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German Pages 176 [178] Year 2006
Niklas Holzberg Der antike Roman
Niklas Holzberg
Der antike Roman Eine Einführung
Für Christine und Daniel
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2006 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Einbandabbildung: Louis Hersent, „Daphnis und Chloe“ (1820) Foto: akg-images Satz: Setzerei Gutowski, Weiterstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN-13: 978-3-534-18769-0 ISBN-10: 3-534-18769-5
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel für das stereotype Handlungsschema: Xenophons Ephesiaka . . . . . . . . . . . . . Die erhaltenen Texte . . . . . . . . . . . . . . . Antike Begriffe zur Bezeichnung der Gattung . . Typische Gattungselemente des idealisierenden und komisch-realistischen Romans . . . . . . Weitere romanhafte Prosaerzählungen der Antike („fringe novels“) . . . . . . . . . . . . . . . . Utopie und phantastische Reise . . . . . . . . Romanhafte Biographie . . . . . . . . . . . . Historische Erzählung in Briefform . . . . . . Romanhafte Troja-Erzählung . . . . . . . . . Frühchristliche romanhafte Literatur . . . . . Definition der Gattung . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die Entstehung der Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . Herleitung aus anderen Gattungen . . . . . . . . . . . . . . Roman und Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ninos-Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Sesonchosis-Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der idealisierende Roman – ein profaner Erlösungsmythos? Die antiken Romanleser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Idealisierender Roman und Zweite Sophistik . . . . . . . .
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3. Der idealisierende Roman: Ältere Texte . . . . . . . . . . . . Chariton, Kallirhoë . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Romane um Parthenope, Chione und Kalligone . . . . . . .
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Inhalt
Xenophon von Ephesos, Ephesiaka . . . . . . . . . . . . . . . Lollianos, Phoinikika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antonios Diogenes, Die Wunderdinge jenseits von Thule . . . 4. Der komisch-realistische Roman . . . . . . . . . . . . Bruchstücke aus zwei komisch-realistischen Romanen in griechischer Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . Petron, Satyrica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die beiden „Eselsromane“ . . . . . . . . . . . . . . . Die griechischen Metamorphosen . . . . . . . . . . . Apuleius, Metamorphosen . . . . . . . . . . . . . . .
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. 82 . 84 . 95 . 99 . 101
5. Die idealisierenden Romane: Jüngere Texte Der Herpyllis-Roman . . . . . . . . . . . . Iamblichos, Babyloniaka . . . . . . . . . . Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon . Longos, Daphnis und Chloë . . . . . . . . . Heliodor, Aithiopika . . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
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ie 1986 erschienene erste Auflage dieser Einführung, die auf Untersuchungen zum antiken Roman aus einem Zeitraum von etwas über hundert Jahren fußte, war bereits im Druck, als ein Buch herauskam, daß dann endgültig eine neue Epoche in der Forschungsgeschichte einleitete: John J. Winkler, Auctor & Actor: A Narratological Reading of Apuleius’s Golden Ass (Berkeley usw. 1985). Winkler hatte seine Analyse eines antiken Romans zum ersten Mal konsequent auf die Erkenntnisse der modernen Literaturwissenschaft gestützt, und das gab den Anstoß dazu, daß in den letzten zwanzig Jahren zu einem Thema, dem die Klassische Philologie bis dahin verhältnismäßig wenig Beachtung geschenkt hatte, mehr Arbeiten entstanden als in der ganzen Zeit zuvor. Außer zahlreichen Aufsätzen und Monographien wurden mehrere Sammelbände publiziert, die größtenteils aus zwei großen Tagungen und aus der Tätigkeit von neugegründeten Arbeitsgruppen hervorgingen. Der einen der beiden Tagungen, der „International Conference on the Ancient Novel“ (ICAN TWO), veranstaltet im Juli 1989 in Hanover/New Hampshire in den U.S.A., war bereits 1976 eine ICAN in Bangor in Wales vorausgegangen. Diese „Stiftungskonferenz“, der das 100. Jubiläum des Erscheinens von Erwin Rohdes epochaler Monographie über den griechischen Roman zum Anlaß diente, hatte bereits alles in Gang gesetzt. Aber erst ab Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts und dann vor allem nach der Konferenz in Hanover stieg nicht nur die Zahl der Publikationen zum antiken Roman erheblich, sondern es wurden auch Diskussionsforen geschaffen, die den direkten gedanklichen Austausch förderten: die „Groningen Colloquia on the Novel“ und die regelmäßigen Kolloquien und Vortragsveranstaltungen der amerikanischen „Society of Biblical Literature“ (die sich vor allem der christlichen Romanliteratur widmete) sowie der Münchner Sektion der 1970 in den U.S.A. gegründeten „Petronian Society“. Und im Juli 2000 fand in Groningen
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Vorwort
die dritte „International Conference on the Ancient Novel“ (ICAN 2000) statt. Die moderne Erforschung des antiken Romans begann also eigentlich nach dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Einführung. Wichtige Ergebnisse der vielen unmittelbar danach publizierten Untersuchungen fanden bereits 1995 in die englische Übersetzung (The Ancient Novel: An Introduction, London/New York) und 1998 in die davon abhängige niederländische Übersetzung (De roman in de oudheit, Amsterdam) Eingang. Aber auch in der kurzen Zeit nach dem Erscheinen dieser neuen Fassungen geschah in der Forschung immer noch so viel, daß für die zweite Auflage in deutscher Sprache ganze Abschnitte neu zu schreiben waren; insbesondere die Ausführungen zur Entstehung der Gattung haben, weil wir inzwischen weit mehr über die nachklassische griechische Literatur wissen als früher, eine wesentliche Veränderung erfahren. All das, was ich in den letzten zwanzig Jahren dazugelernt habe, verdanke ich freilich nicht nur Büchern und Aufsätzen, sondern auch den häufigen Diskussionen mit den „novel people“ in aller Welt. Bei der Nennung von Personen muß ich mich auf diejenigen Freunde und Kollegen beschränken, von deren Untersuchungen, Äußerungen in Diskussionen und persönlichen Gesprächen sowie Briefen ich ganz besonders für diese Einführung profitiert habe: Klaus Alpers, Andreas Beschorner, Jan Bremmer, Gerlinde Bretzigheimer, Susanne Brodersen, Gian Biagio Conte, Ken Dowden, Brigitte Egger, Massimo Fusillo, Tomas Hägg, Heinz Hofmann, Rolf Kussl, Barbara Leininger, Danielle van Mal-Maeder, Stefan Mairoser, Roland Mayer, Stefan Merkle, Elisa Mignogna, Peter von Möllendorff, John Morgan, Hans Peter Obermayer, Richard Pervo, Rudi van der Paardt, Karin Prasch, Bryan Reardon, Ulrich Rütten, Gareth Schmeling, Antonio Stramaglia, Simon Swain, James Tatum, Alfons Wouters und Maaike Zimmerman. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt, insbesondere Peter von Möllendorff, der das Manuskript kritisch durchsah und mir wertvolle Verbesserungsvorschläge machte. Außerdem gilt mein Dank den beiden Freunden Hartmut Längin und Sven Lorenz, die mir bei den Korrekturen halfen. Es ist im Grunde ein neues Buch geworden. Nicht nur bei der Erforschung der Natur werden neue Erkenntnisse gewonnen, sondern auch in der Literaturwissenschaft. Speziell bei der Gattung Roman, deren wohl bedeutendster antiker Vertreter den Titel Metamorphosen trägt – ebendieser Text hatte ja Winkler zu seinem Buch angeregt –, ist es
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auch gar nicht verwunderlich, daß einmal für gültig gehaltene Lehrmeinungen sich wandeln. Um so notwendiger ist es, daß über den jüngsten Stand des Mutationsprozesses immer wieder einmal berichtet und dabei vor allem ein leichtfaßlicher Überblick vermittelt wird. Wenn es der vorliegenden Einführung gelungen ist, dies zu leisten, hat sie ihre Aufgabe erfüllt. Dieses Buch, das mittlerweile auch in polnischer und slowenischer Sprache erschienen ist (Powie´sc´ antyczna. Wprowadzenie, Kraków 2003; Antiˇcni roman. Uvod, Ljubljana 2004) wird nunmehr in dritter Auflage von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft verlegt. So ergab sich die Gelegenheit zu einer gründlichen Durchsicht und zur Aktualisierung der Bibliographie. Außerdem werden Textstellen jetzt außer in Übersetzung auch im Wortlaut des Originals zitiert. Für wertvolle Hilfe bei den Korrekturen ergeht ein herzliches Dankeschön an Christine Jackson-Holzberg. Ihr und unserem Sohn Daniel Mackay ist das Buch gewidmet. München, im Juni 2005
Niklas Holzberg
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Die Gattung
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m Bereich des ausschließlich der Unterhaltung dienenden TV-Spielfilms, der sich seit etwa vierzig Jahren einer ähnlichen Popularität erfreut wie zuvor der triviale Liebes- und Abenteuerroman, gehören zu den weltweit bisher größten Publikumserfolgen amerikanische Familienserien, in denen die Wechselfälle des Schicksals von Ölbaronen und anderen Millionären dargestellt werden. Allein in der Bundesrepublik Deutschland interessierten sich in den frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts jede Woche rund 14 Millionen Fernsehzuschauer für das in Seifenopern wie Dallas und Dynasty erzählte Leben von Angehörigen der reichen Oberschicht, in dem Freud und Leid mehrerer Liebespaare, Intrigen und Schurkereien, Reiseerlebnisse, Bedrohung durch Krankheit oder Tod und Wiedersehen mit totgeglaubten Familienmitgliedern, Gerichtsverhandlungen usw. ebenso eine beherrschende Rolle spielen wie in Illustrierten- und Groschenromanen und in dem – analog zu dem obligatorischen Happy-End dieser Art von Literatur – die einzelnen Episoden zumindest für die Hauptfiguren der Serie in der Regel glücklich ausgehen. Den meisten Konsumenten von TV-Produktionen des genannten Typs dürfte kaum bewußt sein, daß es bereits in der griechischen Literatur der Antike, die man doch gemeinhin für geistig höchst anspruchsvoll und eher erbaulich als unterhaltsam hält, eine motivische Entsprechung gab: einen bestimmten Typ von fiktionaler Prosaerzählung, der, als literarische Gattung vermutlich in den ersten Jahrzehnten nach Christi Geburt entstanden, bis etwa zur Mitte des 3. Jahrhunderts eine gewisse Blütezeit erlebt haben dürfte, dann aber wohl von der literarischen Bühne verschwand. Jedenfalls wurde, soweit wir wissen, nur in diesem relativ kurzen Zeitraum eine nicht geringe Anzahl von hierher gehörenden Texten produziert, die teils entweder vollständig oder fragmentarisch überliefert, teils verlorengegangen sind. Diese „Romane“ – auf den Begriff komme ich zurück – weisen in der Motivik ihrer Bauelemente
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Die Gattung
nicht nur eine starke Ähnlichkeit mit der Motivik der genannten und anderer Fernsehserien auf, sondern sind auch untereinander thematisch so eng verwandt, daß man von einem stereotypen Handlungsschema sprechen kann. Die Bekanntschaft mit diesem Schema ist eine wichtige Voraussetzung für die Interpretation der Texte. Deshalb beginne ich meine Einführung in die Gattung damit, kurz einen Roman nachzuerzählen, dessen Autor von den traditionellen Motiven besonders ausgiebigen Gebrauch gemacht hat: die Ephesiaka („Ephesische Geschichten“) des Xenophon von Ephesos.
Beispiel für das stereotype Handlungsschema: Xenophons Ephesiaka Die beiden Helden des Romans sind der junge Ephesier Habrokomas und seine etwas jüngere Frau Anthia, die bald nach ihrer Hochzeit auseinandergerissen werden und erst nach längerer Irrfahrt durch den östlichen Mittelmeerraum zu einem von nun an glücklichen Eheleben zusammenfinden. Daß der als ungewöhnlich schön beschriebene, mit allen Geistesgaben und Fähigkeiten reichlich ausgestattete und von einem vornehmen Bürger abstammende Habrokomas sich zu Beginn der Handlung in die ebenso schöne Anthia verliebt, wird als Folge seiner durch übermäßigen Stolz auf körperliche und geistige Vorzüge verursachten Verachtung der Macht des Liebesgottes dargestellt. Aus Zorn über eine solche Überheblichkeit läßt Eros den sechzehnjährigen Jüngling, als dieser bei einer Artemisprozession die vierzehnjährige Anthia zum ersten Mal erblickt, sofort in heftiger Liebe zu ihr erglühen und zusammen mit dem bald darauf ebenso heftig in ihn verliebten Mädchen eine Zeitlang seelische Qualen erleiden, bis die besorgten Eltern durch den Apoll von Kolophon von der Liebe ihrer Kinder erfahren und sie verheiraten. Nicht nur dieser Eröffnung des Gottes, sondern auch einer weiteren glaubt man durch Taten entsprechen zu müssen: In dem Spruch Apolls ist dunkel von Irrfahrten und Heimsuchungen des Paares bis zur Wende zu einem besseren Schicksal die Rede, und deshalb werden Habrokomas und Anthia nicht lange nach ihrer Hochzeit auf eine Schiffsreise geschickt. Zu Beginn dieser Reise schwören die Liebenden einander ewige Treue, aber ihr guter Vorsatz wird schon bald zum ersten Mal auf die Probe gestellt. Nach einem kurzen Aufenthalt des Habrokomas und der Anthia auf Rho-
Beispiel für das stereotype Handlungsschema
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dos, wo sie eine goldene Rüstung im Tempel des Sonnengottes weihen, überfallen ihr Schiff während der Weiterfahrt Seeräuber, die das Paar auf das Landgut ihres Anführers in der Nähe des phönizischen Tyros verschleppen. Dort entbrennt der Unterführer in Leidenschaft zu Habrokomas, während ein anderer Pirat Anthia begehrt. Das erste von insgesamt fünf Büchern des Romans endet wie die Episode einer TVSerie damit, daß die gerade geschaffene Situation den Leser vor eine spannende Frage stellt. In diesem Falle möchte er wissen, wie Habrokomas und Anthia, die, als sie von dem Verlangen der beiden Seeräuber erfahren, um Bedenkzeit bitten, sich in ihrer bedrohlichen Lage verhalten. Zu Beginn des zweiten Buches wird die Spannung zunächst auf den Höhepunkt getrieben, weil das Paar beschließt, sich der Gefahr durch Selbstmord zu entziehen. Aber dann beansprucht der Anführer der Piraten Habrokomas und Anthia als Sklaven für sich und nimmt sie zusammen mit ihren bisherigen Dienern, dem Paar Leukon und Rhode, mit nach Tyros. Da sich dort Manto, die Tochter des Anführers, in Habrokomas verliebt, aber trotz mehrerer Anträge auf Ablehnung stößt, ergibt sich aufgrund der Rachsucht der Enttäuschten eine Situation, welche die Trennung des Ehepaares herbeiführt: Wie Joseph von Potiphars Weib wird Habrokomas von Manto bei ihrem Vater der versuchten Vergewaltigung beschuldigt, deswegen ausgepeitscht und ins Gefängnis geworfen; Anthia muß Manto, die einen Syrer heiratet, als Sklavin zusammen mit Leukon und Rhode nach Antiochia folgen. Von nun an springt die Handlung in meist sehr kurzen Abschnitten zwischen den Erlebnissen der beiden Hauptfiguren in einer Weise hin und her, die besonders stark an die Szenenführung von TV-Serien mit ihren oft nicht einmal eine Minute dauernden Einzelepisoden innerhalb einer Folge erinnert. Bis zum Ende des zweiten Buches erzählt Xenophon noch in je drei einander abwechselnden Habrokomas- und Anthia-Abschnitten, wie Anthia von Manto gezwungen wird, einen Ziegenhirten zu heiraten, der sie jedoch aus Mitleid mit ihrem Schicksal nicht anrührt; wie sie, weil der Ehemann der Manto sich in sie verliebt, auf deren Befehl von dem Ziegenhirten getötet werden soll und dieser sie statt dessen an kilikische Händler verkauft; wie sie nach einem Schiffbruch vor der kilikischen Küste in die Gewalt der Räuberbande des Hippothoos gerät, dem Ares als Opfer bestimmt, doch von Perilaos, einem vornehmen hohen Beamten aus Tarsos, durch einen Überfall auf die Bande befreit wird und sich, als Perilaos um ihre
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Die Gattung
Hand anhält, dreißig Tage Bedenkzeit ausbittet. Währenddessen sucht der inzwischen für unschuldig befundene Ehemann Anthias nach ihr und verfehlt sie immer nur sehr knapp; hier handelt es sich um ein ebenfalls in TV-Serien verwendetes Mittel zum Zweck der Aneinanderreihung von Abenteuern, das bis zum Ende des Romans wirksam ist. Habrokomas erfährt nach seiner Befreiung aus dem Gefängnis direkt durch den Ziegenhirten von Anthias Scheinehe und erneuter Versklavung. Am Ende des zweiten Buches lernt er in Kilikien Hippothoos kennen, der bei dem Überfall auf die Räuber entkam, und schließt Freundschaft mit ihm. Unterwegs nach Kappadokien, wo Hippothoos eine neue Bande anzuwerben hofft, erzählen die Freunde einander ihre Lebensgeschichte, die der Erzähler im Falle des Räubers als in die Romanhandlung eingelegte Novelle von der tragisch endenden Liebe des Hippothoos zu einem Knaben gestaltet. Anthia hat sich inzwischen nach Ablauf ihrer Bedenkzeit von einem ephesischen Arzt Giftpulver geben lassen, ist, da es sich in Wirklichkeit um ein Schlafmittel handelt, nach ihrer „Bestattung“ in der Gruft erwacht, von Grabräubern verschleppt und in Alexandria verkauft worden; dorthin lenkt der Zufall kurz darauf auch Habrokomas, nachdem dieser von der Beraubung des Grabes erfahren und sich von Hippothoos getrennt hat. In Ägypten erwartet Anthia und Habrokomas jeweils wieder Bedrohung ihrer Keuschheit. Während Anthias neuer Herr, ein Inder, sie umwirbt und die erneut Bedrängte sich seinem Verlangen vorläufig dadurch zu entziehen weiß, daß sie behauptet, sie sei seit ihrer Geburt und nun noch ein weiteres Jahr der Göttin Isis geweiht, wird Habrokomas, als er auf dem Weg nach Alexandria im östlichen Nildelta gestrandet ist und Räuber ihn in Pelusion an einen alten ausgedienten Soldaten verkauft haben, von der Frau dieses Veteranen begehrt. Er weist ihre Anträge zurück, und am Ende des dritten Buches, als die Frau ihren Mann ermordet und den sich jetzt erst recht verweigernden Habrokomas des Mordes wegen verklagt hat, führt man diesen vor den Statthalter von Ägypten. Bereits zu Beginn des vierten Buches bahnt sich die Erweiterung des Romangeschehens durch einen dritten Handlungsstrang an. Es wird kurz erzählt, wie Hippothoos mit einer inzwischen neu angeworbenen Räuberbande auf der Suche nach Habrokomas über Ägypten nach Äthiopien gelangt. Habrokomas bindet man unterdessen am Ufer des Nils ans Kreuz. Er betet in seiner Not zum Sonnengott, woraufhin er infolge eines plötzlichen Windstoßes in den Fluß stürzt, aber an der
Beispiel für das stereotype Handlungsschema
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Mündung aus dem Wasser gefischt, zum Feuertod verurteilt und ein zweites Male durch den Fluß, der jetzt über die Ufer tritt, gerettet wird, weshalb der Statthalter ihn bis zur Klärung dieses wundersamen Geschehens vorläufig einkerkern läßt; nach einer Fortführung des Berichtes über Anthia erfahren wir, daß der mittlerweile freigelassene Habrokomas beschließt, sie jetzt in Italien zu suchen. Im Gefolge des Inders ist Anthia inzwischen nach Äthiopien gelangt, dort erneut in die Hände des Hippothoos geraten, wobei aber beide einander nicht wiedererkennen, und erlebt dann in der letzten Episode des vierten Buches eine weitere Attacke auf ihre Beharrlichkeit bei der Bewahrung der ehelichen Treue, und zwar die Werbungen eines der Räuber aus der Bande des Hippothoos. Da Anthia den Mann ersticht, als er sie vergewaltigen will, wirft man sie zusammen mit zwei riesigen Hunden in eine Grube und deckt diese dann mit Balken und Erde zu. Aber ein weiterer Räuber, der ein Auge auf Anthia geworfen hat, verhindert, daß sie gefressen wird, indem er die Tiere heimlich durch Füttern besänftigt. Das fünfte und letzte Buch führt die Protagonisten der drei Handlungsstränge nacheinander nach Italien, ohne sie jedoch dort schon zu vereinen, und knüpft dann einen vierten Handlungsfaden durch ein zeitweiliges Hinüberblenden nach Rhodos, wo der im zweiten Buch abgebrochene Bericht über das Schicksal des Dienerpaares Leukon und Rhode, die inzwischen freigelassen und reich wurden, seine Fortsetzung findet. Die erste Episode des Buches handelt von Habrokomas, der eine Zeitlang bei einem alten Fischer in Syrakus weilt und sich dessen Lebensgeschichte – wieder schiebt Xenophon eine Novelle ein – erzählen läßt. Nachdem wir abwechselnd drei weitere Hippothoos-Episoden, drei Fortsetzungen des Geschehens um Anthia sowie den Beginn der neuen Leukon-Rhode-Handlung gelesen haben, erfahren wir, daß Habrokomas sich anschließend nach Nucerium in Unteritalien begeben hat und dort seinen Lebensunterhalt bei einem Steinmetz verdient. Hippothoos ist unterdessen mit seiner Bande wieder nach Ägypten gezogen, hat erneut als einziger einen Überfall überlebt und ist nach Sizilien gesegelt; überfallen hat die Bande diesmal die Truppe eines hohen ägyptischen Beamten, in dessen Hände kurz darauf die inzwischen von dem zweiten verliebten Räuber aus der Grube gerettete Anthia geraten ist. Zwar konnte sie sich dem Werben des Ägypters durch die Flucht in einen Isistempel entziehen, und dort hat man ihr die Wiedervereinigung mit Habrokomas geweissagt, aber sie
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Die Gattung
wurde erst einmal das Opfer der eifersüchtigen Frau ihres neuen Verehrers, die sie nach Tarent an einen Bordellwirt verkauft hat. Bei diesem ist sie dem Ausüben der Tätigkeit einer Prostituierten einstweilen nur durch Vortäuschen einer Epilepsie ausgewichen, bis endlich – das lesen wir im Anschluß an die Nachricht über die Steinmetztätigkeit des Habrokomas – Hippothoos, der unterdessen in Tauromenion eine reiche ältere Frau geheiratet, diese nach ihrem Tode beerbt und sich in Begleitung eines von ihm geliebten Knaben nach Tarent begeben hat, Anthia dort findet, sie wiedererkennt und ihr bisheriges Schicksal erfährt. Anschließend wird uns die Ankunft sowohl des Habrokomas als auch der Anthia und des Hippothoos in Rhodos erzählt, wo alle drei mit Leukon und Rhode zusammentreffen. Um aber das Happy-End möglichst lange hinauszuzögern, zerlegt der Autor das Geschehen auf Rhodos in drei Wiedererkennungsszenen: 1. Leukon und Rhode stoßen im Heliostempel auf Habrokomas, und zwar bei einer Säule, die sie zur Erinnerung an ihn und Anthia neben der von den Liebenden einst dort geweihten goldenen Rüstung aufgestellt haben. 2. Leukon und Rhode begegnen im Heliostempel auch Hippothoos und Anthia, nachdem Anthia am Tag zuvor eine Locke zusammen mit einer Inschrift für Habrokomas geweiht hat, die das ehemalige Dienerpaar entdeckt. 3. Habrokomas hört von dieser Wiedererkennung, rennt „Anthia“ rufend durch die Stadt und trifft die anderen vor dem Isistempel. Es folgt noch eine Nacht, in der Habrokomas und Anthia einander ihre Abenteuer erzählen und dabei schwören, die einst gelobt Treue nie gebrochen zu haben. Am nächsten Tag kehren alle nach Ephesos zurück, wo sie von nun an zusammenbleiben und ein glückliches Leben verbringen.
Die erhaltenen Texte Verfaßt um die Wende des 1. zum 2. Jahrhundert n. Chr., weisen die Ephesiaka sowohl in ihrer Motivik als auch in ihrer narrativen Technik – darauf wird noch näher eingegangen – eine unverkennbare Verwandtschaft mit einer ganzen Reihe von Werken der griechischen Erzählprosa des 1.–3. Jahrhunderts n. Chr. auf. Im folgenden gebe ich eine Übersicht über diese Texte, bei der ich mich auf Hinweise zum Autor (wenn er bekannt ist), zum Titel und zur Art der Überlieferung beschränke.
Die erhaltenen Texte
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– In mittelalterlichen Abschriften antiker Ausgaben auf uns gekommen und seit dem Beginn der Neuzeit erstmals in Westeuropa bekannt geworden sind außer den (vermutlich nur in einer gekürzten Fassung erhaltenen) Ephesiaka des Xenophon von Ephesos die Romane Kallirhoë des Chariton, Leukippe und Kleitophon des Achilleus Tatios, Daphnis und Chloë des Longos und Aithiopika („Äthiopische Geschichten“) des Heliodor. Während diese Texte in Kodizes überliefert sind, deren äußere Form derjenigen unseres modernen Buches gleicht, standen die antiken Textvorlagen überwiegend auf Papyrusrollen. Seit dem Ende des 19.Jahrhunderts hat man zahlreiche Fragmente solcher Rollen, die größtenteils der ägyptische Wüstensand konserviert hatte, aber auch Bruchstücke antiker Kodizes wiederentdeckt. Dabei fanden sich im Bereich der Romanliteratur neben Resten der genannten Werke von Chariton, Achilleus Tatios und Heliodor – Fragmente des Ninos-, Sesonchosis-, Chione-, Kalligone- und Herpyllis-Romans, der Phoinikika („Phönizische Geschichten“) des Lollianos sowie kleinere, inhaltlich größtenteils kaum noch faßbare Textreste, die in ihrer Zugehörigkeit zu unserem Typus der fiktionalen Prosaerzählung zudem meist zweifelhaft sind. – Neben solchen Bruchstücken blieben wiederum in mittelalterlichen Kodizes Inhaltsangaben verlorener Romane erhalten, und zwar von Τ πρ Θο λην πιστα („Die Wunderdinge jenseits von Thule“) des Antonios Diogenes und den Babyloniaka („Babylonische Geschichten“) des Iamblichos; von diesen beiden Romanen besitzen wir außerdem Fragmente in antiken und mittelalterlichen Handschriften. Mit dem Romantyp, den die genannten Texte repräsentieren, sind fünf weitere Werke der antiken Erzählprosa eng verwandt, und zwar ebenso im Bereich der narrativen Technik wie in dem der Motivik. Doch sie bilden eine eigene Gruppe, da ihre Verfasser mit den Motiven, die für Romane von der Art der Ephesiaka charakteristisch sind, ein literarisches Spiel treiben. Ein solches ist auch in einigen der bisher aufgezählten Texte durchaus erkennbar, aber nur in den jetzt zu nennenden Romanen wird die Grenze zu komischer Verzerrung von Motiven, wie sie die Ephesiaka enthalten, konsequent überschritten. Es handelt sich um folgende Texte: – Zwei in lateinischer Sprache verfaßte Romane, die Satyrica („Geschichten aus dem Lande der Satyrn“) des Petronius, die wir nur in
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Die Gattung
mittelalterlichen Exzerpten des Originals und weiteren (kleinen) Bruchstücken besitzen, und die, wie es scheint, vollständig erhaltenen Metamorphosen des Apuleius, bekannter unter dem (vermutlich) von dem Kirchenvater Augustin stammenden Titel Der goldene Esel. – Pseudo-Lukian, Λο κιος Ονος („Lukios oder Der Esel“), eine Epitome (Kurzfassung) der von Apuleius benutzten Vorlage, des (verlorenen) griechischen Romans mit dem Titel Metamorphosen, als dessen Verfasser uns ein Lukios von Patrai genannt wird. – Ein Papyrusfragment des griechischen Iolaos-Romans und mehrere Bruchstücke des griechischen Protagoras-Romans, die in dem byzantinischen Lexikon Etymologicum Genuinum überliefert sind. In Pseudo-Lukians Lukios steht z. B. statt eines Liebespaars (wie in Xenophons Roman) ein junger Mann, der in einen Esel verwandelt ist, im Zentrum des Geschehens. Seine Erlebnisse werden uns aber nicht nur als komische Varianten der in den Romanen vom Typ der Ephesiaka üblichen Abenteuer dargeboten – so droht ihm einmal statt der Ermordung die Kastration –, sondern auch mit krassem Realismus geschildert. Man pflegt die fünf zuletzt genannten Romane deshalb als „komisch-realistisch“ zu bezeichnen. Es stellt sich nun die Frage, ob sie derselben Gattung zuzurechnen sind wie die vorher aufgezählten Prosaerzählungen, die man, weil sie eine Wunschwelt als die Wirklichkeit präsentieren, „idealisierende“ Romane nennt. Damit stehen wir vor dem äußerst schwierigen Problem einer Definition des literarischen Genres „antiker Roman“. Eine Lösung des Problems wird zusätzlich durch die Tatsache erschwert, daß in altertumswissenschaftlichen Handbüchern unter dieser Überschrift meist noch weitere Werke fiktionaler Prosa wie „utopischer Roman“, „Alexander-“ oder „Briefroman“ aufgeführt sind, also Texte, die sich stofflich und erzähltechnisch teils mit den zwei gerade vorgestellten Romantypen berühren, teils aber auch erheblich von ihnen unterscheiden. Überdies läßt uns die antike Literaturkritik beim Versuch einer Gattungsdefinition weitgehend im Stich. Denn für die erhaltenen antiken Abhandlungen zur Literaturtheorie ist die fiktionale Prosaerzählung kein Thema, ja sie haben nicht einmal einen Gattungsnamen geprägt. Der Terminus „Roman“ kommt aus dem Französischen, er entstand im Mittelalter zur Bezeichnung von längeren Vers- oder Prosaerzählungen, die nicht im Latein der Gelehrten, sondern in der romanischen Sprache der weniger Gebildeten geschrieben waren.
Antike Begriffe zur Bezeichnung der Gattung
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Antike Begriffe zur Bezeichnung der Gattung Daß die antiken Dichtungstheoretiker, die sich doch bei den meisten Literaturformen um umfassende Definitionen bemüht haben, den Roman ignorierten, kann man vielleicht ganz einfach folgendermaßen erklären: Die gattungstypologischen Klassifizierungen der Antike stammen in der Hauptsache von alexandrinischen Gelehrten der hellenistischen Epoche, und in dieser Zeit existierten die beiden Typen der oben genannten fiktionalen Erzählungen, der idealisierende und der komisch-realistische Roman, noch gar nicht. Aber glücklicherweise sind uns in griechischer Sprache aus byzantinischer Zeit und auf lateinisch sogar schon aus der Spätantike einige „Ersatzbegriffe“ bezeugt, die immerhin ahnen lassen, daß man zumindest mit einer bestimmten Gruppe längerer fiktionaler Prosaerzählungen einigermaßen feste inhaltliche Vorstellungen verband. Wenn wir in beiläufigen Äußerungen zu den uns hier interessierenden Texten immer wieder die griechischen Termini δρμα, (σ νταγμα) δραματικν („dramatische Erzählung“) oder κωμωδα („Komödie“) und die lateinischen Begriffe fabula oder mimus finden, dann wird ohne weiteres deutlich, daß der antike Leser sich durch das Romangeschehen an Dramenhandlungen erinnert fühlte. Und das in zweifacher Hinsicht aus gutem Grund: Zum einen ist der Aufbau sowohl einiger Tragödien des späten Euripides als auch aller erhaltenen Komödien des Menander, Plautus und Terenz von ganz ähnlichen Verwicklungen um ein Liebespaar geprägt wie die Struktur der Romane nach Art der Ephesiaka, zum anderen spielt bei antiken Definitionen der Gattung „Komödie“ das Kriterium der Wirklichkeitsnähe eine wichtige Rolle. Während einerseits der Epiker und der Tragiker Stoffe neu bearbeiteten, die aus dem Mythos, also aus dem Bereich der Wirklichkeitsferne und des Wunderbaren stammten, andererseits der Historiker über wahrhaftige Begebenheiten berichtete, vereinte der Komödiendichter in gewisser Weise diese beiden einander entgegengesetzten Möglichkeiten. Er erfand seine Stoffe zwar selbst, gab ihnen aber bewußt den Anschein der Realität. Genau diese fiktionale Abbildung der Lebenswirklichkeit des antiken Menschen finden wir auch in den bisher aufgezählten narrativen Texten. Im weitesten Sinne bedeutet also die höchstwahrscheinlich schon in der Spätantike gebrauchte Bezeichnung σ νταγμα δραματικν „fiktionale Erzählung aus dem Bereich der sonst in der Komödie dargestellten Erfahrungswelt des Rezipienten“. Und da eine sol-
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Die Gattung
che Definition durchaus auch auf die neuzeitlichen Texte zutrifft, die wir Romane nennen, können wir die oben aufgeführten antiken Erzählungen getrost als solche bezeichnen.
Typische Gattungselemente des idealisierenden und komisch-realistischen Romans Nicht nur bei den Lesern dieser Werke, welche die gerade genannten „Ersatzbegriffe“ verwendeten, dürfen wir mit einer festen Vorstellung vom stofflichen Rahmen eines bestimmten Typs von Prosaerzählung rechnen, sondern erst recht bei den Autoren selbst. Bei ihnen hat diese feste Vorstellung offensichtlich dazu geführt, daß sie, wie bereits angedeutet, innerhalb des stofflichen Rahmens bei der Wahl sowohl der einzelnen Handlungsmotive als auch der verschiedenen Mittel zu ihrer Darstellung immer wieder einem geradezu stereotypen Schema folgten. Dieses ist auch in den Texten der Romanerzähler, die auf irgendeine Weise davon abweichen oder ihr literarisches Spiel damit treiben, mindestens andeutungsweise stets präsent. Das bloße Vorhandensein ständig wiederkehrender Gattungselemente liefert zusammen mit den „Ersatzbegriffen“ eine Grundlage für die von uns gesuchte Gattungsdefinition. Ich stelle diese konstanten Elemente daher im folgenden kurz zusammen, und zwar zunächst anhand des Gattungstyps „idealisierender Roman“, der vorhin am Beispiel der Ephesiaka Xenophons erstmals näher betrachtetet wurde. Zunächst zu den Motiven. Hauptpersonen des Geschehens sind ein junger Mann und ein junges Mädchen von vornehmer Abstammung und unvergleichlicher Schönheit, die, bereits verheiratet oder einander fest versprochen, auf einer längeren Reise in ferne Länder teils zusammen, teils getrennt eine Serie von meist leidvollen Abenteuern zu bestehen haben. Häufigste Ursache ihrer Leiden ist der Schwur unverbrüchlicher Treue, dessen strikte Einhaltung sie als Gefangene von Räubern beziehungsweise Piraten oder als Sklaven reicher Herren beziehungsweise Herrinnen in gefährliche Situationen bringt. Besonders oft werden sie von der Ermordung bedroht. Oder sie fassen, auf eine andere Weise in die Enge getrieben, den verzweifelten Beschluß, sich selbst umzubringen, worauf entweder Rettung im letzten Augenblick folgen kann oder ein Scheintod, der weitere Verwicklungen hervorruft. Bevorzugte Schauplätze dieser Abenteuer sind die Länder Kleinasiens
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und des Nahen Ostens, in denen das Liebespaar sowohl mit Griechen als auch mit exotischen Orientalen zusammentrifft. Wenn die beiden auf dem Meer reisen, geraten sie in der Regel in einen Sturm, der einen Schiffbruch verursacht. Am Ende der Leidenskette stehen Wiedervereinigung und Heimkehr zu einem von nun an uneingeschränkt glücklichen Leben. Über dem Geschehen walten zuweilen eine oder mehrere Gottheiten, die z.B. – wie schon in Homers Odyssee – dadurch, daß sie einem oder beiden Protagonisten wegen einer Verfehlung zürnen, die Abenteuerserie in Gang gesetzt haben. Nun zur Erzähltechnik. In betonter Anlehnung an die zur Zeit der Entstehung des antiken Romans einzig vergleichbare Gattung narrativer Prosa, das Geschichtswerk, erzählt der Autor wie ein Historiograph das Geschehen linear beziehungsweise in Parallelberichten, die aufgrund einer Trennung der beiden Protagonisten erforderlich werden. Dabei kann er novellenartige Kurzerzählungen über die Erlebnisse anderer Personen oder Exkurse, z.B. mythographischer oder fachwissenschaftlicher Natur, einschalten. Kompliziertere narrative Techniken wie Ich-Erzählung, Retrospektive oder Verschachtelung, ja Verrätselung der Handlung, die sich von der Darstellungsweise der Historiographie entfernen, in neuzeitlicher Romanliteratur dagegen um so häufiger verwendet werden, entwickelt der antike Roman erst im Laufe der Gattungsgeschichte. Dabei bleibt jedoch bis zum letzten der uns erhaltenen Vertreter der Gattung die gesuchte Nähe zu den Darstellungsmitteln der Geschichtsschreibung gewahrt. Auf besonders einfache Weise kann sich das bereits im Titel offenbaren. Denn Überschriften wie Ephesiaka, Phoinikika, Babyloniaka und Aithiopika (weitere Titel dieser Art sind für verlorene Romane bezeugt oder für erhaltene zu erschließen) hätte auch ein antiker Historiograph seinem Werk geben können; das bekannteste Beispiel bieten die Hellenika („Griechische Geschichte“) des Xenophon von Athen aus klassischer Zeit. Die Einzelepisode des antiken Romans steht dagegen eher in der Tradition typischer Tragödien- und Komödienszenen und erinnert damit wieder besonders stark an die moderne Fernsehserie. Lange Dialoge ersetzen oft über weite Strecken die Berichterstattung des Erzählers, und häufige Monologe und Reden dramatisieren das Geschehen, dessen Höhepunkt eine Gerichtsverhandlung bilden kann. Dieselben Mittel narrativer Technik finden wir nun, wie gesagt, bei den komisch-realistischen Romanen. Die beiden lateinischen Texte, Petrons Satyrica und besonders die Metamorphosen des Apuleius, er-
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reichen, was die Anwendung kunstvoller Erzählweisen betrifft, ebenso wie die am Ende der Entwicklung des idealisierenden Romans stehenden Texte des Achilleus Tatios, Longos und Heliodor ein bemerkenswert hohes literarisches Niveau und liefern zusammen mit ihnen der modernen Narratologie reiches Anschauungsmaterial. Im stofflichmotivischen Bereich bieten die komisch-realistischen Romane, wie ebenfalls bereits angedeutet wurde, anstatt einer idealisierenden Darstellung der fiktionalen Wirklichkeit komische oder derb-realistische Schilderung. So spielen z.B. Szenen voll praller Erotik, die es in Romanen vom Typ der Ephesiaka wegen des Motivs des Treueschwurs der beiden Protagonisten nicht geben kann, bei Petron, Pseudo-Lukian und Apuleius eine wichtige Rolle (und das galt vermutlich auch für den Iolaos- und den Protagoras-Roman). Doch die Liebe stellt auf jeden Fall ein in den Texten beider Gattungstypen dominierendes Thema dar, und hier wie dort sind überwiegend leidvolle Abenteuer aneinandergereiht. Ferner ist das Ende des Romangeschehens bei Pseudo-Lukian und Apuleius – im Falle von Satyrica, Iolaos- und Protagoras-Roman kennen wir es nicht, dürfen aber Entsprechendes vermuten – „happy“ wie im idealisierenden Roman. Wie die Vertreter dieses Typs kann man die fünf komisch-realistischen Romane jeweils als σ νταγμα δραματικν bezeichnen, denn auch hier wird durch die Welt, in der sich die Akteure bewegen, diejenige der Lebenswirklichkeit des Lesers abgebildet. Schließlich werden sich auch beim Vergleich der jeweiligen Weltsicht der beiden Romantypen gedankliche Berührungen zeigen. Die griechischen Romane, die wie jede Literatur unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen entstanden, spiegeln in gewisser Weise die Einstellung ihrer Autoren zu der besonderen sozialen und politischen Situation ihrer Zeit wider, und die Art, in der die Verfasser der komisch-realistischen Romane das Menschenbild der idealisierenden Romane in verzerrter Form präsentieren, weist Züge von satirischer Moral- und Literaturkritik auf.
