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German Pages 342 [340] Year 2004
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER BAND 104
SILKE HORSTKOTTE
Androgyne Autorschaft Poesie und Geschlecht im Prosawerk Clemens Brentanos
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2004
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Zugleich Univ. Diss. Leipzig (2002) ISBN 3-484-15104-8
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 ht tp://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
IX
Danksagung
XI
Einleitung I.
II.
Das frühromantische Androgynenmodell 1.1 Poetologische Androgynie 1.1.1 Literatur und Geschlecht 1.1.2 Autorschaft um 1800 1.13 Sprache und Geschlecht in psychoanalytischen Theorien 1.1.4 Die Funktion des Androgynenmodells 1.2 Mignon 1.2.1 Die rätselhafte, androgyne Erscheinung 1.2.2 Mignon als Spiegelfigur und Doppelgänger . . 1.2.3 Die »Kindsbraut«: Mignons Sexualität 1.2.4 Das Opfer des Androgynen 1-3 Lucinde 1.3.1 Das Kunstweibliche 1.3.2 Unendliche Progression 1-4 Mathilde 1.4.1 Der romantische Roman als absolutes Buch . . 1.4.2 Novalis' Reflexionsmodell 1.4.3 Die blaue Blume: der erste Traum 1.4.4 Das unsagbare Wort: der zweite Traum 1.4.5 Die Poetik der Androgynie 1.5 Formen und Funktionen des Androgynenmodells: Resümee »und bin ich kein Dichter, wie wenige, so werde ich doch ein Objekt der Kunst sein, wie wenige«: Brentanos Autorschaftsfantasien
i 11 n 13 17 21 31 35 36 41 46 52 58 58 61 63 64 66 70 77 83 86
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II. i II.2 II-3 II-4
Brentanos Texte als poetische Autobiographie Selbstmitteilung und Selbststilisierung in den Briefen . . Das Programm der >poetischen Existens< Identitätsmuster von Autorschaft im Werk Brentanos . .
III. Die wilde Rede der Poesie: >Godwi< III. i Narrative Konstruktionen III.i.i Defizitäre Selbstreferenz III. 1.2 Das Experiment der Briefform III.I.3 Die Verwilderung der Form III. 1.4 Das Prinzip des >Perspectivs< III.I.5 Die wilde Rede III.2 Weibliche Bilder 111.2.1 Das steinerne Bild der Mutter 111.2.2 Formen der Bildbeschreibung im zweiten Romanteil 111.2.3 Die Statue der Violette 111.2.4 Die Porträts der Annonciata und der Wallpurgis 111.2.5 Das höchste Opfer des Weibes IV. Weibliche Stimme, männlicher Text: Die >Chronica des fahrenden Schülers< IV.i Die reflektierte Form IV.i.i Eine sentimentalische Erzählung IV. 1.2 >Mise en abyme< oder verwilderte Form? . . . . IV. 2 Die Funktion der Erzählerrollen IV.2.I Weiblichkeit, Männlichkeit und das familiale System der >Chronica< IV.2.2 Oralität und Literalität IV.2.3 Die Beglaubigung des Ich: Weiblichkeit, Poesie und Religion IV. 3 Das Buch- und Schriftmotiv in >Von den traurigen Untergang zeitlicher Liebe < V.
Erzählte Rätsel: >Der Sänger< V.i Die Selbstbezüglichkeit des Erzählens V.2 Intertextualität in >Der Sänger< V. 3 Das Erzählen eines Rätsels und die Verrätselung des Erzählens VI
89 90 93 96 103 103 103 109 114 118 123 126 126 138 143 160 167
173 173 175 182 192 192 198 209 213 225 225 228 235
V-4 V. 5
Figurenverdoppelung und Geschlechtertausch Die musikalische Poetik des Echos
VI. Die gestörte Ordnung des Erzählens: >Die Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl< VI.i Doppelte Perspektiven VI.2 Die Disziplinierung der Körper VI.3 Autorschaft und Memoria
242 250
255 255 264 271
VII. Der stigmatisierte Körper der Muse: die Emmerickschriften . 277 VII.i Das absolute Buch 277 VII.2 Der »Produktionsverbund« 288 VII.3 Die Stigmatisation: Blutschrift und absolutes Zeichen . . 299 Resümee und Ausblick
311
Literaturverzeichnis
315
Register
325
VII
Abkürzungsverzeichnis
BB BL
DH
Diel/Kreiten
Eich F FBA
Fr Freundschaftsbriefe FS
Görres GS H
L
Lebe der Liebe
Brentano, Bettine: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt igSoff. Brentano, Clemens: Briefe an Emilie Linder. Mit zwei Briefen an Apollonia Diepenbrock und Marianne von Willemer. Hrsg. u. kommentiert von Wolfgang Frühwald. Bad Homburg u.a. 1969. Denzinger, Heinrich: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hrsg. von Peter Hünermann. 38. Auflage. Freiburg u.a. 1999. (Denzinger-Hünermann) Diel, Johannes B.: Clemens Brentano. Ein Lebensbild nach gedruckten und ungedruckten Quellen. Ergänzt und hrsg. von Wilhelm Kreiten. Freiburg 1878. Eichendorff, Joseph von: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schülbach und Hartwig Schultz. Frankfurt 1985^ Fichte-Gesamtausgabe der bayerischen Akademie der Wissenschaft. Hrsg. von R. Lautle und H. Jacob, Stuttgart — Bad Cannstatt 1966. Brentano, Clemens: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald und Detlev Lüders. Stuttgart u.a. I975ff. (Frankfurter Brentano-Ausgabe) Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud u.a. London 1940—52, seit 1960 in Frankfurt bei S. Fischer. Arnim, Achim von und Clemens Brentano. Freundschaftsbriefe. Vollständige kritische Edition von Hartwig Schultz. Frankfurt 1998. Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett, Hans Eichner u.a. Paderborn u.a. I958ff. Görres, Joseph: Die christliche Mystik. 4 Bde. Landshut/Regensburg 1816-42. Clemens Brentanos Gesammelte Schriften. Hrsg. von Christian Brentano. Frankfurt 1852/55. Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1973!?. (Düsseldorfer Heine-Ausgabe) Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus u.a. I. Abteilung, Bd. 9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp u. Herbert Jaumann unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp. Frankfurt 1992. Lebe der Liebe und liebe das Leben. Der Briefwechsel von Clemens Brentano und Sophie Mereau. Hrsg. von Dagmar von Gersdorff. 2. Aufl. Frankfurt 1983. IX
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Varnhagen Werke Zedler
Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter u.a. München 1985^ Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage. Hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans Joachim Mahl und Gerhard Schulz. 2. Aufl. Stuttgart igooff. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montanari. 2. Aufl. München 1988. Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Hrsg. von Artur Buchenau, Eduard Spranger und Hans Stettbacher. Berlin/Leipzig 1927-76. Requiem für eine romantische Frau. Die Geschichte von Auguste Bußmann und Clemens Brentano. Nach gedruckten und ungedruckten Quellen. Überliefert von Hans Magnus Enzensberger. Berlin 1988. Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hrsg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. Weimar I943ff. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Hans-Joachim Birkner und Gerhard Ebeling, Hermann Fischer, Heinz Kimmerle, und Kurt-Victor Selge. Berlin/New York 1984^ Brentano, Clemens: Briefe. Hrsg. von Friedrich Seebaß. 2 Bände. Nürnberg 1951. Wilhelm Meisters theatralische Sendung. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus u.a. I. Abteilung, Bd. 9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp u. Herbert Jaumann unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp. Frankfurt 1992. Varnhagen van Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und Vermischte Schriften. Leipzig 1843. Brentano, Clemens: Werke. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek und Friedhelm Kemp. 2. Auflage. München 1978. Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. und 4 Erg.-Bde. Verlegt bei Johann Heinrich Zedler. Halle und Leipzig 1732 — 54.
Danksagung
Diese Studie hätte ohne die Unterstützung und das Gespräch mit anderen nicht entstehen können. Ihnen möchte ich danken. Prof. Ludwig Stockinger hat in seinen Seminaren, im Gespräch und in der Zusammenarbeit mein Interesse an der Literatur der Romantik geweckt und gefördert. Die Entstehung dieser Arbeit hat er von Anfang an mit großem Interesse und Vertrauen begleitet. Prof. Klaus-Detlef Müller sei für die freundliche Begutachtung der Arbeit gedankt, ihm und Herrn Prof. Joachim Heinzle für die Aufnahme der Arbeit in die HERMAEA. Die Zuspitzung meiner Untersuchung auf die poetologische Fragestellung erwuchs aus der Auseinandersetzung mit dem Gutachten, das Prof. Müller zu meiner Magisterarbeit verfaßt hat. Prof. Jürgen Brummack, der die Magisterarbeit betreut hat, hat ebenfalls zu meinem anhaltenden Interesse am Gegenstand und damit zum Entstehen dieser Dissertation beigetragen. Die Graduiertenförderung des Landes Sachsen hat die Entstehung der vorliegenden Arbeit durch die Gewährung eines Stipendiums großzügig unterstützt. Schließlich gilt mein besonderer Dank den Freundinnen und Freunden, die dieses Buch von der Konzeption bis zum Abschluß mit Anregung und Kritik begleitet haben: Corinna Mieth, Grit Schorch und den Teilnehmern des Oberseminars von Prof. Stockinger sowie den Organisatoren und Teilnehmern des Doktorandennetzwerks www.phinished.org, besonders Keri Cronin, Dayle DeLancey, Josephine Muir, Maria Power, Kharyssa Rhodes und Heather Williams, die mir zahllose praktische Hinweise zu Arbeitstechniken und guten Rat in technischen Fragen gegeben haben. Der größte Dank aber gebührt meinem Mann, Olaf Schmidt, für sein Vertrauen und seine anhaltende Unterstützung. Viele der in diesem Buch enthaltenen Erkenntnisse habe ich in unseren täglichen Diskussionen entwickelt. Ihm sei diese Studie daher gewidmet.
XI
Einleitung
Die Musen gehören zu den himmlischen Gestalten, die Mann und Weib nicht kennen; der einzige Maßstab für einen Künstler ist die Kunst, nicht Nationalität oder Geschlecht oder Konfession oder Stand. Geschlecht kann es schon deswegen nicht sein, weil jeder Dichter androgyn ist, es gibt keinen, der nicht Männliches und Weibliches in sich vereinigte.1
»Wenn ich das Weßen deiner Poesie betrachte, und meine Empfindung für dich du Wesen aller Poesie, so ist es mir, als wärst du meine Geliebte [...] es ist mein wahrer heiliger Ernst, ich will dein schlichter Dichter werden«, schreibt Clemens Brentano Anfang 1803 in einem Brief (FBA 31, 37).2 Als »Geliebte« spricht er dabei keineswegs eine Frau an, sondern einen Mann: den Freund Achim von Arnim. Nicht nur die Geschlechteridentität des Adressaten wird damit in Frage gestellt. Auch die Sexualität des »schlichten Dichters« selbst erscheint unsicher und fragwürdig. Aufgrund solcher Äußerungen, die in den Briefen immer wieder begegnen, ist die Beziehung Brentanos und Arnims in der neueren Forschung wiederholt als homosexuell gedeutet worden.3 Dagegen argumentiert Hartwig Schultz überzeugend, daß die möglicherweise vorhandenen homoerotischen Fantasien Brentanos von Arnim sicher nicht erwidert wurden: Der Freundschaftskult des 18. und 19. Jahrhunderts setzt stets auch homoerotische Komponenten frei. Enthusiastische Liebesbeteuerungen, Küsse und Tränen gehören zu den Ausdrucksformen dieser Freundschaften, die jedoch die Ge1
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Ricarda Huch: »Einleitung zu >Annette von Droste-Hülshoff: Ausgewählte WerkeGodwiChronica des fahrenden Schülers< und die >Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerlandrogynen Autorschaft gefaßt werden. Die problematischen Geschlechteridentitäten der Brentanoschen Autorfiguren sind von der neueren Brentano-Forschung bereits vereinzelt thematisiert worden.6 Wiederholt wurde in diesem Zusammenhang auf Brentanos besondere Persönlichkeitsstruktur, seine Sexualität und auf die autobiographischen Bezüge der fiktionalen Texte verwiesen.7 Im Gegensatz zu solchen psychobiographischen Ansätzen stellt die vorliegende Studie die poetologische Begründung von Brentanos Geschlechtertauschfantasien in den Mittelpunkt der Untersuchung. Gegen die genannten Erklärungsversuche spricht nämlich, daß die Identitätsmuster von Autorschaft im Werk Brentanos auf dem Autor-Muse-Szenario beruhen, das bereits eine Geschlechterhierarchie impliziert. Die Vorstellung einer androgynen Autorschaft ist folglich kulturell vorgeprägt und nicht auf eine persönliche Problematik Brentanos reduzierbar.8 Dies läßt sich insbesondere anhand der intertextuellen Bezüge zum Androgynenmodell der Jenaer Frühromantik demonstrieren, die von der Brentano-Forschung bisher nicht genügend gewürdigt worden sind.9 Dabei wird deutlich, daß das gesamte Werk Brentanos, einschließlich der späten Emmerick-Schriften, auf frühromantischen Postulaten basiert - insbesondere auf dem frühromantischen Androgynenmodell. Androgynie, der Traum von der Befreiung aus den Beschränkungen der Geschlechterdifferenz oder die Sehnsucht nach ihrer Überwindung in einem Körper, der beide Geschlechter vereint, gehört zu den ältesten Utopien der Menschheit.10 In den Romanfragmenten der Jenaer Frühromantik steht die androgyne Vereinigung beider Geschlechter für eine utopische Ganzheit und Vollkommenheit jenseits der Geschlechterdifferenz. Die 6 7 8
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Vgl. u.a. Brandstetter, Erotik und Religiosität, und Zwetz, Das Geheimnis der Schrift. Vgl. Zwetz, Das Geheimnis der Schrift, und Kremer, Prosa der Romantik. Ob diese poetologische Dimension des Geschlechtertauschs mit der besonderen Persönlichkeitsstruktur (auch mit der Sexualität) Brentanos kongruiert hat, kann nicht Thema einer literaturwissenschaftlichen Arbeit sein und ist im übrigen auch unergiebig für die Textinterpretation. Die Gefahren einer solchen Argumentation zeigen sich bei Zwetz, der den Texten Brentanos außer stereotypen Verweisen auf dessen sexuelle Orientierung nichts Neues abgewinnen kann. Eine Ausnahme bildet Saul, Clemens and the Women, S. I02f. Den Begriff »intertextuell« verwende ich im folgenden in Anschluß an die Theorie der Intertextualität von Broich und Pfister: Broich und Pfister, Intertextualität. Für einen Überblick über die Geschichte der (poetologischen) Androgynie vgl. Weil, Androgyny and the Denial of Difference; Aurnhammer, Androgynie; und MacLeod, Embodying Ambiguity. Speziell zum frühromantischen Androgynenmodell siehe auch Friedrichsmeyer, The Androgyne in Early German Romanticism.
voneinander getrennten Geschlechter sollen sich zur »vollen ganzen Menschheit« vollenden, wie es in Schlegels >Lucinde< heißt (FS V, 10). Das Androgynenmodell allegorisiert aber auch allgemein das Überwinden binärer Oppositionen. Beispielsweise zielt die biologische AndrogynenMetapher bei Schlegel letztlich nicht auf ein Überwinden der Geschlechterdifferenz, sondern auf eine poetische Vervollkommnung. Am Ende der >Lucinde< steht deshalb nicht die »volle ganze Menschheit«, sondern die Vollendung des Künstlersubjekts Julius und des Romans >LucindeGeneralbeichte< von 1817 wurde durch die auf zwei verschiedenen posthumen Editionen basierende doppelte Rezeptionsgeschichte gestützt, die letztlich das gespaltene Clemens-Bild der Familie Brentano widerspiegelt. Während die >katholische< Fraktion der Brentanos, allen voran der zum Universalerben eingesetzte Bruder Christian, 1852 Clemens' >Gesammelte Schriften< ohne den >Godwi< und andere frühe Werke veröffentlichte, hatte die >romantische< Fraktion, in Gestalt der Lieblingsschwester Bettina, bereits 1844 mit >Clemens Brentanos Frühlingskranz< eine Sammlung von Briefen und Gedichten ausschließlich aus der Zeit des >Godwi< publiziert.11 Die epochemachende Interpretation durch Joseph von Eichendorff in >Brentano und seine Märchen< vereint beide Rezeptionsstränge in der These, das »Dämonische« des Frühwerks sei in den Märchen aufgehoben und »bewältigt«. 12 Mit diesem Kunstgriff gelang es Eichendorff zwar, ein einheitliches und identisches Bild des Autors Brentano herzustellen,
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Für detaillierte Angaben zur Publikationsgeschichte der einzelnen Werke sei auf den Bericht in der Frankfurter Brentano-Ausgabe verwiesen. Eichendorff geht insbesondere auf die Spätfassung des Gockel-Märchens ein; vgl. Eichendorff, Brentano und seine Märchen (Eich 6, 281—290).
allerdings um den Preis, das Frühwerk gegen das Spätwerk auszuspielen.13 Umgekehrt verfährt Heinrich Heines Brentano-Deutung: für Heine hat nur das Frühwerk ästhetischen Wert, das Spätwerk dagegen nimmt er überhaupt nicht zur Kenntnis. 14 Damit waren die Fronten der BrentanoForschung für die nächsten 150 Jahre festgelegt: entweder wurden die Brüche des Frühwerks im Spätwerk für bewältigt erklärt, oder die ästhetische Avanciertheit des Frühwerks wurde zum Maßstab, an dem das Spätwerk gemessen und für unzulänglich befunden wurde.15 Trotz einiger Aufweichungserscheinungen seit den i98oer Jahren ist die Opposition von Früh- und Spätwerk bis in die Gegenwart ein wirksames Deutungsmuster geblieben. Dazu hat die bis heute unbefriedigende Editionssituation beigetragen, die vor allem große Teile des Spätwerks — etwa die Vorarbeiten zur Emmerick-Trilogie — betrifft. 16 Während der Dramatiker und Märchendichter Brentano in der Germanistik seit 1945 unterrepräsentiert war, gilt sein Rang als Lyriker als unumstritten.17 Diese Einschätzung kulminiert in der kenntnisreichen und subtilen Studie Gabriele Brandstetters, der die vorliegende Arbeit wichtige Impulse verdankt.18 In den letzten Jahren bahnt sich allerdings eine Neubewertung an, etwa was den Aspekt der Koproduktion - mit Luise Hensel und anderen - betrifft, der in den älteren Studien, die noch unter dem Einfluß des Genie-Gedankens standen, kaum berücksichtigt worden ist. Hier versucht etwa die Arbeit von Kristina Hasenpflug eine vorsichtige Neubewertung.19 Daß dieser Aspekt für Brentano von immenser Bedeutung ist, wird in Kapitel VII. der vorliegenden Studie erläutert. In den letzten 25 Jahren hat innerhalb der Brentano-Forschung eine deutliche Aufwertung des Prosawerks stattgefunden.20 So ist der >Godwi< durch die Arbeiten von Schuller, Reifenberg und Scharnowski in den Rang 13
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Eichendorff urteilt: »eben darin liegt die eigentümliche Bedeutung Brentano's, daß er das Dämonische in ihm nicht etwa, wie so viele Andere, beschönigend als geniale Tugend nahm, oder künstlerisch zu vergeistigen suchte, sondern beständig wie ein heidnisches Fatum gehaßt hat« (Eich 6, 282). Die »höhere Versöhnung jener dichterischen Doppelnatur Brentano's« sieht Eichendorff im Spätwerk, besonders in den Märchen, geleistet (286). Heine, Die romantische Schule (H 8, I99f.). Ein Überblick über die ältere Brentano-Forschung findet sich bei Frühwald, Stationen der Brentano-Forschung. Zur Editionsproblematik vgl. Lorenczuk, Die Bilder der Wahrheit, S. i iff. Vgl. Enzensberger, Brentanos Poetik; Wollenberg, Brentanos Jugendlyrik; Boetius, Der andere Brentano. Brandstetter, Erotik und Religiosität. Hasenpflug, Clemens Brentanos Lyrik an Luise Hensel. Vgl. u.a. Knauer, Allegorische Texturen; Bohrer, Der romantische Brief; Schmidt, Erlösung der Schrift.
eines wichtigen und eigenständigen Beitrags zur Jenaer Frühromantik aufgerückt.21 Insbesondere ist die neuere Brentano-Forschung, unter dem Einfluß feministischer und dekonstruktivistischer Literaturtheorien, auf die problematische Geschlechteridentität der Ich-Sprecher in den frühen Werken und Briefen Brentanos aufmerksam geworden.22 Dabei hat sich vor allem der >Godwi< zu einem regelrechten Steckenpferd der feministischen oder gender-theoretischen Literaturwissenschaft entwickelt;23 dagegen sind andere Werke, wie etwa die >Chronica des fahrenden Schülers < oder die Märchen, die für diese Forschungsrichtung ähnlich gewinnbringend zu sein versprechen, bisher unterrepräsentiert.24 Gerade der >Godwi< wird allerdings nicht selten zum Prüfstein feministischer Untersuchungen: Wie Nicholas Saul zu Recht anmerkt, gehört Brentanos Roman in eine Tradition, die mit dem >Tristram Shandy< beginnt und in der Bedeutung primär durch die Form, und erst in zweiter Linie durch den Inhalt, generiert wird.25 Eine Interpretation der Geschlechterpolitik der inhaltlichen Ebene muß deshalb von der strukturellen Besonderheit des Romans, seiner Verwirrung bzw. »Verwilderung«, ihren Ausgang nehmen. Dies gilt auch für die anderen zu untersuchenden Quellentexte. Die vorliegende Studie wird deshalb versuchen, die Verwirrung der Geschlechteridentitäten als literarisches Strukturprinzip zu begreifen und in den Kontext einer narratologischen Analyse zu stellen. Zudem versprechen das Überwinden des politischen Feminismus der siebziger Jahre und die kritische Betrachtungsweise der Kategorie >GeschlechtGeschlecht< in der vorliegenden Studie als eine diskursive und konstruierte Kategorie behandelt wird, nicht als biologisches oder historisches Phänomen. Für die neuere, besonders für die poststrukturalistisch orientierte Brentano-Forschung sind in erster Linie formale Experimente und ästhetische Spielerei des Frühwerks von Interesse. Die späteren Texte Brentanos dagegen haben in den letzten Jahren kaum Beachtung gefunden. Darin zeigt 21
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Schuller, Romanschlüsse in der Romantik; Reifenberg, Die »schöne Ordnung«; Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied. Vgl. Brandstetter, »Eines Weibes Träumen ...«; Lubkoll, Männlicher Gesang und weiblicher Text; Zwetz, Das Geheimnis der Schrift. So u.a. Schlaffer, Mutterbilder, Marmorbilder, und Janz, Marmorbilder. Unter den wenigen neueren Arbeiten zu den Märchen sind zu nennen: Spinnler, Clemens Brentano oder die Schwierigkeit, naiv zu sein; Frye, Poetic Wreaths; Lorenczuk, Die Bilder der Wahrheit. Saul, Clemens and the Women, S. 166.
