben in Unteritalien und Athen griechische Philosophie studiert und sind mit pythagoreischen und platonischen Gedanken aufgetreten: Vier in Karthago lehrende Pythagoreer

* 340 Strabon X V I I 3,15 * 341 Pedley 1980 * 342 A u s o n i u s XI 2/3 * 343 Augustinus, Civ. XVIII 54; Weihungen an punische Götter: D e s s a u Nr. 9 2 8 9 f f .

*

344 D e s s a u III S. 698

X X X I I 11 praef. * 346 Prokop, Bell. Vand. II 10,20 * 347 Chron. Min. I, S . 6 5 8 Min. II, S . 8 0

* 349 A. J. T o y n b e e zu den Hethitern

* 352 Isokrates III 24 * 354 Strabon I 66

*

* 350 Weise 1883

*

345 D i g e s t e n * 348

Chron.

* 351 Livius X X I I 51,4

353 Aristoteles, Pol. 1 2 7 2 b f f ; e b e n s o Cicero, D e rep. II 41; Julian 14 B

* 355 P o l y b i o s VI 51 ff

* 356 Justin XVIII 6 * 357 Plutarch, M o r . 799 E;

Plinius, N a t . Hist. VIII 21/55 * 358 Justin X X I 4 * 359 D i o d o r X X 44; Justin X X I I 7

374

XII. Die Handelsrepublik Karthago

kennen wir mit Namen 360 , um 127 wurde der Punier Hasdrubal Scholarch der Akademie Piatons und nannte sich Kleitomachos 361 . 10f. Zum anderen haben wir den frühesten Fall einer primär auf Handelsinteressen beruhenden Staatsbildung vor uns. Der bekannteste Staat dieses Typus ist später Venedig, mit dem Karthago eine Fülle struktureller Parallelen verbindet: die See als kommunikativer Mittelpunkt, der Verzicht auf ein großes Territorium, eine oligarchische Herrschaftsordnung, eine Kampfstellung gegen die stärkste Festlandsmacht usw. Spannen wir den Rahmen weiter, so lassen sich auch das attische Seereich, die Hanse und das britische Empire vergleichend einbeziehen. 10g. Zum dritten stellt der Kontrast zwischen Handel und Gewinn auf der einen und der genügsamen Lebensführung auf der anderen Seite einen seltenen Typus menschlichen Verhaltens dar. Er erinnert an den Geist des Frühkapitalismus, dessen Vertreter ihre Gewinne nicht verpraßt, sondern wieder investiert und selbst ein arbeitsames, zuweilen asketisches Leben geführt haben. Wenn wir die Juden unter den Primat der Religion, die Griechen unter den Primat der Kultur, die Römer unter den Primat der Politik, die Germanen unter den Primat des Kampfes stellen, dann stand Karthago unter dem Primat der Ökonomie. Sie hat sich weder gegen die überlegene Kultur noch gegen die überlegene Politik zu behaupten vermocht. 10h. Der Endkampf zwischen Rom und Karthago ist in der Publizistik der beiden Weltkriege aktualisiert worden. 1915 stellte Eduard Meyer 362 die Seemächte Karthago und England den Landmächten Rom und Deutschland gegenüber. 1918 jedoch parallelisierte Wilamowitz 363 die untergehenden Mächte Karthago und Deutschland mit den imperialistischen Siegern Rom und England. Er glaubte, Karthago habe nicht genügend Durchhaltewillen gezeigt. Im Zweiten Weltkrieg wurde ein „Karthago-Frieden" für Deutschland diskutiert 364 , Bert Brecht verglich den Dritten Punischen Krieg, der das Ende Karthagos brachte, mit einem dritten Weltkrieg, der das Ende Deutschlands bedeuten würde. Er schrieb auf eine Kulissenfahne seiner »Mutter Courage«: „Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig, nach dem zweiten noch bewohnbar, nach dem dritten war es nicht mehr auffindbar."