Weitere romanhafte Prosaerzählungen der Antike („fringe novels“) Die beiden bisher nur unter allgemeinen Gesichtspunkten betrachteten Typen fiktionaler Prosaerzählungen des klassischen Altertums können – so viel dürfte deutlich geworden sein – einer einzigen Gat-
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tung, der des antiken Romans, zugeordnet werden. Aber bevor ich diese Gattung, von der in den nächsten Kapiteln ausschließlich die Rede sein soll, zusammenfassend zu definieren versuche, möchte ich eine Übersicht über alle weiteren fiktionalen Prosaerzählungen geben, die man bisher zuweilen ebenfalls dem antiken Roman zugeordnet hat, sei es in ihrer Gesamtheit oder wenigstens teilweise. Die summarische Betrachtung dieser Texte, die mit Recht den ins Deutsche nicht übersetzbaren Namen „fringe novels“ tragen, wird zeigen, warum es zweifelhaft erscheint, sie zusammen mit den idealisierenden und komisch-realistischen Romanen unter einem gemeinsamen Gattungsbegriff zu subsumieren. Nur so viel vorweg: Während der komischrealistische Roman sich mit dem idealisierenden Roman im Bereich der äußeren Form, des Stoffes und der Motive sowie der Weltsicht – zumindest unter umgekehrten Vorzeichen – aufs engste berührt, weisen die „fringe novels“ jeweils nur partielle Übereinstimmungen sowohl mit diesem Typ antiker Prosaerzählung als auch untereinander auf. Utopie und phantastische Reise Durch das Motiv „Reise in fremde Länder“ sind dem bisher behandelten Romantyp zwei uns nur durch Inhaltsangaben und Fragmente kenntliche Erzählungen verwandt, deren Autoren jeweils einen Ich-Erzähler von dessen Fahrt zu Inseln außerhalb der bekannten Welt berichten ließen. Als Euhemeros von Messene, der im Auftrag des Königs Kassander von Makedonien (305–297 v. Chr.) mehrere Reisen unternommen habe, bezeichnete sich der Sprecher in dem einen der beiden fiktionalen Berichte, der !Ιερ $ναγραφ& („Heilige Aufzeichnung“), deren Inhalt die im 1. Jahrhundert v. Chr. entstandene Βιβλιο)&κη (Bibliotheca historica) Diodors, eine griechische Weltgeschichte, wiedergibt (5.41–46; 6.1). Es heißt dort, Euhemeros sei auf einer seiner Fahrten zu einer Gruppe von Inseln gelangt, deren größte, Panchaia, in zweifacher Hinsicht als höchst bemerkenswert gelten dürfe. Zum einen soll sich dort ein prachtvoller Zeustempel befunden haben, der, in einer märchenhaft schönen und ungewöhnlich fruchtbaren Landschaft gelegen, in seinem Inneren eine Säule mit Aufzeichnungen über die Entstehung des griechischen Götterglaubens geborgen habe: Zeus und die anderen Olympier seien ursprünglich nichts weiter als sterbliche Könige gewesen, die wegen ihrer großen Verdienste um den
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kulturellen Fortschritt der Menschheit nach ihrem Tode vergöttert wurden. Zum anderen habe das Gesellschaftssystem der Inselbewohner, das Euhemeros offenbar ausführlich darstellte, Merkmale eines primitiven Kommunismus aufgewiesen. Als Ich-Erzähler des anderen Berichtes, der eine Inselbeschreibung enthielt, nennt Diodor einen Kaufmann namens Iambulos, der, auf einer Reise durch Arabien erst von Räubern und dann von Äthiopiern gefangengenommen, von diesen zusammen mit einem Gefährten zu einer „glücklichen Insel“ geschickt worden sei. Auch dort hätten – so Diodor (2.55–60) – hinsichtlich des Klimas und der Fruchtbarkeit des Landes paradiesische Zustände geherrscht, und die soziale Ordnung der Insulaner sei wie die der Panchaier von Prinzipien des Urkommunismus geprägt gewesen. Andere Kuriositäten, die Iambulos geschildert habe, hätten vor allem die Physis von Mensch und Tier betroffen; z. B. seien die Insulaner in der Lage gewesen, mit dem Blut eines schildkrötenartigen Tieres abgeschnittene Körperteile wieder anzukleben. Man hat immer wieder behauptet, es habe sich bei den beiden Erzählungen um utopische Romane, also Vorläufer von Thomas Morus’ bekanntem Werk Utopia, gehandelt. Außerdem gingen viele Forscher mit Selbstverständlichkeit davon aus, daß sowohl bei „Euhemeros“ als auch bei „Iambulos“ – die Namen der Ich-Erzähler pflegen mit denen der Autoren gleichgesetzt zu werden – der Rahmen der Inselbeschreibung die Form eines Reiseromans hatte. Letzteres ist jedoch im Falle der Heiligen Aufzeichnung reine Spekulation. Dem kurzen Hinweis Diodors auf die „offizielle“ Reisetätigkeit des „Euhemeros“ kann in der Ich-Erzählung eine ebenso kurze Bemerkung entsprochen haben, die lediglich die Funktion eines Beglaubigungsapparates hatte, also dem Zweck diente, das Erzählte als real geschehen auszugeben. Für den IchErzähler Iambulos dagegen bezeugt die Bibliotheca historica, daß er sowohl über seine Fahrt zu der Insel als auch über seine Rückreise nach Griechenland berichtete, die ihn durch Indien und Persien führte und auf der er noch manches Abenteuer erlebte. Zwar nimmt die Inselbeschreibung den größten Raum in Diodors Referat ein, aber dies vermutlich deshalb, weil der Verfasser der Universalgeschichte einzig an den mirabilia einer nur in dem Werk des „Iambulos“ beschriebenen exotischen Zivilisation interessiert war. So dürfte sich auch erklären, warum das Referat in verwirrender Weise zwischen den Themen „Lebensweise der Insulaner“, „Gesellschaftsordnung“, „Flora und Fauna
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der Insel“ usw. hin und her springt: Der Ich-Erzähler des vollständigen Textes schilderte die Kuriositäten der Insel in der Reihenfolge, in der er aus verschiedenen Anlässen mit ihnen konfrontiert wurde, Diodor dagegen ließ diese Anlässe einfach aus. Es besteht daher kein Grund zu der Annahme, die Inselbeschreibung habe schon bei Iambulos im Zentrum der Erzählung gestanden und sei wie diejenige des Euhemeros die systematische Darstellung einer utopischen Staatsordnung gewesen. Die Existenz wenigstens einer romanhaften Reiseerzählung aus hellenistischer Zeit darf also als wahrscheinlich gelten. Aber ob die Art, in der darin über die Abenteuer des Protagonisten in fernen Ländern berichtet wurde, derjenigen vergleichbar war, die uns aus den erhaltenen kaiserzeitlichen Romanen vom Typ der Ephesiaka vertraut ist, wissen wir nicht. Vielleicht gibt uns Lukian von Samosata (um 120–180) in den zwei Büchern seiner *Αλη), διηγ&ματα („Wahre Geschichten“), dem Bericht eines (mit dem Autor gleichnamigen) Ich-Erzählers über eine phantastische Reise, einen gewissen Eindruck von der Darstellungsweise des Iambulos, aber wenn ja, dann nur in komischer Verzerrung. Denn eines der Anliegen Lukians ist es offenbar, die Berichte der verschiedensten griechischen Autoren – darunter auch „Iambulos“ – über die mirabilia fremder Kulturen zum Gegenstand seines Spotts zu machen. Aber obwohl wir viele Texte kennen, auf die der Ich-Erzähler der Wahren Geschichten Bezug nimmt – er treibt ein ebenso amüsantes wie subtiles intertextuelles Spiel mit den verschiedensten Gattungen der griechischen Prosa und Poesie und macht somit die Abenteuerfahrt, von der er berichtet, zur metaliterarischen Reise durch das Meer der Wörter und Texte –, haben wir keine Möglichkeit, seine Verspottung von Werken wie denen des „Iambulos“ angemessen zu würdigen. Denn nicht nur dessen Erzählung, sondern auch alle anderen vergleichbaren Darstellungen gingen verloren. Dennoch sind die Abenteuer „Lukians“, wenn man sie einfach als solche liest, höchst unterhaltsam und lustig. Er erlebt sie auf dem Mond mit Kohlvögeln und Rettichschleuderern, Seleniten und Helioten, im Bauch eines Wals, im Eismeer, auf dem Milchsee mit der Käseinsel, bei den Korkfüßlern, auf den Inseln der Seligen, der Verdammten und der Träume, bei Kürbispiraten, Nußschiffern, Ochsenköpflern, Phallonauten und Eselsfüßlerinnen. Aber das ist nun endgültig eine Welt, die an diejenige der erhaltenen idealisierenden und komisch-realistischen Romane der Antike nur noch sehr entfernt erinnert.
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Romanhafte Biographie In meiner Übersicht über die Werke, die ich dem eigentlichen „Roman“ der Antike zurechne, erscheinen mit dem Ninos- und dem Sesonchosis-Roman zwei Exemplare eines besonderen Typs dieser Gattung: Hier sind die männlichen Helden historisch nachweisbare, berühmte Könige orientalischer Großreiche in vorgriechischer Zeit. Wenn nun die Literaturgeschichten griechische Prosatexte wie Xenophons Darstellung der Vita des Perserkönigs Kyros mit dem Titel Kyrupädie, die anonyme Äsop-Vita, Pseudo-Kallisthenes’ Vita Alexanders des Großen und Philostratos’ Vita des Apollonios von Tyana in der Regel als „Romane“ etikettieren, so mag das insoweit berechtigt sein, als in allen vier Werken romanhafte Erfindung den historischen Kern fast ganz zudeckt. Aber diese vier „Romane“ mit historischen Figuren als Protagonisten unterscheiden sich von den zwei vorher genannten in einem wesentlichen Punkt: Dort orientiert sich das Romangeschehen – das zeigen die (noch näher zu betrachtenden) Fragmente sehr deutlich – wie in den Ephesiaka des Xenophon von Ephesos an ganz bestimmten Abenteuern des Protagonisten, und zwar ebenfalls an solchen, die sich aus seiner unverbrüchlichen Treue zu der von ihm geliebten Frau ergeben, also Schiffbruch, Trennung, Anfeindungen usw. Hier dagegen liefert das Leben des Protagonisten bis zu seinem Tode den Rahmen der Handlung, und Fiktionalität ist nicht die Grundessenz der Erzählung, sondern Zutat, die dem Zweck einer speziellen Form von Präsentation der Lebensgeschichte eines berühmten Mannes dient: Die Vita soll entweder lehrhaft sein oder eine mit trockener Historie unzufriedene Leserschaft unterhalten oder beides. Bei der acht Bücher umfassenden Κ ρου παιδεα („Erziehung des Kyros“) des athenischen Schriftstellers Xenophon (um 425–355 v. Chr.) handelt es sich um das romanhafte Porträt eines in jeder Hinsicht vollkommenen Monarchen, zu dem der Autor den Perserkönig durch bewußte Veränderung der biographischen Fakten und eigene Erfindungen gemacht hat. Wir verfolgen das Leben des Kyros anhand seiner Erziehung zum Feldherrn, der dann Zug um Zug die asiatischen Völker unterwirft, sowie seiner Entwicklung zum wohltätigen Herrscher. Die größtenteils fiktiven Ereignisse von seiner Kindheit bis zu seinem Lebensende bilden nicht mehr als den Hintergrund für eine Bewährung seiner zahlreichen Tugenden. Was hier „Roman“ ist, hat also in erster Linie die Funktion, das Porträt eines Staatsmannes, in
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dem die Leser die Idealfigur eines solchen erkennen sollen, als narrativen Text darzubieten. Vielleicht hat eine Randepisode der äußeren Handlung eine motivische Anregung zur Entstehung der Erzählungen vom Typ der Ephesiaka geliefert: die Pantheia-Novelle. In unverbundenen Abschnitten über die Bücher 4–7 verteilt, erzählt diese Geschichte von der erfolglos in Versuchung geführten Treue der schönen Pantheia zu ihrem Gatten Abradates und dem Selbstmord der Frau über der Leiche des in einer Schlacht gefallenen Mannes. Außerdem fand das Motiv der Erziehung eines Prinzen zum Feldherrn weitere Verwendung. Es kehrt in den Bruchstücken des Ninos-Romans und wahrscheinlich in denen des Sesonchosis-Romans wieder, und kriegerische Heldentaten vollbringt auch Chaireas in Charitons Kallirhoë sowie Rhodanes in den Babyloniaka des Iamblichos. Obwohl selbst kein Roman wie die Erzählungen vom Typ der Ephesiaka des anderen Xenophon (der den Namen des berühmten Atheners vielleicht als Pseudonym trug; s.u. S. 43), war die Kyrupädie für diese stilistisch und motivisch ein wichtiges Vorbild. Im Grunde tat Xenophon mit der Abfassung seiner romanhaften Kyros-Biographie dasselbe wie diejenigen griechischen Dichter, Rhetoren und Historiker vor und nach ihm, die in ihre Texte zum Zweck der Exemplifizierung eines Gedankens eine Fabel einlegten: Lehren durch Erzählen. Der unbekannte Autor des ungefähr ins 2. Jahrhundert n.Chr. zu datierenden Βος το0 Α1σ2που („Leben Äsops“) ging sogar so weit, der gesamten Vita ein in Aesopica häufig verwendetes Gliederungsschema zugrunde zu legen. Denn seine Schilderung der Ereignisse, die zur Ermordung Äsops durch die Priester in Delphi führen, ist strukturell offenbar durch den Typ von Fabel beeinflußt, die in drei Geschehensabschnitten erzählt, wie eine Person erst richtig, dann falsch handelt und so ihren Tod verursacht. Über den Mord an Äsop berichten bereits Quellen des 5. Jahrhunderts v. Chr., und unser Anonymus stellt nun die zu der Bluttat führende Entwicklung so dar: Seinem Äsop fehlt im ersten Teil der Vita die Sprechfähigkeit, aber der Sklave weiß eine gegen ihn gerichtete Intrige durch stummes Agieren zu vereiteln und wird kurz darauf zum Dank für eine fromme Tat von den Musen mit besonderer Wortgewandtheit beschenkt. Diese Gabe nutzt er im Hauptteil der Vita dazu, als Sklave des Philosophen Xanthos zunächst die Freilassung und dann als Berater des Volkes von Samos und des Königs von Babylon hohe Ehren und Reichtum zu erwerben. Da er aber am Ende dieses Geschehensabschnittes in einem
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Heiligtum, das er den Musen zum Dank für ihr Geschenk weiht, in der Mitte der Statuen der Göttinnen nicht ein Standbild des Musageten Apollon errichtet, sondern eines, das ihn selbst darstellt, zieht er sich Apollons Zorn zu. Der Gott unterstützt während eines Aufenthaltes Äsops in Delphi im dritten Teil der Vita seine Priester bei einer Intrige gegen den Fabelerzähler und trägt so zu dessen Ermordung bei. Das fabula docet ist klar: Hybris bringt auch den mit Wortgewandtheit Begabten zu Fall. Ihm, der sich einst nur durch Mimik rettete, hilft es jetzt dagegen nicht einmal, daß er im Angesicht des ihm drohenden Todes seine besondere rhetorische Befähigung zur Geltung bringt, indem er durch das Erzählen von Fabeln narrativ argumentiert. Aber in dieser schlichten Lehre liegt gewiß nicht der eigentliche Reiz der romanhaften Vita, sondern im Inhalt der einzelnen Episoden, die dem Bericht über den Tod Äsops vorausgehen. Viele von ihnen erinnern deutlich an die Episoden eines pikaresken Romans, da hier einerseits von raffinierten Schelmenstreichen des Protagonisten erzählt, andererseits die Aufdeckung des Unterschieds zwischen Schein und Sein thematisiert wird. Eine gewisse Verwandtschaft des „ÄsopRomans“ mit Petrons Satyrica, Pseudo-Lukians Lukios oder Der Esel und den Metamorphosen des Apuleius kann man deutlich erkennen. Aber sie ist nicht eng genug für eine Zuordnung des Textes zur Gruppe der komisch-realistischen Romane. Volkstümliche Erzählungen vom Typ der Äsop-Vita wurden in der Antike und im Mittelalter nicht immer im originalen Wortlaut weitertradiert, sondern sprachlich und inhaltlich überarbeitet, wobei auch erweiterte oder gekürzte Fassungen entstanden. Die meisten Veränderungen dieser Art erfuhr die bekannteste unter den romanhaften Biographien der Antike: der in seiner vorliegenden Form im 3. Jahrhundert n. Chr. verfaßte und fälschlich unter dem Namen des hellenistischen Historikers Kallisthenes (2. Hälfte 4. Jh. v. Chr.) überlieferte „Alexander-Roman“ mit dem Titel Βος κα3 πρ4ξεις Αλεξ4νδρου το0 Μακεδνος („Leben und Taten Alexanders des Makedonen“). In mindestens fünf verschiedenen Handschriftenrezensionen ist der Text auf uns gekommen, und diese werden durch die lateinische Version des Iulius Valerius (um 300) sowie die vielleicht auf weitere Überlieferungsstränge zurückgehenden Übersetzungen in andere Sprachen (z. B. Armenisch) ergänzt. Die Überlieferungslage stellt vor so große Schwierigkeiten, daß die Erforschung des „Alexander-Romans“ bis heute nicht wesentlich über Versuche einer Rekonstruktion der Text-
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geschichte und der ursprünglichen Fassung der Vita sowie ihrer Quellen hinauszugelangen vermochte. Auf eine Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Untersuchungen kann ich freilich verzichten. Denn man bediente sich hier bis in jüngere Zeit der historistischen Methoden des 19. Jahrhunderts, denen gegenüber man heute nicht skeptisch genug sein kann. Betrachtet man dagegen ganz unvoreingenommen „Rezension A“, die dem Originaltext am nächsten stehen dürfte, dann stellt man fest, daß auch der große Makedonenkönig an vielen Stellen der Vita am ehesten mit dem Protagonisten eines Romans vom Typ der Satyrica Petrons verglichen werden kann. Eine wichtige Erklärung für diesen zunächst überraschenden Befund dürfte darin liegen, daß Pseudo-Kallisthenes im Gegensatz zu den Alexander-Historikern nicht primär an den militärischen Erfolgen des Königs interessiert ist und ihn wohl deshalb als eine Art fahrenden Abenteurer darstellt, ja ihn selbst über seine Erlebnisse in der Fremde berichten läßt. So schreibt Alexander z. B. seinem ehemaligen Lehrer Aristoteles einen ausführlichen Brief über die mirabilia Indiens (3.17), der an das Referat Diodors über die Ich-Erzählung des Iambulos erinnert. Zu einem solchen Alexander paßt es dann sehr gut, daß er sich sogar in den wenigen Situationen, in denen man von ihm auf jeden Fall die Bewährung von Herrschertugenden erwarten würde, wie ein Picaro verhält. So besiegt er den Inderkönig Poros, der ihn an Länge erheblich überragt, im Zweikampf nur deshalb, weil er einen kurzen Moment, in dem der Gegner durch einen plötzlichen Lärm abgelenkt wird, geschickt zum entscheidenden Schwertstreich nutzt (3.4). Eine solche Szene fügt sich auch deshalb bestens in diese Vita, weil das Leben, das sie schildert, seine Genese der Tatsache verdankt, daß Alexanders Mutter Olympias ihren Sohn nicht von ihrem Mann, König Philipp von Makedonien, sondern von dem ägyptischen Pharao und Zauberer Nektanebos während eines durch List und Hokuspokus erschlichenen Beischlafs empfängt (1.1–12). Hier steht der „Alexander-Roman“ motivisch sogar bestimmten erotischen Abschnitten in den komisch-realistischen Romanen nahe. Doch das macht den Text noch nicht zum Vertreter dieses Gattungstyps. In der letzten der hier zu besprechenden fiktionalen Biographien, dem von dem Sophisten Philostratos Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. verfaßten Werk Τ 7ς τ8ν Τυαν9α *Απολλ2νιον („Leben des Apollonios von Tyana“) in acht Büchern, wird die Vita eines neupythagoreischen Zauberers, der nachweislich im 1. Jahrhundert n.Chr.
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wirkte, als Serie frommer Taten eines asketischen Weisen dargestellt. Als Lehrer und Mahner zur Tugend zieht Apollonios, zahlreiche Mirakel wie Weissagung, Dämonenaustreibung, Heilung von Kranken und Auferweckung eines toten Mädchens vollbringend, durch den gesamten Mittelmeerraum bis nach Ägypten und Äthiopien sowie nach Indien. Auf diesen Reisen erlebt er auch allerlei Abenteuer, die in einigen Fällen – Buch 8 enthält z. B. eine Szene vor Gericht – typische Motive des idealisierenden und des komisch-realistischen Romans in die Erinnerung rufen. Den Erzählungen des Iamblichos, Achilleus Tatios und Heliodor ähnelt die Vita speziell darin, daß sie Exkurse über Flora und Fauna der von dem Wundermann besuchten fernen Länder enthält. Diese Motivverwandtschaft macht das in erster Linie der Erbauung und der pythagoreisch-religiösen Propaganda dienende Werk, das wahrscheinlich von Julia Domna, der Frau des Kaisers Septimius Severus in Auftrag gegeben wurde, noch lange nicht zum „Roman“. Aber da ist noch etwas. Ein wichtiger Gedanke, welcher der Vita zugrunde liegt, scheint derjenige zu sein, daß ein Leben in Weisheit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit, wie es der heilige Mann auf so exemplarische Weise durchläuft, überall auf der Welt vor jeder Art von Gefahren schützt. Das findet seine Entsprechung nicht nur in den unter Nr. 5 dieses Abschnittes zu behandelnden christlichen „Romanen“, wo die von einem unerschütterlichen Glauben hervorgerufenen Tugenden der Protagonisten diesen immer wieder zur Lösung aller Probleme verhelfen, sondern auch in den Erzählungen vom Typ der Ephesiaka, in denen dasselbe die eiserne Treue leistet, welche die Liebenden einander wahren. Es gibt also mehrere gute Gründe dafür, die Apollonios-Vita ebenso wie die apokryphen Apostelakten zumindest am „fringe“ der Gattung „antiker Roman“ anzusiedeln.
Historische Erzählung in Briefform Inhaltlich verwandt mit den romanhaften Biographien sind die wie diese ausschließlich in griechischer Sprache überlieferten Sammlungen pseudepigrapher Briefe, die, chronologisch angeordnet, eine bestimmte Ereignisabfolge im Leben des Briefe schreibenden Ich widerspiegeln. Die vermutlich älteste Sammlung dieser Art – sie existierte in der heute vorliegenden Form vielleicht schon um 200 v. Chr. – ist diejenige der Briefe Platons. Mag sich unter ihnen auch der eine oder an-
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dere echte Brief befinden (ich persönlich glaube freilich nicht an diese Möglichkeit), so bildet das Korpus dennoch ein geschlossenes Ganzes, dessen erste Hälfte in einer Retrospektive die Erlebnisse des Philosophen am Hofe des Tyrannen Dionysios II. von Syrakus nachzeichnet. Die übrigen Sammlungen von Briefen, die auf ein fortlaufendes Geschehen Bezug nehmen, entstanden bis auf eine Ausnahme im Späthellenismus und in der frühen Kaiserzeit und enthalten mit Sicherheit keinen echten Brief derjenigen historischen Persönlichkeit, deren Namen sie jeweils tragen. Es handelt sich dabei um die Sammlungen der Briefe des Themistokles, Euripides, des Sokrates und der Sokratiker, des Hippokrates, des Chion von Herakleia und des Aischines. Lediglich die Sammlung der (insgesamt 147) Briefe des sizilischen Tyrannen Phalaris gehört – zumindest in der uns erhaltenen Fassung – wahrscheinlich erst ins 4. Jahrhundert n. Chr. Sie unterscheidet sich auch darin von den bisher genannten Briefbüchern, daß sie kein Handlungskontinuum, sondern nur Gruppen thematisch zusammengehöriger Briefe aufzuweisen hat. Einzelne dieser Gruppen lassen sich allerdings dann, wenn man die überlieferte Reihenfolge der jeweils zu ihnen gehörenden Briefe ändert, als chronologisch angeordnete Briefsequenzen lesen. Durch Umgruppieren kann man außerdem aus einer Reihe von Briefen, die Diogenes Laertios in seine Philosophiegeschichte eingelegt hat, eine Sammlung pseudepigrapher Briefe der „Sieben Weisen“ wenigstens teilweise rekonstruieren. Wir haben es hier mit antiken Vorläufern des neuzeitlichen Briefromans zu tun, was aber erst in jüngster Zeit das Interesse der Altertumswissenschaftler weckte. Denn seit Richard Bentley in einer berühmten Abhandlung von 1697 die Phalaris-Briefe, die man bis dahin für echt hielt, als „Fälschung“ erwiesen hatte, setzte man sich mit dieser Sorte von Epistolographie allenfalls unter dem Aspekt des Echtheitsproblems, am liebsten aber gar nicht auseinander. Dabei weisen alle diese historischen „Romane“ in Briefform eine ebenso geschlossene Erzählstruktur auf wie die übrigen Werke der in griechischer Sprache verfaßten fiktionalen Prosa. Nehmen wir nur die Handlung, deren Verlauf wir uns aus den pseudepigraphen Briefen des Hippokrates zusammensetzen können! Statt auf Bitten des Königs Artaxerxes nach Persien zu gehen, folgt der Arzt der Aufforderung der Abderiten, in ihre Stadt zu kommen und Demokrit, den sie wegen seines ständigen Lachens für wahnsinnig halten, zu heilen. Während eines längeren Gesprächs mit dem Philosophen, in dessen Verlauf dieser ausführlich
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über die Verrücktheit menschlichen Handelns redet – er schreibt nämlich gerade ein Buch über den Wahnsinn –, erkennt Hippokrates, daß Demokrit in Wahrheit als der weiseste Mensch gelten darf. Romanhaft ist in diesem Briefkorpus besonders die Spannungslinie, die sich durch sieben der Ankunft des Arztes in Abdera vorausgehende Briefe hindurchzieht. Während neun von den zehn genannten Briefsammlungen an bekannte Namen geknüpft sind, wählte der anonyme Verfasser der Chion-Briefe als Epistolographen einen Mann, über den man zur Zeit der Entstehung der Briefe – im 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr. – außer der Tatsache, daß er im Jahre 353/352 v. Chr. den Tyrannen Klearchos von Herakleia ermordete, kaum etwas gewußt haben dürfte. Deshalb hatte der Autor dieses „Briefromans“ bei der Charakterisierung seines Protagonisten und bei der Handlungsführung größere poetische Freiheit als die anderen Verfasser von Sammlungen pseudepigrapher Briefe. Er nutzte diese Freiheit, indem er die Briefe eine geistige Entwicklung widerspiegeln ließ: Chion, der sich während der Abfassung des ersten Briefes auf dem Weg nach Athen befindet, wo er bei Platon studieren will, und den letzten von insgesamt siebzehn Briefen am Tag vor dem Tyrannenmord in Herakleia schreibt, reift während der dazwischenliegenden Zeitspanne schrittweise zu einem ethisch vollkommenen Menschen und zu einem verantwortlich handelnden Staatsbürger heran. Und das alles entnehmen wir den Worten eines „Ich-Erzählers“, was diesen „Briefroman“ ebenso wie die übrigen verwandten Texte hinsichtlich ihrer narrativen Technik in die Nähe der Romane Petrons, Pseudo-Lukians, des Apuleius und des Achilleus Tatios rückt. Freilich ist der dort „ich“ sagende Erzähler frei erfunden, während er hier den Namen einer historischen Person trägt.
Romanhafte Troja-Erzählung Es wurde bereits erwähnt, daß im Ninos- und im Sesonchosis-Roman jeweils eine berühmte, historisch bezeugte Herrscherfigur zum Protagonisten einer frei erfundenen Erzählung gemacht ist, und im nächsten Kapitel möchte ich zu zeigen versuchen, welche Rolle diese Verbindung von Historie und Fiktionalität bei der Entstehung der Gattung „antiker Roman“ gespielt haben könnte. Im momentanen Zusammenhang halten wir erst einmal fest, daß die Erzählliteratur der
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Antike auch eine Untergattung aufzuweisen hat, in der das bei Ninosund Sesonchosis-Roman angewandte Verfahren gleichsam umgedreht erscheint: den Typus des sogenannten „Troja-Romans“, der ein in die Welt des Mythos gehörendes fiktionales Geschehen als historisch verbürgt darbietet. Es ist ein verlockender Gedanke, daß es sich bei den (verlorenen) Τρωϊκ4 („Trojanische Geschichten“) des zu Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr. lebenden Schriftstellers Hegesianax von Alexandria um die erste Prosaerzählung dieser Art gehandelt haben könnte. Aber die erhaltenen fiktionalen Troja-Berichte stammen aus der Kaiserzeit und sind in lateinischer Sprache abgefaßt: die Ephemeris belli Troiani („Tagebuch des Trojanischen Krieges“) eines im griechischen Heer kämpfenden „Augenzeugen“, der sich Diktys von Kreta nennt (wahrscheinlich 4. Jh. n. Chr.), und die in zwei Rezensionen überlieferte Historia de excidio Troiae („Geschichte vom Untergang Trojas“) eines auf trojanischer Seite am Krieg teilnehmenden „Augenzeugen“, des Phrygers Dares (vor Ende 5. Jh. n. Chr.). Ein griechisches Original der Ephemeris (1./2. Jh. n. Chr.) ist noch in Papyrusfragmenten kenntlich, für die Historia kann man die Existenz einer solchen Vorlage mit einiger Wahrscheinlichkeit erschließen. In beiden Texten wird der Trojanische Krieg betont anders dargestellt, als wir es aus der mit Homer beginnenden mythologischen Tradition kennen. So berichten weder „Diktys“ noch „Dares“ etwas vom Agieren der Götter. Neuere Untersuchungen interpretieren dieses radikale Abrücken von der vertrauten Darstellung als literarisches Spiel. Das möchte man angesichts des anspruchslosen Stils beider Texte – der des „Dares“ ist geradezu primitiv – zunächst nicht glauben. Aber der Verzicht auf elegante Diktion erweist sich bei näherem Hinsehen als Resultat des Bemühens der hinter den beiden Augenzeugen stehenden Autoren, um jeden Preis den Anschein von Glaubwürdigkeit zu erwecken. Das beginnt bereits mit der jeweils im Prolog geäußerten Behauptung, daß das, was man jetzt lesen werde, auf abenteuerliche Weise „wiederentdeckt“ worden sei: der Bericht des „Diktys“ in einem Grabe, der des „Dares“ bei einem Besuch des „Cornelius Nepos“, des Verfassers der an „Sallust“ gerichteten Widmungsepistel zu der Historia, in Athen. Bedenkt man im Hinblick auf den Beglaubigungsapparat für die Schrift des „Diktys von Kreta“, daß die Kreter im Altertum als notorische Lügner galten, wird man in der Ephemeris von vornherein das Produkt eines literarischen Spiels sehen und dies dann auch für die Historia voraussetzen können. Dementsprechend ist es sehr
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wahrscheinlich, daß die Autoren der beiden Texte ganz bewußt ihre „Augenzeugen“ nicht in gehobenem Stil, sondern „protokollarisch“ Bericht erstatten ließen, und zwar so wie Cäsar in seinem Commentarius über den Gallischen Krieg: in kunstloser Sprache, streng sachlich und von sich selbst in der dritten Person Singular redend. Da sich Beglaubigungsapparate auch in einigen idealisierenden Romanen finden, zeigt sich eine Verbindungslinie von diesen Texten zu den Troja-Berichten. Hinzu kommt etwas, das wir schon beim „Alexander-Roman“ sahen: Wieder wird entheroisiert. So läßt z. B. der Verfasser der Ephemeris seinen Achilleus den Trojaner Hektor nicht heldenhaft im offenen Kampf, sondern denkbar feige durch den Überfall aus einem Hinterhalt töten (3.15). Wir sehen also das hehre Ringen göttergleicher Recken zur alltäglichen kämpferischen Auseinandersetzung zwischen normalen Menschen degradiert. Gleichzeitig wird ein Effekt erzielt, der gar nicht weit entfernt ist von einem in Romanen vom Typ der Satyrica Petrons immer wieder verwendeten Mittel der Komik: dem parodistischen Spiel mit heroischen Posen und falschem Pathos. Ansonsten liegt jedoch ein so weiter Abstand zwischen „Diktys“ und „Dares“ einerseits und den komisch-realistischen Romanen andererseits, daß der Gedanke der gemeinsamen Zuordnung zu einer Gattung besonders abwegig erscheint.
