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German Pages 354 [423] Year 2019
ALEXANDER GOTTLIEB BAUMGARTEN
Anfangsgründe der praktischen Metaphysik Vorlesung
Übersetzt und herausgegeben von alexander aichele
Lateinisch – Deutsch
FELIX MEINER V ERL AG HA MBURG
PHILOSOPHISCHE BIBL IOT HEK BA ND 70 9
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.
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Christian Wolffs Erfindung der »allgemeinen praktischen Philosophie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wissenschaft vom Wollen und Handeln . . . . Praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ix x xiv
II. Kants »Metaphysik der Sitten« . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Säuberung der Moralphilosophie . . . . . . . . . . 2. Die Sache mit der Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . .
xxi xxi xxvi
1. 2.
III. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
A. G. Baumgartens »praktische Metaphysik« . . . . Der Gegenstand praktischer Metaphysik . . . . . . . Eine Wissenschaft von der Verpflichtung . . . . . . . Der Begriff der Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . Moralität und Vollkommenheit . . . . . . . . . . . . . . . Genötigte Freiheit – freie Nötigung . . . . . . . . . . . . Die Universalität des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzesanwendung als Zurechnung . . . . . . . . . . Zu dieser Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
xxxi xxxiii xxxv xxxvii xlvii lv lviii lxi lxviii
ALEXANDER GOTTLIEB BAUMGARTEN
Anfangsgründe der praktischen Metaphysik Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Index auctore. ant. Bernh. Thiele . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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In memoriam Joachim Hruschka (1935 – 2017) A fl ock of starlings swooped down along the water, then rose up and scattered in different directions across the blue sky. Donald Ray Pollock
Einleitung
Alexander Gottlieb Baumgartens erst 1760 erschienene, indes vermutlich schon um die zwanzig Jahre zuvor erstmals zu Vorlesungszwecken konzipierte Initia philosophiae practicae primae scheint aus einer seinerzeit neuen, von Christian Wolff jüngst eingeführten Grundlagendisziplin eine noch neuere machen zu wollen. Zumindest die hier gewählte Übersetzung des Titels – Anfangsgründe der praktischen Metaphysik – mag dies immerhin nahelegen. Schaut man auf Baumgartens reichhaltiges Angebot an Synonymen, käme sogar »praktische Ontologie« in Frage; 1 was einerseits zwar ziemlich kapriziös klänge und zudem eine eher unerwünschte Verbindung zu der von Baumgarten nirgends erwähnten und noch weniger gutgeheißenen Lehre von den entia moralia pufendorfscher Provenienz schüfe,2 andererseits aber durchaus präzise auf so etwas wie eine ›Wissenschaft von den allgemeineren Prädikaten der mit den freien Handlungen verbundenen Dinge‹ schließen ließe. Was das genauerhin heißt und ob Baumgartens Innovationsbedürfnis tatsächlich über das seines Vorgängers hinausgeht, soll im Folgenden skizziert werden. Dass dabei auch ein wenigstens flüchtiger Blick auf die Arbeiten seines berühmtesten Nachfolgers, die immerhin eine »Metaphysik der Sitten« im Titel führen, zu werfen ist, lässt sich kaum umgehen.
Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, § 4. Alle Klammerverweise im Text beziehen sich unter der Angabe des jeweiligen Paragraphen auf die vorliegende Ausgabe von Baumgartens Initia. 2 Vgl. Alexander Aichele, Zurechnungsmetaphysik? Samuel Pufendorfs Begriff der imputatio als Realitätsgrund von Moralität, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 19 (2011), 325–346, hier: 326–330. 1
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Denn dass sich Kants Unternehmen einer Metaphysik der Sitten samt ihrer Grundlegung radikal zumindest von Wolffs »allgemeiner praktischer Philosophie« (philosophia practica universalis) nach der hierin nicht ganz unmaßgeblichen eigenen Auffassung des Kritikers aller dogmatischen Philosophie absetzt, lässt keinen Zweifel zu. Vielleicht gilt dies aber nicht im selben Maße von Baumgartens praktischer Metaphysik. Das setzte freilich voraus, dass sich sein Projekt bei aller unbestreitbaren methodischen und terminologischen Abhängigkeiten oder Parallelen an irgendeiner Stelle auf einer eher grundsätzlichen Ebene irgendwie vom wolff ischen Modell unterscheidet. Kant jedenfalls scheint dieser Auffassung gewesen zu sein. Denn sein ebenso viel gelobter wie ungewöhnlicher Gewährsmann, dessen Kompendien zur Metaphysik, zur Ethik und eben auch zur praktischen Metaphysik er seinen einschlägigen Vorlesungen unverbrüchlich zugrunde legte, steht mit seinem Sinn für systematische Grundlegungen, begriff liche Differenzierungen und Neuprägungen, von denen Kant gar nicht wenige übernimmt, nicht nur Pate bei der Entwicklung seiner neuartigen Moralphilosophie. Baumgarten fungiert sogar als ihr eigentlicher theoretischer Widerpart – so sehr, dass man mit Clemens Schwaiger zu Recht jedenfalls von einer »Negativabhängigkeit« Kants von Baumgarten sprechen darf.3 Damit ist einerseits schon von vorneherein der übertriebene Versuch ausgeschlossen, Baumgarten zu einer Art Kant avant la lettre zu stilisieren, aber aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso seine immer noch verbreitete und bequeme, weil Lateinlektüre sparende Etikettierung als orthodoxen Wolff iClemens Schwaiger, Alexander Gottlieb Baumgarten – ein intellektuelles Portrait. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 126. Zu einer detaillierten Analyse von Baumgartens Einfluss auf Kants Moralphilosophie vgl. ders., Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999. 3
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aner.4 Ganz so, als sei Kant bei der Wahl seiner Lehrbücher unter den unzähligen wolff ianischen Kompendien, in denen allen mehr oder weniger dasselbe dringestanden wäre, rein zufällig auf die Baumgartens verfallen – womöglich, weil sie sich durch ihre angenehme Schlankheit auszeichnen. Tatsächlich geht seine Originalität über seinen im Vergleich zum Allgemeinen eher umfänglichen, ja geradezu redseligen Wolffianismus herausstechenden Hang zu lakonischer Kürze weit hinaus. Um dies zu zeigen, ist zunächst Struktur und Gegenstand von Wolffs Philosophia practica univeralis zu analysieren. Und um weiterhin verdeutlichen zu können, dass Baumgartens moralphilosophisches Konzept im Verhältnis zu Kant nicht allein wie ein bloßes Nicht-mehr-und-noch-nicht als eine archäopteryxhafte Brückenphilosophie qualifiziert zu werden ist, sondern als eigenständiger systematischer Entwurf, soll ebenso Kants Gedanke einer Metaphysik der Sitten, insbesondere in ihrer Abgrenzung zu Wolff, kurz dargestellt werden. Erst vor diesem Hintergrund wird Baumgartens Ansatz einer metaphysischen Grundlegung aller Moral einige Plastizität gewinnen können.
I. Christian Wolff s Erfindung der »allgemeinen praktischen Philosophie« Die Disziplin der allgemeinen praktischen Philosophie trat im Jahre 1703 mit Wolffs Magisterarbeit Philosophia practica universalis, mathematica methodo conscripta in die Welt.5 Vgl. Schwaiger, Baumgarten, 115 ff. pass. Vgl. Clemens Schwaiger, Christian Wolffs Philosophia practica universalis. Zu ursprünglichem Gehalt und späterer Gestalt einer neuen Grundlagendisziplin, in: L. Cataldi Madonna (Hg.), Macht und Bescheidenheit der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Christian Wolffs. Gedenkband für Hans Werner Arndt, Hildesheim u. a. 2005, 219–233. 4
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Endgültige Darstellung aus der Hand ihres Erfinders fand sie 1738/39 in der zweibändigen Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertractata. Eine genaue Entsprechung in den deutschen Schriften fehlt.6 Trotz der beinahe vierzigjährigen Pause zwischen Erstentwurf und Ausarbeitung bleibt die Definition der neuen Disziplin samt der Bestimmung ihres Gegenstandes stabil.7 Für das hier verfolgte Interesse genügt daher die Beschäftigung mit der späten und ausführlichen Fassung. Wolff definiert dort den Begriff der allgemeinen praktischen Philosophie wie folgt: »›Allgemeine praktische Philosophie‹ ist die praktische affektive Wissenschaft, die freien Handlungen durch gemeinste Regeln anzuleiten.«8 1. Die Wissenschaft vom Wollen und Handeln Da dies ansonsten gänzlich unverständlich wäre, klärt Wolff in den beiden vorangehenden, ersten Paragraphen die zur Charakterisierung der neuen Wissenschaft verwendeten Prädikate. Er beginnt mit dem des Affektiven, d. h. des nach wörtlicher Übersetzung »Rührenden« bzw. »das Gemüt Bewegenden«, das folglich gemäß seiner Methode das allgemeinere sein muss: »Eine ›affektive Wissenschaft‹ ist die Wissenschaft von der Bestimmung des Willens und Nicht-Willens zu ihren Verwirklichungen.«9 Wolff erläutert dies unter Verweis auf den allgemeinen Gegenstand der Philosophie und das Wesen der Wissenschaft sogleich näher: »Zweifellos gibt es Gründe der Verwirklichungen einer Wollung und Nicht-Wollung. Nachdem in der
Vgl. ebd., 226 f. Vgl. ebd., 228. 8 Christian Wolff, Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertractata (im folgenden: PPU), p. I, Frankfurt a. M./Leipzig 1738, § 3 (2) (Übers. hier und i. Folg. von mir, A. A.). 9 PPU, § 1 (1). 6 7
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Philosophie der Grund anzugeben ist, warum Mögliches zur Verwirklichung gelangen mag, sind in der Philosophie ebenso die Gründe darzulegen, durch welche der Wille und der NichtWille zu ihren Verwirklichungen bestimmt werden. Und nachdem Wissenschaft in der Fertigkeit besteht, seine Behauptungen zu beweisen, genügt es nicht, die bestimmenden Gründe des Willens und Nicht-Willens aufgezählt zu haben, sondern es ist auch zu beweisen, dass durch diese der Wille und der Nicht-Wille zu ihren Verwirklichungen bestimmt werden. Also ist dieser Teil der Philosophie, in welchem eben diese Beweise begegnen, durch ›affektive Wissenschaft‹ zu definieren.«10 Ohne näher auf die traditionelle Aufspaltung des Willens in positive voluntas und komplementäre negative noluntas eingehen zu müssen, ist doch klar, dass beide Vermögen darstellen, die in einzelnen Wollungen (volitiones) und NichtWollungen (nolitiones) verwirklicht werden. Nun kann etwas, das dem Vermögen nach ist, sich nicht selbst verwirklichen, da es selbst ja zum (noch) Nicht-Seienden gehört. Um zur Wirklichkeit zu gelangen, benötigt es also einen zureichenden Grund, der verschieden von ihm selbst ist11 und selber der Verwirklichung nach existieren muss. Das Willensvermögen kann daher nicht von selbst und aus sich heraus etwas wollen oder nicht-wollen, genauer: sich selbst einen positiv oder negativ bestimmten Gegenstand geben. Ein solcher muss ihm vielmehr von einem unabhängig von ihm bestehenden, aktualen und keineswegs selbst bloß möglichen zureichenden Grund gegeben werden, dessen Bildung bzw. Verwirklichung in ein oder mehrere andere Gemütsvermögen fällt. Insofern dieser PPU, § 1, Schol. (1). Vgl. Christian Wolff, Discursus praeliminaris de philosophia in genere / Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Hist.-krit. Ausg. (Übers., eingel. u. hrsg. von G. Gawlick u. L. Kreimendahl), Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, § 31 (34). 10 11
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auf den Willen wirkt, ihn also vom unbestimmten Vermögenszustand in die bestimmte Verwirklichung bringt, nennt Wolff die Disziplin, welche die hierfür überhaupt in Frage kommenden zureichenden Gründe behandelt, eine affektive Wissenschaft. Weil in ihr noch nicht zwischen guten und bösen Gründen bzw. Willensakten unterschieden wird, besitzt diese noch keinen spezifisch moralischen Gehalt. Dies gilt auch für Wolffs Begriff einer praktischen Wissenschaft, der ebenfalls moralisch neutral verfasst ist: »Eine ›praktische Wissenschaft‹ ist die Wissenschaft von der Bestimmung des dem Orte nach bewegenden, aber auch des erkennenden Vermögens zu in Übereinstimmung mit dem Willen und Nicht-Willen auszuführenden oder zu unterlassenden äußeren oder inneren Akten.«12 Den Eindruck, dass hier eigens und zuallererst die technische Seite des Handelns, d. h. die Erreichung des Gewollten, thematisiert werden soll, bestätigt Wolffs Erläuterung der Definition: »Nachdem wir tun, was wir wollen, und unterlassen, was wir nicht-wollen, scheint das Bewegungsvermögen, sofern es von der Seele abhängt, und ebenso das Erkenntnisvermögen durch die Verwirklichung des Willens und des Nicht-Willens allein bestimmt zu werden, und manche mögen vielleicht sogar schließen, dass dies zu bestimmen keine besondere Wissenschaft ist. Freilich werden diese sein, welche die, die handeln, nicht mit genügend aufmerksamem Geist prüfen. Denn bald sind die Mittel zu erwägen, wie wir das Geplante ausführen mögen; bald zeigen sich Hindernisse, die der Ausführung der Mittel entgegenstehen, und es ist ausfindig zu machen, wie sie beseitigt werden mögen. Und so zeigt sich, dass es nicht genügt, dass wir wissen, was zu tun ist, und wir dasselbe tun wollen oder nicht-wollen, sondern dass weiterhin erfordert wird, dass feststeht, wie etwas zu tun ist und 12
Wolff, PPU, § 2 (1 f.).
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durch welchen Grund Hindernissen abgeholfen wird. Zur Praxis wird eben mehr erfordert als die Gründe, die den Willen und Nicht-Willen zu seinen Akten bestimmen.«13 Die Praktizität der praktischen Wissenschaft nach Wolff besteht also in der theoretischen Erfassung der technischen Aspekte einer bereits gegebenen Willensbestimmung, d. h. deren Verwirklichung in einer konkreten inneren oder äußeren Handlung. Dies geschieht – Wolff greift hier offensichtlich die klassische Unterscheidung zwischen actus elicitus und imperatus auf – durch vom Willen verschiedene, ihm jedoch unterworfene Vermögen. Die eigentliche Praxis liegt dann in deren Verwirklichung gemäß der durch wiederum willensexterne Gründe verwirklichten jeweiligen Willensbestimmung. Da diese stets auf kontingente Umstände triff t, die ihre Vollendung im Handeln befördern oder behindern werden, ist eben deren Erkenntnis und Einsatz als Mittel oder Entfernung als Hindernis unerlässlich. Das Handeln, das und wie es die praktische Wissenschaft thematisiert, geht daher über das bloße Wollen von etwas hinaus. Vielmehr erfüllt sich der Begriff der Praxis erst sowohl in einer Veränderung des Zustands des Wollenden gemäß seines bestimmten Willens als auch in einer dementsprechenden Veränderung der von ihm unabhängig vorliegenden Welt. Auf beide bezieht sich nach Wolff die praktische Wissenschaft. Eine moralische Beurteilung der durch jene Veränderungen zu erreichenden Zustände, mithin ihrer Ziele, findet dort jedoch ebenso wenig statt wie in ihrer affektiven Schwester eine solche der Gründe. Untersuchen affektive und praktische Wissenschaft daher allein die möglichen Bestimmungsgründe des Willens einerseits und die Realisierbarkeit gegebener Willensbestimmungen andererseits, gehören sie nicht schon als solche zur praktischen Philosophie und dürfen auch nicht mit ihr gleichgesetzt werden. 13
Wolff, PPU, § 2 (2), Schol.
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Ihre Zugehörigkeit zur Philosophie überhaupt ergibt sich bloß, sofern ihnen das demonstrative Verfahren angewendet und also Wissen erzeugt wird. 2. Praktische Philosophie In der Tat stellt Wolff eine zumindest indirekte Verbindung zu moralischen Gegenständen erst her, wenn er von »praktischer Philosophie« spricht, d. h. in seiner bereits angeführten Definition der philosophia practica universalis. Sie spezifiziert nämlich den dieser zugrunde liegenden Begriff einer affektiven praktischen Wissenschaft in mehrfacher Weise weiter durch eine engere Angabe ihres Zwecks und Gegenstandes. Denn die Aufgabe der allgemeinen praktischen Philosophie ist nicht allein die Analyse der Bestimmbarkeit des Willens und der Erreichbarkeit seiner Zwecke in innerem und äußerem Handeln, sondern ›die Anleitung freier Handlungen durch gemeinste Regeln‹. Alle Teile dieser Spezifi kation sind nicht bereits in den vorangeschickten Definitionen schlicht enthalten und können folglich auch nicht einfach aus ihnen abgeleitet werden. Sie führen deswegen zu einer neuen, durch anderweitig zu legitimierende Prädikate angereicherten Definition einer von beiden Wissenschaften verschiedenen Disziplin. Von ihnen unterscheidet sie sich in folgenden Elementen: Die allgemeine praktische Philosophie verfährt nicht deskriptiv, sondern präskriptiv, indem sie eine handlungsanleitende Funktion beansprucht. Dies tut sie allerdings nicht gegenüber jeder möglichen Handlung, sondern nur gegenüber freien Handlungen. Dass Wolff dies eigens betont, deutet darauf hin, dass gemäß seiner Position nicht schon die bloße Möglichkeit von Präskription Freiheit voraussetzen kann. Denn es können ja etwa auch Tiere in ihren Handlungen angeleitet werden, ohne ihnen gleich den Besitz des Vermögens zu freier Entscheidung bzw. zur freien Wahl zwischen möglichen Alter-
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nativen unterstellen zu brauchen. Die damit vollzogene Annahme des liberum arbitrium etabliert zugleich die wesentliche Grenze der praktischen Philosophie zur affektiven wie zur praktischen Wissenschaft: Sowohl Willensbestimmung als auch dementsprechende Handlungsverwirklichung lassen sich deterministisch und ganz ohne Wahlfreiheit erklären, nicht jedoch ihre Moralität.14 Die Anleitung, um die es der praktischen Philosophie geht, betriff t also ein freies Wesen, und sie soll durch gemeinste Regeln geschehen, also durch solche, die alle ihm seinem Begriffe nach möglichen freien Handlungen umfassen. Dass sowohl Erkenntnis als auch Anwendung dieser Regeln Vernunft erfordern, versteht sich von selbst, und gleichfalls, dass nicht schon deren bloße Gegebenheit sichert, dass der Adressat ihnen folgt. Er bleibt auch angesichts jener Regeln frei. Da der erste Schritt zu einer freien und dadurch ebenso moralisch relevanten Handlung die Bestimmung des Willens ist, fungieren jene Regeln daher nur als zumindest mögliche, eventuell sogar mögliche zureichende Gründe, aber keineswegs als notwendige Gründe der Willensbestimmung. Aufgrund ihrer extensionalen Äquivalenz – wenn eine Handlung Gegenstand praktisch-philosophischer Regeln ist, so ist sie frei, und umgekehrt – beziehen diese sich auf alle Bereiche moralisch relevanten Handelns von der Willensbestimmung bis hin zur konkreten Handlungsausführung: »Zweifellos umfasst die praktische Philosophie die verschiedenen Lehrgebiete, zweifellos das Natur- und Völkerrecht, die Ethik bzw. Moralphilosophie, die Ökonomie und die Politik bzw. die bürgerliche Philosophie. Es werden aber nicht weniger die gemeinen Prinzipien der Theorie als der Praxis gegeben, deren Vgl. zu Wolffs Freiheitsbegriff: Alexander Aichele, Naturrecht, in: R. Theis /A. Aichele (Hg.), Handbuch Christian Wolff, Wiesbaden 2018, 269–290, hier: 270 ff. 14
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Gebrauch sich durch all diese Lehrgebiete erstreckt. Wenn man also die praktische Philosophie nach demonstrativer Methode behandeln wollte, sind eben diese gemeinen Prinzipien voranzuschicken. Also zeigt sich der Grund, warum eine allgemeine praktische Philosophie zu begründen gewesen sein wird, in welcher eben diese gemeinen Prinzipien erklärt und bewiesen werden.«15 Wie schon die sowohl im Lateinischen als auch im Deutschen grammatisch zweideutige, nur durch ein Komma geklärte Formulierung Wolffs andeuten mag, umfasst wie die allgemeine praktische Philosophie so auch das Naturrecht gewissermaßen die restlichen Teildisziplinen der praktischen Philosophie. Denn es legt das Fundament für jede moralische Beurteilung, indem es die bislang noch fehlende Unterscheidung zwischen Gut und Böse bietet: »In der allgemeinen praktischen Philosophie sind die Prinzipien des natürlichen Rechts zu behandeln. Denn wir müssen aus der allgemeinen praktischen Philosophie die gemeinen Prinzipien, die freien Handlungen anzuleiten, hinzulernen. Deswegen weil das Naturrecht die guten und die bösen Handlungen voneinander absondert und noch dazu den Unterschied freier Handlungen darlegt, kann nicht daran gezweifelt werden, dass in der allgemeinen praktischen Philosophie die Prinzipien des natürlichen Rechts zu behandeln sind.«16 Das Naturrecht enthält demnach eben jene gemeinsten Prinzipien, die den handlungsbestimmenden, wenn man so will: normativ-theoretischen Teil der allgemeinen praktischen Philosophie bilden, und ist folglich in dieser Hinsicht mit ihr identisch: »In der Tat sind eben diese Prinzipien die Prinzipien des natürlichen Rechts.«17 15 16 17
Wolff, PPU § 3, Schol. (2). Wolff, PPU § 6 (4). Wolff, PPU § 6, Schol. (4).
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Weil nun die allgemeine praktische Philosophie die anderen präskriptiven Disziplinen Ethik, Ökonomie und Politik nicht ausdrücklich mit eigenen, sondern nur mit »heuristischen bzw. künstlichen Prinzipien, um moralische und politische Wahrheiten zu erfinden«,18 ausstattet und folglich keine anderen normativ-praktischen Prinzipien als die des Naturrechts enthält, genießt das Naturrecht unter allen präskriptiven Disziplinen Priorität. Der Unterschied zwischen Gut und Böse bildet daher die unveränderliche Grundlage einer jeden möglichen freien Willensbestimmung und Handlung, die in Ethik, Ökonomie und Politik auf den ersten Blick durchaus eine gewisse Variationsbreite zulassen mag. Vielleicht deswegen behandelt Wolff auch diese Disziplinen in seiner Philosophia practica universalis ausführlich.19 Liefert nun das Naturrecht das Wissen um den Gegenstand einer guten oder bösen Willensbestimmung, folgt daraus weder diese selbst noch eine entsprechende Handlung. Um beider Genese zu erklären, vereinigt die allgemeine praktische Philosophie das Naturrecht mit der affektiven und der praktischen Wissenschaft. Letztere liefern allerdings keine handlungsanleitenden Prinzipien, sondern ausschließlich erklärende Theorien, nämlich eine die Möglichkeit der Willensbestimmung erklärende Theorie der Motive einerseits und die Möglichkeiten konkreten Handelns erläuternde Theorien der Mittel dazu und ihrer Anwendung bzw. der Hindernisse dabei und ihrer Beseitigung andererseits.20 Dabei greifen beide Wissenschaften auf die metaphysischen Disziplinen der Ontologie und der Psychologie zurück und sind insgesamt trotz ihrer womöglich missverständlichen Bezeichnungen der theoretischen Philosophie zuzuordnen. Wolff, PPU § 11 (8). Vgl. Schwaiger, Christian Wolffs Philosophia practica universalis, 230 ff. 20 Vgl. Wolff, PPU §§ 7–9. 18 19
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Damit sind jedoch die Teile des komplexen Gebildes, das Wolffs allgemeine praktische Philosophie darstellt, immer noch nicht vollständig erfasst. Denn es sind zwar mit dem Naturrecht die Prinzipien moralischer Beurteilung gegeben, aber ihre Anwendung auf Handlungen, so dass deren offenkundig unabhängig von ihrer Erkenntnis schon bestehende Gut- oder Bosheit festgestellt werden kann, ist noch nicht geklärt. Um zu derart wahren moralischen Urteilen zu gelangen, gehört zur allgemeinen praktischen Philosophie auch eine »moralische Semiotik«, »damit wir nicht uns selbst erscheinen, was wir nicht sind, oder uns andere erscheinen, was sie nicht sind«.21 Wolff begründet deren Notwendigkeit folgendermaßen: »Eine rechte Handlung darf keiner wesentlichen Bestimmung oder einer daraus folgenden Eigenschaft widersprechen. Nachdem menschliche Handlungen aus inneren, nämlich aus dem Begehrungs- und Zurückweisungsvermögen hervorgebrachten Akten, und äußeren, nämlich den Bewegungen, wodurch wir ausführen, was die Seele will und nicht will, zusammengesetzt sind, darf, wenn sie rechte sein sollen, bald die innere bis hin zu den einzelnen Akten, die in diese eingehen, bald die äußere keiner wesentlichen Bestimmung oder einer daraus folgenden Eigenschaft widersprechen. Das wird sich an seinem Ort im folgenden zeigen, kann aber ebenso hier durch einen Versuch, der an sich selbst leicht zu erproben ist, angeführt werden: Wenn eine äußere Handlung auch die Art einer rechten haben mag, ohne doch deshalb eine innerlich rechte zu sein, wie zum Beispiel wer Almosen spendet, damit er von den Menschen gesehen wird, noch nicht durch das Elend eines Armen bewegt ist und dem göttlichen Willen genügen will. Deshalb, weil zwar die äußeren Handlungen in die Sinne fallen, die inneren aber nicht ebenso, ja weil sich die Menschen selbst, wo sie sich Handlungsgewohnheiten zugezogen 21
Wolff, PPU § 10, Schol. (8).
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haben, der mit einer äußeren verbundenen inneren Handlungen nicht genügend bewusst sind, ist es notwendig, dass wir aus anderen – bald welche in die Sinne fallen, bald welche man durch nicht schwierige Aufmerksamkeit auf uns selbst zu bemerken vermag – verborgene innere Akte schließen, damit über die Rechtheit ebenso einer eigenen wie einer fremden Handlung ein Urteil gefällt werden kann. Nachdem dies, woraus auf die Anwesenheit eines anderen geschlossen wird, ein Zeichen des anderen ist, ist auch in der allgemeinen praktischen Philosophie die allgemeine Theorie der Zeichen der Rechtheit von Handlungen zu behandeln.«22 Bei einer rechten, mithin einer moralisch guten Handlung, wie sie durch naturrechtliche Prinzipien bestimmt wird, bilden innere und äußere Akte, genauer: deren Prädikate erster und zweiter Ordnung, eine widerspruchsfreie Einheit, d. h. Motivation, Intention und Körperbewegung stimmen überein. So naheliegend diese Definition der Gutheit von Handlungen sein mag, so schwierig scheint ihre Anwendung, sofern hier nicht vollständige Transparenz besteht, wie dies bei Menschen aufgrund ihrer bloß endlichen und zumal auf Sinneserfahrung angewiesenen Erkenntnisvermögen der Fall sein muss. Denn zumindest auf die inneren Handlungen anderer Leute hat das Subjekt, das ein moralisches Urteil fällen will, keinen unmittelbaren epistemischen Zugriff: Beobachtbar sind nur ihre Körperbewegungen. Ebenso genießt dasselbe Subjekt zwar privilegierten epistemischen Zugriff auf seine eigenen inneren Handlungen, jedoch können diese so durch Gewohnheiten eingeschliffen und verdeckt sein, dass sie nicht mehr eigentlich zu Bewusstsein gelangen. Diese Schwierigkeit vermag nach Wolffs optimistischer Auffassung die moralische Semiotik allerdings zu beseitigen. Und weil zu einer handlungsanleitenden Wissenschaft nicht nur das Wissen gehört, 22
Wolff, PPU § 10 (7/8).
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was zu tun ist und wie dies innerlich herbeigeführt und äußerlich vollzogen werden kann, sondern auch das Wissen, ob das konkret Gewollte und Getane auch eben jenem Zu-Tuenden tatsächlich entspricht und also moralisch gut ist, bildet eine Theorie, die genau dies ermöglicht, einen notwendigen Teil der allgemeinen praktischen Philosophie. Dies kann aber nur für Menschen gelten, also freien und vernünftigen Wesen, die einen Leib besitzen und diesen auch zum Erkenntniserwerb wie zum Handeln benötigen. Denn bei reinen Geistwesen kann eine Divergenz zwischen inneren und äußeren Handlungen gar nicht auftreten, und sollte ein solches Wesen etwa noch allwissend sein, herrscht per definitionem ohnehin totale Transparenz. Bereits daran zeigt sich, dass Wolffs philosophia practica universalis schon ihrer systematischen Struktur nach allein auf Menschen bezogen ist. Dem entspricht ihr Gegenstand und Inhalt: Alle möglichen freien Handlungen und alle eben diese betreffenden präskriptiven Prinzipien folgen aus der Natur des Menschen. Dies stellt Wolff in seinem Vorwort unmissverständlich klar: »Wir leiten das Gesetz der Natur zusammen mit dem natürlichen Recht und der natürlichen Verpflichtung aus dem Wesen des Menschen und der Dinge selbst ab und gewähren demselben alle Weite, die es haben kann, so dass es überhaupt keine Handlung gibt, welche, sofern sie zureichend bestimmt worden ist, diese Richtschnur nicht anerkennte.«23 Wolffs allgemeine praktische Philosophie entwirft also ein umfassendes Modell – man möchte fast sagen: ein Rundumsorglos-Paket – einer Theorie der Praxis, die all ihre präskriptiven, deskriptiven, technischen bzw. exekutiven und dijudikativen Elemente zu vereinigen sucht und sich ebenso strikt auf die genuin menschliche Praxis beschränkt, wie sie diese vollständig zu erfassen beansprucht. 23
Wolff, PPU, Praefatio (c2).
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II. Kants »Metaphysik der Sitten« Dass Kant – zumindest zunächst – an einem solchen Ansatz heftige Kritik übt, kann kaum überraschen. Denn auch sein Projekt einer Metaphysik der Sitten erhebt den Anspruch einer umfassenden Begründung der Moralphilosophie und gerät schon deswegen in die Gefahr, mit einer allgemeinen praktischen Philosophie gleichgesetzt oder verwechselt zu werden, und dies um so mehr in einem Werk, das den Titel einer Grundlegung zur Metaphysik der Sitten trägt. Kant artikuliert diese Sorge in deren Vorrede ausdrücklich: »Man denke doch ja nicht, daß man das, was hier gefodert wird, schon an der Propädeutik des berühmten Wolff vor seiner Moralphilosophie, nämlich der von ihm so genannten allgemeinen praktischen Weltweisheit, habe und hier also nicht eben ein ganz neues Feld einzuschlagen sei.«24 1. Die Säuberung der Moralphilosophie Worin die Neuartigkeit seines eigenen Projekts und die Unzulänglichkeit des wolffschen, der Unterschied also zwischen einer Metaphysik der Sitten und der allgemeinen praktischen Philosophie besteht, erläutert Kant sogleich in einiger Ausführlichkeit. Er lehnt Wolffs Konzept zuallererst im Grundsatz wegen seiner augenfälligen disziplinären Heterogenität und seiner ausdrücklichen Anthropozentrik ab: »Denn die Metaphysik der Sitten soll die Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen Willens untersuchen, und nicht die Handlungen und die Bedingungen des menschlichen Wollens überhaupt, welche größtenteils aus der Psychologie geschöpft werden.«25
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (im folgenden: GMS), in: ders., Werkausgabe in 12 Bänden (hrg. v. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, Bd. 7, 14 (BA XI). 25 Kant, GMS, 15 (BA XII). 24
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Gegenstand der sittlichen Metaphysik sind also, kurz gesagt, die Bedingungen der Möglichkeit eines reinen Willens, d. h. eines »solchen, der ohne alle empirischen Bewegungsgründe, völlig aus Prinzipien a priori, bestimmt werde«.26 Wird diese Untersuchung unterlassen oder verläuft sie ergebnislos, fehlt »jener Leitfaden und oberste Norm ihrer richtigen Beurteilung«, so dass »die Sitten selbst allerlei Verderbnis unterworfen bleiben«.27 Solche Fragilität ergibt sich aus der Instabilität eines empirisch begründeten moralischen Beurteilungskriteriums, dem eo ipso keine absolute Notwendigkeit und demzufolge auch weder Universalität noch absolute Gewissheit zukommen kann. Denn jedes wahre empirische Urteil – sei es nun theoretisch oder praktisch – kann ebenso gut falsch sein, weil seine Negation nicht notwendigerweise, sondern, wenn überhaupt, allenfalls unter genau der empirischen Bedingung, unter der es wahr ist, einen Widerspruch enthalten wird. Steht daher das oberste Kriterium für Moralität unter einer Bedingung, etwa der des Wesens des Menschen, kann es schon kein Gesetz mehr sein. Denn ein solches muss, »wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen«.28 Deswegen wird Kant auch nicht müde zu wiederholen, »daß es von der äußersten Notwendigkeit sei, einmal eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre«.29 Genau eine solche ›reine Moralphilosophie‹ soll mit einer Metaphysik der Sitten vorgelegt werden, deren apriorische Gesetze nicht allein für Menschen, sondern schlechterdings für jedes mögliche Wesen gelten, das »der Idee einer praktischen rei-
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Kant, GMS, 15 (BA XI). Kant, GMS, 14 (BA X). Kant, GMS, 13 (BA VIII). Kant, GMS, 13 (BA VII f.).
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nen Vernunft [...] fähig« ist.30 Wolffs sogenannte allgemeine praktische Philosophie liefert demgegenüber bestenfalls eine »praktische Anthropologie«,31 hält also keineswegs, was sie verspricht. Dass mit dem Naturrecht bei Wolff ein eigener Teil zur Verfügung steht, der das oberste Kriterium moralischen Urteilens zu liefern beansprucht, ändert nichts an Kants Befund. Aus der Behandlung des verkehrten Gegenstands – dem von »viel Neigungen affiziert(en)«32 und demnach unter diversesten Bedingungen stehenden, bloß menschlichen Wollen – folgt nämlich mit Notwendigkeit eine noch weiterreichende Themaverfehlung: »Daß in der allgemeinen praktischen Weltweisheit (wiewohl wider alle Befugnis) auch von moralischen Gesetzen und Pflicht geredet wird, macht keinen Einwurf wider meine Behauptung aus. Denn die Verfasser jener Wissenschaft bleiben ihrer Idee von derselben auch hierin treu; sie unterscheiden nicht die Bewegungsgründe, die, als solche, völlig a priori bloß durch die Vernunft vorgestellt werden und eigentlich moralisch sind, von den empirischen, die der Verstand bloß durch Vergleichung der Erfahrungen zu allgemeinen Begriffen erhebt, sondern betrachten sie, ohne auf den Unterschied ihrer Quellen zu achten, nur nach der größeren oder kleineren Summe derselben (indem sie alle als gleichartig angesehen werden), und machen sich dadurch ihren Begriff von Verbindlichkeit, der freilich nichts weniger als moralisch, aber doch so beschaffen ist, als es in einer Philosophie, die über den Ursprung aller möglichen praktischen Begriffe, ob sie auch a priori oder bloß a posteriori stattfinden, gar nicht urteilt, nur verlangt werden kann.«33
30 31 32 33
Kant, GMS, 14 (BA IX). Kant, GMS, 12 (BA V). Kant, GMS, 14 (BA IX). Kant, GMS, 15 (BA XII f.).
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Eine praktische Anthropologie muss demnach gar keine Moralphilosophie enthalten und enthält sie nach Kant auch unter dem Titel einer allgemeinen praktischen Philosophie nicht. Dies wäre nur dann der Fall, wenn sie zwischen eigentlich moralischen, apriorischen und außermoralischen, obzwar praktischen, aposteriorischen Bestimmungsgründen des Wollens unterschiede. Behandelt die allgemeine praktische Philosophie diese jedoch indifferent, kann sie unter der Voraussetzung, dass der Gegenstand moralischer Beurteilung eben jener Akt der Willensbestimmung bzw. diese selbst ist, keine moralischen Urteile fällen. Es muss dabei folglich um Qualität der Bestimmungsgründe gehen und nicht um deren Quantität oder gar nur um ihre Existenz. Der affektive Teil der allgemeinen praktischen Philosophie besitzt daher in der Form, wie ihn Wolff anlegt, keinerlei moralische Relevanz und ist demnach überflüssig. Gleiches gilt auch für den praktischen bzw. technischen Teil. Denn wenn dieser die Mittel bzw. Hindernisse betrachtet, die im Rahmen eines konkreten äußerlichen Handelns in der Welt die Erreichung seines jeweiligen Ziels befördern bzw. unterbinden, und wenn es zugleich für die moralische Beurteilung jedoch auf die innerliche Handlung der Willensbestimmung ankommt, hat auch jener praktische Teil keine Funktion in der Moralphilosophie und kann also wegfallen. Da aber zumindest die inneren Handlungen anderer Leute dem urteilenden Subjekt schlechterdings unbekannt sind und dies, so erfolgreich einschlägige Untersuchungen auch sein mögen, letztlich auch bleiben und ein empirisches Subjekt nicht einmal im Bezug auf sein eigenes Gemüt vollständige Transparenz herstellen kann, läuft auch Wolffs Königsweg zu diesbezüglicher Eindeutigkeit ins Leere: Denn die Zeichen, welche seine moralische Semiotik in ihrer festgelegten Bedeutung erkennen soll, können aufgrund ihres empirischen Charakters eine solche gar nicht besitzen, sondern eröffnen im Gegenteil einen weiten Deutungsspielraum, der
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nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern auch von Zustand zu Zustand ein und desselben Individuums variieren kann. Kants konsequente Säuberung der Metaphysik der Sitten von allen empirischen Elementen führt gleichzeitig zur Tilgung aller wissenschaftlich fundierten Methoden und Handreichungen zur konkreten Anwendung der durch sie begründeten Moralphilosophie. Sie enthält als praktische reine Philosophie34 allein »alle [...] eigentliche(n) Sittengesetze«, deren Verbindlichkeit »a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft« liegt,35 und das »oberste Prinzip der Moralität«, das in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ›aufgesucht und festgesetzt‹ wird.36 Eine regelrechte Wissenschaft der Anwendung, wie sie Wolff als integralen, ja gar im eigentlichen Sinne praktischen Teil seiner allgemeinen praktischen Philosophie sah, oder auch nur so etwas wie eine Gebrauchsanweisung fehlt daher bei Kant völlig. Die Berechtigung des Wunsches nach Anwendungsorientierung räumt er freilich ein, indem er einigermaßen dürr auf den Bedarf einer »durch Erfahrung geschärfte(n) Urteilskraft« verweist, die offensichtlich jeweils durch das jeweilige individuelle Subjekt erst zu erwerben ist, »um teils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie (sc. die moralischen Gesetze) ihre Anwendung haben, teil ihnen Eingang in den Willen der Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen, da diese, als selbst mit so viel Neigungen affiziert, der Idee einer praktischen Vernunft zwar fähig, aber nicht so leicht vermögend ist, sie in seinem Lebenswandel in concreto wirksam zu machen«.37
34 35 36 37
Vgl. Kant, GMS, 11 (BA V). Kant, GMS, 13 (BA VIII). Kant, GMS, 16 (BA XV). Kant, GMS, 13 f. (BA IX).