* 360 Jamblichos, Vita Pyth. 128; 267 * 361 Diogenes Laèrtios IV 67 * 362 Ed. Meyer, England, 1915, S. 200 * 363 Der Tag, 19. X. 1918 * 364 H. P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, 1966, S. 217ff

Literatur zu XII

375

Literatur zu XII Über laufende Forschungen informieren die »Rivista di Studi Fenici« (1973 ff), die »Cahiers de Byrsa« (1950 ff) und die Zeitschrift »Karthago« (1950ff). Eine umfassende Bibliographie bietet H u ß 1992, S. 401 ff Ameling, IV., Karthago, Studien zu Militär, Staat und Gesellschaft, 1993 Barcelö, P., Karthago und die iberische Halbinsel vor den Barkiden, 1988 Barcetè, P., Die karthagische Überseepolitik im 6. und 5. Jh. v. Chr., Gymnasium 96, 1989, S. 13 ff Benichou-Safar, H., Les tombes puniques de Carthage, 1982 Blomquist, J., The Date and origin of the Greek version of Hanno (Carthaginiensis)'s Periplus. With an edition of the text and a translation, 1979 Brown, Shelby, Late Carthagenian Child Sacrifice, 1991 Bunnens, G., L'expansion phénicienne en méditerrané, 1979 (Quellensammlung mit französischer Übersetzung und Kommentar) Cary , M. + Warmington, E., Ancient Explorers, 1929 Charles-Picard, G., Von der Gründung der Stadt bis zur Barkiden-Revolution. Archaeologia Viva 1, 2, 1968/ 69, S. 149ff. Charles-Picard, G., Les sufètes de Carthage dans Tite-Live et Cornelius Nepos, Revue des Etudes Latines 41, 1963, S. 269-281 Charles-Picard, G., Hannibal, 1967 Christ, K. (Hg.), Hannibal, 1974 (WdF. 371) Decret, F., Carthage ou l'Empire de la mer, 1977 Ehrenberg, V., Karthago (Morgenland 14, 1927), in: Ders., Polis und Imperium, 1965, S. 549-586 Fantar, M. H., Carthage. Approche d'une civilisation, I/II 1993

Ferjaoui, A., Recherches sur les relations entre l'Orient phénicien et Carthage, 1993 Gseil, St., Histoire ancienne de l'Afrique du Nord, 1913 Günther, Linda Marie, Die karthagische Aristokratie und ihre Überseepolitik im 6. und 5.Jh.v.Chr., Klio 75, 1993, S. 76ff Hans, Linda Marie, Karthago und Sizilien, 1983 Hans, Linda Marie, Die karthagische Aristokratie und ihre Überseepolitik im 6. und 5. Jh. v. Chr., Klio 75, 1993, S. 76 ff Helck, W„ Die Beziehungen Ägyptens und Vorderasiens zur Ägäis, 1979 Hoffmann, IV., Hannibal, 1962 Huß, W„ Die Einhundert und die Einhundertvier, Die Welt des Orients 9, 1978, S. 249-252 Huß, W., Vier Sufeten in Karthago?, Le Muséon 90, 1977, S. 427 ff Huß, W„ Geschichte der Karthager, 1985 Huß, W. (Hg.), Karthago, 1992 (WdF. 654) Jahn, J., Literaturüberblicke der griechischen Numismatik: Karthago und westliches Nordafrika, Chiron 7, 1977, S. 411-485 Lance/, S., Carthage, 1992 Meitzer, O. + Kührstedt, U., Geschichte der Karthager, I-III, 1879-1913 Moscati, S., Die Phönizier, 1988 Moscati, S., Die Karthager, 1984