sich auch das allgemeine Desinteresse der Literaturwissenschaft an einer als »Spätromantik« abqualifizierten, als epigonal empfundenen oder unter dem Begriff »Restauration« einer politischen Konstellation subsumierten Epoche.2 Auch die Kontinuitäten im Werk Brentanos sind bisher kaum gewürdigt worden.27 Wie zu zeigen sein wird, schreiben jedoch noch die spätesten Texte Brentanos, insbesondere die Emmerick-Schriften, das frühromantische Projekt einer »progressiven Universalpoesie« fort und führen deshalb alle Versuche, Früh- und Spätromantik als eigenständige Epochenbegriffe zu etablieren, ad absurdum.28 Insgesamt ist Brentanos Stellung innerhalb der Romantik, besonders im Hinblick auf die poetologische Programmatik Friedrich Schlegels und Novalis', bisher überraschend wenig behandelt worden.29 Auch die FichteRezeption im zweiten Teil des >Godwi< sowie die explizite Stellungnahme zum Programm der Neuen Mythologie sind bisher nicht untersucht worden. Das hängt teilweise damit zusammen, daß mit dem Spätwerk der gesamte Brentano aus dem Kontext der Romantik ausgeschlossen wurde, liegt aber auch daran, daß der Begriff >Romantik< in der germanistischen Literaturwissenschaft immer noch häufig unscharf gehandhabt wird. Dabei vermischen sich Epochenbegriffe und die Bestimmung über Gruppenoder Generationszugehörigkeiten mit bestimmten formalen und ästhetischen Erwartungen. Da Brentano nicht zum engeren Zirkel der Jenaer Romantiker gehörte und an ihren Zeitschriftenprojekten nicht teilnahm, ist er in Untersuchungen zur Frühromantik weitgehend unberücksichtigt geblieben, wozu das negative Urteil der Schlegels über den >Godwi< beige26
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Deutlich zeigt sich das primär politisch-historische Interesse bei Frühwald, von dem die Restaurations-These stammt; vgl. Frühwald, Das Spätwerk Clemens Brentanos. Vgl. direkt zu Frühwald auch Kurzke, Romantik und katholische Restauration. Von den neueren Arbeiten zum Prosawerk Brentanos geht einzig Schmidt auf die poetologischen Kontinuitäten zwischen Früh- und Spätwerk ein; vgl. Schmidt, Erlösung der Schrift. Dagegen betont Brandstetter zwar die thematischen Zusammenhänge, vernachlässigt aber den Bezug zur frühromantischen Theorie. Ihre Darstellung beschränkt sich außerdem auf die Lyrik; vgl. Brandstetter, Erotik und Religiosität. Eine Ausnahme sei genannt: Gajek, Homo Poeta. Daß auch Brentanos späte Lyrik als Fortschreibung der frühromantischen Poetologie verstanden werden kann, hat Hasenpflug nachgewiesen: Hasenpflug, Clemens Brentanos Lyrik an Luise Hensel, S. 33iff. Zwar hat Paul Böckmann in seiner hellsichtigen >GodwiGodwi< in einen Reigen romantischer Romane eingeordnet, ohne jedoch die programmatischen Abhängigkeiten offenzulegen; vgl. Schuller, Romanschlüsse in der Romantik, und Schmidt, Die Geschichtlichkeit des frühromantischen Romans.
tragen haben mag. Allerdings ist es Brentano dabei nicht so schlimm ergangen wie Hölderlin oder Kleist, die trotz deutlicher Gemeinsamkeiten in den Texten (besonders im Falle Hölderlins) fast gänzlich aus dem Forschungsgebiet »Romantik« herausgefallen sind. Ich glaube deshalb, daß der Begriff »Romantik« als Epochenbegriff nicht taugt, zumal die Gleichzeitigkeit mit der »Klassik« und die Überschneidung mit der »Spätaufklärung« immer wieder für Verwirrung sorgt.30 Ebenso sind Bestimmungen über die Gruppen- oder Generationszugehörigkeit aus den genannten Gründen problematisch. Statt dessen plädiere ich dafür, mit »Romantik« einerseits eine bestimmte poetologische Programmatik, die in Kapitel 1.3 und 1.4 erläutert wird, andererseits aber - in Abhängigkeit von den poetologischen Vorgaben - eine Reihe von Textmerkmalen zu fassen, die Detlef Kremer wie folgt bestimmt hat: Unter einer formalen ästhetischen Perspektive läßt sich die Einheit der poetischen Schriften Tiecks, Novalis', Brentanos, Arnims, Eichendorffs, Hoffmanns und anderer über ein charakteristisches Zusammenspiel einer weitgehend manieristischen Traditionen verpflichteten Poetik der Imagination und des Phantastischen mit einer allegorischen und selbstreflexiven Komponente konstruieren. Gegenüber den klassizistischen Einheits- und Ordnungsvorstellungen der Weimarer Klassik Goethes und Schillers verfugt die Romantik mit ihrer Aktualisierung manieristischer Heterogenie über ein hinreichend trennscharfes Profil.31
Neben der strukturellen Bestimmung ist dabei immer wieder die starke Abhängigkeit der romantischen Literatur von ihren philosophischen Vorgaben zu betonen. Dies gilt auch für vermeintlich Theorie-ferne Autoren wie Brentano. Gerade der Komplex der >androgynen Autorschaft läßt sich ohne ein hinlängliches Verständnis der Subjektphilosophie Fichtes und Novalis' nicht begreifen, wie in Kapitel 1.4 erläutert wird. Die vorliegende 30
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Deutlich zeigt sich die begriffliche Problematik in Richard van Dülmens groß angelegter »Kulturgeschichte der deutschen Romantik« (Dülmen, Poesie des Lebens). Wie Matthias Schöning in seiner Rezension zu Recht moniert, kann van Dülmen nämlich nicht erklären, »wieso die deutsche Romantik überhaupt eine eigene (Mikro-)Kultur darstellen soll«. Entsprechend rar sind die Versuche, die Romantik als kulturelles oder epochales Gesamtphänomen darzustellen; vgl. jedoch Schulz, Romantik, und Ziolkowski, Das Amt des Poeten. Auch Helmut Schanze konzediert im Vorwort zur zweiten Auflage des Romantik-Handbuchs: »Grenzen für eine spezielle Romantikforschung, wie sie für ein Handbuch zu fordern sind, lassen sich nur schwer abstecken.« (S. XVI) Vgl. auch die einschlägigen Aufsätze im Romantik-Handbuch, insb. Segeberg, Phasen der Romantik (und hier besonders den Abschnitt »Romantik als Epoche?«, S. 31-36) und Stockinger, Die Auseinandersetzung der Romantiker mit der Aufklärung. Kremer, Romantik, S. i. Auch Gerhard Neumann nähert sich der Romantik über das »Besondere des romantischen Erzählens von Geschichten« (Romantisches Erzählen, S. 12).
8
Arbeit versteht sich in diesem Sinne als Beitrag zu einer Einordnung Brentanos in romantische Kontexte. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, sind sowohl mittlerweile kanonisierte Werke wie der >Godwi< als auch von der Forschung vernachlässigte Texte wie die >Chronica des fahrenden Schülers< und insbesondere die Emmerick-Schriften zu berücksichtigen. Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich der Aufbau der Arbeit: Nach einer kurzen Einführung in das Phänomen der poetologischen Androgynie in Kapitel I.i werden in den Kapiteln 1.2 bis 1.4 drei Modelle von androgyner Autorschaft erarbeitet, die zugleich den literarhistorischen Kontext für die Brentano-Inerpretation abstecken. An Goethes >Wilhelm Meisten wird ein erstes Modell androgyner Autorschaft erarbeitet; da der >Meister< für die Romane der folgenden Generation eine wichtige Vorbildfunktion hatte, werden sich Spuren dieses Modells an verschiedenen Stellen von Brentanos Werk nachweisen lassen (Kap. 1.2). Der Zusammenhang von Androgynie und Selbstbezüglichkeit wird an Friedrich Schlegels >Lucinde< erörtert (Kap. 1.3). Leider mußte die >Lucinde< in der Forschung allzuoft als alleiniges Paradigma für das Androgynenmodell herhalten, so daß es zu einer gewissen Identifikation gekommen ist, die den Blick auf andere Texte der Zeit verstellt hat. Die Gefahren dieser Entwicklung zeigen sich beim Vergleich von >Lucinde< und >GodwiGodwiLehrjahre Jesu< und >Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu ChristiSchreiber< fungierte, der lediglich die Worte der Emmerick zu Papier brachte, sondern daß das Aufschreibesystem Brentano-Emmerick die poetische, spezifisch romantische Fiktion einer androgynen Autorschaft zu verwirklichen sucht.
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Zur Struktur von Brentanos Erzählungen vgl. Hosch, Immanente Reflexion, und Kesting, Ich-Figuration. IO
I. Das frühromantische Androgynenmodell
If human beings were not divided into two biological sexes, there would probably be no need for literature. And if literature could truly say what the relations between the sexes are, we would doubtless not need much of it then, either [...]. It is not the life of sexuality that literature cannot capture; it is literature that inhabits the very heart of what makes sexuality problematic for us speaking animals. Literature is not only a thwarted investigator but also an incorrigible perpetrator of the problem of sexuality.*
I.i Poetologische Androgynie Wie das vorangestellte Zitat von Barbara Johnson nahelegt, spielt der hierarchische Geschlechterdualismus eine wichtige Rolle für Konstitution und Selbstverständnis der Literatur. Umgekehrt ist unsere Vorstellung von >Geschlecht< zutiefst von literarischen Vorbildern geprägt. Gerade der romantische Roman hat hierbei eine wichtige Rolle gespielt und ein Verständnis des Geschlechterdualismus geprägt oder sedimentiert, das zumindest in Teilen bis in die Gegenwart hinein wirksam geblieben ist. Vorstellungen von >Geschlecht< sind in der Literatur um 1800 grundsätzlich auf poetologische Fragestellungen bezogen und müssen somit im Kontext der Aufwertung der Poesie gegenüber philosophischen Diskursen betrachtet werden. Eine Sonderfunktion literarischer Geschlechterkonstruktionen stellt dabei die utopische Vorstellung einer androgynen Ganzheit jenseits der Geschlechterdifferenz dar, wie sie vor allem dem romantischen Dichter zugeschrieben wird. Solche poetologischen Androgynenmodelle sind einerseits dem Geniekult des 18. Jahrhunderts verpflichtet; andererseits aber problematisieren sie durch den Aspekt der Doppelung oder Vielheit die Vorstellung vom Autor als einer einheitlichen und mit sich selbst identischen Person. 1
Johnson, The Critical Difference, S. 31. II
Deutlich zeigt sich dies in Goethes »Wilhelm MeisterWilhelm MeisterWilhelm Meisters Lehrjahres >Lucinde< und >Heinrich von Ofterdingen< werden in den Kapiteln 1.2 bis 1.4 unterschiedliche Funktionen des Androgynen für Identitätsmuster von Autorschaft erarbeitet, zu denen Brentanos Entwürfe in ein intertextuelles Verhältnis gesetzt werden. Zuvor wird im Rahmen einer methodologischen Vorüberlegung in den Kapiteln 1.1. i bis 1.1.3 erläutert, was genau mit den Begriffen >GeschlechtAndrogynie< und >Autorschaft< gemeint ist und welchen Stellenwert diese Parameter für die Textanalyse haben. Dabei ist grundsätzlich festzuhalten, daß es sich um diskursanalytische, nicht um historische Begriffe handelt. Insbesondere der Parameter >Geschlecht< darf keinesfalls mit historischen Geschlechterrollen verwechselt werden, sondern bezeichnet in meiner Argumentation literarische Konstruktionen eines transzendentalphilosophisch verankerten Geschlechterdualismus, dessen poetologische Implikationen in den Kapiteln 1.3 und 1.4 erläutert werden. I.i.i Literatur und Geschlecht In seinem Buch >Liebe als Passion< beschreibt Niklas Luhmann die Liebe nicht als Gefühl, sondern als symbolischen Code, »der darüber informiert, wie man in Fällen, wo dies eher unwahrscheinlich ist, dennoch erfolgreich kommunizieren kann«. 4 Der Code setzt keine Gefühle von Liebe und Zuneigung voraus, sondern ruft diese im Gegenteil erst ins Leben: »Der Code ermutigt, entsprechende Gefühle zu bilden.« Das sich seit dem 18. Jahrhundert durchsetzende, bis heute wirksame Verständnis von Liebe als einer exklusiven Bindung, die in psychologischen Kategorien verankert ist, führt Luhmann auf den Einfluß des Romans, insbesondere des Briefromans vom Typ Richardsons zurück.5 Matthias Luserke hat Luhmanns Literaturverständnis als verkürzend kritisiert; dennoch schreibt auch er der Literatur eine »Lenkungs- und Beeinflussungsfunktion im Zivilisationsprozeß« zu, wenn er argumentiert, »daß literarische Diskurse Medium und Instrument der Disziplinierung von Leidenschaften sind«.6 Die Frage, ob diese Beschreibung die gesellschaftliche Funktion der Literatur adäquat wiedergibt oder nicht vielmehr selbst eine aufklärerische Position darstellt, ist für unser Verständnis des Verhältnisses von Literatur und >Geschlecht< unwichtig. Fruchtbar gemacht werden kann aber die Erkenntnis, daß 4
Luhmann, Liebe als Passion, S. 9. ' Ders., S. I2 7 ff. 6 Luserke, Die Bändigung der wilden Seele, S. 45 und 20.
bestimmte, als naturgegeben angesehene Phänomene, zu denen das Geschlecht noch stärker gehört als die Leidenschaften, kulturellen Konstruktionen unterliegen und nicht ohne diese Rahmung betrachtet werden können.7 Diese Rahmung möchte ich im folgenden mit dem Foucaultschen Diskursbegriff beschreiben. Wie die Liebe im Luhmannschen Beispiel, stellt die Kategorie >Geschlecht< weniger ein Faktum denn einen Diskurs dar. Was aber ist ein Diskurs? Weil Foucault sich zu diesem Gegenstand nur unsystematisch geäußert hat, ist sein Diskursbegriff oft mißverstanden worden. Insbesondere die Literaturwissenschaft hat gemeint, der Diskurs sei eine Art Ensemble von tatsächlich gemachten Äußerungen zu einem bestimmten Thema. Doch scheint Foucault mit >Diskurs< eher eine Ermöglichungsbedingung zu meinen, die jeder konkreten Äußerung vorausgeht. So versteht ihn auch Ralf Konersmann, der die vielleicht konziseste Erläuterung zu Foucaults Diskursbegriff formuliert hat: Der Diskurs-Begriff fragt nach [...] jener »zone du non-pense«, die die Bedingungen und die Umrisse des Denkens festlegt. Welches, so lautet die Frage, sind die Bedingungen, die endgültig darüber entscheiden, was [...] zu einer Zeit und an bestimmter Stelle tatsächlich gesagt wird? Seine Unbestimmtheit, die Schwäche und Stärke zugleich ist, gewinnt der Diskursbegriff dadurch, daß er nicht nur die Organisation des Wissens beschreibt, also eine Form, sondern auch seine Produktion, also eine Praxis, und daß er weiterhin nicht nur die institutionellen Rahmenbedingungen des Wissens anspricht, sondern auch die Politik.8
>Diskurs< ist also ein Oberbegriff für die unausgesprochenen Regeln, die jeder konkreten Äußerung - auch der nicht-sprachlichen - vorausgehen, bezeichnet zugleich aber auch die Art und Form von deren Produktion. In diesem Sinne hat Foucault darauf aufmerksam gemacht, inwiefern die Art, über einen Gegenstand zu sprechen, zu dessen Konstitution beiträgt: indem nämlich Diskurse »systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«.9 So produzieren beispielsweise Rechts- und Herrschaftsdiskurse die Subjekte, die sie zu repräsentieren vorgeben.10 Das gleiche gilt auch für bestimmte Eigenschaften des Subjekts, zu deren wichtigsten das Geschlecht zählt. In >Der Wille zum Wissen< beschreibt Foucault, wie die Sexualität und deren körperliche Merkmale erst durch die Diskurse, die 7
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Zum Begriff der >Rahmung< (»framing«) im Gegensatz zum >Kontext< vgl. Culler, Framing the Sign, S. xiv. Konersmann, Der Philosoph mit der Maske, S. 74. Foucault, Archäologie des Wissens, S. 74. Foucault, Überwachen und Strafen.
von ihnen handeln, hervorgebracht werden. Der Begriff »Sex«, so Foucault, habe es möglich gemacht, anatomische Elemente, biologische Funktionen, Verhaltensweisen, Empfindungen und Lüste in einer künstlichen Einheit zusammenzufassen und diese fiktive Einheit als ursächliches Prinzip, als allgegenwärtigen Sinn und allerorts zu entschlüsselndes Geheimnis funktionieren zu lassen: der Sex als einziger Signifikant und als universales Signifikat."
Das Individuum wird erst durch die Einfügung in diesen Diskurs sexualisiert und so mit einem eindeutigen Geschlecht versehen. Was in einer spezifischen Epoche oder Gesellschaft unter >Sexualität< und >Geschlecht< verstanden wird, unterliegt mithin bestimmten, aber unausgesprochenen, politischen Vorgaben. Diese politische und kulturelle Bedingtheit des >Geschlechts< betont auch Judith Butler, wenn sie argumentiert, es sei »impossible to separate out >gender< from the political and cultural intersections in which it is invariably produced and maintained«. 12 Ein so verstandenes >Geschlecht< beruht also nicht auf unverrückbaren biologischen Merkmalen, sondern wird erst durch die diskursive Rahmung produziert und festgeschrieben. Deshalb ist die Wahrnehmung von >Geschlecht< kulturell und historisch spezifisch und kann sich entsprechend auch verändern. Insofern >Geschlecht< nämlich keine biologisch-essentielle, sondern eine kulturelle und konstruierte Kategorie darstellt, birgt die performative Durchbrechung präskriptiver Geschlechterkategorien ein kritisches Potential, wie Butler zu Recht anmerkt: That gender reality is created through sustained social performances means that the very notions of an essential sex and a true or abiding masculinity or femininity are also constituted as part of the strategy that conceals gender's performative character and the performative possibilities for proliferating gender configurations outside the restricting frames of masculinist domination and compulsory heterosexuality.13
Kulturelle Repräsentationen von >Geschlecht< können sowohl affirmativ die herrschende Norm durchsetzen, als auch diese gezielt durchbrechen. Dabei kommt der Literatur eine Schlüsselfunktion zu, weil die herrschenden, hegemonialen Geschlechterdiskurse im fiktionalen Raum der Literatur spielerisch hinterfragt und durchbrochen werden können. Die Kategorie >Geschlecht< läßt sich jedoch nur dann erfolgreich als diskursive Konstruktion begreifen, wenn der Körper insgesamt als das 11 12 13
Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 184. Butler, Gender Trouble, S. 3. Dies., S. 141. Vgl. auch Derrick, Sporen.
Ergebnis von Diskursen aufgefaßt wird. So argumentiert Kaja Silverman, der Körper werde durch heteropathische Identifikation konstituiert; d.h. durch den elterlichen Blick, die elterliche Berührung wird die Selbstwahrnehmung des im Entstehen begriffenen Subjekts den durch die Eltern repräsentierten, kulturell vorgeprägten Körpernormen angeglichen. Es gibt deshalb keinen Körper an sich — oder, in der psychoanalytischen Terminologie Silvermans, kein Reales, das der imaginären Subjektkonstitution vorausgeht.14 Dennoch ist es gerade in der Lebenswelt wichtig, zwischen dem Körper als hegemonialer Konstruktion und der individuellen, verkörperten Erfahrung zu unterscheiden, denn die beiden Aspekte decken sich nicht vollkommen miteinander, zumal es ja sehr unterschiedliche Körper gibt; weibliche und männliche, helle und dunkle, alte und junge. Foucaults Analysen in >Überwachen und Strafen< verdecken solche Unterschiede, indem sie den allgemeinen, universellen Diskurs gegenüber der Spezifizität des einzelnen Körpers und der konkreten Erfahrung privilegieren. Diese Universalität ist von feministischen und postkolonialen Theoretikern zu Recht kritisiert worden.15 Ich möchte daher Katherine Hayles' Vorschlag aufgreifen und zwischen den Begriffen >body< und >embodiment< unterscheiden, wobei >body< den Körper als kulturelles und hegemoniales Konstrukt im Sinne Foucaults bezeichnet, >embodiment< dagegen die spezifische und individuelle Körpererfahrung.16 Obwohl die Möglichkeit zur verkörperten Erfahrung des >embodiment< erst durch die Einbettung des individuellen Körpers in den universalen Körper-Diskurs gegeben ist, wird >embodiment< wenigstens teilweise als unabhängig von vorgängigen Konstruktionen des Körpers erfahren und erhält dadurch ein subversives Potential, wie Hayles argumentiert: »Experiences of embodiment, far from existing apart from culture, are always already imbricated within it. Yet because embodiment is individually articulated, there is also at least an incipient tension between it and hegemonic cultural constructs.«17 Der performative Faktor der individuellen Artikulation ist für künstlerische Körper-Darstellungen von zentraler Bedeutung, eröffnet er doch die Möglichkeit einer produktiven Spannung oder Abweichung von der Norm. Zwar dienen Darstellungen von Körpern 14 15 16
17
Silverman, The Threshold of the Visible World, S. i6ff. Poster, The Mode of Information; Scarry, The Body in Pain. Hayles, How We Became Posthuman, S. igoff. Zur Rolle des >embodimentBodies that MatterGender Trouble« dem Körper keine Bedeutung zugemessen.