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2. Die Sache mit der Anwendung Diese radikale Distanzierung von aller Empirie und die damit einhergehende Anwendungsfremdheit, welche die Grundlegung artikuliert, bleibt allerdings nicht Kants letztes Wort. Die Metaphysik der Sitten nämlich, in der seine Moralphilosophie immerhin ihre endgültige Gestalt gewinnt, zeigt sich durchaus offen gegenüber ausdrücklichen Überlegungen zur Anwendung und nähert sich partiell sogar unauffällig wieder ein wenig dem Gedanken einer allgemeinen praktischen Philosophie an. Denn in der Tat spielen bei allem unveränderten Beharren auf der Apriorizität des obersten Moralprinzips nun die vormals ausgeschlossenen ›Handlungen und die Bedingungen des menschlichen Wollens überhaupt‹ und also ebenso die allein empirisch erfassbare Natur des Menschen ihre durchaus gewichtige Rolle.38 Dass die Anwendung der apriorischen Resultate der reinen Moralphilosophie auf sie gemäß dieser modifizierten Position sogar selber zur Metaphysik der Sitten gehört,39 macht Kant in ihrer Einleitung unmissverständlich klar: »So wie es aber in einer Metaphysik der Natur auch Prinzipien der Anwendung jener allgemeinen obersten Grundsätze von einer Natur überhaupt auf Gegenstände der Erfahrung geben muß, so wird es auch eine Metaphysik der Sitten daran nicht können mangeln lassen, und wir werden oft die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird, zum Gegenstande nehmen müssen, um an ihr die Folgerungen aus den allgemeinen moralischen Prinzipien zu zeigen, ohne daß jedoch der Reinigkeit der letzteren etwas Vgl. Allen Wood, The Final Form of Kant’s Practical Philosophy, in: M. Timmons (ed.), Kant’s Metaphysics of Morals. Interpretative Essays, Oxford 2004, 1–21, hier: 4. 39 Vgl. Ludwig Siep, Wozu Metaphysik der Sitten? Bemerkungen zur Vorrede der Grundlegung, in: O. Höffe (Hg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/M. 19932, 31–44, hier: 37. 38
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benommen, noch ihr Ursprung a priori dadurch zweifelhaft gemacht wird. – Das will so viel sagen, als: eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden.«40 Wenn nun die Metaphysik der Sitten selbst ein System positiv bestimmter, sich durch die Art der Gesetzgebung unterscheidender ethischer oder juridischer Pflichten bilden soll,41 dann werden es eben diese Pflichten sein, welche die Rechtsund die Tugendlehre aus den ›allgemeinen moralischen Prinzipien‹ folgert, indem sie diese der menschlichen Natur anmisst. Die Anwendung also der Metaphysik der Sitten in ihrer strikten, in der Grundlegung erfassten und notgedrungen ziemlich inhaltsarmen Gestalt auf die Anthropologie ergibt die Metaphysik der Sitten in ihrer finalen, die Rechts- und Tugendpflichten der Menschen ausführlich aus apriorischen Prinzipien ableitenden Gestalt der Metaphysik der Sitten. Dass diese tatsächlich jene anwendungsorientierten und daher notwendigerweise empirischen Elemente integriert, erweist ihre Abgrenzung gegen eine rein empirische, also auch empirisch begründete Disziplin, die Kant wiederum »moralische Anthropologie« nennt: »Das Gegenstück einer Metaphysik der Sitten, als das andere Glied der Einteilung der praktischen Philosophie überhaupt, würde die moralische Anthropologie sein, welche, aber nur die subjektive, hindernde sowohl, als begünstigende, Bedingungen der Ausführung der Gesetze der ersteren in der menschlichen Natur, die Erzeugung, Ausbreitung und Stärkung moralischer Grundsätze (in der Erziehung der Schul- und Volksbelehrung) und dergleichen andere sich auf Erfahrung gründende Lehren und Vorschriften enthalten würde, und die nicht entbehrt werden kann, aber durchaus Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (im folgenden: MS), in: WA Bd. 8, 321 f. (AB 11). 41 Vgl. Kant, MS, 323–326 (AB 13–18), und Wood, Final Form, 4 f. 40
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nicht vor jener vorausgeschickt, oder mit ihr vermischt werden muß«.42 Die moralische Anthropologie, von der Kant hier spricht, entspricht also gerade jenen Teilen, die auch Wolffs allgemeine praktische Philosophie umfasst – abzüglich der Semiotik, die Kant schlicht ignoriert, und des Naturrechts. Letzteres allerdings, zumindest dann, wenn es wie bei Wolff ein Recht aus der Natur des Menschen ist, fällt Kants Begründung des Priorisierungs- und Vermischungsverbots der moralischen Anthropologie im Verhältnis zur Metaphysik der Sitten zum Opfer. Beides sei zu unterlassen, »weil man alsdenn Gefahr läuft, falsche, oder wenigstens nachsichtliche moralische Gesetze herauszubringen, welche das für unerreichbar vorspiegeln, was nur eben darum nicht erreicht wird, weil das Gesetz nicht in seiner Reinigkeit (als worin auch seine Stärke besteht) eingesehen und vorgetragen worden, oder gar unechte, oder unlautere Triebfedern zu dem, was an sich pflichtmäßig und gut ist, gebraucht werden, welche keine sichere moralische Grundsätze übrig lassen; weder zum Leitfaden der Beurteilung, noch zur Disziplin des Gemüts in der Befolgung der Pflicht, deren Vorschrift schlechterdings nur durch reine Vernunft a priori gegeben werden muß«.43 Eine Metaphysik der Sitten muss demzufolge enthalten sowohl das apriorische oberste Prinzip und Beurteilungskriterium der Moralität und die diesem entsprechenden absolut notwendigen Gesetze als auch die daraus abgeleiteten Rechtsund Tugendpflichten, die auf die spezifischen Vermögen des Menschen, mithin sein Wesen zugeschnitten sind. Diesem System nachgeordnet, aber keinesfalls zu vernachlässigen oder zu ignorieren ist eine moralische Anthropologie, welche die konkreten und daher kontingenten Umstände der Pflicht42 43
Kant, MS, 322 (AB 11 f.). Kant, MS, 322 (AB 12).
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erfüllung untersucht und in empirische, also nicht unbedingt geltende Regeln und Lehren bringt. Diese umfassen in der menschlichen Natur mögliche und auftretende subjektive Mittel zur Erleichterung der Pflichterfüllung wie eben solche Hindernisse dabei, eine Motivationslehre und »Moralpädagogik«.44 Kant scheint also zumindest den affektiven und praktischen bzw. technischen Teil von Wolffs allgemeiner praktischer Philosophie in die moralische Anthropologie verlegt und das empirisch begründete Naturrecht durch die apriorisch fundierte Metaphysik der Sitten ersetzt zu haben. Trotzdem ist ein ganzes Kapitel der Einleitung in die Metaphysik der Sitten, nämlich das vierte zu den »Vorbegriffen zur Metaphysik der Sitten«, im offensichtlich als Synonym zu verstehenden Untertitel mit »Philosophia practica universalis« überschrieben. Es enthält in außerordentlich konzentrierter Fassung die Erklärung aller Begriffe, die für das Verständnis beider Teile der Metaphysik der Sitten notwendig und ihr deshalb »in ihren beiden Teilen gemein« sind,45 d. h. die Grundbegriffe einer allgemeinen Moralphilosophie, die sowohl für das Recht als auch für die Ethik gelten. Zunächst referiert Kant indes die Bedingungen der Möglichkeit von Moralität bzw. Verpflichtung überhaupt, gibt also einen Abriss des reinen, mithin metaphysischen Teils der praktischen Philosophie. Er fällt äußerst knapp aus und besteht strenggenommen eigentlich nur im Hinweis auf die Positivität des Freiheitsbegriffs als »Kausalität der reinen Vernunft« in Gestalt unbedingter moralischer Gesetze, welche »unabhängig von allen empirischen Bedingungen (dem Sinnlichen überhaupt), die Willkür bestimmen und einen reinen Willen in uns beweisen«.46 Bereits hier nämlich, bei der 44 45 46
Siep, Wozu Metaphysik, 37. Kant, MS, 327 (AB 20). Kant, MS 327 (A 18/ B 18 f.).
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Erläuterung des Begriffs des praktischen Gesetzes, verweist Kant auf die conditio humana, indem er klarstellt, dass ein solches »in Ansehung unser, deren Willkür sinnlich affiziert und so dem reinen Willen nicht von selbst angemessen, sondern oft widerstrebend ist,« die Form eines ge- oder verbietenden Imperativs annehmen muss.47 Schon der fundamentale Begriff des Imperativs also resultiert aus der Anwendung der reinen Moralphilosophie auf eine zwar reichlich unbestimmt gehaltene, aber doch allgemein als sinnliches Vernunftwesen zu begreifende, besondere Gattung von empirisch verfassten Dingen. Neben dem vollständig apriorischen obersten Prinzip der Moral, wie es der Kategorische Imperativ formuliert, treten folglich absolute moralische Gesetze in der Metaphysik der Sitten nur auf, insofern sie schon auf das menschliche Wesen angewendet worden sind.48 Dies gibt der Vermutung Raum, dass zumindest der sowohl Recht als auch Ethik unter sich begreifende Rest von Kants philosophia practica universalis den Prolegomena eines Naturrechts im weitesten Sinne entsprechen dürfte, sofern dies als Quelle der moralischen Normen verstanden wird, die den Umgang des Menschen mit anderen und sich selbst vor jedem positiven Recht gemäß der Einteilung in vollkommene und unvollkommene Pflichten regeln. Demgemäß wären die folgende Rechts- und Tugendlehre zwar einheitlich apriorisch (letzt)begründet, aber aufgrund der bereits vollzogenen Anwendung auf die menschliche Natur durchaus naturrechtlich verfasst. Das Naturrecht im kantischen Modell einer Metaphysik der Sitten wäre dann das Resultat der Anwendung apriorisch begründeter, unbedingter praktischer Gesetze auf die menschliche Natur. Die Einteilung in Rechts- und Tugendlehre ergibt sich so aus den verschiedenen Arten der Verpflichtung durch eine mögliche äußerliche Gesetzgebung 47 48
Kant, MS 327 (AB 19). Vgl. Wood, Final Form, 3.
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einerseits und nicht anders als innerlich mögliche Gesetzgebung andererseits.49 Darauf, dass Kant in seiner philosophia practica universalis sowohl die Begriffsbestimmungen aus Baumgartens Initia als auch ihre Anordnung trotz seiner neuartigen Begründungsstrategie und der naheliegenden Betonung der daraus folgenden Eigentümlichkeiten – etwa des Verhältnisses von Imperativen, Gesetzen und Maximen – weitgehend übernimmt, kann nur hingewiesen werden. Zu überraschen braucht das insofern nicht, als Kant – abgesehen freilich von seiner apriorischen Begründung – aufgrund der möglich gewordenen Integration des Naturrechts durchaus tradierten Modellen folgen kann,50 ohne einen Widerspruch zwischen Anspruch und Ausführung befürchten zu müssen. Die ausführliche Analyse jener leicht bemerkbaren terminologischen wie architektonischen Nähe zu Baumgarten erforderte indes eine ausführlichere, eigenständige Untersuchung, die in diesem Rahmen nicht mehr geleistet werden kann. Sporadische und bei weitem nicht vollständige Hinweise im Zuge der folgenden Erörterungen zu Baumgartens Anfangsgründen sollen hier genügen – schon weil es erfahrungsgemäß viel mehr Kantkenner als Baumgartenleser gibt.
III. A. G. Baumgartens »praktische Metaphysik« Auch Baumgarten gebraucht den Titel einer philosophia practica universalis, und zwar durchaus an prominenter Stelle. Er nennt nämlich den Abschnitt, in dem er die Disziplin der praktischen Metaphysik bestimmt, »Prolegomena philosophiae Vgl. Kant, MS, 347 (AB 47). Vgl. zur Rechtslehre B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka, Kant’s Doctrine of Rights. A Commentary, Cambridge 2010, 15 ff. 49
50
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practicae universalis« und gebraucht dort die wolffsche Bezeichnung synonym mit seiner eigenen (§ 6). Danach spielt sie jedoch keine Rolle mehr. Davor, im Vorwort, weist er ausdrücklich auf die »sehr nützliche« Innovation Wolffs hin und scheint seine eigene Arbeit als bloßes, aber handlicheres Kompendium der zweibändigen Philosophia practica universalis anzukündigen (Praef.). Jedoch gibt Baumgarten dabei zugleich ein Auswahlkriterium an, das er im Folgesatz sogleich sachlich spezifiert: Zum einen will er sich auf die bestmögliche Klärung und Erläuterung ›des Wahren‹ in Wolffs Werk beschränken – was den Gedanken nahelegt, dass er einiges, ja sogar offensichtlich ziemlich viel darin, wenn nicht gleich für unwahr, so doch wenigstens für unnötig hält – und zum anderen im Verbund mit der (Vor)Kenntnis von Logik und Metaphysik die Möglichkeit schaffen, »eine genügend gründliche Wissenschaft von den natürlichen Rechten zu erlangen« (ebd.). Die praktische Metaphysik müsste demzufolge nicht mehr und nicht weniger als die Prinzipien des Naturrechts enthalten, mithin eine allgemeine Moralphilosophie, die sowohl für Recht als auch Ethik Gültigkeit besitzen, also auf deren spezifische Gegenstände angewendet werden müsste. Die Konzentration auf dieses Thema macht weiter ausgreifende Untersuchungen, wie sie Wolff anstellt, schlicht überflüssig und ähnelt eher der strukturellen Konzeption Kants. Vielleicht waren es daher weniger der Zeitmangel oder die »Bedürfnisse der Juristenausbildung«, die Baumgarten trotz anderer ursprünglicher Pläne dazu zwangen, seinen »längst geschrieben(en)« (Praef.) Text nicht nach dem Vorbild Wolffs um Ausführungen zu »Lehre von der Tugend, von der Glückseligkeit, ja sogar einer allgemeinen Menschenkenntnis« zu vermehren,51 sondern bewusste, systematisch motivierte Beschränkung.
51
Vgl. Schwaiger, Baumgarten, 132.
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1. Der Gegenstand praktischer Metaphysik Für diese Annahme sprechen freilich vor allem Baumgartens Bestimmungen von praktischer Philosophie bzw. Metaphysik in den außerordentlich knappen, diesbezüglichen Prolegomena, die kaum noch an Wolff erinnern. Sie sind beide in Analogie zur theoretischen Philosophie und zur Metaphysik gehalten. So heißt es zur praktischen Philosophie: »So wie die Philosophie die Wissenschaft von den Beschaffenheiten in den Dingen ist, die ohne Glauben zu erkennen sind, so ist die praktische die Wissenschaft von den Verpflichtungen (obligationes) des Menschen, die ohne Glauben zu erkennen sind.« (§ 1) Ist der, strenggenommen, alleinige Gegenstand der praktischen Philosophie eine Erkenntnis der Verpflichtungen, die nicht aus »Zeugnissen, göttlichen oder menschlichen Autoritäten oder der Geschichte« (§ 2) gewonnen werden darf, scheint eine solche Wissenschaft, auch wenn sie sich exklusiv auf die ›Verpflichtungen des Menschen‹ bezieht, ohne bloß empirische Erkenntnis auskommen zu müssen. Sie dürften also nicht aus seiner Natur abgeleitet werden, sofern diese ausschließlich Gegenstand empirischer Erkenntnis sein sollte, ohne dass freilich daraus zugleich folgen müsste, dass jene Verpflichtungen nicht durch diese Natur eingeschränkt werden könnten. Denn im Gegenteil verlangt diese und jede andere Anwendung der durch die praktische Philosophie gewonnenen Theorie der Verpflichtung auf die konkreten, einzelnen Handlungen eines Menschen (oder jedes anderen verpflichtbaren Wesens) nicht nur die möglichst genaue Erfassung seiner Natur, sondern insbesondere seines Zustands und den Umsänden, unter denen er (oder es) handelt – was ohne den Rückgriff auf empirische Erkenntnis schlechterdings unmöglich ist, ganz zu schweigen von Zeugnissen und anderen indirekten erfahrungsbasierten Erkenntnismitteln. Baumgarten diskutiert diese für jede Moralphilosophie zentrale Ebene der Anwendung ausführlich im Rahmen seiner Analyse des
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Begriffs der Zurechnung (imputatio), der mehr als die Hälfte des gesamten II. Kapitels der Initia gewidmet ist. Man hat es also strenggenommen sogar mit zwei Anwendungen zu tun: zum einen mit der Anwendung einer reinen Moralphilosophie auf eine besondere Spezies verpflichtbarer Wesen, nämlich Menschen, und zum anderen mit der Anwendung der dabei gewonnenen generellen Begriffe auf das jeweils konkrete Handeln. Demnach müsste die praktische Metaphysik die »Quellen« (principia) der Verpflichtung enthalten, die den praktischen Disziplinen, jedenfalls »vielen davon[,] gemeinsam sind« (§ 6). Diese Einschränkung erhellt im Blick auf die Moraltheologie: Zwar profitiert sie von der logischen wie begriff lichen Klärung, die praktische Philosophie und Metaphysik liefern (§§ 3/9), jedoch liegen die ihr eigentümlichen Quellen der Verpflichtung gewiss nicht darin, sondern in der Offenbarung. Die praktische Metaphysik genießt damit zuallermindest unter den weltlichen praktischen Disziplinen systematische Priorität (§§ 7/8), weil sie ihnen mit den aufgefundenen Prinzipien eine einheitliche und gewisse Grundlage schaff t und interdisziplinäre Widersprüche verhütet, da die Thesen der verschiedenen praktischen Fächer allesamt von dieser abgeleitet werden und folglich unter harten Konsistenzbedingungen stehen. Die gesamte Moralphilosophie mit allen ihren von Recht und Ethik inbegriffenen Disziplinen sollte demnach ein System der Verpflichtungen ergeben, wie sie die Menschen betreffen, obgleich es immerhin möglich sein müsste, deren erste Prinzipien auch auf alle anderen Wesen anzuwenden, die einer Verpflichtung fähig sind. Aufgrund dieser strikten Fokussierung der Moralphilosophie auf den rein praktischen Begriff der Verpflichtung können dessen insbesondere vermögensund erkenntnistheoretischen Voraussetzungen selbst wiederum nicht mehr Gegenstand der praktischen Philosophie sein, sondern müssen innerhalb der theoretischen Metaphysik
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geklärt werden, besser: worden sein. Im Bewusstsein, dies bereits erledigt zu haben, macht Baumgarten weidlichen Gebrauch von seiner eigenen Metaphysica, auf die er zur notwendigen Erläuterung der begriff lichen und theoretischen Bedingungen von Verpflichtung auf Schritt und Tritt hinweist. 2. Eine Wissenschaft von der Verpflichtung Die fundamentalste Voraussetzung aller Moralphilosophie – wenn man so will: die oberste metaphysische Bedingung der praktischen Metaphysik – ist naturgemäß indeterministisch verstandene Freiheit,52 denn schon der Begriff des moralisch Möglichen und des Sittlichen überhaupt schließt sie bereits ein.53 Baumgarten unterscheidet wie später Kant nach ihm drei verschiedene Formen des Beliebens (lubitus), die einem »mit Willkür (arbitrium) begabte(n) Ding« zukommen können, nämlich: 1. die sinnliche Willkür (arbitrium sensitivum), d. h. »das Vermögen, nach eigenem Belieben zu begehren oder abgeneigt zu sein«; 2. die freie Willkür (liberum arbitrium) oder auch die Freiheit schlechthin, d. h. »das Vermögen, nach eigenem Belieben zu wollen oder zu nicht-wollen«; und 3. die reine Freiheit (libertas pura) des Wollens oder NichtWollens, der nichts Sinnliches, also weder sinnliche Erkenntnis noch sinnliches Begehren, noch sinnliche Triebfedern (stimuli) und dergleichen, beigemischt ist.54 Weil nun aber zuallermindest kraft der jeweils auf die Position des eigenen Leibes bezogenen Vorstellung des Universums »allen meinen Wollungen und NichtWollungen etwas Sinnliches beigemischt ist«,55 kann der Mensch nicht über reine Freiheit verfügen. Dies heißt indes Vgl. zu Baumgartens Freiheitsbegriff Alexander Aichele, Wahrscheinliche Weltweisheit. Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik des Erkennens und Handelns, Hamburg 2017, 297–311. 53 Vgl. Baumgarten, Met., § 723. 54 Baumgarten, Met., § 719. Vgl. Kant, MS, 317 f. (AB 5/6). 55 Baumgarten, Met., § 720. 52
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keineswegs, dass Baumgartens Verpflichtungsbegriff auf sinnliche Vernunftwesen im Allgemeinen oder den Menschen im Besonderen beschränkt bliebe. Denn solange Verpflichtung zunächst einmal nichts anderes bedeutet als »moralische Nötigung« (necessitatio) und, wenn sie sich auf eine »ungern (invita) vollzogene Handlung« bezieht, »sittlichen Zwang« (coactio), welche beide nicht extern erfolgen müssen, werden auch reine Geistwesen, wenn sie denn überhaupt zu moralisch unmöglichen bzw. unerlaubten Handlungen fähig sind, Verpflichtungen unterliegen können. Davon geht Baumgarten sogar ausdrücklich aus, da »alle freien Bestimmungen aller freien Wesen« dem »allgemeinsten sittlichen Gesetz«, nämlich der generellen und konkreten Richtschnur des Besten, unterworfen sind, so dass aus dessen, allerdings allein Gott zugänglicher Perspektive »alle freien Handlungen moralisch notwendig oder unerlaubt« sind.56 Selbst für Gott wäre daher so etwas wie eine Selbstverpflichtung denkbar. Verpflichtungen können sich also allein auf »freie Substanzen bzw. Personen« (§ 10) beziehen und eliminieren nicht Freiheit, sondern setzen sie im Gegenteil notwendig voraus, ja folgen sogar erst aus ihr: »Handlungen, zu denen wir verpflichten oder verpflichtet werden können, können nicht nur freie sein, sondern sind auch notwendigerweise solche« (§ 11). Der klassische Grundsatz Nemo obligatur ultra posse erhält dadurch erst seine im eigentlichen Sinne moralische Spezifi kation. Denn eine Verpflichtung ist genau und nur da sinnlos, wo etwas, ganz unbeachtlich seiner moralischen Modalität, nicht aus Freiheit möglich ist. Eine Person zum Vollzug oder der Unterlassung bzw. Verhinderung von etwas zu verpflichten, was sich mit Notwendigkeit vollzieht oder was unmöglich geschehen kann, ist also gleichermaßen Unsinn. Daraus folgt umgekehrt, dass die Freiheit einer Willensbestimmung bzw. Handlung 56
Baumgarten, Met., § 724, u. vgl. § 822.
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immer die Möglichkeit ihres Gegenteils einschließen muss (§ 12), d. h. entweder die gänzliche Unterlassung einer diesbezüglichen Bestimmung oder den Vollzug irgendeiner anderen. Notwendigkeit oder jede Art von Determiniertheit, die nicht aus der Freiheit des sein Wollen oder Handeln unter wenigstens zwei Alternativen selbst bestimmenden Subjekts erfolgt, fungiert deshalb als Freiheits- und demzufolge als Verpflichtungsausschluss. Freie Bestimmungen sind und bleiben daher unter allen Umständen kontingent; es gibt keine Bedingungen des moralisch irgendwie relevanten Wollens oder Handelns, die dessen Spielraum auf genau und nur eine Möglichkeit reduzieren. Genau dies freilich – jedoch im moralischen, d. h. Freiheit voraussetzenden Sinne – soll durch eine Verpflichtung geschehen: »Der Verpflichtende macht eine freie Bestimmung (determinatio libera) zu einer moralisch notwendigen, also deren Gegenteil zu einer moralisch unmöglichen« (§ 12).57 Wie hat man sich nun die Erzeugung solcher moralischer Notwendigkeit mit dem Effekt moralischer Nötigung vorzustellen? 3. Der Begriff der Verpflichtung Eine Verpflichtung besteht zunächst einfach in der Verknüpfung ›bewegender‹ – besser und genauer, aber sprachlich ungleich ungelenker eigentlich: »bewegenkönnender« – Ursachen (causae impulsivae) mit einer möglichen freien Bestimmung (§ 12). Baumgarten folgt hier im Grundsatz Wolff, 58 wenngleich er sofort eine, wie es auf den ersten Blick scheint, quantitative Differenzierung einführt: »Wenn einer ein größeres Belieben zu irgendeiner freien Bestimmung als zu ihrem Gegenteil erregen will, sind mit eben dieser die mächtigeren ( fortiores) bewegenden Ursachen zu verknüpfen« (§ 12). 57 58
Vgl. Kant, MS, 327 (AB 19). Vgl. Schwaiger, Baumgarten, 118–122.
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Da nach Baumgarten das Belieben (lubitus) die bewegende Erkenntnis (cognitio movens) der Bestimmungsgründe zum Vollzug freier Handlungen darstellt, ist die Verpflichtung jedenfalls ein auf die vorgestellte Absicht bezogener kognitiver Akt, und demzufolge wird die Intensität des Beliebens dem Grad dieser Erkenntnis der jeweiligen »Triebfedern des Gemüts« (elateres animi) entsprechen.59 Ohne eigens auf die mannigfaltigen und allesamt zwischen definiten Extrema graduierbaren Aspekte von Erkenntnis einzugehen, die Baumgarten ausführlich analysiert,60 lässt sich doch jener spezifische Zusammenhang von Erkenntnis und Verpflichtung vor dem Hintergrund seiner originären, Ästhetik und Logik umfassenden Epistemologie durchaus verdeutlichen. Als bewegende Ursachen, die überhaupt zu einer Verpflichtung führen können, kommen sinnliche Triebfedern und verstandesmäßige Bewegungsgründe (motiva) in Frage. Ihr Auftreten richtet sich naturgemäß nach dem Vorliegen der ihnen entsprechenden seelischen Voraussetzungen, d. h. dem unteren, sinnlichen, und oberen, vernünftigen, Begehrungsvermögen. Sinnliche Triebfedern entstehen entweder aus dunklen oder verworrenen Vorstellungen, die demgemäß entweder eine gänzlich undifferenzierte, aber bewusste oder eine klare, jedoch ebenfalls noch begriffsfreie Erkenntnis möglicher Handlungsgründe liefern.61 Erstere sind »blind« in Trieb (instinctus) wie Abscheu ( fuga) und führen, sofern keine weitere Differenzierung geschieht, als bloß »natürliche« Begierde bzw. Abneigung zu den entsprechenden, nur reaktiven Handlungen.62 Letztere hingegen bilden Gemütsbewegungen (affectus), die nicht nur ihre theoretische Erfassung durch die psy59 60
Vgl. Met., §§ 712 u. 669. Vgl. Met., § 515, und Aichele, Wahrscheinliche Weltweisheit, 175–
224. 61 62
Vgl. ebd., 36–47. Vgl. Met., § 677.
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chologische Pathologie und ihre Steuerung, um nicht zu sagen: Manipulation, durch die ästhetische Pathologie zulassen, sondern auch eine praktische Pathologie fordern, »welche die Verpflichtungen des Menschen hinsichtlich der Affekte darstellt«.63 Relevant für mögliche Verpflichtungen sind also von Seiten der Sinnlichkeit aufgrund ihrer wissenschaftlichen Differenzier- und Kontrollierbarkeit allein die aus verworrener, aber als solcher eben klarer Erkenntnis erwachsenden Affekte. Baumgarten hält daher ganz offenkundig auch ästhetisch und sonach intuitiv erkannte Absichten, mithin differenziert empfundene Verpflichtungen bzw. notwendig gemachte Handlungsgründe für möglich, die sich – freilich unter einem nicht substituierbaren Verlust an Intensität – gleichfalls begriff lich erfassen und aussagen lassen müssen. Solche begriffliche Bestimmtheit eignet Motiven schon aufgrund ihres Ursprungs: Sie sind klare und deutliche Vorstellungen des Beabsichtigten, die durch das verstandesmäßige Urteilsvermögen gebildet werden.64 Sie fungieren daher als bewegende Ursachen des oberen Begehrungsvermögens, also des Willens oder Nicht-Willens, aus denen bestimmte Wollungen oder Nicht-Wollungen hervorgehen, deren keine es ohne diese Motive geben könnte.65 Rationale Bewegungsgründe sind folglich zumindest notwendige Bedingungen freier Willensbestimmungen und reichen immer dann zu einem Entschluss (decretum) zu, wenn ihnen keine sinnliche Begierde oder Abneigung beigemischt ist.66 Reine Freiheit entspricht daher ausschließlich rational begründetem Belieben und Handeln. Die Erreichung dieses Ideals bleibt dem Menschen allerdings verschlossen. Denn »unter den Bewegungsgründen, durch welche ich zum Nicht-Wollen oder Wollen bestimmt werde, sind 63 64 65 66
Met., § 678. Vgl. Met, § 689. Vgl. Met., §§ 690/691. Vgl. Met., § 695.
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immer sinnliche Triebfedern«.67 Menschen handeln demzufolge bestenfalls aus freier Willkür nach rationalen Gründen, nachdem sie entweder widerstreitende Stimuli besiegt haben oder ihr affektiver Zustand ohnehin für den Entschluss spricht, den die Motive begründen. Dass eine solche »Harmonie des oberen und unteren Begehrungsvermögens«68 das rationale Handeln wenigstens ungemein erleichtert, ohne zugleich auch dessen Bedingung zu sein, liegt auf der Hand. Liegen nämlich »Fleisch und Vernunft« im Streit,69 hängt der Entschluss davon ab, welches der konkurrierenden Begehrungsvermögen das Übergewicht (superpondium) besitzt,70 ob also die involvierten sinnlichen Triebfedern oder rationale Bewegungsgründe bzw. diese zusammen mit ihnen konformen Stimuli die mächtigeren sind. Trotz der ebenso irreführenden wie verbreiteten WaageMetaphorik handelt es sich hierbei allerdings nicht um so etwas wie einen schlichten psychomechanischen Vorgang – und ebenso wenig um eine genuin mathematische, d. h. allein auf Quantitäten bezogene Operation, obwohl es ohne Zweifel um die Gewinnung einer Erkenntnis geht, jedoch, wie sich zeigen wird, letztlich einer qualitativen. Die Erzielung und Erklärung hinreichender Macht oder Stärke bewegender Ursachen ist für Baumgartens Theorie der Verpflichtung – und damit für seine gesamte Moralphilosophie – nun ganz offenkundig von fundamentaler Bedeutung. Denn um eine Verpflichtung zu einer freien Bestimmung zu etablieren, ist es ja notwendig, ein größeres Belieben zu dieser zu erregen, und eben dies geschieht durch die mächtigeren bewegenden Ursachen: »Einer, der die mächtigeren bewegenden Ursachen mit irgendeiner freien Bestimmung verknüpft, macht deren 67 68 69 70
Met., § 693. Met., § 693. Met., § 693. Met., § 694.
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Gegenteil zu einer moralisch unmöglichen, also diese freie Bestimmung zu einer moralisch notwendigen und verpflichtet so dazu.« (§ 13) Dasselbe gilt mutatis mutandis für passive Verpflichtung (§ 14). Der ausschlaggebende Stärkegrad bewegender Ursachen ergibt sich aus einem mentalen Prozess, den Baumgarten »Zusammenrechnung« (connumeratio) nennt: »Die mächtigeren bewegenden Ursachen zu einer freien Bestimmung und ihrem Gegenteil werden, wenn sie auf beiden Seiten zusammengerechnet werden, jener, welche die mehreren hat, zugeschrieben.« (§ 12) Ein Blick auf den Paragraphen 697 seiner Metaphysik, auf den Baumgarten hier hinweist, zeigt, dass die erforderliche Zusammenrechnung deutlich komplizierter, vor allem voraussetzungsreicher ist als eine einfache Addition der für beide Bestimmungen jeweils vorliegenden sinnlichen und rationalen Triebfedern: »Einer, der bedenkt (deliberans), insofern er eine mathematische Erkenntnis anstrebt, überschlägt (subducit) die Gründe (rechnet), sofern er überlegt, wie viele Güter, wie viele Übel von beiden Seiten zu erhoffen sind, zählt (numerat) er die bewegenden Ursachen, welche er erwägt (ponderat), sofern er angibt, wie große Güter, wie große Übel zu erwarten sind, und sofern er genau abwägt (perpendit), was das bessere sei, zieht er das eine dem anderen vor (praefert). Wenn er das Vorgezogene beschließt, erwählt er (eligit). Wenn einer, der bedenkt, etwas beschließt, damit er dadurch erfährt, ob seine Kräfte groß genug sind, um jenes zu verwirklichen, versucht er (tentat). Wenn einer, der bedenkt, indem er erwägt, die größer scheinenden einzelnen bewegenden Ursachen für so viele sehr kleine hält, so viele Grade der Größe (magnitudo) der einzelnen er erkennt, und so die einzelnen vergleicht, rechnet er die bewegenden Ursachen zusammen (connumerat).«71
71
Met., § 697.
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Bedenken (deliberatio), möchte man sagen, wird in vielfacher Weise ausgesagt. Denn es handelt sich dabei um den komplexen »Zusammenhang der Akte des Erkenntnisvermögens, um sich bezüglich der Bewegungsgründe und sinnlichen Triebfedern zu entscheiden«.72 Welche Akte dies sind, erklärt Baumgarten im zitierten Paragraphen. Die Zusammenrechnung erweist sich dort als eine eigene Art der Erwägung, die als solche die vierfache Frage nach der Größe der jeweils mit je zwei entgegengesetzten Bestimmungs- und Handlungsalternativen verbundenen Güter und Übel beantworten soll.73 Letztere fungieren, wie ebenfalls aus Paragraph 697 hervorgeht, selbst als Motive oder Stimuli, welche also offenkundig zu erwartende verstandesmäßige oder sinnliche Güter oder Übel indizieren. In der Zusammenrechnung nun werden die gegebenen bewegenden Ursachen zum einen jeweils einzeln und zum anderen jeweils relativ zueinander betrachtet, müssen also auch gezählt worden und daher zu Bewusstsein gekommen sein (§ 23). Die Zusammenrechnung liefert folglich die relative und akkumulierte Größe der bewegenden Ursachen, die jeweils für beide Seiten eines kontradiktorischen Paares zweier freier Bestimmungen A und nicht-A, mithin für das Tun oder Unterlassen einer Handlung sprechen. Die Relativität dieser Größenbestimmung ist deswegen von wesentlicher Bedeutung, weil die verpflichtende Macht der aus ihr resultierenden ›totalen bewegenden Ursache‹ gerade nicht einfach aus der bloßen größeren Anzahl der ›partiellen bewegenden Ursachen‹ folgt, sich also nicht als Summe einer numerischen Addition mit Notwendigkeit ergibt. Vielmehr kommt es stets auf das Gewicht der einzelnen bewegenden Ursachen an, weswegen ihre relative Größenbestimmung durch Zusammenrechnung unerläßlich ist: »Wenn es mehr 72 73
Met., § 696. Vgl. Met., § 696.
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partielle bewegende Ursachen zu einer freien Bestimmung A als zu deren Gegenteil nicht-A gibt, zu diesem aber so gewichtige, dass nach vollzogener Zusammenrechnung die totale bewegende Ursache zu nicht-A die mächtigere ist, gibt es keine Verpflichtung zu A.« (§ 20) Der Prozess der Zusammenrechnung, der für eine rationale Entscheidung über eine freie Bestimmung unerlässlich, jedoch keineswegs identisch mit ihr ist, enthält also zwar eine mathematische Operation, da die verschiedenen gegebenen bewegenden Ursachen in einem ersten Schritt gezählt werden müssen. Er ist aber keine solche und resultiert auch nicht in einer mathematischen Erkenntnis. Er hätte sonst auch nichts in der Philosophie, schon gar nicht in einer praktischen Metaphysik verloren, da sich die Philosophie mit Qualitäten beschäftigt und die Quantitäten der Mathematik überlässt.74 Die Größe der bewegenden Ursachen, um die es in Baumgartens Theorie der Verpflichtung geht, ist daher keine extensive, sondern eine intensive, und intensive Größen sind Gegenstand der Metaphysik.75 Entweder meint Kant mit seiner harschen Kritik in der Grundlegung daher nicht Baumgarten oder sie läuft ins Leere, weil Baumgarten dergleichen wie eine Gleichartigkeit der Bewegungsgründe, deren bloße Addition zu einer »größeren oder kleineren Summe« über die Verpflichtung entschiede,76 gar nicht behauptet. Der Maßstab für die Macht bewegender Ursachen wird daher eine einfache oder komplexe Qualität sein, die graduiert werden kann und Extrema besitzen muss. Wenn nun in der Zukunft mögliche und durch eigene Kraft herbeiführbare Güter oder vermeidbare Übel als Triebfedern des Gemüts fungieren, lässt sich die Frage nach dem Kriterium nicht nur für die 74 75 76
Vgl. Log., § 8. Vgl. Aichele, Wahrscheinliche Weltweisheit, 266–270. Kant, GMS, 15 (BA XII).