Frühchristliche romanhafte Literatur Es wurde immer wieder beobachtet, daß sich in der Apostelgeschichte des Lukas Erzählmotive finden, die man auch aus den Romanen vom Typ der Ephesiaka kennt, z. B. „gefahrvolle Reise“, „Schiffbruch“, „Scheintod“ und „Gerichtsverhandlung“. In jüngster Zeit fand man überdies heraus, daß die vier Evangelien in ihrer Episodenstruktur und ihrem anspruchslosen Stil nicht nur mit jüdisch-hellenistischen Prosaerzählungen wie Judith und Tobit, sondern auch mit fiktionalen Biographien vom Typ der Viten Äsops und Alexanders nahe verwandt sind. Doch in diesen fünf kanonischen Texten des Neuen Testamentes geht es um historische Ereignisse, die in romanhafter Form erzählt werden, und ihre Darbietung ist in den Dienst der Vermittlung der christlichen Lehre gestellt. Die apokryphen Apostelgeschichten dagegen, die wie die Acta des Lukas, ja in noch weit höherem Maße als diese, motivisch an idealisierende Romane erinnern, gehören, auch
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wenn ihre Protagonisten historische Figuren sind und einzelne Abschnitte einen wahren Kern enthalten dürften, eindeutig zur fiktionalen Literatur. Sie transportieren ebenfalls theologische Unterweisung, aber da diese teilweise nicht mit den Dogmen, die Kirchenväter und frühe Konzilien entwickelten, in Einklang stehen – eine dominierende Rolle spielt die Aufforderung zur Enkratie, das heißt der sexuellen Enthaltsamkeit selbst in der Ehe –, wurden sie nicht als kanonisch anerkannt. Zwischen 150 und 230 entstanden, erfreuten sich die fünf großen apokryphen Apostelgeschichten, die Acta des Johannes, Paulus, Petrus, Andreas und Thomas (dies ist vermutlich die chronologische Reihenfolge), zunächst bis ins 4. Jahrhundert hinein großer Beliebtheit, wurden dann aber von der Kirche abgelehnt. Das dürfte auch ein wesentlicher Grund dafür sein, daß keiner dieser Texte in seiner ursprünglichen Gestalt erhalten blieb. Während wir von den in syrischer Sprache verfaßten Thomasakten immerhin eine vollständige griechische Übertragung besitzen, sind die übrigen Apostelgeschichten nur fragmentarisch beziehungsweise in späteren Bearbeitungen, unter anderem in lateinischer Sprache, auf uns gekommen. Außer in den Acta des Petrus, deren Thema die Wundertaten und das Martyrium des Apostels in Rom bilden, erzählen diese Texte von der Missionsreise des Protagonisten und – hier stellen nur die Johannesakten eine Ausnahme dar – von seinem gewaltsamen Tod. Da das Lebensende nach einer Serie von Bewährungen in einer dem Apostel immer wieder feindlich gesinnten Welt mit dem Beginn der ewigen Seligkeit verbunden ist, bietet der strukturelle Rahmen dieser Erzählungen unverkennbar eine Entsprechung zu demjenigen der idealisierenden Romane mit ihrem happy ever after nach den Bewährungen der Treue der Liebenden während ihrer Reiseabenteuer. Überdies korrespondiert das Festhalten an der einmal dem Partner geschworenen Liebe in den Erzählungen vom Typ der Ephesiaka dem Festhalten an der Bereitschaft zur Enkratie in den Acta: Die Apostel, die zum Verzicht auf Sex mahnen, und die (meist schon verheirateten) Frauen aus vornehmen Familien, welche die Mahnung auch dann noch beherzigen, wenn sie von der Gesellschaft mit dem Tod bedroht werden, erscheinen geradezu als das Liebespaar der christlichen „Romane“. Besonders deutlich erkennbar wird die Analogie in einem (auch separat überlieferten) Teilabschnitt der Paulusakten: Hier begleitet eine von dem Apostel zu fleischlicher Enthaltsamkeit bekehrte Frau namens Thekla ihn eine Zeitlang auf seiner Reise. Freilich treten in den Texten
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neben Gegnern der Apostel und der von ihnen bekehrten Menschen auch Personen auf, die das enkratitische Ethos einer Frau dazu stimuliert, sich in diese zu verlieben. Das gibt den Erzählern Gelegenheit zur Darbietung erotischer Geschichten, von denen einige motivisch an die pikanten Novellen in Petrons Satyrica und in den Metamorphosen des Apuleius erinnern. So schildert z. B. die Geschichte von Drusiana und Kallimachos in den Johannesakten sehr anschaulich einen Fall von versuchter Schändung einer weiblichen Leiche in einer Grabkammer. Doch in den apokryphen Apostelgeschichten ist der Anteil solcher wahrhaft romanesken Elemente am Text so gering gegenüber dem der Passagen, die auf christliche Belehrung und Erbauung ausgerichtet sind, daß man große Schwierigkeiten hätte, eine Zuordnung dieser Erzählungen zu der von idealisierendem und komisch-realistischem Roman konstituierten Gattung überzeugend zu rechtfertigen. Wegen der bemerkenswerten Ähnlichkeit in der Erzählstruktur könnte man aber immerhin daran denken, die nicht-kanonischen Acta als Gruppe der christlichen neben die der paganen antiken Romane zu stellen. Neben den fünf Apostel-„Romanen“ hat die frühchristliche Erzählliteratur zwei weitere Texte aufzuweisen, die den Romanen vom Typ der Ephesiaka motivisch nahestehen. Bei dem einen von beiden, dem in seiner ursprünglichen Gestalt vermutlich im zweiten Viertel des 3. Jahrhunderts entstandenen griechischen „Klemens-Roman“, handelt es sich um die fiktive Selbstbiographie des Nachfolgers des Apostels Petrus als Bischof von Rom (weshalb man die beiden erhaltenen Teile als Pseudo-Klementinen zu bezeichnen pflegt). Wir lesen diese Erzählung heute in zwei Bearbeitungen des 4. Jahrhunderts, den griechischen !Ομιλαι („Predigten“) und den nur in der lateinischen Übersetzung des Rufinus von Aquileia auf uns gekommenen Recognitiones („Wiedererkennungen“). Wie schon die beiden Titel verraten, haben die offenbar mehr an einer Verteidigung des christlichen Glaubens als an einer Wiedergabe der ursprünglichen Romanhandlung interessierten Bearbeiter den Umfang der von ihnen hinzugefügten, rein der theologischen Belehrung dienenden Teile verschieden bemessen: Wir erfahren von den Erlebnissen des späteren Bischofs in den Recognitiones mehr als in den Predigten. Es sind die Wechselfälle des Schicksals der schon während seiner Kindheit im ganzen Mittelmeerraum umhergetriebenen Eltern des Klemens und seiner beiden Brüder, die in enger motivischer Nachbarschaft zu dem Geschehen im idealisierenden Roman stehen; wahrscheinlich haben Heliodors
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Aithiopika sogar direkt auf den „Klemens-Roman“ gewirkt. Nach mancherlei Abenteuern wie Schiffbruch, Gefangenschaft durch Piraten usw. treffen die einzelnen Familienmitglieder der Reihe nach wieder mit Klemens zusammen, der sich inzwischen dem Apostel Petrus angeschlossen hat. Wenn die Rolle, die das Liebespaar im idealisierenden Roman spielt, hier durch miteinander verwandte Menschen übernommen wird, braucht das nicht das Resultat einer christlichen Überarbeitung der Originalfassung des Romans zu sein. Denn in der Historia Apollonii regis Tyri („Geschichte vom König Apollonius von Tyrus“), in der das christliche Element zwar auch vorhanden ist, aber keine allzu große Bedeutung hat, finden wir diese Konstellation gleichfalls. Die in zwei lateinischen Versionen des 5./6. Jahrhunderts (RA und RB) überlieferte Erzählung handelt von den Abenteuern des Königs Apollonius, seiner (namenlosen) Frau und seiner Tochter Tarsia. Nachdem er die Gattin während einer Seereise verloren hat – sie ist nach der Entbindung von Tarsia scheintot und wird in einem Sarg im Meer bestattet –, trennt er sich freiwillig von seiner Tochter, die er in der Obhut von Pflegeeltern in Tarsos aufwachsen läßt, und begibt sich als Kaufmann auf Reisen. Nach vierzehn Jahren trifft er Tarsia, die von Piraten nach Mytilene entführt wurde, als keusch gebliebene Sklavin eines Zuhälters wieder. Ein Engel weist ihn im Traum nach Ephesos, wo er seine totgeglaubte Frau als Priesterin der Diana vorfindet. Bereits aus dieser Kurzübersicht über die Haupthandlung der Historia geht eine Besonderheit der Erzählung hervor: das kuriose Nebeneinander von Paganem und Christlichem. Ein weiteres Charakteristikum des Textes ließe sich nur anhand einer längeren Inhaltsanalyse aufzeigen: Der Plot besteht aus einer bunten Serie von in sich geschlossenen Episoden, die nicht mit der von einer Romanhandlung zu erwartenden Stringenz verknüpft sind und gelegentlich sogar in einem gewissen Widerspruch zueinander stehen. Angesichts dieses Befundes ist man sich heute weitgehend einig darüber, daß die beiden spätantiken Versionen, deren eine (RB) eine leichte Überarbeitung der anderen (RA) darstellt, nur eine Kurzfassung der Apollonios-Geschichte präsentieren, die den Redaktoren in griechischer Sprache vorlag und die diese unter dem Einfluß spätantiker hagiographischer Literatur ins Lateinische übertrugen. Die Vorlage der griechischen Epitome, die ihrerseits schon mit Rücksicht auf die christliche Lehre angefertigt worden sein dürfte, setzt man vermutlich mit Recht ins frühe dritte Jahr-
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hundert. Aus ihr stammen vielleicht zwei etwa in dieselbe Zeit zu datierende Papyrusfragmente einer griechischen Prosaerzählung. Darin finden sich eine Szene, in der ein Apollonios bei einem Gastmahl mit einem König und einer Königin auftritt, sowie eine Episode, in der die Königin offenbar dazu ansetzt, Apollonios zu verführen (PSI 151 + P. Mil. Vogliano 260). Nun kann man sich aufgrund der Tatsache, daß die Historia in der erhaltenen Form Romanen vom Typ der Ephesiaka Xenophons motivisch verwandt ist, gut vorstellen, daß das verlorene Original erotische Szenen wie die zweite des Fragmentes enthielt, die der christliche Epitomator dann gestrichen hätte; jedenfalls hat der gekürzte Text in Kap. 15–17 eine Gastmahlszene mit einem König – die Königin mußte vielleicht schon hier herausgenommen werden – aufzuweisen. Aber diese Gastmahlszene zeigt mit derjenigen des Fragments keinerlei Berührungen im Wortlaut. Man müßte also, wenn man den Roman, aus dem das Bruchstück stammt, als die verlorene Urfassung ansetzen wollte, davon ausgehen, daß der griechische Epitomator seine Vorlage nicht nur kürzte, sondern den Text auch neu formulierte. Derartige Überlegungen sind jedoch zu spekulativ, als daß es uns gestattet wäre, einem verlorenen Apollonios-Roman, der unter die idealisierenden Romane zu zählen wäre, den Text der Historia zuzuordnen und diese aus der Gruppe der „fringe novels“ herauszunehmen.
Definition der Gattung Wir haben damit das Ende der Übersicht über die „fringe novels“ erreicht. Es hat sich gezeigt, daß die einzelnen Vertreter dieser Gruppe mit den idealisierenden und komisch-realistischen Romanen motivisch und teilweise sogar strukturell verwandt sind. Würde man nun von dem neuzeitlichen Gattungsbegriff „Roman“ ausgehen, der bekanntlich ein denkbar breites Spektrum narrativer Prosa abdeckt, hätte man wohl keine Schwierigkeiten, alle diese Texte als Romane zu definieren. In der Antike dagegen dürfte es weder Leser noch Literaturtheoretiker gegeben haben, die auch nur auf den Gedanken gekommen wären, die Reiseerzählung des „Iambulos“, die Äsop-Vita, die Sammlung pseudepigrapher Hippokrates-Briefe, die Ephemeris des „Diktys von Kreta“, die Paulusakten und die Historia Apollonii regis Tyri zusammen mit Heliodors Aithiopika und Apuleius’ Goldenem Esel
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als Spielart ein und desselben literarischen Genos zu betrachten. Man sollte daher, wenn man vom „antiken Roman“ spricht, darunter nur die idealisierenden und die komisch-realistischen Romane verstehen. Denn sie allein bilden eine gattungstypologisch einigermaßen homogene Gruppe, welche die antike Literaturkritik, wenn sie sich zu einer Auseinandersetzung mit diesen Texten herbeigelassen hätte, vermutlich als einheitliches Genre anzuerkennen bereit gewesen wäre. Nur diese Texte wird also meine Einführung in den antiken Roman behandeln. Zuvor möchte ich seine wichtigsten Merkmale in einer Definition der Gattung zusammenfassen. Als „antiken Roman“ begreife ich eine frei erfundene längere Prosaerzählung, in der erotische Motive und eine Serie meist auf Reisen erlebter Abenteuer, bei denen sich bestimmte Typen unterscheiden lassen, das Geschehen beherrschen. Die Protagonisten beziehungsweise der Protagonist agieren in einer als real existierend dargestellten Welt, die, auch wenn das Geschehen in einer für Autor und Leser vergangenen Zeit spielt (was in mehreren Texten, aber nicht immer der Fall ist), im wesentlichen die Erfahrungswelt der frühkaiserzeitlichen Gesellschaft des Mittelmeerraumes widerspiegelt. Das Menschenbild entspricht entweder einer idealisierenden oder einer komisch-realistischen Sichtweise. Die einzelnen Vertreter der Gattung sollen im Rahmen einer Darstellung der chronologischen Entwicklung der Gattung vom 1. bis zum 3. Jahrhundert behandelt werden. Ich bin mir dessen bewußt, daß sowohl mein Versuch, die Romane in eine zeitliche Abfolge einzugliedern, als auch die Zuordnung der Texte zu den beiden Untergruppen, dem idealisierenden und dem komisch-realistischen Roman, keineswegs unproblematisch sind. Bei Untersuchungen zur Chronologie ist man fast ganz auf Wahrscheinlichkeitsüberlegungen, ja teilweise sogar auf Spekulationen angewiesen, und wissenschaftliche Arbeiten aus jüngster Zeit, insbesondere diejenigen zu den Papyrusfragmenten, haben ergeben, daß die Grenze zwischen den beiden Romantypen nicht so klar zu ziehen ist, wie Ben Edwin Perry, der die Begriffe erstmals in einer Monographie über den antiken Roman verwendete (The Ancient Romances: A Literary-Historical Account of Their Origins, 1967), noch annahm. Aber eine Einführung bedarf der übersichtlichen Gliederung eines Stoffgebietes, das vielen der Einzuführenden denkbar fremd sein dürfte. Und vor dem Papyrusfund, der jedes Datieren und Klassifizieren endgültig Lügen straft, müssen schließlich alle, die antike Texte zu erklären versuchen, gewaltige Angst haben.
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Die Entstehung der Gattung
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ie Texte, die im ersten Kapitel unter den Begriff des antiken Romans subsumiert wurden, erscheinen innerhalb des Gattungsspektrums der griechischen und römischen Literatur formal wie inhaltlich als etwas so Außergewöhnliches, daß sich die Frage nach der Entstehung dieser Gattung besonders eindringlich stellt. Es war daher durchaus legitim, daß Erwin Rohde, als er im Jahre 1876 mit seiner umfangreichen Monographie Der griechische Roman und seine Vorläufer die moderne Erforschung der Gattung in Gang setzte, den Schwerpunkt seiner Untersuchung auf das Ursprungsproblem legte. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem antiken Roman kam dann allerdings fast hundert Jahre lang über die Suche nach den Vorläufern kaum hinaus, und daran ist Rohde nicht ganz unschuldig. Gewiß, es war zu der Zeit, als sein Buch erschien, und noch weit bis ins 20.Jahrhundert hinein nahezu die Regel, daß Altertumswissenschaftler bei der Textinterpretation den Blick statt auf die zu untersuchenden literarischen Werke auf die dahinter verborgenen Quellen richteten. Aber im Falle des Romans hatte das Ignorieren der Texte, von denen alles Fragen nach ihren Vorläufern seinen Ausgang nahm, noch einen weiteren Grund: Rohde und die anderen Klassischen Philologen des späten 19.Jahrhunderts betrachteten die Prosaerzählungen vom Typ der Ephesiaka Xenophons von Ephesos als literarästhetisch nahezu wertlos, und diese Sichtweise prägte zusammen mit dem quellenpositivistischen Forschungsansatz bis vor etwa dreißig Jahren die wissenschaftlichen Bemühungen um die Gattung.
Herleitung aus anderen Gattungen Da man die idealisierenden Romane für trivial hielt – wegen ihrer motivischen Verwandtschaft mit Abenteuerfilmen und TV-Familienserien wird der nicht fachkundige moderne Leser diese Meinung zumindest
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auf den ersten Blick teilen –, hätte es sich eigentlich angeboten, vorrangig nach den soziokulturellen Voraussetzungen für die Entstehung der Gattung zu fragen. Aber damit begann man deshalb erst verhältnismäßig spät, weil sich das Fahnden nach Vorläufern und damit nach Gattungen, aus denen sich der idealisierende Roman entwickelt haben könnte, als extrem schwierig erwies. Es fehlte ein Text, in dem man mit Sicherheit den ersten Roman hätte sehen können, Angaben der Autoren zu ihrer Person, der literarischen Tradition und der Intention ihrer Werke gibt es so gut wie keine, und eine antike Gattungstheorie existiert, wie gesagt, überhaupt nicht. So fanden Rohde und seine unmittelbaren Nachfolger denn auch keine jedermann überzeugenden Lösungen. Aber das führte nicht zur Resignation, sondern zu um so emsigerem Weiterforschen, so daß immer wieder neue Entstehungshypothesen vorgelegt wurden. Kein Wunder also, daß die Prosaerzählung vom Typ der Ephesiaka nahezu aus allen Gattungen der griechischen Dichtung und Prosa, die irgendwie einen narrativen Charakter haben, hergeleitet wurde: aus dem Epos, aus hellenistischer Geschichtsschreibung, Novellistik, Reisefabulistik und Liebespoesie, aus dem Märchen und anderen als „volkstümlich“ geltenden Erzählformen, aus dem Drama – besonders der Komödie und dem Mimus – sowie den Deklamationsübungen der Rhetorenschule. Aber die Quellensuche beschränkte sich nicht auf die griechische Literatur, sondern weitete sich aus auf hellenistisch-orientalische Göttermythen und ägyptische Prosaerzählungen, ja ein Forscher, Graham Anderson, glaubt sogar, die Spuren der Gattungsentwicklung bis zu sumerischen Keilschrifttexten zurückverfolgen zu können (Ancient Fiction: The Novel in the GraecoRoman World, 1984). Von all den als möglichen Vorläufern in die Diskussion eingebrachten literarischen Gattungen weisen die meisten verwandten Elemente das frühgriechische Epos, die attische Neue Komödie des 4./3. Jahrhunderts v. Chr. und die hellenistische Geschichtsschreibung auf. Was die beiden poetischen Genres betrifft, verkörpert im Bereich des Epos die Odyssee geradezu die „Urform“ sowohl des idealisierenden als auch des komisch-realistischen Romans. Denn der Text erzählt einerseits von den größtenteils leidvollen Reiseabenteuern des Helden Odysseus und der Wiedervereinigung mit seiner Gattin Penelope zum happy ever after, andererseits von seinem listenreichen Vorgehen in Notlagen und seinen erotischen „Affären“ mit Kirke und Kalypso. Dieses Epos dürfen wir auf jeden Fall als Strukturmuster und Motivarsenal für den
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antiken Roman ansehen, und dasselbe gilt mutatis mutandis für die Komödie etwa eines Menander. Dort haben wir als Parallele im Bereich der Handlungsgliederung die Serie der Schwierigkeiten, die für einen jungen Mann aus gutem Hause zu überwinden sind, bis er das von ihm geliebte Mädchen endlich heiraten darf, und motivische Verwandtschaft zeigt sich z. B. darin, daß Familien, die aufgrund von Kriegen, Überfällen durch Piraten oder durch Schiffbruch auseinandergerissen wurden, wieder zusammenfinden. Man hat nun gesagt, daß der idealisierende Roman ein Prosaepos sei, in dem die fabulösen Abenteuer mythischer Helden, wie man sie der Adelsgesellschaft der archaischen Epoche erzählt hatte, durch realitätsnahe Reiseerlebnisse vornehmer Bürger der hellenistisch-kaiserzeitlichen Gesellschaft ersetzt seien. Dementsprechend bezeichnete man den Roman als Lesedrama, in dem die enge Bühne der Polis durch den großen Schauplatz des östlichen Mittelmeerraumes und folglich die szenische durch die narrative Vermittlung ersetzt sei. Der Roman sei als Transformation dieser zwei älteren Gattungen entstanden, und zwar deshalb, weil die Gesellschaft, in der das neue Genre rezipiert wurde, sich gegenüber den Epochen, in denen Epos und Komödie geblüht hatten, verändert und folglich zeitgemäßere Literatur verlangt habe. Dem steht jedoch entgegen, daß im 1.–3. Jahrhundert nicht nur weiterhin die Homerischen Epen und die Menandrischen Komödien sich großer Beliebtheit bei Lesern beziehungsweise Theaterbesuchern erfreuten, sondern auch das Verfassen und Rezipieren von Dichtungen beider Gattungen fortgesetzt wurde. Die Möglichkeit einer genetischen Entwicklung des Romans aus Epos und Komödie ist also nicht sehr wahrscheinlich; allein an strukturellen und motivischen Einfluß der beiden poetischen Genres auf die neue Prosagattung kann man denken. Aber wie sieht es mit der Historiographie aus? Bei einem Geschichtswerk handelt es sich wie bei fast allen Texten und Textbruchstücken, die dem idealisierenden Roman zugeordnet werden, um eine längere, meist in mehrere Bücher untergliederte Prosaerzählung, deren Verfasser im Präteritum und in der 3. Person, also aus auktorialer Perspektive, berichtet. Speziell mit der hellenistischen Historiographie, soweit sie Darstellungsmittel der Tragödie und der Rhetorik einsetzt, ist der idealisierende Roman so auffallend eng verwandt, daß es sich lohnt, die Ähnlichkeiten im einzelnen zu betrachten.
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Roman und Historiographie Wie bereits in anderem Zusammenhang erwähnt wurde, erwecken mehrere der vollständig beziehungsweise bruchstückhaft erhaltenen idealisierenden Romane durch Titel wie Ephesiaka, Phoinikika, Babyloniaka und Aithiopika den Eindruck, es seien Werke der ethnographisch-geographischen Geschichtsschreibung. Wenn die Handschrift der Ephesiaka als Verfasser einen Xenophon von Ephesos angibt, handelt es sich dabei vielleicht um das Pseudonym eines Mannes, der sich auch durch den von ihm angenommenen Namen, den des Verfassers sowohl des Geschichtswerkes Hellenika als auch der (vermutlich) ersten romanhaften Prosaerzählung, der Kyrupädie, als „echter“ Historiograph ausgeben möchte. Dafür spricht, daß die Suda, ein auf antike Quellen zurückgehendes byzantinisches Lexikon, bei einer Aufzählung von Liebesromanen neben den Ephesiaka des Xenophon von Ephesos die Babyloniaka eines Xenophon von Antiochia und die Kyprika eines Xenophon von Kypros nennt. In diesem Zusammenhang ist ferner bemerkenswert, daß mehrere idealisierende Romane mit einem Beglaubigungsapparat beginnen. Während Achilleus Tatios das von ihm erzählte Geschehen nur dadurch „authentisiert“, daß er behauptet, der Protagonist habe es ihm erzählt, und Longos sich lediglich auf die Darstellung seiner Geschichte auf einem Gemälde beruft, enthalten der Thule-Roman des Antonios Diogenes, Xenophons Ephesiaka, die Babyloniaka des Iamblichos und Fassung RB der motivisch mit den idealisierenden Romanen verwandten Historia Apollonii regis Tyri Verweise auf „real“ existierende mündliche beziehungsweise schriftliche Quellen für den Bericht. In der Gruppe der Romane, die man sich heute vor der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. entstanden denkt und die vielleicht die ältere von zwei Entwicklungsstufen der Gattung repräsentieren, finden sich mehrfach Personen der Handlung, die historisch bezeugt sind: der Assyrerkönig im Ninos-Roman, der Ägypterkönig im Sesonchosis-Roman, eine (hier Kallirhoë genannte) Tochter des syrakusanischen Strategen Hermokrates und der Perserkönig Artaxerxes II. (5./4. Jh. v. Chr.) in Charitons Kallirhoë, eine (hier Parthenope genannte) Tochter des athenischen Strategen Miltiades, der Chorlyriker Ibykos und der Philosoph Anaximenes (6./5. Jh.) im Parthenope-Roman sowie der Philosoph Pythagoras und der Tyrann Ainesidemos von Leontinoi (um 490 v. Chr.) bei Antonios Diogenes.
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Auch wenn solche Personen in den späteren Romanen nicht mehr auftreten, behält noch Heliodor in seinen Aithiopika, dem vermutlich jüngsten der erhaltenen Texte – die Handlung spielt im 6. Jahrhundert v. Chr. in dem von den Persern beherrschten Ägypten –, die Pose des Historikers bei. So schreibt er etwa von einzelnen Begebenheiten, er „glaube“ oder es „scheine“ ihm, daß sie sich „vielleicht“ so zugetragen hätten, oder er macht manchmal nur ungefähre Entfernungs- und Zeitangaben, ja nennt sogar alternative Möglichkeiten für den Verlauf einer Romanepisode, obwohl er so etwas als allwissender Autor nicht nötig hätte. Überhaupt begegnen uns in allen erhaltenen Texten auf Schritt und Tritt Darstellungsmittel der Historiographie wie ein Sprachgebrauch, der intertextuelle Bezüge zu berühmten griechischen Historikern wie Herodot, Thukydides und Xenophon herstellt, aus Geschichtswerken bekannte Motive und sogar länder- und völkerkundliche Exkurse. Schließlich werden sogar die Romane des Achilleus Tatios und des Longos, deren Handlung nicht explizit in eine vor der Zeit der Abfassung liegende Epoche verlegt ist, dadurch der Gegenwart des Lesers entrückt, daß die Römer, die Herren des gesamten Mittelmeerraums im 2. Jahrhundert, auf keinerlei Weise in Erscheinung treten, ja nicht einmal erwähnt sind. Es verwundert daher nicht, daß die Suda in dem gerade genannten Zusammenhang die drei Romanautoren mit Namen Xenophon als ;στορικο („Geschichtsschreiber“) bezeichnet. Und es verdient besondere Hervorhebung, daß Kaiser Julian in einem Brief aus dem Jahre 393, in dem er sich dazu äußert, was seine Priester lesen sollen und was nicht (89, 301 B), „fiktionale Erzählungen, die von Autoren früherer Zeiten in Gestalt eines Geschichtswerkes verbreitet wurden, Liebesgeschichten und alles derartige“ (ς ?μπροσ)εν $πηγγελμ9να πλ4σματα …, 7ρωτικς πο)9σεις κα3 π4ντα @πλAς τ τοια0τα), erwähnt (und als Lektüre ablehnt). Die zahlreichen Berührungen des idealisierenden Romans mit der Historiographie gaben schon Anfang des 20. Jahrhunderts Anlaß zu einer noch in jüngerer Zeit von einzelnen Gelehrten vertretenen Entstehungshypothese: Der Roman habe sich direkt aus der hellenistischen Geschichtsschreibung entwickelt, deren besonderes Kennzeichen es ist, daß die Autoren die Berichterstattung beliebig durch romanhafte Züge ausgeschmückt oder sogar durch erfundene Begebenheiten erweitert haben, um wie die Tragödiendichter beim Rezipienten Furcht und Mitleid zu erwecken. Zwar seien – so wurde
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immer wieder argumentiert – Zwischenstufen zwischen den Werken, die man noch als Historiographie bezeichnen kann, und den „historischen Romanen“ wie der Erzählung von König Ninos (dazu gleich mehr) nicht erhalten, aber das Nebeneinander von Historie und Fiktion in narrativen Texten wie dem „Alexander-Roman“ zeige deutlich, daß die Grenzen zwischen Faktum und Erfundenem in der Zeit, als die Gattung Roman entstand, fließend waren. Es gibt jedoch Belege für die Fähigkeit zur Unterscheidung von Realität und Fiktion, die den Prosaerzählern und den hellenistischen Historikern hier bestritten wird. Auf der einen Seite haben wir den (vermutlich schon in hellenistischer Zeit entstandenen) Erzähltyp des Augenzeugenberichtes über den Trojanischen Krieg, der, wie wir gesehen haben (S. 32f.), ein fiktionales Geschehen zur beglaubigten Historie umfunktioniert und durch dieses literarische Spiel mit Dichtung und Wahrheit sein Vermögen, zwischen beiden Bereichen zu differenzieren, implizit zu erkennen gibt. Auf der anderen Seite darf man davon ausgehen, daß die hellenistischen Alexander-Biographen, wenn sie die Vita des Königs anekdotisch ausschmückten, oder die römischen Annalisten bis hin zu Livius, wenn sie Sagen aus der Frühzeit Roms in ihren Jahr-für-JahrReport aufnahmen, die Berichterstattung gleichwohl als ernstzunehmende Geschichtsschreibung begriffen. Denn solche Historiker benutzten ihre fiktionalen Zutaten als ein Mittel, dunkel oder lückenhaft überlieferte Ereignisse dadurch, daß sie diese erzählten, wie sie sich abgespielt haben könnten, wenigstens für eine Sinndeutung der von ihnen behandelten Geschichtsepoche fruchtbar zu machen. Die idealisierenden Romane dagegen präsentieren sich, auch wenn sie den Anschein von Historizität erwecken, eindeutig als eine ausschließlich im Bereich der Fiktionalität angesiedelte Darstellung. Das gilt auch für zwei Texte, die, vermutlich zu den ältesten Vertretern der Gattung gehörend, Werken der hellenistischen Historiographie stofflich besonders nahestehen: die Erzählungen von Ninos und von Sesonchosis.
Der Ninos-Roman Die Bruchstücke des Ninos-Romans – der Titel könnte Babyloniaka oder Assyriaka gelautet haben – stammen aus zwei Papyrusrollen, von denen eine (P. Berol. 6926 + P. Gen. 85) nicht lange vor 100/101 n.Chr. mit dem Romantext beschrieben wurde. Überlieferungs- und sprach-
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geschichtliche Argumente aus jüngster Zeit lassen es als ziemlich sicher erscheinen, daß das Werk etwa in der Mitte des 1. Jahrhunderts, also nicht, wie man früher annahm, in hellenistischer Zeit verfaßt wurde. Die Reste der einen Papyrusrolle, die heute in Berlin und Genf aufbewahrt werden, bestehen aus drei Teilstücken, einem Fetzen mit nur zehn verstümmelten Zeilen (in Genf) und zwei überwiegend gut erhaltenen längeren Textpassagen (in Berlin), die durch eine größere Lücke getrennt sind und in den Ausgaben als Fragment A und B bezeichnet werden. Fragment C aus der anderen Rolle (heute in Florenz, PSI 1305) hat uns eine in der Romanhandlung vermutlich später als A und B anzusetzende Szene in einem kürzeren Textabschnitt bewahrt. Die Papyri geben keine eindeutigen Hinweise auf die Reihenfolge der Passagen A und B. Aber da B die in A erwähnte Hochzeit, die dort noch in Frage steht, offenbar als bereits erfolgt voraussetzt, besteht kein Anlaß, denjenigen Erklärern zu folgen, die A hinter B plazieren. Hauptpersonen der Handlung sind der siebzehnjährige assyrische Königssohn Ninos und seine vier Jahre jüngere Kusine, die er liebt und die wahrscheinlich wie in der historisch-legendären Überlieferung Semiramis hieß. Aus Text A erfahren wir, daß Ninos, der gerade zum ersten Mal allein einen Kriegszug unternommen hat, gleich nach seiner Heimkehr Semiramis zu heiraten begehrt, obwohl das Mädchen noch nicht fünfzehn Jahre alt und deshalb nach den Gesetzen des Landes noch nicht heiratsfähig ist. Das entnehmen wir einer an die Mutter des Mädchens gerichteten Bittrede des Ninos, deren wichtigste Argumente seine bisherigen Ruhmestaten und seine während der ganzen Zeit gewahrte Keuschheit sind, sowie einer Szene mit Semiramis und der Mutter des Ninos, in der das Mädchen vor lauter Verlegenheit und unter Tränen kein Wort herausbringt. Der erhaltene Text bricht mit dem Anfang eines Gesprächs der beiden Mütter ab. Text B setzt mit einem aufgrund von Textlücken schwer verständlichen Dialog ein, einer Auseinandersetzung zwischen Ninos und Semiramis, die wohl durch unbegründete Eifersucht des Mädchens ausgelöst wurde; sie endet jedenfalls mit einem Treueschwur. Kurz darauf zieht Ninos mit einem Heer seines Vaters, das der Autor des Romans mit griechischen Söldnern und Kriegselefanten ausgestattet hat, gegen die Armenier. Am Schluß des Fragments erfahren wir noch in einer ausführlichen Beschreibung von der Aufstellung der Soldaten zur Schlachtordnung und vernehmen den Anfang einer Rede des Prinzen. In Text C finden wir Ninos nach einem Schiffbruch an der Küste
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von Kolchis in großer Verzweiflung; die Textreste machen es denkbar, daß man seine Frau als Kriegsgefangene weggeschleppt hat. Daß der Prinz irgendwann im Laufe des Romans von Semiramis getrennt wurde, ergibt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit aus der Darstellung auf einem Mosaik, das man in einer in Daphne bei Antiochia am Orontes in Syrien ausgegrabenen Villa entdeckt hat. Es zeigt Ninos auf einem Bett liegend beim Betrachten des Porträts einer Frau (Abbildung in: T. Hägg, Eros und Tyche. Der Roman in der antiken Welt, 1987, S. 34). Die wichtigsten Elemente der möglicherweise zweiteiligen Handlung waren also – so darf man annehmen – Schilderungen der ersten militärischen Taten des späteren Assyrerkönigs, eine Art „Ninopädie“ (s. S. 27), und (vermutlich nach seiner Rückkehr zu Semiramis) der „eigentliche“ Roman, die Trennung des Paars und eine Serie von Abenteuern bis hin zur glücklichen Wiedervereinigung. Bei einem Vergleich des Romantextes mit dem mehr legendenhaften als historischen Bericht des Geschichtsschreibers Ktesias von Knidos (Anfang 4. Jahrhundert v. Chr.) über Ninos und Semiramis, der sich mit einiger Wahrscheinlichkeit aus Diodors Bibliotheca Historica (2.1–20) rekonstruieren läßt, ergeben sich außer dem lokalen Hintergrund und der Nennung von Kriegszügen keine Gemeinsamkeiten. Ninos erscheint bei Ktesias als der typische orientalische Herrscher, und Semiramis, die schon einmal verheiratet war und nach Ninos’ Tod ein ausschweifendes Leben als blutrünstige Alleinherrscherin führt, erinnert nicht im geringsten an das schüchterne Mädchen im Roman. Dort sind die Liebenden wie Griechen gezeichnet, ihre orientalische Umwelt weist griechisches Kolorit auf, und das Romangeschehen, in das der Autor einige für die Gattung typische Motive eingebracht hat, ist frei erfunden. Es gibt keinen Anhaltspunkt für die Annahme, diese fiktionale Erzählung, bei der es sich ja durchaus um den ältesten idealisierenden Roman handeln könnte, sei das Produkt von genetischer Transformation einer romanhaft ausgeschmückten historischen Darstellung.
Der Sesonchosis-Roman Inhaltlich verwandt mit der Erzählung von dem Assyrerprinzen war offensichtlich der Sesonchosis-Roman, dessen männlicher Protagonist ebenfalls der Sohn des Königs einer orientalischen Großmacht vergangener Zeiten war; sein historisches Vorbild Senwosret I. regierte im
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Ägypten der 12. Dynastie. Die drei erhaltenen Papyrusfragmente des Romans, A (P. Oxy. 1826), B (P. Oxy. 2466) und C (P. Oxy. 3319), stammen aus dem 3. und 4. Jahrhundert, aber der Text, der in einer nicht sehr anspruchsvollen Sprache verfaßt ist – lediglich in Fragment C erhebt sie sich auf ein etwas höheres Niveau –, könnte aus einer frühen Phase der Entwicklung des idealisierenden Romans, also aus dem 1. Jahrhundert stammen. In dem Text des Bruchstückes A, von dem sich kein einziger Satz vollständig rekonstruieren läßt, ist vermutlich von dem Vater des Sesonchosis und von der Ausbildung des heranwachsenden Prinzen speziell auf militärischem Gebiet die Rede. Das besser erhaltene Fragment B, in dem wir von einem ersten Sieg der Ägypter über die von einem Webelis angeführten Araber und ihren Vorkehrungen gegen weitere Angriffe der einstweilen Unterlegenen erfahren, bricht mitten in einem Satz ab, demzufolge Sesonchosis von einem Thaïmos über diese Ereignisse informiert wurde. Daraus sollte man eigentlich erschließen, daß der Prinz an dem Kriegszug nicht teilnahm, obwohl man im Vergleich mit dem Ninos-Roman eher annehmen möchte, Sesonchosis habe im Kampf gegen die Araber seine ersten militärischen Erfahrungen gesammelt. Der Text des vermutlich aus derselben Rolle wie Fragment B stammenden dritten Bruchstücks (C) setzt bereits die Rückkehr des Sesonchosis aus mehreren Kriegen, zugleich aber den Verlust seiner früheren Machtstellung in Ägypten voraus. Wir entnehmen einem Gespräch des Prinzen mit einem Pamounis, daß ihm vor diesen Kriegen die Hand einer Königstochter versprochen worden war, deren Vater er zu seinem Vasallen gemacht hatte, und daß er sich im Augenblick anscheinend inkognito in dessen Land aufhält. In einer weiteren Szene wird Sesonchosis von einem Mädchen namens Meameris erblickt, das, durch seine Schönheit betroffen – die für die Gattung typische Liebe auf den ersten Blick –, bei einem anschließenden Mahl nichts essen kann. Der Text endet, als sie sich jemandem, der neben ihr sitzt, offenbaren will. Die in der Forschung geäußerte Vermutung, diese Meameris sei die in dem Gespräch mit Pamounis erwähnte Verlobte des Prinzen, die vor dessen Kriegszügen noch zu jung war, um ihn jetzt wiedererkennen zu können, hat viel für sich. Trifft das zu, dann verursachte ein Versteckspiel des Sesonchosis, das gut zu einem Roman passen würde, vielleicht eine Reihe von Verwicklungen, die schließlich doch zur Hochzeit mit dem Mädchen und zur Rückeroberung der einstigen Macht führten.
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Ob eine weitere Rekonstruktion der Handlung mit Hilfe der Berichte über den Ägypterkönig bei Herodot und Diodor erlaubt ist, erscheint angesichts der Tatsache, daß Ninos-Roman und Ninos-Historie so auffallend wenig miteinander zu tun haben, eher fraglich. Immerhin haben die Überlegungen, die James O’Sullivan diesbezüglich anstellt (ZPE 56, 1984, 39 ff.), einiges für sich. Daraus ergäbe sich z. B., daß Sesonchosis während seiner Abwesenheit von seinem Bruder aus der Herrschaft über Ägypten verdrängt worden war und daß es sich bei dem Vasallen um den im Text von Fragment B auftretenden Araber Webelis handelte. Doch für die Liebesgeschichte und ihre mutmaßlichen Folgen findet sich in der historiographischen Parallelüberlieferung kein Vorbild. Dieser Teil der Handlung fügt sich mit den Abschnitten über die Erziehung des Prinzen und über seine Kriegsabenteuer nach der Verlobung – immer vorausgesetzt, daß die hier referierte Rekonstruktion einigermaßen richtig ist – zu einem Handlungsgerüst zusammen, das wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Aufbau des Ninos-Romans doch wohl nur dies vermuten läßt: Auch bei der Erzählung von dem Prinzen Sesonchosis handelte es sich um einen idealisierenden Roman mit einer frei erfundenen Handlung.