376 Moscati,, S. (Hg.), I Fenici, 1988 (Ausstellungskatalog Mailand) Niemeyer, H. G. (Hg.), Phönizier im Westen, 1979/82 Niemeyer, H. G., Das frühe Karthago und die phönizische Expansion im Mittelmeerraum, 1989 Oikonomides, A. N. Hanno the Carthaginian, Periplus, 1977 Parrot, A.; Chehab, M. Ch.; Moscati, 5., Die Phönizier, 1977 Pedley, J. D. (ed.), New Light on Ancient Carthage, 1980 Rakob, F., Karthago, 1991 Robinson, E. S. G., Punic Coins of Spain and their Bearing on the Roman Republican Series. In: Essays in Roman Coinage presented to Harold Mattingly, 1956, S. 34ff

XII. Die Handelsrepublik Karthago Scardigli, Barbara, I Trattati Romano-Cartaginesi, 1991 Seibert, J., Hannibal, 1993 Seibert, J., Forschungen zu Hannibal, 1993 Tlatli, S. E., La Carthage Punique, 1978 Untermann, J., Sprachräume und Sprachbewegung im vorrömischen Hispanien, 1961 Warmington, G. H., Carthage, 1969 Weise, O., Von welchen Staaten ist Rom in seiner Kultur beeinflußt worden? Rheinisches Museum 38, 1883, S. 540ff.

XIII. Die römische Republik

379 1. Begriff a. Dauer b. Selbstbezeichnung SPQR c. res publica libera d. Italia

2. Quellen a. b. c. d. e. f. g.

Früheste Erwähnungen Griechische Autoren Lateinische Autoren Rechtsquellen Inschriften Münzen Archäologie

3. Expansion a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k.

Latiner Stadtgründung Regifugium Einigung Italiens Munizipien Kolonien Punische Kriege Unterwerfung des Ostens Provinz Repetunden Hellenisierung

5. Staatsordnung a. b. c. d.

Souverän Asyl, pomerium Drei Gewalten Mischverfassung

6. Volk und Heer a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k.

Heer Waffen Disziplin bellum iustum civitas Romana Wahlleiter contio comitia, concilia centuriae comitia tributa, tribus concilium plebis, plebiscita

7. Senat a. b. c. d. e. f. g. h.

auspicia et senatus Angehörige Censoren Sitzungen Kompetenz Außenpolitik Entscheidungen senatus consulta

4. Gesellschaft a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k. 1. m. n. o. p.

Struktur gens und familia pater familias Frauen Patrizier und Plebejer Klientel fides mos maiorum Ständekämpfe Volkstribunat Zwölftafelgesetz, conubium Leges Liciniae Sextiae, provocatio Religion, Priester Lex Hortensia Nobilität Wechselwirkung innen - außen, Aufwandgesetze q. Fremde, commercium, conubium r. Sklaven s. Freigelassene

8. Magistratur a. b. c. d. e. f. g. h. i. j. k. 1. m. n. o. p. q. r.

Effizienz und Kontrolle magistratus Imperium, Triumph imperator coercitio potestas Weisung, Beratung cursus honorum Quaestor, Steuern Aedil, Bauten, Spiele, Volkstribun Praetor, Rechtswesen Konsul Censor interrex und dictator Promagistrate Kollegialität, Interzession Annuität, Amtsjahr Qualität

Römische Revolution a. Geld: equites b. Drei Konflikte: c. l.plebs: Gracchen d. Marius e. 2. Italiker f. 3. Sklaven: Spartacus g. Ende

10.