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Stärke einer partiellen wie totalen bewegenden Ursache, sondern auch für die Größe eines durch eine freie Bestimmung zu erwartenden Guts oder Übels auf die Frage nach dem Unterscheidungskriterium zwischen Gut und Böse zurückführen. Denn gewiss wäre etwas, das unbedingt und ohne Einschränkung gut genannt werden könnte, zugleich die stärkste aller möglichen Triebfedern zum Tun und dessen vollständige Abwesenheit zum Unterlassen. Obschon Baumgarten zweifellos ein außerordentlich sinnlichkeitsfreundlicher Denker war, dessen Erkenntnislehre mit der Ästhetik die Sinnlichkeit der verstandesmäßigen Logik zuallermindest gleichstellt, kann die Sinnlichkeit – sofern überhaupt vorhanden – in der Moral zwar eine gewichtige Rolle spielen, sie kann aber nicht ihr oberstes Kriterium definieren. Die Gründe dafür liegen im Gegenstand der praktischen Metaphysik selbst. Denn zwar mögen die Quellen der Verpflichtung durchaus ebenso in den Sinnen wie im Verstande liegen, jedoch gehört, wie Baumgartens Analyse des Bedenkens und insbesondere der Begriff der Zusammenrechnung zeigt, das Prinzip der Erkenntnis einer wahren Verpflichtung in die Domäne des oberen Erkenntnisvermögens. Nur dann kann überhaupt von der Freiheit einer Bestimmung gesprochen werden. Ein rein sinnlich begründetes bzw. erkanntes Belieben entspräche ja nur der Willkür und bliebe damit als gleichsam natürlicher Zufall wie die Handlung eines Tiers dem Inhalte nach im außermoralischen Bereich. Dies gilt allerdings nicht dem Grunde nach, wenn der aus schierer Willkür Handelnde das Vermögen besäße, ebenso aus freier Willkür und also unter Einbeziehung rationaler Beweggründe und den diesen angemessenen logischen Erkenntnismitteln eine Entscheidung zu treffen. Reine Freiheit führt dagegen notwendigerweise zu moralisch zu beurteilenden Handlungen – egal, wie weit der Intellekt eines Geistes reicht. Ist er unendlich und unfehlbar, handelt es sich also um einen allwissenden
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Geist, werden seine Handlungen aufgrund ihrer vollständigen und allumfassenden Rationalität freilich notwendigerweise gut sein. Dies ist bei einem sinnlichen Verstandeswesen oder verstandesbegabten Sinnenwesen – wie immer man das lieber nennen möchte – wie dem Menschen naturgemäß nicht der Fall. Da sich zwischen seinen Motiven auch immer Stimuli finden, erkennt er seine jeweilige Verpflichtungslage niemals rein logisch, sondern stets ästhetikologisch.77 Die Erkenntnis seiner aktualen Verpflichtungen ist folglich jederzeit fehleranfällig und also im besten Falle wahrscheinlich. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass einem solchen Wesen ein wahres bzw. objektives Kriterium zur Feststellung von Verpflichtung, mithin zur Unterscheidung von Gut und Böse nicht zur Verfügung stünde. Allein dessen subjektive Anwendung führt aufgrund seiner epistemischen Einschränkungen zu notwendigerweise ungewissen, aber deswegen noch lange nicht zu zweifelhaften, unwahrscheinlichen oder falschen Resultaten (§ 28). Die Erkenntnis einer Verpflichtung setzt ihr Bestehen voraus und bezeugt zugleich ihren Ursprung: »Die Verknüpfung mancher mächtigerer bewegender Ursachen mit manchen freien Bestimmungen kann aus der Natur der Handlung und des Handelnden hinreichend erkannt werden. Manche Verknüpfung kann hinreichend aus irgendjemandes freier Willkür erkannt werden. Jene Verpflichtung ist eine natürliche (objektive, innerliche, innere), diese eine positive (willkürliche, subjektive, formale, äußerliche, äußere).« (§ 29) Natürliche Verpflichtungen gelten daher in Bezug auf bestimmte Arten von Handlungen und vernunftbegabten Wesen universal, d. h. unabhängig von jedem historischen Kontext, und sind daher schon in der Möglichkeit jener Handlungen und Wesen enthalten: Wenn also eine bestimmte Art von 77
Vgl. zum folgenden Aichele, Wahrscheinliche Weltweisheit.
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Handlung einer bestimmten Art von Wesen möglich ist, ist dies auch jederzeit dazu verpflichtet, sich zu dieser Handlung frei zu bestimmen und sie als Begehung oder Unterlassung (§ 31) zu vollziehen. Positiven Verpflichtungen eignet solche interne Universalität nicht. Sie müssen erst von einer bestimmten Person zu einer bestimmten Zeit erzeugt und können deshalb auch verändert oder gänzlich aufgehoben oder wieder in Kraft gesetzt werden, was freilich nicht ausschließt, dass sie natürliche Verpflichtungen umfassen oder ihnen schlicht entsprechen (§ 30). Bereits hieraus folgt, dass positive Verpflichtungen natürlichen nicht zuwiderlaufen dürfen bzw. natürliche Verpflichtungen gegenüber positiven stets Priorität besitzen. Woran bemisst sich nun die Macht bewegenkönnender Ursachen, die den Gegenstand einer Verpflichtung definiert? Hier ist es nötig, sich zu erinnern, dass jene Triebfedern des Gemüts nicht kausalmechanisch wirken bzw. allein durch ihre Gegebenheit mit Notwendigkeit schon zu genau und nur einem möglichen Resultat führen. Eine derart deterministische Erklärung würde die Freiheit einer freien Bestimmung selbst eliminieren. Vielmehr ist der Entschluss, in dem eine freie Bestimmung besteht, das Ergebnis eines komplexen mentalen Prozesses, der aufgrund sowohl der bei allen verpflichtbaren Wesen außer Gott jeweils artspezifischen als auch selbst- oder fremdverschuldeten, individuellen epistemischen Beschränkungen seines Trägers stets misslingen kann. Es kommt dann zwar ebenso zu einer freien Bestimmung. Diese richtet sich aber nicht nach den in Wahrheit mächtigeren bewegenden Ursachen, sondern nur nach den mächtiger scheinenden, welche, obschon schwächer, etwa wegen der größeren Bequemlichkeit, Vergnüglichkeit o. ä. der durch sie begründeten Bestimmung als stärker empfunden werden mögen. Eine solche freie Bestimmung verfehlt folglich die in Wahrheit bestehende und erkennbare Verpflichtung und ist
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deswegen böse. Denn »alle freien Bestimmungen des Menschen sind entweder gut oder böse« (§ 32). Dies gilt inklusive ihrer genuinen Folgen. Also kann keine wahrhaft böse Handlung durch ihre scheinbar guten Folgen gerechtfertigt werden. Weil es aber ohne bewegende Ursachen zu gar keiner freien Bestimmung kommen kann,78 muss es zu jeder freien Bestimmung auch wahrhaft mächtigere bewegende Ursachen geben. Folglich gibt es zu jeder freien Bestimmung auch eine wahrhafte Verpflichtung, sei diese natürlich oder positiv. 4. Moralität und Vollkommenheit Diese Verknüpfung, ja Begründung der moralischen Qualität einer jeden Handlung mit dem Begriff der Verpflichtung verdeutlicht Baumgartens Definition von Moralität: »An sich gute oder böse Handlungen werden genannt, welche als solche erkannt werden können, indem man von aller Willkür absieht, die will, dass diese entweder dies oder jenes sind. Also gibt es an sich gute oder böse Handlungen. Gute freie Handlungen verhalten sich zur Vollkommenheit wie Hilfsmittel, böse wie Hindernisse. Hinsicht und Beziehung einer freien Handlung zur Vollkommenheit ist die Moralität derselben. Also wird freien Handlungen entweder objektive (die Ansichheit vor dem Willen Gottes usw.) Moralität zugesprochen, sofern sie als an sich gute oder böse betrachtet werden, oder subjektive, sofern sie wegen irgendjemandes freier Willkür gut oder böse sind.« (§ 36) Mit dem obersten Kriterium für Moralität ist zugleich auch das oberste Kriterium für die Macht bewegender Ursachen und wahrhafte Verpflichtung festgelegt. Wenn die guten Handlungen ihre Gutheit und die bösen ihre Bosheit aus ihrer entweder befördernden oder behindernden Wirkung auf die Vollkommenheit des Handelnden gewinnen, sind die Begriffe des 78
Vgl. Met., § 691.
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metaphysisch wie moralisch Guten und Bösen selbst ebenso durch den Begriff der Vollkommenheit (perfectio) und seiner Negation (imperfectio) zu erklären. Freilich ist dieser zentrale Begriff in der Philosophie der Aufklärung im Allgemeinen und bei Baumgarten im Besonderen eminent vielschichtig. Er kann daher an dieser Stelle nicht in seiner ganzen Komplexität analysiert werden. Dies ist auch gar nicht nötig. Denn zum einen ist hier nur die praktische Bedeutung des Vollkommenheitsbegriffs – und dies auch nur in allgemeiner Hinsicht – von Interesse, und zum anderen lässt sie sich vermittels der Anwendung seiner grundlegenden formalen Definition auf den Begriff der Verpflichtung durchaus zureichend erfassen. Nach Baumgarten besteht Vollkommenheit in der Übereinstimmung (consensus) ›vieler zugleich genommener zu einem einzigen zureichenden Grund‹.79 Gegenstand der praktischen Metaphysik ist eine Theorie der Verpflichtung. Eine Verpfl ichtung ist die Verknüpfung bewegender Ursachen mit einer freien Bestimmung. Der mögliche zureichende Grund einer freien Bestimmung ist ihre totale, d. h. aus verschiedenen partiellen und daher zur Erzielung einer Wirkung unzulänglichen bewegenden Ursachen zusammengesetzte Ursache. Stimmen also all diese, jeweils für sich genommen unzulänglichen Gründe zur Einheit eines zureichenden Grundes überein, wird dieser eine nicht nur totale, sondern auch vollkommene bewegende Ursache bilden. Totale und vollkommene bewegende Ursache müssen sich nämlich darin unterscheiden, dass bei letzterer die Einheit des zureichenden Grundes durch die Zusammenstimmung aller beteiligten Teilursachen gebildet wird. Es kann daher bei einer vollkommenen bewegenden Ursache nicht sinnvoll von einem Übergewicht der Triebfedern für die eine Seite eines kontradiktorischen Paares von Handlungsbestimmungsalternativen bzw. ihrer Macht 79
Met., § 94.
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gesprochen werden. Unter dieser Bedingung ist aber das Auftreten einer bloß scheinbaren Verpflichtung, wie sie aus fehlerhafter Zusammenrechnung der nicht nur differenten, sondern auch Differentes intendierenden bewegenden Ursachen hervorgeht, gar nicht mehr möglich. Denn die Entstehung einer solchen setzt die Konkurrenz von bewegenden Ursachen für beide möglichen Alternativen voraus, deren eine gut und deren anderen böse sein muss, deren eine also die Vollkommenheit des Handelnden befördert, während deren andere sie behindert, mithin Unvollkommenheit befördert. Eine vollkommene bewegende Ursache einer freien Bestimmung zur Unvollkommenheit ist aber unmöglich, weil dann alle partiellen Ursachen in ihrer Negativität übereinstimmen, also alle selbst negativ bestimmt sein müssten.80 Eine vollständig negative Bestimmung bestimmt aber nichts – woraus ganz nebenbei erhellt, dass es so etwas wie eine vollständig bzw. absolut böse freie Bestimmung gar nicht geben kann, weil eine solche nicht eine zu etwas, sondern zu nichts wäre. Umgekehrt könnte eine vollständig gute freie Bestimmung nur aus einer vollkommenen bewegenden Ursache folgen – allerdings keineswegs mit Notwendigkeit, denn sonst wäre jene Bestimmung ja nicht mehr frei. Eine vollständig gute freie Bestimmung jedenfalls implizierte bei vernünftigen Sinnenwesen die Harmonie des unteren und des oberen Begehrungsvermögens mit allen ihren differenten bewegenden Ursachen. Da eine freie Bestimmung jedoch die Erkenntnis nicht nur der totalen, sondern auch der sie konstituierenden partiellen bewegenden Ursachen erfordert, gehörte zu einer vollständig guten freien Bestimmung ebenso die vollständige Transparenz ihrer vollkommenen bewegenden Ursache, mithin der Motivationslage desjenigen, der eine mögliche Handlungsbestimmung bedenkt. Derartige vollständige Gewissheit 80
Vgl. Met. §§ 146/147.
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bei der Erkenntnis von Kontingentem ist im Falle des Menschen – also kontingenterweise – aus epistemischen Gründen ausgeschlossen. Es mag daher auch bei Menschen durchaus einmal eine vollkommene bewegende Ursache vorliegen. Sie wird dann aber als solche nicht totale Ursache einer freien Bestimmung werden können bzw. mit dieser identifiziert werden dürfen, weil ihre Vollkommenheit gar nicht vollständig, mithin deutlich erkannt werden kann. Dies liegt am notwendigen Auftreten sinnlicher Triebfedern unter den bewegenden Ursachen einer jeden dem Menschen möglichen freien Bestimmung. Zwar sind jene Stimuli freilich Gegenstand ästhetischer Erkenntnis. Diese reicht mit ihrer verworrenen Klarheit jedoch nur zur Feststellung sowohl der Existenz als auch der Differenz gegebener sinnlicher Triebfedern zu. Sie kann aber wegen ihrer teilweisen Dunkelheit und Begriffsfreiheit weder deren vollständige Erfassung bzw. bewusste Wahrnehmung gewährleisten noch sie zu mentalen Gegenständen machen, die aufgrund ihrer qualitativen Bestimmt- und Unterschiedenheit abgezählt werden können. Dies ist erst auf der Stufe ästhetikologischer Erkenntnis unter Gebrauch des zugleich begriffsbildenden wie universalisierenden Abstraktionsverfahrens, also unter Verlust von Vollständigkeit – und wäre diese auch in dunklen Vorstellungsteilen aufgehoben gewesen – möglich. In das Bedenken können also keine rein ästhetischen (und vollständig gewisse, d. h. irrtumsimmune), wohl aber ästhetikologische (und subjektiv gewisse, d. h. fehleranfällige) Erkenntnisse von Kontingentem einbezogen werden. Das Bedenken indes dient, wie die praktische Metaphysik lehrt, dazu, wahrhafte von scheinbaren Verpflichtungen zu unterscheiden und pflichtkonforme Entschlüsse zu begründen. Gelingendes Bedenken resultiert also in der Erkenntnis, welche Handlung zu vollziehen in einer beliebigen kontingenten Situation Pflicht ist. Weder die Vollkommenheit bewegender Ursachen noch die Übereinstimmung des unteren und
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oberen Erkenntnisvermögens können jedoch dafür Relevanz besitzen. Denn beider Erkenntnis selbst fordert eine Vollständigkeit, die dem Menschen auf der hier einschlägigen ästhetikologischen Ebene verschlossen bleibt. Folglich kann nicht nur die Vollkommenheit der kontingenterweise vorliegenden bewegenden Ursachen, sondern auch die Harmonie der Sinnlichkeit und der Vernunft keinerlei Rolle in Baumgartens Theorie der Verpflichtung spielen. Anders mag dies in seiner Theorie des Glücks aussehen. Allerdings ist diese nicht Gegenstand der praktischen Metaphysik.81 Demnach zählt das Streben nach Glück zwar unzweifelhaft zu den Triebfedern, die menschliches Handeln bestimmen können und dürfen. Es muss jedoch nicht schon deswegen mit Notwendigkeit deren mächtigste sein, zumal die Erlangung äußerer oder leiblicher Güter der Wohlfahrt, wie sie zum Glück eines vernünftigen Sinnenwesens gehören,82 einerseits der vollständigen Kontrolle durch den Handelnden entzogen ist und andererseits, wenn dies nicht der Fall ist, deren Erwerb häufig genug moralisch unmöglich sein wird. Bereits daran zeigt sich die Priorität innerer über äußere Güter bzw. innerer über äußere Vollkommenheit. Ohne Glück zu haben, gibt es deshalb kein menschliches Glück. Es kann folglich auch keine wie immer geartete Verpflichtung dazu geben, wenngleich pflichtgemäße Handlungen freilich dazu beitragen oder gar gehören mögen: Glück kann aus einer günstigen Konstellation von Vollkommenheiten hervorgehen, muss es aber nicht. So ist Glück zwar ein Gut, aber nicht einmal aus menschlicher Perspektive das Gute selbst. Das Gute selbst besteht vielmehr in Vollkommenheit, und dazu kann nicht nur verpflichtet werden, sondern danach zu streben ist jeder Mensch – und im Übrigen jedes vernünftige Wesen – von Natur aus verpflichtet. 81 82
Vgl. Schwaiger, Baumgarten, 106–113. Vgl. Met., § 787.
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Denn: »Mit zu begehendem Guten sind für die Menschen stärkere Bewegungsgründe verknüpft als mit zu unterlassendem. Einer aber, der Gutes begeht, unterlässt Böses. Also sind für die Menschen mit zu unterlassendem Bösen stärkere Bewegungsgründe als mit zu begehendem verknüpft, d. i.: Der Mensch ist verpflichtet, Gutes zu begehen, daher Böses zu unterlassen. Befehlssätze (Imperative) bezeichnen in den praktischen Lehrfächern, dass der Mensch verpflichtet wird. Daher begehe bzw. ›Tue Gutes!‹ und unterlasse noch dazu Böses! Diese Verpflichtung kann durch die Natur und die natürlichen Kräfte der Vernunft und deren Analoga aus der Natur des frei zu begehenden oder zu unterlassenden Guten und Bösen und des Menschen und der menschlichen Seele hinreichend erkannt werden. Also ist sie eine natürliche. Weswegen von der Natur gesagt wird, dass sie uns verpflichte, Gutes zu begehen, Böses zu unterlassen, ja sogar auch an sich Gutes zu begehen und daher an sich Böses zu unterlassen.« (§ 39) Zumindest dreierlei fällt hier auf: Erstens unterscheidet Baumgarten zwischen der Bezeichnung einer Verpflichtung und der Verpflichtung selbst. Jede Verpflichtung muss daher in Form eines Imperativs ausgedrückt werden können, der sie sowohl inhaltlich aussagt als auch ohne weitere Bedingung zu ihrer Erfüllung auffordert. Verpflichtungen werden daher durch universale Normen formuliert, die immer dann angewendet werden sollen, wenn sie überhaupt angewendet werden können. Sie richten sich daher, wie ihre grammatische Form zeigt, immer auf in der Zukunft mögliche freie Bestimmungen, die eben nicht notwendiger-, sondern kontingenterweise vollzogen werden müssen, da sonst die Formulierung eines Sollens bzw. eines Befehls zumindest überflüssig, wenn nicht gar unsinnig wäre. Schon der Gebrauch eines Imperativs setzt deswegen indeterminierte Freiheit voraus, weil er ja gerade einen freien Entschluss, der auch anders ausfallen könnte, erst determinieren soll.
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Zweitens erklärt er die Natürlichkeit der obersten und universalen Verpflichtung. Sie liegt darin, dass ihre Erkenntnis auch ohne wissenschaftliche Verfeinerung der Vernunft, mithin ohne den Gebrauch oder auch nur die Entwicklung ›artifizieller Metaphysik‹ möglich ist.83 Die Erfassung des obersten verpflichtenden Grundsatzes der Moral steht demzufolge jedem Menschen, der überhaupt sein Erkenntnisvermögen einsetzen kann, zu jeder Zeit offen. Moralität setzt also keine bestimmte historische, soziale o. ä. Stufe von Kultur, Zivilisiertheit, Religion, Bildung o. ä. voraus. Dieser Verpflichtung zu folgen, ist daher von Beginn der Menschheit an immer möglich. Genau deswegen sieht sich Baumgarten auch in der Pflicht, den Nutzen der Moralphilosophie eigens zu erklären (§ 3). Dass dasselbe auch für ihre Formulierung jener fundamentalen Verpflichtung gilt, zeigt der außerordentlich lakonische, von jeder Fachterminologie freie Imperativ, in die Baumgarten sie bringt. Drittens räumt er auch dem analogon rationis, also dem Komplex der unteren Erkenntnisvermögen, eine offenbar gleichberechtigte Funktion bei der Erkenntnis der natürlichen Verpflichtung ein. Dies widerspricht keineswegs dem Befund, dass rein ästhetische Erkenntnisse als solche keinen Platz im rationalen Prozess des Bedenkens haben, obschon freilich jede Erkenntnis von Kontingentem mit ihnen beginnt. Nichts anderes behauptet Baumgarten auch hier. Denn wenngleich das oberste praktische Prinzip gewiss in keiner anderen möglichen Welt etwas anderes beinhalten würde, findet es sich im Hauptteil der Initia doch bereits auf deren Adressatenkreis – Menschen nämlich – angewendet. Das kann aus epistemologischen Gründen kaum anders sein. Die praktische Metaphysik nämlich – wie alle Metaphysik, sei sie natürlich oder künstlich – hat zur epistemischen Grundlage Kontingentes. Weil die 83
Vgl. Met., § 3.
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aktuale Welt nur eine unter unendlich vielen möglichen und folglich kontingent ist und ohne aktuale Welt keine erkennenden und zugleich nicht allwissenden Wesen, wie sie Bedarf nach Metaphysik haben könnten, existieren, ist in dieser Welt das der Erkenntnis nach Erste die kontingente Natur der Welt und des erkennenden Menschen, der selbst Teil der Welt ist. Zwar verfügt der Mensch als Verstandeswesen auch über logische Erkenntnis. Allerdings sind deren Gegenstände und Strukturen, obschon notwendig, doch inhaltsleer. So kann er zwar die Operationen seines eigenen Verstandes mit vollständiger Gewissheit erkennen, aber nicht die veränderlichen Dinge der kontingenten Welt, zu denen er selbst gehört und die kraft ihrer Kontingenz nur relative, d. h. steiger- und verminderbare Vollkommenheit besitzen. Um seiner denkenden Tätigkeit derartige Inhalte zu geben und zum Gegenstand logischer Operationen zu machen, benötigt er ästhetische Erkenntnis, die ihm als Sinnenwesen zukommt. Diese reicht indes als solche nur zur vollständigen Gewissheit über die Existenz der Welt bzw. von je einzelnen Dingen und ihrer Verschiedenheit zu, ohne aussagen zu können, was diese sind. Über bestimmte und aussagbare kontingente Inhalte verfügt der menschliche Geist erst durch ästhetikologische Erkenntnis, die einen abstraktiven Prozess der Begriffsbildung involviert, aber gerade wegen der intensionalen Unvollständigkeit der auf diese Weise erzeugten extensionalen Begriffe notwendigerweise einer »gewissen Ungewissheit«84 verhaftet bleibt und also stets falsch sein kann. Dies gilt mutatis mutandis ebenso für alle praktische Erkenntnis – mit Ausnahme allerdings der obersten und universalen Verpflichtung. Denn die durch den Imperativ »Tue Gutes!« ausgesagte Pfl icht zur Vervollkommnung setzt ohne Zweifel Unvollkommenheit voraus. Die bloß relative und daher veränderliche Vollkommenheit, die aus der schieren Kontin84
Vg. Log., § 424.
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genz eines Dings folgt, ist aber nichts anderes. Sie lässt sich jedoch, wenigstens im Falle eines mit logischem Erkenntnisvermögen begabten Sinnenwesens, nicht ohne ästhetisches Fundament erkennen. Deshalb erfordert die Erkenntnis der natürlichen Verpflichtung einerseits beim Menschen die Tätigkeit des analogon rationis und kann doch andererseits die menschliche Perspektive zugleich transzendieren und Notwendigkeit und Universalität für alle kontingenten Welten, genauer: für alle möglichen Welten mit verpflichtungsfähigen Wesen darin beanspruchen. Welche besonderen Verpflichtungen sich weiterhin aus dem moralischen Prinzip, Vollkommenheit zu befördern und Unvollkommenheit zu vermeiden, im Einzelnen ergeben – welches Naturrecht mithin gilt –, hängt dann von der Einrichtung der Welt und der Beschaffenheit der verpflichtbaren Wesen ab, die sie bewohnen. Da es aber außer der aktualen Welt keine andere gibt bzw. geben kann und diese die (im metaphysischen Sinne) beste aller möglichen ist, müssen diesbezügliche Überlegungen Baumgarten auch in seiner praktischen Metaphysik nicht weiter kümmern. 5. Genötigte Freiheit – freie Nötigung Jede Verpflichtung nun macht eine an sich kontingente, weil freie Bestimmung zu einer moralisch notwendigen, indem sie mit dieser die mächtigeren bewegenden Ursachen verknüpft. Weil diese nicht mit unbedingter oder bedingter metaphysischer Notwendigkeit die durch sie begründete freie Bestimmung verursachen, kann jede Verpflichtung missachtet bzw. ihr zuwider gehandelt werden. Was sie jedoch aus ihrer moralischen Notwendigkeit gewinnt, ist, wie ihr imperativischer Ausdruck dokumentiert, nötigende Kraft. Sie ergibt sich aus der Einsicht in die größere Stärke der bewegenden Ursachen für eine der zur Entscheidung stehenden Bestimmungs- bzw. Handlungsalternativen, wie sie aus einer korrekten Zusammenrechnung resultiert. Die nötigende Kraft einer
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Verpflichtung besteht dann im Wissen, wider die eigene, bessere Einsicht handeln zu müssen, um gegen sie zu verstoßen, d. h. die eigene Natur als vernünftiges Wesen zu missachten und folglich jedenfalls die eigene Unvollkommenheit zu befördern. Dies kann, wie gesagt, jederzeit geschehen. Die Voraussetzung dafür ist die Gegebenheit einander widerstreitender Triebfedern des Gemüts. Dabei werden in der Regel starke Stimuli oder schwächere Motive für die Pflichtverletzung gegen in Wahrheit mächtigere Motive für die Pflichtbefolgung stehen, also wird jedenfalls ein Streit der Begehrungsvermögen vorliegen. Folgt die handelnde Person trotzdem der Verpflichtung, »zwingt sie sich selbst« (§ 51) und aktualisiert so die nötigende Kraft der Verpflichtung zu einer wirklichen Nötigung. Sie handelt damit auch unter einer solchen »innerlichen moralischen Nötigung« nach Belieben, da sie ihre Freiheit gebraucht, um sich selbst eine in ihrer moralischen Notwendigkeit eingesehene, aber »ungern« (§ 51), also wider sinnliche Triebfedern vollzogene Handlung abzunötigen. Genauso vorausgesetzt und erhalten bleibt die Freiheit der handelnden Person bei der »äußerliche(n) moralische(n) Nötigung, womit von einer Person gesagt wird, dass sie eine andere in bedingter Weise zwingt« (§ 52). Dies geschieht durch die Setzung starker bewegender Ursachen durch äußere positive – »Lockungen oder Anratungen« – oder negative – »Drohungen oder Abratungen« – Anreize, so dass die von der nötigenden oder gar erpressenden (§ 55) Person gewünschte Handlung durch die genötigte Person aus »Schmeichelei« oder »Furcht« vollzogen werden kann (§ 52). Sie muss, da sie nicht schlechthin gezwungen wird und dies nicht einmal geschehen könnte (§ 50),85 die dazugehörige freie Bestimmung allerdings selbst vollziehen, also die extern gegebenen bewegenden Ursachen auch selbst für die wahrhaft mächtigeren halten. Ihre notwen85
Vgl. Met., § 702.
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dige innerliche Selbstdetermination zu einer von mindestens zwei möglichen Bestimmungen kann nicht durch eine wie immer geartete externe Determination substituiert werden, ohne die Moralität der Handlung überhaupt zu eliminieren (§ 50). Auch hier also handelt die äußerlich genötigte Person zwar ungern, aber nach Belieben. Dies gilt demzufolge sowohl für äußerliche bzw. vollkommene Verpflichtungen, die »durch eine einem anderen Menschen erlaubte Erpressung« erfolgen, als auch für innerliche bzw. unvollkommene Verpflichtungen, die keine Erpressung zulassen (§ 56). Damit zeigt sich, dass die Harmonie der bewegenden Ursachen bzw. Begehrungsvermögen zwar irrelevant für die Verpflichtung, aber durchaus relevant für die aktuale Nötigung ist. Jede mit einer Verpflichtung verbundene Handlung kann nämlich bei zufälligerweise günstiger Motivationslage auch gerne vollzogen werden. Sie kann dadurch nicht einmal an moralischem Wert verlieren, weil die Verpflichtung einerseits nur die ihr gemäße freie Bestimmung fordert und deren Vollzug andererseits irgendeine Art von wahrer Einsicht in die größere Macht der ihr entsprechenden bewegenden Ursachen impliziert. Daher ist es nach Baumgarten unangemessen, jede Verpflichtung eine Nötigung zu nennen (§ 55), obgleich jede Verpflichtung nötigendes Potential besitzt. Spätestens an dieser Stelle wird man geneigt sein, erhebliche Differenzen zwischen Baumgartens und Kants Theorien der Verpflichtung und damit zugleich der Moralität festzustellen. Es steht zu vermuten, dass dies auch in Kants Augen der Fall war. Man wird indes daran erinnern dürfen, dass selbst Kant zu Recht darauf beharrt, dass auch eine noch so neigungswidrige Selbstnötigung auch bei aller möglichen Selbsterforschung nicht den Schluss erlaubt, allein aus Pflicht erfolgt zu sein.86 Weil ein handelndes Subjekt sich niemals 86
Vgl. Vgl. Kant, GMS, 34 f. (BA 26/27).
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selbst völlig transparent ist, besteht immer die Möglichkeit, dass es jede pflichtgemäße Handlung in Wahrheit aus Eigenliebe bzw. Eitelkeit vollzieht und sie so ihrer Moralität beraubt, ohne sich selbst dieser sinnlich induzierten Motivationslage bewusst sein zu müssen. Was nun jene letzte und bei »der schärftsten Selbstprüfung« 87 nicht völlig aufklärbare Intransparenz angeht, sind sich Kant und Baumgarten – gegen Wolff – wiederum durchaus einig. Baumgarten geht sogar so weit, selbst für die Urteile des Gewissens über das eigene Handeln jene gewisse Ungewissheit ausdrücklich einzuklagen,88 die allen Urteilen über Kontingentes anhaftet, die von kontingenten Wesen gefällt werden können. Er schließt jedoch nicht von der durch die conditio humana bedingten Ungewissheit moralischer Urteile über einzelne Handlungen, wie sie jedes kontingente und verpflichtbare Wesen in irgendeiner Form plagen muss, auf deren Zweifelhaftigkeit (§ 28). Seine Theorie der Verpflichtung (wie auch der Erkenntnis) entzieht sich einer solchen Logik des Verdachts – oder versucht zumindest, einen alle Erkenntnis von Kontingentem umfassenden Skeptizismus zu entkräften.89 6. Die Universalität des Gesetzes Nun werden Verpflichtungen zwar ebenso individuell erkannt, wie sie als Imperative jede einzelne Person adressieren. Deswegen kann keiner handelnden Person in einem echten Sinne jemals abgenommen werden, selbst ihre eigene Unterscheidung zwischen wahrhafter und scheinbarer Verpflichtung zu
Kant, GMS, 34 (BA 26). Vgl. Alexander Aichele, Die Ungewissheit des Gewissens. A. G. Baumgartens forensische Auf klärung der Auf klärungsethik, in: Philosophia practica universalis. FS Joachim Hruschka. Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005), 3–30. 89 Vgl. Aichele, Wahrscheinliche Weltweisheit, 196–224. 87
88
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treffen. Trotzdem gelten Verpfl ichtungen stets allgemein, und zwar jeweils im Bezug auf bestimmte Arten von Handlungen, weil aus Universalien keine Singularia abgeleitet werden können. Obschon also die Extension ihrer Definitionen zwischen der vollständigen Allgemeinheit des obersten Imperativs, der für alle möglichen freien Bestimmungen (in allen möglichen Welten) gilt, bis zu den beliebig spezifischen Vorschriften des deutschen Bau- und Feuerschutzrechts differieren kann, bleiben doch alle Verpflichtungen universal. Sie werden durch moralische Gesetze ausgesagt: »Gesetze sagen eine einem Grund gemäße Bestimmung aus, die entweder mit der Freiheit nicht näher verknüpft bzw. keine moralische ist – physische Gesetze [...] – oder eine moralische. Weil diese freie Bestimmungen 1) moralisch nötigen, 2) mit ihren Gründen, d. i. den mächtigeren bewegenden Ursachen, verknüpfen, verpflichten sie bzw. sind sie verpflichtende Sätze. Und weil verpflichtende Sätze eine den mächtigeren bewegenden Ursachen gemäße Bestimmung aussagen, und zwar eine moralische, werden sie moralische Gesetze sein. Daher können moralische Gesetze durch verpflichtende Sätze definiert werden.« (§ 60) Alle moralischen Gesetze nötigen, indem sie ein Sollen aussagen – gleichviel, ob sie nun zum Vollzug der ihnen entsprechenden freien Bestimmung eigens angewandt werden müssen oder nicht. Nicht alle jedoch erzwingen die geforderte freie Bestimmung oder – wie Baumgarten präziser formuliert – pressen sie dem Adressaten ab. Dass beidenthalben allein vom nötigenden oder abpressenden Potential eines Gesetzes die Rede sein kann, dessen Aktualisierung von seiner konkreten Anwendung abhängt, liegt auf der Hand und wurde bereits erörtert. Welche Instanz diese Aktualisierung vorzunehmen nicht nur vermag, sondern auch befugt ist, ergibt sich aus der Art der Verpflichtung, die das Gesetz aussagt und von der es seine Spezifi kation gewinnt. Innerliche bzw. unvollkommene Gesetze besitzen allein nötigendes Potential und
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können ausschließlich von der Person selber angewandt werden, die sie adressieren, während die Befolgung äußerlicher bzw. vollkommener Gesetze von anderen Personen erzwungen werden kann und darf (§ 61). Dass aus der bloßen Zwangsbewehrtheit allerdings nicht die stärkere Verpflichtung folgt, geht bereits aus deren verschiedenen Erkenntnisquellen hervor, nämlich der Natur einerseits und der Willkür andererseits. Stehen nämlich natürliche Verpflichtungen nur unter der einfachen Bedingung der Kontingenz der Einrichtung dieser Welt und besitzen daher in dieser Welt ohne irgendeine weitere Bedingung umfassende Geltung, verdoppelt sich im Falle positiver Verpflichtungen diese Bedingtheit zumindest, wenn man von den Sonderfällen absieht, in denen entweder natürliche Verpflichtungen positiviert werden, wie dies häufig in der menschlichen Gesetzgebung geschieht, oder positive Verpflichtungen zugleich natürliche sind, wie dies die moralischen und nicht nur die eigene Verehrung betreffenden Gebote Gottes auszeichnet. Weil die natürlichen Verpflichtungen deshalb in dieser, der aktualen Welt keine anderen sein können, also immerhin bedingt notwendig sind, ist auch die verpflichtende Kraft der natürlichen bzw. objektiven moralischen Gesetze, die sie aussagen, stets größer als die positiver bzw. subjektiver und kontingenter Gesetze (§ 63), auch wenn diese zwangsbewehrt sein mögen. Freilich spielt das nur dann eine Rolle, wenn natürliche und positive Gesetzgebung konfligieren. Der Zusammenhang (complexus) der objektiven Gesetze macht das natürliche Recht aus, während die subjektiven Gesetze das strenge bzw. positive Recht bilden (§ 64). Das Naturrecht hat die Form eines deduktiven Systems, in dem jedes natürliche Gesetz welcher Extension auch immer auf das oberste und allgemeinste, d. h. das Vervollkommnungsgebot, zurückgeführt werden kann. Das positive Recht sollte diese Form haben oder wenigstens nach ihr streben und zumindest
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sowohl mit dem Naturrecht kompossibel als auch intern, d. h. im Bezug auf die einzelnen Gesetze, konsistent sein. Nur diese beiden Bedeutungen von Recht und die daraus ableitbare der juridischen Erlaubnis werden im Rahmen der praktischen Metaphysik thematisiert (§ 64). Sie umfasst daher die Grundlage aller möglichen moralischen Normensysteme. Baumgarten identifiziert sie exklusiv mit dem Begriff der Verpflichtung. Auf Untersuchungen der klassischen Grundbegriffe der Ethik und des Rechts, Glückseligkeit bzw. Tugend und Gerechtigkeit bzw. Billigkeit, kann seine praktische Metaphysik daher verzichten. 7. Gesetzesanwendung als Zurechnung Nicht verzichten kann sie allerdings auf eine Theorie der Gesetzesanwendung. Denn es muss erst eigens gezeigt werden, dass und wie ein verpflichtbares Wesen wie der Mensch überhaupt seinen Verpflichtungen genügen und das Gesetz achten kann. Vernünftige Sinnenwesen, wie der Mensch eines ist, können aufgrund ihrer begrenzten epistemischen Vermögen keine vollständige begriffliche Erkenntnis von Singulärem besitzen, d. h. den Ereignissen und Dingen, welche die aktuale Welt ausmachen. Es kann daher auch weder singuläre Verpflichtungen noch singuläre Gesetze geben. Folglich müssen, um überhaupt zu einer pflichtkonformen freien Bestimmung zu gelangen, immer allgemeine Gesetze auf singuläre Ereignisse bzw. in singulären Situationen angewandt werden. Dies geschieht entweder prospektiv im Bezug auf durch den Handelnden in der Zukunft mögliche Handlungen oder retrospektiv im Bezug auf vergangene Ereignisse. Dabei bleiben Entscheidungsoptionen über contingentia futura dem intellektuellen Verfahren des Bedenkens überlassen, das schon deswegen in der diskutierten Hinsicht unproblematisch ist, weil außerhalb des göttlichen Geistes keine singulären Begriffe des in Zukunft Möglichen zur Verfügung stehen, sondern nur
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universale.90 Moralische Urteile, welche die Zukunft betreffen und von Menschen gefällt werden, können und müssen also deshalb nicht singulär sein, weil ihr Gegenstand nicht singulär ist, sondern erst sein wird. Die prospektive Gesetzesanwendung geschieht daher zwar auf der singulären Basis der kontingenten Motivations- und Vermögenslage des Handelnden, vollendet sich aber in der Auffindung der in dieser gültigen wahrhaften Verpflichtung und dem dadurch nicht determinierten, sondern freier Willkür überlassenen Vollzug der entsprechenden freien Bestimmung und der Handlung. Anders verhält es sich mit retrospektiven moralischen Urteilen, die sich tatsächlich auf singuläre Ereignisse beziehen (§ 130). Baumgarten nennt sie »sittliche Taten« ( facta), die samt ihren Folgen von einer freien Ursache (causa libera) einer Handlung, dem »Urheber« (auctor), bewirkt werden.91 Werden moralische Gesetze auf Taten angewendet, handelt es sich um eine Zurechnung (imputatio): »Die Anwendung (applicatio) ist das Urteil, wodurch von irgendeinem Universal bejahte Merkmale von dessen untergeordnetem, unter demselben enthaltenen bejaht, verneinte verneint werden. Zurechnung im weiten Sinne wird genannt 1) das Urteil, wodurch einer der Urheber einer bestimmten Tat zu sein beurteilt wird, 2) die Anwendung eines Gesetzes auf eine Tat (applicatio legis ad factum) bzw. die Unterfällung (subsumtio) einer Tat unter ein Gesetz. Erstere mögen wir die Zurechnung der Tat (die physische), Letztere die Zurechnung des Gesetzes (die moralische) nennen. Diese ist die Bejahung oder Verneinung eines Prädikats von irgendeiner Tat, welches Prädikat ein bestimmtes Gesetz von einem oberen Begriff bzw. einem Gemeinbegriff bejaht oder verneint hat, unter welchem die gegebene Tat enthalten ist. Zurechenbarkeit (imputabilitas) ist diese innere 90 91
Vgl. ebd., 243–250. Met., § 940.