Der idealisierende Roman – ein profaner Erlösungsmythos? Die Betrachtung der beiden Texte dürfte deutlich gemacht haben, daß der idealisierende Roman, auch wenn er der hellenistischen Historiographie stofflich und darstellungstechnisch zweifellos ganz besonders eng verwandt ist, sich als Gattung sehr wahrscheinlich ebensowenig direkt aus der älteren Form der Prosaerzählung entwickelte wie aus dem Epos, der Komödie oder anderen literarischen Genres. Es war Ben Edwin Perry, der in seinem Buch The Ancient Romances: A LiteraryHistorical Account of Their Origins von 1967 erstmals die Frage stellte, ob denn für die Genese einer literarischen Gattung immer so etwas wie eine Neuentwicklung aus bereits vorhandenen Gattungen, die an evolutionäre Vorgänge in der Natur erinnert, notwendig sei. Angesichts der unbestrittenen Tatsache, daß sich in einer literarischen Gattung immer irgendwie der Zeitgeist einer Epoche widerspiegelt, war es für diesen Gelehrten besser vorstellbar, daß der idealisierende Roman seine Genese einer Idee verdankte, mit der ein origineller Kopf auf offenbar vorhandene, aber bisher nicht angemessen befriedigte Leser-
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bedürfnisse seiner Gegenwart reagierte. Perry formulierte diesen Gedanken in zwei mittlerweile berühmt gewordenen Sätzen so: „The first romance was deliberately planned and written by an individual author, its inventor. He conceived it on a Tuesday afternoon in July, or some other day or month of the year“ (S. 175). Und die Leserbedürfnisse, denen der geniale Anonymus Rechnung trug, ergaben sich für den Gelehrten aus dem Verlangen des hellenistischen und kaiserzeitlichen Griechen nach Kompensation privater Probleme durch eskapistische Träume von einer Wunschwelt. Falls Perry recht hatte, wäre der Roman vom Typ der Ephesiaka auch in diesem Punkt der „Traumfabrik“ des Fernsehfilms vergleichbar. Traf Perry mit seiner Entstehungshypothese das Richtige? Um es gleich zu sagen: Jüngste Untersuchungen zur soziokulturellen Lage des Griechentums in der Zeit der Entstehung der ersten idealisierenden Romane haben ergeben, daß dies sehr wahrscheinlich nicht der Fall ist. Aber da Perrys Theorie in der Forschung fast dreißig Jahre lang geradezu dogmatische Gültigkeit besaß – auch ich stimmte ihr in der 1. Auflage dieses Buches rückhaltlos zu –, sei kurz ausgeführt, wie er argumentierte. Zuvor jedoch möchte ich darauf hinweisen, daß wenige Jahre vor dem Erscheinen von Perrys Buch Reinhold Merkelbach eine These zur Entstehung des antiken Romans vortrug, die in eine ganz andere Richtung zu gehen scheint, in Wirklichkeit aber auf ähnlichen Überlegungen beruhte wie diejenige seines amerikanischen Kollegen. Merkelbach versuchte in seinem Buch Roman und Mysterium in der Antike von 1962 fast alle erhaltenen antiken Romane als liturgische Texte zu Mysterienritualen für Isis, Dionysos usw. zu deuten. Diese These wurde mehrfach so überzeugend widerlegt, daß eine nähere Auseinandersetzung damit sich hier erübrigt. Aber eines sei im Hinblick auf Perrys These festgehalten: Ebenso wie den in einen Mysterienkult Eingeweihten nach Bestehen der vorgeschriebenen Prüfungen noch auf Erden Geborgenheit unter dem Schutz seiner Gottheit, seelische Befreiung von seinen Nöten und Ängsten und nach dem Tode ewige Glückseligkeit erwarten, winken, wie wir am Beispiel der Ephesiaka Xenophons gesehen haben, den Romanhelden nach einer Kette gefährlicher Abenteuer das Happy-End und künftig unangefochtene Geborgenheit unter dem Schutz der Ehegemeinschaft. Diese literarische Fiktion kann ja, weil von ihr ein Identifikationsangebot ausgeht, wie die Mysterienreligionen Hoffnungen auf die Erlösung von Leiden und das Überwechseln in ein besseres Dasein wecken. Des-
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halb interpretierte Perry, gefolgt von dem ebenfalls sehr einflußreichen Romanforscher Bryan Reardon (Phoenix 23, 1969, 291 ff.), das Handlungsschema des idealisierenden Romans als einen profanen Erlösungsmythos. Und die Probleme, von denen der Leser der ersten Erzählungen vom Typ der Ephesiaka, der sich mit Romanhelden identifizierte, befreit zu werden wünschte, sahen die beiden Gelehrten in den politischen, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen für das Leben im griechischen Sprachraum in den ersten Jahrhunderten nach dem Tod Alexanders des Großen gegeben. Perry und Reardon gingen davon aus – und hier folgten sie Geschichtstheorien des 20.Jahrhunderts, die offenkundig von politischen Erfahrungen der eigenen Zeit geprägt waren –, daß die Errichtung der Diadochenmonarchien, durch welche die Polisgemeinschaft der klassischen Epoche Griechenlands ihrer politischen Bedeutung beraubt worden sei, einen Rückzug der bisher in den Stadtstaaten an der Regierungsverantwortung beteiligten Bürger ins Private und zugleich eine Vereinsamung des Individuums bewirkt habe. Dadurch, daß die neue Führungsmacht in der Regel vom einzelnen Bürger weit entfernt war, sei bei ihm eine gewisse Unsicherheit darüber entstanden, ob seine politischen und ökonomischen Interessen immer noch die von ihm gewünschte staatliche Unterstützung fanden; jedenfalls habe er sich von der im 3./2. Jahrhundert v. Chr. nicht abreißen wollenden Serie von Kriegen und der stetig steigenden Zahl von Räuber- und Piratenbanden in seinem privaten Glück ständig bedroht gesehen. Nach der Übernahme der Macht im griechischen Sprachraum durch die Römer sei der Vereinsamung des Individuums trotz des nunmehr beginnenden allgemeinen Friedens und der deutlichen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage kein Ende gesetzt worden. Denn nun seien dem einzelnen Bürger die Herren, die Politik machten, erst recht fremd gewesen, so daß für ihn noch mehr Anlaß bestanden habe, sich ins Private zurückzuziehen, dort Beschäftigungen nachzugehen, die Ersatz für die einst ganz selbstverständliche Ausübung von Ämtern im politischen Bereich boten, und so auch eskapistische Literatur zu lesen, die eine Traumwelt präsentierte und Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen weckte. Eine wichtige Voraussetzung für die Richtigkeit der Überlegungen Perrys zur Gattungsgenese wäre, daß die vermutlich ältesten der erhaltenen Romantexte bereits in hellenistischer Zeit entstanden, Charitons Kallirhoë im 1. Jahrhundert v. Chr. und der Ninos-Roman sogar schon
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im späten 2. Jahrhundert v. Chr. Neuere Untersuchungen, die sich vor allem auf die Sprachanalyse stützten, gelangten jedoch zu dem überzeugenden Ergebnis, daß beide Romane frühestens in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. verfaßt wurden. Der antike Roman ist, wie gleich näher auszuführen sein wird, sehr wahrscheinlich ein Produkt der in etwa von 50–250 anzusetzenden geistigen Epoche der Zweiten Sophistik, so daß auch nicht davon ausgegangen werden kann, daß Kallirhoë und Ninos-Roman hellenistische Vorläufer hatten, von denen sich nur zufällig keine Spuren erhalten haben. Doch wenn die ersten idealisierenden Romane nicht in der Zeit des Hellenismus geschrieben wurden, wie steht es dann mit den Lesern, die sich von dem „profanen Erlösungsmythos“ aus der eigenen Gegenwart in eine Wunschwelt entführen lassen wollten? Wenn es dieses Publikum während der Zeit der politischen Umwälzungen bis zum Beginn der Regierungszeit des ersten römischen Kaisers, des Prinzeps Augustus, noch nicht gab, formierte es sich dann unter seiner Herrschaft? Perry und diejenigen Gelehrten, die seiner Entstehungshypothese zustimmten, dachten sich als Leser von Texten, die im Vergleich mit der als klassisch geltenden griechischen Literatur eher trivial wirken, ein denkbar breites mittelständisches Publikum mit geringem geistigen Anspruch und desto größerem Bedürfnis nach einem profanen Erlösungsmythos. Es ist nun zu zeigen, daß speziell diese Art von Rezipienten des idealisierenden Romans weder im Hellenismus noch in der Kaiserzeit existiert haben dürfte.
Die antiken Romanleser Unser Wissen auf dem Gebiet der Lesersoziologie in der klassischen Antike ist denkbar gering. Aber man darf aufgrund jüngster Arbeiten zu diesem Thema davon ausgehen, daß höchstens 15% der Gesamtbevölkerung lesen und schreiben konnten und als Konsumenten von Literatur lediglich die Angehörigen der reichen und gebildeten Oberschicht in Frage kommen. Nur sie waren es auch, die sich die Anschaffung von Büchern, deren Herstellung sehr aufwendig und entsprechend teuer war, leisten konnten. Was speziell die erhaltenen Fragmente von Papyrusrollen betrifft, auf denen Romantexte stehen, unterscheiden sie sich in der Qualität und der Schrift in keiner Weise von den Resten der Rollen, auf denen Klassikertexte zu lesen sind. Allein schon aus diesem Befund ergibt sich: Es müssen dieselben Leute
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gewesen sein, die sich einen Chariton und einen Thukydides kauften. Und es war sicherlich gerade nicht ein breites Publikum, welches Romane las. Das darf man daraus schließen, daß der Anteil von Texten dieser Literaturgattung gegenüber den Texten der übrigen Dichtungsund Prosagattungen innerhalb der bisher entdeckten Papyrusfragmente auffallend gering ist. Nun weiß man, daß in der Antike die mündliche Verbreitung von Literatur eine weit größere Rolle spielte als das Lesen der Texte. Aber selbst wenn die relativ wenigen Besitzer von Romanausgaben andere Interessierte und darunter auch solche, die nicht zur Oberschicht gehörten, durch das Veranstalten von Rezitationen mit Texten wie Charitons Kallirhoë oder Heliodors Aithiopika bekannt machten, dürften die Illiteraten unter den Zuhörern wenig Gewinn davon gehabt haben. Denn die Texte sind in einer anspruchsvollen Literatursprache verfaßt und setzen inhaltlich, wenn man sich nicht auf das Rezipieren des äußeren Verlaufs einer Romanhandlung beschränken will, die Kenntnis von Literatur anderer Gattungen voraus, auf welche die Romanautoren intertextuell Bezug nehmen. Da es nicht die Aufgabe einer Einführung in die Welt des antiken Romans sein kann, den Stil der griechischen und lateinischen Originale sowie ihre ausgeklügelte Intertextualität ausgiebig zu beschreiben und dazu Beispiele anzuführen, beschränke ich mich im wesentlichen (einige Hinweise werden noch gegeben) auf eine kurze allgemeine Bemerkung zu diesen beiden Themen. Für die Epoche der Zweiten Sophistik ist es zum einen charakteristisch, daß die Produzenten von Prosaschriften die attische Literatursprache des 5./4. Jahrhunderts v.Chr., also die kunstvolle Diktion eines Platon und Demosthenes und der anderen „Klassiker“, in Wortwahl, Syntax und Stil nachahmten. „Attizismus“, wie man diese Art von sprachlich-stilistischer Norm nennt, kennzeichnet vor allem die jüngeren idealisierenden Romane des späten 2. und frühen 3. Jahrhunderts, aber in Ansätzen auch schon die älteren Texte des 1. und frühen 2. Jahrhunderts. Zum anderen demonstrieren die Prosaautoren der Zweiten Sophistik und unter ihnen die Verfasser von Romanen – dies gilt gleichfalls für die beiden römischen Schriftsteller Petron und Apuleius – ihre hohe literarische Bildung, die Paideia (griech. παιδεα zu παιδε ειν „erziehen“), durch explizites und implizites Evozieren von Werken der archaischen und klassischen griechischen Literatur von Homer an. Dabei kann an die Vertrautheit des Lesers mit den Texten in ihrer Gesamtheit, also mit ihrer Struktur und ihrer geistigen Aussage, oder mit einzelnen Text-
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abschnitten oder auch nur kurzen Textstellen appelliert werden, und diese Art von Intertextualität spielt wiederum in den späteren Romanen eine größere Rolle als in den frühen. Aber auch Autoren wie Chariton und Xenophon von Ephesos erwarten von ihren Lesern schon so viel Verständnis einer gehobenen Sprache und so viel literarische Bildung, daß man sich schwer vorstellen kann, sie hätten für ein anderes Publikum als die Oberschicht geschrieben. Der zu Beginn des ersten Kapitels gezogene Vergleich der antiken Romane mit TV-Familienserien erweist sich also nur im Bereich der Motivik, nicht jedoch in dem des geistigen Niveaus als berechtigt. Die wenigen aus der Antike überlieferten Hinweise auf Personen, die mit Sicherheit oder vermutlich griechische Romane lasen, bestätigen die aus Beschaffenheit und Anzahl der Papyrusfragmente und der impliziten Aussage der Texte gezogenen Folgerungen. Es ist möglich (wenn auch nicht sehr wahrscheinlich), daß schon Ovid mit der bekannten Erzählung von Pyramus und Thisbe in seinen auf etwa 8 n. Chr. zu datierenden Metamorphosen (4.55–166) parodistisch auf den idealisierenden Roman anspielt und daß Persius, der 34–62 lebte, Charitons Kallirhoë meint, wenn er Lesern, die höhere Literatur nicht zu schätzen wüßten, „vormittags ein Edikt des Prätors und nach dem Mittagessen Kallirhoë“ (mane edictum, post prandia Callirhoen) übergibt (1.134). Aber vermutlich dürfen wir für Petron, dessen Satyrica man allgemein in die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. datiert, die Bekanntschaft mit dem idealisierenden Roman voraussetzen, da es, wie wir sehen werden, gut denkbar ist, daß er diesen Gattungstyp in seinem komisch-realistischen Roman spielerisch abwandelte. Die drei Römer gehörten der Oberschicht ihres Staates an, und das gilt ebenso für den um 200 n. Chr. lebenden Schriftsteller Philostrat, der in seinem 66. Brief vermutlich Chariton attackiert, und insbesondere für Kaiser Julian, dessen Bemerkung über „Liebesgeschichten“ ich bereits zitiert habe (s. S. 44). Schließlich sind natürlich die übrigen griechischen und römischen Romanautoren zu nennen, die, wie sich aus ihrem anspruchsvollen Stil und ihrer Belesenheit ergibt, Familien angehört haben müssen, welche es sich leisten konnten, ihren Söhnen eine höhere Schulbildung zuteil werden zu lassen. Ist einmal festgestellt, daß idealisierende Romane frühestens in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. und von Anfang an für die Elite der Gesellschaft im griechischen Sprachraum verfaßt wurden, dann wird man fragen müssen, ob es auch unter dieser Voraussetzung
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denkbar wäre, daß die Leser der Prosaerzählungen vom Typ der Ephesiaka dem öffentlichen Leben entfremdete und sich vereinsamt fühlende Individuen waren. Darauf kann man spätestens seit dem Erscheinen von Simon Swains Buch Hellenism and Empire: Language, Classicism, and Power in the Greek World, AD 50–250 (1996) wohl nur noch eine negative Antwort geben. Die folgenden Ausführungen zum Verhältnis des idealisierenden Romans zu dem politischen Selbstverständnis, das die griechische Oberschicht in den ersten Jahrhunderten der römischen Kaiserzeit unter dem Einfluß der Zweiten Sophistik entwickelte, fußen im wesentlichen auf Swains Darstellung.
Idealisierender Roman und Zweite Sophistik Zunächst einmal ist davon auszugehen, daß die Angehörigen der griechischen Oberschicht nicht, wie die lange gültigen Theorien über die Ursachen für die Genese der Gattung Roman voraussetzten, mit der Errichtung der Flächenstaaten nach Alexanders des Großen Tod ihre bis dahin im Rahmen der Polisverwaltung ausgeübte politische Macht verloren. Noch unter der Römerherrschaft, und zwar insbesondere zu der Zeit, in der die aus der Antike überlieferten Romane entstanden, bekleidete die Elite Staatsämter und trug die Verantwortung für das Funktionieren kommunaler Institutionen. Freilich war man sich in der Oberschicht darüber im klaren, daß man die höchste Regierungsgewalt an die Herren aus dem Westen hatte abgeben müssen. Aber man konnte ihrer auf militärische Überlegenheit gegründeten Machtposition die eigene „Position der Stärke“ entgegenhalten: das Verfügen über ein großes Reservoir geistiger „Macht“, welches sich auf die ebenso umfangreiche wie hoch angesehene literarische Produktion des Griechentums in der klassischen Vergangenheit (5./4. Jahrhundert v. Chr.) gründete. Dieses kulturelle Erbe gegenüber den Römern zu vertreten mußte ein wichtiges Anliegen für die in einer Polis führenden Männer sein, da sie sich nur auf solche Weise so etwas wie eine übergreifende politische Identität schaffen konnten. Dazu mußten sie nicht nur von vornehmer Abstammung und wohlhabend sein, sondern auch über Paideia, also über eine solide Vertrautheit mit den Errungenschaften der hellenischen Kultur, verfügen. Um diese Vertrautheit zu erlangen, ließen sie sich von den Vertretern der sogenannten Zweiten Sophistik unterweisen, die ganz im Sinne des Zeitgeistes be-
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wußt an die Tradition einer geistigen Bewegung des klassischen Griechenlands, der „ersten“ Sophistik, anknüpften. Bei ihnen handelte es sich um Rhetoren, die über denkbar breite geistes- und naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügten und diese als Schulleiter, Fest- und Wanderredner vermittelten. Soweit sie literarisch tätig waren – hier sind als bekannteste Schriftsteller Plutarch, Dion von Prusa, Aelius Aristides, Lukian und Philostrat zu nennen –, schöpften sie primär aus dem Motivarsenal der archaischen und klassischen griechischen Dichtung und Prosa und sorgten so dafür, daß die geistige Macht eines Homer, Sophokles oder Thukydides stets gegenwärtig blieb. Diese gezielte Reproduktion von Griechenlands großer Vergangenheit findet im idealisierenden Roman ihre Entsprechung in der attizistischen Sprache, der Intertextualität und vor allem in der (bereits S. 43 f. näher betrachteten) historischen Einkleidung der Handlung mehrerer Texte, deren Protagonisten Griechen sind, beziehungsweise in dem Ausklammern der römischen Staatsmacht aus den Erzählungen, die nicht ausdrücklich fingieren, sie enthielten Ereignisse früherer Zeiten. Griechentum wird aber nicht nur als bedeutendes historisches Phänomen evoziert und glorifiziert, sondern auch im Kontrast zu jeder Art von Barbarentum. So dürfte es sich unter anderem erklären, daß die Bedrohung des im Zentrum der idealisierenden Romane stehenden Liebespaars durch Angehörige fremder Völker, insbesondere Räuber und Piraten, eine besonders wichtige Rolle in der Erzählstruktur spielt. Da der bedrohte Grieche und seine Partnerin sich stets aus jeglicher Notlage zu befreien wissen, bekommt der Leser spannend und anschaulich zugleich demonstriert, wie Griechentum sich überall in der Fremde behauptet. Dieses Prinzip ist durchaus auch im NinosRoman erkennbar, obwohl dort die Liebenden selbst Barbaren sind. Denn der unbekannte Verfasser des Romans hat, wie wir sahen, seine Darstellung der assyrischen Kultur so stark griechisch eingefärbt, daß die zeitgenössischen Leser sich mit Ninos und Semiramis, die gegenüber der historischen Tradition auffallend „zivilisiert“ erscheinen, ohne weiteres identifizieren konnten, und für den Sesonchosis-Roman dürfte Entsprechendes gegolten haben. Vielleicht war das Muster in beiden Fällen Xenophons Kyrupädie (s. S. 26f.) mit ihrer Porträtierung eines „edlen Barbaren“ als eines Staatsmannes, der auch und gerade für die Oberschicht der griechischen Polis – sie sprach der Autor ja an – vorbildlich sein sollte. Bezeichnenderweise ist das Ambiente aller Manifestationen von
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Barbarei und Gefahr in den idealisierenden Romanen stets das Land, das so wiederum in Kontrast zur Polis als dem wichtigsten Ort der Repräsentation hellenischer Kultur gesetzt wird. Die Stadt kann aber nur dann ein unerschütterliches Symbol des Griechentums sein, wenn die vornehmen und wohlhabenden Familien Sorge dafür tragen, daß ihre Kinder diejenigen anderer vornehmer und wohlhabender Familien heiraten, sich ihrerseits fortpflanzen und so die Kontinuität ihrer Machtposition sicherstellen. Zur Unterstützung und Bewahrung dieses Prinzips tragen in den Romanen die aus besten Verhältnissen stammenden Liebenden im Zentrum des Geschehens auf geradezu spektakuläre Weise bei, indem sie sich zu Beginn der Handlung ewige Treue schwören, diese einander auf ihrer abenteuerlichen Reise auch in Not und Gefahr eisern halten und so schließlich ermöglichen, daß sie am Ende der Reise ein von nun an nicht mehr gefährdetes Dasein als Verheiratete führen. Die Ehe und damit auch die Familie als ein wichtiges Fundament der Polisgemeinschaft stellt offensichtlich ein durch die idealisierenden Romane mindestens implizit vertretenes Ideal dar, und dieses paßt gut zu einer literarischen Gattung, deren erster Nährboden, wie jüngste Untersuchungen glaubhaft zeigen konnten, vermutlich Westkleinasien mit seiner in der Kaiserzeit besonders ausgeprägten Stadtkultur war. Es ist gewiß kein Zufall, daß Chariton und Xenophon, die Verfasser der beiden ältesten erhaltenen idealisierenden Romane, wie fragwürdig auch immer die Authentizität ihrer Namen und der mit ihnen verbundenen Herkunftsorte sein mag, durch die Textüberlieferung in Zusammenhang mit den Städten Aphrodisias und Ephesos gebracht werden. Die Romane vom Typ der Ephesiaka erzählen also keinen Erlösungsmythos, sondern den Mythos von der Selbstbehauptung des auf eine große kulturelle Vergangenheit gestützten Griechentums in einer feindlichen Welt. Mag sein, daß auch dieser Mythos eskapistische Züge trägt. Aber der „griechische Traum“, wie er sich jetzt als Thema des idealisierenden Romans präsentiert, ist ein Produkt dessen, was man heute Nationalstolz nennen würde, nicht ein Produkt der Angst. Perry, der sich mit seiner Theorie der Gattungsgenese offenbar auf der falschen Spur befand, hatte dennoch sicherlich recht mit seiner Zurückweisung der „biologischen“ zugunsten einer soziokulturellen Erklärungsmethode. Vielleicht gab es sogar seinen inventor der Gattung, jenen genialen Anonymus, der an einem Dienstagnachmittag im Juli oder an einem anderen Tag in einem anderen Monat zur Feder griff.
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War es so, dann schrieb er den ersten europäischen Roman jedenfalls nicht in der hellenistischen Epoche, sondern zu einer Zeit, als der siebte Monat auch wirklich schon seinen an Julius Cäsar erinnernden Namen trug. Es paßt eigentlich ganz gut, daß das Wort Rom in dem modernen Gattungsbegriff steckt.
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ine literarhistorische Betrachtung der erhaltenen antiken Romane und Romanfragmente sieht sich mit dem Problem konfrontiert, daß die Datierung der Texte sehr unsicher ist. Aus folgenden Überlegungen heraus habe ich dennoch versucht, die Entwicklungsgeschichte der Gattung wenigstens in groben Zügen nachzuzeichnen: Für die kleine Gruppe der vollständig (beziehungsweise in einem Falle als Epitome) überlieferten Texte darf als sicher gelten, daß die Romane Charitons und Xenophons in der ersten Hälfte der Epoche der Zweiten Sophistik, also ungefähr zwischen 50 und 150, und die Romane des Achilleus Tatios, Longos und Heliodor in der zweiten Hälfte dieser Epoche – vermutlich zwischen 150 und 250 – verfaßt wurden. Verhältnismäßig früh – vielleicht schon zu Beginn der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts, wenn die Datierung von Petrons Satyrica auf etwa 65 n. Chr. zutrifft – dürfte der Gattungstyp des komisch-realistischen Romans entstanden sein, und zwar ging er möglicherweise aus spielerischer Auseinandersetzung mit dem idealisierenden Roman hervor. Es bietet sich also an, drei Gruppen zu bilden und diese in je einem Kapitel zu behandeln: zunächst Kallirhoë und Ephesiaka zusammen mit den fragmentarisch überlieferten Texten, die man zeitlich und/ oder thematisch in ihre Nähe gerückt hat, dann die komisch-realistischen Romane und schließlich die drei jüngeren idealisierenden Romane wieder zusammen mit den ihnen zeitlich und/oder thematisch nahestehenden Romanbruchstücken. Diese von Achilleus, Longos und Heliodor beherrschte Gruppe habe ich deswegen hinter die der komisch-realistischen Romane gestellt, weil die drei jüngeren idealisierenden Romane zumindest stellenweise sehr deutlich mit den Gattungskonventionen spielen und somit Elemente beider Erzähltypen miteinander vereinen.
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Chariton, Kallirhoë Der höchstwahrscheinlich älteste unter den vollständig erhaltenen antiken Romanen, Charitons Kallirhoë, ist zwar nur in einer einzigen mittelalterlichen Handschrift überliefert (Cod. Laur. Conv. Soppr. 627 in Florenz), aber Reste von drei zwischen 150 und 250 beschriebenen Papyrusrollen (P. Fayûm. 1; P. Oxy. 1019 und 2948; P. Michael. 1) und einem Pergamentpalimpsest aus dem 6. oder 7. Jahrhundert (Cod. Theb.) belegen, daß der Text bis in die Spätantike gelesen wurde. Über den Autor wissen wir nur das wenige, was er uns selbst sagt. Er bezeichnet sich als Sekretär eines Rhetors und nennt als seinen Herkunftsort Aphrodisias im südwestlichen Kleinasien. Der Kult der Aphrodite in dieser Stadt war offenbar mit dem Venus-Kult des julisch-claudischen Kaiserhauses verbunden und garantierte so entsprechend gute Verbindungen zwischen der Oberschicht der Polis und Rom. Chariton schreibt Koine-Griechisch, verwendet aber bereits Attizismen, so daß diejenigen recht haben dürften, welche seinen Roman in die Mitte des 1. Jahrhunderts n.Chr. oder etwas früher datieren; die bereits erwähnte Bemerkung des Persius (s. S. 54) gäbe eine Bestätigung, falls er Charitons Kallirhoë meint. Daß der Titel des Romans nur aus diesem Namen bestand und nicht, wie der Codex Florentinus angibt, „Die Liebesgeschichte von Chaireas und Kallirhoë“ lautete, darf man aus dem Schlußsatz des Autors folgern: Τοσ4δε περ3 Καλλιρης συν9γραψα („So viel habe ich über Kallirhoë niedergeschrieben“). Denkbar wäre freilich auch der pseudohistorische Titel „Sikelika“, da die Handlung im Syrakus des ausgehenden 5. Jahrhunderts v.Chr. beginnt und endet. Wie bei Xenophon von Ephesos heiraten die beiden Liebenden bereits zu Beginn des Romans und werden nicht lange nach der Hochzeit getrennt. Aber die Abenteuer, die Chaireas und Kallirhoë bis zu ihrer Wiedervereinigung jeweils erleben, bekommen wir nicht wie in den Ephesiaka in einander rasch abwechselnden Kurzepisoden erzählt, sondern in größeren Handlungsblöcken, die identisch sind mit Buchpaaren des insgesamt acht Bücher umfassenden Romans. In Buch 1 und 2 steht das Geschehen um Kallirhoë im Vordergrund, im zweiten Buchpaar dominieren die Leiden des Chaireas, in Buch 5 und 6 befinden sich beide, wenn man sie auch immer noch voneinander getrennt hält, am selben Ort, und im letzten Buchpaar liegt der Schwerpunkt wieder auf den Erlebnissen des Chaireas. Daß diese symmetrische und
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entsprechend leserfreundliche Handlungsgliederung vom Autor intendiert ist, erkennt man auch daran, daß er am Beginn von Buch 5 und damit auch der zweiten Werkhälfte kurz das bisher erzählte Geschehen zusammengefaßt hat. Am Anfang des letzten Buches findet sich sogar eine Liste der wichtigsten Erzählmotive des Romans (8.1.4): νομζω δ κα3 τ8 τελευτα>ον το0το σ γγραμμα το>ς $ναγιν2σκουσιν Dδιστον γεν&σεσ)αιE κα)4ρσιον γ4ρ 7στι τAν 7ν το>ς πρ2τοις σκυ)ρωπAν. οGκ9τι λHηστεα κα3 δουλεα κα3 δκη κα3 μ4χη κα3 $ποκαρτ9ρησις κα3 πλεμος κα3 Jλωσις, $λλ ?ρωτες δκαιοι 7ν τοLτω νμιμοι γ4μοι. Ich glaube aber, daß gerade dieses letzte Buch für die Leser sehr erfreulich sein wird; denn es befreit von den betrüblichen Dingen der früheren Bücher: Darin gibt es keinen Raub mehr, keinen Sklavendienst, keinen Prozeß, keinen Kampf, keinen Gedanken an Selbstmord, keinen Krieg und keine Gefangenschaft, sondern rechtmäßige Liebe und gesetzliche Ehe. Es ist ganz deutlich, daß der Erzähler implizit das Ethos der griechischen Oberschicht propagiert, das ich im letzten Kapitel behandelt habe. Die „gesetzliche Ehe“, ein wichtiges Fundament der Polisgemeinschaft, erscheint als Emblem einer selbstbewußten hellenischen Kultur, die sich betont von einer außerhalb ihres Herrschaftsbereiches drohenden Welt der Barbarei, des Unrechts und der Gewalt absetzt. Chaireas verliert seine Frau, die Tochter des Strategen Hermokrates, dadurch, daß er ihr, von den zurückgewiesenen Freiern aufgehetzt, einen derben Fußtritt versetzt. Sie fällt in Ohnmacht, wird als Scheintote in einem Gewölbe beigesetzt, durch Grabräuber von Syrakus nach Milet gebracht und dort als Sklavin an Dionysios, den vornehmsten Bürger der Stadt, verkauft, der sich sofort in sie verliebt und sie heiraten möchte. Da Kallirhoë von Chaireas schwanger ist, willigt sie aus Rücksicht auf den künftigen sozialen Status ihres Kindes in die Ehe ein. Aber diese Verzweiflungstat – im Motivarsenal der erhaltenen Romane findet sich dazu keine Parallele – rettet sie, die jeder beim ersten Anblick für Aphrodite hält, nicht vor weiteren Nachstellungen. Nachdem Chaireas bald darauf bei der Suche nach seiner Frau von dem Anführer der Grabräuber ihr weiteres Schicksal erfahren hat, ihr nach Milet gefolgt und im benachbarten Karien als Sklave in die Gewalt des
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persischen Satrapen Mithridates geraten ist, versucht der längst in Kallirhoë verliebte Perser in der Hoffnung, sie am Ende für sich selbst zu gewinnen, Chaireas zu helfen. Dionysios, der Mithridates daraufhin als Rivalen verdächtigt, beschwert sich bei Pharnakes, dem Satrapen von Lydien und Ionien. Aber da auch dieser Mann Kallirhoë liebt und die Sache dem Großkönig meldet, werden Dionysios und Mithridates am Ende der ersten Hälfte des Romans an den Hof nach Babylon zitiert, damit sie sich dort vor Gericht verantworten. Natürlich ahnt man aufgrund der eher beiläufigen Bemerkung des Erzählers, König Artaxerxes wolle außerdem die wegen ihrer Schönheit berühmte Kallirhoë kennenlernen, wer ihr nächster Verehrer sein wird. Der nun folgende, den zweiten Teil des Romans eröffnende Prozeß, welcher als Höhepunkt des Geschehens mit allen Mitteln dramatischer Darstellungskunst geschildert wird und in dem von Mithridates inszenierten überraschenden Auftritt des von Kallirhoë und Dionysios mittlerweile für tot gehaltenen Chaireas gipfelt, führt zu keiner Entscheidung darüber, zu wem die junge Frau künftig gehören soll. Denn Artaxerxes behält sich seinen Schiedsspruch für einen späteren Termin vor und benutzt die dadurch gewonnene Zeit dafür, Kallirhoë durch einen Vertrauten seine Liebe erklären zu lassen. Seine Werbungen unterbricht jedoch ein Aufstand der von Persien abhängigen Ägypter, der eine gänzlich neue Situation schafft: Chaireas, der bisher wenig Aktivität gezeigt hat, erhält eine Gelegenheit, sich an Artaxerxes für dessen Verhalten zu rächen, indem er auf der Seite der Ägypter als Feldherr kämpft. Obwohl auch sein Rivale Dionysios im Dienste des Perserkönigs großartige Kampftaten vollbringt und dadurch zur Niederschlagung des Aufstandes erheblich beiträgt, gelingt es Chaireas, zunächst die Stadt Tyros und dann die Insel Arados zu erobern, wohin Artaxerxes Kallirhoë zusammen mit den Frauen seines Harems geschickt hat. Wir greifen mit dieser immerhin das gesamte siebte Buch umfassenden, ein wenig unvorbereitet in das Geschehen eingebauten Beschreibung des Liebhabers als eines Kriegshelden ein innerhalb der jüngeren idealisierenden Romane nur noch in den Babyloniaka des Iamblichos sicher nachzuweisendes Motiv. Letztendlich auf Xenophons Kyrupädie zurückgehend und hier durch die Wahl des Schauplatzes an den „Alexander-Roman“ erinnernd, dürfte es, wie sein Vorkommen in Ninos- und Sesonchosis-Roman und Kallirhoë vermuten läßt, in den älteren Texten insgesamt eine wichtige Rolle gespielt haben. Das achte Buch enthält dann, gewissermaßen als
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Kontrast, ein wie in einer Komödie inszeniertes Verwechslungsspiel mit anschließender gegenseitiger Wiedererkennung der Liebenden, die nun endlich nach Syrakus zurückkehren und dort ihr restliches Leben in ungetrübtem Eheglück verbringen können. An Charitons Erzähltechnik fällt neben der Klarheit des Handlungsaufbaus besonders die Dramatisierung weiter Teile des Romangeschehens auf. Man hat errechnet, daß etwa 90% der Handlung in Form von bühnenartigen Szenen präsentiert werden, wovon rund die Hälfte aus direkter Rede besteht, und nur 10% als reiner Faktenbericht. Dadurch, daß der Erzähler die agierenden Personen so häufig selbst zu Wort kommen läßt – nicht selten in langen Monologen –, setzt er das äußere Geschehen teilweise in seelische Vorgänge um und gewinnt zugleich die Möglichkeit, die Grenzen, welche die Gattungstradition der Entfaltung seiner Psychologisierungskunst steckt, immer wieder zu überschreiten. Besonders bei den Nebenfiguren – z. B. dem Räuberanführer Theron – glückten ihm einige Charakterbilder mit individuellem Profil. Rohdes abfällige Äußerungen über die schriftstellerische Leistung Charitons, die lange nachwirkten, darf man daher – das konnte eine Reihe von Interpretationen aus jüngster Zeit eindeutig zeigen – als verfehlt betrachten. Dies gilt ebenso für die Beurteilung des offenbar am Vorbild Xenophons von Athen geschulten Stils der Kallirhoë, dessen schlichter Sachlichkeit man mit Attributen wie „farblos“ nicht gerecht wird. Xenophon und andere Klassiker der griechischen Historiographie sind überhaupt in dem Roman Charitons durch intertextuelle Bezüge präsent. Das beginnt gleich mit dem ersten Satz, der deutlich an den ersten Satz des Thukydides erinnert: Χαρτων *Αφροδισιε ς, *Α)ηναγρου το0 P&τορος πογραφε ς, π4)ος 7ρωτικ8ν 7ν Συρακο σαις γενμενον διηγ&σομαι. Ich, Chariton von Aphrodisias, Sekretär des Rhetors Athenagoras, will eine Liebesgeschichte erzählen, die sich in Syrakus zugetragen hat. Θουκυδδης *Α)ηνα>ος ξυν9γραψε τ8ν πλεμον τAν Πελοποννησων κα3 *Α)ηναων … Thukydides von Athen hat den Krieg der Peloponnesier und Athener aufgezeichnet …
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Man hat die Handlungszusammenfassungen bei Chariton mit den kurzen Rückblicken zu Beginn der Bücher 2–5 von Xenophons Anabasis verglichen, die uns die Handschriften überliefern. Ferner wurde darauf hingewiesen, daß in ähnlicher Weise, wie der Romanautor eine in Syrakus spielende Liebesgeschichte ankündigt, ihren Schauplatz aber schon am Ende des ersten Buches von Sizilien nach Kleinasien verlegt, die Titel von Anabasis und Kyrupädie sich jeweils nur auf das erste Buch des Werkes beziehen. Eine der Anspielungen auf die Anabasis scheint mir besonders feinsinnig: Der bei Xenophon am Anfang geschilderte Marsch der Zehntausend gegen Artaxerxes II. findet in der Reise der rivalisierenden Liebhaber der Kallirhoë an den Hof desselben Perserkönigs seine pikante Entsprechung. Insgesamt spielt Intertextualität bei Chariton freilich noch keine so große Rolle wie in den jüngeren idealisierenden Romanen. Offenbar verfügte dieser Autor nicht in so hohem Maße über die von Vertretern der Zweiten Sophistik erwartete Paideia, wie wir es in späteren Texten etwa bei Apuleius oder bei Heliodor finden. So sind denn auch die sich durch sein ganzes Werk hindurchziehenden Bezüge auf Homer nicht von der ausgeklügelten Subtilität wie bei den genannten Romanschriftstellern. Geradezu betulich wirkt es – zumindest auf den ersten Blick –, wenn der Erzähler der Kallirhoë gelegentlich einen oder mehrere Verse aus der Ilias oder der Odyssee, die zur gerade vorliegenden Situation passen, in seinen Prosatext einlegt. Entweder er läßt eine der handelnden Personen eine direkte Rede mit den Worten Homers fortsetzen beziehungsweise bekräftigen; z. B. beendet Chaireas, als er dem Ägypterkönig erklärt, er wolle für ihn kämpfen, das, was er sagt, mit diesen Worten (7.2.4): „Sδη γρ 7τε)ν&κειν ς συμφορα>ς, ζA δ λοιπ8ν ε1ς μνον τ8 λυπ,σαι τ8ν 7χ)ρν. ΜT μν $σπουδ γε κα3 $κλειAς $πολομην, $λλ μ9γα P9ξας τι κα3 7σσομ9νοισι πυ)9σ)αι.“ „Ich wäre schon längst tot, gemessen an dem vielen Unglück, das ich durchgemacht habe, in Zukunft will ich aber nur noch leben, um meinem Feind zu schaden. Wahrlich, nicht ohne Mühe und ruhmlos will ich zugrund gehn, Sondern Großes vollbringend, wovon auch die Spätren erfahren.“
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Oder der Erzähler läßt seinen eigenen Bericht in ein Verszitat übergehen, etwa am Ende der Szene, in der die Liebenden nach ihrer Wiedervereinigung einander schildern, was sie seit der Trennung erlebt haben (8.1.17): 7πε3 δ Jλις Uν δακρ ων κα3 διηγημ4των, περιπλακ9ντες $λλ&λοις $σπ4σιοι λ9κτροιο παλαιο0 )εσμ8ν Vκοντο. Als es aber genug war der Tränen und des Erzählens, da umfingen sie einander, und freudig kamen sie dann zu der Stätte des Lagers wie einstmals. Man hat gesagt, Chariton habe die Homerzitate deswegen in seinen Roman eingelegt, weil er die junge und von den Lesern noch nicht als vollwertig anerkannte Literaturgattung durch den Rekurs auf den großen epischen Erzähler „salonfähig“ machen wollte. Aber woher wissen wir, daß der Roman einer Legitimation gegenüber seinem Publikum überhaupt bedurfte? Wenn die verwandte neuzeitliche Gattung im 17./18. Jahrhundert gewisse Schwierigkeiten zu überwinden hatte, um sich zu etablieren, muß das nicht für den idealisierenden Roman des 1. Jahrhunderts gelten. Es liegt näher, daran zu denken, daß Chariton seine insgesamt eher pathetische Liebesgeschichte ein wenig durch Situationskomik auflockern wollte. Denn es ist schon amüsant, wenn der bis zu der eben zitierten Stelle ziemlich passive Chaireas sich plötzlich der Worte bedient, die Hektor vor seinem letzten Zweikampf, dem mit Achilleus, spricht (Ilias 22.304 f.). Und an der zweiten Stelle, wo der Erzähler die Liebesvereinigung von Chaireas und Kallirhoë unmittelbar vor dem fade-out mit derjenigen von Odysseus und Penelope gleichsetzt (Odyssee 23.296), mag der Leser sich schmunzelnd vor Augen führen, daß die Frau des heroischen Dulders (der Chaireas gewiß nicht ist) während der Abwesenheit ihres Mannes einer ganzen Truppe von Freiern widersteht, während Kallirhoë – aus welch edlen Gründen auch immer – nach der Trennung von Chaireas gleich ihren ersten Verehrer heiratet. Da durchaus möglich scheint, daß Charitons Roman nicht der allererste Vertreter des neuen Erzähltyps war, müssen wir damit rechnen, daß sich in der Kallirhoë schon zaghafte Ansätze zum Spiel mit der Gattung finden.