einerseits deren Disziplinierung, wie Foucault aufgezeigt hat; andererseits aber können sie auch das utopische Bild eines anderen Körpers aufscheinen lassen. In den Romanen der Frühromantik ist der Körper immer weiblicher Körper. Dessen konstruierte Natur wird in den einzelnen Textinterpretationen deutlich werden. Es sei jedoch jetzt schon betont, daß der weibliche Körper in diesen Texten ein ideelles und transzendentales Konstrukt darstellt, das nicht mit konkreter, historischer Erfahrung und Verkörperung verwechselt werden darf. Es handelt sich also um >bodiesembodiment< in Texten um 1800 faktisch keine Rolle spielt — schon deshalb, weil der weibliche Körper dort als das Andere des männlichen Subjekts entworfen wird und deshalb nicht als Bereich eigener Erfahrung, sondern als reine Projektionsfläche für die männliche Imagination fungiert. Dabei steht der weibliche Körper stets in einem engem Zusammenhang mit poetologischen Fragen, insbesondere mit dem Phänomen der Autorschaft, das für die frühromantischen Schriftsteller eine Schlüsselfrage ihres Selbstverständnisses darstellt. 1.1.2 Autorschaft um 1800 Jede Gesellschaft, so Foucault, kennt vier verschiedene Umgangsformen mit Diskursen, nämlich Kontrolle, Selektion, Organisation und Kanalisation.,l8 Dazu bedient sich die Gesellschaft dreier Ausschließungssysteme, die bestimmen, was überhaupt als Diskurs zugelassen wird: das verbotene Wort, die Ausgrenzung des Wahnsinns und der Wille zur Wahrheit. So schließt etwa die Ausgrenzung des Wahnsinns große gesellschaftliche Gruppen von der Teilnahme am Diskurs aus, indem sie deren Beiträge als nicht zum Diskurs zugehörig bestimmt. Diese Ausschließung betrifft im ausgehenden 18. Jahrhundert auch noch Frauen. Wir werden das an Brentanos Umgang mit den schriftstellerischen Unternehmungen seiner Frau Sophie Mereau sehen. Wichtiger für die folgende Untersuchung ist jedoch eine zweite Gruppe von Regelungsmechanismen: die der internen Prozeduren, mit denen die Diskurse sich selbst kontrollieren. Solche internen Regelungsmechanismen stellen der Kommentar, der Autor und die Disziplinen dar/9 Diese drei Mechanismen dienen einer Verknappung des Diskurses: der Kommentar, indem er Primär- von Sekundärtexten und Kanonisiertes von 18 19
Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. n. Ders., S. 17ff.
nicht Kanonisiertem unterscheidet; die Disziplinen, indem sie die Grenzen zwischen Innen und Außen des Diskurses festlegen, und der Autor als Prinzip der Gruppierung von Diskursen. Die Kategorie Autorschaft, die ja im Mittelpunkt der Brentano-Interpretation stehen soll, ist in diesem Sinne als ein diskursives Konstrukt zu verstehen. Zugleich aber wird Autorschaft als dasjenige Medium konzipiert, in dem Identität und Individualität hergestellt werden. Dieser innere Widerspruch der Kategorie Autorschaft fuhrt sowohl für die Autorengeneration um 1800 als auch für ihre postmodernen Interpreten zu Problemen. Nach dem vermeintlichen >Tod des Autors< hat seit etwa 15 Jahren ein verstärktes Interesse der Literaturwissenschaft an Phänomenen der Autorschaft zur Rede von der >Rückkehr des Autors< geführt.20 Diese beiden Positionen schließen sich allerdings keineswegs notwendig aus. Zu unterscheiden ist vielmehr die ideologische Weigerung, sich nach dem scheinbaren Tod des Subjekts mit der Kategorie Autorschaft auseinanderzusetzen, von der Problematik des Verschwindens des realen Autors hinter der konstruierten Individualität des Textes. Foucault und Barthes, die häufig als Gewährsleute für die erstere Position ins Feld geführt werden, haben eigentlich das zweite Phänomen gemeint.21 In diesem Sinne sind die beiden bestimmenden Momente der Autorschaftskonstruktion des späten 18. Jahrhunderts — die Vergötzung des Autors im Geniekult einerseits, das Verschwinden des Autors aus einem zunehmend als selbstreferentiell konzipierten Text andererseits — Indikatoren für ein systematisches Problem der Kategorie Autorschaft. Zu Recht führt Erich Kleinschmidt an, daß es sich hierbei um ein semiologisches Problem handelt, das die Kategorie Autorschaft bis in die Postmoderne hinein problematisch erscheinen läßt: Die auktorialen Maskierungen verwischen das Substrat realer Subjekte, deren substantielle Wirklichkeit durch Figurationen ersetzt wird. [...] Das Spiel der Signifikanten, das durch die auktoriale Figuration in Gang gesetzt wird, funktioniert fortan ohne das Subjekt, das sich in ihm aufbewahrt und zugleich ausgibt. Der Schnitt der Textualität depersonalisiert die Autorschaft. Sie wird Vgl. u.a. Detering, Autorschaft; Jay, Being in the Text; Jannidis, Die Rückkehr des Autors; Ingold, Der Autor im Dialog; Corti, Die gesellschaftliche Konstruktion; Kleinschmidt, Autorschaft; Desroches, Authorship, Authority; Woodmansee, The Construction of Authorship; dies., The Author, Art, and the Market. Im Gegensatz zu Günter Blamberger glaube ich nicht, daß Foucaults Analyse auf einer »ontologischen Annahme eines transpersonalen Ursprungs von Kreativität« beruht (Das Geheimnis des Schöpferischen, S. 51). Foucault ist in diesem Punkt etwas undeutlich; trotzdem scheint mir, daß es ihm um die Bedingungen geht, unter denen Texte zirkulieren, und nicht um den individuellen Ursprung von Kreativität.
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ihrer zwingenden, präsenzgebundenen Identität beraubt. Dies ermöglicht bzw. erhöht die Reichweite der zeichengebundenen Mitteilbarkeit und Bewahrbarkeit." Besonders problematisch, so Kleinschmidt, ist diese Ambivalenz zwischen Auflösung und Bewahrung der Autor-Persona fur die Zeit um 1800. Einerseits werden infolge der Genieästhetik besonders hohe Erwartungen in die textuelle Bestätigung individueller Autorschaft gesetzt: Die von Descartes eingeführte Selbstbezüglichkeit des Subjekts [...] verlängert sich für die genieästhetische Autorschaft zur Selbstpräsenz im sprachlichen Darstellungsakt. Die Signifikanten lassen sich dann nicht mehr nur als Äußerungen über das jeweils durch sie Bezeichnete begreifen, sondern sie übernehmen die Funktion, dem sie einsetzenden Subjekt als Medium der Selbstaffektion zu dienen.23 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Stephan Jaeger, der zudem den Zusammenhang des Ausdrucksproblems von Autorschaft mit der Konzeption des autonomen Zeichens betont, die ich in meiner Novalis-Interpretation erörtern werde: Das Subjekt als Träger des Bewußtseins seines Selbst gerät [um 1800] in ein Ausdrucksparadox. Die Selbstbezüglichkeit des sprachlichen Zeichens unterminiert jegliche authentische Darstellung. Damit besteht eine Lücke zwischen dem Selbst des Subjekts und der Sprache.24 Zusammen mit der zunehmenden Selbstreflexivität der Literatur und sogar des Zeichens selbst verursacht die notwendige Entäußerung im Schreiben weitreichende Probleme für den Selbsterhalt des Autorsubjekts: Dadurch, daß das Ich Text wird, gewinnt es zwar selbst subjektiv an Bewußtsein und Empfindung, doch verliert es zugleich an erkennbarer Kontur, denn der Text ist kein exegetisches Dokument des ihn formulierenden Subjekts. Autorschaft setzt zwar einen Modus der Selbstdarstellung in Gang, doch ist das sprachliche Ereignis eben nicht das Subjekt selbst, sondern nur seine metonymische Maskierung. Das sprachliche Substrat setzt sich ganz an die Stelle des Ich, das zum Supplement des Textes wird.25 Eben diese Verwischung individueller Züge im Text hat Foucault als Verlust der Autorität des Autors seit der Antike beklagt.20 Foucault verweist auf die konstruierte Natur der Autorfigur und fordert, die Literaturwissen22 2}
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Kleinschmidt, Stillegungen, S. 9. Kleinschmidt, Autorschaft, S. 61. Speziell zur romantischen Autorschaft vgl. auch Bolz, Über romantische Autorschaft. Jaeger, Theorie lyrischen Ausdrucks, S. 12. Kleinschmidt, Autorschaft, S. 61. Foucault, Was ist ein Autor, S. 22ff. Vgl. auch Barthes, Das Reich der Zeichen.
schaft solle von »Autorfunktionen« statt von Autoren sprechen and diese Autorfunktionen seien Teil der Diskurse, die Bedeutung schaffen und strukturieren. Das in diesem Sinne verstandene Prinzip Autor als eines überpersönlichen Regelungsmechanismus bildet am Ende des 18. Jahrhunderts dasjenige Medium, in dem Individualität und Identität nicht nur dargestellt, sondern vor allem performativ hergestellt werden. Diese Einsicht verdanken wir Matthias Luserke, der »die Entstehung moderner Individualität am Werk des jungen Goethe« paradigmatisch veranschaulicht hat.27 Die »Entdeckung der Individualität«, so Luserke, sei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts »aus dem Geiste der Literatur« erfolgt.28 Luserke gliedert diesen Prozeß in zwei Schritte: erstens den Rückzug ins Private in den Jugendarbeiten Goethes, den er als »Literarisierung des Ichs« versteht. Hier findet also die eigentliche Erfindung von Individualität statt. In einem zweiten Schritt tritt dann das so entstandene, literarisierte Individuum »mit dem Bewußtsein seiner Individualität wiederum in die Öffentlichkeit«. 29 Diese Literarisierung des Lebens verortet Luserke in Goethes Sesenheimer Liedern und weist ausdrücklich darauf hin, daß die hier konstruierte literarische Identität im diskursiven Feld binärer Geschlechtercharaktere zu verorten ist. Goethes »Schreiben des Lebens« erfolgt nämlich über die »Literarisierung der Frau, gleichsam die Medientransformation des Körpers der Frau«.30 Auf die zentrale Funktion des literarischen Konstruktes »Frau« im literarischen Diskurs — oder »Aufschreibesystem« - um 1800 hat auch Friedrich Kittler verwiesen. »Das Gleichungssystem Frau = Natur = Mutter«, so Kittler, werde in der pädagogischen Literatur um 1800 durch die Forderung nach einem Spracherwerb unter Anleitung der Mutter zum Ursprung aller Kulturisation stilisiert. Die Mutter oder allgemein die Frau stelle in der klassisch-romantischen Epoche folglich auch den ursprünglichen Ort jeder Dichtung dar. Das Projekt der Romantikforschung besteht für Kittler deshalb darin, »die Einsetzung von Müttern an den Diskursursprung als Produktionsbedingung der klassisch-romantischen Dichtung und Die Mutter als jene erste Andere zu analysieren, die von poetischer Hermeneutik verstanden wird.« 31 Die von Kleinschmidt beschriebene Krise der literarischen Autorschaft am Ende des 18. Jahrhunderts hängt demnach eng mit der literarischen Konstruktion neuer, polarer Geschlechtercharaktere 27 28 29 30 31
Luserke, Der junge Goethe, S. 12. Ders., S. 13. Vgl. auch Dülmen, Die Entdeckung des Individuums. Luserke, Der junge Goethe, S. 14. Ders., S. 13. Kittler, Aufschreibesysteme, S. 34. 2O
zusammen. Das hat auch die feministische Literaturwissenschaft bestätigt. So sprechen Ina Schabert und Barbara Schaff von einer »Phase des Umbruchs« in der Konzeption von Autorschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert: »Im Verlauf dieses Jahrhunderts haben sich sowohl die Vorstellungen von Autorschaft als auch von Geschlechterdifferenz, von literarischem Genie und von Genus, grundlegend gewandelt.«32 Wird dabei das Genie als männlich bestimmt, so wird andererseits das Weibliche — als Produktionsursprung männlicher Schrift — mit einem anderen Medium, nämlich der mündlichen Rede identifiziert, die der schriftlichen Verfaßtheit des literarischen Textes als utopisches Gegenmodell gegenübergestellt wird. Diese Konstellation von weiblicher Rede und männlicher Schrift bildet die Grundstruktur von Clemens Brentanos Erzählen und soll im folgenden mit dem Begriff der >androgynen Autorschaft gefaßt werden. 1.1.3 Sprache und Geschlecht in psychoanalytischen Theorien Wenn >Geschlecht< kein biologisches Faktum, sondern eine diskursive Konstruktion darstellt, dann kann es nicht unabhängig von sprachlichen Repräsentationen betrachtet werden. Intensiv ist der Zusammenhang von Sprache und Subjektivität innerhalb der psychoanalytischen Theorie diskutiert worden, und hier ergeben sich überraschende Parallelen zur Poetologie der Frühromantik. In Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Theorie Lacans und Kristevas läßt sich daher eine Begrifflichkeit entwickeln, die als Beschreibungssprache für die folgenden Analysen romantischer Romane fruchtbar gemacht werden kann. Jacques Lacan beschreibt die Erfahrung einer fragmentierten Subjektivität, die schon in der idealistischen Subjektphilosophie als konstitutives Element der Selbstwahrnehmung gilt, als Symptom einer Sprachproblematik: weil »die Sprache samt ihrer Struktur existiert, bevor ein beliebiges Subjekt in einem bestimmten Moment seiner geistigen Entwicklung in sie eintritt«, müsse das Subjekt »als ein Sklave der Sprache erscheinen«.33 Die Sprache, die als symbolische Struktur der Intersubjektivität dem Selbstbezug des einzelnen Individuums stets vorausgeht, produziert das Ich als eine imaginäre Struktur der Verkennung.34 Da Sprache der subjektiven Realitätskonstitution vorausgeht, »ist also die Wahrheit von an32 33
34
Schabert und Schaff, Autorschaft, S. . Lacan, Schriften II, S. 19. Zur idealistischen Subjektphilosophie vgl. Frank, Das Problem »Zeit«, S. 85^ Vgl. Lacan, Schriften I, S. 115; ders., Freuds technische Schriften, S. 115 und 150; sowie ders., Die vier Grundbegriffe, S. 208. 21
derswo her garantiert als von der Realität, die sie betrifft: aus dem Sprechen«.35 Die Sprache im Allgemeinen ist bei Lacan Ersatz für ein nicht einholbares Reales, das sich der Versprachlichung ständig entzieht und das deshalb nur als Leerstelle gedacht werden kann.30 Der Bereich des Imaginären stellt angesichts dieses nicht zu behebenden Mangels eine notwendige Verkennung dar, ein Korrelat der symbolischen Ordnung, die das >imaginäre Ich< (»moi imaginaire«) als fantasmatischen Effekt produziert. Das Andere (die symbolische Ordnung) erweist sich für Lacan »als Name für die durchaus immanente Erfahrung, die das Selbst mit seinem Unvermögen macht, sich als eine Realität zu begründen«.37 Die Erfahrung subjektiver Fragmentiertheit und der Insuffizienz von Sprache bedingen einander. Weil Sprache die individuelle Selbstwahrnehmung des Subjekts präveniert, tritt dem Subjekt die eigene sprachliche Äußerung als eine verfremdete entgegen.38 Die individuelle Produktion von Sprache speist sich für Lacan aus dem unstillbaren »besoin« der Subjekte, ihrem Begehren nach Sein und Identität überhaupt.39 Dies Begehren kann nie erfüllt werden, weil Sprache als intersubjektive >symbolische< Struktur eine authentische Selbstmitteilung des Subjekts gerade subvertiert. Zudem liegt es in der Struktur der Sprache, deren Zeichen sich nie auf einen einzigen, identischen Sinn beziehen lassen, daß sie die Welt der Dinge beständig verfehlt. Die Leerstelle des Realen, auf die der »besoin« des Subjekts abzielt, läßt sich deshalb ausschließlich mit »Metaphern« füllen, unter denen neben der Metapher des >Ich< (»moi imaginaire«) die der Mutter-Kind-Dyade eine herausragende Rolle spielt. Der Begriff der Metapher bezeichnet bei Lacan die imaginäre Fixierung von Bedeutung.40 Der Verschiebung von Bedeutung in der Metapher hat Freud in seiner Theorie der Traumdeutung die metonymische Verdichtung von Bedeutung entgegengesetzt.41 Diesen Gegensatz greift 35 36
37 38 39 40 41
Lacan, Schriften H, S. 182. Das >Reale< bezeichnet bei Lacan eine sprachlich nicht einholbare Welt der Differenzen, der Begriff der >Realität< dagegen die imaginären Identifikationen, durch die sprachliche Bedeutungen fixiert und hypostasiert werden. Vgl. Freuds technische Schriften, S. i i^f. Frank, Das individuelle Allgemeine, S. 90. Vgl. Lacan, Schriften II, S. 65. So auch Frank, Das individuelle Allgemeine, S. 02f. Lacan, Schriften H, S. 4$. Ders., S. 3iff. Der Gegensatz von Verschiebung und Verdichtung bezieht sich bei Freud auf die unbewußte Traumarbeit (und auf die unbewußten Vorgänge beim Witz), nicht jedoch auf die Sprache überhaupt (Fr VI, S. 95f. und i86ff.). Allerdings deutet sich der Zusammenhang zwischen der Traumsyntax und sprachlichen Vorgängen, wenn auch unsystematisch, an, wenn Freud die Verschiebung explizit als sprachliches Bild und als Metapher beschreibt: »Die nächsten Traumgedanken, welche man durch die Analyse entwickelt, fallen nämlich häufig durch ihre ungewöhnliche Einkleidung auf; sie scheinen nicht in den nüchternen 22
Lacan auf. Während die Sprache den Mangel symbolisiert, wird im Imaginären der Mangel durch Bilder ausgefüllt und verdeckt.42 Die Vorstellung einer ungeschiedenen Beziehung zum mütterlichen wie zum eigenen Körper, welche die Voraussetzung für die Herausbildung einer identischen Selbstbeziehung bildet, stellt demnach eine imaginäre Produktion dar: eine den Mangel des Subjekts kaschierende Metapher, mithin eine Form der Verkennung. Damit ist die psychische Repräsentation des Körpers für Lacan insgesamt dem Imaginären verhaftet. Am Ursprung des Subjekts steht gerade nicht die identitätsstiftende Einheit mit dem mütterlichen Körper, sondern das Subjekt ist von vornherein nichts als Spiegelung: es ist »in einer konstituierenden Teilung begriffen[]«.43 Durch die Doppelkonstruktion von »moi imaginaire« (imaginäre Fixierung des Subjekts) und »sujet veritable« (fluktuierendes Ich des Unbewußten) gelingt es Lacan, an einem emphatischen Begriff von Subjektivität festzuhalten, obwohl er zugleich das Ich als imaginäres Produkt von Sprache beschreibt. Das Ich ist demnach sowohl erstarrtes Produkt des Unbewußten als auch ein authentischer Zugang zu diesem. Lacans Subjektbegriff ist also ambivalent, und ähnlich verhält es sich mit seiner Einstellung zum Imaginären: die Produktion eines imaginären Ich bildet für Lacan zunächst eine unabdingbare Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit Welt, entstellt aber den authentischen »besoin« des Unbewußten, indem sie die leere Dynamik des Begehrens hinter einer imaginären Fixierung und Hypostasierung von Bedeutung verbirgt. Da die Sprache des Unbewußten, die Lacan — im Gegensatz zur konventionellen Sprache der symbolischen Ordnung — positiv bewertet, nichts als ein unstillbares Begehren darstellt, mithin eine leere Dynamik, erhebt sich die Frage, ob Lacan damit überhaupt ein Positivum beschreibt oder zu beschreiben versucht, oder ob die Konzeption einer »Sprache des Unbewußten« selbst nur eine Metapher ist, die die Erfahrung der Insuffizienz von Sprache kaschieren soll. Sollte die zweitere Annahme zutreffen, so würde die Lacansche Konstruktion des Unbewußten den Versuch einer Bewältigung dieser Insuffizienz-Erfahrung darstellen und bliebe damit (trotz aller Bemühungen des Autors, das Unbewußte als reine Dynamik darzustellen und nicht inhaltlich zu fixieren) selbst im Imaginären verhaftet.
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sprachlichen Formen gegeben, deren sich unser Denken am liebsten bedient, sondern sind vielmehr in symbolischer Weise durch Gleichnisse und Metaphern [...] dargestellt« (Frll/III, S. 67 if.). Kittler, »Das Phantom unseres Ichs«, S. 15iff. Lacan, Schriften II, S. 234.
Das Lacansche Modell der Subjektivität gilt nicht für beide Geschlechter, sondern nur für den Mann. Auch in der Liebesbeziehung sieht Lacan eine Form der Verkennung: sie ist ebenso fantasmatisch wie die Metaphern des Ich und der Mutter-Kind-Dyade, denn die präödipale, imaginäre Spiegelstruktur prägt auch alle späteren Beziehungen des Subjekts. In der Liebe gibt es immer nur ein Subjekt — das des Mannes, der sich in der geliebten Frau spiegelt. Die Frau wird damit auf die Funktion eines Signifikanten des männlichen Begehrens reduziert, ohne zu einer eigenen Subjektivität, eigenen Sprache und eigenem Begehren gelangen zu können.44 Indem weibliche Subjektivität verhindert wird, wird für den Mann die Herausbildung und Fixierung seines »moi imaginaire« ermöglicht, wobei die Frau als Verkörperung des unbewußten Begehrens des Mannes fungiert. Die Frau stellt für Lacan folglich einen Fetisch dar, der — wie schon in der Theorie Freuds - den Phallus ersetzt, und fungiert somit zugleich als Ursache und als Zeichen eines unwiderruflichen Verlustes.45 Stärker noch als Lacan hat Julia Kristeva - in Fortführung der Lacanschen Thesen — den Prozeß der Subjektkonstitution an den der Sinngebung in der Sprache angebunden. Semiotisches und Symbolisches, präund postödipale Phase, sind in Kristevas Theorie konkurrierende (dabei jedoch nie voneinander zu trennende) Formen von Signifikation. Das Semiotische, der »rhythmische Raum [...] noch ohne Thesis und Setzung«, gilt Kristeva als der Modus präödipaler Bedeutungskonstitution.4 Da das präödipale Subjekt erst ein werdendes (mithin noch abwesendes) ist, stellt das Fehlen einer ausgeprägten Subjektivität eine wesentliche Voraussetzung für die Funktionsweise des Semiotischen dar. Kristeva charakterisiert das Semiotische, das damit in die Nähe der Lacanschen vollen Sprache des Unbewußten rückt, als »psychosomatische Modalität des Prozesses der Sinngebung«: »gleichgültig gegenüber der Sprache, rätselhaft und weiblich, ist dieser dem Schreiben zugrunde liegende Bereich rhythmisch, entfesselt und nicht auf seine intelligible, verbale Übersetzung reduzierbar«.47 Zwar geht das Semiotische in der Chronologie der Subjektkonstitution dem Symbolischen voraus; es besteht jedoch neben und im Symbolischen fort und birgt mithin die Möglichkeit, das Symbolische ständig zu durchbrechen.48 44 45
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48
Ders., S. 130. Ders., S. 129. Freud: »Fetischismus« (Fr XIV, 311-317). Vgl. auch Ian, Remembering the Phallic Mother. Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 37. Dies., S. 4of. Da sich alle Beschreibungsversuche des Semiotischen diesem bestenfalls annähern können, hat Kristevas Definition lediglich heuristischen Wert. Vgl. dies., S. 52 und 71.