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folgende Bestimmung, wodurch 1) sie irgendeinem Urheber zugeschrieben, 2) unter ein bestimmtes Gesetz subsumiert werden kann. Erstere ist die der Tat (die physische) bzw. die Abhängigkeit einer Bestimmung von der Freiheit, Letztere ist die des Gesetzes (die moralische) bzw. die Abhängigkeit einer freien Bestimmung von einem Gesetz, die Anwendbarkeit eines Gesetzes auf eine gegebene Tat, und diese ist deren innere folgende Bestimmung, wodurch sie unter irgendeinem Gemeinbegriff enthalten ist, von welchem ein bestimmtes Gesetz manches bejahen oder verneinen mag, so dass daher dasselbe von einer gegebenen Tat gemäß dem Dictum de omni et nullo bejaht oder verneint werden kann.« (§ 125) In diesem Rahmen kann nicht en detail auf Baumgartens äußerst elaborierte Theorie der Zurechnung eingegangen werden.92 Sie schöpft intensiv aus der reichhaltigen Tradition des Naturrechts bzw. der Universaljurisprudenz93 und stellt wohl ihre höchste, auch von Kant94 in abgekürzter Form übernommene Evolutionsstufe vor dem mit dem Idealismus und dem 19. Jahrhundert beginnenden Verfall dar, der mit wenigen Ausnahmen auch in der gegenwärtigen Rechtstheorie
Vgl. zu verschiedenen Aspekten Alexander Aichele, Enthymematik und Wahrscheinlichkeit. Die epistemologische Rechtfertigung singulärer Urteile in Universaljurisprudenz und Logik der deutschen Aufklärung: Christian Wolff und A. G. Baumgarten, in: Rechtstheorie 42 (2011), 495–313; und ders., Betrunkene Professoren und mörderische Schlafwandler. Personalität und Individualität in der Philosophie der Auf klärung: Locke, Leibniz, A. G. Baumgarten, in: R. Gröschner, S. Kirste, O. Lembke (Hg.), Person und Rechtsperson, Tübingen 2015, 101–126. 93 Vgl. Joachim Hruschka, Zurechnung seit Pufendorf. Insbesondere die Unterscheidungen des 18. Jahrhunderts, in: M. Kaufmann/J. Renzikowski (Hg.), Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, Frankfurt/M. 2004, 17-28. 94 Vgl. Byrd / Hruschka, Kant’s Doctrine of Right, 290–293 u. 298– 308. 92
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andauert.95 Es muss daher genügen, wenigstens die Grundstruktur von Baumgartens Zurechnungsbegriff zusammenzufassen. Die Zurechnung ist ein retrospektives moralisches Urteil, denn sie hat zum Gegenstand eine durch eine freie Ursache, d. h. eine Person, vollzogene äußere Handlung samt ihren freien Folgen (§ 133), die unter einem moralischen Gesetz steht. Innere Einstellungen oder bloße Wünsche, Absichten und dergleichen sind daher keine Zurechnungsgegenstände, solange sie nicht eine äußere Wirkung besitzen. Gleiches gilt für »unbedingt notwendige, durch schlechthin solche äußerliche Gewalt erzwungene, innerlich und physisch, aber schlechthin erzwungene, physisch, aber schlechthin notwendige und unmögliche Handlungen, rein natürliches Unvermögen und bloß natürliche Handlungen« (§ 131). Das Verfahren der Zurechnung umfasst – dies sei gegen die moderne Neigung gesagt, es allein auf den (straf)rechtlichen Bereich zu beschränken – alle retrospektiven moralischen Urteile. Ein Zurechnungsurteil nun besteht aus zwei voneinander verschiedenen Stufen, deren zweite die erste notwendig voraussetzt. Die erste Stufe, die physische Zurechnung, bildet ein Kausalurteil, das feststellt, ob ein bestimmtes Ereignis in der Welt von einer Person verursacht worden ist, also die Tat eines Urhebers war und keine natürliche Begebenheit, die sich gemäß der natürlichen Gesetze auch ohne einen freien und diesen verändernden, d. h. positiv bestimmenden Eingriff, in den Weltverlauf ereignet hätte. Um zu einer physischen Zurechnung zu gelangen, bedarf es daher einer dreifachen Erkenntnis, nämlich ob eine Wirkung überhaupt eine der Art nach zu Vgl. Alexander Aichele, Ex contradictione quodliber – Die Untauglichkeit der Äquivalenztheorie zur Erklärung von Kausalität, die Untauglichkeit der Lehre von der objektiven Zurechnung zur Erklärung von Zurechnung und ein Vorschlag zur Güte, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 123 (2011), 260–283. 95
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bestimmende Tat ist bzw. ob sie überhaupt geschehen ist, ob ihre mutmaßliche Ursache zur Zeit der Tat eine Person war und ob diese die Tat frei verursacht hat (§ 127). Da alle hier zu beurteilenden Elemente – Tat, Person und freie Ursächlichkeit – kontingent und singulär sind, kann keines dieser Erkenntnisse vollständige, sondern nur subjektive bzw. moralische Gewissheit beanspruchen, also bestenfalls wahrscheinlich sein. Dieser beste Fall stellt jedoch zugleich die Mindestanforderung an ein solches Urteil dar: Zweifelhafte oder gar unwahrscheinliche Erkenntnisse ergeben keine Zurechnung (§ 144). Eben aufgrund dieser hohen Anforderungen und der eminenten Fehleranfälligkeit des notwendigen Erkenntnisprozesses diskutiert Baumgarten die hierbei möglichen Fehler und ihre Quellen ebenso wie mögliche Gründe eines Ausschlusses physischer Zurechnung in aller Ausführlichkeit (§§ 138–148). Aus einer erfolglichen physischen Zurechnung resultiert eine wahrscheinliche Aussage von der Form »Die Person p ist der Täter der Tat t.« Sie bildet eine der beiden Prämissen der moralischen Zurechnung. Sie hat die Form eines Subsumtionsschlusses, der unter dem Namen »juristischer Syllogismus« bzw. »juristische Deduktion« bis heute wohlbekannt ist. Ausführlich erläutert findet er sich in Wolffs Jus naturae.96 Dort besteht der alleinige Zweck einer solchen Deduktion im Beweis der Gewissheit eines Rechts, genauer: eines Eigentumsrechts. Ihr Gewissheitsanspruch beruht auf ihrer logischen Form, nämlich dem modus ponens. Baumgarten interpretiert die Form des juristischen Syllogismus nun zwar ebenfalls als modus ponens, nennt ihn aber »syllogismus imputatorius« (§ 171). Er kommt daher bei allen retrospektiven moralischen Urteilen zum Einsatz, transzendiert also den Bereich des Juridischen. Den Obersatz des Zurechnungsschlusses bildet ein 96
Vgl. Aichele, Enthymematik, 498–502.
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Gesetz und seinen Untersatz eine Tat (§ 171), genauer: Obersatz bildet das hinsichtlich seiner Anwendung fragliche Konditional, d. h. ein Gesetz, und den Untersatz die Beschreibung der wesentlichen Merkmale, d. h. der »Momente« (§ 128) einer Tat, die der im Antezedens formulierten Bedingung entspricht, so daß der Konsequens in der Konklusion bestätigt wird. Ein Zurechnungsschluss hat daher – so einfach wie möglich dargestellt – diese Form: 1. Wenn eine Person P eine Tat T vollzogen hat, wird P so und so bestraft (oder belohnt). 2. Nun ist p Täter von t. [physische Zurechnung] 3. Also wird p so und so bestraft (oder belohnt). [moralische Zurechnung] Die Rede von Strafe oder Belohnung braucht hier nicht zu stören, da sie keineswegs a priori auf den juridischen Bereich festgelegt ist: Auch ethisches Miss- oder Wohlverhalten wird ja durch Ver- oder Hochachtung gewürdigt. Vielmehr ist ungeachtet der zahlreichen Irrtumsquellen, die Baumgarten wiederum akribisch diskutiert (§§ 173–175), auf folgende strukturellen Punkte hinzuweisen: Zum einen ist der hier beschriebene Subsumtionsschluss dann unproblematisch, wenn eine zutreffende Handlungsbeschreibung im Sinne eines der Möglichkeit nach anzuwendenden Gesetzes vorliegt.97 Zum anderen spielt die Frage nach der Herkunft des Gesetzes, das den Obersatz bildet, keine Rolle. Der Erfolg des Verfahrens entscheidet sich also ganz offenkundig an der Darstellung des Untersatzes, welche die Legitimität der Erfassung Vgl. Joachim Hruschka, Die species facti und der Zirkel bei der Konstitution des Rechtsfalles in der Methodenlehre des 18. Jahrhunderts, in: Jan Schröder (Hg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposion in Tübingen, 29. September bis 1. Oktober 1999, Stuttgart 2001, S. 203–214, insb. S. 211 f. 97
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des Geschehens als eines Falls des Gesetzes, d. h. des Obersatzes, begründet. Dies ist allerdings nicht mit rein logischen Mitteln möglich. Zwar ist das Deduktionsverfahren vollständig logisch bestimmt, jedoch treten in seinem Untersatz, der ein singuläres Urteil repräsentiert, zwangsläufig empirische, d. h. aus ästhetischer Erkenntnis erzeugte Begriffe auf. Der Gebrauch gerade dieser und keiner anderen Begriffe im Untersatz kann deswegen nicht als notwendig bewiesen werden. Folglich sind mehrere konkurrierende Beschreibungen einer gegebenen Tat und also auch verschiedene Subsumtionen möglich. Es braucht daher jeweils eine zuständige Institution, die Baumgarten Gerichtshof ( forum) nennt, um eine Tat zum Fall eines Gesetzes zu erklären, d. h. zu entscheiden, ob und welcher Obersatz anzuwenden ist. Genau darin besteht eine moralische Zurechnung, die wiederum ebenfalls nur wahrscheinlich sein kann, sofern sie von Wesen mit beschränkter Erkenntniskompetenz, wie etwa Menschen, vorgenommen wird. Nun unterscheidet Baumgarten, den verschiedenen Arten von Gesetzen entsprechend, eine Vielzahl von jeweils zuständigen Foren (Abschn. 10). Deren grundsätzliche Differenz besteht indes darin, ob es sich bei dem zu fällenden Urteil über die Zurechnung einer eigenen oder einer fremden Tat handelt. Erstere ist das Gewissen im strengen Sinne, Zweitere die Zurechnung im strengen Sinne (§ 126). Zurechnung fungiert also als universales Verfahren zur moralischen Beurteilung aller möglichen Taten, zu deren Ausführung oder Unterlassung eine Verpflichtung besteht. Baumgarten gründet so seine gesamte praktische Metaphysik auf die Begriffe von Verpflichtung und Gesetz. Letzteres lässt sich allerdings immer auf erstere zurückführen. Baumgartens allgemeine Moralphilosophie benötigt daher zu ihrer Grundlegung nur ein einziges Prädikat der mit den freien Handlungen verbundenen Sachen. Mit dieser Reduktion geht er zum einen weit über Wolff hinaus
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und bietet zum anderen mit seiner umfassenden Theorie der Zurechnung auch eine übersichtliche Theorie der Gesetzesanwendung, die anders als bei Kant keine Zweifel daran aufkommen lässt, dass sie auch eine solche sein soll und darf. 8. Zu dieser Ausgabe Diesem Band liegt das ausgezeichnete Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek der Ausgabe (Sig. 10291502 Ph. pr. 145; https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/ bsb10039944_00001.html) zugrunde: A. G. Baumgarten, Initia philosophiae practicae primae acroamatice, Halle: Hemmerde 1760. Es wurde verglichen mit dem in AA 19 abgedruckten Text. Abweichungen der beiden Ausgaben voneinander und die wenigen Konjekturen wurden mit Asterisken * in den Fußnoten kenntlich gemacht. Die Paginierung am Textrand entspricht dem Original. Als Handreichung zur bequemeren Lektüre wurden die Paragraphen seiner Metaphysica, auf die Baumgarten in seinem Text verweist, sowohl im Original als auch in eigener Übersetzung in Fußnoten beigegeben. Sie beziehen sich unter der Sigle Met. auf: A. G. Baumgarten, Metaphysica, Hildesheim / New York 1982 (2. ND der Ausg. Halle 1779). Weitere Siglen: AA 19: A. G. Baumgarten, Initia philosophiae practicae primae, in: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften (hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften), Berlin / Leipzig 1934, Bd. XIX, 7-91. Eth.: A. G. Baumgarten, Ethica Philosophica, Hildesheim u. a. 2000 (2. ND der Ausg. Halle 1763). Log.: A. G. Baumgarten, Acroasis Logica in Chr. L. B. de Wolff, Hildesheim u. a. 1983 (2. ND der Ausg. Halle 1761).
ALEX ANDER GOT TLIEB BAUMGARTEN
Anfangsgründe der praktischen Metaphysik. Vorlesung
INITIA PHILOSOPHIAE PR ACTICAE PRIMAE ACROAMATICE SCRIPSIT ALEX ANDER GOT TLIEB BAUMGARTEN PROFESSOR PHILOSOPHIAE. HAL AE MAGDEBURGICAE, 1760. IMPENSIS CAROL . HERM. HEMMERDE.
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PRAEFATIO
Tenui libello multa praefari non licet. Cogitabam aliquando scientiam utilissimam, quam sub nomine philosophiae practicae universalis primus nobis Christianum L. B. de Wolf a similibus separatam dedit, in usum acroasium partim in minorem scriptorum molem contrahere, quam qua multis laborare videtur in operibus illustris viri latinis, partim | ea ratione demonstrare, qua verum in eadem assequi quam proxime speraveram. Primarius in proximis operae finis tunc erat, ut essent, quibus in iuribus naturae tradendis, ut philosophum decet, daretur inniti. Quum imposita mihi dura necessitas esset alio loco, quam in quo vivebam, scripta prelis committendi: praevisae suboriebantur remorae. Sequebatur morbus, occupationes magis praesentes, denuo morbus, qui si non ultimus, tamen eius fuit indolis plures per annos, ut ordinarium vitae publicae studiorumque cursum, qua patet ex demandata mihi docendi provincia, penitus intervertere saepissime minaretur. Accedebant ad malum satis grande propiores sensim propioresque strepitus armorum, hanc tandem urbem bellico terrore circumtonantes, quo vel athletice pancraticeque valentes languescebant. Non Hannibal ante portas tantum, sed intra moenia, intra aedes recipiendus hostis fuit plus vice simplici caede ci-
VORWORT
Einem schmalen Büchlein darf man kein langes Vorwort vorausschicken. Ich gedachte einst, die sehr nützliche Wissenschaft, die uns, von ähnlichen [Diszplinen] abgesondert, unter dem Namen der »Allgemeinen praktischen Philosophie« zuerst Christian Wolff gegeben hat, zum Gebrauch in Vorlesungen teils zu geringerer Mühe der Schreiber, als es vielen bei den lateinischen Werken des berühmten Mannes zu machen scheint, zusammenzuziehen, teils hatte ich gehoff t, dadurch genau zu zeigen, wie sie das Wahre darin so genau wie möglich einsehen. Unter den nächstliegenden der vorzüglichste Zweck der Arbeit war damals, dass ihnen, wären sie es, die über die Rechte der Natur vorzutragen hätten, wie es sich für einen Philosophen schickt, eine Stütze gegeben würde. Weil mir durch einen anderen Ort, als in welchem ich lebte, die harte Notwendigkeit auferlegt worden war, den Pressen Schriften zu überlassen, fingen die vorhergesehenen Verzögerungen an. Es folgte Krankheit, gegenwärtigere Beschäftigungen und nochmals Krankheit, die, wenn nicht tödlich, deren Beschaffenheit doch über mehrere Jahre hinweg so gewesen ist, dass sie den ordentlichen Gang des öffentlichen Lebens und der wissenschaftlichen Betätigungen, wie er sich aus dem mir übertragenen Lehrbereich ergibt, sehr oft ganz und gar zu unterdrücken droht. Zum genügend großen Übel kamen die allmählich näheren und näheren Geräusche der Waffen hinzu, die diese Stadt endlich mit kriegerischem Schrecken umdonnern, wodurch wohl auch ein Ring- und Faustkämpfer, und zwar gesunde, ermatteten. Nicht bloß Hannibal vor den Toren, sondern mehr als ein innerhalb der Mauern, innerhalb der Häuser zu empfangender Feind ist wegen schlichten Mords an
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praefatio
vium adhuc cruentus. Mala belli quae sequantur quis nescit? Quibus omnibus non | tangi, non commoveri, non labefactari Stoicorum esto, non est philosophi. Mihi satis opimus est triumphus, dum inter haec omnia, sera quidem, et nutans nonnihil ac vacillans iterum iterumque, quanta tamen obeundis officiis sufficiat, valetudo corporis Respexit tandem et longo post tempore venit.* Redeunt paulatim exhausti vires corpusculi, non redit animus agendi, quae mea sunt, quoniam hunc nunquam amiseram, reviviscit tamen, et spe non amplius irritorum omnino conatuum suscitatur. Inter singulares, quas Deo sospitatori me debere gratias libere profiteor, reversus sum ad acroases antiqua fide continuandas, quantum licebit per latera; revertor ad interrupta, quae pendebant, opuscula. Dum ad has primas philosophiae practicae lineas redeo, video iam in iisdem pleraque contineri, quae volebam praenosse iurium rationis et naturae studiosum ante, quam ad ipsam iuris veram, | non fucatam philosophiam accedat addiscendam. Interim nos in ea deprehendo reservatos tempora, in quibus parta tueri curandum philosophis prius sit, quam plura quaerere. Sufficient igitur haec initia philosophiae practicae primae, quae dudum scripta nunc demum prodeunt, quia vel his probe perspectis de satis solida iurium naturalium impetranda scientia minime desperandum esse iudico. Quibus iam haec videantur superflua, per me licet his abundare suo sensu,** quod mihi ius,
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Vergil, Ecl. I,29 (Tityrus): Respexit tamen et longo post tempore
venit. **
Röm 14,5.
vorwort
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den Bürgern noch blutbespritzt gewesen. Wer kennt nicht die Übel des Krieges, die folgen mögen? Durch all dies nicht berührt, nicht bewegt, nicht erschüttert zu werden soll der Stoiker sein, des Philosophen ist es nicht! Mir ist der Sieg köstlich genug, wenn nur inmitten von all diesem, spät zwar und einigermaßen schwankend und einige Mal wankend, doch wie sie, um die Pflichten zu besorgen, genügen mag, die Gesundheit des Leibes endlich »sich umsah und nach langer Zeit noch gekommen ist«. Es kehren allmählich die Kräfte des erschöpften Körperchens zurück, die Tatkraft kehrt nicht zurück, doch ist sie, was mich betriff t, nachdem ich sie nie verloren hatte, wieder aufgelebt, und wird durch die Hoffnung auf nicht länger gänzlich vergebliche Bemühungen geweckt. Inmitten der einzelnen Dinge, für die ich Gott dem Erhalter Dank zu schulden frei bekenne, habe ich mich zu den getreulich fortzusetzenden alten Vorlesungen zurückgewandt, soviel als durch die Lungen erlaubt sein wird; ich wende mich zu den unterbrochenen Werklein, die liegenblieben, zurück. Derweil ich zu diesen ersten Zeilen der praktischen Philosophie zurückkehre, sehe ich schon, dass in denselben das meiste enthalten ist, was ich wollte, dass es der Student des Grundes und der Natur der Rechte vorher kennt, bevor er sich der wahren, nicht aufgeputzten Philosophie des Rechts zuwendet, die hinzuzulernen ist. Unterdessen finde ich, dass sie uns für diese Zeiten aufgespart worden sind, in welchen es zuerst an den Philosophen ist, dafür Sorge zu tragen, das Erworbene zu bewahren als viel zu fragen. Es werden also diese Anfangsgründe der praktischen Metaphysik genügen – die, längst geschrieben, nun endlich öffentlich erscheinen –, weil ich annehme, dass – zumal wenn diese gut durchdrungen worden sind – keineswegs die Hoffnung aufzugeben ist, eine genügend gründliche Wissenschaft von den natürlichen Rechten zu erlangen. Welchen schon diese überflüssig erscheinen mögen, mögen meinetwegen
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quae velim, quaeque sentiam, cordato more dicendi liberum conservetur. Ex eodem ita censeo. Logicis regulis convictum de forma demonstrationis, logicis exercitiis probe cultum ingenium mediocriter felix per metaphysica[m]* demum et hanc philosophiam practicam ad iuris philosophici scientiam adspiret. In his hospes crepare ius naturae, iactare ius gentium potest, scire non potest. Ignorare haec omnia, simulque ridere, quasi re bene gesta, facillimum est. Nos autem philosophiae scientiam professi duca | mus, qui sequi voluerint, quousque licet procedere, modo caveamus, ne, si qui citra** fracta magis appetunt, dum ea colligunt, eosdem suam fecisse scientiam ipsis falso persuadentes in turpissimo mortalium genere deprehendamur, eorum scilicet, qui fumum vendunt. Dabam Traiecti cis Viadrum III. Non. Mart. cIcIcCCLX.
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i. Org.: metaphysica. AA 19: siqui vitra.
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ihrer Meinung gewiss sein, wenn mir nur das freie Recht, was ich wollen, was immer ich empfinden mag, in verständiger Weise zu sagen, bewahrt werden mag. Aus demselben Grund halte ich es so für richtig. Ein durch logische Regeln von der Form des Beweises überzeugter, durch logische Übungen tüchtig gepflegter mittelmäßig glücklicher Kopf möge sich endlich durch die Metaphysik und diese praktische Philosophie hindurch der Wissenschaft des philosophischen Rechts nähern. Der darin Fremde kann vom Recht der Natur plappern, mit dem Recht der Völker prahlen, wissen kann er nicht. All dies nicht zu wissen und zugleich darüber zu lachen wie über eine gut erzählte Geschichte, ist sehr leicht. Wir aber, die öffentlich die Wissenschaft der Philosophie gelehrt haben, werden die führen, die folgen wollen mögen, wie weit fortzuschreiten erlaubt ist, nur mögen wir uns hüten, dass wir nicht, wenn anders welche nach mehr gebrochenem Citrusholz* verlangen, dieweil sie es zusammenlesen, damit sie, indem sie sich vom Falschen überreden, ihre eigene Wissenschaft gemacht haben, bei der schändlichsten Gattung der Sterblichen erwischt werden, derer nämlich, die Rauch verkaufen. Gegeben Frankfurt an der Oder am 3. März 1760.
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gem. AA 19: Kristallsplitter
SYNOPSIS Prolegomena philosophiae practicae Prolegomena philosophiae practicae primae Tractatio I) Obligatio C. I. 1) in genere S. I. 2) coactio S. II. II) Obligantia C. II. 1) lex S. I. 2) iurisperitia S. II. 3) iuris principia S. III. 4) legislator S. IIII. 5) praemia S. V. 6) poenae S. VI. 7) imputatio A) generatim a) facti α) in genere S. VII. β) in specie* de βα) auctore S. VIII. ββ) gradibus imputabilitatis S. IX. b) legis α) in genere S. X. β) in specie de βα) foro S. XI. ββ) foro externo S. XII. B) speciatim de conscientia S. XIII.
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AA 19: specte.
INHALT Prolegomena der praktischen Philosophie Prolegomena der praktischen Metaphysik Abhandlung I) Die Verpflichtung, Kap. I 1) im allgemeinen, Absch. 1 2) Der Zwang, Absch. 2 II) Das Verpflichtende, Kap. II 1) Das Gesetz, Absch. 1 2) Die Rechtskunde, Absch. 2 3) Die Prinzipien des Rechts, Absch. 3 4) Der Gesetzgeber, Absch. 4 5) Die Belohnungen, Absch. 5 6) Die Strafen, Absch. 6 7) Die Zurechnung A) in allgemeiner Hinsicht a) der Tat α) im allgemeinen, Absch. 7 β) in besonderer Hinsicht βα) des Urhebers, Absch. 8 ββ) der Grade der Zurechnung, Absch. 9 b) des Gesetzes α) im allgemeinen, Absch. 10 β) in besonderer Hinsicht βα) des Forums, Absch. 11 ββ) des äußerlichen Forums, Absch. 12 B) in besonderer Hinsicht des Gewissens, Absch. 13
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prolegomena philosophiae practicae
Numeri paragraphorum, quibus M. praeponitur, referuntur ad auctoris metaphysica.
PROLEGOMENA PHILOSOPHIAE PRACTICAE §. 1. Quemadmodum PHILOSOPHIA est scientia qualitatum in rebus sine fide cognoscendarum: ita PRACTICA est scientia obligationum hominis sine fide cognoscendarum. §. 2. Philosophia practica est apodictica methodo ex principiis non nisi certis, non ex testimoniis, auctoritatibus vel divinis, vel humanis, historiisve deducenda. §. 1. | 2
§. 3. Philosophia practica 1) theoriam obligationum nostrarum multis modis perficiens 2) cognitione eiusmodi praxin et exsequutionem* earundem faciliorem reddens 3) theologiae morali, iuribus positivis, et consiliis particularibus foecunda** principia, notionesque directrices suppeditans, erit admodum utilis, M. §. 337.1 787.2
Met. § 337: Utilitas minima est, qua unicum minimum in altero unico minimo ponit unicam minimam perfectionem, §. 336, 161. hinc augetur, quo plura, quo maiora, in quo pluribus, quo maioribus, quo plures, quo maiores perfectiones ponunt, §. 187. Gradus utilitatis VALOR, & iudicium de valore PRETIUM (aestimatio) dicitur. Hinc aestimatio cum pretio vel vera, vel apparens, s. imaginaria est, §. 12. 2 Met. § 787: Sicut perfectio spiritus finiti 1) vel absolute necessaria est, vel contingens, §. 147. 2) vel naturalis, vel supernaturalis, §. 496. 3) vel interna, vel externa, §. 98. 4) vel moralis late dicta, vel minus, §. 723: ita & bona spiritui, quibus illa positis ponitur, §. 100. sunt 1) vel 1
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AA 19 stets: exsecutionem. AA 19 stets: fecunda.
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Die Paragraphennummern, denen ein »M.« vorangestellt ist, beziehen sich auf die Metaphysik des Verfassers.
PROLEGOMENA DER PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE § 1 So wie die Philosophie die Wissenschaft von den Beschaffenheiten in den Dingen ist, die ohne Glauben zu erkennen sind, so ist die praktische die Wissenschaft von den Verpflichtungen des Menschen, die ohne Glauben zu erkennen sind. § 2 Die praktische Philosophie ist mit apodiktischer Methode ausschließlich aus gewissen Grundsätzen abzuleiten, nicht aus Zeugnissen, göttlichen oder menschlichen Autoritäten oder der Geschichte. § 1. § 3 Indem die praktische Philosophie 1) die Theorie unserer Verpflichtungen auf viele Weisen vervollkommnet, 2) durch derartige Erkenntnis die Praxis und die Ausführung derselben leichter macht und 3) der Moraltheologie, den positiven Rechten und besonderen Beschlüssen fruchtbare Grundsätze und leitende Allgemeinbegriffe verschaff t, wird sie sehr nützlich sein, M. §§ 337,1 787.2 Met. § 337: Die Nutzbarkeit ist die kleinste, womit ein einziges kleinstes in einem anderen einzigen kleinsten eine einzige kleinste Vollkommenheit setzt (§§ 336, 161). Daher steigt sie, je mehr, je größere in je mehreren, je größeren je mehr, je größere Vollkommenheiten setzen (§ 187). Der Grad der Nutzbarkeit ist der Wert und das Urteil über den Wert wird der Preis (Achtung, Schätzung, Würdigung) genannt. Daher ist die Schätzung zusammen mit dem Preis entweder wahr oder nur scheinbar bzw. eingebildet (§ 12). 2 Met. § 787: So wie die Vollkommenheit des endlichen Geistes 1) entweder unbedingt notwendig oder kontingent (§ 147), 2) entweder natürlich oder übernatürlich (§ 496), 3) entweder innerlich oder äußerlich (§ 98), 4) entweder sittlich im weiten Sinne oder nicht (§ 723) ist, 1
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prolegomena philosophiae practicae
§. 4. Ubertas et copia, dignitas et maiestas, veritas, exactitudo, bonaque methodus, §. 2, perspicuitas et distinctio, certitudo et evidentia, vita denique et vis movendi sunt principes in praerogativis philosophiae practicae §. 1, M. 669.3
metaphysica, vel contingentia, §. 147. 2) vel naturalia, vel supernaturalia, §. 496. 3) vel domestica, vel adventitia, §. 660. 4) vel moralia late dicta, vel minus talia, §. 723. Moralia late dicta spiritui dato cum eius libertate propius connectuntur, vel ut rationes, §. 14. a priori, §. 24. & ut antecedentia certi eiusdem status, vel ut rationata, §. 14. a posteriori, §. 24. & ut consectaria certi eiusdem status, §. 596. vel utrinque, §. 24. Quae pendent a data libertate propius, STRICTE MORALIA dicuntur & non nunquam simpliciter. Hinc BONA spiritui propius ex eius libertate pendentia sunt STRICTE MORALIA, & perfectio his positis ponenda BEATITUDO. Complexus perfectionum spiritui convenientium est FELICITAS. Complementum beatitudinis ad felicitatem finiti spiritus est PROSPERITAS, & bona, quibus positis ponitur, sunt PROSPERA (physica stricte dicta). Felicitas spiritus finiti est complexus prosperitatis & beatitudinis. 3 Met. § 669: Appetens & aversatus intendit productionem alicuius perceptionis, §. 341, 663. hinc perceptiones intentionis eiusmodi rationem continentes caussae impulsivae sunt appetitiones aversationesque, unde ELATERES ANIMI vocantur, §. 342. COGNITIO, quatenus elateres animi continet, MOVENS (afficiens, tangens, ardens, pragmatica, practica & viva latius), quatenus minus, INERS (theoretica & mortus latius), & haec caeteroquin satis perfecta, §. 515, 531. SPECULATIO (speculativa, vana, cassa) dicitur. Hinc cognitio symbolica, qua talis, est notabiliter iners, §. 652, sola intuitiva movens, §. 652. Hinc in statu totalis indifferentiae perceptio totalis esset iners, §. 653. at in statu purae voluptatis, meri taedii, aut alterutrius praedominantis perceptio totalis est movens, §. 636, 661. Cognitio, quae vim motricem habet, caeteris paribus, maior est inerti, etiam speculatione, §. 515. Ergo quo vastior, quo nobilior, quo verior, quo clarior, hinc vividior vel distinctior, quo certior, quo ardentior cognitio est, hoc maior est, §. 515, 531.
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§ 4 Reichtum und Ausdehnung, Würde und Größe, Wahrheit, Genauigkeit und gute Methode, § 2, Fasslichkeit und Unterscheidung, Gewissheit und völlige Ausgemachtheit sind die vornehmsten unter den Vorzügen der praktischen Philosophie, § 1, M. § 669.3 so sind dem Geist auch die Güter, durch welche, indem sie gesetzt werden, jene gesetzt wird, 1) entweder metaphysische oder kontingente (§ 147), 2) entweder natürliche oder übernatürliche (§ 496), 3) entweder einheimische oder fremde (§ 660), entweder sittliche im weiten Sinne oder nicht solche (§ 723). Einem gegebenen Geist sind die sittlichen Güter im weiten Sinne mit dessen Freiheit enger verbunden entweder wie Gründe (§ 14) a priori (§ 24) und wie Voraussetzungen eines bestimmten Zustands desselben oder wie Folgen (§ 14) a posteriori (§ 24) und wie Zusätze eines bestimmten Zustands desselben (§ 596) oder beidenthalben (§ 24). Welche näher von der gegebenen Freiheit abhängen, werden sittliche in engerer Bedeutung und nicht selten schlechthin sittliche genannt. Daher sind für einen Geist die Güter, die enger von dessen Freiheit abhängen, sittliche in engerer Bedeutung, und die Vollkommenheit, die, indem diese gesetzt sind, zu setzen ist, die Seligkeit. Der Zusammenhang der einem Geist sich ziemenden Vollkommenheiten ist die Glückseligkeit. Die Ergänzung der Seligkeit zur Glückseligkeit des endlichen Geistes ist die Wohlfahrt (gutes Glück), und die Güter, durch welche sie, indem sie gesetzt werden, gesetzt wird, sind die Glücksgüter (natürliche im engen Sinne). Die Glückseligkeit des endlichen Geistes ist der Zusammenhang von Wohlfahrt und Seligkeit. 3 Met. § 669: Der Begehrende und der Abgeneigte beabsichtigt die Hervorbringung einer bestimmten Vorstellung (§§ 341, 663), daher sind die Vorstellungen einer derartigen Absicht, die den Grund der Bewegungsursachen enthalten, Begehrungen und Abneigungen, weswegen sie Triebfedern des Gemüts genannt werden (§ 342). Eine Erkenntnis wird, sofern sie Triebfedern des Gemüts enthält, eine bewegende (rührende, tätige, wirksame), sofern nicht, eine leblose (kalte) und diese, sonst genügend vollkommene (§§ 515, 531) ein untaugliches Hirngebäude (eine spekulative, eitle, leere) genannt. Daher ist symbolische Erkenntnis merklich leblos (§ 652), allein intuitive bewegend (§ 652). Daher ist im Zustand gänzlicher Gleichgültigkeit die ganze Vorstellung leblos (§ 653), doch im Zustand reiner Lust, bloßer Unlust oder, indem einer von beiden vorherrscht, ist die ganze Vorstellung bewegend (§§ 636, 661). Eine Erkenntnis, die bewegende Kraft besitzt, ist, das übrige gleich,
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§. 5. Angustiae et exilitas, humilitas et levitas, perceptiones deceptrices et crassae cum tumultario, obscuritas et confusio, incertitudo superficiariorum et inevidentia, maxime tandem inertia et sterilis speculatio sunt defectus philosophiae practicae §. 4, M. § 82.4 |
PROLEGOMENA PHILOSOPHIAE PRACTICAE UNIVERSALIS
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§. 6. PHILOSOPHIA PRACTICA (universalis) PRIMA est scientia prima reliquis disciplinis practicis propria, sed harum pluribus communia principia continens. §. 7. Uti metaphysica se habet ad reliquas disciplinas omnes, sic philosophia practica prima ad reliquas disciplinas practicas §. 6, M. §. 1.5 §. 8. De philosophia practica prima valent etiam dicta §. 1–5, §. 6. quumque* principia principiatis praeponat apodictica methodus, haec reliquis disciplinis practicis, scientiisque moralibus cum ratione praemittitur, §. 6, 2.
Met. § 82: Determinatio opposita illi, quae rationi conformis est, est rationi contraria (difformis, disconveniens) seu DEFECTUS. 5 Met. § 1: METAPHYSICA est scientia primorum in humana cognitione principiorum. 4
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AA 19 stets: cumque.
prolegomena der praktischen metaphysik
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§ 5 Enge Beschränkungen und Trockenheit, Niedrigkeit und Nichtigkeit, trügerische und grobe Vorstellungen zusammen mit einem Gemenge, Dunkelheit und Verworrenheit, Ungewissheit des Oberflächlichen und Unausgemachtheit, am meisten schließlich Trägheit und unfruchtbares Hirngebäude sind die Mängel der praktischen Philosophie, § 4, M. § 82.4
PROLEGOMENA DER ALLGEMEINEN PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE § 6 Die praktische Metaphysik (die allgemeine praktische Philosophie) ist die erste den übrigen praktischen Lehrfächern eigentümliche Wissenschaft, enthält aber die Quellen, die vielen davon gemeinsam sind. § 7 So wie sich die Metaphysik zu allen übrigen Lehrfächern verhält, so die praktische Metaphysik zu den übrigen praktischen Lehrfächern, § 6, M. § 1.5 § 8 Von der praktischen Metaphysik gilt auch das in den Paragraphen 1–5 Gesagte, und weil die apodiktische Methode die Quellen dem Abgeleiteten voranstellt, wird die praktische Metaphysik, § 6, den übrigen praktischen Lehrfächern und moralischen Wissenschaften mit gutem Grund vorausgeschickt, §§ 6, 2. größer als eine leblose, sogar als ein untaugliches Hirngebäude (§ 515). Also je breiter, je höher, je wahrer, je klarer, daher lebhafter oder deutlicher, je gewisser und je brennender eine Erkenntnis ist, desto größer ist sie (§§ 515, 531). 4 Met. § 82: Eine Bestimmung, die jener entgegengesetzt ist, die dem Grund gemäß ist, ist dem Grund widerstrebend bzw. ein Mangel. 5 Met. § 1: Die Metaphysik ist die Wissenschaft von den ersten Quellen in der menschlichen Erkenntnis.