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Romane um Parthenope, Chione und Kalligone Hatte Chariton, soweit er für seinen Stoff historisches Material verwendete, auf Thukydides und Xenophon zurückgegriffen, so bezog der Verfasser des Parthenope-Romans wichtige Anregungen von Herodot. Er holte sich aus dessen Geschichtswerk Metiochos, den Sohn des athenischen Strategen Miltiades, als jugendlichen Liebhaber und den Tyrannen Polykrates von Samos als Vater für seine weibliche Hauptfigur Parthenope. Zwei nicht allzusehr beschädigte Textkolumnen auf Papyrusbruchstücken des 2. Jahrhunderts n. Chr., die heute in Berlin aufbewahrt werden (P. Berol. 7927 + 9588 + 21179), enthalten die Schilderung einer Gelageszene am Hof des Polykrates zu Beginn des Romans. Diese Szene setzt die erste Begegnung des sich als Gast bei dem Herrscher aufhaltenden Metiochos mit Parthenope voraus, bei der sie sich auf den ersten Blick ineinander verliebt haben. Offensichtlich ohne Kenntnis davon erklärt Polykrates am Anfang des erhaltenen Textes, er könne sich Metiochos als seinen Schwiegersohn vorstellen, und eröffnet dann den Umtrunk und eine Diskussion über das Wesen des Eros unter dem Vorsitz des Philosophen Anaximenes (der vielleicht in dem Textfragment P. Erl. 7 spricht). In dem nach dem Vorbild des Platonischen Symposion konzipierten Redewettstreit kommt als erster Metiochos zu Wort, der aus rationalistischer Sicht Zweifel an der Existenz des göttlichen Knaben und seiner Waffen äußert und dies damit belegt, daß er die Leiden der Liebe noch nicht kenne und auch nicht kennenlernen wolle. Mit dem Anfang einer zornigen Erwiderung der Parthenope, die an dem herkömmlichen Mythos festhalten möchte, bricht der Text ab. Wir wissen aber, wie die Handlung an dieser Stelle weiterging. Denn die Gastmahlszene findet sich auch in einer persischen Bearbeitung des Parthenope-Romans, dem fragmentarisch erhaltenen Versroman V¯amiq u ‘Adhr¯a („Wamik und Asra“) des im 11. Jahrhundert lebenden Dichters Abu’l-Q¯asim ‘Unsur¯ı. Diesem Text ˙ zufolge besang anschließend der Chorlyriker Ibykos zur Lyra die Schönheit der Parthenope und des Metiochos, und als unmittelbar darauf jemand sich nach der Herkunft der Lyra erkundigte, erzählte Metiochos den Mythos von der Erfindung des Instrumentes durch den Gott Hermes. Verstreute antike Notizen über die Handlung des verlorenen Romans sowie Reste eines verzweifelten Briefes des von Parthenope getrennten Metiochos an die Geliebte auf einem Ostrakon (O. Bodl.
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2175) machen es wahrscheinlich, daß die beiden irgendwann im Laufe der Romanhandlung auseinandergerissen wurden und daß es Parthenope auf der Suche nach Metiochos in ferne Länder wie Unteritalien und Persien verschlug, wobei ihre Keuschheit ständig bedroht war; aus der Darstellung dieser Irrfahrt stammt vielleicht das kurze Fragment P. Oxy. 435. Tomas Hägg, der den eben genannten persischen Versroman für eine Rekonstruktion des Parthenope-Romans auswertete, konnte weiteres Material für sein Puzzle aus der in einem Fragment sowie in arabischer Übersetzung überlieferten koptischen Märtyrerlegende von der heiligen Parthenope gewinnen, die vermutlich auf ein spätantikes griechisches Original zurückgeht. Seine Kombinationen erscheinen plausibel. Denn zwei von ihm erschlossene Szenen – eine gewaltsame Entführung der Parthenope im Auftrag des Perserkönigs und ein listig inszenierter Scheintod, durch den sie sich seinen Nachstellungen entzieht – sind, wenn wir Charitons Kallirhoë und andere griechische Romane zum Vergleich heranziehen, gut vorstellbar. Schließlich ist auf zwei Mosaike, die Metiochos und Parthenope zeigen, zu verweisen (Abbildungen in: Hägg, Eros und Tyche, 1987, S. 35–37 und Hägg/Utas, The Virgin and Her Lover, 2003, Fig. 2). Das eine von beiden – es wurde wie das bereits erwähnte Ninos-Mosaik in einer Villa in Daphne bei Antiochia in Syrien entdeckt – könnte, da der junge Mann darauf militärische Kleidung trägt, eine Szene vom Ende des Romans mit der Wiedervereinigung der beiden Liebenden nach der Rückkehr des Metiochos von einem Feldzug festhalten. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Parthenope-Roman und Charitons Kallirhoë sowohl in einzelnen Motiven als auch im Sprachgebrauch läßt es denkbar erscheinen, daß Chariton beide Romane verfaßte. Außerdem macht ihn die Tatsache, daß sich stilistisch und thematisch Verwandtes in den Fragmenten eines Chione-Romans sowie in zwei Berliner Bruchstücken einer Papyrusrolle des 2. oder 3. Jahrhunderts (P. Berol. 10535 + 21234) findet, zum potentiellen Autor mehr als eines Romans. Für seine Verfasserschaft könnte im Falle des Chione-Romans auch sprechen, daß die Fragmente aus demselben Pergamentpalimpsest des 6. oder 7. Jahrhunderts stammen, in dem man Bruchstücke der Kallirhoë entdeckt hat (Cod. Theb.). Leider ist der sechs Blätter umfassende Text – vier Blätter mit Resten aus Buch 8 der Kallirhoë und zwei Blätter vom Anfang des Chione-Romans – nicht einmal mehr vollständig erhalten. Der Kodex verbrannte nach seiner Überführung von Ägypten nach Deutschland im Hafen von
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Hamburg, und wir besitzen nur die Textteile, die der Entdecker der Handschrift, Ulrich Wilcken, unter anderem während einer nächtlichen Bootsfahrt auf dem Nil beim Schein einer flackernden Lampe entziffern konnte. Von dem Text des Chione-Romans, der überdies entstellt war, weil man ihn für die Abschrift einer koptischen Predigt weggeschabt hatte, haben wir noch drei Kolumnen. Entsprechend lückenhaft ist das Bild, das dieser Text von der Handlung zu Beginn des Chione-Romans vermittelt. Immerhin darf man es für wahrscheinlich halten, daß auch dieser Roman einen pseudohistorischen Hintergrund hatte. In der ersten Kolumne geht es entweder um eine Königsherrschaft (βασιλεα) oder eine Königin (βασλεια). Wenn die zweite Lesart stimmt, dann spricht viel für eine von Nicoletta Marini geäußerte Vermutung (Athenaeum 80, 1993, 587ff.): Die Königin könnte eine ähnliche Rolle wie die Frau des Königs Artaxerxes II. in Charitons Kallirhoë gespielt haben. Chione, wahrscheinlich die Protagonistin des Romans, geriet vielleicht dadurch in Schwierigkeiten, daß sie einen anderen Mann liebte als den für sie bestimmten Bräutigam. Denn die dritte Kolumne zeigt sie offenbar im Gespräch mit dem Mann ihrer Wahl, dem sie für den Fall, daß es keine Rettung aus ihrer Lage gibt, die Bereitschaft zum Selbstmord andeutet. Anscheinend begann bald darauf die übliche Serie von Abenteuern des Paars bis zur glücklichen Wiedervereinigung. Ein Versuch Michael Gronewalds, die eben genannten Berliner Bruchstücke, über deren Inhalt sich wenig sagen läßt, mit dem Chione-Roman in Verbindung zu bringen (ZPE 35, 1979, 15 ff.), führte zu keinem überzeugenden Ergebnis. Historisches Kolorit dürfte schließlich auch der Kalligone-Roman gehabt haben, aus dem zwei Fragmente einer kalligraphisch beschriebenen Papyrusrolle des 2. Jahrhunderts (PSI 981) und zwei bruchstückhafte Kolumnen eines Papyrus des 3. Jahrhunderts (P. Oxy. ined. 112/130) erhalten sind. Die Szene in der älteren Handschrift spielt vermutlich im Balkanraum während eines Krieges der Sarmaten gegen die Skythen. Hier wird uns erzählt, wie Kalligone – doch wohl die Heldin des Romans – sich im Zelt eines gewissen Eubiotos mit einem Dolch umbringen will und den Mann beschimpft, weil er sie daran hindert. Die Ursache für ihre Verzweiflung könnte, da sie unter Tränen den Tag verflucht, „an dem sie Eraseinos auf der Jagd gesehen hatte“ (7ν H W τ8ν *Ερασε>νον εYδεν 7ν τH, )&ρα), die Trennung von dem Mann, den sie liebt, oder die Annahme sein, daß dieser nicht mehr
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lebt. Der Text bricht ab, als sie gerade erklärt hat, sie sei keine Amazone und keine Themisto, sondern Griechin, und dann dem Eubiotos droht, ihn zu erwürgen. Aus dem jüngeren Papyrusfragment erfahren wir, daß Kalligone mit einem Schiff an einer „amazonischen Küste“ gestrandet ist. Als Gefangene vor die Amazonenkönigin Themisto geführt, stellt sie sich ihr vor und erwähnt in diesem Zusammenhang die milesische Kolonie Borysthenes, das griechische Olbia. Hellenentum wurde offenbar wieder einmal mit einer besonders exotischen fremden Welt konfrontiert. Auch der Kalligone-Roman ist in einem Griechisch verfaßt, das zeitliche Nähe des Werkes zu der Kallirhoë anzeigt. Nimmt man die in diesem Kapitel bisher besprochenen Texte mit den im letzten Kapitel behandelten Romanen um Ninos und Sesonchosis zusammen – auch diese beiden Texte gehören ja aufgrund ihrer Sprache offenkundig in die Frühzeit des idealisierenden Romans –, erhält man eine stattliche Reihe von Werken der Erzählprosa des 1. Jahrhunderts n.Chr., die vermutlich alle als Vorläufer des neuzeitlichen historischen Romans anzusehen sind. Die drei im folgenden zu behandelnden Romane, Xenophons Ephesiaka, die Phoinikika des Lollianos und der Thule-Roman des Antonios Diogenes, deren Entstehungszeit ebenfalls nicht allzuweit von derjenigen der Kallirhoë abliegen dürfte, lassen erkennen, daß schon in der ersten Phase der Entwicklung des idealisierenden Romans die Gattung eine bemerkenswerte Variationsbreite aufwies.
Xenophon von Ephesos, Ephesiaka Die Ephesiaka („Ephesische Geschichten“) des Xenophon von Ephesos in fünf Büchern, deren Inhalt ich bereits zu Beginn des ersten Kapitels ausführlich referiert habe, gehören vielleicht einer etwas späteren Entwicklungsphase des idealisierenden Romans an als Charitons Kallirhoë. Denn Xenophon häuft unbekümmert Abenteuer auf Abenteuer, übertrifft somit die Episoden bei Chariton durch seine vergleichbaren Episoden an Zahl bei weitem, und daraus könnte man auf eine routinierte Selbstverständlichkeit schließen, mit der ein Romanautor sich mittlerweile der traditionellen Gattungselemente bedient. Es wird im allgemeinen davon ausgegangen, daß die Ephesiaka frühestens am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. entstanden, da das Amt eines ε1ρην4ρχης („Friedensrichter“), auf das in 2.13.3 und 3.9.5 ver-
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mutlich angespielt wird, erst für die Regierungszeit des Kaisers Trajan (98–117) belegt werden kann. Man wird mit der Datierung freilich auch nicht über 150 hinausgehen, weil ein Vergleich mit dem in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts entstandenen Roman des Achilleus Tatios es wahrscheinlich macht, daß Xenophon der ältere Autor ist. Bereits im letzten Kapitel wies ich darauf hin, daß es denkbar wäre, in dem Namen des Verfassers der Ephesiaka ein Pseudonym zu sehen, das seine Verehrung für Xenophon von Athen als eine Art „Archegeten“ der Gattung zum Ausdruck bringen soll (S. 43). Seine sonst nur noch durch die Suda belegte Herkunft aus Ephesos könnte ebenfalls fingiert sein. Xenophons Angaben über die Stadt sind nicht die eines Ortskenners, und deshalb ist gleichfalls gegenüber der Behauptung des byzantinischen Lexikons, der Romanautor habe auch ein Buch „Über die Stadt der Epheser“ und weitere Werke geschrieben, Skepsis angezeigt. Laut Suda umfaßte der Roman nun auch nicht fünf, sondern zehn Bücher, und diese Angabe zählt zu einer ganzen Reihe von Argumenten, die man immer wieder dafür vorgebracht hat, daß es sich bei dem uns vorliegenden Text der Ephesiaka, den wir nur in einer einzigen mittelalterlichen Handschrift besitzen (Cod. Laur. Conv. Soppr. 627 in Florenz), um eine Epitome handelt. Die wichtigsten Indizien dafür liefern die häufig fehlende Motivierung für eine bestimmte Handlungsentwicklung – z. B. wird in 4.4 mit keinem Wort erklärt, warum Habrokomas seine Suche nach Anthia plötzlich von Ägypten nach Italien verlegt – und die rasche Abfolge der Ereignisse. Der Erzähler nennt sie meist nur als reine Fakten, ja berichtet über sie geradezu protokollarisch, oder wie Erwin Rohde es formuliert hat: „Er hat überall Eile, er reisst uns, wie ein mürrischer Galleriediener, mit geschäftsmässiger Hast von einem Bilde zu dem andern, so dass uns kaum irgendwo die so flüchtig vorüberhuschenden Gestalten recht deutlich werden“ (Der griechische Roman und seine Vorläufer, 1876, S. 402). Untersuchungen des Textes, die zu dem Ergebnis kamen, daß er gekürzt ist, überzeugen mehr als solche, die den überlieferten Roman für die Originalversion halten. Da die Ereignisse bis zur Trennung des Ehepaars in der Mitte des zweiten Buches und dann wieder die Szenen im fünften Buch, in dem es zur Wiedervereinigung mehrerer Personen der Handlung kommt, ausführlicher dargestellt sind, kann man davon ausgehen, daß nur der Bericht über die Reiseabenteuer auf eine Aufzählung der wichtigsten Fakten reduziert wurde. Doch auch diejenigen Partien der Ephesiaka, die nicht im Verdacht stehen, gekürzt zu sein, verraten das
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Bestreben des Erzählers, Ereignisse nicht wirklich zu schildern oder gar auszumalen, sondern wie ein Chronist aneinanderzureihen. Denn Xenophon macht sich im Gegensatz zu Chariton nicht die Mühe, die Charaktere seiner Figuren individuell zu zeichnen, sondern läßt sie lediglich als Funktionsträger agieren; bei den Nebenpersonen ist das besonders auffällig. Xenophons Sprache, die nur einen leichten Anstrich von Attizismus aufweist, ist arm an Ausdrucksmitteln und schmucklos, ja syntaktisch geradezu primitiv. Besonders charakteristisch für die Diktion dieses Romanautors sind stereotype Formulierungen und monotone Überleitungsfloskeln. Ihre Häufigkeit veranlaßte James O’Sullivan dazu, den Nachweis zu versuchen, der uns vorliegende Romantext stehe mit seiner Formelsprache in einer volkstümlichen, mündlichen Erzähltradition, sei also nicht das Ergebnis einer Kürzung und müsse wegen seiner schlichten Darstellungsweise sogar als der älteste der überlieferten griechischen Romane angesehen werden (Xenophon of Ephesus: His Compositional Technique and the Birth of the Novel, 1995). Diese These wurde in der Forschung mit großem Interesse aufgenommen sowie rege und kontrovers diskutiert. Mir scheinen diejenigen, die sich ablehnend äußerten, die besseren Argumente zu haben; mit Recht hat man z. B. gesagt, gerade die stereotypen Floskeln sprächen dafür, daß eine Epitome vorliegt, da sie sich zum Raffen der Erzählung gut eigneten. Daß nicht Xenophons Ephesiaka die Reihe der erhaltenen idealisierenden Romane anführt, sondern Charitons Kallirhoë, wurde schon mehrfach aus einem Vergleich der beiden Autoren erschlossen. Xenophon sucht Chariton offensichtlich nicht nur in der Zahl der Abenteuer zu übertrumpfen, sondern auch darin, daß er Szenen seines Werks, die mit Szenen in der Kallirhoë motivisch verwandt sind, melodramatische und sensationelle, ja groteske Züge verleiht. Bei beiden Autoren findet sich z. B. eine Szene, in der die für tot gehaltene Protagonistin in eine Grabkammer eingeschlossen ist. Während nun Kallirhoë ganz einfach um Hilfe ruft und ihr Schicksal beweint, will Anthia, die sich ja vergiften wollte, aber, ohne es zu wissen, nur ein Schlafmittel einnahm, jetzt den Hungertod sterben. Dies allein schon ist stark überzeichnetes Pathos, und noch deutlicher zeigt sich das, wenn man ihre Worte an die Räuber, die das Grab aufbrechen, mit Kallirhoës Worten in der analogen Situation vergleicht. Diese spricht beim Anblick Therons, der mit vorgehaltenem Schwert in die Gruft eindringt, folgende Bitte aus (1.9.5):
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„7λ9ησον, σαν π8 $νδρ8ς οGδ γον9ωνE μT $ποκτενHης Zν σ9σωκας.“ „Habe Mitleid, wer immer du bist, mit einer Frau, die kein Mitleid fand bei Mann und Eltern. Töte nicht die, die du gerettet hast!“ Anthia dagegen sagt, als die Grabräuber sie mitnehmen wollen (3.8.4): „[νδρες, οVτιν9ς πτ* 7στε … τ8ν μν κσμον το0τον Jπαντα ν $ν4κειμαι )εο>ς, Ερωτι κα3 Θαν4τωE το τοις 74σατε σχολ4σαι με. να3 πρ8ς τAν )εAν αGτAν τAν πατρ2ων μAν, μ& με \μ9ρα δεξητε, τTν ξια νυκτ8ς κα3 σκτους δυστυχο0σαν.“ „Männer, wer immer ihr seid, … nehmt und tragt fort diesen ganzen Schmuck, wie kostbar er auch ist, und alles, was mit mir ins Grab gelegt wurde, aber verschont mich. Zwei Göttern bin ich geweiht, Eros und Thanatos [Tod]. Ihnen laßt mich dienen. Bei euren heimischen Göttern, zeigt mich nicht dem Tageslicht, mich, die ich erlitten habe, was in Nacht und Finsternis gehört.“ Es grenzt an Parodie, wenn Xenophon diese Frau darum bitten läßt, sie nicht aus der Grabkammer zu holen. Wie Chariton dürfte auch er zumindest ansatzweise mit der Gattungstradition gespielt haben. Hätten wir den Originaltext, würden wir das vielleicht deutlicher sehen. Das Bemühen Xenophons um quantitative und qualitative Erweiterung des traditionellen Motivarsenals äußert sich auch darin, daß er den Göttern einen ungewöhnlich hohen Anteil am Geschehen zuweist. Chariton hatte im wesentlichen die Schicksalsgöttin Tyche walten und darüber hinaus Aphrodite die aus dem Epos überkommene Rolle der zürnenden Gottheit zugewiesen. Dieses Motiv verwendete vermutlich auch der Autor des Parthenope-Romans. Denn daraus, daß Metiochos eine Rede gegen die Macht des Eros hält, und daraus, daß in der koptischen Legende von der heiligen Parthenope der Teufel Einfluß auf das Geschehen ausübt, darf man schließen, daß der Zorn des Liebesgottes als Mittel zum Vorantreiben der Handlung eingesetzt war. Auch Xenophon läßt Eros zürnen und die Liebenden mit seiner Rache verfolgen,
Lollianos, Phoinikika
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aber davon ist im erhaltenen Text schon am Anfang des zweiten Buches zum letzten Mal die Rede. Gleichgültig ob dieser Gott in der Originalfassung nochmals auftauchte oder nicht, jedenfalls wirken, je nachdem, wo Habrokomas und Anthia sich jeweils gerade aufhalten, mehrere andere Götter auf das Geschehen ein. Unter ihnen zeichnen sich besonders Helios und Isis durch ihre Hilfeleistungen aus. Mag sein, daß dies für tiefe Religiosität des Autors spricht, aber der aufwendige Einsatz eines Götterapparates dürfte auch einem erzählstrategischen Zweck dienen. Der Mythos vom griechischen Menschen, der, aus der Geborgenheit der Polis gerissen, in eine Serie von lebensbedrohenden Abenteuern gerät und dennoch wohlbehalten an den Sitz der jahrhundertealten Kultur, die ihn geprägt hat, zurückkehrt, erhält dadurch, daß die Götter an der Inszenierung des Geschehens beteiligt sind, höhere Weihe.
Lollianos, Phoinikika Aufgrund eines aufregenden Papyrusfundes, der vor rund 35 Jahren gelang, wissen wir jetzt, daß in der frühen Kaiserzeit nicht nur der Typ des „historischen Romans“, den für uns allein Charitons Kallirhoë als vollständiger Text repräsentiert, mehrfach vertreten war. Die Phoinikika („Phönizische Geschichten“) des Lollianos belegen, daß es auch neben Xenophons Ephesiaka mindestens einen weiteren Roman gab, in dem möglichst sensationelle und spannende Abenteuer aneinandergereiht waren, kein allzu großer Wert auf eine individuelle Personencharakterisierung gelegt und in einem stilistisch anspruchslosen Griechisch mit nicht sehr umfangreichem Wortschatz und einfachem Satzbau erzählt wurde. Von den Phoinikika sind uns Reste eines Papyruskodex der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts (P. Colon. 3328) und ein in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts auf die Rückseite einer Urkundenrolle geschriebenes Textstück (P. Oxy. 1368) erhalten. Der Roman dürfte also wie die Ephesiaka in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts entstanden sein. Zur Frage nach der Identität des Autors ist grundsätzlich zu bemerken, daß wir den römischen Namen Lollianus für diese Zeit häufig belegt finden. Der in der Mitte des 2. Jahrhunderts in Athen als Professor der Rhetorik wirkende Sophist P. Hordeonius Lollianus muß es also nicht gewesen sein; die einfache Sprache des Textes macht die Zuweisung an ihn eher unwahrscheinlich. Freilich ist unsere Kenntnis der Phoinikika viel zu lückenhaft, als daß wir
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in der Autorfrage eine endgültige Entscheidung für oder gegen den Rhetor treffen könnten. Von den insgesamt 46 Fragmenten des Kölner Papyrus verraten das meiste über den Inhalt des Romans zwei kurze Textpassagen vom Ende des ersten Buches und zwei längere Abschnitte, mit denen ein späteres Buch (die Buchzahl läßt sich nicht feststellen) schließt und das darauffolgende beginnt. Im letzten Fragment des ersten Buches lesen wir den Bericht eines jungen Mannes über seine erste Liebesnacht; er verbrachte sie mit einer Frau namens Persis. Das Thema und die unverhüllte Form der Darstellung rücken diese und die übrigen Szenen der Phoinikika, die uns erhalten sind, in die Nähe des komisch-realistischen Romans. Man hat in der Tat bei Lollianos an mehreren Stellen Motivverwandtschaft mit Petrons Satyrica, PseudoLukians Lukios oder Der Esel und den Metamorphosen des Apuleius festgestellt. Da jedoch nirgendwo in unseren Fragmenten etwas von offener Komik oder Satire zu verspüren ist, besteht kein Anlaß, die Phoinikika gleichfalls unter die komisch-realistischen Romane zu rechnen. Ebenso wirkungsvoll wie das erste sehen wir auch das andere uns erhaltene Buchende gestaltet. Bis in alle Einzelheiten wird hier geschildert, wie in Gegenwart eines gewissen Androtimos – wohl des Protagonisten – Räuber einen Knaben schlachten, von dessen gebratenem und in zwei Hälften zerschnittenem Herzen kosten und beim Blut des Herzens einen Eid schwören, daß sie ihren Anführer (?) niemals verlassen und ihn weder in Gefängnishaft noch unter Folterqualen verraten wollen. Zu Beginn des nächsten Buches lesen wir die Beschreibung eines auf den Knabenmord folgenden orgiastischen Gelages, bei dem Erbrochenes und das ungenierte Rülpsen und Furzen der Räuber den Ekel des Androtimos erregen. Schließlich schlafen sie sogar vor seinen Augen mit ihren Frauen. Um Mitternacht werden irgendwelche Leichen entkleidet, durchs Fenster nach draußen gebracht und einen Felsabhang hinuntergeworfen. Die Räuber verlassen dann den Raum, nachdem die einen weiße Gewänder angezogen und ihre Gesichter mit Bleiweiß gefärbt haben, damit man sie nicht erkennen kann, die anderen schwarze Kleidung angelegt und sich die Gesichter mit Asche eingerieben haben. Am Ende des Textbruchstücks erfahren wir noch, daß Androtimos als gut bewachter Gefangener zurückbleibt, und lesen ohne erkennbaren Zusammenhang die Worte χρυσοχου 7ργαστ&ριον („Werkstatt eines Goldschmieds“) .
Antonios Diogenes
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Albert Henrichs, der Erstherausgeber der Kölner Fragmente, hielt den Teil der Erzählung, der von der Ermordung des Knaben bis zur Vermummung der Räuber reicht, für einen originalgetreuen Bericht über den Verlauf der Einweihungszeremonien des Dionysos-ZagreusMysterienkultes und sah somit die Deutung der meisten antiken Romane als Mysterientexte durch Reinhold Merkelbach (s. S. 50) bestätigt. Andere Forscher haben jedoch den Text mit Szenen bei Xenophon von Ephesos und Achilleus Tatios verglichen, in denen Räuber Ritualmorde planen oder vollziehen, und sie konnten wahrscheinlich machen, daß wir es hier wie dort mit einer Variante des für die Gattung typischen Scheintod-Motivs zu tun haben. Mit guten Gründen wurde vermutet, daß es sich bei dem Knaben, der in Wirklichkeit also gar nicht geopfert wird, um den Geliebten des Androtimos oder eher noch um seine als Knabe verkleidete Geliebte handelte. Ebenso fand man für die seltsame Vermummung der Räuber eine plausible „profane“ Erklärung. Eine auffallend ähnliche Szene in den Metamorphosen des Apuleius (4.22) legt den Gedanken nahe, daß die Räuber sich ganz einfach als schwarze und weiße Gespenster zurechtmachten, um bei ihrem nächsten Raubüberfall (auf die rätselhafte Goldschmiedewerkstatt?) unerkannt zu bleiben und gleichzeitig ihre Opfer oder deren potentielle Helfer zu erschrecken. Daher darf man annehmen, daß auch die Gruselszene, die wir in dem Fragment aus Oxyrhynchos lesen, sich irgendwann als Hokuspokus herausstellte oder dem Leser schon von vornherein als solcher durchschaubar war. In diesem Text erscheint einem gewissen Glauketes, der auch in den Fragmenten des ersten Buches eine Rolle spielt, während eines nächtlichen Ritts der Geist eines ermordeten jungen Mannes und bittet ihn, seinen Leichnam und den eines gleichfalls ermordeten schönen Mädchens, die unter einer Platane lägen, etwas abseits vom Wege zu bestatten. Als Glauketes jedoch nur erschrocken nickt, verschwindet die Erscheinung.
Antonios Diogenes, Die Wunderdinge jenseits von Thule Es hätte sich angeboten, von den Phoinikika des Lollianos direkt zu den komisch-realistischen Romanen überzugehen. Aber aus zwei Gründen bespreche ich zuvor noch Τ πρ Θο λην πιστα („Die Wunderdinge jenseits von Thule“) des Antonios Diogenes. Zunächst
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einmal ist der Text vermutlich vor der Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden, gehört also zeitlich in die Nähe der bisher in diesem Kapitel besprochenen Romane. Außerdem handelte es sich bei dem ThuleRoman, den wir nur aus einer Inhaltsangabe und wenigen Papyrusbruchstücken kennen, vielleicht um eine Art Mischform aus idealisierendem und komisch-realistischem Roman. Denn den Erzählungen vom Typ der Ephesiaka glich dieser Text darin, daß ein junges Paar – in diesem Falle waren es allerdings Geschwister – Reiseabenteuer erlebte. Und die Tatsache, daß der Autor des Thule-Romans sich selbst (vermutlich im Proöm) als „Dichter der Alten Komödie“ bezeichnete und damit doch wohl in die Tradition des Aristophanes und der anderen Vertreter dieser Gattung stellte, läßt an thematische Verwandtschaft mit Romanen vom Typ des in gewisser Weise „aristophanischen“ Lukios oder Der Esel Pseudo-Lukians denken. Komisch könnten z. B. die Passagen des Thule-Romans gewesen sein, in denen von utopischen Reisestationen die Rede war; vielleicht ähnelte der Text hier Lukians Wahren Geschichten. Der Verlust dieses einzigartigen literarischen Werkes ist vermutlich der bedauerlichste auf dem Gebiet der uns nicht direkt überlieferten Texte der griechischen Erzählliteratur. Deshalb darf man es als einen besonderen Glücksfall ansehen, daß wir außer drei kürzeren Textfragmenten eine Inhaltsangabe des im 9. Jahrhundert lebenden byzantinischen Patriarchen Photios besitzen (cod. 166). Auf dieses Referat kann man sich freilich nicht allzusehr verlassen. Denn der Vergleich der erhaltenen Aithiopika Heliodors mit der Zusammenfassung, die der Patriarch von der Handlung dieses Romans gegeben hat (cod. 73), zeigt, daß, wenn wir darauf angewiesen wären, die Aithiopika anhand der Angaben des Photios zu rekonstruieren, unser Bild vom tatsächlichen Inhalt erheblich abweichen würde. Über den Autor des Thule-Romans können wir nicht mehr sagen, als der römische Bestandteil seines Namens verrät. Danach nahm er aus irgendwelchen Gründen den Gentilnamen der Antonii an. Da dieser in Verbindung mit Diogenes einzig in Aphrodisias inschriftlich bezeugt ist, ergibt sich die Möglichkeit, daß unser Antonios aus demselben geistigen Umfeld wie Chariton kam. Sollte der Faustinus, an den er das Proöm richtete, mit dem reichen Freund Martials (z. B. in Epigramm 1.25) identisch sein, dann wäre der Thule-Roman schon um 100 n. Chr. entstanden. Der Terminus ante quem, den die erhaltenen Papyri (PSI 1177; P. Oxy. 3012; P. Gen. 187 [?]) setzen, liegt allerdings erst bei etwa 200 n.Chr.
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Die allein schon im Referat des Photios kaum zu überblickende Fülle der Einzelepisoden des wie die Homerischen Epen über 24 Bücher verteilten Romangeschehens erlaubt mir hier keine allzu genaue Wiedergabe des Inhalts, geschweige denn eine Besprechung der erhaltenen Textstücke. Die komplizierte Verschachtelungstechnik des Aufbaus erschwert es zusätzlich, auf engem Raum einen einigermaßen befriedigenden Gesamteindruck zu vermitteln. Derjenige Teil des Werkes, der in etwa dem Handlungsschema des idealisierenden Romans entsprach, war in eine vierfache Umrahmung eingebettet und umfaßte die Bücher 2–23. Darin erzählte die junge Tyrierin Derkyllis ihrem Liebhaber Deinias, wie sie zusammen mit ihrem Bruder Mantinias aus ihrer Heimatstadt fliehen mußte, weil die beiden, angestiftet von dem bösen ägyptischen Priester und Zauberer Paapis, ihren Eltern einen vermeintlich heilenden Trank gegeben hatten, der diese in einen todesähnlichen Schlaf versetzte. Ihre anschließenden Reiseerlebnisse im westlichen und östlichen Mittelmeerraum bestanden teils aus ganz ähnlichen Abenteuern, wie wir sie aus den Romanen mit einem Liebespaar im Zentrum der Handlung kennen – es findet z. B. auch eine vorübergehende Trennung des Paares statt –, teils aber auch aus phantastischen Begebenheiten, ja sogar aus solchen, die im außerirdischen Bereich spielten. Die Reise endete vorläufig hoch im Norden auf der Insel Thule, wo Paapis, der die Geschwister die ganze Zeit über verfolgt hatte, sie in einen vampirartigen Zustand versetzte. Das zwang sie, tagsüber im Todesschlaf zu liegen, so daß Derkyllis ihren Abenteuerbericht auf mehrere Nächte verteilen mußte; wahrscheinlich waren es 22, entsprechend der Buchzahl des Romansabschnittes, der ihre Erzählungen enthielt. Deinias, den Zuhörer der Derkyllis, hatte im ersten Buch eine längere Erkundungsreise nach Thule geführt. Er setzte diese Fahrt dann in Buch 24 nach der Erlösung der Geschwister von dem Todeszauber – darüber berichtete im Roman sein Freund Azulis – bis zum Mond fort und traf schließlich in Tyros, wohin ihm Derkyllis zusammen mit ihrem Bruder vorausgereist war, mit der Geliebten zu einem glücklichen Happy-End zusammen. Auch bei dem Deinias-Rahmen handelte es sich nur um das Mittelstück einer mehrfachen Verschachtelung, welcher der Autor zusätzlich ein Proöm in Form eines Briefes an Faustinus vorausschickte. Teil des anschließenden Widmungsschreibens an seine Schwester Isidora war wiederum ein Brief, in dem Balagros, der Leibwächter Alexanders des Großen, seiner Frau Phila berichtete, daß der König nach der Erobe-
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rung von Tyros (332 v. Chr.) im Grab des Deinias ein Kästchen, worin Schreibtafeln aus Zypressenholz mit der Lebensgeschichte des Verstorbenen lagen, gefunden habe. Der Athener Erasinides hatte sie aufgrund der Darstellung aufgezeichnet, die Deinias seinem Landsmann Kymbas in Tyros gegeben hatte, als dieser ihn in seine ursprüngliche Heimat Arkadien zurückholen wollte. Die verschiedenen Erzählebenen des Romans beschränkten sich jedoch nicht auf die vierfache Umrahmung der Abenteuererzählungen der Derkyllis und den Bericht des Azulis in Buch 24. Denn Derkyllis traf nach der Trennung von ihrem Bruder den Pythagoreer Astraios, der ihr von seiner Kindheit, der des später persönlich auftretenden Pythagoras-Schülers Zamolxis und dem Leben des Meisters selbst erzählte. Und natürlich hatte auch Mantinias nach der Wiedervereinigung mit seiner Schwester viel von seinen inzwischen erlebten, größtenteils höchst seltsamen Abenteuern zu berichten. Wir wissen nicht, welchen Umfang die Astraios-Zamolxis-Teile, über deren Inhalt die Pythagoras-Vita des Porphyrios unter Berufung auf Antonios Diogenes einiges erzählt (Kap. 10 ff.), innerhalb des Romanganzen hatten. Aber das Referat des Photios läßt vermuten, daß sie auf zwei um die Mitte des Derkyllis-Berichtes gruppierte Erzählabschnitte verteilt waren und somit den innersten Ring der gesamten Romanhandlung bildeten. Da sie nun neben zahlreichen Wundergeschichten, die z. T. an Philostrats Leben des Apollonios von Tyana erinnern, auch viel philosophische und religiöse Belehrung enthielten und da die Geschwister vor ihrer Trennung sogar eine Reise in die Unterwelt machten, hat man angenommen, die romanhaften Partien des Werkes hätten lediglich das Handlungsgerüst für eine erbauliche Tendenzschrift im Dienste des Neupythagoreismus geliefert. Mit Recht wurde jedoch zur Widerlegung dieser These auf die Tatsache verwiesen, daß in der Inhaltsangabe des Patriarchen, der sich für philosophische und religiöse Thematik ganz besonders interessierte, die bunten Erzählungen von den Abenteuern des Geschwisterpaars sowie von den phantastischen Reiseerlebnissen des Deinias und des Mantinias einen viel breiteren Raum einnehmen und jeden Bezug zur pythagoreischen Lebens- und Denkweise vermissen lassen. In dem schichtenreichen Erzählwerk führten also drei heterogene Hauptthemen, die durch Anverwandlung des idealisierenden Romans, der Erzählung über phantastische Reisen und der fiktiven Philosophenbiographie gewonnen waren, ein gleichberechtigtes Dasein. Doch der Versuch des Antonios Dioge-
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nes, die stereotypen Abenteuer der Helden in Romanen vom Typ der Ephesiaka durch die Erweiterung des Raumes ins Utopische und durch die Konfrontation mit der philosophisch-religiösen Sphäre zu variieren und auf diese Weise der Gattung Roman neue geistige Dimensionen zu erschließen, fand, soweit wir wissen, keine Fortsetzung in einem griechischen Roman. Allein die von Apuleius von Madauros verfaßte lateinische Bearbeitung der Metamorphosen des „Lukios von Patrai“ hat, wie wir sehen werden, Vergleichbares aufzuweisen. Um so bedauerlicher ist der Verlust des Thule-Romans. Man versteht deshalb vielleicht, daß ich, wenn eine gute Fee mir die Möglichkeit gäbe, erhaltene antike Texte gegen verlorene einzutauschen, eine ganze Reihe von „Klassikern“ aufzuzählen wüßte (ich nenne lieber keine Namen), die ich, ohne mit der Wimper zu zucken, für ein vollständiges Exemplar der Wunderdinge jenseits von Thule herschenken würde.