Bedeutung a. Strabon b. Polybios c. Verkehrseinheit d. Rückgriffe

Literatur zu XIII

381 Alles was Staat heißt, lebt noch heute von der römischen Erinnerung. Ernst Jünger

1. Begriff la. Fünfhundert Jahre brauchten die Römer, so schreibt Appian 1 , um ihren Staat in Italien zu festigen. Nach der Vertreibung der Könige - gemäß der Überlieferung am 24. Februar 2 510v.Chr. 3 - richteten sie eine Aristokratie ein. Caesar verwandelte sie faktisch wieder in eine Monarchie, doch blieb sie nominell eine Politeia. In der Zwischenzeit breitete sie sich über den gesamten Mittelmeerbereich aus. Dieser von Appian 4 skizzierte Ablauf umgreift die Geschichte der römischen Republik. ib. Die Selbstbezeichnung populus Romanus oder auch senatus populusque Romanus (SPQR 5 ), ist gebildet analog zu hoi Athënaioi oder hë boulé kai ho dëmos tön Athënaiôn6. Der Begriff populus umfaßt das Gesamtvolk, Patrizier und Plebejer, und zwar in der durch Rechtsgesetze zum gemeinsamen Nutzen festgelegten Ordnung 7 . Dagegen beschränkt sich der Begriff plebs auf das „niedere Volk" der Plebejer8. Der Name des Staates benennt nur den Souverän und enthält keinen Hinweis auf die Verfassung. Wo dies jedoch beabsichtigt war, benutzten die Römer den Begriff res publica9, der den nichtköniglichen Staat bedeutet. Die Bezeichnung nomen Romanum umfaßt „alles was römisch ist", meint aber genau genommen den römischen Staat. Das Territorium Roms im staatsrechtlichen Sinne ist der ager Romanus, später das imperium Romanum10. lc. Als die Römer in der Kaiserzeit wieder eine Monarchie erhielten, diese aber den Begriff der res publica bewahren wollte, entstand das Bedürfnis einer Unterscheidung. Daher bürgerte sich für die Staatsform der römischen Republik die Bezeichnung der civitas libéra oder res publica libéra ein 11 . Dies war freilich eine ideologische Ohrfeige für die Kaiser, denen man es nicht recht glaubte, daß sie die Freiheit schützten 12 . In der Zeit, als

* 1 Appian, praef. 6 * 2 Das regifugium am 24. Februar wurde bis in die Kaiserzeit gefeiert: Ovid,Fasti V 728; noch der Filocalus-Kalendervon 354 n. Chr. und der Laterculus des Polemius Silvius von 449 n.Chr. enthalten das Fest: CIL. I 2. Aufl. 1893, S . 2 5 4 f f * 3 Eusebius, Chronik zum Jahr 510 * 4 Ähnlich Ammian XVI 6, 3 - 6 * 5 Die Vorliebe der Römer für Abkürzungen (Dessau III S. 752ff) hat schon in der Antike Verzeichnisse für solche erforderlich gemacht: FIRA. II S . 4 5 3 f f * 6 s. o. VII 1 b! * 7 Cicero, De rep. I 39: (populus est) coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus * 8 Gelius X 20,5 * 9 s.o. I 4 a! * 10 Cicero, De provinciis 29; Livius IV 3,13 * 11 Historia Augusta, Marc. 12,1 * 12 Tacitus, Agr. 3,1; Ampelius 18,21; Longinus, De subl. 44

382

XIII. Die römische Republik

diese Spitze nicht mehr beabsichtigt wurde, finden wir für die republikanische Phase die neutrale Version sub consulibus im Gegensatz zu sub imperatoribusli. Id. Der Name Italia taucht im römischen Staatsnamen nicht auf. Er bedeutet „Rinderland" (vitulus)H, ähnlich Böotien oder Euböa (von bous - Rind), und bezeichnete ursprünglich bloß die Südspitze der Apenninenhalbinsel. Sie heißt auch Oinotria15 oder Ausonia16. Im 2. Jh. v. Chr. wurde der Name Italia auf Etrurien und Umbrien ausgedehnt, auf die Poebene - trotz Polybios (III 54) und Cato (fr. 85) - erst im l . J h . Noch im 2 . J h . n . C h r . lokalisierte man das eigentliche Italien südlich der Apenninen 17 bzw. des Rubico 18 . Im frühen Mittelalter hat die Einwanderung der Langobarden abermals zu einer Beschränkung des Namens Italien auf den Süden geführt 19 . Eine „italische Nation" hat es im Altertum nicht gegeben, Italicus bezeichnet den nichtrömischen Italiker. Italia hieß Corfinium als Hauptstadt der gegen Rom kämpfenden Italiker 90 v. Chr. 20 . Als politische Einheit erscheint Italia erst um 480 n. Chr. in der Titulatur Odovakars als rex Italiae21.