Anders als für Lacan, gehört für Kristeva der Signifikant nicht mehr ausschließlich der symbolischen Ordnung an, sondern hat auch am Semiotischen teil. Eben deshalb spricht Kristeva der Poesie die Möglichkeit zu, die bestehenden sozialen Verhältnisse (die symbolische Ordnung) zu revolutionieren. Wenn in der Theorie Kristevas Semiotisches und Symbolisches immer schon nebeneinander bestehen, muß auch die präödipale Phase ein Eindringen des Symbolischen erfahren.49 Kristeva setzt eine Dialektik von Semiotischem und Symbolischem voraus, in der das Subjekt ständig zwischen Abwesenheit und Spaltung oszilliert. Im Gegensatz zu Lacan geht sie nicht von zwei verschiedenen Subjektbegriffen aus, sondern von einem in sich ambivalenten Subjektprozeß. Die Spaltung des Subjektes tritt in Kristevas Theorie nicht erst mit der ödipalen Phase des Spiegelstadiums ein, sondern das Subjekt unterliegt aufgrund des Triebdualismus von Anfang an keiner einheitlichen Selbstwahrnehmung.50 Das Körperkontinuum der semiotischen >chora< muß als fantasmatisch gelten, denn es fällt immer schon der Störung durch das Symbolische anheim. Umgekehrt unterliegt jedoch auch das Symbolische einer ständigen Durchbrechung durch das Semiotische.51 Kristeva akzentuiert das subversive Potential der Subjektfragmentierung stärker als Lacan, der eher die einheitsstiftende Funktion der SubjektMetapher betont. Damit beschreibt sie Subjektivität nicht mehr als einseitig sprachlich determiniert, sondern räumt dem Subjekt einen kreativen Platz in der Sprache ein. Durch den semiotischen Aspekt der Sprache werden die Geschlechteridentitäten Kristeva zufolge aufgeweicht (und nicht, wie in der Theorie Lacans, zementiert). Wegen der Koinzidenz des Semiotischen mit Weiblichkeitszuschreibungen (Sprachlosigkeit, Musik, Poesie und Tod) erscheint >Weiblichkeit< bei Kristeva als eine marginale Position innerhalb der Sprache, die von Männern ebensogut wie von Frauen eingenommen werden kann. Damit widerspricht Kristeva den Lacanschen Vorgaben, auf die sie sich dennoch immer wieder beruft. Nach Lacan liegt die subjektive Erfahrung des Mangels an Identität in der Vorgängigkeit von Sprache gegenüber Subjektivität begründet. Sprache ist durch ihre Intersubjektivität gekennzeichnet und deshalb immer Teil der symbolischen Ordnung. Im Gegensatz dazu propagiert Kristeva eine nicht-symbolische 49
50 51
Dies., S. 35. Trotzdem bezeichnet Kristeva die präödipale Phase an einigen Stellen als ausschließlich durch die psychosomatische Signifikation des Semiotischen bestimmt (dazu s. u.). Dieser Widerspruch im Theoriegebäude Kristevas läßt sich meines Erachtens nicht auflösen. Dies., S. 39. Dies., S. 71.
(und damit vor und jenseits des Geltungsbereiches von Intersubjektivität angesiedelte) »poetische Sprache«, die den Tod des Subjekts voraussetzt: »Eine solche Praxis im Prozeß hat keinen Adressaten; kein Subjekt, und wäre es gleich gespalten, könnte sie vernehmen«. 52 Diese These widerspricht nicht nur der Lacanschen Theorie, sondern auch Kristevas eigenen Prämissen. Kristeva hatte zunächst argumentiert, schon das Semiotische selbst sei durch das Eindringen des Symbolischen gekennzeichnet.53 Nun sieht sie jedoch eine desubjektivierte, rein semiotische Poesie bei Avantgarde-Autoren wie Lautreamont, Mallarme und Joyce verwirklicht.54 Die Vorstellung eines solchen semiotischen Sprechens stellt ein Paradox dar. Zum einen ist unklar, wie eine rein semiotische poetische Sprache möglich sein kann, wenn doch das Semiotische immer schon durch das Eindringen des Symbolischen gestört wird. Kristeva beschränkt denn auch an anderer Stelle das Semiotische auf »nicht-verbale Zeichensysteme« wie die Musik und schließt die Möglichkeit einer semiotischen Sprache explizit aus.55 Zum anderen ist fraglich, wie das Subjekt der Spaltung durch das Symbolische entkommen und zu einem semiotisch-abwesenden werden kann, wenn es immer schon zwischen Abwesenheit und Spaltung schwankt, ja in diesem Schwanken seine eigentliche Identität besteht. Was Kristeva bei den genannten Avantgarde-Autoren als »Praxis des Prozesses« bezeichnet, ist weniger ein Merkmal der Texte selbst als vielmehr ein Lektüreverfahren, wie sie selbst einräumt: Seit Lautreamont, Mallarme, Joyce und Artaud heißt lesen nicht mehr, lexikalisch-syntaktisch-semantische Entzifferungsarbeit leisten, sondern die Genese ihrer Texte nachvollziehen. [...] Die Praxis des Prozesses geht mit Aufräumung einher, die vor nichts haltmacht. Sie zerstört jede Konstanz, erzeugt eine andere, die sie ebenfalls zerstört.56
Damit beschreibt Kristeva einen normalen Lektüreprozeß, der für jede Lektüre gilt. Wolfgang Iser bezeichnet als »Text« den »ganze[n] Verlauf, der von der Weltzuwendung des Autors bis zu seinem Erfahrbarwerden durch den Leser reicht«: »Dort also, wo Text und Leser zur Konvergenz gelangen, liegt der Ort des literarischen Werks, und dieser hat zwangsläufig einen virtuellen Charakter, da er weder auf die Realität des Textes noch auf die den Leser kennzeichnende Disposition reduziert werden kann.« 57 52 53 54 55 56 57
Dies., S. 109. Dies., S. 38f. Dies., S. in Dies., S. 35. Dies., S. in. Iser, Der Akt des Lesens, S. VII und 38. 26
Die zentrale Rolle des Lesers bei der Textkonstitution, die der des Autors durchaus nicht nachsteht, erkannten schon die Romantiker. So erklärt Friedrich Schlegel, daß »Lesen und Schreiben jetzt nur dem Grade nach verschieden« sind (FS II, 399:10), und Novalis postuliert: »Der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn« (N II, 470:125). Insbesondere die Lektüre poetischer Texte läßt sich nie auf eine »lexikalisch-syntaktisch-semantische Entzifferungsarbeit« reduzieren. Allerdings fördern die Texte der von Kristeva genannten Autoren durch ihre extreme Bedeutungsoffenheit eine bewußte Textkonstitution durch den Leser. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß dort eine »Zerstörung des Zeichens und der Repräsentation« vorliegt. Gerade die von Kristeva vorgenommene Reduktion des Avantgarde-Textes auf präödipale Triebbewegungen ist fragwürdig, denn die angeführten Werke sind hochartifizielle (also symbolische) Konstruktionen, deren Verständnis umfangreiche Kenntnisse des Symbolsystems Literatur erfordert. Der Begriff der »Praxis des Prozesses« taugt deshalb nicht zur Beschreibung existierender Texte. Vielmehr bezeichnet er einen Anspruch, der von den einzelnen Texten nie eingeholt werden kann. In ähnlicher Weise fungiert auch Kristevas Vorstellung des Semiotischen als Anspruch. Das Semiotische stellt (wie bei Lacan das »sujet veritable« des Unbewußten) eine retrospektive Konstruktion dar, die den primären Mangel des Subjekts, sein Schwanken zwischen Abwesenheit und Spaltung, kaschieren soll. Das hat Folgen für Kristevas Konzeption der Geschlechterdifferenz. Wenn das Semiotische, der weibliche Aspekt von Sprache und Bedeutung, einen Anspruch ohne Widerpart in der Wirklichkeit bezeichnet, dann bleibt Weiblichkeit (wie schon in den Schriften Lacans) vom symbolischen Register ausgeschlossen. Die Position des Weiblichen ist in der Argumentation Kristevas folglich ambivalent. Dies wird besonders anhand ihrer Darstellung der Funktion des mütterlichen Körpers deutlich. Einerseits assoziiert Kristeva das Mütterliche mit der semiotischen >choraSubstanzNichtsOfterdingenLucinde< gestellt werden. Daß die androgyne Seite der Autorschaft beinahe ausschließlich für Männer reklamiert wird, dokumentiert auch die Forschungsliteratur zur Androgynie. So sind fast alle als »androgyn« gepriesenen Autoren in Carolyn Heilbrunns epochemachender Arbeit >Toward a Recognition of Androgyny < von 1964 männlich, allen voran Shakespeare. Den Vorwurf, daß Androgyne immer femininisierte Männer seien, nie maskulinisierte Frauen, erheben auch Barbara Gelpi und Cynthia Secor.69 Wo Androgynie dagegen von weiblichen Autorinnen reklamiert wird (Virginia Woolf, Ricarda Huch), geht dies notwendig mit einer Ablehnung des weiblichen Körpers einher.70 Der Enthusiasmus, den Heilbrunn der Androgynie noch entgegenbringt, ist daher von der folgenden Generation von Feministinnen teilweise heftig kritisiert worden.71 Schlegel und Novalis sprechen nicht ausdrücklich von »Androgynie«. Dieser Terminus hat sich erst in der Forschung eingebürgert, wobei zugestanden sei, daß die Romantiker zumindest implizit auf Platons Androgynen-Mythos zurückgreifen, aus dem der Begriff stammt. Während die platonischen Androgyne tatsächlich doppelgeschlechtliche Wesen sind, denken die Romantiker aber wohl nicht an eine konkrete sexuelle Realisation, sondern streben eher eine transzendentale und poetologische Vervollkommnung an. Die sexuell geprägte Androgynen-Metapher hat deshalb 69 70 71
Gelpi, The Politics of Androgyny; Secor, Androgyny. Vgl. MacLeod, Embodying Ambiguity, S. 16. Vgl. dazu ausführlich Weil, Androgyny and the Denial of Difference.
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bis in die jüngste Forschung hinein für Verwirrung gesorgt. Bereits 1919 monierte Fritz Giese in der ersten wissenschaftlichen Untersuchung zum frühromantischen Androgynenmodell die Inkonsistenz romantischer Autoren in der Verwendung der Begriffe >HermaphroditAndrogyn< und >EunuchGeschlecht< ja ohnehin immer durch kulturelle Fiktionen geprägt ist. Wenn ich den Begriff >Hermaphrodit< verwende, dann um eine besondere Unterkategorie androgyner Fiktionen zu bezeichnen, nämlich die eines mann-weiblichen Körpers mit zweierlei Geschlechtsorganen. Meines Erachtens liegt die heuristische Bedeutung des Androgynie-Begriffs dagegen gerade in seiner produktiven Unscharfe. Darin gehe ich mit Achim Aurnhammer konform, der in seiner Studie zur (poetologischen) Androgynie gegen enge »Nominaldefinitionen« argumentiert, »die >Androgynie< mit Begriffen wie >MannweiblichkeitHermaphroditismusBisexualitätGeschlechtslosigkeit< oder >Urmenschentum< erklären«. Diese blieben »zu speziell, als daß sie die Grundlage für eine systematische Klassifikation liefern könnten. Sie führen dazu, entweder das Motiv auf epochen- oder autorenspezifische Fassungen zu verkürzen, oder Androgynie in mythischen Gestalten wie Hermaphroditen aufgehen zu lassen.«75 Statt dessen schlägt Aurnhammer eine pragmatische Verwendung des Androgynen-Begriffs vor: >Androgynie< heißt wörtlich >MannweiblichkeitAndrogynie< soll hier jede Relation zweier komplementärer Elemente heißen, die eins waren, eins sind oder eins sein möchten, sofern die Komplementarität geschlechtlich erkennbar ist.70
72 73 74 75 76
Giese, Die Entwicklung des Androgynenproblems, S. 89. Weil, Androgyny and the Denial of Difference. MacLeod, Embodying Ambiguity, S. 28. Aurnhammer, Androgynie, S. 2. Ebd.
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Grundlage von Brentanos androgynen Autorschaftsfantasien sind allerdings nicht die anthropologischen Ursprungstheorien, in denen Aurnhammer das Androgynie-Motiv im 18. Jahrhundert verankert hat,77 sondern kulturelle Schöpfungsmythen, die mit der GeschlechterdifFerenz operieren — insbesondere das Modell von Dichter und Muse, das auch das poetologische Androgynenmodell im >Ofterdingen< strukturiert. In diesem Denkmodell fungiert die Muse als »allerdings selbst stumme, der Dichterstimme bedürfende, aber zugleich auch leitende Garantin der poetischen Darstellung«, wie Erich Kleinschmidt dargelegt hat: »Hinter der Autorschaft steht mit den Musen ein weibliches Entbindungskonstrukt, das meditative und überlieferungssichernde Elemente bündelt.«78 Diese »Grundkonstellation einer feminin verhüllten, auktorialen Subjektivität« bedient sich der Geschlechterdifferenz, um »ideell eine geschlechterübergreifende Werksphäre aufzurufen, die eine human begründete Allgemeingültigkeit zu repräsentieren scheint«.79 Die dabei imaginierte universale Autorschaft ist fantasmatisch, denn in Wahrheit handelt es sich bei der Autor-Muse-Konstellation um ein hegemoniales Konzept, das den realen Ausschluß von Frauen von der Textproduktion ideologisch verschleiert und es den männlichen Autoren im Gegenzuge ermöglicht, die naturhaft-weiblichen Aspekte von Produktivität für sich zu beanspruchen. Am Ziel der Einverleibung des Weiblichen steht die Vervollkommnung des männlichen Subjekts zum androgynen Künstler. Das Androgyne fungiert dabei nicht als das gefährliche Andere, sondern als befriedigendes Bild einer männlichen Selbstfindung.
1.2 Mignon Goethe schlug Mignon tot mit seiner Leier und begrub sie tief, und verherrlichte ihr Andenken mit den schönsten Liedern.80
>Wilhelm Meisters Lehrjahre< ist derjenige Roman, der Goethes Rang als Autor für die Zeitgenossen festgeschrieben hat. Friedrich Schlegel hat die Bedeutung dieses Textes im 216. Athenäums-Fragment explizit mit der französischen Revolution gleichgesetzt (FS II, 198^:216). Zudem stellt der >Wilhelm Meisten die Initialzündung für den romantischen Roman dar; 77 78 79
80
Aurnhammer, Die eins waren, S. 178. Kleinschmidt, Die weibliche Maske der Poesie, S. 626. Ebd. Borne, Kritische Schriften, S. 281.
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das Modell der >Bildung< als einer durch den Text performativ hergestellten Individualität bildet das bis in die Gegenwart einflußreichste narrative Strukturmodell. Dabei darf die Bedeutung der androgynen Figur Mignon nicht unterschätzt werden. Der explizite Zusammenhang dieser Musenund Inspirationsgestalt mit Phänomenen der Sexualität und der sexuellen Ambivalenz zeigt deutlich, daß Autorschaft um 1800 nicht unabhängig von kulturellen Konstruktionen der Geschlechterhierarchie betrachtet werden kann. Gerade die männliche Autorschaft wird durch die Verbindung mit dem Androgynen jedoch ambivalent und gefährdet. 1.2.i Die rätselhafte, androgyne Erscheinung In ihrer aufschlußreichen Untersuchung zu Androgynie als Verkörperung von Ambiguität postuliert Catriona MacLeod einen »key shift in i8th century treatments of androgyny«, von einem »truly polymorphous bisexual model« hin zum »ideal of androgyny that regards heterosexual coupling as the norm«.81 In der Tat bestehen entscheidende Unterschiede zwischen Goethes Verwendung von Androgynie und dem Androgynenmodell der Romantiker. Während Androgynie in den untersuchten romantischen Romanen ein utopisches Gedankenspiel darstellt, in das die künstlerische Vervollkommnung der männlichen Protagonisten münden soll, begegnet in Goethes >Wilhelm Meister< tatsächlich eine Figur von ambivalentem, ungeklärtem Geschlecht: die rätselhafte Mignon. Deutlicher als in anderen Texten erscheint das sich in Mignon manifestierende Androgyne als ein der binären Geschlechterordnung, und damit der gesamten symbolischen Ordnung, fremd gegenüberstehendes und bedrohliches Anderes. Mignon subvertiert allein durch ihre Existenz die Symbolordnungen Familie, Schrift und Sprache. Radikaler noch als in der theatralischen Sendung< zeigt sich dies in den >LehrjahrenLehrjahren< wird daher Gegenstand der folgenden Überlegungen sein. Dabei wird sich zeigen, daß die Neukonzeption des Helden in den Lehrjahren < — insbesondere Wilhelms Ablehnung der Theaterlaufbahn — sich mit der anhaltenden Bedeutung der rätselhaften Mignon strukturell schwer vereinbaren läßt. Mignon führt daher ein subversives Moment der Unausdeutbarkeit in den Roman ein, das in Wilhelms Unfähigkeit, das poetische Zeichen >Mignon< zu kontrollieren, reflektiert wird. In ihrer Studie über Androgynie ordnet Francette Pacteau Androgynie der prä-ödipalen Entwicklungsphase zu, in der sexuelle Differenz noch nicht wahrgenommen wird, und dem imaginären Stadium, in dem das Begehren noch nicht reglementiert wird.84 Eine solche Verwischung von Differenz findet sich in der Art, wie die anderen Figuren, aber auch der Erzähler, Mignon wahrnehmen. Bereits der häufige Wechsel der Pronominalisierung Mignons indiziert eine Störung der Geschlechterordnung. Insbesondere in der >Theatralischen Sendung< wechselt Mignons grammatisches Geschlecht oft innerhalb einer Passage, ja innerhalb eines Satzes.85 Neben femininer und neutraler begegnet wiederholt auch maskuline Pronominalisierung, so in der folgenden Szene, in der Mignon sich als Wilhelms Sklaven deklariert und ihn bittet, sie loszukaufen, »daß ich dir alleine zugehöre«: Des Abends saß Wilhelm in seiner Stube und schrieb, es klopfte an seiner Türe und Mignon trat herein mit einem Kästchen unter dem Arme. Was bringst du mir, rief Wilhelm ihm entgegen? — Mignon hatte die rechte Hand auf das 83
84 85
Vgl. dagegen MacLeod, Embodying Ambiguity, S. 23: »In this narrative of bourgeois socialization [gemeint sind die Lehrjahre, S. H.], the dual-sexed androgyne, representative of the aesthetic realm, is the incarnation of a seductive but perilous phase in the hero's Bildung, a phase to be abandoned in favor of strict differentiation and marriage.« Pacteau, The Impossible Referent. »Auch hatte Wilhelm bemerkt, daß es für jeden eine besondere Art zu grüßen hatte, und seit einiger Zeit grüßte sie ihn mit beiden über die Brust geschlagnen Armen« (TS 146). Der Einfachheit halber habe ich Mignon durchgängig feminin pronominalisiert. Dies hat sich in der Goetheforschung durchgesetzt; es vereinfacht zudem die Unterscheidung von Mignon und Wilhelm im laufenden Text.
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Herz gelegt und machte, indem er den rechten Fuß hinter den linken brachte und beinah mit dem Knie die Erde berührte, eine Art von spanischem Kompliment mit der größten Ernsthaftigkeit. (TS 153)
In den >Lehrjahren< nimmt die maskuline Pronominalisierung gegenüber der theatralischen Sendung< an Häufigkeit ab, vorherrschend ist der Wechsel zwischen femininer und neutraler Pronominalisierung. Doch finden sich auch in den >Lehrjahren< Fälle maskuliner Pronominalisierung, und zwar in exponierter Stellung. So wird etwa der Wechselgesang bei Mignons Exequien durch den regelmäßigen Wechsel femininer und maskuliner Pronominalisierung strukturiert. Auch werden Mignon und Felix in den >Lehrjahren< mehrmals so gruppiert, daß der Eindruck entsteht, sie seien beide Knaben; so in Wilhelms Traum: »Mignon und Felix lagen im Grase, jener ausgestreckt auf dem Rücken, dieser auf dem Gesichte« (L 802).86 In den >Lehrjahren< findet folglich keine Auflösung der sprachlichen Ambivalenz statt. Diese Unentschlossenheit des Textes spiegelt die Unsicherheit der Romanfiguren über die Frage, ob Mignon als Knabe oder als Mädchen zu betrachten sei. Die Festschreibung Mignons auf das weibliche Geschlecht beruht auf einer Setzung Wilhelms. Der sexuell ambivalente Anblick Mignons fordert von einem Betrachter, der das System der binären Geschlechterrollen internalisiert hat, eine Entscheidung für das eine oder andere Geschlecht. Wie Sigmund Freud bemerkt hat, wird diese Entscheidung normalerweise intuitiv gefällt: »Männlich oder weiblich ist die erste Unterscheidung, die Sie machen, Sie sind gewöhnt, diese Unterscheidung mit unbedenklicher Sicherheit zu machen.« (Fr XV, i2of.) Eben diese unbedenkliche Sicherheit wird jedoch durch Mignon in Frage gestellt. Deren Einordnung durch den Betrachter erfolgt nämlich nicht intuitiv und unbewußt, sondern erfordert eine bewußte Entscheidung. Diese fällt je nach Betrachter unterschiedlich aus. Wilhelm ordnet Mignon eine weibliche Identität zu. Er »sah die Gestalt mit Verwunderung an, und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie für einen Knaben oder für ein Mädchen erklären sollte. Doch entschied er sich bald für das letzte« (L 444). Dagegen halten der Harfner und der Chirurg Mignon für einen Knaben. Über den Chirurg heißt es: »doch merkte man wohl, daß sie sich vor dem Chirurgus gescheut, der sie bisher immer für einen Knaben gehalten hatte« (L 599). Über den Harfner berichtet der Arzt: »Sein größter Wahn ist, daß er überall Unglück bringe, 86
Vgl. auch L 846: »Wilhelm [...] gedachte des guten Mignons neben dem schönen Felix auf das lebhafteste«.
und daß ihm der Tod durch einen unschuldigen Knaben bevorstehe; erst fürchtete er sich vor Mignon, eh' er wußte, daß es ein Mädchen war; nun ängstigte ihn Felix« (L 814). Allein Jarno verweigert die Zuordnung Mignons zum einen oder anderen Geschlecht, wenn er sie als »albernes, zwitterhaftes Geschöpf« klassifiziert (L 553). Der These Aurnhammers vom »unbestimmten Zwischenzustand Mignons«, deren »Geschlechtszuordnung von der Perspektive des Betrachters abhängt«,8"7 widerspricht allerdings Mignons eigene Behauptung einer männlichen Identität: »Mignon hielt sich fest an Wilhelm, und sagte mit großer Lebhaftigkeit: ich bin ein Knabe, ich will kein Mädchen sein« (L 508f.). Die von der Literaturwissenschaft bedenkenlos wiederholte Festschreibung Mignons auf das weibliche Geschlecht beruht also allein auf der Perspektive Wilhelms und repräsentiert nicht die Meinung der übrigen Figuren; insbesondere entspricht sie nicht Mignons eigener Selbstwahrnehmung. Die Entscheidung Wilhelms, Mignon als Mädchen zu betrachten, ist umso erstaunlicher, als Mignon bei ihrer ersten Begegnung eindeutig als Knabe gekleidet ist. Sie trägt ein »kurzes seidnes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln« und »knappe, lange Beinkleider mit Puffen« (L 444). Dagegen bietet der Name »Mignon«, der eigentlich gar kein Eigenname ist, sondern eher eine Funktionsbezeichnung,88 nur unzulängliche Anhaltspunkte für die Einordnung der Figur in binäre Geschlechterkategorien. Die Hintergründe dieses Namens sind in der Forschung viel diskutiert worden. Unter Berufung auf Eugen Wolff bezeichnet Tobin ihn als »byword for a male homosexual prostitute in the late eighteenth century«.89 Andererseits jedoch könne der Name, wie das deutsche >LieblingHerzchenSchoßkind< oder >Liebling< ist jedoch die Anspielung auf den Mignonkult am burgundischen Hof, deren Angehörige sich unter der Bezeichnung >mignon< einen Doppelgänger hielten. Der König hat stets einen >mignon en titremignonne< genannt wird.91 87 88 89 90 91
Aurnhammer, Androgynie, S. 168. »Sie heißen mich Mignon« (L 451). Tobin, The Medicinalization of Mignon, S. 47; vgl. Wolff, Mignon, S. no. Tobin, The Medicinalization of Mignon, S. 47. Huizinga, Herbst des Mittelalters, S. 71.