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ie Entwicklungsgeschichte des neuzeitlichen europäischen Romans ist bis ins 19. Jahrhundert hinein wesentlich geprägt von einer Auseinandersetzung des realistischen Romans mit der idealisierten Welt des mittelalterlichen und barocken Ritterromans und heroisch-galanten Romans. Das gilt bereits für den im 16. Jahrhundert entstandenen pikaresken Roman mit seinem neuen Typus des AntiHelden und insbesondere für den ersten großen Roman der abendländischen Literatur, Cervantes’ Don Quixote mit seiner Konfrontation von ritterlicher Idealwelt und brutaler Alltagswirklichkeit. Ein anderer Autor, den man ebenfalls als einen der führenden Wegbereiter des europäischen Romans bezeichnen kann, fand zur realistischen Darstellung dadurch, daß er zunächst einen idealisierenden Roman parodierte, die dabei geschaffene Gegenwelt aber im Laufe des Erzählens mehr und mehr um ihrer selbst willen schilderte: Henry Fielding, dessen Joseph Andrews (1742) von einer Verspottung des durch Samuel Richardsons Pamela verkörperten Tugendidealismus ausgeht und sich im Laufe der Handlung immer stärker an die im Vorwort ausgesprochene Devise hält, der Roman als das neue „Epos in Prosa“ habe nicht eine Idealwelt, sondern die Realität darzustellen. Der Versuch, beim Vergleich zwischen antikem und neuzeitlichem Roman Analogien aufzuweisen, ist, wie bereits an einem Beispiel gezeigt wurde (s. S. 65), nicht unproblematisch. Aber es fällt doch sehr auf, daß in Petrons Satyrica typische Szenen des idealisierenden Romans in grotesker Verzerrung erscheinen. Man kann den Eindruck gewinnen, der römische Autor habe bestimmte Elemente der Handlung in Erzählungen von der Art der Ephesiaka Xenophons ganz bewußt ihres wirklichkeitsfremden Pathos beraubt, und daraus darf man folgern – beweisen läßt sich das freilich nicht –, daß der komisch-realistische Roman aus dem spielerischen Umgang mit dem idealisierenden Roman hervorging. Ein literarischer lusus liegt bei Petrons Präsenta-
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tion seiner Abenteuerhandlung auf jeden Fall vor. Nehmen wir das Motiv „Liebespaar in einem Seesturm“. Bei Achilleus Tatios richtet Kleitophon, der sich mit Leukippe auf ein Wrackteil gerettet hat, ein Gebet an Poseidon, dieser möge die Liebenden, wenn sie schon sterben müßten, mit einer einzigen Woge überdecken oder sie von ein und demselben Fisch verschlingen lassen (5.5.4). In vergleichbarer Situation schlüpft bei Petron der von Enkolpius geliebte Knabe Giton unter dessen Tunika und legt überdies um beide seinen Gürtel, um sicherzustellen, daß „die allzu mißgünstige Flut die so Verschlungenen nicht auseinanderreiße“ (114.10: ne sic cohaerentes malignior fluctus distraheret). Wird hier durch die Karikatur implizit zum Ausdruck gebracht, daß eine Szene wie die bei Achilleus Tatios im wirklichen Leben vielleicht weniger theatralisch verlaufen würde, so kann Petron der Idealisierung bestimmter Vorgänge, wie wir sie in Romanen vom Typ der Ephesiaka Xenophons finden, ganz direkt die Realität gegenüberstellen: Während z. B. ein Gastmahl im Parthenope-Roman den Anlaß für einen Wettstreit pathetischer Reden über die Macht des Eros bietet (s. o. S. 66), läßt Petron die bei dem reichen Freigelassenen Trimalchio dinierenden Gäste sich über Alltagsprobleme und noch dazu in vulgärer Sprache unterhalten. Und wie in den Satyrica finden wir in den „Eselsromanen“ Pseudo-Lukians und des Apuleius nebeneinander das komische Karikieren von typischen Episoden des idealisierenden Romans und einen Realismus, der zwar eine fiktive Welt präsentiert wie der idealisierende Roman, aber in weit höherem Maße als dieser Bezüge zur Erfahrungswelt des Lesers herstellt. Petrons Satyrica setzt man im allgemeinen in die Mitte des 1., den griechischen „Eselsroman“ in die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. Wenn diese Datierungen zutreffen, wäre unser ältestes Beispiel für einen komisch-realistischen Roman ein lateinischer Text. Nun hat man immer wieder behauptet, die Satyrica seien kein Roman, sondern stünden in der Tradition der menippeischen Satire, und zwar in ihrer spezifisch römischen Form, die M. Terentius Varro (116–27 v. Chr.) begründete. Denn Petrons Werk weist eine Besonderheit auf, die es mit dieser Gattung, aber nicht mit den beiden „Eselsromanen“ gemeinsam hat: In den Prosatext der Satyrica sind immer wieder größere oder kleinere Verspartien eingelegt, die teils vom Autor selbst stammen, teils aus lateinischen Dichtungen zitiert werden, das heißt, das Werk ist im Prosimetrum verfaßt. Außerdem besitzen wir es nur in Auszügen, so daß die Möglichkeit besteht, wir hätten gar nicht die
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Reste eines narrativen Textes mit einer kontinuierlich fortlaufenden Handlung vor uns, sondern Einzelepisoden, wie sie eine menippeische Satire ohne weiteres hätte bieten können. Man hat beim Versuch einer Widerlegung der Auffassung, die Satyrica seien der römischen Satire zuzuordnen, unter anderem darauf verwiesen, daß hier die Instanz des auktorialen satirischen Sprechers fehlt. Denn wir vernehmen in dem Werk nur die Stimme eines das Geschehen miterlebenden Ich-Erzählers, des Strolches Enkolpius. Ein wichtiger Einwand, aber es wäre besser gewesen, wenn man – doch das war lange Zeit nicht möglich – unter Verweis auf einen im Prosimetrum verfaßten komisch-realistischen Roman in griechischer Sprache hätte argumentieren können. Die Existenz eines solchen hätte es wahrscheinlich gemacht, daß Petron nicht in der Tradition der römischen Menippea steht, sondern wie später Apuleius mit seinen Metamorphosen eine römische Entsprechung zu griechischer Erzählprosa bietet. Erst seit 1971 kennen wir einen griechischen Text, der, wenn auch nur noch in einem kleinen Ausschnitt vorhanden, eine bemerkenswerte formale und motivische Ähnlichkeit mit den Satyrica aufweist: den Iolaos-Roman. Und seit 1996 dürfen wir davon ausgehen, daß wir 41 kleine Bruchstücke eines komisch-realistischen Protagoras-Romans besitzen, von denen zwei (Frg. 4 und 31) wörtlich an drei Stellen der Satyrica (21.2 beziehungsweise 23.4 und 85.3) anklingen.
Bruchstücke aus zwei komisch-realistischen Romanen in griechischer Sprache Das aus einer Papyrusrolle des 2. Jahrhunderts n. Chr. stammende Fragment des Iolaos-Romans (P. Oxy. 3010) erzählt – zunächst in schlichter Prosa –, daß jemand, dessen Name nicht genannt wird, in die Mysterien der Kybele (einer kleinasiatischen Fruchtbarkeitsgöttin, deren Priester Kastraten waren) eingeweiht worden sei. Den von der neuen Lehre Erfüllten sehen wir im Gespräch mit einem Iolaos, den er – der nachfolgende Text ist sehr lückenhaft – anscheinend ebenfalls in die Kybelemysterien einweihen will. Seine Rede besteht nun aus 20 Versen in Sotadeen, einem Metrum, das wir auch aus den Satyrica kennen. Nach einem weiteren Satz in Prosa, der von der Unterweisung des Iolaos durch den neuen Mysten berichtet, endet der erhaltene Text mit Euripides-Versen über den hohen Wert eines treuen Freundes. Es
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gibt übrigens noch ein weiteres (Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. geschriebenes) Fragment eines prosimetrischen narrativen Textes in griechischer Sprache, des „Tinuphis-Romans“ (P. Haun. Inv. 400). Aber die Handlung, die man sich im Umfeld eines orientalischen Königshofes zu denken hat, läßt keine Verwandtschaft mit der eines komisch-realistischen Romans, sondern mit je einem Abschnitt des aramäischen „Achikar-Romans“ und des zum „fringe“ der Gattung zu rechnenden „Äsop-Romans“ erkennen. Im Iolaos-Bruchstück dagegen geht es in den Sotadeen, deren Sprache ziemlich vulgär ist, auch um erotische Abenteuer des Iolaos, unter anderem mit einem Schwulen, und man liest an einer Stelle die Worte δλω βινε>ν („mit List ficken“). Es wurde deshalb folgende plausible Erklärung vorgeschlagen: Iolaos sei wie Enkolpius in Petrons Satyrica ein pikaresker AntiHeld, der in der Verkleidung eines Kybele-Kastraten leichten Zugang zu einem Mädchen bekommen will und, um entsprechend sicher auftreten zu können, sich von seinem Spießgesellen Einblick in die Mysterien der Großen Mutter verschaffen läßt. Über den Geschehensverlauf des Protagoras-Romans läßt sich nicht mehr sagen, als daß es während der Handlung, die wohl hauptsächlich im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. spielte, zwei Seereisen gab: Protagoras (der Protagonist?) fuhr nach Abdera, und mindestens zwei Personen begaben sich nach Samos. Jedenfalls ist das Milieu, dem die von Klaus Alpers in dem byzantinischen Lexikon Etymologicum Genuinum entdeckten 41 kurzen Prosatexte zuzuordnen sind, wie in Petrons Roman das einer Halbwelt, in der Hetären- und Knabenliebe, das Gastmahl und komödienhafte Figuren – etwa der Vater mit dem nicht seinen Wünschen entsprechende Sohn, der Lustgreis und die Vettel – eine Rolle spielen. Außerdem weist die Darstellung der handelnden Personen und ihrer Aktionen durch ihre Anschaulichkeit eine deutliche Verwandtschaft mit den realistisch wirkenden Schilderungen der Satyrica auf. Schließlich erkennt man deutlich das satirisch-parodistische Element: Wie etwa Eumolpus oder Gorgias (141.5) bei Petron tragen Protagoras und ein gewisser Kallias Namen, die auch berühmte Gestalten in Griechenlands großer kultureller Vergangenheit trugen, aber wie in dem römischen Roman haben wir es auch hier mit zweifelhaften Charakteren zu tun. Der von Texten wie den idealisierenden Romanen verbreitete Mythos vom klassischen Hellas war also in diesem Roman ins Komische verzerrt, und das wurde formal dadurch unterstrichen, daß der Text durchgehend attizistisch ist. Für die Datie-
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rung liefert der Vergleich von Frg. 20 mit einer Stelle bei Longos (1.28.1), der diese als die spätere erscheinen läßt, einen Terminus ante quem. Danach wäre der Protagoras-Roman spätestens um die Mitte des 2. Jahrhunderts n.Chr. geschrieben worden, aber er könnte durchaus auch schon bis zu hundert Jahren früher entstanden sein. Wann immer es war – zusammen mit dem Iolaos-Roman liefert dieser Text, auch wenn die Fragmente nichts von Prosimetrum erkennen lassen, ein gewichtiges Argument dafür, daß Petrons Satyrica in der Tradition griechischer komisch-realistischer Romane stehen dürften. Auf die sich nunmehr ergebende Frage, wie man sich die zeitliche Abfolge der einzelnen Texte vorzustellen hat, komme ich noch zu sprechen (s. S. 91).
Petron, Satyrica Ist einmal anerkannt, daß wir es bei Petrons Werk wirklich mit einen Roman zu tun haben, erweist sich der Titel Satyricon oder Satiricon, den die Handschriften nennen, als griechischer Genetiv Plural σατυρικAν zu σατυρικ4, abhängig von liber (Buch; vgl. Vergils Georgicon liber = Georgica) und damit als spielerische Abwandlung von Titeln wie Ephesiaka oder Phoinikika, wie sie einige idealisierende Romane tragen. Satyrica würde dann „Geschichten aus dem Lande der Satyrn“ bedeuten, und das brächte zum Ausdruck, daß Petrons Romanhandlung nicht in einer idealisierten Welt spielt, sondern daß seine Menschen teils komische, teils realistische Züge tragen. Denn die Satyrn, die ausgelassenen, lüsternen Begleiter des Weingottes Dionysos, kennt man vor allem aus dem griechischen Satyrspiel, dem vierten Stück einer tragischen Tetralogie, durch das die heroisch-pathetische Welt der Tragödie in einer stellenweise sehr derben Sprache persifliert wird. Vor dem Hintergrund des idealisierenden Romans erscheint die Zuordnung der Satyrica zur menippeischen Satire auch dann nicht mehr zwingend, wenn man sich an die Homerverse erinnert, die in den Text von Charitons Kallirhoë eingelegt sind. Mögen die poetischen Zitate schon dort einen komischen Effekt haben (s. S. 65), so ist dieser bei Petron aufgrund seiner Parodie pathetischen Sprechens und der oft einen grellen Kontrast bewirkenden Einbindung der Verse in den Kontext erheblich höher. Da berichtet etwa der Ich-Erzähler Enkolpius über eine Liebesnacht mit dem Knaben Giton zunächst in poetisch höchst anspruchsvollen Elfsilblern, die in amüsanter Weise das Pathos
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der berühmten Kußgedichte Catulls (c. 5 und 7) evozieren. Aber dann wird die romantische Stimmung durch die prosaische Fortsetzung des Berichtes und das, was darin zur Sprache kommt, jäh zerstört (79.8f.): qualis nox fuit illa, di deaeque, quam mollis torus. haesimus calentes et transfudimus hinc et hinc labellis errantes animas. ualete, curae mortales. ego sic perire coepi. sine causa gratulor mihi. nam cum solutus mero remisissem ebrias manus, Ascyltos, omnis iniuriae inuentor, subduxit mihi nocte puerum et in lectum transtulit suum, uolutatusque liberius cum fratre non suo, siue non sentiente iniuriam siue dissimulante, indormiuit alienis amplexibus oblitus iuris humani. Götter, Göttinnen, welche Nacht erlebt’ ich, und wie weich war das Lager! Wir umschlangen heiß uns, und von den Lippen eins ins andre gossen schweifende Seelen wir. Lebt wohl denn, Menschensorgen! Ich wollte so vergehen. Grundlos aber beglückwünsche ich mich. Denn als ich, benommen von dem starken Wein, hatte sinken lassen in meinem Rausch die Hände, da nahm Askyltus, der Erfinder jeder Art von Schandtat, mir in der Nacht den Knaben weg und trug ihn in sein Bett hinüber, und er wälzte sich dort hemmungslos mit dem Brüderchen, das ihm nicht gehörte und das die Schandtat entweder nicht merkte oder nicht merken wollte, und schlief ein in entwendeter Umarmung, vergessend alles menschliche Recht. Und noch eines stellt die Satyrica in die Romantradition. Eine besonders auffallende epische Reminiszenz im Roman Charitons, bei Xenophon von Ephesos und wahrscheinlich auch im ParthenopeRoman, das Motiv der Verfolgung des Liebespaars durch den Zorn eines Gottes, in diesem Falle der Aphrodite beziehungsweise des Eros (s. S. 21), findet gleichfalls in den Satyrica ihre komisch-realistische Entsprechung: Dem Protagonisten Enkolpius zürnt Priapus, der als Statue mit einem überdimensionalen Phallus ausgestattete Fruchtbarkeitsgott, und bestraft ihn unter anderem mit etwas, das es in der idealisierend dargestellten Liebe nicht gibt, in der sexuellen Realität dagegen um so häufiger: Impotenz (128ff.).
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Wie der Thule-Roman des Antonius Diogenes könnten die Satyrica, wenn der Autor sie vollendete, nach dem Muster der Homerischen Epen 24 Bücher umfaßt haben. Denn der Text, den wir haben, stammt laut Angabe der Handschriften aus Buch 14–16 und vermutlich noch aus Buch 17–20. Leider sind die Buchgrenzen nicht mehr erkennbar (und unsere Ausgaben deshalb nur in Kapitel eingeteilt), da der Text dieser Bücher, der noch im 9. Jahrhundert vollständig vorhanden war, nur in Exzerpten erhalten ist. Der längste der Textausschnitte, das „Gastmahl des Trimalchio“, dürfte in etwa denselben Umfang haben wie der entsprechende Abschnitt in der verlorenen Vorlage und gilt auch, was die Wiedergabe des Wortlauts der Vorlage betrifft, als einigermaßen zuverlässig. Die Exzerpte aus den Büchern 14 ff. vor und nach dem „Gastmahl“ weisen dagegen zahlreiche Lücken von unbestimmter Länge und viele sprachlich verdächtige Passagen auf. Das vorhandene Textmaterial reicht jedoch dazu aus, daß man sich vom Inhalt der Bücher 14–20 (?) ein einigermaßen befriedigendes Bild machen und von da aus auf das zentrale Thema des gesamten Romans schließen kann. Danach handelte vermutlich das ganze Werk wie die uns vollständig bekannten idealisierenden Romane von den Abenteuern eines Liebespaars, des jungen, hübschen Enkolpius, der als IchErzähler fungiert, und des von ihm geliebten Knaben Giton, aber diesmal in einem sozial niedrigen Milieu des Mittelmeerraums. Die Handlung der erhaltenen Exzerpte spielt in einer unbekannten Stadt an der Küste Kampaniens, während einer Seereise und in dem unteritalienischen Kroton. Aus einem der insgesamt 52 kürzeren Fragmente, die aus Quellen außerhalb der Handschriften stammen, darf man vielleicht die Vermutung ableiten, daß die beiden Protagonisten sich irgendwann auch in Massilia (Marseille) aufhielten. Gleich die erhaltenen Szenen vor dem „Gastmahl des Trimalchio“ zeigen den Liebhaber Enkolpius in Schwierigkeiten, die an die Leiden des liebenden Helden im idealisierenden Roman erinnern. Als er nach dem Besuch einer Rhetorenschule (wo er eine öffentliche Deklamation hört und anschließend mit dem Rhetorikprofessor Agamemnon über den Verfall der Beredsamkeit diskutiert) und nach einem Irrweg durch die Stadt in sein Quartier zurückgekehrt ist, muß er feststellen, daß sein Gefährte Askyltus ein Auge auf Giton geworfen und bereits versucht hat, den Knaben zu vergewaltigen. Bevor aber die beiden Rivalen aus dieser Situation, die ein weiteres Zusammenleben unmöglich macht, Konsequenzen ziehen, erleben sie zusammen mit Giton
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noch drei Abenteuer: 1. eine (wegen der uns nicht mehr kenntlichen Vorgeschichte nur teilweise verständliche) Auseinandersetzung mit einem Bauern und seiner Frau auf dem Marktplatz, bei der die Freunde eine zuvor verlorene Tunika, in der Goldstücke eingenäht waren, zurückerhalten, 2. eine nächtliche Orgie im Hause einer Quartilla zu Ehren des Priapus mit einer Reihe von obszönen Episoden, die uns von den mittelalterlichen Exzerptoren besonders lückenhaft überliefert wurden, 3. das Gastmahl des Trimalchio. Die Cena Trimalchionis steht in einer älteren literarischen Tradition als der des Romans. Sie evoziert das Gastmahl in Platons Symposion, bei dem sich die Teilnehmer statt mit Musik- und Tanzvorführungen durch Gespräche mit verschiedenen Themen und durch Erzählungen unterhalten. Dort dienen Essen und Trinken nur als Vorwand und Hintergrund für die Lehren, die durch die Diskussionen von Gastgeber und Gästen an den Leser vermittelt werden. Petron dagegen verwendet beide Elemente, die Abfolge der Speisen und Getränke auf der einen und die Reden und Dialoge auf der anderen Seite zu einer ebenso farbigen wie grotesken Schilderung der Lebens- und Denkart einer bestimmten Schicht der römischen Gesellschaft: der zu Vermögen und Einfluß gelangten Freigelassenen. Trimalchio ist ein teils in komischer Verzerrung, teils realistisch gezeichneter Parvenü. Er wartet mit immer wieder neuen kulinarischen Genüssen protzig auf, demonstriert aufdringlich seine Halbbildung durch skurrile Erörterungen über Astrologie, Medizin, Rhetorik, Mythologie, bildende Kunst und Literatur und führt seinen Gästen unbekümmert Szenen aus seinem Privatleben vor, darunter den Austausch von Zärtlichkeiten mit einem Knaben und einen heftigen Streit mit seiner Frau. In einer Verlesung seines Testaments und der Generalprobe zu seinem eigenen Begräbnis erreichen diese Geschmacklosigkeiten ihren Höhepunkt. Zwischen Trimalchios Darbietungen sind die Gespräche anderer Freigelassener über die Alltagsprobleme mit ihrem Beruf, den Lebensmittelpreisen, der Erziehung ihrer Kinder usw. eingestreut. Dabei scheut Petron sich weder hier noch bei Trimalchios Salbadereien davor, in einer für die antike Literatur beispiellosen Weise das von diesen ehemaligen Sklaven gesprochene Vulgärlatein der frühen Kaiserzeit nahezu naturgetreu wiederzugeben. Die Porträts der Freigelassenen in den Satyrica gehören deshalb zu den faszinierendsten Psychogrammen der antiken Erzählliteratur. Die Handlung wird nach der Cena mit der vorübergehenden Tren-
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nung des Paars Enkolpius/Giton fortgesetzt, da der Knabe sich nach einem Streit zwischen den beiden Rivalen überraschend für Askyltus entscheidet und mit ihm zusammen seinen bisherigen Liebhaber verläßt. In der Zeit bis zum Wiedersehen mit Giton lernt Enkolpius in einer Bildergalerie Eumolpus kennen, einen heruntergekommenen Gelegenheitspoeten in vorgerücktem Alter. Dieser erzählt ihm von seiner einstigen Liebe zu einem Knaben in Pergamon – das ist die eine von zwei längeren Novelleneinlagen (85–87) –, hält ihm einen Vortrag über Bildung und bildende Künste und liefert zu einem Gemälde, das den Untergang Trojas darstellt, eine Beschreibung in 65 jambischen Senaren, dem häufigsten Sprechvers des römischen Dramas. Obwohl der neue Freund sich nach Gitons Rückkehr ebenso wie Askyltus, der bald darauf aus der Handlung verschwindet, für den Knaben interessiert und dadurch einen Selbstmordversuch des Enkolpius verursacht, bleibt man zusammen und begibt sich zu dritt an Bord eines Schiffes. Erst auf hoher See entpuppen sich der Schiffseigentümer Lichas und seine Passagierin Tryphaena als alte Feinde des Enkolpius. Die nicht zu verhindernde Begegnung und gegenseitige Wiedererkennung führt zunächst zu einer Prügelei, aber man versöhnt sich rasch. Daraufhin erzählt Eumolpus seine zweite Novelle, die Geschichte von der Matrone von Ephesus (111 f.), einer für ihre Keuschheit weithin bekannten Frau, die gleich nach dem Tode ihres Mannes beschließt, den Rest ihres Lebens bei dem Leichnam in einer Grabkammer zu verbringen, sich dort unten aber von einem Soldaten verführen läßt. Dieser hat in der Nähe der Gruft Wache gehalten, um zu verhüten, daß einige gekreuzigte Verbrecher von ihren Angehörigen bestattet werden. Als dies während eines Stelldicheins des Soldaten mit der Witwe in einem Falle dann doch noch geschieht, bietet sie den Leichnam ihres Mannes als Ersatz an. Sturm und Schiffbruch reißen die eben Versöhnten wieder auseinander. Auf der Weiterreise nach Kroton rezitiert Eumolpus seinen Gefährten Enkolpius und Giton ein kurz zuvor verfaßtes Epos über den Bürgerkrieg Cäsars gegen Pompejus in 295 Hexametern. Eumolpus gibt sich an dem neuen Aufenthaltsort, wo ausschließlich Erblasser und Erbschleicher wohnen, als kinderloser, kränkelnder Besitzer riesiger Reichtümer in Afrika aus und macht sich bei den Leuten von Kroton entsprechend beliebt. Währenddessen erlebt Enkolpius ein Liebesabenteuer mit einer Dame namens Circe, das aber ein jähes Ende findet, weil ihn plötzlich (die vorhin erwähnte) Impotenz befällt. Nach
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zwei weiteren Szenenfolgen, in denen die Priesterin Oenothea, eine unansehnliche Vettel, Enkolpius durch allerlei Hokuspokus von seinem Leiden zu heilen versucht und Eumolpus verkündet, Voraussetzung, ihn zu beerben, sei das Verzehren seines Leichnams, brechen die Exzerpte jäh ab. Auch aus dieser kurzen Inhaltsangabe dürfte erkennbar sein, daß Petron für den Aufbau seiner Handlung eine ganze Reihe von Motiven des idealisierenden Romans verwendet. Wie er diese ins Komische verzerrt, sei außer an der bereits angesprochenen Schiffbruchszene anhand zwei weiterer Beispielen betrachtet. 1. Selbstmordversuch und Scheintod: Als Eumolpus wieder einmal Giton offen nachstellt und dann zusammen mit ihm Enkolpius allein läßt, versucht dieser, sich aufzuhängen. Giton und Eumolpus kommen darüber hin, der Knabe schreit, entreißt dem Diener des Eumolpus ein Rasiermesser, setzt es sich an den Hals und sinkt zu Boden. Als der nun noch verzweifeltere Enkolpius sich ebenfalls damit töten will, stellt er fest, daß Giton unversehrt ist, da das Messer eine von Barbierlehrlingen benutzte Attrappe war (94). 2. Wiedererkennung: Auf dem Schiff identifiziert Lichas den von ihm einst geliebten und jetzt gehaßten Enkolpius – dieser hat sich aus Angst vor ihm als Sklave verkleidet und eine Glatze schneiden lassen – nicht wie sonst in antiken Wiedererkennungsszenen anhand einer Narbe oder eines Muttermals, sondern anhand seines Penis (105). Bereits zu Beginn des Kapitels wies ich darauf hin, es biete sich an, Szenen wie diese so zu lesen, daß man in ihnen das heroische Pathos typischer Episoden des idealisierenden Romans durch Übertreibung ins Lächerliche gezogen, mit der nüchternen Wirklichkeit der Welt der Satyrica konfrontiert und so als hohl entlarvt sieht. Ob sich aus einer solchen Interpretation nun auch Folgerungen für die Genese des Gattungstyps „komisch-realistischer Roman“ ziehen lassen oder nicht – ein literarisches Spiel wird hier, wie jetzt noch deutlicher geworden sein dürfte, auf jeden Fall getrieben. Deshalb stellt sich die Frage, ob Petron seine Leser damit einfach unterhalten wollte, oder ob er seine Art der Darstellung als ein Mittel verstand, eine bestimmte Weltsicht zum Ausdruck zu bringen. Eine Antwort ist nicht leicht, vielleicht sogar unmöglich, da wir ja das gesamte Geschehen in dem erhaltenen Text aus der Sicht des Ich-Erzählers geschildert bekommen, so daß der Autor nirgends direkt zu Wort kommt (auch nicht in 132.15, wie manche Erklärer annehmen). Die Wirkungsintention Petrons steckt
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also allein in der Präsentation der fiktionalen Realität durch den Mund des Ich-Erzählers. Aber vielleicht hilft es weiter, einen Blick auf die Person des Autors und die Zeit, in der er schrieb, zu werfen. Da berichtet uns nun der Geschichtsschreiber Tacitus in seinen Annalen (16.17.1; 18–20.1) von einem Titus (?) Petronius, der nach seiner Tätigkeit als Statthalter von Bithynien und Konsul im engsten Vertrautenkreis Neros am Hofe des Kaisers als „oberste Instanz in Fragen des feinen Geschmacks“ (elegantiae arbiter) gewirkt habe. Dafür sei er besonders gut geeignet gewesen, weil er es verstanden habe, sein überwiegend dem Genuß geweihtes Leben nicht als Verschwender, sondern mit „kultiviertem Aufwand“ (erudito luxu) zu führen. Ein Neider habe es jedoch dahin gebracht, daß dieser Mann, dessen Taten und Worte, „je zügelloser sie waren und ein gewisses Sichgehenlassen zeigten, um so bereitwilliger als Ausdruck eines natürlichen Wesens aufgefaßt“ worden seien, bei Nero in Ungnade fiel. Da habe dieser Petronius (im Jahre 66 n. Chr.) Selbstmord durch Aufschneiden der Pulsadern begangen, sei aber auch dabei noch seinem bisherigen Charakter treu geblieben, indem er sein Sterben durch vorübergehendes Abbinden der Wunden verzögert, statt eines philosophischen Vortrags über die Unsterblichkeit der Seele lockere Lieder und gefällige Verse angehört und schließlich nach dem Essen im Schlaf den Tod gefunden habe. Dem Kaiser sei von ihm ein Verzeichnis von dessen sexuellen Ausschweifungen mit namentlicher Nennung der daran beteiligten Lustknaben und Frauen hinterlassen worden. Die Satyrica erwähnt Tacitus mit keinem Wort. Sorgfältige Analyse des Romans hat zu zeigen versucht, daß seine Entstehung sowohl wegen einer Reihe von Anspielungen auf historische Personen und bestimmte soziale und ökonomische Gegebenheiten als auch wegen seiner engen sprachlichen Berührungen mit inschriftlichen und literarischen Dokumenten der Mitte des 1. Jahrhunderts tatsächlich in die Zeit Neros datiert werden kann. Heute wird deshalb die Identität des „Petronius Arbiter“ – so nennen die Handschriften den Autor – mit dem elegantiae arbiter Petronius bei Tacitus allgemein vorausgesetzt. Autor und Werk passen ja auch gut zusammen. Vielleicht zu gut? Im Grunde ist es ein Zirkelschluß, wenn man sagt: Wer ein solches Leben wie Neros Höfling geführt hat, eignet sich vorzüglich als Verfasser eines Werkes voller Obszönitäten, und dieses Werk wiederum, für dessen Datierung in die Neronische Epoche es viele Argumente gibt, kann nur von dem genußfrohen Petron des Ta-
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citus stammen. Es wäre doch möglich – man erinnere sich an das S. 43 zu den drei Romanautoren mit Namen Xenophon Gesagte –, daß ein uns unbekannter Autor in späterer Zeit, etwa im 2. Jahrhundert, sich seinen Lesern gegenüber als ebendieser „gut passende“ Mann ausgab, wobei er den Beinamen Arbiter von der Bezeichnung des Tacitus für Petrons „Hofamt“ ableitete, und die Handlung in der Nerozeit spielen ließ. Wir hätten dann wie in mehreren idealisierenden Romanen und im Protagoras-Roman eine historische Einkleidung und gleichzeitig wieder einen Kontrast vor uns, den man durchaus komisch finden kann: Griechenlands glorreicher demokratischer Vergangenheit wäre die Epoche eines römischen Kaisers entgegengesetzt, welcher der Nachwelt als der Tyrann par excellence galt. Eine Datierung der Satyrica ins 2. Jahrhundert – die früheste erhaltene Erwähnung ist auf etwa 200 zu datieren (Terentianus Maurus, De metris GL VI p. 399 u. 409) – würde es auch leichter vorstellbar machen, daß „Petronius Arbiter“ mit der Romantradition spielt. Er hätte dann nicht nur mehrere idealisierende Romane, sondern auf jeden Fall auch den Iolaos- und den Protagoras-Roman kennen können. Doch auch wenn Petrons Roman etwa in den sechziger Jahren des 1. Jahrhunderts entstand, wäre denkbar, daß sein Autor mindestens einen idealisierenden Roman – z. B. Charitons Kallirhoë oder den Parthenope-Roman – und einen komisch-realistischen Roman in griechischer Sprache kannte; Iolaos- und Protagoras-Roman könnten ohne weiteres schon unter Nero geschrieben worden sein. Für die Suche nach der Wirkungsabsicht Petrons, der, wie man sieht, als historische Person nicht zweifelsfrei zu identifizieren ist, genügt es ohnehin zu wissen, daß das Werk in der Romantradition steht und daß es seine komisch-realistisch dargestellte Welt mit der idealisierten Welt der Romane vom Typ der Kallirhoë kontrastiert. Für diese Welt nun ist es charakteristisch, daß die in ihr agierenden Menschen einschließlich des Ich-Erzählers Enkolpius nicht zwischen Schein und Sein zu unterscheiden vermögen. Enkolpius sehnt sich nach der Zeit zurück, in der es noch erhabene, klassische Literatur gab, und deshalb sieht er die Realität immer wieder im Lichte der Handlungsmuster, die ihm die großen Werke des Epos und der Tragödie vorgeben. So kann er sich wie Chaireas bei Chariton (s. S. 64f.) in mythische Rollen, etwa die eines Achilleus, versetzen, gerät dabei aber im Gegensatz zu dem Protagonisten des idealisierenden Romans regelmäßig in peinliche und entsprechend lächerliche Situationen. Petron, der
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Enkolpius so handeln und darüber berichten läßt, betrachtet solche Situationen und Enkolpius’ Darstellung seines Verhaltens offenbar mit Ironie und macht uns Leser dabei zu seinen „Komplizen“. Es ist also diese ironische Betrachtungsweise des Romangeschehens und ihres Erzählers, aus der wir erschließen können, welche Haltung der „versteckte Autor“, wie Gian Biagio Conte ihn nennt (The Hidden Author: An Interpretation of Petronius’ Satyricon, 1996), gegenüber der Welt der Satyrica einnimmt. Die Diskrepanz zwischen Schein und Sein bei einer Aktion des Ich-Erzählers zeigt z.B. die Szene in Kapitel 82, in der er, nachdem Giton ihn mit Askyltus verlassen hat, in der Absicht, die beiden zu bestrafen, sich wie ein epischer Held „ein Schwert an die Seite gürtet“ und, „auf nichts anderes als Mord und Blut“ sinnend, durch die Stadt streift, bis er einem echten Soldaten begegnet, der ihn wegen seines unmilitärischen Schuhwerks auslacht, ihm die Waffe abnimmt und so dem pseudoheroischen Auftritt ein Ende setzt. Was das von fehlender Erkenntnis der Realität geprägte Verhalten der übrigen Personen des Romangeschehens betrifft, bietet besonders das Gastmahl des Trimalchio gute Beispiele. Man hat gesagt, Petrons Roman sei eine einzige Aufforderung an den Leser, „Lust am Leben“ zu empfinden. Trimalchio selber spreche sie ja aus (34.6–10): allatae sunt amphorae uitreae diligenter gypsatae, quarum in ceruicibus pittacia erant affixa cum hoc titulo: ‘Falernum Opimianum annorum centum.’ dum titulos perlegimus, complosit Trimalchio manus et ‘eheu’ inquit ‘ergo diutius uiuit uinum quam homuncio. quare tangomenas faciamus. uinum uita est. uerum Opimianum praesto. heri non tam bonum posui, et multo honestiores cenabant.’ potantibus ergo et accuratissime nobis lautitias mirantibus laruam argenteam attulit seruus sic aptatam, ut articuli eius uertebraeque luxatae in omnem partem flecterentur. hanc cum super mensam semel iterumque abiecisset et catenatio mobilis aliquot figuras exprimeret, Trimalchio adiecit: ‘eheu nos miseros, quam totus homuncio nil est! sic erimus cuncti, postquam nos auferet Orcus. ergo uiuamus, dum licet esse bene.’ Man brachte gläserne Henkelflaschen, die sorgfältig mit Gips versiegelt waren und an deren Hälsen Etiketten angeklebt waren mit folgender Aufschrift: „Falerner, abgefüllt unter Opimius, hundertjährig.“ Während wir die Aufschriften lasen, klatschte Trimalchio in die Hände
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und sagte: „Oh weh, also länger lebt der Wein als ein Menschlein. Darum wollen wir Prosit machen. Wein ist Leben. Echten Opimianer kredenze ich. Gestern habe ich keinen so guten vorgesetzt, und doch speisten viele vornehme Leute bei mir.“ Als wir also tranken und auf das gründlichste seinen Luxus bewunderten, brachte ein Sklave ein silbernes Skelett herein, welches so konstruiert war, daß sich seine Glieder und Gelenke verrenkt in jede Richtung biegen ließen. Als er dieses eins ums andre Mal über den Tisch geworfen hatte und der bewegliche Mechanismus allerlei Figuren bildete, bemerkte Trimalchio dazu: „Ach wir Elenden, wie doch das ganze Menschlein ein Nichts ist. So ergeht es uns allen, nachdem uns der Orcus tät wegholn. Laßt uns drum leben, solang möglich das Wohlsein ist noch.“ Auf den ersten Blick erinnert Trimalchios Aufforderung zum Leben (auch wenn seine Verse nicht die schönsten sind) an epikureische Todesverachtung und das Horazische carpe diem („Nutze den Tag“). Aber das, was Trimalchio und die anderen Freigelassenen unter „Leben“ verstehen, ist ein rein materialistisches Streben nach immer mehr Besitz sowie hemmungsloses Genießen der ausgesuchtesten Speisen und Getränke, nicht etwa eine besonnene Lebensweise, wie Epikur sie als Alternative zur Todesfurcht empfiehlt. Zum anderen entwickelt sich das Gastmahl mehr und mehr zum Totenmahl für Trimalchio, der am Schluß sein eigenes Begräbnis probt. Bei genauer Betrachtung der Intertextualität zahlreicher Stellen erweist sich sogar, daß der Ort des Gastmahls, das Haus eines Mannes mit großem Reichtum (griech. πλο0τος), die von Pluto regierte Unterwelt evoziert, so daß der Besuch des Enkolpius bei Trimalchio für die Katabasis eines epischen Helden steht. Ähnlich wie an der eben zitierten Stelle fordert die Magd der Witwe von Ephesus ihre Herrin auf zu „leben“ (111.12), was schließlich bewirkt, daß die Witwe mit dem Soldaten schläft. Aber das geschieht in einer Grabkammer, noch dazu derjenigen ihres Mannes. Gewiß, der Drang, das Leben auszukosten, ist ein beherrschendes Thema der Satyrica. Doch es wird ständig dargestellt, wie diejenigen, die sich dem Lebensgenuß hemmungslos hingeben, Schein und Sein nicht voneinander unterscheiden. Man könnte nun sagen, die Wirkungsabsicht Petrons sei, der Leser solle die Situationen, in denen dieses mangelnde Unterscheidungsvermögen sich zeigt, nicht nur als komisch, sondern auch als abschreckend empfinden, den Roman also als Moralsatire lesen. Doch
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beweisen läßt sich das nicht. Gewiß, es bleibt jedem unbenommen, aus den Satyrica Lehren zu ziehen. Aber taten das auch die zeitgenössischen Leser? Wir wissen es nicht. Wie schwer es fällt, die Aussage des Textes zu erfassen, demonstriert besonders deutlich die Vielfalt der bisher vorgelegten Interpretationen der beiden großen Verseinlagen, der „Troiae Halosis“ (89) und des „Bellum civile“ (118–125). Man mag davon ausgehen – explizit gesagt wird das nicht –, daß der Referenztext im ersten Falle das Tragödienkorpus Senecas, im zweiten Falle Lukans Pharsalia ist; das wäre dann auch ein Argument – wenn auch kein zwingendes – für die Abfassung der Satyrica in der Neronischen Zeit, in der die beiden Dichter lebten. Aber was bezweckt Petron nun mit den beiden poetischen Texten? Offenkundig präsentiert er uns ein Maximum an tragischem und epischem Pathos, aber für die einen will er die Referenztexte damit dichterisch überbieten, für die anderen parodieren. Gehen wir einmal davon aus, daß die zweite Möglichkeit zutrifft. Das würde ja dazu passen, daß Petron, wie gerade gezeigt wurde, auch tragisches und episches Pathos im Handeln des Enkolpius (und anderer) lächerlich macht und damit den Unterscheid zwischen Schein und Sein erkennen läßt. Aber falls wir daraus moralisch etwas lernen sollen, was wäre dann die Lehre, welche die zeitgenössischen Leser aus den Parodien von Versen Senecas und Lukans hätten ziehen können? Es ist zu bedenken, daß „Troiae Halosis“ und „Bellum civile“ in der Fiktion des Romans „Werke“ desselben Autors sind wie die beiden Novellen „Der Ephebe von Pergamon“ und „Die Matrone von Ephesus“, nämlich des Eumolpus. Ferner, daß wir von „reader response“ erfahren: Auf Eumolps Rezitation einer der beiden Dichtungen, der „Troiae Halosis“, reagieren einige Zuhörer mit Steinwürfen (90.1), während nach dem Ende seiner auf dem Schiff vorgetragenen Erzählung der Geschichte von der Matrone die Matrosen lachen, Tryphaena errötend ihr Gesicht an Gitons Nacken schmiegt, also sich durch die frivole Thematik angesprochen zeigt, und Lichas moralische Entrüstung über das Handeln der Witwe äußert (113.1f.). Tragisches Pathos hat nur eine Wirkung: Es stößt auf empörte Ablehnung, und der Dichter, der es verströmt, wirkt als Zielscheibe für Wurfgeschosse ebenso komisch wie der pseudoheroische Enkolpius, dem der Soldat das Schwert abnimmt. Romanhafte Prosa dagegen – denn das bietet die Novelle von der Matrone – wird teils als amüsante oder erotisch anregende Unterhaltung, teils als moralisches Exempel „gelesen“. Wir
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sollten daraus für die Autorintention vielleicht nicht mehr folgern als dies: Tragische und epische Verse, wie Eumolpus sie vorträgt, sind so lächerlich wie Menschen in tragischen und epischen Posen, während die fiktionale Prosaerzählung allein schon deswegen Interesse verdient, weil sie ebenso unterhaltsam wie lehrreich sein kann. Und das darf man, wenn man will, als eine implizite metaliterarische Aussage Petrons auffassen.