2. Quellen 2a. „Kein geringer Strom hat sich aus Griechenland in diese Stadt Rom ergossen", heißt es bei Cicero 22 , „ein außerordentlich reicher Einfluß von Künsten und Wissenschaften." Und Horaz 23 bemerkt: „Das besiegte Griechenland hat den ungebildeten Sieger überwunden und brachte dem bäurischen Latium die Künste." Die Römer wußten, wem sie ihre Bildung verdankten, und so verwundert es nicht, wenn die frühesten Nachrichten über sie bei griechischen Autoren stehen. Die erste Erwähnung Roms findet sich um 430 bei Antiochos von Syrakus 24 ; später wird die Stadt bekannt durch den Krieg gegen die Kelten 25 , die Dionysios I Söldner gestellt haben 26 . Im 4. Jh. begegnet uns Rom in den Schriften von Aristoteles 27 , Theophrast 28 und anderen. 2b. Der wichtigste Autor für die römische Verfassung ist Polybios, 166v.Chr. nach Rom vergeiselt. Er glaubte, daß die vorzügliche Staatsordnung Rom den Aufstieg zur Weltmacht ermöglicht habe, und beschreibt im 6. Buch seines Geschichtswerkes die Struktur der res publica Romana, ihre politischen und militärischen Einrichtungen, ihre religiösen und moralischen Sitten. Polybios berichtet als Freund der Scipionen 29 aus erster Hand, seine Bewunderung Roms hat ihn nicht zu nachweisbaren Verzerrungen verführt. Unter den späteren griechischen Historikern sind von Bedeutung vor allem Dionysios von Halikarnassos mit seinen unter Augustus geschriebenen »Antiquitates Romanae«, Appian aus Alexandria im 2. Jh. n. Chr. mit der Schrift über die Bürgerkriege (Bücher XII bis XVII der »Römischen Geschichte«) und Plutarch (gest. um 120 n. Chr.) mit den Viten berühmter Römer.

* 13 Ammian XXIII 6,9; Festus, Brev. 3 * 14 Varrò, Ling. Lat. V 96 * 15 Strabon V 1,1; VI 1,4 * 16 so die Dichter Vergil und Ovid * 17 Appian VII 8 * 18 Plinius Nat.hist. III 20/115. Der heute Rubicone genannte Fluß hieß vor Mussolini Pisciatello * 19 Helmold von Bosau I 82 * 20 Diodor XXXVII 2 * 21 Victor von Vita 1 1 4 * 22 Cicero, De rep. II 34 * 23 Horaz, epist. II l , 1 5 6 f * 24 Dion. Hal., Ant. I 73,3 * 25 Theopomp bei Plinius, Nat. hist. III 9/57; Plutarch, Camillus 22 * 26 Justin X X 5,4 * 27 Plutarch, Cam. 22 * 28 Plinius, Nat. hist. III 9/57 * 29 Polybios X X X I 23 f