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Dieser Bedeutungshorizont hält sich noch in der Definition des Zedlerschen Lexikons: »Mignon, heißt ein Favorit, oder einer, der bey einem grossen Herrn in sonderlichen Gnaden stehet«.92 Der Name >Mignon< bezeichnet dieser Definition zufolge einen Mann und ist also keineswegs geschlechtsneutral, wie Tobin annimmt. Die Beziehung Wilhelms zu »seinem« Mignon folgt in mehrerer Hinsicht dem Modell des zwischen sentimentalem Freundschaftskult und homoerotischer Beziehung schillernden Mignonkultes. So kleidet sich Mignon nach dem Vorbild Wilhelms und trägt »seine« Farbe, blau.93 Das Schlafen in einem Bett wird in einer der Schlüsselszenen der >Lehrjahre< verarbeitet, wobei allerdings offen bleibt, ob Mignon tatsächlich bei Wilhelm geschlafen hat. In dieser Episode, auf die ich unten näher eingehen werde, zeigt sich deutlich die Ambivalenz der Beziehung Wilhelms und Mignons zwischen >harmloser< Spiegelbeziehung und >gefährlicher< Homosexualität. Der Terminus »Erscheinung«, mit dem Mignon bei ihrem ersten Auftreten bezeichnet wird, weist sie als imaginäre Projektion Wilhelms aus (TS 136). Ihr Status als Fantasiegeschöpf Wilhelms wird verstärkt durch seine besonders in der »Theatralischen Sendung< wiederholt erwähnte, voyeuristische Lust am Betrachten Mignons. Sie schwieg und Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen. Seine Augen und sein Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustande dieses Wesens angezogen. [...] Wilhelm sah sie noch immer an, und schwieg und vergaß der Gegenwärtigen über seiner Betrachtung. (TS 139)
In der Forschung ist deshalb auch die Mignon der >Lehrjahre< häufig als Doppelgänger und Projektionsfigur Wilhelms gedeutet worden. So beschreibt Fick sie als »Verkörperungsfigur von Wilhelms jugendlichem Lebensglauben, ja als [...] >Lebensgeist< des Helden«,94 und Ammerlahn als »lyrisch-poetische Geniusgestalt«.95 Die Implikation des Namens mit seinem homoerotischen Beigeschmack geht jedoch über die reine Doppelgängerfunktion hinaus. Mignons Rolle erschöpft sich vor allem in den >Lehrjahren< nicht in der spiegelbildlichen Verrätselung von Wilhelms Wesen. Die Versuche Wilhelms, seine Existenz in Mignon zu spiegeln, werden durch deren die Geschlechterbarrieren unterlaufende Sexualität subvertiert. Mignon spiegelt Wilhelm folglich nicht das eigene Wesen zurück, sondern figuriert 92 93 94 95
Zedler, Bd. 21, Sp. 118. »Er versprach ihr ein neues Kleid, worauf sie heftig antwortete: deine Farbe!« Fick, Das Scheitern des Genius, S. 83. Ammerlahn, »Poesy — Poetry — Poetology«, S. 3. 40
vielmehr als sein Anderes, Fremdes. Das wird besonders in dem Moment sichtbar, in dem Mignon sich nicht mehr mit der Rolle eines Kammerdieners begnügt, sondern den sexuellen Kontakt zu Wilhelm sucht. 1.2.2 Mignon als Spiegelfigur und Doppelgänger Das sich in Mignon manifestierende Androgyne erfährt bei der Umarbeitung der theatralischen Sendung< zu den >Lehrjahren< eine signifikante Neubestimmung. Kann Mignon in der theatralischen Sendung< noch als Spiegelbild und Doppelgänger Wilhelms verstanden werden, so nimmt sie in den >Lehrjahren< eine weitaus subversivere Funktion ein. Dabei transzendiert sie sowohl die binäre Geschlechterordnung als auch die Opposition genital - prägenital/imaginär. Die Neubestimmung der Beziehung Wilhelms zu Mignon ist durch die veränderte Konzeption des Protagonisten in den >Lehrjahren< und durch die Einführung der Turmgesellschaft in die Romanhandlung motiviert. In der theatralischen Sendung< ist Wilhelm Dramatiker. Seine Beziehung zu Mignon basiert darauf, daß Mignon von ihm gedichtete Lieder auswendig nachspricht. Insbesondere stammt das Lied »Heiß' mich nicht reden, heiß' mich schweigen«, das für den Charakter Mignons von zentraler Bedeutung ist, in der >Theatralischen Sendung< aus Wilhelms Drama »Die königliche Einsiedlerin«. Heiß' mich nicht reden, heiß' mich schweigen, Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht. Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen Allein das Schicksal will es nicht. Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf Die düstre Nacht und sie muß sich erhellen, Der harte Fels schließt seinen Busen auf Mißgönnt der Erde nicht die tief verborgne Quellen. Ein jeder fühlt im Arm des Freundes Ruh Dort kann die Flut der Klagen sich ergießen Allein mir drückt ein Schwur die Lippen zu Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen. (TS loyf.)
Da das Lied aus der Feder Wilhelms stammt, ist er es, der Mignon dichtet. Mignon ist folglich nicht allein imaginäre Projektion Wilhelms, sondern auch seine poetische Schöpfung. Mignons Schweigen ist Aufforderung an ihren »Gott« Wilhelm, ihr die Lippen durch seine Dichtung aufzuschließen. Hier liegt die Schnittstelle von Androgynie und literarischer Autorschaft offen. Der androgyne Charakter Mignons ist eine Fiktion des Dichters Wilhelm und entspringt seinem Wunsch, sich als Autor jenseits der
Geschlechterdifferenz zu repräsentieren. Diese Repräsentation leistet Mignon in ihrer Verkleidung als Wilhelm. Erst durch Wilhelms Blick wird Mignon zugleich uneindeutig und weiblich — sie selbst wird nicht nach ihrem Geschlecht gefragt. Die Rede des Androgynen ist folglich immer schon dichterische Rede Wilhelms, und Wilhelm wird nicht erst durch den Kontakt mit Mignon androgyn, sondern sie spiegelt nur seine bereits vorhandenen androgynen Eigenschaften wieder. Mignons Funktion als Projektionsfigur zeigt sich auch darin, daß alle Emotionen von Wilhelm ausgehen, sie selbst dagegen keine Gefühle zu haben scheint. Wilhelm gegenüber zeigt sie sich »ohne eine anscheinende Bewegung des Herzens, ohne einen Ausdruck von Rührung (o)der Zärtlichkeit« (TS 154). An anderer Stelle heißt es: »Es sah ihm scharf ins Gesicht, antwortete aber auf keine Frage, und bezeigte nicht die mindeste Rührung, noch Neigung zu ihm. Es schien ganz gefühllos« (TS 143). Es ist daher kein Zufall, daß Mignon in der theatralischen Sendung< besonders häufig mit »es« pronominalisiert und mit geschlechtslosen Begriffen wie »Geschöpf«, »Kreatur« beschrieben wird.90 In den >Lehrjahren< tritt Wilhelm, anders als in der theatralischen Sendung Lehrjahren< deshalb nicht mehr Wilhelms innere Welt, sondern seinen inneren Mangel. Das Lied »Heiß' mich nicht reden, heiß' mich schweigen« ist nun ihr Lied, mit dem sie sich selbst charakterisiert. Es steht in den >Lehrjahren< am Endpunkt der Beziehung von Wilhelm und Mignon und markiert seine Abreise nach Norden. Gegenüber der früheren Fassung ist eine Liedzeile so verändert worden, daß das Lied einen völlig neuen Sinn erhält. In der >Theatralischen Sendung< lautete die vorletzte Zeile »Allein mir drückt ein Schwur die Lippen zu«. Während alle anderen Menschen »im Arm des Freundes Ruh« fühlen, wird die Sprecherin allein von Liebe und Zuwendung ausgeschlossen. In den >Lehrjahren< nun heißt es: »Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu«. Nur durch einen Schwur also wird Mignon von der Aussprache »im Arm des Freundes« abgehalten. Nicht mehr die Einsamkeit der Sprecherin steht jetzt im Vordergrund, sondern der Schwur selbst, der einzige Grund, warum Mignons 96
Wiederholt wird Mignon in der Theatralischen Sendung als tierhaft und gefühllos beschrieben: »Einige verglichen sie einem Affen, andere anderen fremden Tieren und darinne kamen sie überein, daß etwas sonderbares, fremdes und abenteuerliches in dem Kinde steckte« (TS 163).
»Brust« nicht zu Wilhelm sprechen kann. In den >Lehrjahren< ist es Mignon demnach tatsächlich unmöglich, Wilhelm ihr Inneres zu zeigen, denn er ist nicht mehr der Gott, der ihre Lippen durch seine Dichtung aufzuschließen vermöchte. Dadurch wird auch der Versuch des Lesers, Mignon interpretierend zu verstehen, problematisch. In Folge der veränderten Konzeption des Protagonisten Wilhelm wandelt sich bei der Umarbeitung der theatralischen Sendung< hin zu >Wilhelm Meisters Lehrjahre< die Funktion des Androgynen. Kann Mignon in der > Theatralischen Sendung < auf die Doppelgänger- und Spiegelfunktion einer imaginären »Erscheinung« Wilhelms beschränkt werden, so ist dies in den >Lehrjahren< nicht mehr uneingeschränkt möglich. Da Mignon hier Wilhelms inneren Mangel symbolisiert, überwiegen die fremdartigen, bedrohlichen und subversiven Aspekte des Androgynen. Zwar wird Mignon auch in den >Lehrjahren< als Spiegelfigur Wilhelms funktionalisiert — so beruht etwa ihre Festschreibung auf das weibliche Geschlecht auf einer Projektion Wilhelms —, doch wirft dieser Spiegel nur noch ein verzerrtes Bild zurück. Die Funktion, die Mignon dabei für den Bildungsweg Wilhelms hat, läßt sich anhand von Stephen Greenblatts Theorie des »SelfFashioning« näher bestimmen. Selbstbildung, so Greenblatt, beruht auf einem dialektischen Wechselspiel von Identifikation und Abgrenzung: »Selbstbildung wird in bezug auf etwas als fremd, seltsam oder feindselig Empfundenes erworben.«97 Die Konstruktion des Fremden setze das Vorhandensein einer Autorität voraus, die sich wiederum über die Abgrenzung von dem Fremden definiert. Die Autorität empfindet das Fremde entweder als das Ungeformte oder Chaotische (die Abwesenheit von Ordnung) oder als das Falsche oder Negative (die dämonische Parodie von Ordnung). Weil Beschreibungen des ersteren unausweichlich dazu tendieren, es zu organisieren und zu thematisieren, geht das Chaotische beständig in das Dämonische über, und folglich wird das Fremde immer als ein Zerrbild der Autorität konstruiert.98
Selbstbildung, so folgert Greenblatt, findet »an dem Ort [statt], an dem eine Autorität und ein Fremdes einander begegnen«.99 Obwohl Greenblatt diese Thesen in Bezug auf die Selbstbildung des Autors im 16. und 17. Jahrhundert entwickelt hat, liefern seine Beobachtungen ein außerordentlich plausibles Erklärungsmuster für das Verhältnis von Mignon und Wilhelm. Dabei nimmt Mignon die Funktion des Fremden ein: von unbe97 5)8 99
Greenblatt, Selbstbildung, S. 45. Ders., S. 45f. Ders., S. 46. 43
kanntem Geschlecht, zunächst unbekannter Herkunft, ausländisch, außer in lyrischer Form kaum zur Kommunikation fähig, verletzt sie alle Ordnungsbestimmungen der Turmgesellschaft, die in den >Lehrjahren< als Autorität fungiert. Die Darstellung der Fremdartigkeit Mignons kulminiert im Ausschluß der Figur von zentralen Merkmalen der Subjektivität, wie er sich etwa im Verweigern kommunikativer symbolischer Sprache zugunsten eines rätselhaften lyrischen Sprechens zeigt.100 In Mignon treffen sich zwei Formen der Depersonalisierung: der mechanisch-puppenhafte Zustand ohne Selbstbewußtsein und das göttliche Dasein eines absoluten Bewußtseins. Der Eindruck des Mechanischen zeigt sich besonders in der Beschreibung ihres Eiertanzes: »Streng, scharf, trocken, heftig, und in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm, zeigte sie sich« (L 469). In der theatralischen Sendung< wird berichtet: »Die zuckende Lebhaftigkeit vermehrte sich in ihrem Betragen, und ihr ganzes Wesen bewegte sich in einer rastlosen Stille« (TS 340). Zu dem Eindruck des Unmenschlichen trägt auch Mignons mänadischer Tanz nach der Hamlet-Aufführung bei: »nun sprang sie auf und raste, die Schellentrommel in der Hand, um den Tisch herum. Ihre Haare flogen, und indem sie den Kopf zurück und alle ihre Glieder gleichsam in die Luft warf, schien sie einer Mänade ähnlich, deren wilde und beinah unmögliche Stellungen uns auf alten Monumenten noch oft in Erstaunen setzen« (L 695). Mignons rauschhaft-sexuelles Verhalten scheint hier einer archaischen Zeit zu entstammen, zu deren Verständnis kein Zugang mehr möglich ist. Das seltsame Verhalten Mignons hat Mahlendorf als Hospitalismus und als Ergebnis einer gestörten frühkindlichen Mutter-Kind-Beziehung gedeutet.101 Mignon repräsentiere in der Ideologie der >Lehrjahre< eine archaisch-matriarchalische Entwicklungsstufe, die zugunsten des neuen gesellschaftlichen Ideals der Turmgesellschaft, das ganz im Zeichen des Patriarchats steht, verhindert werden müsse.102 Ähnlich argumentiert Friedrich Kittler: Das >Rätsel< ist ein Kind der alten Zeit. Keine Kernfamilie hat seine Kindheit archiviert, keine Elternliebe seine Jahre gezählt. Im Mythos der ihren Eltern gestohlenen Mignon erscheint die historische Erinnerung an ein Weltalter, wo Eltern das Alter, die Anzahl und das Geschlecht ihrer Kinder vergessen durf-
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Vgl. Schlaffer, Wilhelm Meister, S. 47. Mahlendorf, The Mystery of Mignon, S. 27ff. Dies., S. 3 2ff. Kittler, Über die Sozialisation Wilhelm Meisters, S. 38.
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Mignon repräsentiert diesen Deutungen zufolge ein älteres Menschenbild, das durch die Turmgesellschaft energisch bekämpft wird. Ihr Eiertanz zeigt in der Tat Merkmale des grotesken Körperbildes, das im 18. Jahrhundert dem Bild vom Körper als integriertem und harmonischem Ganzen weicht. Das archaische Verhalten kann im Kontext der >Lehrjahre< einerseits als Gegenentwurf zum Menschenbild der Turmgesellschaft interpretiert werden - als das, was sich der Integration in die neue Gesellschaft widersetzt; andererseits aber auch (psychoanalytisch) als Ergebnis eines frühkindlichen Traumas. Die mechanischen Eigenschaften Mignons stehen in unvermitteltem Kontrast zum Schein des Wunderbaren, den Mignon seit ihrem ersten Erscheinen verbreitet und unter dem auch ihr Ende steht. Wilhelms erster Eindruck von ihr ist der eines »wunderbare[n] Kind[es]« (1451). Auch den Harfner ordnet er dieser übernatürlichen Sphäre zu, wenn er ihm zuruft: »wer du auch seist, der du als ein hilfreicher Schutzgeist mit einer segnenden und belebenden Stimme zu uns kommst, nimm meine Verehrung und meinen Dank, fühle, daß wir alle dich bewundern« (L 483). Die Todesnähe und Engelhaftigkeit Mignons im zweiten Teil der >Lehrjahre< trägt zu diesem Schein des Wunderbaren bei. Als Wilhelm sie das erste Mal in Frauen- bzw. Engelskleidern sieht, erscheint sie ihm »wie ein abgeschiedner Geist« (L 905). Steht die Konstruktion Mignons als einer Fremden, die die Gegensätze des Vorbewußten und des Übernatürlichen in sich vereint, einerseits im Widerspruch zu ihrer Doppelgängerrolle in der theatralischen SendungLehrjahren< das Geschöpf Wilhelms. Wurde sie in der >Theatralischen Sendung< von den Melinas aus der Artistentruppe befreit, so ist es in den >Lehrjahren< Wilhelm, der sie vor den Nachstellungen der Schausteller rettet und sie kauft. Mignon ist nun nicht mehr Wilhelms geistiges, dafür aber sein unmittelbar materielles Eigentum. Wilhelms Besitzverhältnis an Mignon ist ein Besitz ihres Körpers. Dadurch ergeben sich Ansprüche beider Figuren aneinander, die über das Spiegelverhältnis hinausgehen. Um die Doppelstruktur von Besitzverhältnis und wunderbarem Geschöpf zu klären, darf Mignons Sexualität nicht ausgeklammert werden, wie dies in zahlreichen Interpretationen der Fall ist.104 Dabei wird verdrängt, daß der Mignonkult ja nicht nur auf Spiegelbildlichkeit, Verkleidung und Nachahmung beruht, sondern auch 104
Vgl. Ammerlahn, »Poesy - Poetry - Poetology«, und Fick, Das Scheitern des Genius. Dazu Groß, Diskursregelung und Weiblichkeit, S. 93: »Die Strategien, mit denen der Text Mignon als sexuelles Wesen verharmlost, werden von der Sekundärliteratur aufgenommen, die die Verdrängung fortführt«.
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auf (Homo-)Sexualität. Mignon ist folglich nicht nur Wilhelms fremdes alter ego, sondern auch potentielle Sexualpartnerin.105 1.2.3 Die »Kindsbraut«: Mignons Sexualität Erhebliche Störungen bei den Plänen der Turmgesellschaft für Wilhelm verursacht Mignons Sexualität, die die Turmgesellschaft nicht in den Griff bekommt. Diese Störung ist in der Forschung häufig ausgeblendet worden. In diametralem Gegensatz zur verharmlosenden Interpretation Mignons als »treue Begleiterin und kindliche Gefährtin Wilhelms«100 steht Wetzels These von der »Kindsbraut«: Mignon stehe in einer Tradition von Kindsbraut-Figuren, die von Dantes Beatrice bis zu Nabokovs Lolita reiche.107 Diese Wesen fungierten für die sie begehrenden Männer als Muse und Inspiration; sie seien keine erwachsenen Frauen, sondern stünden am Übergang von der polymorph-perversen zur genitalen Ordnung des Begehrens. Angesichts der die Genitalordnung des Begehrens durchkreuzenden Perversion der Kindsbräute würden auch die sie begehrenden Männer pervers. Ihre Haltung den Mädchen gegenüber, so Wetzel, weise einerseits »eine Mischung von Vater- und Mutterrolle« auf und sei andererseits »nicht frei von der Suche nach homoerotischen, d.h. androgyn die Geschlechterrollen disponibel machenden Aspekten«.108 Gerade um 1800 erfreue sich die Figur der Kindsbraut einer erheblichen Beliebtheit und werde so zum »Phantasma der Goethezeit«. Das sexuell noch nicht ausgereifte Mädchen stelle ein machtvolles androgynes Wunschbild dar: Die Kindfrau [...] wird seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zur Imago, zum Idol oder zur Ikone einer Sehnsucht nach der Kindheit bzw. genauer der Jugend und ihren ersten noch reinen und als Antizipation intensivsten erotischen Empfindungen und damit einer ästhetischen Vollkommenheit der Geschlechter.109
Ist das Interpretationsmuster »Kindsbraut« einerseits geeignet, die erotischen Aspekte der Beziehung Mignons und Wilhelms sichtbar zu machen und zu deuten, so wird damit andererseits einmal mehr Mignons schillernde Androgynie auf die Aspekte weiblich/kindlich eingeengt. Dagegen 105
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Dies deutet sich schon dadurch an, daß Mignon unmittelbar nach einem sexuellen »Abenteuer« Wilhelms auftaucht: »Nachdenkend über dieses artige Abenteuer ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Geschöpf ihm entgegen sprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog« (L 443f.). Ammerlahn, »Poesy - Poetry - Poetology«, S. 21. Wetzel, »Le nom/, de Mignon«, S. 384. Ders., Mignon, S. 36. Ders., S. 16. 46
hatte ich oben argumentiert, daß Mignon selbst sich als Knabe versteht und auch von anderen Figuren, nicht jedoch von Wilhelm, als Knabe betrachtet wird. In der Beziehung Mignons und Wilhelms begegnen sich daher zwei Ordnungen des Begehrens, die nicht miteinander kompatibel sind: das homoerotische, polymorph-perverse Begehren Mignons trifft auf das heterosexuelle und päderastische Begehren Wilhelms, wird von diesem durchkreuzt und negiert. Während sich die von Mignon initiierten sexuellen Handlungen keineswegs in binäre Geschlechterkategorien einordnen lassen, besteht Wilhelm darauf, Mignon als Frau zu deuten, indem er sie in eine Reihe mit anderen potentiellen Sexualpartnerinnen stellt. Immer wieder wird Mignon auch vom Erzähler mit Philine verglichen und in einem Atemzuge genannt.110 Die beiden sind nach dieser Deutung zwei potentielle Sexualpartnerinnen, die Wilhelm zugunsten von Natalie verwirft. Dabei wird das Andere und Fremde Mignons zugunsten einer Gleichstellung mit den Frauenfiguren des Romans verdrängt. Eins teilt Mignon allerdings mit ihren Konkurrentinnen um Wilhelms Gunst: »Alle bedeutenden Frauenfiguren im >Wilhelm Meisten haben ein gebrochenes Verhältnis zu ihrer Geschlechteridentität.«111 Dies zeigt sich insbesondere in ihrer Neigung zum Transvestismus, die bereits Varnhagen van Ense bemerkt hatte.112 Beispielsweise begegnet Natalie zunächst als »Amazone« in einen »Mannsüberrock« gekleidet (L 589). II3 Solche transsexuellen Verkleidungen bilden eine Voraussetzung für Wilhelms Interesse an den Frauen. Mariane tritt als »weibliche[s] Offizierchen« auf (L 359), Therese maskiert sich als »artiger Jägerbursche« (L 822), und die Baronesse tritt gar »bald als Page, bald als Jägerbursche« in Erscheinung (L 548). Diese spielerischen Verkleidungen lassen sich der Theatersphäre des Romans zuordnen. Stellt dabei die theatralische Kostümierung einerseits ein sozial akzeptables Vehikel zur wenigstens punktuellen Subversion der Geschlechterbarriere dar, so dient andererseits gerade das Theater, wie MacLeod überzeugend argumentiert, in Wilhelms Erziehung als Instrument der Durchsetzung der binären Geschlechterrollen.114 Während sich bei Wilhelms jugendlichen Theateraufführungen nämlich zunächst die 110
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So heißt es beispielsweise, Wilhelm werde »[durch] die frevelhaften Reize Philinens, durch die geheimnisvolle Gegenwart des Kindes, mehr als er sich selbst gestehen durfte, unterhalten« (L 460). Wetzel, Mignon, S. 156. »Frauen in Mannskleidern« (1835). Varnhagen 6, S. 66—68. Vgl. Paglia, Die Masken der Sexualität, S. 310. Paglia argumentiert, durch die eindeutig weibliche Bekleidung später im Roman verliere Natalie ihre »Aura« - und Wilhelm, so können wir hinzufügen, sein Interesse an ihr. Vgl. auch Boyle, Goethe, Bd. II, S. 467. MacLeod, Embodying Ambiguity, S. 122.