Die beiden „Eselsromane“ Den hermeneutischen Schwierigkeiten, vor die uns Petrons Satyrica stellen, sind diejenigen, welche die beiden erhaltenen „Eselsromane“ bereiten, in mehrfacher Hinsicht vergleichbar. Das beginnt gleich mit den Problemen, die sich aus der Form der Darbietung ergeben. Den phantastischen Bericht über den jungen Thessalienreisenden, der wegen seiner Neugier auf Bekanntschaft mit magischen Künsten in einen Esel verwandelt wird und vor der Wiedererlangung seiner menschlichen Gestalt eine Serie von Abenteuern erlebt, präsentiert uns sowohl in der griechischen als auch in der lateinischen Version wieder nicht der Autor, sondern der Protagonist, der Lukios beziehungsweise Lucius heißt, als Ich-Erzähler. Die griechische Version mit dem Titel Λο κιος Ονος („Lukios oder Der Esel“) ist unter den Werken Lukians tradiert und hat etwa den Umfang der meisten seiner Dialoge, stammt aber – zumindest in dieser Form – sicher nicht von ihm. Die wesentlich umfangreichere lateinische Version – es sind elf Bücher überliefert – trägt in den Handschriften den Titel Metamorphoses („Metamorphosen“) und wurde von Apuleius von Madauros verfaßt. Während das eigentliche Romangeschehen in den Metamorphosen durch eingeschaltete Novellen erweitert ist – darunter die rund zwei Bücher umfassende Geschichte von Amor und Psyche (4.28– 6.24) –, fehlen solche Einlagen bei Pseudo-Lukian ganz. Doch die Lukios-Handlung dieses Textes stimmt bis unmittelbar vor der Rückverwandlung mit der Lucius-Handlung bei Apuleius inhaltlich im wesentlichen überein und berührt sich streckenweise sogar eng mit ihr im Wortlaut; einige Abschnitte allerdings sind in den Metamorphosen erweitert beziehungsweise anders erzählt als im Lukios. Das Geschehen nach der Rückverwandlung wird dann ganz unterschiedlich dargestellt. Der griechische Autor läßt den Ich-Erzähler in seiner wiedergewonnenen menschlichen Gestalt noch ein Abenteuer erleben und
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dann in seine Heimat Patrai zurückkehren. In der überlieferten Fassung der Metamorphosen dagegen verbindet sich die in Buch 11 erzählte Entzauberung des Lucius mit einer in allen Einzelheiten geschilderten Weihe des Erlösten zum Jünger der Mysteriengottheiten Isis und Osiris. Es gab in der Antike noch eine umfangreichere griechische Fassung des Romans. Wir kennen sie nur aus einem Bericht des Photios über gelesene Bücher (cod. 129). Er zitiert den verlorenen Text als „Metamorphosen des Lukios von Patrai“. Da der Ich-Erzähler bei Pseudo-Lukian sich ebenfalls so nennt, ist unklar, ob der Name zum Werktitel gehört – dann hätte der Text dem Photios ohne Angabe des realen Autors vorgelegen – oder ob der reale Autor so hieß. Der Patriarch vergleicht in seinem Bericht die griechischen Metamorphosen mit Lukios oder Der Esel und stellt dabei fest, daß er es mit zwei voneinander irgendwie abhängigen Versionen zu tun hat. Seine z. T. sehr dunklen Bemerkungen zu Inhalt und Bucheinteilung der verlorenen griechischen Metamorphosen, zu ihrem Stil und zur Einstellung der beiden Autoren gegenüber ihrem Stoff haben der Altertumswissenschaft seit über 200 Jahren immer wieder Kopfzerbrechen bereitet. Aber heute besteht unter der Mehrheit der Forscher folgender Konsens über das Verhältnis der beiden griechischen Versionen untereinander und zu der Version des Apuleius: Die griechischen Metamorphosen behandelten in einer uns unbekannten Anzahl von Büchern (vermutlich waren es zwei) denselben Stoff wie der Lukios PseudoLukians und die Metamorphosen des Apuleius. Diesem Autor diente der verlorene Text als direkte Vorlage, während es sich bei dem Lukios um eine mechanisch angefertigte Epitome handelt. Sie stimmt bis auf geringfügige Änderungen im Bereich der Stellen, wo gekürzt wurde, mit den entsprechenden Teilen des verlorenen griechischen Textes überein. Man ist heute auch nahezu einhellig der Meinung, daß der Schluß der griechischen Metamorphosen mit dem des Lukios identisch war und daß das Isisbuch der lateinischen Metamorphosen dementsprechend auf eine Änderung des Apuleius zurückgeht. Uneinigkeit herrscht in der Frage, ob die verlorene Originalfassung Einlageerzählungen hatte oder nicht. Quellenpositivistische Analyse früherer Zeiten suchte mit viel detektivischem Scharfsinn nach „Schnittstellen“ in der Epitome, glaubte solche zu entdecken und leitete vor allem daraus die These ab, daß die meisten Novellen im Apuleius-Text – „Amor und
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Psyche“ allerdings nicht – in der verlorenen griechischen Vorlage ein Vorbild gehabt haben müßten. Die jüngere Forschung neigt dagegen eher zu der Meinung, daß nur Apuleius Novellen in die Haupthandlung einfügte, und begründet das plausibel damit, daß alle diese Geschichten thematisch mehr oder weniger eng auf den neuen Schluß, den die Haupthandlung in den lateinischen Metamorphosen hat, bezogen sind. Natürlich kann man nicht ausschließen, daß auch schon in den griechischen Metamorphosen im Rahmen der Haupthandlung Geschichten erzählt wurden, aber angesichts des mit guten Gründen zu erschließenden Umfangs von nur zwei Büchern dürften es nur wenige und diese sehr kurz gewesen sein. In meiner nun folgenden Inhaltsübersicht ziehe ich Lukios oder Der Esel und die lateinischen Metamorphosen dort, wo sie übereinstimmen, zusammen, nenne aber die wichtigsten Abweichungen bei Apuleius, wobei die von ihm geänderten Eigennamen in eckigen Klammern erscheinen. Der auf übernatürliche Begebenheiten neugierige Lukios/Lucius ist zu Beginn der Handlung in Hypata in Thessalien Gast bei dem Geizhals Hipparchos [Milo], dessen Frau heimlich zaubert. Die Magd Palaistra [Photis], mit der Lukios/Lucius mehrere Liebesnächte verbringt – die erste schildern sowohl Pseudo-Lukian als auch Apuleius ausführlich –, verschafft ihm eine Gelegenheit, ihrer Herrin unbemerkt dabei zuzusehen, wie sie sich in einen Vogel verwandelt und davonfliegt. Er will es der Frau nachtun, benutzt aber die falsche Hexensalbe und wird zum Esel mit unverändertem Denken und Fühlen. Bei Apuleius hört Lucius vor seiner Verwandlung zwei längere Geschichten über Hexenkünste, die ihn implizit ebenso vor seiner Neugier auf dergleichen warnen wie ein Erlebnis, bei dem er selbst – sozusagen probeweise – als Opfer von Zauberei herhalten muß: Drei im Dunkel der Nacht vor dem Hause seines Gastgebers auf ihn eindringende Gestalten, die er für Räuber hält und mit seinem Schwert mehrmals durchbohrt, erweisen sich am nächsten Tag als Ziegenschläuche, die durch die magischen Künste der Frau des Gastgebers vorübergehend belebt worden waren. Nach seiner Verwandlung wird Lukios/Lucius von Räubern, die bei seinem Gastgeber einbrechen, als Lasttier mitgenommen und in deren Lager gebracht. Apuleius behandelt das Geschehen bis zu diesem Punkt in drei Büchern. Das Räuberlager ist die erste Station auf einem langen Leidensweg des Lukios/Lucius von Hypata bis Thessalonike [Korinth]. Dabei wechselt er mehrfach die Besitzer, die ihn in dem Glauben, es mit
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einem richtigen Esel zu tun zu haben, auf jede erdenkliche Art mißhandeln, mit Kastration und Tod bedrohen oder ihr Spiel mit ihm treiben. Er muß sich dem allen unterziehen, weil ihm immer wieder mißlingt, in den Besitz von Rosen zu gelangen, deren Verzehr allein die Entzauberung ermöglicht. So lernen wir im Anschluß an die Räuberepisode nacheinander unter anderem eine Gruppe von Priestern der syrischen Göttin [Kybele], einen Müller, einen Gärtner, einen römischen Soldaten und schließlich in Thessalonike [Korinth] einen Zukkerbäcker, einen Koch und deren reichen Herrn Menekles [Thiasos] kennen. Als dieser von seinen beiden Bediensteten erfährt, daß der vermeintliche Esel sich wie ein Mensch benehmen kann, läßt er Lukios/Lucius zunächst zur Belustigung seiner Gäste allerlei Kunststücke vorführen und vermietet ihn dann an eine reiche Dame, die seine Darbietungen gesehen hat, für zwei Liebesnächte. Daraufhin möchte Menekles [Thiasos] ihn öffentlich im Theater eine zum Tode verurteilte Frau bespringen lassen. Apuleius erzählt die Vorbereitung dieses Schauspiels kurz vor dem Ende des Buches 10. Während dieses Buch zwei Novellen über Mord aus Leidenschaft erzählt und das vorausgehende Buch vier Ehebruchsgeschichten aneinanderreiht, lesen wir in dem Abschnitt, in dem Lucius sich im Lager der Räuber befindet, Räubergeschichten. Außerdem hört der Esel in dieser Geschehensphase die lange Geschichte von Amor und Psyche, welche die alte Haushälterin der Räuber einer von ihnen entführten jungen Frau erzählt. Wie man sieht, erlebt Lukios/Lucius unmittelbar vor seiner Rückverwandlung wie schon unmittelbar vor seiner Verwandlung ein erotisches Abenteuer. Doch dem geplanten öffentlichen Liebesakt kann er sich entziehen. Im griechischen Text gelingt es Lukios, kurz bevor das Schauspiel stattfinden kann, endlich Rosen zu fressen. Augenblicklich in seine menschliche Gestalt zurückverwandelt, erklärt er dem erstaunten Provinzstatthalter, der im Theater anwesend ist, er sei Lukios von Patrai, ein Verfasser verschiedenartiger Geschichten, worauf dieser, da er zufällig die Familie des Lukios kennt, ihm die Rückfahrt in die Heimat gestattet. Bevor Lukios sich einschifft, findet noch eine weitere Begegnung mit der Dame statt, eine Szene, auf die ich im nächsten Abschnitt zurückkomme. Bei Apuleius kann Lucius ebenfalls das geplante Sexspektakel von vornherein verhindern, aber nur durch die Flucht zum Hafen von Kenchreai, wo er sich am Ende von Buch 10 schlafen legt. Das elfte Buch erzählt dann von seiner Rückverwand-
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lung durch Isis, die ihm durch ihren Priester Rosen zu fressen geben läßt, und seiner Weihung zum Jünger dieser Göttin sowie des Osiris. Buch und Werk brechen jäh damit ab, daß der Ich-Erzähler, der inzwischen nach Rom gelangt ist, sich als kahlköpfigen Priester beschreibt, der seine Glatze nach allen Seiten zur Schau stellt.
Die griechischen Metamorphosen Die knappe Inhaltsübersicht dürfte gezeigt haben, daß der griechische Text der Metamorphosen, wie ihn uns die Epitome überliefert, in ähnlicher Weise mit typischen Motiven des idealisierenden Romans spielt wie Petrons Satyrica. Da wir diesmal die ganze Handlung kennen, können wir sehen, daß sogar das traditionelle Strukturmuster von Erzählungen wie Xenophons Ephesiaka komisch variiert wird. Während im idealisierenden Roman Liebe auf den ersten Blick, die auf die rechtmäßige eheliche Vereinigung zielt, sowie der Treueschwur am Anfang und die Vereinigung der Liebenden am Ende deren leidvolle Abenteuer rahmen, sind die Leiden des Lukios zwischen die voyeuristisch beschriebene erste Liebesnacht mit der Magd Palaistra und das letzte Rendezvous mit der reichen Dame gelegt. Der Kontrast ist überdeutlich. Von den übrigen Handlungselementen erinnern vor allem die Gefangenschaft des Lukios bei den Räubern, die Sklavendienste für verschiedene Herren und die häufigen Rettungen in letzter Not an die entsprechenden Erlebnisse der beiden Protagonisten im idealisierenden Roman. Mit Petrons Satyrica haben die griechischen Metamorphosen außerdem die Tendenz gemeinsam, der idealisierten Wirklichkeit der Romane vom Typ der Ephesiaka eine komisch-realistische Darstellung der fiktiven Welt, in der das Geschehen sich abspielt, entgegenzuhalten. Wieder ist es ein sozial niedriges Niveau, in dem der Ich-Erzähler sich hauptsächlich bewegt, und jetzt begegnen wir auch – unter anderem in der Gestalt des Soldaten, dem Lukios vorübergehend dient – der römischen Staatsmacht, die alle erhaltenen idealisierenden Romane aus der von ihnen präsentierten griechischen Welt konsequent ausblenden. Zu dem Realismus der Epitome des griechischen „Eselsromans“ paßt auch die Sprache des Werks. Sie ist monoton in Wortgebrauch und Satzbau, ja geradezu vulgär. Der Autor mischt unbekümmert attische mit nicht-attischen Formen, verwendet sogar Solözismen und erfüllt damit nicht die Ansprüche an Erzählpro-
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sa, wie sie der idealisierende Roman von den ältesten erhaltenen Texten an stellt. Wer war dieser Autor? Wenn das Titelzitat des Photios so zu verstehen ist, daß in seiner Ausgabe der Ich-Erzähler Lukios von Patrai auch als realer Verfasser der griechischen Metamorphosen genannt wurde, erhebt sich die Frage, ob es in der Antike möglich war, daß jemand von sich erzählte, er sei in einen Esel verwandelt worden. Forscher, die das nicht glauben, suchen nach der Identität des Griechen, der wie Apuleius einen von seiner Person verschiedenen Ich-Erzähler einsetzte (was übrigens der Kirchenvater Augustin offenbar nicht bemerkte; vgl. civ. 18.18). Vielen gilt Lukian von Samosata als der Autor der griechischen Metamorphosen, da die Epitome des Textes unter seinem Namen überliefert ist; als solche hat er sie, falls sie auf den vollständigen Text eines anderen Autors zurückging, schwerlich verfaßt. Als weiteres Argument hat man motivische Berührungen des „Eselsromans“ mit mehreren von Lukians Schriften angeführt. Diese sind in der Tat vorhanden. Wie Lukios das Treiben seiner Mitmenschen von einem außerhalb der Realität liegenden Standpunkt aus beobachtet, läßt Lukian Figuren seiner Dialoge unter anderem vom Mond nach unten und von der Unterwelt nach oben blicken, und einmal steckt ein Betrachter des Welttheaters auch in einer Tierhaut: der in einen Hahn verwandelte Pythagoras in Der Traum oder Der Hahn. Aber würde der gewandte Stilist Lukian eine solch primitive Sprache schreiben, wie sie die Epitome der griechischen Metamorphosen aufweist? Lukian verfügte durchaus über ein breites Spektrum von Stilebenen, aber hätte er einen Schriftsteller – als einen solchen bezeichnet sich der Ich-Erzähler – Solözismen verwenden lassen? Es ist zu bedenken, daß in Lukians Bericht über eine phantastische Reise, den Wahren Geschichten, der reale Autor denselben Namen trägt wie der Ich-Erzähler. Also wäre das auch für die griechischen Metamorphosen denkbar. Man sollte deshalb einen Lukios von Patrai als Autor nicht gänzlich ausschließen, auch wenn wir über diesen Mann nicht mehr wissen, als daß er seinen Roman vor der Entstehungszeit der Metamorphosen des Apuleius und somit vermutlich in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. verfaßte. Als ebenso spannende wie amüsante Erzählung voller Kuriositäten und Obszönitäten dürfte der griechische „Eselsroman“ von seinem Autor in erster Linie für die Unterhaltung und Erheiterung der Leser bestimmt gewesen sein. Aber das schließt nicht aus, daß die Wahl der
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„fiktionalen Linse“, durch die auf menschliches Treiben geblickt wird, mit der Absicht verbunden war, den Unterschied zwischen Schein und Sein aufzudecken. Lukios interessiert sich ja zu Beginn des Romans betont für eine Scheinwelt, nämlich die der Magie. Er sieht sich aber dann, als er selbst das Opfer von Zauberei geworden ist, in die rauhe Wirklichkeit des leidvollen Eselsdaseins und gleichzeitig einer Umwelt versetzt, die sich nun ihrerseits vom Schein täuschen läßt, indem sie ihn für einen Esel hält und dem in der Tierhaut Versteckten ahnungslos ihr wahres Wesen enthüllt. So z.B. die Dame, die Sodomie mit ihm treibt. Doch nach der Rückverwandlung läßt Lukios sich wieder vom Schein täuschen. Denn als er zu der Dame zurückkehrt, glaubt er, er werde ihr in seiner menschlichen Gestalt besser gefallen. Doch die Dame stellt, als sie ihn entkleidet sieht, lediglich fest, daß er körperlich den von ihr erhobenen Ansprüchen nicht mehr gewachsen sei, und läßt ihn, nackt wie er ist, kurzerhand auf die Straße werfen. Die Szene will in ihrer Derbheit und Frivolität gewiß vor allem komisch sein. Aber sie schildert auch sehr anschaulich die besonders brutale Zerstörung der Illusion eines Menschen, der sich bis dahin zwischen Schein und Sein ständig hin und her bewegt hat. Wie bei Petron darf man sich nicht nur unterhalten, sondern durchaus auch belehrt fühlen.
Apuleius, Metamorphosen Der Verfasser der lateinischen Bearbeitung der griechischen Metamorphosen erweckt zu Beginn seines Romans den Eindruck, er wolle seine Leser lediglich unterhalten. Er äußert sich nämlich über Inhalt, Stil und Intention der Erzählung in einer Vorrede, in der er auch seine Verwandlung von dem realen Autor Apuleius in den Ich-Erzähler Lucius vollzieht. Und dieser sagt am Ende der Vorrede: fabulam Graecanicam incipimus. lector intende: laetaberis. Eine griechische Geschichte beginne ich. Leser, paß auf: Du wirst deinen Spaß daran haben. Zumindest auf den ersten Blick und bei planer Lektüre ist auch alles, was erzählt wird, sogar die Mysterienweihe des Lucius in Buch 11, ausgesprochen unterhaltsam. Aber wer beim Lesen – etwa bei einem
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wissenden „second reading“ – die anspruchsvolle Intertextualität mit einer Fülle von Werken der antiken Literatur und das Netz intratextueller Wechselbezüge in dem Roman wahrnimmt, der kann zu der Überzeugung gelangen, daß Apuleius, ein Vertreter der Zweiten Sophistik (s. S. 55 ff.), auch „lehren“ wolle: nicht nur durch die Aufdeckung des Unterschieds zwischen Schein und Sein, also moralsatirisch, sondern auch auf den höheren Ebenen der philosophischen und religiösen Unterweisung. Sehen wir, ob sich eine solche lehrhafte Intention tatsächlich festmachen läßt. Doch zunächst muß etwas dazu gesagt werden, wie der Erzähler in den lateinischen Metamorphosen seine Ankündigung, dem Leser Spaß verschaffen zu wollen, wahr macht. Er erreicht das ganz einfach dadurch, daß er seine Vorlage, die ja schon unterhaltsam genug ist, von einer verhältnismäßig schlichten Erzählung in ein Wunderwerk narrativer und stilistischer Kunst umwandelt. Dabei verfährt er – abgesehen davon, daß er, wie bereits erwähnt, Novellen in die Romanhandlung einlegt – im großen und ganzen auf folgende Weise: Er motiviert die Handlung sorgfältiger und dramatisiert sie stärker als der griechische Autor, stellt die Charaktere der agierenden Personen in regelrechten Psychogrammen dar, malt bei Beschreibungen die Details liebevoll aus, macht Komisches noch komischer und Pathetisches noch pathetischer und läßt seinen Lucius so engagiert erzählen, daß der Leser sich geradezu in das Romangeschehen einbezogen fühlt. Als Beispiel für einen Textvergleich habe ich die Stellen in den griechischen und lateinischen Metamorphosen gewählt, an denen der jeweilige Ich-Erzähler schildert, wie er reagiert, als er die Verwandlung der Frau seines Gastgebers in einen Vogel erblickt. Während der griechische Autor nur den Gedankenschritt „Traum? Nein, Wirklichkeit!“ nachvollziehbar macht, läßt Apuleius den Leser eine dreistufige Gefühlsentwicklung miterleben: 7γ] δ ^ναρ 7κε>νο ο1μενος _ρν το>ς δακτ λοις τAν `αυτο0 βλεφ4ρων \πτμην, οG πιστε ων το>ς 7μαυτο0 aφ)αλμο>ς οb)* ς τTν λ πην $πεδδουν. fσπερ γρ 7ν τα>ς το0 σ2ματος πληγα>ς οGκ εG)Lς \ σμAδιξ 7πανσταται, $λλ παραχρ,μα μν οGκ ?χει τ8 ν)ος \ πληγ&, μετ μικρ8ν δ $ν9)ορεE κα3 aδντι συς τις παταχ)ε3ς εG)Lς μν ζητε> τ8 τρα0μα, κα3 οGκ οYδεν ερε>ν, τ8 δ ?τι δ9δυκε κα3 κ9κρυπται κατειργασμ9νον σχολH, τ,ς πληγ,ς τTν τομ&νE μετ τα0τα δ 7ξαφνης λευκ& τις $ν9τειλε γραμμ&, πρδρομος το0 αVματος, σχολTν δ aλγην λαβ8ν ?ρχεται κα3 $)ρον 7πιρρε>E οgτω κα3 ψυχT παταχ)ε>σα τA τ,ς λ πης β9λει, τοξε σαντος λγου, τ9τρωται μν Sδη κα3 ?χει τTν τομ&ν, $λλ τ8 τ4χος το0 βλ&ματος οGκ $ν9ωξεν οbπω τ8 τρα0μα, τ δ δ4κρυα 7δωξε τAν aφ)αλμAν μακρ4ν. δ4κρυον γρ αdμα τρα ματος ψυχ,ςE ς aφ)αλμο>ς \ τAν δακρ ων ) ρα, τ δ μετ μικρ8ν τ,ς $νοξεως 7ξεπ&δησεν. οgτω κ$μ τ μν πρAτα τ,ς $κρο4σεως τH, ψυχH, προσπεσντα, κα)4περ τοξε ματα, κατεσγασε κα3 τAν δακρ ων $π9φραξε τTν πηγ&ν, μετ τα0τα δ ?ρρει, σχολασ4σης τ,ς ψυχ,ς τAν κακAν. Da kamen mir die Tränen und leiteten den Schmerz an die Augen weiter. Denn so wie bei den Schlägen auf den Körper nicht sofort der Striemen hervortritt, sondern der Schlag zunächst keine Auswirkung zeigt und die Anschwellung erst nach einiger Zeit auftritt, und jemand, der vom Hauer eines Ebers verletzt worden ist, sofort nach der Wunde sucht und sie nicht finden kann, diese sich aber noch untergetaucht und verborgen hält, um in Ruhe die von dem Schlag verursachte Verletzung herauszubilden, und dann plötzlich ein weißer Strich erscheint, der Vorbote des Blutes, und dieses nach kurzer Pause kommt und reichlich fließt, so ist auch die Seele, wenn sie vom Pfeil des Schmerzes getroffen wird, den ein Wort abgeschossen hat, zwar sofort verwundet und trägt die Verletzung in sich, aber die Schnelligkeit des Schusses hat die Wunde noch nicht geöffnet und die Tränen von den Augen weit weggetrieben; denn die Tränen sind das Blut der Wunde der Seele. Sobald der Zahn des Schmerzes das Herz allmählich aufge-
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fressen hat, bricht die Wunde der Seele auf, es öffnet sich den Augen das Tor der Tränen, die aber schießen nach kurzer Zeit aus der Öffnung hervor. So ließen auch mich gleichsam die Pfeile der vernommenen Kunde, die auf meine Seele prallten, zuerst verstummen und verstopften die Quellen der Tränen, dann aber begannen sie zu fließen, nachdem sich die Seele in Ruhe auf das Unglück eingestellt hatte. Besonders stark macht sich das psychologische Interesse des Achilleus Tatios in den erotischen Episoden seines Romans bemerkbar. Für die komisch-realistischen Romane sind betont wirklichkeitsnahe Schilderungen von Szenen des menschlichen Sexuallebens – man denke etwa an die Erzählung von dem „Ringkampf“ des Ich-Erzählers mit der Magd Palaistra („Ringschule“) in der Epitome der griechischen Metamorphosen (Lukios 9 f.; vgl. Apul. Met. 2.17) – durchaus normal, ja geradezu typisch. Doch in den älteren idealisierenden Romanen vom Typ der Kallirhoë Charitons, an deren Tradition Achilleus Tatios in erster Linie anknüpfte, hatte sich die Darstellung von Erotik im wesentlichen auf die Erzählung von der Liebe auf den ersten Blick, vom Schwur ewiger Treue und der standhaften Überwindung aller Anfechtungen sowie der Hochzeit als Happy-End beschränkt. Jetzt wagte der Verfasser von Leukippe und Kleitophon erstmals – zumindest für die uns bekannten Texte gilt das – Modifikationen dieses starren Systems. Er läßt die Liebe der beiden Protagonisten zunächst einseitig sein und ermöglicht so, daß Kleitophon seine Leukippe durch Werbestrategien erobert, die er aus dem ersten Buch von Ovids Liebeskunst gelernt haben könnte. Ferner macht Achilleus einen Geschlechtsverkehr der männlichen Hauptperson mit der von ihm geliebten Frau vor der Hochzeit immerhin denkbar, indem er ihn erst im letzten Moment verhindert werden läßt (2.23); da hier offenbar das herkömmliche Motiv „Rettung in letzter Not“ im Hintergrund steht, bemerkt man besonders deutlich, daß Achilleus’ Variationen der erotischen Thematik nicht nur seinem Drang nach Psychologisierung entspringen, sondern auch einen spielerischen Zug haben. Schließlich gestattet unser Romanautor seinem Protagonisten unter exzeptionellen Bedingungen – dieser wurde gerade von Fesseln befreit – einen Seitensprung (5.27). Melite, die Frau, die sich dieses „Einmal-ist-keinmal“ unter Tränen ausbittet, ist nicht einfach nur „lüstern“, wie Erwin Rohde und andere sie empört nannten, sondern einer der differenziertesten Charaktere der antiken Erzählliteratur. Wenn der Ich-Erzähler erklärt, daß „das,
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was da geschah, keine Hochzeit mehr war, sondern Medizin für eine kranke Seele“ (5.27.2: οGδ γ4μος ?τι τ8 πραττμενον Uν, $λλ φ4ρμακον fσπερ ψυχ,ς νοσο σης), dient das gewiß der Selbstrechtfertigung. Damit schafft er natürlich nicht aus der Welt, daß er die (von der Gattung vorgeschriebene) Treue zu seiner Geliebten gebrochen hat, ja, was er sagt, wirkt unter diesem Aspekt frivol und überdies komisch. Aber man fühlt sich auch ein bißchen an moderne Psychotherapie erinnert, und deren Prinzipien entspräche dann bei dem antiken Autor das Bemühen, seine Romanfiguren ihre sexuellen Beziehungen ein wenig menschlicher gestalten zu lassen, als die Gattungstradition es ihm eigentlich gestattete.