2. Quellen

383

2c. Die älteren römischen Annalisten, Fabius Pictor und Cincius Alimentus, schrieben um 200 auf Griechisch. Ihre Werke sind ebenso verloren wie das erste lateinische Geschichtswerk, das des älteren Cato, und die der folgenden Annalisten, sämtlich Senatoren. Erhalten sind aus Caesars Zeit die beiden Monographien Sallusts über Jugurtha und Catilina. Das repräsentative Werk über die Geschichte des republikanischen R o m verfaßte Titus Livius (gest. 17 n.Chr.), von dem ein Viertel, d.h. 35 Bücher, erhalten ist. Der wichtigste lateinische Gewährsmann für die Verfassung des republikanischen Rom ist Cicero (gest. 42 v. Chr.) mit seinen von Piaton inspirierten Staatsdialogen »De re publica« und »De legibus«, mit seinen zahlreichen Staatsreden und den 780 Privatbriefen. Wertvolles Material überliefert Aulus Gellius in seinen >Attischen Nächten< aus der Zeit M a r c Aurels. 2d. Die republikanischen Rechtsquellen sind nicht in antiken Sammlungen überliefert. Die sogenannten Königsgesetze, die Zwölftafelgesetze und wichtige andere Texte bietet Salvator Riccobono in den »Fontes Iuris Romani Antejustiniani« 3 0 . Da die Rechtseinheit über alle Verfassungsänderungen R o m s erhalten blieb, können auch noch Texte der Kaiserzeit zum Verständnis republikanischen Rechts herangezogen werden, so Justinians »Corpus Iuris Civilis«. 2e. Die Inschriften setzen langsam ein, sie beginnen mit der ältesten lateinischen Inschrift auf der goldenen Fibula Praenestina 3 1 . Sie stammt aus der Mitte des 7. Jhs. v. Chr. und benutzt das auch bei den Etruskern übliche chalkidische Alphabet, das vermutlich von Kyme-Cumae in Campanien an die Römer vermittelt wurde. Den nächsten Text bietet der Lapis Niger auf dem Forum 3 2 , eine religionsgesetzliche Bestimmung aus der späten Königszeit. Die republikanischen Inschriften füllen nur den ersten Band des »Corpus Inscriptionum Latinarum«. Die wichtigsten siebzig verzeichnet Dessau in den »Inscriptiones Latinae Selectae« 1892 ff, darunter die »Scipionum Elogia«, einige Senatus Consulta und Beamten-Erlasse. 2f. Die römische Münzprägung beginnt mit unförmigen Kupferbarren, von denen manche Viehbilder zeigen, wie es die Herkunft des Wortes pecunia von pecus - „Vieh" nahelegt 33 . Aus diesem aes signatum entwickelte sich im 3. Jh. das aes grave,34 Münzen mit Götterbildern und einem Schiffsbug. Die ältesten, griechisch beschrifteten Kupfermünzen wurden 326 v. Chr. in Neapel für R o m geprägt. In Anlehnung an die griechischen Denare prägte R o m angeblich seit Pyrrhos 269 v. Chr. 35 , sicher seit dem Ersten Punischen Kriege Silberdenare 36 , die wichtigste Münze der Republik. Die Prägungen der Griechenstädte Italiens hörten damals auf. Die massenhaften Emissionen beginnen mit dem Zweiten Punischen Krieg. Goldmünzen finden sich unter hellenistischem Einfluß erst unter Sulla. 37 Zumal die Münzbilder der jüngeren Denare nehmen - anders als die griechischen Münzen auf historische und politische Ereignisse Bezug. 2g. Wie alle anderen Quellengattungen stehen auch die archäologischen Zeugnisse zur Republik weit hinter denen zur Kaiserzeit zurück 3 8 . Den älteren Bauten fehlt die technische Perfektion und die Eleganz der jüngeren. M a n baute überwiegend mit porösem Kalkstein * 30 FIRA I 1941; jetzt auch Flach 1994 * 31 Kähler 1960, S. 18fT; F. Wieacker, Die Manios-Inschrift, Nachrichten der AdW. Göttingen, 1984 * 32 Kähler 1960, S . 2 0 f ; FIRA. I S. 19f * 33 Das aes rüde des Servius Tullius (Plinius, Nat. hist. XVIII 3; XXXIII 3/7) ist sicher unhistorisch * 34 Livius XXII 33 * 35 Plinius, Nat. hist. XXXIII 13/42ff * 36 Zonaras VIII 7; 14 * 37 Die vollständigste Sammlung: Grueber 1910; Sydenham 1952 * 38 Das Wichtigste bei Kähler 1958 und 1960

X I I I . Die römische Republik

384

T

Emj 10

0

AB