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Knaben als Frauen verkleiden, geht man bald dazu über, die Frauenrollen von Mädchen spielen zu lassen, so daß das Theater einer spielerischen Einübung in die sozialen Geschlechterrollen Raum gibt. Damit ist jedoch noch nicht erklärt, warum Transvestismus eine Voraussetzung für Wilhelms erotisches Interesse an den Frauen bildet. Die Gründe hierfür hat Achim Aurnhammer in der »literarisch vorgeformte[n] Androgynie-Vorstellung« Wilhelms identifiziert, die auf seine Jugendlektüre von Tassos >Gerusalemme Liberata< zurückgehe: »Die mannweibliche Chlorinde wird zum Wunschbild Wilhelms, dem er nachstrebt.«115 Von diesem erotisch motivierten Transvestismus ist Mignons Beharren auf einer männlichen Identität, das sich auch in ihrer Kleidung manifestiert, zu unterscheiden. Die Differenz Mignons von den erotischen Spielen der Frauenfiguren zeigt sich zudem in ihrer Sexualität, die nicht eindeutig genital orientiert ist, sich jedoch andererseits auch nicht auf eine prägenitale/imaginäre Sexualordnung reduzieren läßt. In den >Lehrjahren< finden sich zu dieser Frage höchst widersprüchliche Aussagen. Die Gleichsetzung mit Philine suggeriert zunächst, Mignons sexuelle Orientierung folge dem gleichen (symbolischen) Schema wie die Philines. Diese Parallelisierung zeigt sich beispielsweise in der nächtlichen Episode, in der sich Mignon zu Wilhelm schleichen wollte und — nach Aussage des Arztes — von Philine ausgestochen wurde. Ob der Arzt die Wahrheit sagt, wenn er Wilhelm versichert, nicht Mignon sei nachts bei ihm gewesen, darf allerdings bezweifelt werden. Denn Mignons verändertes Auftreten am nächsten Tag suggeriert, daß sie sehr wohl ein erotisches Erlebnis mit Wilhelm hatte. Wilhelm erstaunte über den Anblick des Kindes, ja man kann sagen er erschrak. Sie schien diese Nacht größer geworden zu sein; sie trat mit einem hohen edlen Anstand vor ihn hin und sah ihm sehr ernsthaft in die Augen, so daß er den Blick nicht ertragen konnte. Sie rührte ihn nicht an wie sonst, da sie gewöhnlich ihm die Hand drückte, seine Wange, seinen Mund, seinen Arm, oder seine Schulter küßte, sondern ging, nachdem sie seine Sachen in Ordnung gebracht, stillschweigend wieder fort. (L 697)
Mignon ist über Nacht erwachsen geworden. Sie redet Wilhelm von nun an nur noch mit »Meister« an (L 699^. Ob ihr verändertes Verhalten auf eine Entjungferung hinweist (das suggeriert der Schleier, den Wilhelm am nächsten Morgen findet, als Hymen-Metapher) oder auf ihre Zurückweisung durch Wilhelm (wie der Arzt behauptet), kann nicht mit Sicherheit geklärt werden. Es gibt aber weitere Indizien dafür, daß Mignon und Wilhelm tatsächlich ein erotisches Verhältnis miteinander haben. 113
Aurnhammer, Androgynie, S. 172. 48
Den Höhepunkt der Beziehung zwischen Mignon und Wilhelm bildet die Szene mit Mignons >KrampfanfallLehrjahren< bildet diese Episode einen Wendepunkt in der Entwicklung des Protagonisten. Zugleich fungiert sie als Störfaktor, denn sie widerspricht allem, was die Turmgesellschaft über das Verhältnis Wilhelms und Mignons verbreitet. Das Verhältnis der beiden wird hier als rätselhafte, ambivalente Beziehung voller erotischer, aber auch mißbräuchlicher Untertöne präsentiert. Die Szene wird mit Entjungferungsmetaphorik eröffnet:116 Nichts ist rührender, als wenn eine Liebe, die sich im Stillen genährt, eine Treue, die sich im Verborgenen befestiget hat, endlich dem, der ihrer bisher nicht wert gewesen, zu rechter Stunde nahe kommt, und ihm offenbar wird. Die lange und streng verschlossene Knospe war reif, und Wilhelms Herz konnte nicht empfänglicher sein. (L 497)
Ob Wilhelm Mignon tatsächlich entjungfert, bleibt jedoch unklar. Was wie eine amouröse Begegnung beginnt — Mignon kniet »mit Heftigkeit« vor Wilhelm nieder, er spielt »mit ihren Haaren« — nimmt bald eine unerwartete und beunruhigende Wendung. Mignon erleidet eine Art Krampfanfall, der als »Zucken [...] durch alle Glieder« beginnt und sich in beängstigender Weise weiterentwickelt (L 498). Mignon »hielt ihr Herz fest, und auf einmal tat sie einen Schrei, der mit krampfigen Bewegungen des Körpers begleitet war. Sie fuhr auf, und fiel auch sogleich wie an allen Gelenken gebrochen vor ihm nieder. Es war ein gräßlicher Anblick«. Diesem ersten Höhepunkt ihres Anfalls folgt sogleich ein zweiter, noch heftigerer: »bald mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und sie warf sich ihm, wie ein Ressort, das zuschlägt, um den Hals, indem in ihrem Innersten wie ein gewaltiger Riß geschah, und in dem Augenblick floß ein Strom von Tränen aus ihren geschlossenen Augen in seinen Busen«. Über die Natur dieses Anfalls ist in der Forschung viel gerätselt worden. Wetzel geht davon aus, »daß es sich im weitesten Sinne um eine hysterische Körperreaktion handelt«. 117 Groß deutet Mignons Anfall als »Orgasmus«; allerdings werde dem weiblichen Körper hier ein männlicher
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So auch Groß, Diskursregelung und Weiblichkeit, S. 92. Wetzel, Mignon, S. 326. Diese Interpretation schließt pikanterweise unmittelbar an einen auf der nationalsozialistischen Rassenlehre basierenden Aufsatz von Paul Krauß an. Laut Krauß ist Mignon »vom entfesselten Unbewußten getrieben«, »die Schicht der ratio nie erreichend, vegetativ wie eine Pflanze, dem Drange ausgeliefert wie ein Tier« - der klassische Untermensch also. Krauß, Mignon, der Harfner, Sperata, S. 332ff.
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Orgasmus zugeschrieben.118 Umgekehrt interpretiert Tobin die Szene als Darstellung eines weiblichen Orgasmus: »of all the erotic scenes in the novel, including those between Wilhelm and his women friends and those between Lothario and his women friends, this scene portrays most explicitly a women's [sic] feelings, sensations, and sexuality«.119 Die Deutung als weiblicher Orgasmus findet sich erstmals bei Eissler: Goethe verarbeite hier die Kindheitserinnerung daran, seine Schwester Cornelia beim Masturbieren beobachtet zu haben.120 Michael Wetzel hat die Onanie-These mit dem Argument untermauert, Mignon entspreche bis ins Detail den zeitgenössischen medizinischen Darstellungen der durch Onanie nervenkrank gewordenen Mädchen.121 Allen genannten Interpretationen ist die Fixierung der undifferenzierten Sexualität Mignons auf einen weiblichen oder aber männlichen Orgasmus gemein. Dabei wird dem Leser keineswegs deutlich, was in der Szene eigentlich passiert. Gerade die Ambivalenz des Geschehens bildet meines Erachtens den Schlüssel zu einer Interpretation. Sie eröffnet nämlich eine ganze Reihe beunruhigender Deutungsmöglichkeiten, von denen keine sich gegen die anderen behaupten kann. Wird tatsächlich eine Entjungferung dargestellt, dann gerät das Geschehen unweigerlich in die Nähe des Pathologischen, Mißbräuchlichen. Damit wird einmal mehr die Frage aufgerufen, die Mignon selber formuliert: »was hat man dir, du armes Kind, getan?« (L 503) Die Frage ist im Kontext des Italienliedes rätselhaft und scheint einen Schlüssel zum Schicksal Mignons darzustellen.122 Sie legt die Vermutung nahe, daß Mignon bereits früher sexuell mißbraucht wurde, möglicherweise in der Artistentruppe. Für die Mißbrauchs-Deutung spricht das Erzählerwort von der »Verirrung des Augenblicks«, das die verharmlosenden Interpretationen des Krampfanfalls nicht erklären können (L 498). Die Irritation der Forschung über dieses nicht wegzudeutende Indiz eines weiteren Inzests — Wilhelm nennt Mignon wenig später sein »Kind« — ging im Falle der Münchner Goethe-Ausgabe so weit, die »Verirrung« stillschweigend in eine »Verwirrung des Augenblicks« zu verwandeln.123 Worin aber besteht die Verirrung Wilhelms, wenn nicht im Geschlechtsverkehr mit Mignon? 18 19 20 21 22
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Groß, Diskursregelung und Weiblichkeit, S. 92. Tobin, The Medicinalization of Mignon, S. 49. Eissler, Goethe, Bd. II, S. 878. Wetzel, Mignon, S. 34off. Eissler zufolge lautet die Antwort auf diese Frage: Kastration (Eissler, Goethe, Bd. II, S. 874). Eisslers These läßt sich am Text jedoch nicht belegen, vor allem, da ja gar nicht sicher ist, ob Mignon ein Mädchen ist. MüA 5, 141.
Weiterhin läßt sich nicht mit Sicherheit klären, worin der »gewaltige Riß« in Mignons Innerem besteht. Daß hier etwas Unaussprechliches geschieht, legen die widersprüchlichen Aussagen des Textes nahe. Die Passage bündelt ein ganzes Ensemble gegenläufiger Bewegungen: Mignon fährt auf und fällt nieder, ihre Glieder erscheinen mal gebrochen, dann wieder angespannt, sie wirft sich Wilhelm wie ein zuschnappendes Schloß an den Hals, scheint zugleich jedoch innerlich zu zerreißen. Einerseits wird damit ein Reißen des Hymen suggeriert, wie es durch die Entjungferungsmetaphorik am Anfang der Szene bereits vorbereitet wurde. Andererseits jedoch folgt auf die Suggestion der weiblichen Entjungferung unmittelbar die Andeutung eines männlichen Ergusses: »es ergoß sich ihr Innerstes«. Die Beschreibung ist so unbestimmt und widersprüchlich, daß der Versuch, hinter das dargestellte Geschehen zu kommen, notwendig scheitern muß. Die Szene enthält Hinweise sowohl auf eine weibliche, wie auch auf eine männliche Sexualität Mignons. Mignon erscheint an dieser Stelle als beide Geschlechter vereinigender Hermaphrodit. Die Interpretation des Geschehens als eines weiblichen Orgasmus wird damit obsolet. Andererseits ist die Schilderung jedoch ambivalent und enthält kaum Hinweise auf ein konkretes sexuelles Geschehen. Die Geschlechtsorgane spielen keine Rolle. Wilhelm streichelt nicht Mignons Körper, sondern ihre Haare. Die Beziehung beruht also auf Fetischismus.124 Indem Wilhelm eine Ersatzbeziehung zu Mignons Haar aufbaut, negiert er ihr perverses und nicht artikulierbares Begehren.125 Auf das sexuelle Erwachen Mignons reagiert die Turmgesellschaft prompt: Mignon wird in Natalies Obhut gegeben mit dem Ziel, sie zum Mädchen >umzuerziehenLehrjahren< nicht 124
125 126
Zu Wilhelms fetischistischen Neigungen vgl. MacLeod, Embodying Ambiguity, S. 98ff. Zum Haar-Fetischismus vgl. auch Roberts, The Indirections of Desire, S. I35f. So auch Hörisch, Gott, Geld und Glück, S. 76. Vgl. L 705: »Auch hatte das Feuer die kleine Garderobe Mignons verbrannt, und als man ihr wieder etwas neues schaffen wollte, tat Aurelie den Vorschlag, daß man sie doch endlich als Mädchen kleiden sollte. Nun gar nicht! rief Mignon aus und bestand mit großer Lebhaftigkeit auf ihrer alten Tracht, worin man ihr denn auch willfahren mußte."
als Frauen, sondern als sexuell uneindeutige Fabelwesen figurieren.127 Natalies Behauptung »sie geht nunmehr in Frauenkleidern« entspricht also mitnichten der Wahrheit (L 893). Mignon begibt sich durch die Engelskleider nicht in eine Frauenrolle, sondern subvertiert durch ihre Kleidung gezielt die binäre Geschlechterordnung. Dieses Verweigern der sexuellen Identifikation spricht sie im Lied »So laßt mich scheinen bis ich werde« aus. Engel, so Mignon, haben nicht nur einen androgynen Körper, sie tragen auch keine Kleidung. Damit unterläuft sie Natalies Versuch, die Engelskleider als weiblich zu deuten. Und jene himmlischen Gestalten Sie fragen nicht nach Mann und Weib, Und keine Kleider, keine Falten Umgeben den verklärten Leib. (L 895)
Engel werden im Lied nicht nur als Wesen jenseits der Geschlechterdifferenz bezeichnet, sondern auch als Wesen jenseits des (menschlichen) Lebens. Das Ablegen der Sexualrollen wird im Lied als Entkörperlichung gedeutet, die notwendig zum Tode fuhrt. Mignons Wunsch nach dem Transzendieren der Geschlechterdifferenz ist folglich ein verdeckter Todeswunsch. 1.2.4 Das Opfer des Androgynen Mignons Tod, unmittelbare Reaktion auf die Umarmung Wilhelms und Thereses, ist ebenso doppeldeutig und rätselhaft wie ihr Leben. »Mignon fuhr auf einmal mit der linken Hand nach dem Herzen, und indem sie den rechten Arm heftig ausstreckte, fiel sie mit einem Schrei zu Nataliens Füßen für tot nieder« (L 924). Bohm hat auf die ambivalente Darstellung von Mignons Tod hingewiesen: »None of these passages does in fact say directly that Mignon was dead. She could be taken for dead, she could not be called back to life, she appeared to be merely sleeping and still had the appearance of being alive.«128 Der im Leser aufkeimende Verdacht, Mignon sei womöglich gar nicht wirklich tot, wird durch den Arzt genährt, der Wilhelm davon abhält, die Verstorbene zu betrachten (L 926). Der später an der mumifizierten Mignon beobachtete »Schein des Lebens« erhält dadurch einen beunruhigenden Beigeschmack (L 958).I29 Eine zweite 127
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So auch MacLeod, Embodying Ambiguity, S. 123. Zur Tradition der Geschlechtslosigkeit der Engel vgl. Schneiderman, An Angel Passes. Bohm, »auf ewig wieder jung«, S. 28. Goethe greift hiermit ein aktuelles Thema auf: Die Unsicherheit über den genauen Zeitpunkt des Todes. Wie Aries berichtet, herrschte seit etwa 1740 in ganz Europa eine ständig wachsende Angst vor (und Faszination durch) den Scheintod (Geschichte des
Ambivalenz betrifft die androgyne Doppelnatur der Figur. Im Totenkult der Turmgesellschaft wird Mignon — im Engelsgewand — als Reliquie des präsexuellen Kindes konserviert. Damit wird ihr auf Wilhelm gerichtetes Begehren ein weiteres Mal negiert. Während sie zuvor in eine weibliche Rolle gezwängt werden sollte, wird nun wieder das Unbestimmte, Schillernde und Ambivalente ihres Geschlechts betont. Das zeigt sich insbesondere in der Pronominalisierung: die Kinderchöre bei den Exequien reden abwechselnd mit männlichen und weiblichen Pronomina von Mignon, so daß der Wechsel der Pronominalisierung und damit die Ambivalenz des Androgynen geradezu zum Strukturprinzip der Exequien wird (L 956f.). Andererseits inszenieren die Wechselgesänge, wie MacLeod argumentiert, gerade eine Ritualisierung des Geschlechterdualismus und verweigern Mignon so die Anerkennung als drittes, androgynes Geschlecht.130 Die poetische Struktur macht zudem die Künstlichkeit des Androgynen sichtbar. Erstmals wird hier Mignons Rolle als poetisches Prinzip zu Lasten des Realismus der Figurenzeichnung hervorgehoben. Mignon wird auf eine Kunstfigur festgelegt und ins Reich der Kunst gebannt, wie der Arzt selber bemerkt: »Aber wenn die Kunst den scheidenden Geist nicht zu fesseln vermochte; so hat sie alle ihre Mittel angewandt, den Körper zu erhalten und ihn der Vergänglichkeit zu entziehen« (L 958). Diese Künstlichkeit erscheint auch in der Inszenierung der Exequienfeier, bei der (Bühnen-)Bilder und opernhafte Elemente (Gesang) im Vordergrund stehen (L955f.). Damit wird Mignon aus der Vorstadtwelt des Zirkus, der sie eigentlich angehört, herausgehoben und in eine gehobene bürgerliche Theaterwelt integriert. Ihre Bitte: »Macht mich auf ewig wieder jung«, am Schluß des Liedes »So laßt mich scheinen bis ich werde«, wird von der Turmgesellschaft folglich als Bitte um eine Verjüngung in der Kunst interpretiert (L 895>.131 Das entspricht nicht unbedingt dem von Mignon intendierten Sinn. Von Kunst ist in dem Lied keine Rede. Vielmehr scheint Mignon von einer Verjüngung im Jenseits, nach dem Durchgang durch das »stille Haus« des Grabes, zu sprechen. Dies ist das in der ersten Zeile erwähnte »Werden«. Das »Scheinen« dagegen bezieht sich auf die
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Todes, S. jojff.). Gegen Ende des Jahrhunderts nahmen testamentarische Bestimmungen rasant zu, die detailliert festschrieben, wie die Hinterbliebenen sich zu versichern hatten, daß der Erblasser tatsächlich tot war. Es kam daher zur Gründung institutionalisierter »Abstellräume«, in denen die Leichen bis zum Einsetzen der Verwesung verwahrt werden konnten - ein solches Leichenschauhaus wurde 1791 in Weimar eingerichtet. Aries beschreibt auch die im 18. Jahrhundert herrschende »Vorliebe für die Mumie« (S. 491). MacLeod, Embodying Ambiguity, S. 119. Auch Lienhard hat Mignons Lied in diesem Sinne gedeutet (Mignon und ihre Lieder, S. 121).
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Zeit vor dem Tod; Mignon bittet also, man möge sie zu ihren Lebzeiten das weiße Kleid tragen lassen, das sie nach ihrem Tod nicht mehr benötigen wird (»Ich lasse dann die reine Hülle, / Den Gürtel und den Kranz zurück«). Die nachgetragene Herkunftsgeschichte leitet Mignons fremdartiges Wesen nicht aus ihrer Künstlichkeit, sondern aus einem botanischen Erklärungsmuster ab, nämlich der gegenseitigen Befruchtung männlicher und weiblicher Geschlechtsteile in einer Lilienblüte. In der Rede ihres Vaters Augustin wird der Geschwisterinzest, aus dem Mignon entsprungen ist, zu einer Androgynie-Utopie stilisiert: »Seht die Lilien an, entspringt nicht Gatte und Gattin auf Einem Stengel?« (L 9Ö5)132 Mit dieser Umdeutung des Liliengleichnisses aus der Bergpredigt sucht Augustin die Ungeheuerlichkeit der eigenen Schuld zu mindern; zugleich aber wird die Lilie, die Mignon bei dem geistlichen Spiel getragen hatte, damit nachträglich vom Marienattribut in ein sichtbares Zeichen ihrer Abnormität umgedeutet. Der biologischen Herleitung des Androgynen widerspricht die Turmgesellschaft mit der Inszenierung Mignons als einer ästhetischen Schöpfung: die tote Mignon wird im musealen »Saal der Vergangenheit« als Kunstwerk präsentiert. Die Behauptung einer ästhetischen Androgynie folgt aus der Bedrohung, die das lebende Androgyne für die Durchsetzung der binären Geschlechterrollen — treibendes Motiv der Heiratspolitik der Turmgesellschaft — darstellt. Durch die Fiktion eines Kunstwerks Mignon gelingt es der Turmgesellschaft jedoch nicht, die vom Androgynen ausgehende Gefahr einer Subversion der Geschlechterbarrieren zu bannen. Das hängt mit der Natur der Opferung Mignons zusammen. Die Verklärung des toten Androgynen hat die Opferung des lebenden Androgynen zur Voraussetzung. Die gefährliche Fremde Mignon wird durch die Tötung und Mumifizierung gefahrloses Objekt des Blickes. Die Störung der Geschlechterordnung ist damit aufgehoben und gebannt. Mignon erscheint also als Opfer einer »Gewalt, die solche Störung nachdrücklich beendet und Instabilität in Stabilität zurückverwandelt«.133 Ihr Tod hat jedoch nicht den gewünschten Effekt, denn ihr Körper scheint noch zu leben, ist also nicht endgültig ruhiggestellt. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in der oben zitierten Bemerkung des Arztes, der Mignons »scheidenden Geist« von ihrem »Körper« unterscheidet. Um diese fortdauernde Störung zu verstehen, müssen wir mit Bronfen zwischen dem Tod des Subjekts und dem Opfer des Körpers unterscheiden. 132 135
Vgl. hierzu und zum folgenden Ammerlahn, Mignons nachgetragene Vorgeschichte. Bronfen, Nur über ihre Leiche, S. 282.