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prolegomena philosophiae practicae primae
§. 9. Philosophia practica prima praeter usus cum philosophia §. 1, et philosophia practica communes §. 3, 8. 1) omnium disciplinarum practicarum, theologiae, iuris utriusque, tam universalis, quam particularis, consiliorum et aequitatis utrique respondentium auget evidentiam in notionibus, | 2) primas cuiusvis propositiones curatius determinat, et ulterius evolvit, 3) probationum et adscensum ulteriorem et inde certitudinem promovet, §. 7. M. §. 3.6
Met. § 3: METAPHYSICA NATURALIS est cognitio rerum in metaphysica occurentium solo usu acquisita, cui accedere artificialem §. 1. definitam utile est: 1) Ob evolutionem conceptuum. 2) Ob determinationem conceptionemque primarum propositionum. 3) Ob continuationem certitudinemque probationum. e. c. 6
prolegomena der praktischen metaphysik
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§ 9 Neben den mit der Philosophie, § 1, und der praktischen Philosophie gemeinsamen, §§ 3, 8, Nutzen 1) steigert die praktische Metaphysik die Ausgemachtheit in den Allgemeinbegriffen aller praktischer Lehrfächer, der Theologie, beider Rechte, ebenso des allgemeinen wie des besonderen, und der Beschlüsse und der Billigkeit, die zu beiden gehören; 2) bestimmt sie die ersten Sätze von jedem davon sorgfältiger und zergliedert sie weiter; und 3) fördert sowohl das Höher-Aufsteigen als auch daher die Gewissheit der Beweise, § 7, M. § 3.6
Met. § 3: Natürliche Metaphysik ist die allein durch den Gebrauch erworbene Erkenntnis der in der Metaphysik begegnenden Sachen, der es nützlich ist, dass die § 1 definierte künstliche hinzukommt: 1) wegen der Zergliederung der Begriffe, 2) wegen der Bestimmung und Erfassung der ersten Sätze, 3) wegen des Zusammenhangs und der Gewissheit der Beweise usw. 6
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CAPUT. I. OBLIGATIO. SECTIO I. OBLIGATIO IN GENERE §. 10. Moraliter necessaria quum* sint moraliter possibilia, M. §. 723,7 81,8 haec autem determinationes liberae, quae non cadunt, nisi in substantiam liberam, M. §. 719,9 S. PERSONAM, Met. § 723: Cum libertate propius connexum est MORALE LATE DICTUM cf. §. 787. Hinc DETERMINATIONES LIBERAE sunt MORALES, HABITUS actionum liberarum MORALES, LEGES determinationum moralium MORALES, PHILOSOPHIA & THEOLOGIA eas docens MORALIS, STATUS ex iis resultans MORALIS est. Hinc MORALITER POSSIBILIS est 1) quod non, nisi per libertatem, s. in substantia libera, qua tali, fieri potest, LATIUS, 2) quod non, nisi per libertatem legibus moralibus conformiter determinatam, fieri potest, STRICTIUS s. LICITUM. MORALITER IMPOSSIBILE est 1) quod ob solam libertatem in substantia libera fieri non potest, LATIUS, 2) per libertatem legibus moralibus conformiter determinandam impossibile, STRICTIUS s. ILLICITUM. MORALITER NECESSARIUM est, cuius oppositum est moraliter impossibile, ergo 1) cuius oppositum non, nisi per libertatem, s. in substantia, quatenus est libera, est impossibile, LATIUS, 2) cuius oppositum est illicitum, STRICTIUS. Necessitatio moralis est OBLIGATIO. Obligatio ad actionem invitam erit COACTIO MORALIS. 8 Met. § 81: Si posito A tollitur B, A et B OPPOSITA sunt. 9 Met. § 719: Facultas appetendi aversandive pro lubitu suo sensitive, est ARBITRIUM SENSITIVUM, facultas volendi nolendive pro lubitu suo est (liberum arbitrium) LIBERTAS cf. §. 707, 708, 710. (moralis, simpliciter sic dicta). Libertas pure volendi nolendive est LIBERTAS PURA. Ergo substantia arbitrio praedita aut illud sensitivum tantum habebit, aut libertatem tantum puram, aut eandem arbitrio sensitivo mixtam, §. 718. ACTIONES, ad quas per libertatem se determinare est in potestate alicuius substantiae positum, LIBERAE sunt, & ipsa SUBSTANTIA, quae & quatenus actiones liberas patrare potest, est LIBERA. 7
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die verpflichtung im allgemeinen
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Kapitel I DIE VERPFLICHTUNG Abschnitt 1 DIE VERPFLICHTUNG IM ALLGEMEINEN § 10 Weil die moralisch notwendigen Dinge moralisch mögliche sind, M. §§ 723,7 81,8 diese aber freie Bestimmungen, die ausschließlich in eine freie Substanz, M. § 719,9 bzw. eine Met. § 723: Das mit der Freiheit enger Verbundene ist das Sittliche in weiterer Bedeutung (vgl. § 787). Daher sind freie Bestimmungen sittliche, Fertigkeiten zu freien Handlungen sittliche, Gesetze sittlicher Bestimmungen sittliche, Moralphilosophie und -theologie, die diese lehren, und der Zustand, der sich aus diesen ergibt, ist der sittliche. Daher ist sittlich möglich 1) in weiterer Bedeutung, was ausschließlich durch Freiheit bzw. in einem freien, für sich bestehenden Ding als solchem geschehen kann, 2) in engerer Bedeutung bzw. erlaubt, was ausschließlich durch Freiheit in Übereinstimmung mit sittlichen Gesetzen bestimmt geschehen kann. Sittlich unmöglich 1) in weiterer Bedeutung ist, was nicht allein aufgrund von Freiheit in einem freien Ding geschehen kann, 2) in engerer Bedeutung bzw. unerlaubt, was durch Freiheit in Übereinstimmung mit sittlichen Gesetzen zu bestimmen unmöglich ist. Sittlich notwendig ist, dessen Gegenteil sittlich unmöglich ist, also 1) in weiterer Bedeutung, dessen Gegenteil ausschließlich durch Freiheit bzw. in einem Ding, sofern es frei ist, unmöglich ist, 2) in engerer Bedeutung, dessen Gegenteil unerlaubt ist. Die moralische Nötigung ist die Verpflichtung. Eine Verpfl ichtung zu einer ungern vollzogenen Handlung wird sittlicher Zwang sein. 8 Met. § 81: Wenn durch ein gesetztes A ein B hinweggenommen wird, sind A und B Gegensätze. 9 Met. § 719: Das Vermögen, nach eigenem Belieben sinnlich zu begehren oder abgeneigt zu sein, ist die sinnliche Willkür, das Vermögen, nach eigenem Belieben zu wollen oder zu nicht-wollen ist (die freie Willkür) die Freiheit (vgl. §§ 707, 708, 710) (die sittliche, schlechthin so genannte). Die Freiheit, rein zu wollen oder nicht-wollen, ist die reine Freiheit. Also wird ein mit Willkür begabtes Ding entweder nur jene sinnliche besitzen oder nur reine Freiheit oder dieselbe mit sinnlicher Willkür vermischt (§ 718). Handlungen, zu denen sich durch Freiheit 7
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OBLIGATIO vel tribuitur determinationibus liberis, vel personis, quae necessitantur, M. §. 723,10 vel obliganti, vel obligatae. Hinc est vel ACTIVA, vel PASSIVA.
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§. 11. Obligatio non potest esse, ubi non est libertas, ergo hanc non tollit, nec eius est oppositum, sed rationatum11 et consectarium,12 §. 10. Actiones, ad quas obligare et obligari possumus, non possunt solum esse liberae, sed sunt etiam tales necessario, M. §. 724.13 Quaecunque* ergo determi | nationes non sunt liberae, ad eas nec obligare, nec obligari possumus. Absolute impossibilia, M. §. 15,14 et simpliciter supra nostram potes-
S. Fn. 7. Met. § 14: RATIO, cf. §. 640. (conditio, hypothesis,) est id, ex quo cognoscibile est, cur aliquid sit. Quod rationem habet, seu, cuius aliquid est ratio, RATIONATUM eius dicitur, et ab eo DEPENDENS. Praedicatum, quo aliquid vel ratio, vel rationatum est, vel utrumque, NEXUS est. 12 Log. § 346: Propositio brevioris demonstrationis demonstrans est CONSECTARIUM, non demonstrans, COROLLARIUM. 13 Met. § 724: Necessitas moralis neutro significatu esse potest, ubi non est libertas, §. 723. ergo non tollit libertatem, nec eius oppositum est, § 81. sed rationatum seu consectarium, §. 14. Hinc actiones moraliter necessariae, necessitatae, & coactae non possunt solum esse liberae, sed & sunt tales necessario, §. 723. Immo posita LEGE MORALI UNIVERSALISSIMA, i. e. omnes omnium substantiarum liberarum liberas actiones determinante, cf. §. 822, omnes actiones liberae sunt moraliter necessariae, aut illicitae, §. 723. 14 Met. § 15: Quod spectatur, sed non in nexu cum iis, quae extra illud ponuntur, SPECTATUR IN SE. Quod nec in se quidem spectandum repraesentabile est, est IMPOSSIBILE IN SE, (intrinsecus, simpliciter, abolute, per se.) Quod in se spectatum est possibile, est POSSIBILE IN SE, (intrinsecus, absolute, per se, simpliciter.) 10 11
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Person fallen, wird eine Verpflichtung entweder freien Bestimmungen zugeteilt oder den Personen, die genötigt werden, M. § 723,10 entweder der verpflichtenden oder der verpflichteten. Daher ist sie entweder aktiv oder passiv. § 11 Eine Verpflichtung kann nicht sein, wo keine Freiheit ist. Also nimmt sie diese nicht hinweg und ist auch nicht ihr Gegenteil, sondern Folge11 und Zusatz,12 § 10. Handlungen, zu denen wir verpflichten und verpflichtet werden können, können nicht nur freie sein, sondern sind auch notwendigerweise solche, M. § 724.13 Welche Bestimmungen auch immer also keine freien sind, zu diesen können wir weder verpflichten noch verpflichtet werden. Schlechthin unmögliche, M. § 15,14 und schlechthin nicht in unserer Gewalt stehende sind zu bestimmen in die Gewalt eines bestimmten Dings gesetzt ist, sind freie, und ein für sich bestehendes Ding selbst, das und insofern es freie Handlungen vollbringen kann, ist ein freies. 10 S. Fn. 7. 11 Met. § 14: Grund (vgl. § 640) (Bedingung, Hypothese) ist dies, woraus erkennbar ist, warum etwas sei. Was einen Grund hat bzw. dessen Grund etwas ist, wird dessen Folge und das von ihm Abhängende genannt. Das Prädikat, wodurch etwas Grund, Folge oder beides ist, ist die Verknüpfung. 12 Log. § 346: Ein beweisender Satz eines kürzeren Beweises ist ein Zusatz, ein nicht beweisender eine Zugabe. 13 Met. § 724: Sittliche Notwendigkeit kann in keiner von beiden Bedeutungen sein, wo keine Freiheit ist (§ 723), also nimmt sie die Freiheit nicht hinweg und ist nicht deren Gegensatz (§ 81), sondern Folge oder Zusatz (§ 14). Daher können sittlich notwendige, genötigte und erzwungene Handlungen nicht nur freie sein, sondern sind auch notwendigerweise solche (§ 723). Ja, gesetzt das allgemeinste sittliche Gesetz, d. i. das alle freien Handlungen aller freien Dinge bestimmt (vgl. § 822), sind alle freien Handlungen moralisch notwendig oder unerlaubt (§ 723). 14 Met. § 15: Was betrachtet wird, jedoch nicht in Verknüpfung mit denen, die außer jenem gesetzt werden, wird an und für sich betrachtet. Was an und für sich nicht einmal zu betrachten vorstellbar ist, ist an und für sich (innerlich, unbedingt, an sich, schlechterdings) unmöglich.
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tatem posita non sunt libera, M. §. 719,15 712.16 Ergo absolute et physice simpliciter impossibilium nulla est obligatio, nec activa, nec passiva, §. 10. M. §. 469.17
S. Fn 9. Met. § 712: LUBITUS est cognitio, qua substantia pollet, ex qua secundum leges appetitionis aversationisque cognosci potest, cur sic, non aliter, se determinet circa actionem liberam ratione exsequutionis. At hoc cognosci potest ex praevisione, praesagio, voluptate vel taedio, §. 665. stimulis & motivis, §. 677, 690. Ergo praevisio, praesagium, voluptas vel taedium, stimuli & motiva, quae cognoscuntur a certa substantia, lubitum eius constituunt. Si SUBSTANTIA circa actionem liberam ratione exsequutionis ita vim suam determinat, sicut ex lubitu eius cognosci potest, APPETIT VEL AVERSATUR PRO LUBITU. Qui ergo aut non praevisum, aut id, quod prorsus non praesagierat, ullo nisu suo exstiturum, aut nec placens, nec displicens, sine ullis stimulis, ullis motivis appeteret, vel aversaretur, non appeteret, non aversaretur pro lubitu. Multa appeto, multa aversor pro lubitu meo. Ergo habeo facultatem appetendi & aversandi pro lubitu meo, i. e. ARBITRIUM. Actiones, quas per arbitrium determinare est in potestate alicuius substantiae positum, ipsi sunt ARBITRARIAE. Multae actiones meae sunt arbitrariae. 17 Met. § 469: EVENTUS ab ullius entis contingentis natura actuandus est NATURALIS SUPERNATURALI CONTRADISTINCTUS, cf. §. 474. At eventus a determinata determinati entis contingentis natura actuandus est NATURALIS PRAETERNATURALI cf. §. 474. CONTRADISTINCTUS. Quicquid ab alicuius natura actuari potest, est ipsi PHYSICE POSSIBILE, quicquid non potest, est ipsi PHYSICE IMPOSSIBILE. Quaedam in se possibilia non tamen a quavis natura actuari possunt, §. 15. 430. ergo multis possunt esse physice impossibilia. Non omne physice nonnullis impossibile est & absolute tale. Physice alicui contingenti impossibilia sunt talia aut [si] in quocunque eius natura spectetur statu NATURALITER IMPOSSIBILIA SIMPLICITER (mere, omnino, prorsus), aut tunc demum, si in certo statu spectetur eius natura, NATURALITER IMPOSSIBILIA SECUNDUM QUID (pro nunc & sic). Impossibilitas naturalis est impotentia mere naturalis aut absoluta impossibilitas, §. 467. Oppositum physice impossibilis est PHYSICE NECESSARIUM, physice possibilis PHYSICE CONTINGENS. Non omne physice necessarium est absolute necessarium, §. 102. Quaedam in se contingentia possunt multis esse physice necessaria, §. 104. Physice necessaria vel sunt simpliciter, vel secundum quid talia. 15 16
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keine freien, M. §§ 719,15 712.16 Also gibt es weder eine aktive noch eine passive Verpflichtung zu unbedingt und physisch schlechthin Unmöglichem, § 10, M. § 469.17 Was an und für sich betrachtet möglich ist, ist an und für sich (innerlich, unbedingt, an sich, schlechterdings) möglich. 15 S. Fn. 9. 16 Met. § 712: Das Belieben ist die Erkenntnis, wie es ein Ding vermag, woraus gemäß den Gesetzen des Begehrens und der Abneigung erkannt werden kann, warum es sich so und nicht anders bezüglich einer freien Handlung hinsichtlich des Vollzugs bestimme. Doch dies kann erkannt werden aus Voraussicht, Erwartung, Lust oder Unlust (§ 665), sinnlichen Triebfedern und Bewegungsgründen (§§ 677, 690). Also setzen Voraussicht, Erwartung, Lust oder Unlust, sinnliche Triebfedern und Bewegungsgründe, die von einem gewissen Ding erkannt werden, dessen Belieben fest. Wenn ein Ding bezüglich einer freien Handlung hinsichtlich des Vollzugs seine Kraft so bestimmt, wie aus dessen Belieben erkannt werden kann, begehrt es oder ist abgeneigt nach Belieben. Wer also entweder Unvorhergesehenes oder dies, was er durchaus nicht erwartet hatte, dass es ohne seine Mühe auftreten werde, oder indem es weder gefällt noch missfällt, ohne jede sinnliche Triebfeder und ohne jeden Bewegungsgrund begehren oder abgeneigt sein würde, würde nicht begehren und nicht abgeneigt sein nach Belieben. Vieles begehre ich, vielem bin ich abgeneigt nach meinem Belieben. Also besitze ich das Vermögen, nach meinem Belieben zu begehren und abgeneigt zu sein, d. i. Willkür. Handlungen, die durch Willkür zu bestimmen in die Gewalt eines bestimmten Dings gesetzt ist, sind selbst willkürliche. Viele meine Handlungen sind willkürlich. 17 Met. § 469: Eine von der Natur irgendeines kontingenten Dings her zu verwirklichende Begebenheit ist eine von einer übernatürlichen scharf zu unterscheidende natürliche (vgl. § 474). Doch eine von der bestimmten Natur eines bestimmten kontingenten Dings her zu verwirklichende Begebenheit ist eine von einer widernatürlichen (vgl. § 474) scharf zu unterscheidende natürliche. Was immer von der Natur von irgendetwas her verwirklicht werden kann, ist ihm physisch möglich, was immer es nicht kann, ist ihm physisch unmöglich. Manches an und für sich Mögliche kann dennoch nicht von jeder beliebigen Natur her verwirklicht werden (§§ 15, 430), also kann es vielen physisch unmöglich sein. Nicht alles einigen physisch Unmögliche ist auch unbedingt ein solches. Das einem kontingenten Etwas physisch Unmögliche ist solches entweder von Natur aus schlechthin (rein, gänzlich, geradewegs)
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§. 12. Obligans determinationem liberam reddit moraliter necessariam, ergo eius oppositum moraliter impossibile §. 10. Oppositum autem liberae determinationis est liberum ratione exsequutionis, M. §. 726.18 et liberum ratione exsequutionis tamdiu magis est moraliter possibile, quam suum oppositum, quamdiu in hoc vel nullus, vel minor fertur lubitus, M. §. 723, 719,19 aeque autem est moraliter possibile, vel impossibile, ac oppositum eius, si supponatur aequalis in illud et hoc
Met. § 726: Arbitrii haec lex est: Ex liberis ratione exsequutionis, quod libet, appeto, quod libet, aversor. Hinc libertatis regula: Ex liberis ratione exsequutionis, quod libet, volo, quod libet, nolo. Actiones meae liberae, dum pro lubitu determinantur, non necessitantur per caussas suas impulsivas, stimulos aut motiva coactione physica, non externa, §. 707. sunt enim stimuli et motiva repraesentationes meae, §. 677, 690. Hinc determinationes meae internae, §. 37. Nec necessitantur actiones meae liberae per caussas suas impulsivas coactione interna physica, dum sunt manentque positis motivis liberae ratione exsequutionis, §. 711, 710. Immo, motiva & stimuli accurate loquendo ne agunt quidem in animam, hinc nec eam cogunt, §. 714. nec necessitant moraliter, §. 723, 701. dum non sunt, nisi animae meae accidentia, §. 505. 19 S. Fn. 7 u. 9. 18
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§ 12 Der Verpflichtende macht eine freie Bestimmung zu einer moralisch notwendigen, also deren Gegenteil zu einer moralisch unmöglichen, § 10. Das Gegenteil einer freien Bestimmung aber ist in Betracht des Vollzugs frei, M. § 726,18 und das in Betracht des Vollzugs Freie ist so lange eher moralisch möglich als sein Gegenteil, wie kein oder ein geringeres Belieben zu diesem getrieben wird, M. §§ 723, 719.19 Es – und ebenso sein Gegenteil – ist aber gleichermaßen moralisch möglich oder unmöglich, wenn das gleiche Belieben, zu jenem
unmöglich, wenn dessen Natur in jedem beliebigen Zustand betrachtet wird, oder von Natur aus im Bezug auf etwas (für jetzt und auf diese Weise) unmöglich dann, wenn dessen Natur in einem gewissen Zustand betrachtet wird. Natürliche Unmöglichkeit ist ein bloß natürliches Unvermögen oder unbedingte Unmöglichkeit (§ 467). Das Gegenteil des physisch Unmöglichen ist das physisch Notwendige, des physisch möglichen das physisch Kontingente. Nicht alles physisch Notwendige ist unbedingt notwendig (§ 102). Einiges an und für sich Kontingentes kann für viele physisch notwendig sein (§ 104). Physisch Notwendiges ist solches entweder schlechthin oder in Bezug auf etwas. 18 Met. § 726: Das Gesetz der Willkür ist dies: »Aus freien Stücken hinsichtlich des Vollzugs begehre ich, was mir beliebt, bin ich dem abgeneigt, was mir beliebt.« Daher die Richtschnur der Freiheit: »Aus freien Stücken hinsichtlich des Vollzugs will ich, was mir beliebt, will ich nicht, was mir beliebt.« Meine freien Handlungen werden, sofern sie nach Belieben bestimmt werden, nicht durch ihre bewegenden Ursachen, sinnlichen Triebfedern oder Bewegungsgründe mit physischem Zwang ernötigt, nicht durch äußeren (§ 707), denn sinnliche Triebfedern und Bewegungsgründe sind meine Vorstellungen (§§ 677, 690). Daher meine inneren Bestimmungen (§ 37). Auch werden meine freien Handlungen nicht durch ihre bewegenden Ursachen mit innerem physischen Zwang ernötigt, sofern sie durch gesetzte Bewegungsgründe hinsichtlich des Vollzugs frei sind und bleiben (§§ 711, 710). Vielmehr wirken Bewegungsgründe und sinnliche Triebfedern, um genau zu reden, nicht einmal auf die Seele, daher zwingen sie diese weder (§ 714) noch nötigen sie sittlich (§§ 723, 701), sofern sie ausschließlich Akzidentien meiner Seele sind (§ 505), 19 S. Fn. 7 u. 9.
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ferri lubitus, M. §. 673.20 Ergo si oppositum illius, ad quod obligare velis, reddendum est moraliter impossibile, excitandus est maior in determinationem liberam, ad quam obligare velis, lubitus. CAUSSAE * IMPULSIVAE in liberam determinationem et eius oppositum, si connumerentur utrimque, M. §. 697,21 illi, cui plures sunt, POTIORES adscribuntur. Excitaturo maiorem lubitum in aliquam determinationem liberam, quam in oppositum eius, cum ista caussae impul | sivae potiores connec-
Met. § 673: In statu aequilibrii post praevisionem & praesagium appetitus aequalis est aversationi, §. 670. Ergo plena aversatio esset & plena appetitio eiusdem, §. 671. simulque appetitio minus plena, dum plena esset aversatio eiusdem, & aversatio minus plena, dum plena esset appetitio eiusdem, §. 81, 671. Ergo si in statu aequilibrii appeterem aut aversarer minus plene; idem appeterem vel aversarer minus plene, quod impossibile, §. 7. Ergo in statu aequilibrii, vel totalis, vel partialis, §. 656, 661. vel perfecti, vel minus talis, §. 670. post praevisionem & praesagium, nec plene appeto nec aversor. Quodsi itaque plene appeto vel aversor, non sum in statu aequilibrii post praevisionem & praesagium actuandi obiecti & oppositi eius, §. 671. 21 Met. § 697: DELIBERANS, quatenus mathematicam cognitionem intendit, RATIONES SUBDUCIT, (calculat), dum considerat, quot bona, quot mala utrinque speranda sint, CAUSSAS IMPULSIVAS NUMERAT, quas PONDERAT, dum quanta bona, quanta mala speranda sint, indicat, dum perpendit, quid sit melius, unum alteri PRAEFERT. Si praelatum decernat, ELIGIT. Si deliberans decernit aliquid, ut hoc experiatur, an vires suae, quantaeque ad illud actuandum sufficiant, TENTAT. Si singulas ponderanti maiores visas caussas impulsivas pro tot minimis habeat deliberans, quot magnitudinis singularum gradus cognoscit, & sic singulas comparet, caussas impulsivas CONNUMERAT. 20
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oder diesem getrieben zu werden, unterstellt wird, M. § 673.20 Wenn also das Gegenteil von jener, wozu du verpflichten wolltest, zu einer moralisch unmöglichen zu machen ist, ist ein größeres Belieben zu der freien Bestimmung zu erregen, zu der du verpflichten wolltest. Die mächtigeren bewegenden Ursachen zu einer freien Bestimmung und ihrem Gegenteil werden, wenn sie auf beiden Seiten zusammengerechnet werden, M. § 697,21 jener, welche die mehreren hat, zugeschrieben. Wenn einer ein größeres Belieben zu irgendeiner freien Bestimmung als zu ihrem Gegenteil erregen will, sind mit eben Met. § 673: Im Zustand des Gleichgewichts nach Voraussicht und Erwartung ist das Begehren gleich der Abneigung (§ 670). Also wäre es die völlige Abneigung und die völlige Begehrung desselben (§ 671) und zugleich die noch nicht völlige Begehrung, sofern es die völlige Abneigung desselben wäre, und die noch nicht völlige Abneigung, sofern es die völlige Begehrung desselben wäre (§§ 81, 671). Wenn ich also im Zustand des Gleichgewichts noch nicht völlig begehren würde oder abgeneigt wäre, würde ich dasselbe noch nicht völlig begehren und ihm abgeneigt sein, was unmöglich ist (§ 7). Also begehre ich weder im Zustand des gänzlichen oder teilweisen (§§ 656, 661) Gleichgewichts – sei es des völligen oder nicht so beschaffenen (§ 670) – nach Voraussicht und Erwartung völlig noch bin ich völlig abgeneigt. Wenn ich deshalb also völlig begehre oder abgeneigt bin, bin ich nicht im Zustand des Gleichgewichts nach Voraussicht und Erwartung der Verwirklichungsmöglichkeit eines Gegenstands und dessen Gegenteils (§ 671). 21 Met. § 697: Einer, der bedenkt, insofern er eine mathematische Erkenntnis anstrebt, überschlägt die Gründe (rechnet), sofern er überlegt, wie viele Güter, wie viele Übel von beiden Seiten zu erhoffen sind, zählt er die bewegenden Ursachen, welche er erwägt, sofern er angibt, wie große Güter, wie große Übel zu erwarten sind, und sofern er genau abwägt, was das bessere sei, zieht er das eine dem anderen vor. Wenn er das Vorgezogene beschließt, erwählt er. Wenn einer, der bedenkt, etwas beschließt, damit er dadurch erfährt, ob seine Kräfte groß genug sind, um jenes zu verwirklichen, versucht er. Wenn einer, der bedenkt, indem er erwägt, die größer scheinenden einzelnen bewegenden Ursachen für so viele sehr kleine hält, so viele Grade der Größe der einzelnen er erkennt, und so die einzelnen vergleicht, rechnet er die bewegenden Ursachen zusammen. 20
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tendae sunt, M. §. 712,22 342.23 Ergo obligans cum libera determinatione caussas impulsivas connectit. §. 13. Caussas impulsivas potiores cum aliqua libera determinatione connectens eius oppositum reddit moraliter impossibile, §. 12, ergo hanc determinationem liberam moraliter necessariam, adeoque ad eam obligat, M. §. 723.24 §. 14. Qui obligatur, cum eius determinatione aliqua libera caussae impulsivae potiores connectuntur §. 12, 10. Cuius cum determinationibus liberis caussae impulsivae connectuntur potiores, ille obligatur, § 13, 10. §. 15. OBLIGATIO tam activa §. 12, 13, quam passiva, §. 14, potest definiri per connexionem, vel activam, vel passivam caussarum impulsivarum potiorum cum libera determinatione.
S. Fn. 16. Met. § 342: Intentionis rationes in intendente vocantur CAUSSAE IMPULSIVAE. Finis est effectus actionis & mediorum, quibus agens utitur vel abutitur, §. 341, 319. Hinc finis plenus est aequalis actioni & mediis. Media & actio sunt aequalis (proportionata) fini pleno, §. 331. Captatio occasionis §. 323, & impedimentorum remotio §. 221. sunt media, §. 341. 24 S. Fn. 7. 22 23
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dieser die mächtigeren bewegenden Ursachen zu verknüpfen, M. §§ 712,22 342.23 Also verknüpft der Verpflichtende bewegende Ursachen mit einer freien Bestimmung. § 13 Einer, der die mächtigeren bewegenden Ursachen mit irgendeiner freien Bestimmung verknüpft, macht deren Gegenteil zu einer moralisch unmöglichen, § 12, also diese freie Bestimmung zu einer moralisch notwendigen und verpflichtet so dazu, M. § 723.24 § 14 Wer verpflichtet wird, dem werden mit irgendeiner von dessen freien Bestimmungen die mächtigeren bewegenden Ursachen verknüpft, §§ 12, 10. Mit wessen freien Bestimmungen die mächtigeren bewegenden Ursachen verknüpft werden, jener wird verpflichtet, §§ 13, 10. § 15 Ebenso die aktive, §§ 12, 13, wie die passive, § 14, Verpflichtung kann durch eine entweder aktive oder passive Verknüpfung der mächtigeren bewegenden Ursachen mit einer freien Bestimmung definiert werden.
S. Fn. 16. Met. § 342: Die Gründe der Absicht in dem, der beabsichtigt, werden Trieb oder bewegende Ursachen genannt. Ein Zweck ist die Wirkung der Handlung und der Mittel, welche der Handelnde gebraucht oder missbraucht (§§ 341, 319). Daher ist der erfüllte Zweck gleich der Handlung und den Mitteln. Mittel und Handlung sind gleich (dem Verhältnis nach) dem erfüllten Zweck (§ 331). Das Ergreifen einer Gelegenheit (§ 323) und die Beseitigung von Hindernissen (§ 221) sind Mittel (§ 341). 24 S. Fn. 7. 22 23
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§. 16. Caussae impulsivae potiores vim et efficaciam obligandi habent §. 15, nunc fortiorem, nunc debiliorem, M. §. 75,25 723.26 Unde ipsa OBLIGATIO maior FORTIOR, minor DEBILIOR dicitur. §. 17. Obligatio minima, s. maxime debilis esset unicae minimae caussae impulsivae potioris connexio cum determinatione libera unica minima, §. 15. M. 161.27 Hinc quo plures, quo maiores, adeoque quo verius, quo clarius, quo certius, quo ardentius cognitae, M. §. 669,28 vincunt elateres ad oppositum, quo pluribus, quo maioribus liberis determinationibus, quo arctius* connectuntur, hoc maior, hoc fortior erit obligatio, caussarumque impulsivarum vis et efficacia obligandi §. 16.
Met. § 75: Determinationes entis singulae sunt una, §. 73, partim eadem, dum sunt determinationes eiusdem entis, partim diversa, §. 38. hinc multa, §. 74. Potest ergo multitudo dari in ente in se spectato, §. 69. et est eius discrimen internum, §. 37. quod tamen intelligere non possumus, nisi uno alio assumto, §. 74. 38. hinc multitudo est quantitas, §. 69. 26 S. Fn. 7. 27 Met. § 161: MINIMUM est solo nihilo maius, seu, quo minus impossibile est; MAXIMUM est, solo nihilo minus, seu, quo maius impossibile est. Multitudo maior est MULTITUDO COMPARATIVA cf. §. 74. minor, PAUCITAS. Magnitudo maior est MAGNITUDO COMPARATIVA, cf. §. 159. minor, PARVITAS. NUMERUS maior est COMPARATIVUS, cf. §. 159. minor, RARITAS. 28 S. Fn. 3. 25
∗
AA 19: artius.
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§ 16 Die mächtigeren bewegenden Ursachen haben bald eine stärkere, bald eine schwächere, M. §§ 75,25 723,26 Kraft und Wirksamkeit des Verpflichtens, § 15. Weswegen allein schon eine größere Verpflichtung die stärkere, eine geringere die schwächere genannt wird. § 17 Die geringste bzw. am meisten schwache Verpflichtung wäre die Verknüpfung einer einzigen, kleinsten mächtigeren bewegenden Ursache mit einer einzigen, sehr geringen freien Bestimmung, § 15, M. § 161.27 Daher besiegen je mehr, je größere und noch dazu je klarer, je gewisser und je brennender erkannte, M. § 669,28 bewegende Ursachen die Triebfedern zum Gegenteil, mit je mehr, je größeren freien Bestimmungen sie je fester verbunden werden, desto größer, desto stärker wird eine Verpflichtung und die Kraft und Wirksamkeit der bewegenden Ursachen zu verpflichten sein, § 16.
Met. § 75: Die Bestimmungen eines einzelnen Dings sind eins (§ 73), teils einerlei, sofern sie Bestimmungen desselben Dings sind, teils verschieden (§ 38), daher viele (§ 74). Es kann also eine Vielheit in einem an und für sich betrachteten Ding geben (§ 69), und sie ist dessen innerer Unterschied (§ 37), den wir jedoch ausschließlich durch ein angenommenes anderes verstehen können (§ 74, 38), daher die Vielheit Größe ist (§ 69). 26 S. Fn. 7. 27 Met. § 161: Das kleinste ist allein größer als nichts bzw. weniger als es ist unmöglich; das größte ist allein kleiner als nichts bzw. mehr als es ist unmöglich. Die größere Vielheit ist eine Menge (vgl. § 74), die kleinere eine Wenigkeit. Die größere Größe ist eine vergleichsweise Größe des Ganzen und der Zahl (vgl. § 159), die geringere eine Kleinigkeit. Die größere Zahl ist vergleichsweise (vgl. § 159), die geringere eine Seltenheit. 28 S. Fn. 3. 25
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§. 18. Caussae impulsivae quum sint perceptiones variarum rerum, M. §. 341,29 342,30 quarum quaedam in hac, quaedam in alia disciplina soleant considerari, a qua nomen saepe ferunt, et cum sua obligatione communicant: hinc obligationes materialiter dividuntur et denominantur pro diversitate rerum, quas caussae earum impulsivae sistunt, et disciplinarum, in quibus hae solent tractari, §. 15.
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§. 19. Caussae impulsivae omnes et singulae cum data libera determinatione connexae sunt, sunt CAUSSA IMPULSIVA TOTALIS, huius partes sunt CAUSSAE IMPULSIVAE PARTIALES. Prioris OBLIGATIO TOTALIS est, harum PARTIALIS. Caussae impulsivae | partiales, immo totalis etiam, nisi potiores fuerint, obligationem nullam pariunt, §. 15, 12. §. 20. Si plures sint caussae impulsivae partiales ad liberam determinationem, A, quam ad eius oppositum, non-A; ad hoc autem tam graves, ut facta connumeratione caussa impulsiva ad non-A totalis sit potior, M. §. 697,31 ad A nulla est obligatio, §. 19.
Met. § 341: Si quis utitur vel abutitur aliquo ad bonum sibi visum actuandum: ipsum bonum agenti visum FINIS, cf. §. 248. caussae finis, quibus ad finem uti vel abuti potest, MEDIA (destinata, finita, cf. §. 208. remedia), finisque repraesentatio INTENTIO dicitur. Iam finis est principium usus vel abusus, §. 338, 207. hinc caussa finalis, §. 338, 307. 30 S. Fn. 23. 31 S. Fn. 21. 29
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§ 18 Weil bewegende Ursachen Vorstellungen verschiedener Sachen sind, M. §§ 341,29 342,30 deren manche in diesem, manche in einem anderen Lehrfach bedacht zu werden pflegen mögen, von dem sie häufig den Namen bekommen und mit ihrer Verpflichtung teilen, deshalb werden die Verpflichtungen dem Stoffe nach eingeteilt und nach der Verschiedenheit der Sachen, bei denen ihre bewegenden Ursachen bestehen, und der Lehrfächer benannt, in denen sie behandelt zu werden pflegen, § 15. § 19 Sind alle und die einzelnen bewegenden Ursachen mit einer gegebenen freien Bestimmung verknüpft, sind sie die totale bewegende Ursache, deren Teile die partiellen bewegenden Ursachen sind. Dem ersteren kommt eine totale Verpflichtung zu, zweiterem eine partielle. Partielle bewegende Ursachen, ja sogar auch eine totale erzeugten keine Verpflichtung, wenn sie nicht die mächtigeren sein würden, §§ 15, 12. § 20 Wenn es mehr partielle bewegende Ursachen zu einer freien Bestimmung A als zu deren Gegenteil nicht-A gibt, zu diesem aber so gewichtige, dass nach vollzogener Zusammenrechnung die totale bewegende Ursache zu nicht-A die mächtigere ist, M. § 697,31 gibt es keine Verpflichtung zu A, § 19.