Longos, Daphnis und Chloë Wie wir gesehen haben, ersetzte Achilleus Tatios die von der Gattungstradition verlangte „Liebe auf den ersten Blick“ durch eine allmähliche Entwicklung der sexuellen Beziehung seines Liebespaars. Während er der Schilderung dieser Entwicklung immerhin das erste Viertel seines Romans widmete, ging Longos in Daphnis und Chloë (ursprünglich Lesbiaka?) sogar so weit, daß er den Liebenden seines Romans bis zum Ende des Werks Zeit gab, zueinander zu finden. Man möchte meinen, daß Longos als derjenige, der einem in der Gattung sonst nur bei Achilleus Tatios vorhandenen Handlungselement sehr viel mehr Raum gibt als der Autor von Leukippe und Kleitophon, an diesen Roman anknüpfte. Es wäre aber auch der umgekehrte Vorgang denkbar: Achilleus ließ sich motivisch von Longos anregen und machte dann aus der Beschreibung der Liebesentwicklung bewußt nur die Vorgeschichte der eigentlichen Handlung seines Romans. Die Entstehung von Daphnis und Chloë setzt man in der Forschung meist um 200 an, was unter anderem damit begründet wird, antike Maltechnik in dieser Zeit ähnele der Erzähltechnik des Longos. Aber einer derartigen Argumentation fehlt jede Beweiskraft. Da bisher keine Papyri mit Resten von Daphnis und Chloë gefunden wurden und die früheste Anspielung auf den Roman sich (vielleicht) in einem Gedicht des Konstantin von Sizilien im 10. Jahrhundert findet, muß das zeitliche Verhältnis des Longos zu Achilleus Tatios und Heliodor offen bleiben. Wir können nicht einmal genau sagen, woher der Autor von Daphnis und Chloë stammt. Auf Lesbos, wo die Handlung des Romans spielt, sind
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Angehörige einer Familie der Pompeii Longi inschriftlich bezeugt, aber es ist umstritten, ob Longos, der im Werk so gut wie nichts über seine Person verrät, die Insel aus eigener Anschauung kannte. Der Anfang des Romans weist ein Motiv auf, das sich bei Achilleus Tatios ebenfalls am Anfang findet: eine Bildbeschreibung als Ausgangspunkt der Handlung. Während der Jagd in einem Nymphenhain bei Mytilene auf Lesbos erblickt der Erzähler ein Gemälde. Dieses dient ihm nicht einfach als Anknüpfungspunkt für seine Geschichte, sondern es stellt die Romanhandlung bereits visuell dar und weckt in ihm das Verlangen, mit dem Maler literarisch zu wetteifern. Die Darstellung der Romanhandlung in Worten gerät ihm denn auch zu einem Klangbild der rhythmisierten Sätze, der Reime und des reichen rhetorischen Schmucks. Daphnis und Chloë, die von ihren (verschiedenen) Eltern nach der Geburt ausgesetzt und von einer Ziege beziehungsweise einem Schaf gesäugt worden sind, werden zu Beginn der Handlung von den jeweiligen Hirten gefunden und in deren Familien aufgezogen. Beim gemeinsamen Hüten der Ziegen und Schafe durch den fünfzehnjährigen Daphnis und die dreizehnjährige Chloë erwacht die Liebe der beiden zueinander, gleichzeitig beginnen aber auch die unvermeidlichen Schwierigkeiten zweier ahnungsloser Kinder, das für sie unerklärliche Gefühl der Sehnsucht nach einem engeren Verhältnis zum Partner in aktive Äußerungen der Zuneigung umzusetzen. Damit ist das Leitmotiv der „Reiseabenteuer“ dieses Romans geschaffen. Die „Reise“, die von den beiden unternommen wird, führt zwar nicht in ferne Regionen, aber es handelt sich dabei gleichwohl um eine „Abenteuerfahrt“. Denn sie geht durch das fremdartige Land der seelischen Erfahrungen von zwei jungen Menschen, welche die körperliche Liebe Schritt für Schritt entdecken. Die „Reisestationen“ sind dabei die neuen Erkenntnisse, die sowohl anhand von Beobachtungen an Tieren und Belehrungen durch andere als auch aus Mißerfolgen gewonnen werden. Diese Erkenntnisse nehmen im Ablauf der Jahreszeiten stetig zu, weshalb Bryan Reardon treffend formuliert hat: „Daphnis and Chloë embark on a journey not in space, but in time“ (Phoenix 23, 1969, S. 301). Die bald hilfreichen, bald bedrohlichen Begegnungen der Liebenden mit der übrigen Welt erinnern, was die Bedrohungen betrifft, deutlich an die Erlebnisse der Protagonisten in den anderen idealisierenden Romanen. Im ersten von insgesamt vier Büchern rauben phö-
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nizische Piraten, die an der Küste von Lesbos landen, Daphnis zusammen mit einer Herde Rinder. In Buch 2 wird Chloë von einer Gesellschaft reicher junger Männer aus der Stadt Methymna auf deren Schiff entführt. Beide Male erfolgt Rettung im letzten Augenblick. Im ersten Fall bewirkt das Syrinxspiel Chloës, daß die Rinder von dem gerade abfahrenden Seeräuberschiff ins Meer springen und das Fahrzeug zum Kentern bringen (das Schiffbruchmotiv!), im anderen Falle verhindert der Hirtengott Pan das Davonsegeln durch schreckliche Erscheinungen. Daneben finden sich die ebenfalls aus den übrigen Romanen bekannten Versuche von Rivalen, den Protagonisten beziehungsweise die von ihm geliebte Frau für sich zu gewinnen. In Buch 1 begehrt ein anderer Hirte Chloë, und in Buch 4 lesen wir, wie ein mit dem Sohn des reichen Gutsherrn befreundeter Parasit Daphnis nachstellt und wie ein weiterer Hirt Chloë vorübergehend in seine Gewalt bringt. Diese Bedrohungen sind wie die Abenteuer mit den Piraten und den Mytilenäern kurz und im Grunde harmlos. Mit den meist lebensgefährlichen Verfolgungen der Helden in Romanen vom Typ der Ephesiaka Xenophons ist das alles nur entfernt verwandt, ja wirkt eher wie das Produkt spielerischer Variation der bekannten Motive. Als Ort des Geschehens dient zudem eine ländliche Idylle, über deren Frieden schützende Gottheiten wachen. So fügt es sich gut zu der vorwiegend heiteren Atmosphäre der Episoden mit den „echten“ Abenteuern des Daphnis und der Chloë, daß Longos das Motiv für sein Happy-End dem Motivarsenal der Neuen Komödie entlehnte. Der Schluß des Romans wird durch zwei überraschende Wiedererkennungsszenen eingeleitet, in denen sich herausstellt, daß Daphnis und Chloë die Kinder reicher Bürger von Mytilene sind. Unmittelbar darauf folgen die Hochzeit und die erste Liebesvereinigung der beiden. Wie man sieht, haben die „echten“ Abenteuer für die Romanhandlung bei weitem nicht dieselbe Bedeutung wie vergleichbare Ereignisse in den anderen idealisierenden Romanen und sind somit eher Teil einer Art Nebenhandlung. Die Haupthandlung konstituiert sich aus den einander abwechselnden Fortschritten und Rückschlägen auf dem schwierigen Weg zum vollkommenen Liebesglück. Longos schildert ihn in allen Einzelheiten von dem Moment an, wo Chloë ihre ersten erotischen Gefühle wahrnimmt, nachdem sie Daphnis nackt gesehen hat (1.13), bis zur Hochzeitsnacht. Höhepunkte dieser Entdeckungsreise des jungen Paars durch das Reich der Sinne sind in der ersten Hälfte des Romans die Szenen, die von den Unterweisungen über das
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Wesen des Eros aus dem Munde eines alten, erfahrenen Hirten namens Philetas in Gang gesetzt werden. Da er Daphnis und Chloë erklärt, gegen die Macht der Liebe könnten nur „Kuß und Umarmung und Zusammenliegen mit nackten Körpern“ (φλημα κα3 περιβολT κα3 συγκατακλι),ναι γυμνο>ς σ2μασι) helfen (2.7.7), probieren die beiden das alles – das dritte Mittel erst nach einigem Zögern – der Reihe nach aus und halten es zunächst für „das Äußerste des Liebesgenusses“ (2.11.3: π9ρας 7ρωτικ,ς $πολα σεως). Die in den Sommer fallenden „Übungen“ werden dann durch die gerade referierten gefährlichen Abenteuer der Liebenden und den Winter unterbrochen. Doch gleich im Frühling knüpft Daphnis an das bisher Versuchte an, indem er Chloë erklärt, sie müßten jetzt das tun, was auf Küssen, Umarmung und Liegen folge, und zwar das „was die Widder den Schafen tun und die Böcke den Ziegen“ (3.14.2: h ο; κριο3 ποιο0σι τς ^ις κα3 ο; τρ4γοι τς αYγας). Also kommt es zur Mimesis, die zunächst noch ihren Ausgang von der dritten Stufe des Philetas’schen Gesetzes nimmt (3.14.5): Δ4φνις … συγκατακλινε3ς αGτH, πολLν χρνον ?κειτο κα3 οGδν jν kνεκα lργα ποιε>ν 7πιστ4μενος $νστησιν αGτTν κα3 κατπιν περιεφ ετο μιμο μενος τοLς τρ4γους. πολL δ μλλον $πορη)ε3ς, κα)σας ?κλαεν ε1 κα3 κριAν $μα)9στερος ε1ς τ ?ρωτος ?ργα. Daphnis … legte sich zusammen mit ihr hin und lag lange Zeit, und weil er das, wonach er heftig verlangte, nicht zu tun verstand, richtete er sie auf und umfing sie fest von hinten, die Böcke nachahmend. Da er sich aber nun erst recht nicht auskannte, setzte er sich hin und weinte darüber, daß er unwissender sei als die Widder in den Werken der Liebe. Auch in dieser erotischen Situation erfolgt „Rettung in höchster Not“, aber diesmal – im Gegensatz zu der Schlafzimmerszene bei Achilleus Tatios (s. S. 117) – zugunsten der Erotik. Lykainion, eine junge Frau aus der Stadt, die mit einem älteren Bauern verheiratet ist und sich in Daphnis verliebt hat, beobachtet heimlich die gerade angesprochene Szene und verbindet daraufhin die Erfüllung der eigenen Wünsche mit einem gründlichen Unterricht in angewandter Sexualkunde für den schönen jungen Mann. Dieser gibt sein neues Wissen
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nur deshalb nicht gleich, sondern erst in der Hochzeitsnacht an Chloë weiter, weil Lykainion ihn abschreckt, indem sie ihn warnend auf die für seine Liebespartnerin mit der Defloration verbundenen körperlichen und seelischen Begleiterscheinungen hinweist (3.15–20). All das wird nicht nur ungemein geistreich und witzig erzählt, sondern erweist Longos auch als einen weiteren Meister der psychologischen Beobachtungskunst innerhalb der Gattung. Man teilt heute allgemein die Meinung Goethes, der am 9., 18. und 20. März 1831 Eckermann gegenüber „Verstand, Kunst und Geschmack“ des Hirtenromans („… wogegen der gute Virgil freilich ein wenig zurücktritt …“) enthusiastisch pries, zu der erotischen Entdeckungsreise der jungen Leute bemerkte, daß „dabei die größten menschlichen Dinge zur Sprache“ kämen, und empfahl, das Werk „alle Jahre einmal zu lesen, um immer wieder daran zu lernen und den Eindruck seiner großen Schönheit aufs neue zu empfinden“. Die Altertumswissenschaft dachte lange Zeit anders. Bis über die Mitte des 20.Jahrhunderts hinaus hielt man es mit Rudolf Helm, der sich empört von der „sexuellen Perversität“ und der „schwülen Schlüpfrigkeit“ der „niederen, ans Pornographische grenzenden Sphäre“ des Romans abwandte und Goethes „seltsames Fehlurteil“ bedauerte (Der antike Roman, 1948, S. 51). Seit den sechziger Jahren versuchte man dann besonders eifrig, die Bedeutung des ländlichen Hintergrundes von Daphnis und Chloë und der darin wirkenden göttlichen Mächte herauszufinden, während man die erotischen Szenen mehr oder weniger unbeachtet ließ. Die Tatsache, daß nunmehr die Interpretation des Romans als einer Propagandaschrift für einen Mysterienkult (diesmal der des Dionysos und/oder Eros) ausgerechnet im Fall eines solchen Textes auf ungewöhnlich breite Anerkennung stieß, erscheint im Lichte der vorher geäußerten moralischen Entrüstung deutlich als Folge des Umschlagens in ein anderes Extrem. Erst seit etwa 25 Jahren bemüht man sich, den Roman als literarisches Werk in der Tradition seiner Gattung und ihres „Sitzes im Leben“ zu verstehen. Den ersten wichtigen Vorstoß in diese Richtung unternahm Bernd Effe. Er sieht in der auf ihn heil wirkenden Welt der Hirten bei Longos, die in kindlicher Unschuld und in einem von den Göttern garantierten Frieden leben, ein Kontrastbild zu der vom Autor als überzivilisiert und moralisch depraviert empfundenen Lebenswirklichkeit der städtischen Kultur in der frühen Kaiserzeit (Hermes 110, 1982, 65 ff.). Deutlich unter dem Einfluß der in Kapitel 2 behandelten Entstehungs-
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theorie Perrys und Reardons stehend, setzt diese Interpretation als Leser von Romanen wie Daphnis und Chloë das einsame Individuum in der fremdbeherrschten Polis voraus, das sich in ein alternatives Dasein hineinträumt. Doch weder ist die Welt der Hirten bei Longos wirklich heil – Piraten und Männer, die die Unschuld der Protagonistin bedrohen, treiben im ländlichen Teil von Lesbos ebenso ihr Unwesen wie in den unzivilisierten Regionen des Ostmittelmeerraums bei den anderen Romanautoren –, noch wird Urbanität negativ dargestellt. Nein, auch für Longos gilt, daß er in der griechischen Poliskultur – es handelt sich offenbar wieder um die der klassischen Zeit, denn Methymna und Mytilene bekriegen sich in Buch 2 als autonome Stadtstaaten – die ideale Voraussetzung für menschliches Zusammenleben sieht. Speziell in Daphnis und Chloë kommt das unter anderem darin zum Ausdruck (was auch Effe nicht verkennt), daß die Hirtenkinder zum Happy-End letztlich nur durch die „Lebenshilfe“ der Städterin Lykainion und die Wiedervereinigung mit ihren reichen Eltern in Mytilene geführt werden. Zwar feiern sie ihre Hochzeit auf dem Land, aber Chloë trägt ein elegantes städtisches Brautkleid, und als sie sich erstmals darin zeigt, bemerkt der Erzähler: Uν οmν μα)ε>ν οdν 7στι τ8 κ4λλος ς 7π&ρχοντο κα3 τA πελ4γει τ8 πρAτον τς ^ψεις 7παφ9ντες, cς οGδν γρας λHηστρικ,ς 7πηγγ9λλετο μT πλεμενον, 7π3 τ8ν πλησον α1γιαλ8ν τH, )9α κατ&γοντο. κα3 Uν τ 7ν αGτA τοι4δεE … Als das Tageslicht eben durchbrach und die Sonne auf die Berggipfel herabstrahlte, zeigten sich Männer in Räuberbewaffnung auf der Anhöhe, die sich über dem Ausfluß des Nils an der Herakleotischen Mündung erstreckt, hielten kurz inne, ließen ihre Augen über das
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unter ihnen liegende Meer wandern und richteten ihre Blicke zunächst auf die offene See; da diese aber nicht befahren war und keine Diebesbeute versprach, senkten sie ihre Blicke zur nahen Küste hinab. Dort war folgendes zu sehen … Es ist ein mysteriöses, unheimliches Tableau, das sich nun den Augen der Räuber und damit zugleich der Leser darbietet; das Prinzip der „stellvertretenden Romanlektüre“ durch handelnde Personen, das schon bei Longos am Beispiel der Lykainion zu beobachten war (s. S.129), wendet Heliodor den ganzen Roman hindurch immer wieder an. Die Szenerie des Romananfangs erstellt er mit Hilfe einer Präsentationsform, die an die Kameraführung heutiger Filme erinnert, durch Aneinanderreihung von Einzelbildern, die allmählich einen geschlossenen Eindruck ergeben. Gemeinsam mit den Räubern erblicken wir nacheinander ein schwerbeladenes unbemanntes Schiff, davor am Strand zwischen umgestoßenen Tischen und Resten eines üppigen Gelages viele Leiber gerade Erschlagener, deren Glieder zum Teil noch zucken. Nachdem wir zusammen mit den Räubern zum Strand hinuntergegangen sind, sehen wir in „Nahaufnahme“ ein wunderschönes Mädchen, das auf einem Felsen sitzt und traurig – jetzt folgen wir und die Räuber seinem Blick – einen vor ihm am Boden liegenden hübschen jungen Mann, der verwundet ist, betrachtet. Auf dieselbe Art, wie Heliodor uns ohne jede Vorbemerkung Schritt für Schritt in das Zentrum seines Eröffnungstableaus zu dem jungen Paar führt, läßt er uns erst nach mehreren darauf folgenden Szenen wissen, daß es sich bei den beiden um Charikleia und Theagenes, die beiden Protagonisten des Romans, handelt (1.8). Dann dauert es noch bis zum Ende der ersten Hälfte des Romans, der insgesamt zehn Bücher umfaßt, bis wir über sämtliche Detailinformationen verfügen, die zum Verständnis der geheimnisvollen Ouvertüre notwendig sind. Es würde hier viel zu weit führen, wenn ich auch nur in groben Zügen nachzuzeichnen versuchte, wie sich in den ersten fünf Büchern der Aithiopika die Vorgeschichte unter gleichzeitiger Fortsetzung des Geschehens, das mit dem Auftreten der Räuber beginnt, in der Retrospektive enthüllt. Ich begnüge mich mit wenigen Bemerkungen zu der besonders komplizierten narrativen Technik, die Heliodor hier anwendet. Er läßt eine Person der Handlung, den Priester Kalasiris, das bisherige Schicksal der Liebenden einem Mann namens Knemon erzählen. Hier wird der Erzähler „vertreten“, und dadurch, daß sich in der
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Darstellungsweise des Kalasiris diejenige des Erzählers widerspiegelt, bekommt der Leser diese sozusagen „metanarrativ“ besonders verdeutlicht. Der Bericht des Kalasiris ist einerseits durch eingelegte Berichte so sehr verschachtelt, daß uns streckenweise „erzählte erzählte Erzählung“ geboten wird und wir, wie gesagt, sehr aufmerksam sein müssen, andererseits erscheint der Bericht aufgrund der eingestreuten Zwischenbemerkungen des Zuhörers Knemon, die wiederum artikulieren, was wir Leser denken könnten, als lebendige Dialogszene. Knemon fungiert aber nicht nur als unser „Stellvertreter“, sondern auch als Hauptfigur einer Nebenhandlung, über die uns teils der Erzähler selbst, teils Knemon informiert, und da dieser wie Theagenes Protagonist einer Liebesgeschichte war, nutzt Heliodor die Möglichkeit, durch Parallelen und Kontraste die Haupthandlung zu spiegeln. Während der Erzählungen des Kalasiris und Knemons schreitet die Haupthandlung stetig voran, ja der Bericht darüber unterbricht immer wieder die beiden eingelegten Berichte. Das alles erscheint, narratologisch betrachtet, höchst faszinierend, aber gleichzeitig auch so verwirrend, daß ich im folgenden die wichtigsten Ereignisse des Romangeschehens in linearer Nacherzählung nenne. Charikleia ist die mit Erkennungszeichen ausgesetzte Tochter des äthiopischen Königspaars Hydaspes und Persinna. Sie wächst in Delphi auf, wo sie Kalasiris begegnet, der behauptet, er sei – scharfsinnige Analyse des Textes hat das als Lüge erweisen können – von Persinna auf die Suche nach ihr geschickt worden. In Delphi nimmt auch die Liebesgeschichte mit Theagenes ihren Anfang. Alle drei begeben sich auf die Reise nach Äthiopien, geraten auf hoher See in die Gefangenschaft von Piraten und werden zusammen mit ihnen von einem Sturm an die Herakleotische Nilmündung getrieben. Dort führt ein Streit zweier in Charikleia verliebter Seeräuber dazu, daß alle Piraten sich gegenseitig umbringen (dieses Ereignis setzt der Anfang des Romans unmittelbar voraus) und das Paar anschließend Sumpfräubern in die Hände fällt, während Kalasiris entfliehen kann. Nach neuen gefährlichen Erlebnissen der Liebenden mit den Banditen und mit dem von ihnen ebenfalls gefangengehaltenen Athener Knemon, der ein Abenteuer vom Typus der Phädra-Tragödie hinter sich hat, wird Charikleia vorübergehend von Theagenes getrennt, trifft aber, nachdem sie Kalasiris wiedergefunden hat, in Memphis, der Heimatstadt des Priesters, auch mit ihm wieder zusammen. Mittlerweile ist das Romangeschehen bis zum siebten Buch fortgeschritten, und erst dort beendet der
Heliodor, Aithiopika
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Erzähler das sukzessive Nachtragen der Vorgeschichte zu den einzelnen Handlungssträngen. Nachdem Knemon schon in Buch 6 aus dem Romangeschehen ausgeschieden war und wir inzwischen teils in der Rückschau, teils direkt die verwickelte Familiengeschichte des Kalasiris erfahren haben, wird nun mit dem Tod des Priesters endgültig der Punkt erreicht, von dem an die Charikleia/Theagenes-Handlung bis zum Schluß des Romans einsträngig erzählt werden kann. Die wichtigsten Ereignisse bis zur Heimkehr des Mädchens zu seinen äthiopischen Eltern sind rasch referiert. In Memphis geraten die Liebenden dadurch in größte Bedrängnis, daß Theagenes sich standhaft den Liebesanträgen Arsakes, der Frau des persischen Satrapen, verweigert; diese Episode hat motivische Anregungen zu dem Libretto von Verdis Aida geliefert. Das Paar wird aus der lebensgefährlichen Lage in letzter Not befreit, weil der von den Umtrieben seiner Frau in Kenntnis gesetzte Satrap, der sich im Krieg mit den Äthiopiern befindet, Charikleia und Theagenes zu sich holen läßt. Auf dem Weg zu ihm von äthiopischen Kundschaftern gefangengenommen und zu Hydaspes gebracht, soll das Paar nach der Eroberung der Stadt Syene durch die Äthiopier, die in Buch 9 ausführlich geschildert wird, bei der Siegesfeier den Göttern geopfert werden. Ähnlich wie Xenophon von Ephesos (s. S. 16) verzögert Heliodor dann im letzten Buch die Wiedererkennung der Charikleia mit Vater und Mutter durch eine Reihe von Szenen, welche die Spannung zusätzlich erhöhen. So erzählt er unter anderem von einem Gottesurteil, das die unversehrt gebliebene Keuschheit der beiden Liebenden beweist, und davon, wie Theagenes, der sich im Vergleich zu vorher, wo durchweg Charikleia die treibende Kraft war, überraschend aktiv zeigt, mit einem tobenden Stier und einem kraftstrotzenden Athleten kämpft. Hier greift Heliodor offensichtlich das Motiv der Kriegstaten der männlichen Helden in den älteren idealisierenden Romanen und bei Iamblichos wieder auf (s. S. 27 ). Der Roman schließt mit der offiziellen Verlobung des Theagenes und der Charikleia und ihrer Weihe zu Priestern des Sonnengottes und der Mondgöttin. Mit der Expositionstechnik der nachträglich gelieferten Informationen, welche die Erzählung in der ersten Hälfte des Romans wesentlich prägt, hängt sehr eng ein Kunstgriff zusammen, der sich in ähnlicher Form schon im Roman des Achilleus Tatios beobachten ließ. Wie dort gelegentlich dadurch Spannung erzeugt werden kann, daß das Geschehen nur aus der restringierten Sicht des selbst in die Handlung invol-
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vierten Ich-Erzählers berichtet wird (s. S. 119 f.), so erzielt Heliodor in einigen Episoden seiner Er-Erzählung einen vergleichbaren Effekt durch vorübergehendes Aufgeben der Position auktorialer Allwissenheit. So läßt er z.B. beim Übergang vom ersten zum zweiten Buch den Eindruck entstehen, Charikleia sei vom Anführer der Sumpfräuberbande erstochen worden, indem er die Tat nur aus der Perspektive des „Mörders“ der Charikleia erzählt (1.30), der sich, wie man später erfährt, in der Person seines Opfers täuschte. Ebenso wie der Verfasser der Aithiopika auf solche Weise die Verfeinerung der Erzähltechnik im Bereich der griechischen Romanprosa zu höchster Vollkommenheit führt, zeigt er eine vom idealisierenden Roman vorher unerreichte Meisterschaft in der realistischen Darstellung von Personen und Gegenständen. Dabei bewirkt Heliodor Anschaulichkeit auch dadurch, daß er die einzelnen Episoden noch kunstvoller als Chariton (s. S. 63) wie Dramenszenen komponiert. Das gibt überdies Gelegenheit, intertextuelle Bezüge zur klassischen Tragödie herzustellen. Aber die literarischen Anspielungen beschränken sich natürlich nicht auf diese Gattung, sondern beziehen sich auf zahlreiche Werke der griechischen Poesie und Prosa von Homer an. Heliodor erinnert auch darin an Chariton, daß er in der Pose des Historikers erzählt. Von den zahlreichen narrativen Raffinessen, die das fiktionale Geschehen bei dem Autor der Aithiopika authentisch erscheinen lassen, sei hier nur eine als Beispiel genannt (zu Weiterem s. S. 44): Im vollen Bewußtsein der Tatsache, daß Charikleia und Theagenes es überwiegend mit Nicht-Griechen zu tun haben, nimmt der Erzähler auf die daraus entstehenden Sprachschwierigkeiten konsequent Rücksicht (z. B. 1.3 und 4, 2.18). Ebenfalls nur kurz angesprochen sei, daß auch Heliodor die von den Vertretern der Zweiten Sophistik gepflegte Kunstsprache virtuos beherrscht und damit keineswegs nur in den rhetorischen Prunkstücken brilliert, die er wie Achilleus Tatios (und übrigens auch Longos) zu bieten hat. Heliodor verfügt über einen umfangreichen und immer wieder poetischen Wortschatz. Sein Satzbau, der meist eine ungewöhnliche Wortstellung aufweist und durch Partizipialkonstruktionen überladen ist, macht die Aithiopika schwer lesbar, aber das paßt zu Verrätselung und Verschachtelung im Bereich der Erzähltechnik. Ohne den in diesem Buch mehrfach gebrauchten Begriff des literarischen Spiels über Gebühr ausweiten zu wollen, möchte ich zu erwägen geben, ob es nicht zumindest einen gewissen Hang zum Spielerischen verrät, wenn Helio-
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dor, der offenbar sehr viel Spaß an seiner Erzähl- und Sprachakrobatik hat, in diesem Bereich bis an die Grenzen des in einem Roman Machbaren geht. Neben dem gegenüber Achilleus Tatios und Longos gesteigerten Anspruch hinsichtlich der narrativen Technik finden wir in Heliodors Roman im stofflichen Bereich eine auf den ersten Blick als Rückschritt erscheinende Wiederbelebung von typischen Motiven des älteren idealisierenden Romans. Dabei ist besonders bemerkenswert, daß dieser Erzähler auf sexualpsychologische Beobachtungen, wie Achilleus und Longos sie bieten, offenbar keinen Wert legte. Es gibt immerhin eine entscheidende Abweichung von dem Handlungsschema der frühen Romane vom Typ der Ephesiaka des Xenophon von Ephesos, und diese kann man vielleicht so deuten, daß Heliodor bestrebt war, den vorgegebenen Stoff durch eine neue geistige Dimension zu erweitern. Bei ihm kehren die Liebenden (die während ihrer Abenteuerreise nur einmal kurz getrennt sind) am Schluß des Romans nicht an den Ort im griechischen Sprachraum zurück, von dem die Reise ihren Ausgang nahm. Statt dessen verbringen sie ihr Leben nach dem Happy-End in einem fernen Land, das zwar äußerlich in einer historisch faßbaren Wirklichkeit lokalisiert wird – wir sollen uns in die Zeit hineinversetzen, in der Ägypten noch von den Persern beherrscht wurde, und zwar offenbar in das 6. Jahrhundert v. Chr. –, dessen Beschreibung aber wohl als eine Art Staatsutopie gelesen sein will. Von einem idealen Herrscher gelenkt, der sich von der neupythagoreisch und neuplatonisch gefärbten Weisheit seiner Priester, der Gymnosophisten, beeinflussen läßt, stellen Heliodors Äthiopier eine Gesellschaft vollkommener Menschen dar. Ihrem hohen humanen Ethos verhelfen sie dadurch endgültig zum Durchbruch, daß sie nach der Wiedererkennung der für ein Siegesopfer bestimmten Königstochter Charikleia durch ihre Eltern beschließen, von nun an keine Menschen mehr zu schlachten. Welche Intention Heliodor, der sich im letzten Satz der Aithiopika als aus Emesa im phönizischen Syrien stammender Priester des Helios und damit des allerhöchsten äthiopischen Gottes bezeichnet, mit der Darstellung Äthiopiens als einer idealen Volksgemeinschaft verband, kann man nicht sagen. Bemerkenswert ist immerhin, daß Theagenes und Charikleia, die am Ende des Romans zu Priestern geweiht werden, aus Delphi, einem der religiösen Zentren des klassischen Griechenland, nach Äthiopien gekommen sind und von dort ihre griechische Paideia mitgebracht haben. Dieses bedeutende kulturelle Erbe
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läßt sich eben nicht nur im Bereich der Polis, sondern auch in der Fremde pflegen und durch die Vereinigung mit einer ebenfalls altehrwürdigen Kultur sinnvoll bereichern. Da ich die Person des Autors angesprochen habe – wir wissen sonst fast nichts über ihn (s. S. 137) –, stellt sich nun auch die Frage nach der Datierung seines Werkes. Von den Aithiopika ist uns nur ein einziges Papyrusfragment erhalten (P. Amh. 160). Es stammt aus dem 6. Jahrhundert, aber wir haben mehrere Anhaltspunkte innerhalb und außerhalb des Textes, die es wahrscheinlich machen, daß die Entstehung der Aithiopika in das zweite Viertel des 3. Jahrhunderts zu setzen und damit zeitlich nicht allzuweit von der mutmaßlichen Entstehung der Romane des Achilleus Tatios und des Longos abzurücken ist. Zu nennen sind vor allem die für Heliodor wahrscheinlich vorauszusetzende Kenntnis der Philostratschen Biographie des Apollonios von Tyana (Anfang 3. Jh.; s. S. 29 f.); die Erwähnung der Kataphrakten, einer speziellen persischen Reitertruppe (9.14 f.), welche die Römer 232/233 in einem Krieg des Alexander Severus kennenlernten; die offizielle Erhebung der religiösen Verehrung des Sonnengottes zum Reichskult durch das severische Kaiserhaus; und Hinweise in den ebenfalls im zweiten Drittel des 3. Jahrhunderts in ihrer Urform entstandenen Pseudo-Klementinen (s. S. 36 f.) auf die Bekanntschaft ihres Verfassers mit den Aithiopika. Nun vertreten aber mehrere Heliodorforscher die Meinung, der Roman sei frühestens in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts verfaßt worden. Sie nennen als Beleg dafür die beiden Preisreden des Kaisers Julian auf Constantius II., in denen die Belagerung der Stadt Nisibis in Mesopotamien durch Schapur II. im Jahre 350 geschildert wird (or. 1.27 Bff.; 2.63 Cff.). Denn dieser Bericht und vor allem die Beschreibung einer bestimmten Belagerungstechnik zeigen so auffallende Berührungen mit Heliodors Erzählung der Belagerung von Syene in Buch 9 der Aithiopika, daß an der Abhängigkeit des einen von dem anderen Text nicht zu zweifeln ist, und da bietet sich natürlich zunächst der Gedanke an, daß die Beschreibung des historischen Ereignisses als eines solchen dem Romanautor zum Vorbild diente. Vergleiche des Julianischen Berichtes mit den übrigen antiken Darstellungen der Belagerung von Nisibis ergaben nun aber, daß der Kaiser gerade in einem besonders romanhaften Zug seiner Schilderung von der gesamten Parallellüberlieferung abweicht, jedoch mit Heliodor übereinstimmt: Beide berichten über die Verwendung von Kriegsschiffen auf einem künstlichen See, der um die belagerte
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Stadt gelegt wird. Man darf also ohne weiteres annehmen, daß Julian, der ja nachweislich griechische Romane kannte (s. S. 44), für seine Rede Heliodors Roman benutzte, und an der Datierung der Aithiopika in das zweite Drittel des 3. Jahrhunderts festhalten. Die Verfechter des Spätansatzes berufen sich auch immer wieder gerne darauf, daß der im 5. Jahrhundert lebende Kirchenhistoriker Sokrates Scholastikos die Aithiopika zu dem Jugendwerk eines Heliodor macht, der später Bischof von Trikka geworden sei und in Thessalien den Zölibat eingeführt habe. Diese Nachricht wird nicht glaubhafter durch die Behauptung eines anderen Kirchenhistorikers, des um 1320 schreibenden Nikephoros Kallistos, Heliodor sei von einer Synode dazu aufgefordert worden, entweder den Roman zu verbrennen oder auf sein geistliches Amt zu verzichten. Die Behauptung des Sokrates Scholastikos läßt sich aber erst recht nicht dadurch untermauern, daß man die Meinung vertritt, in der Humanität der Gymnosophisten in Heliodors Äthiopien sei ein Hauch von christlichem Geist zu verspüren. Hier stellt sich sofort die Frage, welchen sonstigen Gesinnungen der so auffällig an sexuellen Themen interessierte Romanautor Achilleus Tatios es verdankte, daß auch er – so behauptet jedenfalls die Suda – die Bischofswürde errang. Folgende Erklärung für die Entstehung der genannten „biographischen“ Angaben über Heliodor und Achilleus Tatios wäre eventuell denkbar: Ziemlich genau in der Zeit zwischen 150 und 250, als einige von der Zweiten Sophistik besonders stark beeinflußte griechische Schriftsteller den Versuch unternahmen, das im 1. Jahrhundert n. Chr. entstandene Genre des idealisierenden Romans inhaltlich und stilistisch auf ein höheres Niveau als das zu heben, was es bisher gehabt hatte, blühte auch die für ein breiteres Publikum bestimmte romanhafte Literatur mit christlicher Thematik (s. S. 34 ff.). Verglichen mit diesen Produkten der fiktionalen Prosa wirkten Romane wie der des Heliodor mit seinem komplizierten Stil, seiner ausgeklügelten narrativen Technik und seiner Intertextualität so anspruchsvoll, daß sie, in Konkurrenz mit den christlichen Erzählungen tretend, vielleicht weniger Leser fanden als die älteren idealisierenden Romane. Aber einen kleinen Kreis von Interessenten gab es, wie die Papyrusfragmente von Leukippe und Kleitophon belegen, offenbar immer noch. Und so mag es denn dazu gekommen sein, daß man, um die Lektüre der heidnischen Romane neben derjenigen der fiktionalen Prosa christlicher Autoren auch weiterhin zu rechtfertigen, zwei Verfasser von Werken dieser Art von Literatur nachträglich christianisierte.
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Heliodors Roman markiert für uns nicht nur den Höhepunkt der Gattung im Bereich der Erzählkunst, sondern auch das Ende. Es dürfte auf ideologische Großzügigkeit der Byzantiner gegenüber den heidnischen Inhalten der Aithiopika und anderer griechischer Prosaerzählungen zurückzuführen sein, daß diese Texte im Mittelalter weiter abgeschrieben und speziell die idealisierenden Romane im 12. Jahrhundert sogar Versromanen zum Vorbild dienten. Im westlichen Europa wurden antike Romane freilich erst in der Renaissance bekannt, als italienische Humanisten die lateinischen Texte Petrons und des Apuleius wiederentdeckten und sowohl durch griechische Emigranten aus dem von Türken eroberten Ostmittelmeerraum als auch durch eigene Bibliotheksreisen in den Besitz der bis in die damalige Zeit geretteten altgriechischen Literatur gelangten. Wollte ich jetzt noch einen Überblick über die Rezeption des antiken Romans seit dem 16.Jahrhundert versuchen, könnte ich in dem mir gesteckten Rahmen nicht mehr bieten als die übliche, aber im Grunde nutzlose Aufzählung von Autoren, Titeln und Daten. Das Thema sollte deshalb lieber in einer eigenen Monographie behandelt werden. Ich fürchte allerdings, daß der Verfasser oder die Verfasserin einer solchen nicht mit derselben Seitenzahl auskäme wie ich mit dieser Einführung in den antiken Roman.
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Personen- und Sachregister
„Achikar-Roman“ 83 Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon 30, 44, 70, 75, 81, 116–123, 123f., 126, 129, 133f., 134, 137 „Äsop-Roman“ s. Leben Äsops „Alexander-Roman“ s. Pseudo-Kallisthenes Alpers, K. 83 Anderson, G. 41 antiker Roman antike Gattungsbegriffe 19f. Beglaubigungsapparat 24, 34, 43, 77f., 114 Definition 19f., 38f. Entstehung 40–58 Entwicklungsgeschichte 59, 69, 80f., 112 Epitomierung 37f., 70f., 95f., 99f., 116 Erotik 22, 29, 36, 38, 41, 65, 66, 74, 83, 85, 94, 97, 98, 101, 108, 120, 122, 123, 125–127, 128f., 135 Erzähltechnik 21f., 119f., 130–132, 133–135, 137 Exkurse 30, 114, 115, 120, 134 Forschungsgeschichte 40f., 44f., 49–52, 54f. Ich-Erzählung 23–25, 32, 82, 89f., 95, 100, 113, 117, 119f. idealisierender Roman 18, 20–22, 59–79, 112–138 Intertextualität 25, 44, 53, 63–65, 101f., 111, 113, 129, 134, 137
Komik 65, 76, 101f., 108–110, 123, 127, 128f. Komisch-realistischer Roman 18, 21f., 29, 34, 74, 80–111, 112, 120, 129 Leser 52–55 Mosaikdarstellungen 47, 67 Motive 20f., 30, 42, 61, 89, 99, 113, 122, 124, 125, 126, 129, 133 Nachleben 116, 130, 138 pseudonyme Autoren 27, 43, 57, 70, 91, 96, 100 psychologische Beobachtung 63, 87, 102, 120–123, 129 Realitätsbezug 19, 22, 81, 99, 101, 119, 134 Schein und Sein 28, 92–94, 100f., 104, 110, 115 Spiel mit der Gattung 17, 20, 25, 33f., 45, 54, 59, 66, 76, 80f., 89f., 91, 99, 111, 112, 115, 122, 129, 134f. Sprache 48, 53, 60, 63, 69, 71, 73, 83, 87, 99f., 103, 113, 124, 134f., 137 und Drama 19, 21, 42, 63, 76, 102, 125, 134 und Epos 41f., 92 und Historiographie 21, 43–49, 60, 63f., 66, 68, 91, 119, 128, 134, 135 und Mysterien 50, 75, 82, 108–110, 127 und Polisgemeinschaft 51, 57, 61, 128, 135f.
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Personen- und Sachregister
antiker Roman (Forts.) und Zweite Sophistik 52, 53, 55–58, 64, 102, 111, 112, 114, 117, 120, 137 Weltsicht 22, 89, 92, 115 Antonios Diogenes, Wunderdinge jenseits von Thule 43, 75–79, 86, 111, 113 Apokryphe Apostelakten 30, 34–36 Apollonios-Roman 37f. Apostelgeschichte 34 Apuleius Apologie 111 Hermagoras 111 Metamorphosen 28, 36, 53, 74, 75, 79, 81, 95–99, 101–111, 112, 115, 120, 122, 138 Augustin 18, 100 Biographie s. Romanhafte Biographie Bretzigheimer, G. 129 Briefe Chions 32 Briefe des Hippokrates 31f. Briefe des Phalaris 31 Briefe Platons 30f. Briefe der Sieben Weisen 31 Briefroman 30–32 Catull 84f. Cervantes, M. 80 Chariton, Kallirhoë 27, 43, 51, 54, 57, 60–65, 67, 68, 71f., 76, 85, 91, 134 Chione-Roman 67f. christliche Romanliteratur 30, 34–38, 137 Conte, G.B. 92 Dares Phrygius 32–34 Diktys von Kreta 32–34 Diodor 23–25, 29, 47 Dowden, K. 111 Eckermann, J. P. 127 Effe, B. 127f. Euhemeros 23f.
Epikur 93 Etymologicum Genuinum 18, 83 Evangelien 34 Fielding, H. 80 Goethe, J. W. v. 127 Gronewald, M. 68 Hägg, T. 47, 67 Hegesianax von Alexandria 33 Heliodor, Aithiopika 30, 36f., 44, 76, 120, 123, 130–138 Helm, R. 127 Henrichs, A. 75 Herodot 44, 66 Herpyllis-Roman 113 Historia Apollonii 37f., 43 Homer 33, 77, 113 Ilias 65 Odyssee 21, 41f., 65 Iambulos 24f., 29 Iamblichos, Babyloniaka 27, 30, 43, 62, 113–116, 133 Iolaos-Roman 82f., 84, 91 Iulius Valerius 28 Johannesakten 35, 36 Jüdisch-hellenistische Erzählprosa 34 Julian, röm. Kaiser 44, 54, 136f. Juvenal 109 Kalligone-Roman 68f. Kodizes Cod. Flor. Laur. 68,2 110 Cod. Flor. Laur. Conv. Soppr. 627 60, 70 Cod. Theb. 60, 67f. Konstantin von Sizilien 123 Ktesias von Knidos 47 Leben Äsops 27f., 34, 83 Lollianos, Phoinikika 73–75
Personen- und Sachregister Longos, Daphnis und Chloë 44, 84, 123–130 Lukan 94 Lukian (s. a. Pseudo-Lukian) 56, 95, 100 Hahn 100 Wahre Geschichten 25, 76, 100 Lukios von Patrai, Metamorphosen 96, 99–101, 114, 115 Mal-Maeder, D. van 109, 110 Marini, N. 68 Martial 76 menippeische Satire 81f. Merkelbach, R. 50, 75 Morgan, J. 116 Nero 90, 91, 94 Nikephoros Kallistos 137 Ninos-Roman 26, 27, 32, 43, 45, 45–47, 49, 52, 56, 62, 67, 69 O’Sullivan, J. 49, 74 Ovid 54, 113, 122 Papyri P. Amh. 160 136 P. Berol. 6926 45 P. Berol. 7927 66 P. Berol. 9588 66 P. Berol. 10535 67 P. Berol. 21179 66 P. Berol. 21234 67, 68 P. Colon. 3328 73 P. Dubl. Inv. C 3 113 P. Erl. 7 66 P. Fayûm. 1 60 P. Gen. 85 45 P. Gen. 187 76 P. Haun. Inv. 400 83 P. Michael. 1 60 P. Mil. Vogliano 260 38 P. Oxy. 435 67 P. Oxy. 1019 60 P. Oxy. 1250 116 P. Oxy. 1368 73
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P. Oxy. 1826 48 P. Oxy. 2466 48 P. Oxy. 2948 60 P. Oxy. 3010 82 P. Oxy. 3012 76 P. Oxy. 3319 48 P. Oxy. ined. 112/130 68 PSI 151 38 PSI 981 68 PSI 1177 76 PSI 1305 46 Parthenope-Roman 43, 66f., 72, 81, 85, 91 Paulusakten 35f. Perry, B. E. 39, 49–52, 57f., 128 Persius 54, 60 Petron, Satyrica 28, 29, 36, 74, 80–95, 112, 115, 138 Petrusakten 35 Philostrat 54, 56 Apollonios von Tyana 29f., 78, 136 Photios 76f., 96, 100, 114, 115f. pikaresker Roman 28, 29, 83 Platon Phaidros 107f. Symposion 66, 87 Porphyrios 78 Protagoras-Roman 83f., 91 Pseudo-Kallisthenes, Leben Alexanders 28f., 34, 45, 62 Pseudo-Klementinen 36f., 136 Pseudo-Lukian, Lukios oder Der Esel 28, 74, 76, 81, 95–101, 102, 110, 114, 115, 122 Reardon, B. P. 51, 124, 128 Reiseerzählung 23–25 Richardson, S. 80 Rohde, E. 40, 63, 70, 122 Roman s. antiker Roman romanhafte Biographie 26–30 Seneca 94 Sesonchosis-Roman 26, 27, 32, 43, 47–49, 56, 62, 69
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Personen- und Sachregister
Sokrates Scholastikos 137 Stephens, S. 113, 114 Suda 43, 70, 114, 116f., 137 Swain, S. 55
‘Uns.u¯rı¯, Va¯miq u ‘Adhra¯ 66 Utopie 23–25, 135 Utas, B. 67
Tacitus Annalen 90f. Tatum, J. 111 Terentianus Maurus 94 Thomasakten 35 Thukydides 44, 66, 129 „Tinuphis-Roman“ 83 Troja-Roman 32–34, 45
Wilcken, U. 68 Winkler, J. J. 7, 113, 114
Varro, M. Terentius 81
Xenophon von Athen 43, 44, 63, 66 Anabasis 64 Kyrupädie 26f., 43, 56, 62, 64 Xenophon von Ephesos, Ephesiaka 12–16, 43, 44, 54, 57, 69–73, 73, 75, 85