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Während der Tod die Übersetzung eines lebendigen Subjekts in ein regloses Objekt ist, involviert das rituelle Opfer eine Ermordung des Todes, wobei der physische Körper aktiv aufgeopfert wird, um symbolisch als Bild wiedergeboren zu werden.134
Gerade durch die symbolische Wiedergeburt jedoch generiert das Opfer, im Gegensatz zum Tod, eine neue Instabilität, die sich in den >Lehrjahren< als anhaltende Unsicherheit über die Frage zeigt, ob Mignon wirklich tot ist. Mignon wirkt deshalb als Bedrohung der Geschlechterordnung fort. Zwar wird ihr bedrohlicher Körper im Bild ruhiggestellt, doch verstummt ihre Geschichte nicht. Denn erst nach ihrem Tod erfahren wir die beunruhigende Geschichte ihrer Herkunft. Der bei den Exequien anwesende Marchese erkennt sie an einer Tätowierung als seine Nichte. Zugleich erscheint Mignon nun im Licht einer Stigmatisierten. Der Ruf der Heiligkeit hing schon ihrer Mutter an, deren Körper ebenfalls nicht verweste (L 974). Das Fremde ist also zugleich das Unheimliche. Seine Wiederkehr ist nicht ausgeschlossen. Es geht nicht auf in der ihm von der Turmgesellschaft zugeschriebenen Rolle als schönes »Gebild der Vergangenheit«, das im Museum ruht (L 959). I35 Als Schlüsselfigur des ästhetischen Gehalts der >Lehrjahre< bezeichnet Mignon einen Bereich der Poesie, welcher der durch die Turmgesellschaft verkörperten Wertesphäre von Rationalität und Nützlichkeit entgegensteht.136 Zugleich manifestiert sich das Ästhetische als das Androgyne, das die für das Selbstverständnis der Turmgesellschaft zentrale Opposition männlich-weiblich subvertiert. Mignons Androgynie wird sowohl mit Kindlichkeit als auch mit Fremdheit und Fremdartigkeit assoziiert, ist also in vielerlei Hinsicht nicht in das rigide Ordnungsdenken der Turmgesellschaft integrierbar. Mignon figuriert als das von der bürgerlichen Ökonomie Verdrängte, das in verzerrter und sonderbarer Gestalt wiederkehrt. Deshalb beschränkt sich die planvolle Verrätselung der Figur nicht auf deren Geschlecht, sondern schließt die Frage der Herkunft und Vater-
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Dies., S. 286. Bronfen hat den Kult um die konservierte Leiche - im Anschluß an Aries - als zeitspezifisches Phänomen des ausgehenden 18. Jahrhunderts beschrieben: »In dieser Epoche wurden Leichenhallen besucht wie Kunstgalerien, während das Wachsfigurenkabinett das Interesse für den bewahrten Leichnam mit ästhetischer Lust vereinte. [...] Kennzeichnend für diesen Kult des >schönen Todes< ist ein subjektives Interesse für idealisierte Abbildungen des Verstorbenen, und zwar in der Weise, daß unvergänglich konservierte Leichen und stabile Bilder die vergängliche Materialität verschieben und ersetzen.« (Nur über ihre Leiche, S. I3if.). Vgl. Schlechta, Goethes Wilhelm Meister, sowie (daran anschließend) Schlaffer, Wilhelm Meister.
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schaff, die Verbindung mit dem Bereich des Lyrischen und den Ausschluß kommunikativer Sprache (»heiß' mich schweigen«), die sonderbare Beziehung zum Harfner, die fremde Hautfarbe und das fremdartige Verhalten mit ein. Der Zusammenhang eines besonderen Zugangs zum Bereich des Lyrischen mit Mignons Unfähigkeit, normal zu kommunizieren, zeigt sich schon in frühester Kindheit: [Mignon] konnte sehr früh laufen, und sich mit aller Geschicklichkeit bewegen, es sang bald sehr artig, und lernte die Zither gleichsam von selbst. Nur mit Worten konnte es sich nicht ausdrücken, und es schien das Hindernis mehr in seiner Denkungsart als in den Sprachwerkzeugen zu liegen. (L 968)
Wieder und wieder betont der Roman, daß Mignon »ihr Inneres« nur durch Gesang »aufschließen und mitteilen konnte« (L 3390. Dabei handelt es sich offenbar um ein Familienerbe, denn auch ihr Vater, der Harfner, kann sich nur in der anderen Sprache der Musik mitteilen.137 Zudem bereitet das Schreiben Mignon größte Schwierigkeiten: [Wilhelm] ging auf die Stube, und fand Mignon mit Schreiben beschäftigt. Das Kind hatte sich eine Zeit her mit großem Fleiße bemüht, alles was es auswendig wußte, zu schreiben, und hatte seinem Herrn und Freund das Geschriebene zu korrigieren gegeben. Sie war unermüdet, und faßte gut; aber die Buchstaben blieben ungleich, und die Linien krumm. Auch hier schien ihr Körper dem Geiste zu widersprechen. (L 489^)
Mignons Ablehnung der Schrift zeigt sich auch darin, daß sie versucht, Wilhelm vom Unterzeichen des Theaterkontrakts abzuhalten: »so schrieb er [Wilhelm, S. H.] seinen Namen nur mechanisch hin, ohne zu wissen was er tat, und fühlte erst, nachdem er unterzeichnet hatte, daß Mignon an seiner Seite stand, ihn am Arm hielt und ihm die Hand leise wegzuziehen versucht hatte« (L 66of.). Mignons Ausschluß von den Symbolordnungen Sprache, Schrift und Sexualität begründet ihre Unfähigkeit, eine autonome Individualität im Sinne der Turmgesellschaft auszubilden. Sie ist nicht fähig zu einer persönlichen Entwicklung. Notwendig muß sie deshalb das Bildungsprogramm der Turmgesellschaft ablehnen: »ich bin gebildet genug, versetzte sie, um zu lieben und zu trauern« (L 866).I38 Die Herkunftsgeschichte aus dem Inzest untermauert dies Verharren im Imaginären mit einer nachgetragenen, kausalen Erklärung.
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So in einem Gespräch mit Wilhelm: Wilhelm spricht, der Harfner antwortet mit Musik (L 493)· Vgl. auch Neumann, »Ich bin gebildet genug, um zu lieben und zu trauern«.
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Wilhelms Bindung an Mignon ist ebenfalls fantasmatisch. Seine Liebe zu ihr zielt nicht auf erwachsene Sexualität, sondern auf ein imaginäres Einverleiben: »Er sehnte sich, dieses verlassene Wesen an Kindesstatt seinem Herzen einzuverleiben, es in seine Arme zu nehmen, und mit der Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken« (L 469). Mignon ist in den >Lehrjahren< also insofern das Fantasma Wilhelms, als er selbst von einer zunehmenden Verweigerung heterosexueller Rollen geprägt ist. Dazu gehört seine Spiegelung in Mignon, der Haar- und Kleider-Fetischismus und der Wunsch, Mignons Vater zu sein. Dabei handelt es sich um Versuche, ein Verhältnis jenseits der (Hetero-)Sexualität zu finden. Die Turmgesellschaft unterminiert diese Versuche Wilhelms, indem sie Mignon erst in eine Frauenrolle zwingt und später als Kunstwerk konserviert. Dennoch läßt Wilhelm sich in das Programm der binären Geschlechterrollen nicht vollständig integrieren: die Ehe mit Natalie wird nicht vollzogen. Die Beziehung zu Mignon stellt folglich keine isolierte »Phase« dar, die zugunsten einer erwachsenen Sexualität überwunden wird.139 Verfolgt also der Schluß der >Lehrjahre< einerseits das Programm der Turmgesellschaft, indem Mignon sterben muß und Wilhelm sich in den arrangierten Hochzeitsreigen einreiht, so setzen sich andererseits die von der Turmgesellschaft propagierten Geschlechterrollen nicht wirklich durch. Es erstaunt daher nicht, daß die tote Mignon noch in den >Wanderjahren< eine geisterhaft-ästhetische Rückkehr erlebt. Der Bildungsweg Wilhelms verweist auf die Komplexität einer Identität, die auch Alterität umfaßt. Daß dieses Identitätsmodell letztlich abgewiesen wird, bleibt angesichts der Konsequenzen, die sich für den Roman insgesamt ergeben, unbedeutend. Indem der Handlungsverlauf nämlich zeigt, daß eine Bedeutungskontrolle über das androgyne Körperzeichen Mignon nicht möglich ist, werden auch die weiblichen Seiten der Autorschaft — Alterität und Ambivalenz — angenommen und integriert. Der Autor Goethe kann daher nicht mehr als Kontrollinstanz fungieren, sondern geht im Text des Romans als >Autorfunktion< auf. Daraus erklärt sich die reiche und widersprüchliche Deutungsgeschichte des >Wilhelm Meisters die den Deutungsspielraum früherer Romane weit übersteigt. Gerade die Figur Mignon ist dafür verantwortlich zu machen, daß die Forschung auch in Zukunft nicht in der Lage sein wird, sich auf einheitliche Deutungsstandards zu einigen und daß sogenannte >Meilensteine< immer wieder in Frage gestellt werden müssen. Indem der Roman so unaus-
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Vgl. dagegen MacLeod, Embodying Ambiguity, S. 23.
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deutbar und selbstreflexiv wird wie Mignon selbst, wird er aber erst interessant und modern.
1.3 Lucinde die Weiblichkeit soll wie die Männlichkeit zur höheren Menschlichkeit gereinigt werden'40
Neben das Modell der Ausgrenzung des Androgynen tritt mit der Schlegelschen >Lucinde< das Modell einer Einverleibung des Weiblichen, an deren Ziel die Vervollkommnung des männlichen Subjekts zum androgynen Künstler steht. Das Androgyne fungiert hier nicht als das gefährliche Andere, sondern als befriedigendes Bild einer männlichen Selbstfindung. Zudem stellt das Androgyne dasjenige formale Prinzip dar, das die »reizende Verwirrung« der Romanstruktur ästhetisch legitimiert.141 Jedoch bleibt Schlegels Aktualisierung des Androgynenmodells letztlich aporetisch. Dadurch wird nicht nur der Lebens- und Bildungsweg des Helden Julius problematisch, sondern auch der poetische Plan Schlegels/42
1.3.1 Das Kunstweibliche Die Weiblichkeitskonstruktion der >Lucinde< definiert sich durch die Differenz des Weiblichen gegenüber dem männlichen Autorsubjekt Julius: während dessen Progressionsbewegung auf eine »volle ganze Menschheit« hin (FS V, 10) die Progressionsbewegung des Romans (als Versuch der Verwirklichung einer »progressiven Universalpoesie«) verdoppelt, steht das Weibliche für den in sich ruhenden Naturschoß des absoluten Ursprungs, ist andererseits jedoch auch heilige Vollendung in der Liebe. Das Weibliche ist in der Lucinde deshalb weder konzentrierte Subjektivität, noch kann es eine individuelle Entwicklungsdynamik für sich in Anspruch nehmen. Bereits im dritten Satz des Romans erklärt Julius: »Und so sah
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Friedrich Schlegel, >Über die DiotimaFrau< eine leere Formel bleibt, die mit verschiedenen Semantiken gefüllt werden kann, hinter der es aber kein Subjekt >Frau< gibt. Die in sich widersprüchliche Statik des Weiblichen weist es als männliche Wunschprojektion aus: Lucinde repräsentiert die reflektierte Unmittelbarkeit, die das Ziel der männlichen Progression Julius' bildet. Der in der >Lucinde< privilegierte Frauentypus ist deshalb der der >HeiligenLiebespriesterin< und >Lichtbringerin< in seiner Einheit von Geliebter und Mutter. Als erreichte Vollendung ist die Frau vom Leben ausgeschlossen, insofern sie von einem persönlichen, bewußten Reifungs- und Bildungsprozeß ausgeschlossen ist. Weiblichkeit figuriert als Natur, die werdend und vergehend um sich selbst kreist.143 Der scheinbar unerschöpfliche metaphorische Reichtum bei der Darstellung des Weiblichen beschränkt sich bei näherer Betrachtung auf den Bereich einer vegetativen Bildlichkeit, hinter der die Frau selbst färb- und konturlos bleibt. Die Frauenfiguren, die in den »Lehrjahren der Männlichkeit« als Stationen auf Julius' Weg zu Einheit und Vollkommenheit figurieren, sind daher nicht als Individuen gestaltet, sondern als Vertreterinnen eines Typus. Somit verläuft Julius' Entwicklung »inmitten einer aus Frauenfiguren sich zusammensetzenden Natur«/ 44 Während die früheren Weiblichkeitspositionen in den »Lehrjahren der Männlichkeit« jeweils nur Teilaspekte einer ganzen, undifferenzierten Weiblichkeit verkörpern, steht Lucinde als letztes Glied der Reihe zugleich für deren Ganzes. Ihr Wesen ist »Eins und unteilbar« (n), und Julius liebt in ihr nicht sie allein, sondern »die Weiblichkeit selbst« (23). Die Frau als Ganzheitsfantasie des Mannes fungiert dabei lediglich als Medium seiner Einheitsstiftung. Damit bleibt Lucinde eine Kunstfigur: Projektionsobjekt männlicher Selbstvergewisserung und Realisierung einer ästhetischen Idee. Heinrich Heine hat das in der Romantischen Schule< treffend beschrieben: »Ihr [Lucindes, S. H.] Gebrechen ist eben, daß sie kein Weib ist, sondern eine unerquickliche Zusammensetzung von zwey Abstrakzionen, Witz und Sinnlichkeit« (H 8, 166). Der nur rhetorischen Formel von der »Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit« (FS V, 13), die schon in Schleus Vgl. FS V, 20: »So hat auch der weibliche Geist vor dem männlichen den Vorzug, daß man sich da durch eine einzige kühne Kombination über alle Vorurteile der Kultur und bürgerlichen Konventionen wegsetzen und mit einemmale mitten im Stande der Unschuld und im Schoß der Natur befinden kann.« '44 Weigel, Wider die romantische Mode, S. 76.
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gels Schrift >Über die Diotima< begegnet, widerspricht das konkrete literarische Detail: weil ohnehin jede Frau »die Liebe schon ganz in sich [hat], von deren unerschöpflichem Wesen wir Jünglinge nur immer ein wenig mehr lernen und begreifen« (22), ist es wieder nur der Mann, der sich durch die Begegnung mit ihr im Medium der romantischen Liebe vollendet: »In ihm [dem Mann, S. H.] ist die Menschheit vollendet«. Hinter dem universellen Anspruch der Androgynenkonzeption, die zunächst für beide Geschlechter emanzipatorisch zu gelten scheint, wird also einmal mehr die absolute Norm als eine männliche fixiert: der >Mensch< bedeutet der >MannLiebespriesterin< im Imaginären eingesperrt. Durch seine Pflanzenhaftigkeit wird das Weibliche außerhalb des Lebens konserviert und in die Nähe des Todes gerückt. Kaum erfährt Julius von der Krankheit Lucindes, imaginiert er sie als Tote: »Alles war vergangen; schon lange warst du im Schoß der kühlen Erde verhüllt, Blumen keimten allmählich auf dem geliebten Grabe, und meine Tränen flössen schon milder. Stumm und einsam stand ich« (69). Weil Weiblichkeit als subjektlose Natur konstruiert wird, kann sie den männlichen Ansprüchen auf Selbstvergewisserung und positive Sinndeutung jedoch nicht gerecht werden. Als Projektionsfläche für die narzißtische Selbstbespiegelung des Mannes wirft sie diesem stets nur sein eigenes Bild zurück: »in diesem Spiegel scheue ich mich nicht, mich selbst zu bewundern und zu lieben. Nur hier sehe ich mich ganz und harmonisch« (10), so formuliert Julius unverhohlen, und Lucinde selbst sagt: »Du bists, es ist die Wunderblume Deiner Fantasie, die Du in mir, die ewig Dein ist, [...] erblickst« (78). In ihrer imaginierten Unmittelbarkeit wird die Frau zur Therapie der männlichen Ich-Dissoziation und verhilft dem Mann so zu einer neuen Selbstdefinition. Wenn aber die positiven Aspekte des Weiblichen im Männlichen aufgegangen sind, der männliche Held sich also vervollkommnet hat, werden die weiblichen Figuren überflüssig. Ihr Tod ist deshalb konsequent. Allerdings wird der Schluß der Lucinde problematisch, insofern die Möglichkeit einer solchen Vervollkommnung des Mannes romanintern als Realität dargestellt ist. Denn wenn die Liebe als poetologische und anthropologische Utopie Gestalt gewinnt, besteht — wie Sigrid Weigel zu Recht angemerkt hat - die Gefahr, daß »ein dergestalt ins Allgemeine verweisendes Thema [...] gemessen am Unvollendbarkeits-Axiom der progressiven Universalpoesie< ahistorisch [wird] und diesem Axiom 60
in den Rücken [fällt], wenn nämlich in Gestalt einer Übereinstimmung von Idee, Gefühltem und Dargestelltem die unerreichbar gedachte Vollendung dennoch literarisch einkehrt und Harmonie zwischen Erlebtem und Erstrebtem herstellt«. 145 1.3.2 Unendliche Progression Da es sich bei Lucindes Tod um eine Fantasie Julius' handelt, bleibt die Formel von der »Vollendung zur vollen ganzen Menschheit« am Ende ein Postulat. Durch ihre vegetative Naturhaftigkeit und Bewußtlosigkeit ist Lucinde von vornherein mit Tod konnotiert. Das Opfer des Weiblichen dient der Befriedigung männlicher Allmachtsfantasien, welche der Wunschvorstellung des Subjekts entspringen, sich jenseits der Geschlechterdifferenz als Totalität zu repräsentieren. Die Okkupation des Weiblichen ist demnach ein narzißtischer Vorgang und dient allein der Vergrößerung des männlichen Handlungspotentials und der Erweiterung seines Empfindungs- und Ausdrucksrepertoires, — mithin der Professionalisierung seiner Selbstfindung. Damit wird die seit der Antike topische Autor-Muse-Konstellation aufgerufen. Die Funktion des Weiblichen beschränkt sich gemäß dieser Vorstellung auf die eines Katalysators für die männliche Autorschaft. Dadurch wird einerseits der reale Ausschluß der Frauen von der Kunstproduktion und von einer Subjektposition verschleiert; andererseits jedoch wird die männliche Autorschaft problematisch, wenn sie sich in elementarer Weise dem Weiblichen verdankt. Die Selbstfindung Julius' ist aufs engste verbunden mit seiner künstlerischen Ausbildung als Maler. Nicht nur die Vervollkommnung des Mannes, sondern auch die der Kunst ist Ziel der geschilderten Okkupation des Weiblichen. In der Lucinde liegt damit der Versuch vor, das Streben nach einer als »unerreichbar gedachten (synthetischen) Vollkommenheit — Kernstück der frühromantischen Ästhetik Schlegels« — literarisch darzustellen.140 Im ersten Kapitel des Romans entwickelt Julius eine Poetik, in der die imaginäre Begegnung mit dem Weiblichen die Fantasie des Dichters weckt und so eine Dichtung ermöglicht, die dem Postulat der »progressiven Universalpoesie« gerecht wird. Der sexuellen Verwirrung im '45 Weigel, Wider die romantische Mode, S. 74. Schon Schleiermacher läßt die fiktive Briefschreiberin Ernestine in den Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde kritisieren: »Geht nicht die Liebe in dem Buche bei aller Vollständigkeit der Darstellung doch ein wenig gar zu sehr in sich selbst zurück? Ich wollte sie ginge auch hinauswärts in die Welt und richtete da etwas tüchtiges aus« (Schi 1,3, I02f). 146 Weigel, Wider die romantische Mode, S. 69. 6l
Tausch der Geschlechterrollen entspricht die textuelle Verwirrung der hybriden Form, die Briefe, Dialoge, eine Idylle, Träume, Allegorien und Fantasien kombiniert. Der erste Eindruck eines formalen Chaos täuscht jedoch: in Wahrheit ist der Roman mit seinem narrativen Zentrum, um das sich je sechs Arabesken lagern, sorgfältig strukturiert.147 Gerade dadurch wird der Romanschluß jedoch problematisch. Denn in der vollendeten Idylle der romantischen Liebe, die am Ende der >Lucinde< Gestalt gewinnt, liegt eine Einlösung des Ideals der romantischen Poesie vor. Der Roman ist damit nicht mehr fortschreibbar. Während das Weibliche zunächst Fantasie freisetzt und dichterische Produktivität ermöglicht, fuhrt die Okkupation und damit die Auslöschung des Weiblichen später zum Verstummen des literarischen Textes. Die anfangs befriedigende Vorstellung einer Vereinnahmung des Weiblichen wird so schnell zu einer realen Bedrohung sowohl für das männliche Autorsubjekt als auch für den literarischen Text. Indem das Weibliche außerhalb des Lebens konserviert wird, wird es zugleich als das bedrohliche Andere, das sich domestizierender Normierung zu entziehen droht, begreifbar und verfügbar. Weil das Weibliche im Imaginären des männlichen Dichters gefangen bleibt, fällt es in seinem Status als ideell überhöhtes Wunschbild mit dem Postulat der romantischen Poesie zusammen. Der imaginäre Status des Weiblichen macht es einerseits verfügbar, führt jedoch andererseits dazu, daß die Okkupationsstrategie nur eine Scheinlösung für die Ich-Dissoziation der männlichen Subjekte sein kann. Damit wird deutlich, daß Schlegels poetologisches Androgynenkonzept auf der Vereinnahmung und Vernichtung des Weiblichen basiert. Nicht nur Julius' Künstlerschaft, sondern der Roman als ganzer verdankt sich der Okkupation des Weiblichen durch den männlichen Autor. Indem der Mann sich die naturhaften Aspekte weiblicher Schöpfungskraft — das Gebären — zu eigen macht, sucht er die eigene gespaltene Subjektivität zu überwinden. Seine Künstlerschaft hat folglich eine umfassende Selbstverwirklichung zum Ziel. Dabei wird der Künstler zum ganzen, höheren Menschen stilisiert. Obwohl Julius in der Erzählung primär als Maler beschrieben wird, nennt er selbst immer wieder die Dichtung als höchste Kunst und als der romantischen Liebe angemessenes Medium: »Wir beide sind eins und nur dadurch wird der Mensch zu einem und ganz er selbst wenn er sich auch als Mittelpunkt des Ganzen und Geist der Welt anschaut und dichtet« (71). Doch die Frau ist von der Ausbildung zur höheren Menschheit ausgeschlossen, der sie nur als Instrument dient. Das in 147
So auch MacLeod, Embodying Ambiguity, S. 68. 02
der >Lucinde< beschriebene Progressionsmodell hat Brentano sich im Konzept der »poetischen Existens« zu eigen gemacht und an der eigenen Person zu verwirklichen gesucht. Dabei hat er, wie die >GodwiLucinde< eine fantasmatische Regression in die imaginäre Mutter-Kind-Dyade dar. Der Romanschluß steht deshalb der behaupteten Progression auf ein Unendliches entgegen. Indem Progression und Regression hier konvergieren, wird die Geschichtsphilosophie Schlegels ad absurdum geführt. Auch sein poetologischer Entwurf muß fragwürdig erscheinen, wenn die männliche Autorschaft so problematisch ist, daß sie nur durch die Rückkehr in den Mutterschoß begründet werden kann.