Met. § 341: Wenn einer etwas gebraucht, um etwas, das ihm gut scheint, zu verwirklichen, ist ebendas, was dem Handelnden gut scheint, ein Zweck (vgl. § 248), die Ursachen des Zwecks, welche er zum Zweck gebrauchen oder missbrauchen kann, werden Mittel (im Bezug auf ein Ziel bestimmte begrenzte (vgl. § 208) Hilfsmittel) und die Vorstellung des Zwecks Absicht genannt. Nun ist der Zweck die Quelle des Gebrauchs oder Missbrauchs (§§ 338, 207), daher Zweckursache (§§ 338, 307). 30 S. Fn. 23. 31 S. Fn. 21. 29
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§. 21. Si caussa impulsiva quaedam cum data libera determinatione sic connectitur, quae et sicut antea connexa non erat, ORITUR NOVA (inducitur) OBLIGATIO: Si caussa impulsiva, quae et sicut antea connexa erat cum aliqua libera determinatione, sic non amplius connectitur, INTERIT (tollitur, solvitur, exstinguitur, cessat) OBLIGATIO. Aucta CRESCIT (confirmatur), minuta DECRESCIT (debiliatur, infirmatur, intermoritur). Sive totalis, sive partialis, si sublata denuo inducitur, REVIVISCIT. §. 22. Crescente obligatione totali nova oritur partialis, decrescente obligatione totali partialis tollitur, §. 21, 19. ACTUS, quo inducitur obligatio, est OBLIGATORIUS, quo fit, ad quod obligati eramus, SATISFACIT OBLIGATIONI. | 9
§. 23. Caussarum impulsivarum ad opposita quam diu nondum facta est connumeratio numerationem ponderationemque supponens M. §. 697,32 nunc caussa impulsiva totalis ad unum, nunc caussa impulsiva totalis ad alterum potest videri potior, et hinc ad utrumque collidentes, §. 15. M. §. 97.33 Facta
S. Fn. 21. Met. § 97: REGULAE oppositae COLLIDI dicuntur, et defectus ex regulis perfectionis collidentibus EXCEPTIO, prout normae vel vera vel apparente tantum oppositione colliduntur, §. 81. vel vera, vel apparens, §. 12. 32 33
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§ 21 Wenn eine gewisse bewegende Ursache mit einer gegebenen freien Bestimmung so verknüpft wird, welche und auf diese Weise mit ihr vorher nicht verknüpft war, entsteht (wird eingeführt) eine neue Verpflichtung; wenn eine bewegende Ursache, welche und auf diese Weise vorher mit irgendeiner freien Bestimmung verknüpft war, nicht weiter auf diese Weise verknüpft wird, geht die Verpflichtung verloren (wird hinweggenommen, aufgelöst, ausgelöscht, hört auf). Indem sie vermehrt wird, wächst sie an (wird bekräftigt), indem sie vermindert wird, nimmt sie ab (wird abgeschwächt, ungültig gemacht, stirbt ab). Wenn eine – sei sie eine totale oder partielle – aufgehobene von neuem eingeführt wird, lebt sie wieder auf. § 22 Indem eine totale Verpflichtung anwächst, entsteht eine neue partielle; indem eine totale Verpflichtung abnimmt, wird eine partielle hinweggenommen, §§ 21, 19. Der Akt, wodurch eine Verpflichtung eingeführt wird, ist der verpflichtende; wodurch geschieht, wozu wir verpflichtet waren, tut der Verpflichtung Genüge. § 23 Solange die Zusammenrechnung der bewegenden Ursachen zu Entgegengesetztem noch nicht vollzogen worden ist, die eine Zählung und Erwägung unterstellt, M. § 697,32 kann bald die totale bewegende Ursache zu dem einen, bald die totale bewegende Ursache zu dem anderen mächtiger scheinen und daher kann es scheinen, als ob Verpflichtungen zu jedem von beiden kollidierten, § 15, M. § 97.33 Wenn sich aber nach
S. Fn. 21. Met. § 97: Entgegengesetzte Richtschnüre werden miteinander streitende und der Mangel an Vollkommenheit aufgrund miteinander streitender Richtschnüre eine Ausnahme genannt, je nachdem die Richtschnüre durch einen wahren oder scheinbaren Gegensatz miteinander streiten (§ 81), eine wahre oder eine scheinbare (§ 12). 32 33
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autem connumeratione si patet, quaenam caussarum impulsivarum totalium ad opposita sit potior, tunc ad oppositum huic nulla est obligatio, §. 19, 20, et disparet obligationum collisio. Unde verae obligationes nunquam inter se colliduntur, §. 15, M. §. 12.34 Caussae tamen impulsivae totales ad utrumque oppositorum dum videntur obligationes, ambae si dicantur collidi, vera obligatio maior vocatur § 17. §. 24. 1) Ubi non sunt liberae determinationes, ergo ubi non sunt personae obligandae, § 10, 2) ubi non sunt caussae impulsivae, 3) ubi sunt, sed non potiores, 4) ubi et hae sunt, sed non connexae cum liberis determinationibus, ibi non est obligatio, §. 15.
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§. 25. Obligationem vel novam inducere, vel veterem confirmare requirit, 1) liberam determinationem vel omnino novam, vel | intendendae saltim nobilitatis, ad quam obliges, M. §. 166,35 2) caussas impulsivas, vel omnino novas, aut multiplicatas, aut nobiliores, aut veriores, aut clariores, aut certiores, aut ardentiores, breviter maiores, quam quae ante fuerant, 3) potiores, vel
Met. § 12: Posito impossibili ORITUR CONTRADICTIO. Quod non tantum videtur, sed et est, VERUM, quod tantum videtur [sed] non est, APPARENS dicitur. Hinc orta contradictio vel vera est, vel apparens. 35 Met. § 166: Ratio minima est, quae unicum minimum rationatum habet, §. 161. Quo ergo plura, quo maiora rationata habet, hoc maior est, §. 160. donec maxima fiat maxima plurima rationata habens, §. 161. Magnitudo rationis ex numero rationatorum est FOECUNDITAS, ex magnitudine eorum PONDUS (gravitas, dignitas, nobilitas). 34
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vollzogener Zusammenrechnung zeigt, welche der totalen bewegenden Ursachen zu Entgegengesetztem die mächtigere ist, dann gibt es zu dem dieser Entgegengesetzten keine Verpflichtung, §§ 19, 20, und die Kollision der Verpflichtungen verschwindet. Weswegen wahre Verpflichtungen niemals untereinander kollidieren, § 15, M. § 12.34 Solange jedoch totale bewegende Ursachen zu beiden Gegensätzen Verpflichtungen scheinen, wird, wenn gesagt wird, dass sie kollidieren, die größere von beiden die wahre Verpflichtung genannt, § 17. § 24 1) Wo keine freien Bestimmungen sind, also wo es keine Personen gibt, die verpflichtet werden können, § 10, 2) wo keine bewegenden Ursachen sind, 3) wo welche sind, aber keine mächtigeren, 4) wo es auch diese gibt, aber keine mit freien Bestimmungen verknüpften, dort gibt es keine Verpflichtung, § 15. § 25 Um eine neue Verpflichtung einzuführen oder eine alte zu bekräftigen, braucht es 1) eine gänzlich neue freie Bestimmung oder wenigstens eine von zu beachtender Wichtigkeit, zu welcher du verpflichten magst, M. § 166;35 2) gänzlich neue oder vervielfachte, wichtigere, wahrere, klarere, gewissere oder brennendere, kurz: größere bewegende Ursachen als
Met. § 12: Durch Setzung des Unmöglichen entsteht ein Widerspruch. Was es nicht nur scheint, sondern auch ist, wird ein wahrer, was es nur scheint, [aber] nicht ist, wird ein scheinbarer genannt. Daher ist ein entstandener Widerspruch entweder ein wahrer oder ein scheinbarer. 35 Met. § 166: Der kleinste Grund ist, der eine einzige, kleinste Folge hat (§ 161). Also je mehr, je größere Folgen er hat, desto größer ist er (§ 160), bis er der größte wird, der die größten, meisten Folgen hat (§ 161). Die Größe des Grundes aufgrund der Zahl der Folgen ist die Fruchtbarkeit, aufgrund ihrer Größe die Wichtigkeit (Schwere, Würde, Vortreff lichkeit). 34
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suo incremento, vel decremento caussarum impulsivarum ad oppositum, has vel nunc primum superantes, vel magis excedentes, quam antea, 4) caussas impulsivas datas cum liberis determinationibus datis vel primo, vel magis connectere i. e. perfectius ostendere nexum et consequentiam, cur positis his caussis impulsivis ponenda sit haec libera determinatio, §. 17. 21. En! Officia generalia doctoris philosophiae practicae, §. 1. §. 26. Quo quis plurium, quo nobiliorum determinationum liberarum, quo perfectioris cognitionis de caussis impulsivis, earumque numeris et ponderibus, et nexu cum liberis determinationibus capax est, hoc melius obligari potest, §. 25, 17. Hinc metire studiosos philosophiae practicae, §. 1.
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§. 27. Si 1) videantur determinationes liberae, ad quas obliges, quae non sunt, 2) caussae impulsivae, quae non sunt, 3) saltim potiores, quae non sunt, 4) saltim sic et | in tantum connexae cum libera determinatione quadam, uti et in quantum cum illa non sunt connexae, nascitur OBLIGATIO FALSA (erronea, apparens, ficta, spuria), §. 24. Ergo possumus ad ea, ad quae vere obligamur, oligari simul falso, et v. v. Possumus ex veris falso obligari. §. 28. CERTITUDO latius dicta vel est COMPLETA (stricte et rigorose dicta, mathematica, geometrica) ad veritatem rei ab omnibus distinguendam sufficiens, (ab omni formidine oppositi liberans) vel INCOMPLETA, ad veritatem rei ab omnibus
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die, welche es vorher gegeben hat; 3) durch seine eigene Zunahme oder durch die Abnahme der bewegenden Ursachen zum Entgegengesetzten mächtigere, indem diese jetzt die ersten übertreffen oder mehr hervortreten als vordem; 4) die gegebenen bewegenden Ursachen mit den gegebenen freien Bestimmungen erstmals oder mehr zu verknüpfen, d. h. vollkommenen Zusammenhang und Folge zu zeigen, warum, gesetzt diese bewegenden Ursachen, diese freie Bestimmung zu setzen ist, §§ 17, 21. Da hast du die allgemeinen Pflichten eines Lehrers der praktischen Philosophie, § 1! § 26 Je mehrerer, je wichtigerer freier Bestimmungen, je vollkommenerer Erkenntnis von den bewegenden Ursachen, von ihrer Anzahlen und ihrem Gewicht und von ihrem Zusammenhang mit freien Bestimmungen einer fähig ist, desto besser kann er verpflichtet werden, §§ 25, 17. Daran miss die Studenten der praktischen Philosophie, § 1! § 27 Wenn 1) freie Bestimmungen, zu denen du verpflichten magst, erscheinen, die nicht sind, 2) bewegende Ursachen, die nicht sind, 3) wenigstens mächtigere, die sie nicht sind, 4) wenigstens so und insofern mit einer gewissen freien Bestimmung verbundene, wie und inwiefern sie mit jener nicht verbunden sind, entsteht eine falsche (irrtümliche, scheinbare, erdichtete, unechte) Verpflichtung, § 24. Also können wir zu der, zu der wir wahrhaft verpflichtet werden, zugleich fälschlich verpflichtet werden und umgekehrt. Wir können aus wahren Gründen fälschlich verpflichtet werden. § 28 Gewissheit im weiteren Sinne ist entweder die vollständige (im strengen und harten Sinne, mathematische, geometrische), die zur Wahrheit des Dings, das von allem zu unterscheiden ist, zureicht (die von aller Furcht des Gegenteils befreit), oder die unvollständige, die zur Wahrheit des Dings, das von
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aliis distinguendam non sufficiens, (non sine formidine oppositi), M. §. 531.36 INCERTITUDO LATIUS DICTA est oppositum certitudinis completae. In incerto latius dicto, aut plures sunt cognitae rationes ad veritatem s. ponendum aliquid i. e. ASSENSUM, quam ad idem tollendum, et est PROBABILE, aut
Met. § 531: Pone duas cogitationes claras trium notarum, sed sint in una clarae, quae in altera obscurae sunt, prior erit clarior, §. 528. Ergo claritas perceptionis augetur claritate notarum per distinctionem, adaequationem. e. c. Pone duas cogitationes claras notarum aequaliter clararum, quarum tres sint in una, sex sint in altera; posterior erit clarior, §. 528. Ergo multitudine notarum augetur claritas, §. 162. CLARITAS claritate notarum maior, INTENSIVE, multitudine notarum, EXTENSIVE MAIOR dici potest. Extensive clarior PERCEPTIO est VIVIDA. Vividitas COGITATIONUM & ORATIONIS NITOR (splendor) est, cuius oppositum est SICCITAS (spinosum cogitandi dicendique genus). Utraque claritas est PERSPICUITAS. Hinc perspicuitas vel est vivida, vel intellectualis, vel utraque. PERCEPTIO, cuius vis se exserit in veritate alterius perceptionis cognoscenda, & VIS EIUS, est PROBANS, cuius vis alteram claram reddit, & VIS EIUS, est EXPLICANS (declarans), cuius vis alteram vividam reddit, & VIS EIUS, est ILLUSTRANS (pingens), quae alteram distinctam, & VIS EIUS est RESOLVENS (evolvens). Conscientia veritatis est CERTITUDO (subiective spectata cf. §. 93). Certitudo sensitiva est PERSUASIO, intellectualis CONVICTIO. Cogitans rem & veritatem eius, caeteris paribus, plura cogitat, quam cogitans rem tantum. Hinc COGITATIO & COGNITIO certa, caeteris paribus, maior est INCERTA, quae non est certa, §. 515. COGNITIO iusto incertior est SUPERFICARIA, adeo certa, ac requiritur, est SOLIDA. Quo clarior, quo vividior, quo distinctior, quo certior cognitio est, hoc maior est. PERCEPTIO certitudinem alterius habens pro corollario, & VIS EIUS, est vel PERSUASORIA, vel CONVINCENS. Certa perspicuitas est EVIDENTIA. 36
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allen anderen zu unterscheiden ist, nicht zureicht (nicht ohne Furcht des Gegenteils), M. § 531.36 Ungewissheit im weiteren Sinne ist das Gegenteil von vollständiger Gewissheit. In einem im weiteren Sinne Ungewissen sind entweder mehr erkannte Gründe für die Wahrheit bzw. dafür, etwas zu setzen, d. h. für die Zustimmung, als dafür, dasselbe hinwegzunehmen, und das ist das Wahrscheinliche, oder die Gründe dafür und da-
Met. § 531: Setze zwei klare Gedanken dreier Merkmale, aber in dem einen seien klare, welche in dem anderen dunkle sind, so wird ersterer klarer sein (§. 528). Also wächst die Klarheit einer Vorstellung mit der Klarheit der Merkmale durch Unterscheidung, Angleichung usw. Setze zwei klare Gedanken gleichermaßen klarer Merkmale, deren drei in dem einen und sechs in dem anderen seien, so wird letzterer klarer sein (§ 528). Also wächst die Klarheit mit der Vielheit der Merkmale (§ 162). Größere Klarheit durch Klarheit der Merkmale kann das schärfere, durch Vielzahl der Merkmale das verbreitetere Licht genannt werden. Eine extensiv klarere Vorstellung ist eine lebhafte. Die Lebhaftigkeit ist das Schimmernde (Glanz) der Erkenntnis und der Rede, dessen Gegenteil das Trockene (die spitzfi ndige Art des Erkennens und Aussagens) ist. Beider Klarheit ist Fasslichkeit. Daher ist Fasslichkeit entweder lebhaft oder verstandesmäßig oder beides. Eine Vorstellung, deren Kraft sich darin zeigt, dass sie die Wahrheit einer anderen Vorstellung erkennen lässt, und deren Kraft ist beweisend, deren Kraft eine andere zu einer klaren macht, und deren Kraft ist entdeckend, deren Kraft eine andere zu einer lebhaften macht, und deren Kraft ist erläuternd, die eine andere zu einer deutlichen macht, und deren Kraft ist auseinandersetzend. Die Bewusstheit der Wahrheit ist die Gewissheit (subjektiv betrachtet, vgl. § 93). Sinnliche Gewissheit ist Überredung, verstandesmäßige Überzeugung. Wer eine Sache und deren Wahrheit denkt, denkt, das übrige gleich, mehr, als wer nur die Sache denkt. Daher ist ein gewisser Gedanke und eine gewisse Erkenntnis, das übrige gleich, größer als ein(e) ungewiss(e), die/der nicht gewiss ist (§ 515). Eine zurecht ungewissere Erkenntnis ist seicht, eine so sehr gewisse, wie erfordert wird, ist gründlich. Je klarer, je lebhafter, je deutlicher, je gewisser eine Erkenntnis ist, desto größer ist sie. Eine Vorstellung, welche die Gewissheit einer anderen zum Zusatz hat, und deren Kraft ist entweder von überredender oder überzeugender Wirksamkeit. Gewisse Fasslichkeit ist das völlig Ausgemachte. 36
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rationes pro et contra aequales sunt, et est DUBIUM (incertum stricte dictum), aut pauciores sunt rationes pro, quam contra assensum, et est IMPROBABILE. Rationes ad assensum plures, pauciores et aequales dicuntur non nisi post connumerationem, M. 697.37 Potest idem diverso respectu latius certum et incertum dici. Rigorose certum eidem subiecto nulla ratione incertum est. Incerta latius dicta et dubia neu | tiquam coextenduntur, s. quicquid non est complete nobis certum, de eo non statim dubitare licet. Probabilitas et quae vel quantacunque* verisimilitudo neutiquam coextenduntur, s. aliqualiter aliquantulumque verisimile non statim est probabile. Nonnulla verisimilitudo potest etiam esse dubiorum et improbabilium, sed nulla, ne minima quidem probabilitas. Unum oppositorum probabile si fiat, eo ipso alterum fit improbabile, et v. v. Ambo opposita nunquam eidem subiecto sunt probabilia. Improbabilia non magis, quam probabilia, dubia sunt, et dubia sunt nec probabilia, nec improbabilia. Omne probabile est latius certum, et omne improbabile falsitatis latius certae. Complete certa omnia vera sunt. Sed latius sic dicta certa, probabilia, dubia, improbabilia possunt vera, possunt falsa esse. Quocunque** significatu certus non est dubius. Sed potest incertus esse, qui tamen non est dubius. Duo opposita nunquam
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S. Fn. 21.
∗∗
AA 19 stets: quantacumque. AA 19 stets: quocumque.
∗∗
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gegen sind gleich, und das ist das Zweifelhafte (im strengen Sinne Ungewisse), oder es sind weniger Gründe für als gegen die Zustimmung, und das ist das Unwahrscheinliche. Die Gründe zur Zustimmung werden ausschließlich nach der Zusammenrechnung, M. § 697,37 mehr, weniger oder gleich genannt. Dasselbe kann in verschiedener Hinsicht im weiteren Sinne gewiss und ungewiss genannt werden. Das im harten Sinne Gewisse ist demselben Subjekt aus keinem Grund ungewiss. Im weiteren Sinne Ungewisses und Zweifelhaftes haben keineswegs denselben begriff lichen Umfang, bzw. was immer uns nicht vollständig gewiss ist, daran ist nicht sogleich erlaubt zu zweifeln. Wahrscheinlichkeit und welche oder eine wie große Wahrheitsähnlichkeit auch immer haben keineswegs denselben begrifflichen Umfang bzw. ein wie auch immer beschaffenes und wie wenig auch immer Wahrheitsähnliches ist nicht sogleich ein Wahrscheinliches. Einige Wahrheitsähnlichkeit kann auch die des Zweifelhaften und Unwahrscheinlichen sein, aber keine, nicht einmal die geringste Wahrscheinlichkeit. Wenn einer der Gegensätze wahrscheinlich wird, wird schon dadurch der andere unwahrscheinlich und umgekehrt. Beide Gegensätze sind niemals demselben Subjekt wahrscheinlich. Unwahrscheinliches ist nicht mehr Zweifelhaftes als Wahrscheinliches, und Zweifelhaftes ist weder Wahrscheinliches noch Unwahrscheinliches. Alles Wahrscheinliche ist im weiteren Sinne gewiss und alles Unwahrscheinliche von im weiteren Sinne gewisser Falschheit. Alles vollständig Gewisse ist wahr. Aber das auf diese Weise im weiteren Sinne gewiss genannte – Wahrscheinliches, Zweifelhaftes, Unwahrscheinliches – kann wahr, kann falsch sein. Ein in welcher Bedeutung auch immer Gewisser ist nicht im Zweifel. Aber es kann ungewiss sein, wer trotzdem nicht im Zweifel ist. Zwei
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S. Fn. 21.
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possunt eidem esse improbabilia simul, possunt esse incerta, possunt esse dubia. Haec applicentur ad obligationem vel complete certam, vel latius incertam, et hanc vel probabilem (latius certam), vel dubiam (strictius incertam) vel improbabilem (latius certae falsitatis), §. 15. | 13
§. 29. Quarundam caussarum impulsivarum potiorum connexio cum quibusdam liberis determinationibus potest satis cognosci ex natura actionis et agentis. Quarundam connexio potest satis cognosci ex arbitrio alicuius libero. Illa OBLIGATIO est NATURALIS (obiectiva, intrinseca, interna), haec POSITIVA (arbitraria, subiectiva, formalis, extrinseca, externa). §. 30. Quum quaedam obligationes possint ex natura et arbitrio simul propius satisque cognosci, obligatio ad idem potest esse obiectiva et subiectiva simul, naturalis et arbitria, nec ab obligatione naturali posita ad exclusionem arbitrariae, nec ab arbitraria s. positiva obligatione posita ad exclusionem naturalis valet consequentia, §. 29. §. 31. Actiones vel sunt negativae, vel reales, M. §. 135.38 Priores liberae determinationes, quaeque tales videntur, OMISSIO-
Met. § 135: Negatione posita realitas tollitur, §. 36, 10. Hinc negationes et realitates sunt sibi invicem oppositae, §. 81. Tam realitates ipsae, quam entia, quibus insunt, ENTIA REALIA seu positiva dicuntur. Negationes autem ENTIA NEGATIVA. 38
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Gegensätze können niemals demselben zugleich unwahrscheinlich sein; sie können Ungewisse sein, sie können Zweifelhafte sein. Dies möge angewendet werden auf eine entweder vollständig gewisse oder im weiteren Sinne ungewisse und entweder wahrscheinliche (im weiteren Sinne gewisse) oder zweifelhafte (im strengeren Sinne ungewisse) oder unwahrscheinliche (von im weiteren Sinne gewisser Falschheit) Verpflichtung, § 15. § 29 Die Verknüpfung mancher mächtigerer bewegender Ursachen mit manchen freien Bestimmungen kann aus der Natur der Handlung und des Handelnden hinreichend erkannt werden. Mancher Verknüpfung kann hinreichend aus irgendjemandes freier Willkür erkannt werden. Jene Verpflichtung ist eine natürliche (objektive, innerliche, innere), diese eine positive (willkürliche, subjektive, formale, äußerliche, äußere). § 30 Weil manche Verpflichtungen zugleich aus der Natur und der Willkür näher und hinreichend erkannt werden können, kann eine Verpflichtung zum selben zugleich objektiv und subjektiv, natürlich und willkürlich sein, und weder von einer natürlich gesetzten Verpflichtung auf den Ausschluss einer willkürlichen noch von einer willkürlich bzw. positiv gesetzten Verpflichtung auf den Ausschluss einer natürlichen gilt ein Schluss, § 29. § 31 Handlungen sind entweder verneinend oder bejahend bestimmte, M. § 135.38 Die ersteren freien Bestimmungen und Met. § 135: Indem eine Verneinung gesetzt wird, wird eine Bestimmtheit hinweggenommen (§§ 36, 10). Daher sind Verneinungen und Bestimmtheiten einander wechselseitig entgegengesetzt (§ 81). Die Bestimmtheiten selbst werden ebenso wie die Dinge, denen sie innewohnen, etwas bejahendes oder positives genannt. Verneinungen aber etwas verneinendes. 38
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NES, posteriores, quaeque tales videntur, COMMISSIONES vocantur. OBLIGATIO ad omittendum est NEGATIVA, ad committendum AFFIRMATIVA, quae ne confundatur cum positiva, §. 29. | 14
§. 32. Omnes determinationes hominis liberae sunt vel bonae, vel malae, M. §. 790,39 omnes habent consectaria in indefinitum, M. §. 23,40 eaque vel bona, vel mala, M. §. 790.41 Priores
Met. § 790: Pone rem tantum totaliter malam, quantum est bona; non haberet ea summum realitatis gradum, §. 246, 248. Ergo esset ens finitum, §. 248. hinc contingens, §. 257. adeoque oppositum eius esset possibile, §. 101. quumque ipsius exsistentia esset contingens, §. 109. oppositi eius exsistentia esset possibilis, §. 101. At oppositum rei eiusmodi non posset, nisi extra eam, exsistere, §. 81, 7. & esse bonum & malum ipsi rei positae totaliter aequale, §. 81, 267. Ergo possibilia forent duo extra se invicem actualia totaliter aequalia, quod contra §. 272. Ergo res, quae tantum totaliter bona esset, quantum mala, non potest exsistere. Ergo nec dantur mutationes animae humanae, nisi vel bonae, vel malae. Ergo omnis anima humana in hac vita vel felix est, vel infelix, §. 789. 40 Met. § 23: Omne possibile est ratio, seu nihil est sine rationato, nihil sine corollario et auctoramento, nihil omnino sterile, otiosum, et infoecundum, seu posito aliquo ponitur aliquid rationatum eius. Nam omne possibile aut habet rationatum, aut minus, §. 10. Si habet, est aliquid rationatum eius, §. 8. si non habet, nihil est eius rationatum §. 7. Ergo omnis possibilis rationatum aut nihil est, aut aliquid, §. 10. Si nihil esset rationatum possibilis alicuius, posset ex hoc cognosci, §. 14, hinc esset aliquid, §. 8, adeoque quoddam possibile impossibile, §. 7. 8. q. a. §. 9. Haec propositio dicitur principium rationati. 41 S. Fn. 39. 39
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die, die solche scheinen, werden Unterlassungen, letztere und die, die solche scheinen, Begehungen genannt. Eine Verpflichtung, etwas zu unterlassen, ist eine verneinende, etwas zu begehen, eine bejahende, welche mit einer positiven, § 29, nicht durcheinander gebracht werden möge. § 32 Alle freien Bestimmungen des Menschen sind entweder gut oder böse, M. § 790,39 alle haben Folgen bis ins mathematisch Unendliche, M. § 23,40 und diese sind entweder gut oder böse, M. § 790.41 Die ersteren, die moralisch guten, § 29,
Met. §790: Setze eine Sache, die ebenso gänzlich böse wie gut ist; diese würde nicht den höchsten Grad an Bestimmtheit haben (§§ 246, 248). Also wäre sie ein endliches Ding (§ 248), daher kontingent (§ 257) und noch dazu wäre dessen Gegenteil möglich (§ 101), und weil ihre Wirklichkeit kontingent wäre (§ 109), wäre die Wirklichkeit ihres Gegenteils möglich (§ 101). Doch das Gegenteil einer derartigen Sache könnte ausschließlich außerhalb dieser wirklich (§§ 81, 7) und das Gute und Böse der gesetzten Sache selbst gänzlich gleich sein (§§ 81, 267). Also würden zwei außereinander wirkliche gänzlich gleiche möglich, was § 272 widerspricht. Also kann eine Sache, die ebenso gänzlich gut wie böse wäre, nicht wirklich sein. Also gibt es ausschließlich entweder gute oder böse Veränderungen der menschlichen Seele. Also ist jede menschliche Seele in diesem Leben entweder glückselig oder unglückselig (§ 789). 40 Met. § 23: Alles Mögliche ist ein Grund, oder: »nichts ist ohne Folge«, nichts ohne Zusatz und Preis, nichts gänzlich ertraglos, untätig und unfruchtbar, oder: indem etwas gesetzt wird, wird dessen bestimmte Folge gesetzt. Denn alles Mögliche hat entweder eine Folge oder nicht (§ 10). Wenn es eine hat, ist etwas dessen Folge (§ 8), wenn es keine hat, ist nichts dessen Folge (§ 7). Also ist die Folge jedes Möglichen entweder nichts oder etwas (§ 10). Wenn nichts die Folge eines bestimmten Möglichen wäre, könnte es daraus erkannt werden (§ 14), daher wäre es etwas (§ 8) und noch dazu gewissermaßen ein mögliches Unmögliches (§§ 7–9). Dieser Satz wird Prinzip der Folge genannt. 41 S. Fn. 39. 39
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bona moralia, §. 29, M. 788,42 sunt realitates, M. §. 145,43 146,44 qua tales, non habentes pro consectariis in indefinitum, nisi realitates, M. §. 140,45 id est, bona, M. §. 147.46 Posteriores, peccata, M. §. 788,47 sunt negationes, M. §. 146, 147,48 qua tales,
Met. § 788: MALA spiritus ab eius libertate propius pendentia sunt STRICTE MORALIA, §. 787. (mala culpae, peccata); MALA LATE MORALIA spiritui sunt cum eius libertate propius connexa. Imperfectio ex his est CORRUPTIO MORALIS LATE, ex illis STRICTE DICTA. Complexus imperfectionum spiritui convenientium est INFELICITAS. Complementum corruptionis stricte moralis ad infelicitatem finiti spiritus est MISERIA, & mala, quibus positis ponitur, sunt DAMNA LATE DICTA (mala physica stricte dicta). Infelicitas est complexus miseriae corruptionisque moralis. 43 Met. § 145: Non est perfectio essentialis sine accidentiali, §. 98, 140. nec accidentialis sine essentiali, §. 98. non est imperfectio essentialis sine accidentiali, nec accidentialis sine essentiali, §. 143, 99. nec sunt perfectio et imperfectio essentialis opposita, §. 81, 142. 44 Met. § 146: Quo posito ponitur imperfectio, MALUM est, hinc negationes sunt malum, §. 142. eaque vel stricte dictae, MALUM METAPHYSICUM, quo posito ponitur imperfectio absolute necessaria, §. 142. vel privationes, MALUM CONTINGENS (physicum late dictum, cf. §. 788) quo posito ponitur imperfectio in se contingens, §. 144. 45 Met. § 140: Realitates, qua tales, non consentiunt nisi ad realitates. Rationatum enim merarum realitatum esse, est realitas. §. 36, 14. 46 Met. § 147: Positis entis realitatibus ponitur eius perfectio, §. 141. hinc realitates sunt bona, §. 100, et absolute quidem necessariae BONUM METAPHYSICUM, in se contingentes BONUM CONTINGENS (physicum late dictum, cf. §. 787.) 47 S. Fn. 42. 48 S. Fn. 44 u. 46. 42
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M. § 788,42 sind bejahend Bestimmte, M. §§ 145,43 146,44 die als solche ausschließlich bejahend Bestimmtes als Folgen bis ins mathematisch Unendliche haben, M. § 140,45 d. i. Gutes, M. § 147.46 Die letzteren, die Sünden, M. § 788,47 sind Verneinun-
Met. § 788: Das Böse des Geistes, das von dessen Freiheit abhängt, ist sittlich in engerer Bedeutung (§ 787) (böse Schuld, Sünde); das für den Geist sittlich Böse in weiterer Bedeutung ist mit dessen Freiheit näher verknüpft. Die Unvollkommenheit aus diesem ist das sittliche Verderben in weiterer, aus jenem in engerer Bedeutung. Der Zusammenhang der dem Geist zukommenden Unvollkommenheiten ist die Unglückseligkeit. Die Ergänzung des sittlichen Verderbens in engerer Bedeutung zur Unglückseligkeit eines endlichen Geistes ist das Elend, und das Übel, das, indem diese gesetzt werden, gesetzt wird, sind die Leiden (Widerwärtigkeiten, schmerzende Übel; physische Übel im weiten Sinne). Die Unglückseligkeit ist der Zusammenhang von Elend und sittlichem Verderben. 43 Met. § 145: Es gibt keine essentielle Vollkommenheit ohne akzidentielle (§§ 98, 140) und keine akzidentielle ohne essentielle (§ 98), und es gibt keine essentielle Unvollkommenheit ohne akzidentielle und keine akzidentielle ohne essentielle (§§ 143, 99), und essentielle Vollkommenheit und Unvollkommenheit sind keine Gegensätze (§§ 81, 142). 44 Met. § 146: Wodurch, indem es gesetzt wird, eine Unvollkommenheit gesetzt wird, ist das Böse (Übel), daher sind Verneinungen böse (§ 142), und diese entweder im strengen Sinne das metaphysische Böse, wodurch, indem es gesetzt wird, eine unbedingt notwendige Unvollkommenheit gesetzt wird (§ 142), oder Beraubungen, das zufällige Böse (das physische im weiten Sinne, vgl. § 788), wodurch, indem es gesetzt wird, eine an und für sich kontingente Unvollkommenheit gesetzt wird (§ 144). 45 Met. § 140: Bestimmtheiten stimmen als solche ausschließlich zu Bestimmtheiten überein. Die Folge nämlich reiner Bestimmtheiten zu sein, ist die Bestimmtheit (§§ 36, 14). 46 Met. § 147: Indem die Bestimmtheiten eines Dings gesetzt werden, wird dessen Vollkommenheit gesetzt (§ 141), daher sind Bestimmtheiten gut (§ 100), und zwar die unbedingt notwendigen das metaphysische Gute, die an und für sich kontingenten das zufällige Gute (das physische im weiten Sinne, vgl. § 788). 47 S. Fn. 42. 42
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non habentes, pro consectariis, in indefinitum, nisi negationes, M. § 139,49 23,50 id est, mala, M. §. 146.51 BONA et MALA MORALIA, quorum consectaria respective bona vel mala durant adhuc post mortem bene agentis et peccantis, dicuntur IMMORTALIA. Omnia bona moralia, omnia peccata sunt immortalia. §. 33. Quod bona CONSECTARIA habet, eatenus bonum est, quod mala, eatenus malum est, §. 32. Haec autem aut propius satisque connectuntur cum libera determinatione per naturam eius, et subiecti, cui inest, NATURALIA, aut per arbitrium alicuius liberum, ARBITRARIA, aut per utrumque, §. 29. Hinc consectarium naturale si sit, illud ideo prorsus non esse arbitrarium, arbitrarium si sit, illud ideo prorsus non esse naturale, perperam concluditur, §. 30. | 15
§. 34. Quaedam determinationum liberarum consectaria possunt satis propriusque cognosci I) ex ipsarum 1) essentialibus, 2) essentia, 3) reliquis foecundis variis i. e. determinatio-
Met. § 139: Ens negativum, qua tale, non est positivum, §. 135. at, si consentiret, qua negatio, ad unam realitatem, esset realitas, §. 94, 36. hinc ens negativum, qua tale, non consentit in ente reali, cui inest, §. 137. ad unam realitatem. 50 S. Fn. 40. 51 S. Fn. 44. 49
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gen, M. §§ 146, 147,48 die als solche ausschließlich Verneinungen als Folgen bis ins mathematisch Unendliche haben, M. §§ 139,49 23,50 d. i. Böses, M. § 146.51 Moralisch Gutes und Böses, dessen jeweils gute und böse Folgen bis nach dem Tode des gut Handelnden und Sündigenden dauern, wird unsterblich genannt. Alles sittlich Gute, alle Sünden sind unsterblich. § 33 Was gute Folgen hat, ist insoweit Gutes, was böse hat, ist insoweit Böses, § 32. Diese aber werden entweder näher und hinreichend mit einer freien Bestimmung durch deren Natur und der des Subjekts, dem sie innewohnt, verbunden – und sind natürliche – oder durch irgendjemandes freie Willkür – und sind willkürliche – oder durch beides, § 29. Daher wird fälschlich geschlossen, dass, wenn eine Folge natürlich ist, jene deswegen geradewegs keine willkürliche sei, und, wenn eine willkürlich ist, jene deswegen geradewegs keine natürliche sei, § 30. § 34 Manche Folgen freier Bestimmungen können hinreichend und näher erkannt werden I) aus derselben 1) wesentlichen Bestimmungen, 2) Wesen, und 3) den übrigen fruchtbaren veränderlichen Bestimmungen, d. i. die Natur der freien
S. Fn. 44 u. 46. Met. § 139: Ein verneinendes Etwas ist als solches nicht bejahend (§ 135). Doch wenn es als Verneinung zu einer Bestimmtheit übereinstimmte, wäre es eine Bestimmtheit (§§ 94, 36). Daher stimmt ein verneinendes Etwas als solches nicht in dem bejahenden Etwas, dem es innewohnt (§ 137), zu einer Bestimmung überein. 50 S. Fn. 40. 51 S. Fn. 44. 48 49
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nis liberae natura, M. §. 430,52 197.53 Quaedam* II) ex NATURA 1) corporis, 2) animae, 3) utriusque coniuncta, S. HUMANA agentis s. libere se determinantis. Ergo sunt consectaria quarundam determinationum liberarum naturalia, §. 33. Immo quum natura nullius actionis, nullius agentis sit omnino sterilis et sine rationato, M. §. 23,54 omnium determinationum liberarum dantur consectaria naturalia, §. 33, eaque semper vel bona, vel mala, §. 32. §. 35. Quoniam §. 34. patet independenter a propositionibus, quas atheismus theoreticus tollit, M. §. 999:55 atheus theoreticus, etiam qua talis, potest de bono maloque morali, §. 33, consectariisque, bonis illius, huius malis, convinci.
Met. § 430: NATURA (cf. §. 431, 466.) entis est complexus earum eius determinationum internarum, quae mutationum eius, aut in genere accidentium ipsi inhaerentium sunt principia. Hinc ad naturam entis pertinent 1) essentialia eius, §. 39. 2) essentia, §. 40. 3) facultates, 4) receptivitates, §. 216. 5) vires, quibus instructum est, omnes, §. 197. Initium naturae est ORIGO, duratio VITA, finis MORS, cf. §. 556. 53 Met. § 197: Si substantiae inhaerent accidentia, est aliquid inhaerentiae ratio, §. 20. s. VIS LATIUS DICTA, (efficacia, energia, activitas cf. §. 216.) & sufficiens, §. 22. Hoc est VIS STRICTIUS DICTA, (& brevitatis caussa nonnumquam simpliciter). 54 S. Fn. 40. 55 Met. § 999: NATURALISTA SIGNIFICATU STRICTIORI (cf. §. 493.) est negans in hoc mundo revelationem dei stricte dictam. ATHEUS (theoreticus) negans dei existentiam, errat, §. 811, 854. Naturalismus significatu neutro ponit atheismum necessario, §. 493. 52
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AA 19: , quaedam.
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Bestimmung, M. §§ 430,52 197.53 Manche II) aus der Natur 1) des Leibes, 2) der Seele und 3) beider Verbindung bzw. der menschlichen Natur des Handelnden bzw. sich frei Bestimmenden. Also sind die Folgen mancher freier Bestimmungen natürliche, § 33. Weil allerdings die Natur keiner Handlung, keines Handelnden gänzlich ohne dadurch Begründetes ist, M. § 23,54 gibt es von allen freien Bestimmungen natürliche Folgen, § 33, und diese sind immer entweder gut oder böse, § 32. § 35 Nachdem es Paragraph 34 unabhängig von den Sätzen zeigt, die der theoretische Atheismus hinwegnimmt, M. § 999,55 kann ein theoretischer Atheist, auch als solcher, vom moralisch Guten und Bösen, § 33, und jenes guten, dessen bösen Folgen überzeugt werden.
Met. § 430: Die Natur (vgl. §§ 431, 466) eines Dings ist der Zusammenhang derjenigen seiner inneren Bestimmungen, welche die Quellen seiner Veränderungen oder im allgemeinen: der ihm inhärierenden Akzidentien sind. Daher gehören zur Natur eines Dings 1) seine wesentlichen Bestimmungen (§ 39), 2) das Wesen (§ 40), die Vermögen, 4) die Empfänglichkeiten (§ 216), 5) alle Kräfte, mit welchen es ausgestattet worden ist (§ 197). Der Anfang der Natur ist die Erzeugung, die Dauer das Leben und das Ende der Tod (vgl. § 556). 53 Met. § 197: Wenn einem an und für sich bestehenden Ding Akzidentien inhärieren, ist etwas der Grund der Inhärenz (§ 20) bzw. die Kraft in weiterer Bedeutung (Wirksamkeit, Verwirklichung, Tätigkeit, vgl. § 216) und ein zureichender. Dies ist die Kraft in engerer Bedeutung (und der Kürze halber manchmal einfach die Ursache). 54 S. Fn. 40. 55 Met. §. 999: Ein Naturalist in engerer Bedeutung (vgl. § 493) ist einer, der in dieser Welt eine Offenbarung Gottes in strengem Sinne leugnet. Der (theoretische) Atheist, der die Wirklichkeit Gottes leugnet, irrt (§§ 811, 854). Der Naturalismus setzt in keiner von beiden Bedeutungen notwendigerweise den Atheismus (§ 493). 52
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§. 36. ACTIONES PER SE BONAE, vel MALAE dicuntur, quae cognosci possunt, ut tales, abstrahendo ab omni arbitrio eas vel has, vel illas esse volente. Ergo dantur actiones per se bonae malaeve, §. 33, 34. Actiones liberae bonae se habent ad perfectionem, uti remedia, M. §. 100,56 341,57 malae, ut impe | dimenta, M. §. 221,58 146.59 Respectus et habitudo actionis liberae ad perfectionem est eiusdem MORALITAS. Ergo moralitas actionibus tribuitur, vel quatenus spectantur, ut per se bonae malaeve, OBIECTIVA (perseitas ante voluntatem dei, e. c.) vel quatenus bonae malaeve sunt, propter arbitrium alicuius liberum, SUBIECTIVA. §. 37. Moralitas obiectiva tribuenda est determinationibus liberis, §. 36, ab ipsis atheis theoreticis, §. 35. Neque tamen eius defensores tenentur ponere, 1) actiones extra omnem nexum etiam cum perfectione suisque consectariis spectatas, iam esse bonas, vel malas, §. 36, 33, 2) moralitatem omnem esse tantum in intellectu, velut ens rationis, nescio quod, M. §. 62,60 3) exsistentiam moralitatis in factis habere posse rationem suf-
Met. § 100: BONUM est, quo posito ponitur perfectio. Ergo omne ens est bonum transcendentaliter § 99. 57 S. Fn. 29. 58 Met. § 221: IMPEDIMENTUM (obstaculum) est oppositum accidentis inhaerentiae, hinc & oppositum mutationibus est impedimentum, §. 210. 59 S. Fn. 44. 60 Met. § 62: NON ENS (negativum cf. §. 54.) esset possibile, qua existentiam, non determinabile, §. 61. At hoc impossibile, §. 10, etsi videtur esse ens, est ENS FICTUM (rationis rationantis, cf. §. 647.) 56
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§ 36 An sich gute oder böse Handlungen werden genannt, welche als solche erkannt werden können, indem man von aller Willkür absieht, die will, dass diese entweder dies oder jenes sind. Also gibt es an sich gute oder böse Handlungen, §§ 33, 34. Gute freie Handlungen verhalten sich zur Vollkommenheit wie Hilfsmittel, M. §§ 100,56 341,57 böse wie Hindernisse, M. §§ 221,58 146.59 Hinsicht und Beziehung einer freien Handlung zur Vollkommenheit ist die Moralität derselben. Also wird freien Handlungen entweder objektive (die Ansichheit vor dem Willen Gottes usw.) Moralität zugesprochen, sofern sie als an sich gute oder böse betrachtet werden, oder subjektive, sofern sie wegen irgendjemandes freier Willkür gut oder böse sind. § 37 Objektive Moralität ist freien Bestimmungen, § 36, selbst von theoretischen Atheisten zuzuschreiben, § 35. Und trotzdem sind deren Verteidiger nicht gehalten zu behaupten, 1) dass auch Handlungen, die außerhalb aller Verknüpfung mit der Vollkommenheit und ihren eigenen Folgen betrachtet werden, schon gute oder böse sind, §§ 36, 33; 2) dass alle Moralität bloß im Verstande ist, gleichsam ein Gedankending – ich weiß nicht, welches –, M. § 62;60 3) dass die Wirklichkeit der Moralität in den Taten einen schlechthin als solchen zureichenden Grund außerhalb des Willens Gottes haben kann,
Met. § 100: Gut ist, wodurch, indem es gesetzt wird, Vollkommenheit gesetzt wird. Also: »Jedes Ding ist – wesentlich – gut« (§ 99). 57 S. Fn. 29. 58 Met. § 221: Ein Hindernis ist der Inhärenz eines Akzidens’ entgegengesetzt, daher ist ein Hindernis auch Veränderungen entgegengesetzt (§ 210). 59 S. Fn. 44. 60 Met. § 62: Ein Unding (ein verneinendes, vgl. § 54) wäre ein Mögliches, das als Wirklichkeit nicht bestimmbar ist (§ 61). Doch dies Unmögliche (§ 10), auch wenn es ein Ding zu sein scheint, ist ein erdichtetes Ding (der schließenden Vernunft, vgl. § 647). 56
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ficientem simpliciter talem extra voluntatem dei, M. §. 933,61 4) omnia actionum liberarum consectaria per solam actionis agentisve naturam determinari, §. 33, M. 408,62 hinc 5) nullam esse moralitatem subiectivam, §. 36.
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§. 38. Moralitas subiectiva per positam obiectivam, nec in actionibus quidem per se bonis malisve, tollitur, nec tollit obiectivam, nec in iisdem quidem actionibus liberis, §. 37, 33. Cognosci ab hoc, vell illo, | aut ignorari, nunc utraque potest, nunc [alterultra]*, M. §. 515.63 Unde ab ignorantia forsan nostra vel huius, vel illius, vel utriusque, ad negationem vel utriusque, vel Met. § 933: Deus hunc mundum creavit liberrime, §. 932. Ergo eum creare voluit, §. 893. voluit efficienter, §. 671. hinc & plene, quia infallibilis est, §. 879. adeoque ex motivis completis consequenter. Ergo deus hunc mundum creare decrevit, §. 695. & omni quidem significatu efficaciter, §. 675. 62 Met. § 408: Monades huius mundi simultaneae locum, successivae sibi mutuo determinant aetatem, §. 281, 85. hinc in se mutuo inf luunt, §. 211. in conf lictu positae, §. 213. Ergo est in hoc mundo inf luxus & conf lictus universalis, §. 48, 306. (bellum omnium contra omnes, concordia discors, discordia concors, §. 364). 63 Met. § 515: Cognitio vera est realitas, §. 12, 36. cuius oppositum, cognitio nulla s. defectus cognitionis, IGNORANTIA, et cognitio apparens s. ERROR, sunt negationes, §. 81, 36. Cognitio minima est unici minimi minime vera, §. 161. Ergo quo plures, quo maiorum, quo verior est, hoc maior est, §. 160. donec sit maxima plurimorum maximorum verissima. Gradus COGNITIONIS, quo plura cognoscit, est eius UBERTAS (copia, extensio, divitiae, vastitas), quo pauciora, ANGUSTIA, quo maiora, est DIGNITAS (nobilitas, magnitudo, gravitas, maiestas), quo minora, VILITAS (exilitas, levitas). Quo veriora, quo maiori ordine coniungit cognitio, hoc verior, §. 184. hinc maior est; COGNITIO veriora sistens EXACTA (exasciata) est, minus vera exhibens, CRASSA. Maior in cognitione ordo, s. METHODUS, est COGNITIONIS METHODICUM (acroamaticum, disciplinale), minor TUMULTARIUM. Cognitio eiusque repraesentationes in anima mea sunt vel minores vel maiores, §. 214. iisque, qua rationes sunt, ARGUMENTA LATIUS DICTA, vis & 61
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Konj. AA 19; i. Org,: nunc ignorari.
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M. § 933;61 4) dass alle Folgen freier Handlungen allein durch die Natur der Handlungen oder des Handelnden bestimmt werden, § 33, M. § 408;62 dass es daher 5) keine subjektive Moralität gibt, § 36. § 38 Die subjektive Moralität wird durch gesetzte objektive nicht hinweggenommen, nicht einmal bei an sich guten oder bösen Handlungen, und sie nimmt nicht die objektive hinweg, nicht einmal bei denselben freien Handlungen, §§ 37, 33. Von diesem oder jenem kann bald jede von beiden, bald eine von beiden erkannt oder nicht gewusst werden, M. § 515.63 WesweMet. § 933: Gott hat diese Welt in freiester Weise geschaffen (§ 932). Also hat er diese schaffen wollen (§ 893), hat es in wirksamer Weise gewollt (§ 671), daher auch völlig, weil er unfehlbar ist (§ 879), und noch dazu folgerichtig aus vollständigen Beweggründen. Also hat Gott beschlossen, diese Welt zu schaffen, (§ 695) und zwar in jeder Bedeutung auf wirksame Weise (§ 675). 62 Met. § 408: Die gleichzeitigen Monaden dieser Welt bestimmen einander wechselweise den Ort, die aufeinanderfolgenden das Alter (§§ 281, 85), daher beeinflussen die in Streit gesetzten (§ 213) einander wechselweise (§ 211). Also ist in dieser Welt allgemeiner Einfluss und Streit (§§ 48, 306) (»Krieg aller gegen alle«, »zwieträchtige Eintracht«, »einträchtige Zwietracht«). 63 Met. § 515: Eine wahre Erkenntnis ist die Bestimmtheit (§§ 12, 36), deren Gegenteil – keine Erkenntnis bzw. Mangel an Erkenntnis, Unwissenheit, und scheinbare Erkenntnis bzw. Irrtum – Verneinungen sind (§§ 81, 36). Die kleinste Erkenntnis eines einzigen Kleinsten ist auf die kleinste Weise wahr (§ 161). Also je mehrerer, je größerer, je wahrer sie ist, desto größer ist sie (§ 160), bis dass sie die größte des meisten, des größten und die wahrste ist. Die Stufe der Erkenntnis, wodurch sie mehr erkennt, ist ihr Reichtum, wodurch weniger, Armut, wodurch Größeres, ist Wichtigkeit, wodurch Kleineres, Geringschätzigkeit. Je wahrere, je größere Ordnung eine Erkenntnis stiftet, desto wahrer (§ 184), daher größer ist sie; indem eine Erkenntnis Wahreres feststellt, ist sie genau, indem sie weniger Wahres darstellt, grob. Die größere Ordnung in der Erkenntnis bzw. die Methode ist die methodische Erkenntnis, kleinere ein Gemenge. Die Erkenntnis und deren Vorstellungen in meiner Seele sind teils kleinere, teils größere (§ 214), und diesen wird, soweit sie 61
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huius, vel illius, non valet consequentia. Quumque nunc haec, nunc illa certis in determinationibus liberis, a certis subiectis, facilius cognosci possit, deusque certo velit bonum, M. §. 899,64 quidam homines probabiliter: ab aliunde cognita moralitate subiectiva propter arbitrium dei certa; propter arbitrium hominum quorundam probabilis ad moralitatem obiectivam similem, §. 35; ab aliunde cognita moralitate obiectiva ad subiec-
efficacia tribuitur, §. 197. Nulla cognitio est totaliter sterilis, §. 23. cognitio tamen maioris efficaciae, s. ROBORIS, est FORTIOR, minoris, quae IMBECILITAS, DEBILIOR (imbellis, iners). Repraesentationes debiliores ortae statum animae minus, fortiores magis mutant, §. 208, 214. 64 Met. § 899: Deus vult liberrime, §. 898. Ergo bonum, §. 719, 665. Deus aversatur liberrime, §. 898. Ergo malum, §. 719, 665. Volitio s. amor boni, odium s. nolitio mali in deo infinita sunt, §. 844. 1) extensive, dum amat omne bonum, odit omne malum, §. 898, 889. 2) protensive, dum aeterna sunt, §. 849. & 3) intensive, dum proportionalissima, §. 894. Volitio nolitiove divina extensive infinita, quia non esse potest in deo scientia mortua & mere speculativa, §. 873. fertur in obiecta 1) simplicis intelligentiae, universalis, quae nobis notiones exhibent, & quicquid in iis est boni malive, erga quod deus non potest esse totaliter indifferens, §. 891. 2) scientiae mediae, actualia universi alterius, 3) scientiae liberae, §. 874, 874. VOLUNTAS DEI, quatenus obiecta scientiae liberae, s. actualia huius universi appetit, CONSEQUENS, quatenus fertur in universalia & actualia alterius universi ANTECEDENS dicitur, per reductionem, §. 826, 695. illa efficiens, §. 671. utraque efficax, antecedens etiam, non tantum, quia seria, sed etiam, quia est in motivis decreti, §. 675.
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gen etwa von unserer Unwissenheit dieser oder jener oder beider auf die Verneinung beider oder dieser oder jener kein Schluss gilt. Und weil bald diese, bald jene in bestimmten freien Bestimmungen von bestimmten Subjekten leichter erkannt werden kann und Gott gewisslich Gutes will, M. § 899,64 und einige Menschen wahrscheinlich, gilt von der anderswoher erkannten subjektiven Moralität in Rücksicht auf die Willkür Gottes ein gewisser, in Rücksicht auf die Willkür mancher Menschen ein wahrscheinlicher Schluss auf eine ähnliche objektive Moralität, § 35; gilt von der anderswoher erkannten objektiven Moralität auf die subjektive in Rücksicht auf die WillGründe sind, Schlüsse in weiterer Bedeutung, Kraft und Wirksamkeit zugeschrieben (§ 197). Keine Erkenntnis ist gänzlich unfruchtbar (§ 23), doch ist eine Erkenntnis von größerer Wirksamkeit bzw. Stärke stärker, von kleinerer, die Schwäche ist, schwächer. Schwächere Vorstellungen verändern den Zustand einer entstandenen Seele weniger, stärkere mehr (§§ 208, 214). 64 Met. § 899: Gott will in der freiesten Weise (§ 898). Also Gutes (§§ 719, 665). Gott ist in der freiesten Weise abgeneigt (§ 898). Also Bösem (§§ 719, 665). Das Wollen bzw. die Liebe des Guten, der Hass bzw. das Nicht-Wollen des Bösen sind in Gott unendlich (§ 844) 1) in extensiver Weise, weil er alles Gute liebt, alles Böse hasst (§§ 898, 889), 2) in protensiver Weise, weil sie ewig (§ 849), und 3) in intensiver Weise, weil sie am angemessensten (§ 894) sind. Weil in Gott kein totes und bloß eitles Wissen sein kann (§ 873), richtet sich das extensiv unendliche göttliche Wollen oder Nicht-Wollen auf die Gegenstände 1) der Wissenschaft des Möglichen, das Allgemeine, welches uns die universalen Begriffe darstellen und was immer an diesen vom Guten oder Bösen ist, wogegen Gott nicht gänzlich gleichgültig sein kann (§ 891); 2) des mittleren Wissens, das Wirkliche eines anderen Universums; 3) der freien Wissenschaft (§§ 874, 876). Sofern der Wille Gottes Gegenstände der freien Wissenschaft bzw. Wirkliches dieser Welt begehrt, wird er der nachfolgende genannt, gemäß negativer Bestimmung (§§ 826, 695) der vorhergehende, sofern er sich auf Allgemeines und das Wirkliche einer anderen Welt richtet; jener wird wirkend (§ 671) genannt, jeder von beiden wirksam, auch der vorhergehende, nicht bloß weil er ernstlich, sondern auch, weil er unter den Bewegungsgründen eines Beschlusses ist (§ 675).
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tivam propter arbitrium dei certa; ad subiectivam propter arbitrium hominum probabilis valet consequentia, §. 28.
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§. 39. Cum committendo bono potiores caussae impulsivae connexae sunt hominibus, quam cum omittendo, §. 31, M. 665.65 Committens autem bonum omittit malum, §. 31, M. 146.66 Ergo hominibus potiores caussae impulsivae connexae sunt, cum omittendo malo, quam cum committendo, i. e. Homo* obligatur ad committendum bonum, hinc omittendum malum, §. 15. Imperativi in disciplinis practicis significant, hominem obligari. Hinc committe s. fac bonum, adeoque omitte malum. Haec obligatio | potest per naturam, et naturales vires rationis et analogi eius, §. 15, M. 640,67 ex natura boni malique libere
Met. § 665: Lex facultatis appetitiva haec est: Quae placentia praevidens exsistura nisu meo praesagio, nitor producere. Quae displicentia praevidens impendiendo nisu meo praesagio, eorum opposito appeto, §. 664, 663. Hinc multa bona & mala, sub ratione boni, possum appetere. Multa mala & bona, sub ratione mali, possum aversari, §. 651. 66 S. Fn. 44. 67 Met. § 640: Nexum quorundam confuse, quorundam distincte percipio. Ergo habeo intellectum nexum rerum perspicientem. §. 402, 216. i. e. RATIONEM, & facultates nexus confusius cognoscentes, quales 1) inferior facultas identitates rerum cognoscendi, §. 572, 279. quo ingenium sensitivum, §. 575. 2) inferior facultas diversitates rerum cognoscendi, §. 572, 279. quo acumen sensitivum pertinet, §. 575. 3) memoria sensitiva, §. 579, 306. 4) facultas fingendi, §. 589. 5) facultas diiudicandi, §. 606, 94. quo iudicium sensitivum, §. 607. & sensuum, §. 608. 6) exspectatio casuum similium, §. 610, 612. 7) facultas characteristica sensitiva, §. 619, 347. Hae omnes, quatenus in repraesentando 65
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AA 19: homo.
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kür Gottes ein gewisser, auf die subjektive in Rücksicht auf die Willkür der Menschen ein wahrscheinlicher Schluss, § 28. § 39 Mit zu begehendem Gutem sind für die Menschen stärkere Bewegungsgründe verknüpft als mit zu unterlassendem, § 31, M. § 665.65 Einer aber, der Gutes begeht, unterlässt Böses, § 31, M. § 146.66 Also sind für die Menschen mit zu unterlassendem Bösen stärkere Bewegungsgründe als mit zu begehendem verknüpft, d. i.: Der Mensch ist verpflichtet, Gutes zu begehen, daher Böses zu unterlassen, § 15. Befehlssätze (Imperative) bezeichnen in den praktischen Lehrfächern, dass der Mensch verpflichtet wird. Daher begehe bzw. »Tue Gutes!« und unterlasse noch dazu Böses! Diese Verpflichtung kann durch die Natur und die natürlichen Kräfte der Vernunft und deren Analogons, § 15, M. § 640,67 aus der Natur des frei zu begehenden Met. § 665: Das Gesetz des Begehrungsvermögens ist dies: »Welches Gefallen, das ich, indem ich seine zukünftige Wirklichkeit durch meine Bemühung voraussehe, erwarte, bemühe ich mich hervorzubringen. Welches Missfallen, das ich, indem ich, dass es durch meine Anstrengung drohen kann, voraussehe, erwarte, dessen Gegenteil begehre ich (§§ 664, 663).« Daher kann ich viel Gutes und Böses unter dem Begriff des Guten begehren. Vielem Bösen und Guten kann ich unter dem Begriff des Bösen abgeneigt sein (§ 651). 66 S. Fn. 44. 67 Met. § 640: Die Verknüpfung nehme ich manchmal verworren, manchmal deutlich wahr. Also habe ich ein oberes Erkenntnisvermögen, das die Verknüpfung der Dinge einsieht (§§ 402, 216), d. i. die Vernunft, und Vermögen, welche die Verknüpfung verworrener erkennen, welche sind 1) das untere Vermögen, die Identitäten der Dinge zu erkennen (§§ 572, 279), wozu der sinnliche Witz (§ 575), 2) das untere Vermögen, die Unterschiede der Dinge zu erkennen (§§ 572, 279), wozu der sinnliche Scharfsinn gehört (§ 575), das sinnliche Gedächtnis (§§ 579, 306), 4) das Dichtungsvermögen, (§ 589), 5) das Beurteilungsvermögen (§§ 606, 94), wodurch Geschmacks- (§ 607) und Sinnenurteil (§ 608), 6) die Erwartung ähnlicher Fälle (§§ 610, 612) und 7) das Vermögen der Kunde empfindbarer Zeichen (§§ 619, 347). All diese, sofern sie beim Vorstellen der Verknüpfung der Dinge der Vernunft ähn65
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committendi, vel omittendi, hominisque et animae humanae, M. §. 758,68 satis cognosci. Ergo naturalis est, §. 29. Unde natura nos obligare dicitur ad bona committenda, omittenda mala, adeoque etiam ad bona per se committenda, et hinc mala per se omittenda, §. 36. §. 40. Bonum et melius, aut in pluribus bonis optimum, si fiant sibi invicem opposita, M. §. 81,69 aut impedimenta, M. §. 221,70
rerum nexu rationi similes sunt, constituunt ANALOGON RATIONIS, §. 70. complexum facultatum animae nexum confuse repraesentantium. 68 Met. § 758: Vis repraesentativa universi pro positu corporis, cum hinc pendentibus ipsius modis, est complexus determinationum animae internarum, quae mutationum eius & inhaerentium ipsi accidentium principia sunt, § 751–755. Ergo vis eadem cum determinationibus suis ex positu corporis pendentibus est natura animae humanae, §. 430. Hinc quicquid per hanc vim secundum leges regulasque singularum facultatum determinatam actuatur in anima humana, est naturale animae humanae, §. 470, quatenus contradistinguitur supernaturali, §. 469. Hoc significatu actiones etiam liberae & morales animae sunt naturales, §. 756, 755. Praeter hunc proprium significatum naturae in anima humana, & hinc naturalis in eadem, sunt alii improprii, & synecdochici, nunc ex confusione partis cum toto male orti, nunc inde, quod ex peculiari modo, modificatione, vel statu naturae in anima humana conceptibilibus peculiare nomen inhaesit, & tunc reliquis naturalibus peculiari nomine destitutis, tale adeptis si contradistinguenda fuerunt, nomen generis remansit in significatu strictiori. Sic e. g. connata nonnumquam naturalia dicuntur contradistincta acquisitis, naturalia contradistinguuntur artificialibus, socialibus, arbitrariis, per consuetudinem demum impetratis, etc. cf. §. 710. 69 S. Fn. 8. 70 S. Fn. 58.
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oder zu unterlassenden Guten und Bösen und des Menschen und der menschlichen Seele, M. § 758,68 hinreichend erkannt werden. Also ist sie eine natürliche, § 29. Weswegen von der Natur gesagt wird, dass sie uns verpflichte, Gutes zu begehen, Böses zu unterlassen, ja sogar auch an sich Gutes zu begehen und daher an sich Böses zu unterlassen, § 36. § 40 Wenn Gutes und Besseres oder das unter mehreren Guten Beste wechselweise Gegensätze, M. § 81,69 oder Hinder-
lich sind, bilden das analogon rationis (§ 70), den Zusammenhang der Seelenvermögen, welche die Verknüpfung verworren vorstellen. 68 Met. § 758: Die Kraft, die das Universum gemäß der Lage des Körpers vorstellen kann, ist, zusammen mit den daher von ihr abhängenden Zufälligkeiten, der Zusammenhang der inneren Bestimmungen der Seele, welche die Quellen ihrer Veränderungen und der ihr inhärierenden Akzidentien sind (§§ 751–755). Also ist dieselbe Kraft zusammen mit ihren von der Lage des Körpers abhängenden Bestimmungen die Natur der menschlichen Seele (§ 430). Daher ist, was immer Bestimmtes durch diese Kraft gemäß den Gesetzen und Richtschnüren der einzelnen Vermögen in der menschlichen Seele verwirklicht wird, der menschlichen Seele natürlich (§ 470), sofern es scharf vom Übernatürlichen unterschieden wird (§ 469). In dieser Bedeutung sind auch die freien und sittlichen Handlungen der Seele natürlich (§§ 756, 755). Neben dieser eigentlichen Bedeutung der Natur in der menschlichen Seele und daher des Natürlichen in ihr gibt es andere uneigentliche und durch Synekdoche gebildete, bald aus einer schlechten Verwechslung des Teils mit dem Ganzen entstandene, bald deswegen, weil aus einer besonderen Zufälligkeit, einer Veränderung oder einem Zustand der Natur in der menschlichen Seele am Begreiflichen ein besonderer Name hängenbleibt und dann den übrigen, eines besonderen Namens beraubten Natürlichen, die einen solchen erlangt hätten, wenn sie scharf unterschieden worden wären, ein Gattungsname in engerer Bedeutung bleibt. So z. B. wird angeborenes Naturliches nicht selten von erworbenem scharf unterschieden genannt, Natürliches wird scharf unterschieden von Künstlichem, Gesellschaftlichem, Willkürlichem, nur durch Gewohnheit Erlangtem usw. (vgl.§ 710). 69 S. Fn. 8.
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caussae impulsivae potiores connexae sunt cum committendo meliori et optimo, omittendis minus bonis, quae impedientia maius bonum, ac ipsa sunt, magis mala, quam bona sunt, M. §. 146,71 hinc malis a potiori accensenda, M. §. 790, 697.72 Ergo bonorum sibi vere oppositorum, ita, ut ambo fieri nequeant, M. §. 81,73 committe melius et optimum, omitte minus bona, §. 39. Malum et peius, aut in pluribus malis pessimum si sibi invicem vere opponantur, ut impedimenta mutua, M. §. 221,74 et ita quidem, ut unum ex iis eligere sit factu tibi optimum, ob eandem rationem committe, s. fac minus mala, dum impediunt maiora, ac ipsa sunt, bonis a potiori accensenda, omitte peiora, et pessimum, §. 39. | 19
§. 41: Commissio mali peius, non aliter impediendum, impedituri, et omissio boni melius, non aliter consequendum, [consecuturi]* est ABNEGATIO. Ergo obligatio ad abnegationem naturalis, §. 40, 29, OBLIGATIO RATIONALIS est, vel quae per rationem, vel quae per rationem sine fide cognosci potest. Et utroque significatu obligatio ad abnegationem rationalis est, §. 40, 39. §. 42. Obligatio ad malum, qua tale, committendum, bonum, qua tale, omittendum, ad committendum minus bonum, et
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S. Fn. 44. S. Fn. 39 u. 21. S. Fn. 8. S. Fn. 58. Org. u. AA 19: impedituri.
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nisse, M. § 221,70 werden, sind die stärkeren bewegenden Ursachen mit dem zu begehenden Besseren und Besten, den zu unterlassenden weniger Guten verknüpft, die, indem sie ein größeres Gut verhindern, selbst sogar mehr böse als gut, M. § 146,71 daher a potiori den bösen hinzuzählen sind, M. §§ 790, 697.72 Also begehe von einander wahrhaft so entgegensetzten Guten, dass nicht beide getan zu werden vermögen, M. § 81,73 das bessere und beste, unterlasse die weniger Guten, § 39! Wenn Böses und Schlimmeres oder das unter mehreren Bösen Schlimmste einander wahrhaft, wie wechselseitige Hindernisse, M. § 221,74 entgegengesetzt sind, und zwar so, dass eines von diesen ausgewählt werden muss, tue du das für dich beste, aus demselben Grund begehe bzw. tue die weniger Bösen; solange sie größere verhindern, sind sie sogar selbst a potiori den Guten hinzuzählen; unterlasse die Schlimmeren und das Schlimmste, § 39. § 41 Die Begehung eines Bösen durch einen, der Schlimmeres, das nicht anders zu verhindern ist, verhindern will, und die Unterlassung eines Guten durch einen, der Besseres, das nicht anders eintreten kann, erreichen will, ist die Verleugnung. Also ist die natürliche Verpflichtung zur Verleugnung, §§ 40, 29, eine rationale Verpflichtung, die entweder durch die Vernunft oder durch die Vernunft ohne Glauben erkannt werden kann. Und in beider Bedeutung ist die Verpflichtung zur Verleugnung eine rationale, §§ 40, 39. § 42 Eine Verpflichtung, Böses als solches zu begehen, Gutes als solches zu unterlassen, weniger Gutes zu begehen und we70 71 72 73 74
S. Fn. 58. S. Fn. 44. S. Fn. 39 u. 21. S. Fn. 8. S. Fn. 58.
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omittendum minus malum in casu §. 41, nec naturalis est, nec rationalis, §. 41, immo nulla, §. 23.
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§. 43. Qui bona committit, quia bona sunt, ea committit, quia iis positis ponitur perfectio, M. §. 100.75 Qui aliquid committit, quia eo posito ponitur perfectio, QUAERIT PERFECTIONEM. Ergo quaere perfectionem, §. 39. Iam moraliter impossibilium aeque nulla est obligatio, ac absolute et naturaliter simpliciter impossibilium, §. 11, 23. Ergo quaere perfectionem, quantum potes i. e. in eo intensionis gradu, qui tibi in se possibilis, nec supra potestatem tuam positus, nec legibus fortioribus moraliter impossibilis redditus est, M. §. 723,76 446.77 Perfectionis, | quam quaerere poteris, ratio determinans s. focus observabilior erit vel in te, vel in alio ponenda realitas, M. §. 141.78
S. Fn. 56. S. Fn. 7. 77 Met. § 446: Si in mundo perfectissimo collidantur ratio perfectionis sufficiens & insufficiens, fit exceptio ab insufficienti: si collidantur foecundior & minus foecunda, fit exceptio a minus foecunda; si gravior & minus gravis, fit exceptio a minus gravi; si ulterior & propior ulteriori subordinata, fit exceptio a propiori; si secundum quid sufficiens & simpliciter talis, fit exceptio a sufficiente secundum quid; si inferior & superior, fit exceptio ab inferiori. Quaecunque tandem regula perfectionis in mundo perfectissimo collidatur cum summa, ab ea excipitur, §. 186, 445. 78 Met. § 141: Omne ens est perfectum, §. 99. et reale §. 137. hinc eius perfectio, qua talis, est consensus realitatum ad unam, §. 94, 140. 75 76
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niger Böses im Falle von § 41 zu unterlassen, ist weder eine natürliche noch eine rationale, § 41, vielmehr gar keine, § 23. § 43 Wer Gutes begeht, weil es gut ist, begeht dies, weil, indem dies gesetzt wird, Vollkommenheit gesetzt wird, M. § 100.75 Wer etwas begeht, weil, indem dies gesetzt wird, Vollkommenheit gesetzt wird, strebt nach Vollkommenheit. Also »strebe nach Vollkommenheit«, § 39! Nun gibt es billigerweise keine Verpflichtung zu moralisch Unmöglichem, und zwar zu unbedingt und von Natur aus schlicht Unmöglichem, §§ 11, 23. Also strebe nach Vollkommenheit, »soweit du kannst«, d. i. in diesem Grad der Anstrengung, der dir in sich möglich ist und weder außer deiner Gewalt steht noch dir durch stärkere Gesetze moralisch unmöglich gemacht worden ist, M. §§ 723,76 446.77 Der bestimmende Grund bzw. der Brennpunkt der Vollkommenheit, wie du sie zu erreichen suchen können wirst, wird eine bemerkbarere positive Bestimmtheit sein, die entweder in dich oder in einen anderen zu setzen ist, M. § 141.78 S. Fn. 56. 76 S. Fn. 7. 77 Met. § 446: Wenn in der vollkommensten Welt ein zureichender und ein unzulänglicher Grund von Vollkommenheit kollidieren, geschieht die Ausnahme vom unzulänglichen: wenn ein fruchtbarerer und ein weniger fruchtbarer kollidieren, geschieht die Ausnahme vom weniger fruchtbaren; wenn ein gewichtigerer und ein weniger gewichtiger, geschieht die Ausnahme vom weniger gewichtigen; wenn ein fernerer und ein dem ferneren subordinierter näherer, geschieht die Ausnahme vom näheren; wenn ein im Bezug auf etwas zureichender und ein schlechthinniger solcher, geschieht die Ausnahme vom im Bezug auf etwas zureichenden; wenn ein niederer und ein höherer, geschieht die Ausnahme vom niederen. Welche Richtschnur der Vollkommenheit auch immer in der vollkommensten Welt endlich mit der höchsten kollidiert, von der wird ausgenommen (§§ 186, 445). 78 Met. § 141: Jedes Ding ist vollkommen (§ 99) und positiv bestimmt (§ 137), daher ist seine Vollkommenheit als solche Übereinstimmung der Bestimmtheiten zu einem (§§ 94, 140). 75
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Prior erit tua, tanquam finis, posterior tua, tanquam remedii, M. §. 341.79 Ergo quaere perfectionem tuam, qua vel perfectior finis, vel perfectius medium fias, quantum potes. Omitte te, vel ut finem, vel ut medium, vel utroque respectu, imperfectiorem reddentia, quantum potes, §. 31. §. 44. Quum non quaerenda solum sit perfectio, sed et quanta a nobis obtineri potest, §. 43, quum non bona solum, sed et plurium bonorum nobis possibilium optima committere obligamur, §. 40. Fac, quod factu tibi optimum est, §. 39. Haec obligatio est naturalis, et rationalis, de qua ipsi athei theoretici, qua tales, convinci possunt, §. 41, 35. §. 45. Perfectionem suam quaerens intendit consensum variorum in se, anima, corpore, et statu externo suo, ad unum, §. 43, M. §. 94,80 tam inter se, perfectionem internam, quam cum reliquis naturam universam constituentibus, M. §. 98,81 466,82
S. Fn. 29. Met. § 94: Si plura simul unius rationem sufficientem constituunt, CONSENTIUNT, consensus ipse est PERFECTIO, et unum, in quod consentiunt, RATIO PERFECTIONIS DETERMINANS (focus perfectionis). 81 Met. § 98: Consensus essentialium est PERFECTIO essentialis TRANSCENDENTALIS, affectionum ACCIDENTALIS, utraque INTERNA. Consensus relationum est PERFECTIO EXTERNA. 82 Met. § 466: Complexus naturarum in singulis & simul sumtis partibus mundi est NATURA UNIVERSA (naturata cf. §. 859). Hinc natura huius & perfectissimi universi est aggregatum seu complexus omnium essentialium, essentiarum, facultatum, receptivitatum, virium, quibus omnes eius partes, monades, elementa, spiritus, materiae, corpora instructa sunt, §. 430. hinc omnis omnium in eo corporum modus compositionis, vis inertiae, vis motrix, & mechanismus est pars naturae universae, §. 431, 433. 79
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Erstere wird so wie ein Ziel die deine sein, letztere wird so wie ein Hilfsmittel die deine sein, M. § 341.79 Also strebe nach »deiner« Vollkommenheit, durch die du ein vollkommeneres Ziel oder ein vollkommeneres Mittel wirst, soweit du kannst! »Unterlasse, was dich« – sei es als Ziel, als Mittel oder in beider Hinsicht – »unvollkommener macht, soweit du kannst«, § 31! § 44 Weil nicht nur nach Vollkommenheit zu streben ist, sondern auch nach so viel, wie von uns erlangt werden kann, § 43, weil wir nicht nur Gutes, sondern auch das Beste des vielen, uns möglichen Guten zu begehen verpflichtet sind, § 40: »Tue, was dir zu tun das Beste ist«, § 39! Diese Verpflichtung ist die natürliche und rationale, von der selbst die theoretischen Atheisten als solche überzeugt werden können, §§ 41, 35. § 45 Einer, der nach seiner Vollkommenheit strebt, strebt die Übereinstimmung des Veränderlichen in sich, der Seele, dem Leib und seinem äußerlichen Zustand zu Einem an, § 43, M. § 94,80 ebenso untereinander, die innerliche Vollkommenheit, wie mit den übrigen Dingen, welche die ganze Natur bilden, M. §§ 98,81 466,82 also auch seiner bloß natürlichen HandlunS. Fn. 29. Met. § 94: Wenn mehrere zugleich den zureichenden Grund eines einzelnen bilden, stimmen sie überein, die Übereinstimmung selbst ist Vollkommenheit, und das eine, in dem sie übereinstimmen, der bestimmende Grund der Vollkommenheit (der Brennpunkt der Vollkommenheit). 81 Met. § 98: Die Übereinstimmung der Essentialia ist die wesentliche, transzendentale Vollkommenheit, der inneren folgenden Bestimmungen die akzidentielle, jede von beiden eine innere. Die Übereinstimmungen der Beziehungen ist die äußere Vollkommenheit. 82 Met. § 466: Der Zusammenhang der Naturen in den einzelnen und zugleich genommenen Teilen der Welt ist die Gesamtnatur (die naturierte, vgl. § 859). Daher ist die Natur dieses und vollkommensten Universums die Beigesellung bzw. der Zusammenhang aller Essentialia, Wesen, Vermögen, Empfänglichkeiten und Kräfte, mit denen all 79
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ergo* et actionum suarum mere naturalium, et reliquorum in ipso et extra ipsum in potestate ipsius non positorum cum liberis suis determinationibus, M. §. 708.83 Hinc eosdem fines intendit, qui his positi sunt, M. §. 341.84 Qui autem eos | dem fines intendit, qui naturae praefixi sunt, NATURAE CONVENIENTER VIVIT. Ergo perfectionem suam quaerens, quantum potest, naturae convenienter vivit. §. 46. Naturae convenienter vivens eosdem fines intendit, qui naturae praescripti sunt, §. 45. Hi autem sunt ipsius aliarumque rerum perfectio, M. §. 945,85 quae potest in mundo obti-
Met. § 708: ACTIONES mihi physice possibiles sunt IN POTESTATE MEA POSITAE, realitates mihi physice impossibiles sunt EXTRA POTESTATEM MEAM POSITAE. Ergo est actio quaedam vel simpliciter tantum, vel etiam secundum quid in potestate mea posita, est quaedam vel simpliciter etiam, vel tantum secundum quid extra meam potestatem, §. 469. Actionum in potestate alicuius agentis positarum oppositum aut est etiam in potestate eiusdem agentis positum, aut extra eandem, §. 9. & utrumque denuo vel simpliciter, vel secundum quid, §. 469. Quae ipsae cum suis oppositis, simpliciter saltim, sunt in potestate alicuius positae, sunt ipsi LIBERAE (cf. §. 719) RATIONE EXSEQUUTIONIS, quarum oppositum simpliciter supra potestatem alicuius positum est, sunt ipsi MERE NATURALES. ACTIO libera ratione exsequutionis, cuius opposito aequalis respectu certi agentis est physica possibilitas, est PHYSICE ipsi INDIFFERENS (indifferens, qua exercitium actus). 84 S. Fn. 29. 85 Met. § 945: Finis dei non fuit in creando mundo perfectio quaedam ipsi interna. Per mundum enim ullam earum aut actuari, aut augeri impossibile est, §. 851. deus autem non vult impossibilia, §. 891, 893. Iam quicquid est, praeter deum, mundus est, aut pars mundi, §. 846, 354. Ergo finis dei in creando mundo fuit perfectio creaturarum, §. 928. 83
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i. Org,: … 466. Ergo
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gen und der übrigen in ihm selbst und außer ihm selbst, die nicht in seine Gewalt gesetzt worden sind, mit seinen freien Bestimmungen, M. § 708.83 Daher strebt er dieselben Ziele an, die durch diese gesetzt worden sind, M. § 341.84 Wer aber dieselben Ziele anstrebt, die in der Natur angelegt sind, lebt der Natur entsprechend. Also lebt einer, der nach seiner Vollkommenheit strebt, soweit er kann, der Natur entsprechend. § 46 Einer, der der Natur entsprechend lebt, strebt dieselben Ziele an, die der Natur vorgeschrieben worden sind, § 45. Diese aber sind die eigene und der anderen Dinge Vollkommenheit, M. § 945,85 und zwar die größte, die in der Welt erreicht werdessen Teile, Monaden, Elemente, Geister, Stoffe und Körper ausgestattet sind (§ 430). Daher ist jede Zufälligkeit der Zusammensetzung aller Körper darin, die Trägheitskraft, die bewegende Kraft und der Mechanismus Teil der Gesamtnatur (§§ 431, 433). 83 Met. § 708: Mir physisch mögliche Handlungen stehen in meiner Gewalt, mir physisch unmögliche Bestimmtheiten stehen nicht in meiner Gewalt. Also steht eine bestimmte Handlung bald nur schlechthin, bald auch in Bezug auf etwas in meiner Gewalt, steht eine bestimmte Handlung bald auch schlechthin, bald nur im Bezug auf etwas nicht in meiner Gewalt (§ 469). Das Gegenteil von Handlungen, die in der Gewalt irgendeines Tätigen stehen, steht entweder auch in der Gewalt desselben Tätigen oder nicht (§ 9), und jedes von beiden wieder bald schlechthin, bald in Bezug auf etwas (§ 469). Welche davon zusammen mit ihren Gegenteilen wenigstens schlechthin in jemandes Gewalt stehen, sind eben diese, bei denen Tun und Lassen in meiner Gewalt steht (§ 719), deren Gegenteil schlechthin über jemandes Gewalt geht, sind selbst bloß natürliche. Eine im Vollzugsgrund freie Handlung, bei der Tun und Lassen in meiner Gewalt steht, deren Gegenteil hinsichtlich eines bestimmten Tätigen die gleiche physische Möglichkeit zukommt, ist eine ihm physisch indiffernte (gleich leicht und schwer). 84 S. Fn. 29. 85 Met. § 945: Der Zweck Gottes, als er die Welt erschaffen hat, ist nicht eine bestimmte innere Vollkommenheit seiner selbst gewesen. Dass durch eine Welt nämlich irgendeine davon entweder verwirklicht oder gesteigert würde, ist unmöglich (§ 851). Gott aber will nichts Unmögliches (§§ 891, 893). Nun ist, was immer außer Gott ist, die Welt
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neri, maxima, M. §. 935.86 Ergo naturae convenienter vivens, quantum potest, quaerit perfectionem suam, §. 43. Ergo obligatio quaerendae suae perfectionis est obligatio naturae convenienter vivendi, et v. v. Vive convenienter naturae, quantum potes, §. 43. §. 47. Si velis eum dicere convenienter naturae viventem, qui ita vivit, uti ex natura et per naturam cognosci potest, denuo patet, hoc etiam sensu quaerentem perfectionem, quantum potest, naturae convenienter vivere, et v. v., §. 39, 44. §. 48. Quaerens perfectionem, quantum potest, eam fortius appetit, §. 43, hinc latius gaudet perfectionibus optimi, M. §. 682,87 187,88 ergo amat optimum, M. §. 684.89 Amans optimi,
Met. § 935: Posita huius mundi exsistentia, ponitur summa, quae in mundo esse potest, perfectio, §. 187, 934. In quo mundo ponitur summa, quae in mundo esse potest, perfectio, est ille perfectissimus, §. 185. Ergo mundus hic est omnium possibilium perfectissimus. 87 Met. § 682: Affectus iucundus est GAUDIUM. Gaudium ex praesenti (ob futura consectaria) est LAETITIA. Gaudium ex praeterito (ob futura consequentia) est SATISFACTIO. Satisfactio ex facto gaudentis est ACQUIESCENTIA IN SE IPSO. Gaudium ex malo non amplius imminente est HILARITAS. 88 Met. § 187: Bonum minimum est, quo posito ponitur minima perfectio, §. 100, 161. Quo maior est perfectio posito bono ponenda, hoc maius est bonum, §. 160. donec OPTIMUM sit, quo posito ponitur summa perfectio, §. 161. 89 Met. § 684: Gaudium ex honore GLORIA, cf. §. 942. ex alterius imperfectione, MALEVOLENTIA. Malevolentia alterius dedecus laetata est DERISIO. Gaudium ex alicuius perfectione est AMOR. Amor benefactoris est GRATITUDO (gratus animus), miseri, MISERICORDIA, comparative perfecti, FAVOR, inferioris, BENEVOLENTIA, eiusque benevolo minus utilis, CLEMENTIA. 86
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den kann, M. § 935.86 Also strebt einer, der der Natur entsprechend lebt, soweit er kann, nach seiner Vollkommenheit, § 43. Also ist die Verpflichtung, nach seiner Vollkommenheit zu streben, die Verpflichtung, der Natur entsprechend zu leben, und umgekehrt: »Lebe der Natur entsprechend, soweit du kannst«, § 43! § 47 Wenn du diesen einen der Natur entsprechend Lebenden nennen willst, der so lebt, wie es aus der Natur und durch die Natur erkannt werden kann, erhellt wiederum, dass auch einer, der in diesem Sinne nach Vollkommenheit strebt, soweit er kann, der Natur entsprechend lebt und umgekehrt, §§ 39, 44. § 48 Einer, der nach Vollkommenheit strebt, soweit er kann, begehrt diese stark, § 43, daher erfreut er sich breiter an der Vollkommenheit des Besten, M. §§ 682,87 187,88 also liebt er das
oder ein Teil der Welt (§§ 846, 354). Also ist der Zweck Gottes, als er die Welt erschaffen hat, die Vollkommenheit der Geschöpfe gewesen (§ 928). 86 Met. § 935: Indem die Wirklichkeit dieser Welt gesetzt wird, wird die höchste Vollkommenheit, die in einer Welt sein kann, gesetzt (§§ 187, 934). In welcher Welt die höchste Vollkommenheit, die in einer Welt sein kann, gesetzt wird, jene ist die vollkommenste (§ 185). Also ist diese Welt die vollkommenste aller möglichen. 87 Met. § 682: Eine angenehme Gemütsbewegung ist Freude. Die Freude am Gegenwärtigen (wegen zukünftiger Zusätze) ist Fröhlichkeit. Die Freude am Vergangenen (wegen zukünftiger Folgen) ist Zufriedenheit. Die Zufriedenheit an einer Tat dessen, der sich freut, ist Beruhigung in sich selbst. Die Freude an einem Übel, das nicht weiter droht, ist das Frohsein. 88 Met. § 187: Das kleinste Gute ist, wodurch, indem es gesetzt wird, die kleinste Vollkommenheit gesetzt wird (§§ 100, 161). Je größer die durch ein gesetztes Gutes zu setzende Vollkommenheit ist, desto größer ist das Gute (§ 160), bis dass es das Beste ist, wodurch, indem es gesetzt wird, die höchste Vollkommenheit gesetzt wird (§ 161).
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illud fortius appetit, adeoque perfectionem quaerit, quantum potest, §. 43, M. §. 187.90 Ergo obligatus ad quaerendam per | fectionem, quant[u]m* potest, obligatus est ad amandum optimum, quantum potest, et v. v. Ama optimum, quantum potes, §. 43. §. 49. Quae singulos, vel in singulis, vel singulos in singulis actionibus liberis obligat, OBLIGATIO UNIVERSALIS est. Quae vero vel aliquos tantum, vel in aliquibus tantum liberis determinationibus, vel aliquos in aliquibus tantum obligat, PARTICULARIS est. Hinc eadem obligatio diverso respectu esse potest universalis et particularis. Iam omnes omnium hominum determinationes liberae vel sunt bonae, vel malae, §. 32, vel ponentes perfectionem, vel tollentes, §. 36. Ergo obligationes §. 39–48, quaeque ex iis universaliter concludi possunt, sunt universales ad singulas singulorum hominum actiones liberas pertinentes.
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∗
S. Fn. 88. Org. u. AA 19: quantam.
die verpflichtung im allgemeinen
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Beste, M. § 684.89 Einer, der das Beste liebt, begehrt jenes stark und strebt zumal nach Vollkommenheit, soweit er kann, § 43, M. § 187.90 Also ist einer, der verpflichtet ist, nach seiner Vollkommenheit zu streben, soweit er kann, verpflichtet, das Beste zu lieben, soweit er kann, und umgekehrt: »Liebe das Beste, soweit du kannst«, § 43. § 49 Was jeden Einzelnen oder bei jeder einzelnen oder jeden Einzelnen bei jeder einzelnen freien Handlung verpflichtet, ist eine universale Verpflichtung. Was aber nur einige oder nur bei einigen freien Bestimmungen oder einige bei nur einigen verpflichtet, ist eine partikuläre. Daher kann dieselbe Verpflichtung in verschiedener Hinsicht eine universale und eine partikuläre sein. Nun sind alle freien Bestimmungen aller Menschen entweder gut oder böse, § 32, indem sie entweder Vollkommenheit setzen oder hinwegnehmen, § 36. Also sind die Verpfl ichtungen §§ 39–48 und die, die aus ihnen in allgemeiner Weise geschlossen werden können, universale, indem sie zu jeder einzelnen freien Handlung jedes einzelnen freien Menschen gehören.
Met. § 884: Freude an der Ehre ist die Ehrliebe (vgl. § 642), an der Unvollkommenheit eines anderen Missgunst. Die mit Missgunst verlachte Schmach eines anderen ist die Verspottung. Freude an der Vollkommenheit ein anderen ist Liebe. Die Liebe zu einem Wohltäter ist Dankbarkeit (das dankbare Gemüt), zu einem Elenden Barmherzigkeit, zu einem vergleichsweise Vollkommenen Gunst, zu einem niedrigeren Gewogenheit und die dem Gewogenen nicht nützliche Gnade. 90 S. Fn. 88. 89
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SECTIO II. COACTIO MORALIS §. 50. Coactio absoluta, M. §. 702,91 et externa simpliciter talis, M. §. 707,92 s. quae fit per violentiam externam simpliciter sumptam, M. §. 714,93 quam aliqui solam coactionem dicunt,
Met. § 702: NECESSITATIO (coactio) ABSOLUTA foret, quae in se contingens mutaret in absolute necessarium. Iam nihil potest mutari in absolute necessarium, §. 130. Ergo nec ulla actio, ergo nec ulla mea actio. Ergo absoluta necessitatio ullius actionis meae est impossibilis, §. 7. Omnes actiones meae sunt manentque semper, in ipso actu, & post eum in se contingentes, hinc & oppositum earum in se possibile, §. 700, 104. 92 Met. § 707: NECESSITATIO EXTERNA (coactio ab extra) est dependens a vi extra substantiam necessitatam exsistente, estque vel idealis, vel realis, §. 701, 212. Actio externe realiter necessitata non esset spontanea, nec proprie actio, §. 704. sed realis est NECESSITATIO (coactio) EXTERNA SIMPLICITER TALIS. Ergo actiones necessitatione externa simpliciter tali coactae essent passiones reales. SUBSTANTIA & ACTIONES, quae non absolute necessitantur, sunt LIBERAE (cf. §. 719) A COACTIONE ABSOLUTE. SUBSTANTIA & ACTIONES, quae non necessitantur coactione externa simpliciter tali, sunt LIBERAE A COACTIONE EXTERNA SIMPLICITER TALI. Ergo omnes meae mutationes sunt liberae a coactione absoluta, §. 702. omnes actiones meae, omnes actiones animae meae spontaneae, i. e. omnes actiones proprie dictae, §. 704. & anima mea, quatenus sponte agit, sunt liberae a coactione simpliciter tali. 93 Met. § 714: Quum COACTIO SIGNIFICATU STRICTO cf. §. 701. sit productio actionis invitae; ACTIO COACTA seu INVITA PER COACTIONEM SIMPLICITER SUMTAM EXTERNAM esset, quam nullo pro lubito, contra omnem lubitum, per coactionem externam simpliciter sumtam patrarem, sed haec non esset actio proprie dicta, §. 707. Si quid invitus ago pro lubitu ex §. 713, superpondium eius, quod appeto vel aversor, aut ut a me productum consideratur, & ME IPSE COEGISSE dicor, aut ut ab alio extra me, §. 22. & ACTIO dicitur INVITA seu COACTA PER COACTIONEM EXTERNAM SECUNDUM QUID (mixta sc. ex arbitraria, & invita per coactionem simpliciter sumtam externam). 91
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Abschnitt 2 DIE MORALISCHE NÖTIGUNG § 50 Unbedingte Nötigung, M. § 702,91 und die äußere schlechterdings so genannte, M. § 707,92 bzw. die durch äußere Gewalt schlechthin erzwungene, M. § 714,93 die manche allein eine Met. § 702: Eine unbedingte Nötigung (unbedingter Zwang) würde sein, welche an und für sich Kontingentes in unbedingt Notwendiges verwandelt. Nun kann nichts in unbedingt Notwendiges verwandelt werden (§ 130). Also weder irgendeine Handlung noch irgendeine Handlung von mir. Also ist die unbedingte Nötigung irgendeiner Handlung von mir unmöglich (§ 7). Alle meine Handlungen sind und bleiben immer – bei der Verwirklichung selbst und nach dieser – an und für sich kontingent, daher auch deren Gegenteil an und für sich möglich (§§ 700, 104). 92 Met. § 707: Äußere Nötigung (Zwang von außen) hängt von einer Kraft ab, die außerhalb des genötigten an und für sich bestehenden Dings wirklich ist, und ist entweder eine ideale oder eine reale (§§ 701, 212). Eine äußerlich real genötigte Handlung wäre nicht spontan und keine Handlung im eigentlichen Sinne (§ 704), sondern eine reale ist eine äußere schlechterdings so genannte Nötigung. Also wären durch äußere schlechterdings so genannte Nötigung erzwungene Handlungen reale Leiden. Eine Kraft und Handlungen, die nicht unbedingt genötigt werden, sind frei (vgl. § 719) von unbedingter Nötigung. Eine Kraft und Handlungen, die nicht durch schlechterdings so genannten äußeren Zwang genötigt werden, sind frei von äußerer schlechterdings so genannter Nötigung. Also sind alle meine Veränderungen frei von unbedingtem Zwang (§ 702), alle meine Handlungen, alle spontanen Handlungen meiner Seele, d. i. alle Handlungen im eigentlichen Sinne (§ 704) und meine Seele, soweit sie von selbst handelt, sind frei von schlechterdings so genanntem Zwang. 93 Met. § 714: Weil Zwang in engerer Bedeutung (vgl. § 701) die Hervorbringung einer ungern vollzogenen Handlung ist, wäre eine von außen schlechterdings erzwungene Handlung, welche ich in keiner Weise nach Belieben, wider alles Belieben, durch schlechthinnigen äußeren Zwang vollziehen würde, aber dies wäre keine Handlung im eigentlichen Sinne (§ 707). Wenn ich etwas ungern nach Belieben gem. § 713 tue, wird das Übergewicht dessen, was ich begehre oder dem ich abgeneigt bin, entweder als von mir hervorgebracht angesehen und ich sage, dass 91
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non sunt actionum s. determinatio | num liberarum, hinc nec obligationes, §. 11, 15, nec coactiones morales, M. §. 723.94 §. 51*. COACTIO MORALIS INTERNA, qua persona se ipsam cogere dicitur, M. §. 714,95 est obligatio sui ipsius, vel vera, vel spuria, §. 27, non solum non contraria libertati simpliciter sumtae**, sed etiam eam supponens, ut conditionem, sine qua non, §. 11, et fit, quoties cum certa determinatione nostra libera, ad cuius oppositum multa et magna videntur impellere, tamen caussas impulsivas potiores connectimus, §. 15, M. §. 713.96 Tunc haec coactio est lubitus, M. §. 712,97 pro quo suscepta de-
S. Fn. 7. S. Fn. 93. 96 Met. § 713: LUBENTER APPETO VEL AVERSOR 1) quicquid appeto vel aversor pro lubitu, & tunc nihil appeto, nihil aversor illubenter s. INVITUS, §. 712, 665. 2) si lubitus aut merum taedium, aut puram voluptatem, aut ingens superpondium contineat; tunc INVITUS (illubenter, contra lubitum) appeto vel aversor, ubi non est admodum magnum in lubitu superpondium: seu, ubi ad oppositum eius, quod appeto vel aversor, multa etiam & magna videntur impellere. Ultimo significatu invitus, tamen appeto vel aversor pro lubitu, eoque significatu invita actio tamen est arbitraria, §. 712. 97 S. Fn. 16. 94
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∗ ∗∗
i. Org.: 57. AA 19 stets: sumptae.
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Nötigung nennen, gehören nicht zu den freien Handlungen bzw. Bestimmungen und sind daher weder Verpflichtungen, §§ 11, 15, noch moralische Nötigungen, M. § 723.94 § 51 Eine innerliche moralische Nötigung, womit von einer Person gesagt wird, dass sie sich selbst zwingt, M. § 714,95 ist eine entweder wahre oder unechte, § 27, Verpflichtung seiner selbst, die nicht nur nicht der schlechthin genommenen Freiheit entgegengesetzt ist, sondern diese sogar als notwendige Bedingung unterstellt, § 11, und sie geschieht, sooft wir mit einer bestimmten freien Bestimmung von uns, zu deren Gegenteil viele und große zu reizen scheinen, trotzdem stärkere bewegende Ursachen verknüpfen, § 15, M. § 713.96 Dann geschieht diese Nötigung nach Belieben, M. § 712,97 demgemäß die in irgendeiner Bedeutung ungern auf sich genommene
ich mich selbst gezwungen habe, oder von anderem außer mir (§ 22) und die Handlung wird ungern bzw. gewissermaßen von außen erzwungen (gemischt, nämlich aus einer willkürlichen und einer durch schlechthinnigen äußeren Zwang ungernen) genannt. 94 S. Fn. 7. 95 S. Fn. 93. 96 Met. § 713: Gerne begehre ich oder bin abgeneigt 1) was ich oder wem ich immer nach Belieben begehre oder abgeneigt bin, und dann begehre ich nichts oder bin nichts abgeneigt wider das Belieben bzw. ungern (§§ 712, 665), 2) wenn das Belieben entweder bloße Unlust oder reine Lust oder ein ungeheures Übergewicht enthält; dann begehre ich oder bin abgeneigt ungern (wider das Belieben), wo kein sehr großes Übergewicht im Belieben ist, bzw. wo zum Gegenteil dessen, was ich begehre oder dem ich abgeneigt bin, auch vieles und großes anzutreiben scheint. In der letzten Bedeutung begehre ich oder bin abgeneigt ungern, doch nach Belieben, und in dieser Bedeutung ist eine ungern vollzogene Handlung dennoch willkürlich (§ 712). 97 S. Fn. 16.
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terminatio libera aliquo significatu invita, M. §. 713,98 tamen manet arbitraria et libera, M. §. 715,99 727.100 §. 52. COACTIO MORALIS EXTERNA, qua persona aliam cogere dicitur secundum quid, M. §. 714,101 sive cogat illecebris et suasionibus ad ACTIONEM BLANDE COACTAM, sive minis et dissuasionibus, M. §. 728,102 ad ACTIONEM METU COAC-
S. Fn. 96. Met. § 715: Actiones invitae, ad quas me cogere dicor ipse, aut externe cogi secundum quid ab aliis, fiunt pro lubitu meo, §. 714. hinc sunt arbitrariae, §. 712. & necessitatae vocantur, quatenus ut minus necessariae concipiuntur, si vel ipse, vel alia non produxissent, quod eas produxit, superpondium, §. 701, 188. 100 Met. § 727: Si me dicar cogere, in potestate mea positum est, me ad id, ad quod me cogo, per libertatem determinare, unde cogo me libere, §. 714, 719. Si cogar ab alio externe secundum quid, determinor pro lubitu, qui ut ab alio extra me posito productus concipitur, §. 714. Quodsi tunc in potestate mea positum fuit, me ad id, ad quod cogor externe secundum quid, per libertatem determinare, eiusmodi actio tamen est libera, §. 719. Multae meae actiones, ad quas me cogo, aut cogor externe secundum quid, sunt liberae. 101 S. Fn. 93. 102 Met. § 728: Coactiones externae secundum quid erunt 1) productiones stimulorum ex placentibus, ILLECEBRAE, 2) ex displicentibus, MINAE, 3) motivorum ex placentibus, SUASIONES, 4) ex displicentibus, DISSUASIONES, 5) ipsa actuatio displicentium continuaria, donec de sequuto ad invitam actionem superpondio certus esse queat cogens, EXTORSIO, §. 714. Multae actiones meae, licet ad eas minis & illecebris, suasionibus, dissuasionibusque, et ipsis extorsionibus cogar, tamen sunt liberae, §. 727. 98
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freie Bestimmung, M. § 713,98 dennoch willkürlich und frei bleibt, M. §§ 715,99 727.100 § 52 Eine äußerliche moralische Nötigung, womit von einer Person gesagt wird, dass sie eine andere in bedingter Weise zwingt, M. § 714101 – sei es, sie zwänge durch Lockungen und Anratungen zu einer durch Schmeichelei erzwungenen Handlung, sei es durch Drohungen und Abratungen, M. § 728,102 zu S. Fn. 96. Met. §. 715: Ungern vollzogene Handlungen, von denen ich sage, dass ich mich selbst zu ihnen gezwungen habe, oder zu denen ich von anderen äußerlich gewissermaßen gezwungen werde, geschehen nach meinem Belieben (§ 714), sind daher willkürlich (§ 712) und werden genötigte genannt, sofern sie als nicht notwendige begriffen werden, wenn man selbst oder die anderen nicht das Übergewicht hervorgebracht hatten, das diese Handlungen hervorgebracht hat (§§ 701, 188). 100 Met. § 727: Wenn ich sage, dass ich mich zwinge, ist es in meine Gewalt gesetzt, mich zu dem, wozu ich mich zwinge, durch Freiheit zu bestimmen, weswegen ich mich in freier Weise zwinge (§§ 714, 719). Wenn ich von einem anderen gewissermaßen äußerlich gezwungen werde, werde ich nach einem Belieben bestimmt, das wie ein von einem anderen, außer mich gesetzten hervorgebrachtes begriffen wird (§ 714). Wenn dann also in meine Gewalt gesetzt worden ist, mich zu dem, zu dem ich gewissermaßen äußerlich gezwungen werde, durch Freiheit zu bestimmen, ist eine derartige Handlung dennoch eine freie (§ 719). Viele meiner Handlungen, zu denen ich mich zwinge oder gewissermaßen äußerlich gezwungen werde, sind frei. 101 S. Fn. 93. 102 Met. § 728: Gewissermaßem äußerliche Zwänge werden sein 1) die Hervorbringung von sinnlichen Triebfedern aus Gefallen: Lockungen (Reizungen), 2) aus Missfallen: Drohungen, 3) von Beweggründen aus Gefallen: Anratungen, 4) aus Missfallen: Abratungen, und die stete Verwirklichung von Missfallen, bis der Zwingende gewiss sein kann, dass das Übergewicht im Bezug auf eine ungern vollzogene Handlung gefolgt ist: die Erpressung (§ 714). Viele meiner Handlungen, zu denen ich nämlich durch Drohungen und Lockungen, An- und Abratungen und selbst durch Erpressungen gezwungen werde, sind trotzdem freie (§. 727). 98
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TAM (per violentiam externam secundum quid, mixtam) est obligatio alterius, vel vera, vel spuria, §. 27, in obligando non tollens libertatem simpliciter dictam, sed eam supponens, ut conditionem, sine qua non, §. 51, et fit, quoties cum certa determinatione libera alicuius personae, ad cuius oppositum multa eam et magna videntur im | pellere, potiores tamen caussas impulsivas connectimus, §. 15, M. 713.103 Tunc haec coactio producit lubitum, M. §. 712,104 pro quo suscepta determinatio libera aliqua significatu invita, M. §. 713,105 tamen manet arbitraria, M. §. 715,106 et libera, M. §. 727.107 §. 53. Coactio moralis, tam interna, §. 51, quam externa, tum blande, tum metu cogens, §. 52, potest obligare ad involuntarium ex significatu M. §. 721108 adducto, neque tamen hoc significatu involuntaria omnia sunt moraliter coacta, M. §. 723.109 Ad voluntarium ex significatu M. §. 721110 adducto possumus moraliter cogi, §. 52, licet voluntas non possit cogi coactionibus §. 50 enumeratis.
S. Fn. 96. S. Fn. 16. 105 S. Fn. 96. 106 S. Fn. 99. 107 S. Fn. 100. 108 Met. § 721: ACTIONES VOLUNTARIAE dicuntur 1) quaecunque per facultatem appetitivam superiorem determinantur, tunc INVOLUNTARIAE sunt, quae per facultatem appetitivam superiorem non determinantur. Et hoc significatu omnes actiones voluntariae sunt liberae, non omnes actiones liberae sunt voluntariae, §. 719. Pone enim, me me ipsum determinare per arbitrium sensitivum, ubi me determinare per libertatem fuit in potestate mea positum, erit eiusmodi actio involuntaria, tamen libera, §. 719. 109 S. Fn. 7. 110 S. Fn. 108. 103
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einer durch Furcht erzwungenen Handlung (bedingt durch äußere Gewalt, einer gemischten) – ist eine entweder wahre oder unechte, § 27, Verpflichtung eines anderen, die, indem sie verpflichtet, nicht die Freiheit im schlechthinnigen Sinne hinwegnimmt, sondern diese als notwendige Bedingung unterstellt, § 51, und geschieht, sooft wir mit einer bestimmten freien Bestimmung irgendeiner Person, zu deren Gegenteil sie viele und große zu reizen scheinen, trotzdem stärkere bewegende Ursachen verknüpfen, § 15, M. § 713.103 Dann bringt diese Nötigung etwas nach Belieben hervor, M. § 712,104 demgemäß die in irgendeiner Bedeutung ungern auf sich genommene freie Bestimmung, M. § 713,105 dennoch willkürlich, M. § 715,106 und frei, M. § 727,107 bleibt. § 53 Ebenso eine innerliche, § 51, wie eine äußerliche, bald durch Schmeichelei, bald durch Furcht zwingende, § 52, moralische Nötigung kann zu nach der M. § 721108 angeführten Bedeutung Unwillentlichem verpflichten, und trotzdem sind nicht alle in dieser Bedeutung unwillentlichen Handlungen moralisch erzwungene, M. § 723.109 Zum nach der M. § 721110 S. Fn. 96. S. Fn. 16. 105 S. Fn. 96. 106 S. Fn. 99. 107 S. Fn. 100. 108 Met. § 721: Willentliche Handlungen werden genannt, 1) welche auch immer durch das höhere Begehrungsvermögen bestimmt werden. Alsdann sind unwillentliche, welche nicht durch das höhere Begehrungsvermögen bestimmt werden. Und gemäß dieser Bedeutung sind alle willentlichen Handlungen frei, und nicht alle freien Handlungen sind willentlich (§ 719). Setze nämlich, dass ich mich selbst durch sinnliche Willkür bestimme, wo es in meine Gewalt gesetzt gewesen ist, mich durch Freiheit zu bestimmen, so wird eine derartige Handlung unwillentlich, jedoch frei sein (§ 719). 109 S. Fn. 7. 110 S. Fn. 108. 103
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§. 54. Ad actiones voluntarias ex significatu M. §. 722111 adducto nec moralis quidem coactio locum habet, M. §. 723,112 nec interna, §. 51, nec externa, §. 52, locum tamen habet obligatio, §. 15, per paene merum taedium, paene puram voluptatem, vel ingens superpondium, M. §. 713.113 Involuntariae actiones ex significatu M. §. 722114 adducto omnes sunt moraliter coactae, vel interne, §. 51, vel externe, vel blande, vel metu, §. 52, M. §. 723,115 obligatione, §. 15, vel vera, vel spuria, §. 27. 25
§. 55. Non nisi latius et incommode omnis ob | ligatio non nunquam dicitur coactio, M. §. 723,116 701.117 Potest esse obligatio
Met. § 722: ACTIONES VOLUNTARIAE dicuntur 2) quaecunque per facultatem appetitivam superiorem nullo modo inviti determinantur. Tunc INVOLUNTARIAE sunt, quas invitus volo. Hoc significatu voluntariae involuntariaeque omnes sunt liberae actiones, §. 719. Sed non omnes liberae actiones sunt vel voluntariae, vel involuntariae hoc significatu, §. 721. 112 S. Fn. 7. 113 S. Fn. 96. 114 S. Fn. 111. 115 S. Fn. 96. 116 S. Fn. 96. 117 Met. § 701: NECESSITATIO (coactio) est mutatio alicuius ex contingenti in necessarium, hinc est vel ACTIVA necessitantis, quod non est proprie, nisi substantia, §. 189. vel PASSIVA necessitati, quae tribuitur tum accidentibus, vel actioni vel passioni, quae mutantur ex contingentibus in necessaria, tum substantiae, cui eiusmodi necessitata accidentia insunt. 111
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angeführten Bedeutung Willentlichen können wir moralisch gezwungen werden, § 52, wenn auch der Wille nicht durch die § 50 aufgezählten Nötigungen gezwungen werden kann. § 54 Im Bezug auf die nach der in M. § 722111 angeführten Bedeutung freiwilligen Handlungen hat nicht einmal eine innerliche, § 51, oder äußerliche, § 52, moralische Nötigung Raum, M. § 723,112 jedoch hat eine Verpflichtung, § 15, durch beinahe reine Unlust, beinahe reine Lust oder außerordentliches Übergewicht, M. § 713,113 Raum. Alle nach der M. § 722114 angeführten unfreiwilligen Handlungen sind moralisch durch eine entweder wahre oder unechte, § 27, innerliche, § 51, oder durch Schmeichelei oder Furcht äußerliche, § 52, M. § 723,115 Verpflichtung, § 15, erzwungene. § 55 Ausschließlich in weiterer und unangemessener Weise wird jede Verpflichtung manchmal eine Nötigung genannt, M. §§ 723,116 701.117 Es kann Verpflichtung ohne Nötigung, Met. § 722: Freiwillige Handlungen werden genannt, 2) welche auch immer durch das höhere Begehrungsvermögen auf keine Weise ungern bestimmt werden. Alsdann sind unfreiwillige, welche ich ungern will. Gemäß dieser Bedeutung sind alle freiwilligen und unfreiwilligen freie Handlungen (§ 719). Aber nicht alle freien Handlungen sind gemäß dieser Bedeutung entweder freiwillig oder unfreiwillig (§ 721). 112 S. Fn. 7. 113 S. Fn. 96. 114 S. Fn. 111. 115 S. Fn. 96. 116 S. Fn. 96. 117 Met. § 701: Nötigung (Zwang) ist die Verwandlung von etwas aus Kontingentem in Notwendiges, daher ist sie entweder eine vorgenommene des Nötigenden, was ausschließlich einer Substanz eigentümlich ist (§ 189), oder eine erlittene des Genötigten, welche bald Akzidentien – entweder einer Handlung oder einem Leiden –, die aus Kontingenten in Notwendige verwandelt werden, zugeschrieben wird, bald einer Substanz, der derartig genötigte Akzidentien innewohnen. 111
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sine coactione, etiam morali, §. 54. Potest aliquis se ipsum obligare ita, ut se non cogat, potest se cogere ita, ut tamen liber maneat a coactione externe, etiam secundum quid tali, §. 51. Potest aliquis etiam externe cogi ad certam determinationem liberam secundum quid ita, ut tamen metu coactus apte satis dici nequeat, §. 52. Immo metu etiam cogi moraliter aliquis potest ita, ut actio dicto modo coacta tamen ab ipso non extorqueatur. Coactio moralis et extorsio differunt, ut superius et inferius, latius et angustius. Nec tamen extorsio tollit libertatem simpliciter dictam, sed eam supponit, ut conditionem, sine qua non, M. §. 728.118
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§. 56. Quoniam potest aliquis ad aliquid ita obligari, ut alter tamen homo illud extorquere, vel absolute, vel physice, vel moraliter nequeat; potest tamen etiam ita obligari, ut alter homo id, ad quod prior tenetur, absolute, physice, moraliter possit ab eodem extorquere: moraliter possibilis extorsio alteri homini concessa non nunquam est caussa impulsiva obligando connexa cum certis determinationibus liberis, non nunquam non est, §. 55. OBLIGATIO ad liberam determinationem aliquam | per licitam alteri homini extorsionem est EXTERNA (plena, perfecta), reliquae INTERNAE (minus plenae, imperfectae) OBLIGATIONES. Ergo OBLIGAMUR EXTERNE, si et quatenus DETERMINATIO LIBERA nobis repraesentatur, ut EX-
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S. Fn. 102.
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auch moralische, geben, § 54. Es kann sich jemand selbst so verpflichten, dass er sich nicht zwingt, er kann sich so zwingen, dass er trotzdem von äußerer Nötigung, auch bedingter, frei bleibt, § 51. Es kann auch jemand äußerlich zu einer bestimmten freien Bestimmung in bedingter Weise so gezwungen werden, dass er trotzdem nicht in genügend angemessener Weise ein durch Furcht Gezwungener genannt werden kann, § 52. Es kann ja vielmehr sogar jemand moralisch so gezwungen werden, dass ihm die in der genannten Weise erzwungene Handlung trotzdem nicht abgepresst wird. Moralische Nötigung und Erpressung sind verschieden wie Höheres und Niedrigeres, Weiteres und Engeres. Und trotzdem nimmt die Erpressung nicht die schlechthin ausgesagte Freiheit hinweg, sondern setzt diese als notwendige Bedingung voraus, M. § 728.118 § 56: Nachdem jemand zu etwas so verpflichtet werden kann, dass ein anderer Mensch jenes dennoch weder unbedingt noch physisch noch moralisch abpressen kann, kann er trotzdem auch so verpflichtet werden, dass ein anderer Mensch dies, wozu der erstere angehalten ist, demselben unbedingt, physisch und moralisch abpressen kann: eine einem anderen Menschen zugestandene, moralisch mögliche Erpressung ist manchmal eine bewegende Ursache, die, indem sie verpflichtet, mit bestimmten freien Bestimmungen verbunden ist, manchmal ist sie es nicht, § 55. Eine Verpflichtung zu irgendeiner freien Bestimmung durch eine einem anderen Menschen erlaubte Erpressung ist eine äußerliche (vollständige, vollkommene), die übrigen sind innerliche (unvollständige, unvollkommene) Verpflichtungen. Also werden wir äußerlich verpflichtet, wenn und insofern uns eine freie Bestimmung als abzupressende vorgestellt wird, d. i. als eine solche, deren Erpressung 118
S. Fn. 102.
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TORQUENDA i. e. talis, cuius extorsio est alteri homini moraliter possibilis s. licita. OBLIGAMUR autem INTERNE, si et quatenus determinatio libera, ad quam obligamur, nobis non repraesentatur, ut extorquenda. §. 57. Quum caussae impulsivae aliae, praeter extorsionem alteri homini licitam, non possint solum plures esse, sed etiam nobiliores, verius, clarius, certius, ardentius cognoscendae, quam haec extorsio: male obligatio externa semper fortior, quam interna, putaretur, §. 56, 17, nunquam esse potest sine interna, §. 49, interna tamen saepius locum habet sine externa, §. 56.
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§. 58. Quando extorsio alteri homini licita ad determinationem aliquam liberam non nisi partialis est caussa impulsiva ita, ut obligatio externa inde resultans non sit, nisi partialis, §. 19, 56, cum internis obligationibus aliis, quasi complementum ad totum, obligationem totalem exhibens: haec partim interna, partim externa, tanquam totum, necessario maior est et fortior qua | libet sua parte, hinc et externa seorsim considerata, §. 17, M. 160.119 Quando requiritur in certa persona certi roboris obligatio, tunc quo melius haec interne obligari potest secundum §. 26, hoc minus necessaria est obligatio externa, quo vero ineptior est ad plures et nobiliores obligationes internas, hoc ma-
Met. § 160: Cuius pars toti aequalis est, MAIUS > est, totum parti aequale MINUS < est. 119
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einem anderen Menschen moralisch möglich bzw. erlaubt ist. Innerlich aber werden wir verpflichtet, wenn und insofern die freie Bestimmung, zu der wir verpflichtet werden, uns nicht als eine abzupressende vorgestellt wird. § 57 Weil andere bewegende Ursachen neben der einem anderen Menschen erlaubten Erpressung nicht nur mehr, sondern auch wichtigere, wahrer, klarer, gewisser, brennender erkennbare als diese Erpressung sein können, würde eine äußerliche Verpflichtung verkehrterweise immer für stärker als eine innerliche gehalten werden, §§ 56, 17; sie kann niemals ohne eine innerliche sein, § 49, eine innerliche jedoch hat öfters Raum ohne eine äußerliche, § 56. § 58 Wann immer eine einem anderen Menschen erlaubte Erpressung zu irgendeiner freien Bestimmung ausschließlich eine partielle bewegende Ursache in der Weise ist, dass die daraus sich ergebende äußerliche Verpflichtung ausschließlich eine partielle, §§ 19, 56, ist, die zusammen mit anderen, innerlichen Verpflichtungen, wie eine Ergänzung zu einem Ganzen, eine totale Verpflichtung darstellt, ist diese teils innerliche, teils äußerliche, so wie ein Ganzes, notwendigerweise größer und stärker als ein beliebiger Teil von ihr und daher als die abgesondert betrachtete äußerliche, § 17, M. § 160.119 Wann immer in einer bestimmten Person eine Verpflichtung von bestimmter Stärke erfordert wird, dann ist, je besser diese gemäß § 26 innerlich verpfl ichtet werden kann, eine äußerliche Verpflichtung desto weniger nötig, je untauglicher sie aber im Bezug auf mehr und wichtigere innerliche Verpflichtungen ist, desto nötiger ist die Einprägung und Verstärkung der äußerMet. § 160: Dessen Teil einem [anderen] Ganzen gleich ist, ist das größere >, ein Ganzes, das einem Teil [eines anderen Ganzen] gleich ist, ist das kleinere