1.4 Mathilde Ist mir nicht zu Muthe wie in jenem Traume, beym Anblick der blauen Blume? Welcher sonderbare Zusammenhang ist zwischen Mathilden und dieser Blume? (N I, 277)
Das Androgynenmodell des >Ofterdingen< beruht - anders als das der >Lucinde< — nicht auf der Okkupation des Weiblichen durch den Mann, sondern auf dem Androgynwerden männlicher und weiblicher Figuren. Dieses Transzendieren der Geschlechterbarrieren wird zudem deutlicher als in der >Lucinde< auf die Entwicklung des Helden zum Dichter bezogen. Das Modell einer androgynen Autorschaft kann in der Auseinandersetzung mit dem >Ofterdingen< deshalb weiter präzisiert werden. Heinrichs Reise ist eine Reise in die Poesie, die durch das Erzählen von Binnengeschichten strukturiert wird. Ihr Ziel ist ein freies Spiel der Dichtung jenseits aller Beschränkungen. Eine solche »Apotheose der Poesie« stellt im >Ofterdingen< das Sprechen mit männlich-weiblicher Zunge, jenseits der Geschlechterdifferenz, dar. Die Aufhebung der Sprecher-Identität, die sich im Dialog Heinrichs und Mathildes anbahnt, generiert eine selbstreferentielle Poesie, die dem Leser jedoch nicht mitgeteilt werden kann: das »geheime Wort« Mathildes am Ende des 6. Kapitels. Es besteht folglich ein enger Zusam63
menhang zwischen dem Androgynenmodell und der Selbstbezüglichkeit, mithin Poetizität, des Romans. Auch die Poesie-Utopie im >Godwi< wird als dem Leser nicht mitteilbarer weiblicher Text beschrieben. Damit steht Novalis' Androgynenentwurf Brentano wesentlich näher als die Modelle Goethes und Schlegels.148 1.4.1 Der romantische Roman als absolutes Buch Novalis' poetologische Entwürfe kulminieren im Projekt eines absoluten oder »vollständige[n] Buch[es]« (N III, 273:185).I49 In diesem Projekt wird der Entwurf einer die Bedingungen der eigenen Poetizität reflektierenden Transzendentalpoesie mit dem einer die Gattungsgrenzen sprengenden Universalpoesie vereinigt. Wie diese absolute Poesie auszusehen hat, wird allerdings nur sehr vage bestimmt. Die Universalpoesie wird in den poetologischen Fragmenten Novalis' und Schlegels als absolute, allumfassende Poesie beschrieben, die weder gegen andere Kunstgattungen, noch gegen einen Bereich des Nicht-Ästhetischen klar abgrenzbar ist. Poesie ist alles, und alles soll Poesie werden.150 So illustriert Schlegel das Postulat einer »progressiven Universalpoesie« mit der Forderung, »alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen« (FS II, 182:116). Die gleiche Forderung findet sich bei Novalis im Allgemeinen BrouillonTeplitzer Fragmenten< heißt es dementsprechend: »Ein Roman ist ein Leben, als Buch« (Nil, 599:341)· Im >Ofterdingen< soll eine solche Vollständigkeit realisiert werden. In ei148
149
150
Zum Androgynenmodell bei Novalis vgl. allgemein Fankhauser, Das verleugnete Geschlecht der blauen Blume. Zum Projekt des absoluten Buches vgl. Novalis' Brief an Friedrich Schlegel vom 7. ii. 1798 (N IV, 262f.) und Schlegels Antwort (N IV, 5o6f.). Blumenberg weist auf die »Austauschbarkeit der Prädikate, die Unbestimmtheit der Transsubstantiation« in Novalis' Fragmenten hin, »wobei eine Auflösungsfähigkeit der anderen ähnelt: die der Realität in Poesie, der Geschichte in den Roman, aller Größen in das, was >Philosophie< heißen soll«. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, S. 237.
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nem Brief an Tieck schreibt Novalis über seinen im Entstehen begriffenen Roman: »Das ganze soll eine Apotheose der Poesie seyn« (N IV, 322). Die Integration von Märchen und lyrischen Formen trägt zu diesem Ziel ebenso bei wie der Plan, den Helden Heinrich eine Art Welt- und Zeitreise unternehmen zu lassen. Tieck hat das in seinem Fortsetzungsbericht beschrieben, und schenkt man ihm Glauben, dann wollte Novalis in den folgenden Bänden einen enzyklopädisch über Geographie, Geschichte, Wissenschaft und Kunst ausgreifenden Plot konstruieren. In den vorliegenden Romanteilen ist dies bereits ansatzweise geleistet. Der Versuch eines absoluten Romans stellt eine komplementäre Ergänzung zu Novalis' Enzyklopädie-Projekt dar, dessen Ansätze in den Fragmenten des Allgemeinen Brouillon< vorliegen. Programmatisch heißt es dort: »Mein Buch soll eine scientifische Bibel werden — ein reales, und ideales Muster — und Keim aller Bücher« (N III, 363:557). Die geplante Enzyklopädie soll zwischen Endlichem und Unendlichem vermitteln, gemäß dem Diktum: »Den Satz des Widerspruchs zu vernichten ist vielleicht die höchste Aufgabe der höhern Logik« (N III, 570:101). Eine solche Vermittlung kann nur durch und in Poesie geleistet werden: »Durch Poesie entsteht die höchste Sympathie und Coactivität, die innigste Gemeinschaft des Endlichen und Unendlichen« (N II, 533:31).151 Die Poesie soll nicht nur zwischen Endlichem und Unendlichem vermitteln, sondern auch zwischen Ich und Nicht-Ich oder zwischen Ich und Du, denn: »Die Poesie lößt fremdes Daseyn in Eignem auf« (N II, 535:46). »Eine Bibel schreiben zu wollen« ist demzufolge nicht nur philosophisches und poetologisches Programm, sondern dient auch der Vervollkommnung des schreibenden Subjekts (N III, 491). Das Projekt eines »ächte[n] Buch[es]«, das zugleich »Bibel« sein soll (N II, 462:108), zielt mit dem Überwinden aller Gegensätze auch auf das Einreißen der Geschlechterbarriere und steht deshalb in einem engen begründungslogischen Zusammenhang mit dem Androgynenmodell. Während die Integration unterschiedlicher Textsorten und Formen der Selbstbezüglichkeit sowie das zugrundeliegende Schema Erwartung-Erfüllung im >Ofterdingen< auf die Verwirklichung der progressiven Universalpoesie zielen, dient das Androgynenmodell, das die Beziehung Heinrich-Mathilde strukturiert, der Verwirklichung eines progressiv-universalen Autor-Ich. Die Poesie transzendiert in Novalis' poetologischen Fragmenten alles Getrennte, auch die Geschlechterdifferenz, und kulminiert in der Utopie ei151
Zu dem in diesem Fragment anklingenden Zusammenhang von philosophisch-poetologischer Spekulation und Naturwissenschaft vgl. Daiber, Experimentalphysik des Geistes. 65
nes vollen Sprechens jenseits der Trennung von »Zeichen« und »Bezeichnetem« (Nil, 108:11). 1.4.2 Novalis' Reflexionsmodell Das zugrundeliegende Konzept der Vermittlung von Endlichem und Unendlichem, Ich und Nicht-Ich, geht auf Fichtes Reflexionsmodell zurück. Dieses Modell und Novalis' Kritik daran sollen deshalb kurz erläutert werden, wobei ich mich auf die poetologischen Aspekte des Reflexionsvorgangs beschränken werde, ohne auf die subjektphilosophische FichteRezeption näher einzugehen.152 Im Hinblick auf die Romanpoetik des >Ofterdingen< ist dabei zu berücksichtigen, daß Novalis' disparate und teilweise widersprüchliche Fragmente etwas beschreiben, das es noch gar nicht gibt. Die romantische Literatur stellt im 105. >PoeticismenSchein< und verweist es damit ins Reich des Ästhetischen und Fiktionalen: »Was die Reflexion findet, scheint schon da zu seyn« (112:14). Das sich auf sich selbst zurückwendende Ich kann Novalis' Ansicht nach nie zu sich zurückgelangen, denn die Handlung der Synthesis produziert »ein >ResultatOfterdingen< nachweisen lassen. Jeder Reflexion, so folgert Novalis aus der Einsicht in die Ordo-inversus-Struktur, muß »eine Mittelanschauung vorhergehn, welche selbst wieder durch ein vorhergehendes Gefühl und eine vorhergehende Reflexion, die aber nicht ins Bewußtseyn kommen kann, hervorgebracht wird« (115:17): »Aller wircklicher Anfang ist ein 2ter Moment« (591:284), und die Suche nach einem absoluten Ursprung ist folglich »Unsinn« (254:472). »Alle Wirckung ist verkehrt etc. Jede Ursach erweckt Ursachen — die Caussa prima ist nur das erste Glied der ursächlichen Reihe diese Reihe ist aber vorwärts und rückwärts unendlich« (N III, 376:615). Das Konzept des Anfangs befindet sich paradoxerweise immer im zeitlichen Rückstand gegenüber dem, was es beschreiben sollte: »Der Anfang ist schon ein späterer Begr[iffJ. Der Anfang entsteht später, als das Ich, darum kann das Ich nicht angefangen haben« (253:76). Die Reflexion ist deshalb prinzipiell ein nachträglicher Vorgang. Die Einsicht, »daß das Faktum unseres Selbstbewußtseins nicht aus Entgegensetzungen der Reflexion erklärt werden kann«, 156 führt bei Novalis allerdings nicht zur Preisgabe des Reflexionskonzeptes, sondern vielmehr zu dessen Ausweitung, bei der auf den Gegenstand der Reflexion nunmehr als auf ein Verfehltes reflektiert wird. Die Reflexion, so Novalis, könne die beschriebene Verfehlung nämlich korrigieren, wenn sie »den ausgedrückten Schein als >Zeichen< auf das unmittelbare und undarstellbare >Seyn< hin überschreitet, indem sie das >Nichtseyn< nicht dem Dargestellten, sondern dem Darstellungsmittel (also sich selbst) zuschreibt. Das kann sie [...] nur, wenn sie, in einem zweiten Schritt, sich selbst reflektiert und das >Geschehen< der Darstellung als eine Schein-Herstellung dessen durchschaut, was im Grund >schon IstGodwi< sowie in zahllosen Briefen Brentanos. Hier liegt offenkundig ein Metaphernfeld vor, durch das sich zentrale Probleme romantischer Poetologie thematisieren lassen. Die Kombination von Färb-, Licht- und Wassermetaphorik kreist um den Vorstellungsbereich der Vermischung und des Übergangs. Dabei fungiert die Außenwelt als Spiegel für das Innenleben der Figuren. Heinrichs Traum inszeniert eine Interaktion von Innen- und Außenwelt, die den Mechanismus des Romantisierens beispielhaft verdeutlicht: im Traum wird die lebensweltliche Erfahrung potenziert; dadurch erfährt wiederum das Erleben im Wachzustand eine Anreicherung und Potenzierung. Problematisch ist dabei, daß Heinrichs Erfahrung ausschließlich aus Literatur besteht: den Erzählungen des Fremden. Überhaupt ist die ganze Welt Heinrich nur »aus Erzählungen bekannt« (203). Die Reflexion des Traums stellt deshalb, analog zur Ursprungs-Philosophie in den Fragmenten, die unendliche Verweisung auf einen Ursprung dar, der nie erreicht werden kann. Das »herrliche Schauspiel« des Springquells vereint organische und künstliche Elemente, so wenn Heinrich durch einen »in den Felsen gehauenen Gang[]« in die Höhle gelangt (196). Neben der Vereinigung von Natur und Kunst werden »unzählbare Gedanken« und »neue, niegesehene Bilder« als Gegenstände der Vereinigung und Vermischung genannt (197). Heinrich befindet sich im Traum in einem Zustand der Fantasietätigkeit (Vermischung und Neukombination von Gedanken und Bildern), wie er der dichterischen Produktion vorausgeht.105 Diese persönliche Entgrenzungserfahrung zwischen Rausch und Bewußtheit - »Berauscht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewußt« — rückt der Traum in extreme 165
Zur Identifikation des Traums mit unbewußter Produktivität in der Romantik vgl. Engel, Der Roman der Goethezeit, S. 153.
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Nähe zur Entgrenzung in der Sexualität: »Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen, die an dem Jünglinge sich augenblicklich verkörperten«. Wasser und Frau sind in dieser Auflösungsfantasie identisch. Wie schon in der >LucindeOfterdingen< eine identifizierende Tendenz, von der die männlichen Figuren gleichermaßen erfaßt werden. Das betrifft insbesondere die Beziehung zwischen Rahmen- und Binnenerzählungen. Die überindividuelle Typenhaftigkeit der Figuren legt eine allegorische Übertragung der Binnengeschichten auf den Rahmen nahe. In den nachgelassenen Fragmenten zum >Ofterdingen< hat Novalis eine ganze Reihe solcher Identifikationen vorgenommen, die teilweise auf die geplanten, weiteren Romanteile verweisen: Klingsohr ist der König von Atlantis. Heinrichs Mutter ist Fantasie. Der Vater ist der Sinn. / Schwaning ist der Mond, und der / Antiquar ist der / Der Bergmann / auch das Eisen. / Der Graf von Hohenzollern und die Kaufleute kommen auch wieder. / Nur nicht sehr streng allegorisch. Kayser Fridrich ist Arctur. (342)
Auch innerhalb der vollendeten Rahmenhandlung begegnen solche deja vus. Die Morgenländerin Zulima erblickt in Heinrichs Zügen eine eigenar77
tige Ähnlichkeit mit einem ihrer Brüder. Heinrich wiederum meint in Zyane eine alte Bekannte wiederzuerkennen, und in Gestalt Sylvesters sieht er den Bergmann vor sich stehen. Die Figuren des Romans sind nicht als psychologische Individuen charakterisiert, sondern einer begrenzten Anzahl von Typen zugeordnet: der Dichter, der Kaufmann, der weise Alte, die Frau. Sie lassen sich als Aspekte einer transzendentalen Gesamtpersönlichkeit deuten, wie auch die folgende Äußerung Novalis' nahelegt: »Poesie ist wahrhafter Idealismus — Betrachtung der Welt, wie Betrachtung eines großen Gemüts — Selbstbewußtsein des Universums« (335). Fichtes Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich reformuliert Novalis als Dialog von Ich und Du innerhalb eines schrankenlosen Ich: Das Princip Ich ist gleichsam das ächte gemeinschaftliche und liberale, universale Princip - es ist eine Einheit, ohne Schranke und Bestimmung] zu seyn [. . .] Selbstheit ist der Grund aller Erkenntniß — [. . .] auch das Princip der höchsten Mannichfaltigkeit - (Du.) (Statt N[icht]-[Ich] - Du.) (N III,
An anderer Stelle postuliert Novalis die Identität von Ich und Du und ermöglicht damit das Hinreißen der Geschlechterbarriere: »Ich bin Du« (N II, 543:96).I75 Das dialogische Prinzip von Ich und Du wird also nicht aufrechterhalten, sondern das Du kollabiert in ein allumfassendes Ich: »Alles kann Ich seyn und ist Ich oder soll Ich seyn« (N III, 430:820).Iy6 Die identifizierende Tendenz gilt nicht nur für die Subjekt-ObjektBeziehung in der Liebe, sondern betrifft auch Novalis' poetologische Kernbegriffe: Frau, Liebe, Poesie und Natur gehören im >Ofterdingen< einem einheitlichen Vorstellungsbereich an und können allegorisch füreinander einstehen. So bezeichnet Heinrich die Liebe als »höchste Naturpoesie« und Mathilde als »sichtbare[n] Geist des Gesanges«, und Klingsohr ruft aus: »Liebe und Treue werden euer Leben zur ewigen Poesie machen« (N I, 287/284). In den Paralipomena wird auch Zulima mit Poesie identifiziert: »Die Morgenländerinn ist auch die Poesie« (342). Zur Identifikation von Frau und Natur heißt es in den >Teplitzer Fragmenten >>em geheimnisvolles Zusammenfließen unsers geheimsten und eigentümlichsten Daseins« (289). Die Überhöhung der Liebenden bei gleichzeitigem völligem Absehen von ihrer Individualität zeigt deutlich, daß es hier nicht um die Darstellung einer individuellen Liebesbeziehung geht, sondern um das Prinzip Liebe. Dadurch wird einerseits jede Beziehung von vornherein überfordert; andererseits ist ein solches zeitloses Prinzip nicht in die Chronologie der Romanform integrierbar. Beide Probleme werden durch den Tod der Geliebten lösbar. Mathilde wird dadurch weiter depersonalisiert und auf einen madonnenartigen Mittlerstatus festgeschrieben: »O Geliebte, der Himmel hat dich mir zur Verehrung gegeben. Ich bete dich an. Du bist die Heilige, die meine Wünsche zu Gott bringt, durch die er sich mir offenbart«, so Heinrich (288). »Nichts ist zur wahren Religiositaet unentbehrlicher, als ein Mittelglied — das uns mit der Gottheit verbindet«, schreibt Novalis in den >Vermischten Bemerkungen (Nil, 440/442:73).
'77 Newman, The Status of the Subject, S. 66. Dagegen deutet Fankhauser Mathilde nicht als imaginäre Projektion Heinrichs, sondern als Instrument der symbolischen Vaterwelt: Mathilde sei ein »Köder oder listig verkleideter Geist des Vaters, der sich Heinrich anbietet, damit dieser in ihm sein eigenes Spiegelbild finden möge, um sich — angekommen im Dichter-Hafen — zu Hause, bei sich, am Ziel seiner Wünsche zu wähnen« (Des Dichters Sophia, S. igyf). 178 Kremer, Prosa der Romantik, S. 107. '79 Newman, The Status of the Subject, S. 66. Vgl. ausführlicher auch dies., Locating the Romantic Subject, S. I32ff.
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Die Narzißmus-These ist insofern plausibel, als Heinrichs Beziehungen zu seiner Umwelt durchweg im präödipalen Stadium verbleiben. Der >Ofterdingen< schildert folglich nicht, wie Bankhäuser glaubt, die »Möglichkeit, den konfliktuösen Zugang eines Subjekts zur symbolischen Ordnung Text werden zu lassen«.180 Heinrichs Ziel ist gerade nicht die Integration in die symbolische Vaterwelt, sondern deren Verweigerung in der poetischen Dichterexistenz — mithin die Text-Werdung eines Ichs unter Ausschluß der symbolischen Ordnung. Nicht die Aneignung des Anderen steht in den zuletzt zitierten Fragmenten im Vordergrund, sondern die Transformation des Ich. Das Verharren im Imaginären wird so zur Voraussetzung der poetischen Existenz. Ausgehend von einer Analyse des zweiten Traums am Ende des 6. Kapitels kann jedoch nachgewiesen werden, daß sich die Funktion des Weiblichen im >Ofterdingen< keineswegs auf die Bestätigung des narzißtischen Subjekts beschränkt. Vielmehr fungiert das Weibliche als Kritik an der männlichen Dichtung und als Störung der symbolischen Sprache, auf der diese Dichtung beruht. Heinrichs narzißtisches Vereinigungsstreben steht im Roman nicht unkommentiert da, denn es wird durch das sich in Mathilde verkörpernde weibliche Prinzip nachhaltig gestört. Es ist in diesem Zusammenhang signifikant, daß Heinrich sich an einer Stelle als Spiegelbild Mathildes bezeichnet: »Bin ich der Glückliche, dessen Wesen das Echo, der Spiegel des ihrigen sein darf?«, fragt er Mathilde (277). Nicht die Frau fungiert hier als männliche Projektion, sondern der Mann imaginiert sich als Projektion der Frau - ein Phänomen, das auch bei Brentano eine poetologische Schlüsselfunktion einnimmt. Wird dabei nämlich einerseits die Frau gegenüber dem nur mehr supplementären männlichen Subjekt aufgewertet, so handelt es sich andererseits wieder nur um eine männliche Wunschvorstellung. Wie schon im ersten Traum, dominiert auch im zweiten die Farbe blau und das Element des Wassers. Heinrich sieht einen »tiefe[nj blaue[n] Strom«, in dem Mathilde zu ertrinken scheint (N I, 278). Wie sich im Verlauf des Traums erweist, lebt sie jedoch unter Wasser fort, und auch Heinrich gelangt in diesen transzendenten Bereich — ohne allerdings zu merken, wie. Deutlicher noch als im ersten Traum fungiert das Wasser hier als Auferstehungs- und Wiedergeburtsmetapher. Die Wiedergeburt im zweiten Teil des Traums ist ein poetischer Zustand: Blumen und Bäume sprechen mit Heinrich, er hört das »einfache Lied« wieder, das Mathilde im Kahn gesungen hatte, und Mathilde sagt ihm ein »wunderbares geheimes Wort in den Mund, was sein ganzes Wesen durchklang« 180
Fankhauser, Des Dichters Sophia. S. 133. 80
(2y8f.). Heinrich wird jedoch geweckt, bevor er das geheime Wort wiederholen kann - und dies nicht, wie beim ersten Traum, durch eine weibliche Stimme, sondern durch seinen Großvater (279). Deshalb vergißt er das Wort, obwohl er »sein Leben darum [hätte] geben mögen, das Wort noch zu wissen«. Mathilde beweist in diesem Traum ihr dichterisches Talent und ihre Sprachbeherrschung — Fähigkeiten, an denen es dem angehenden Dichter Heinrich mangelt, denn er bleibt im Traum auf die Rolle des Rezipienten beschränkt. Schon beim Erwachen aus dem ersten Traum hat die weibliche Stimme eine hohe Faszination für Heinrich. Da die Mutter auch die blaue Blume ist, kann ihre Rede als Kulmination des ersten Traums gewertet werden: der Traum endet damit, daß die Blume spricht. Im zweiten Kapitel wird die Mutter als begabte Erzählerin beschrieben (203), während Heinrich mit Worten und Dichtung ganz unvertraut ist. Er gesteht den Kaufleuten, noch nie ein Gedicht gesehen zu haben (208); überhaupt müsse es »noch viel Worte geben, die ich nicht weiß« (195). Nicht Heinrich tritt im Roman als Dichter auf, sondern die Frauen in seiner Umgebung: die Mutter, Mathilde und Zulima. Sie haben Teil an einer Poesie, zu der Heinrich der Zugang verwehrt ist. Der ganze Orient wird in Zulimas Beschreibung zum Land der Poesie (236^). Sie selbst singt und spielt die Laute, ja in den Paralipomena bezeichnet Novalis sie sogar schlechthin als »Poesie« (342). Was sie bereits ist, muß Heinrich erst werden. Ob das gelingen kann, ist jedoch zweifelhaft. Die Laute, die Zulima ihm als Abschiedsgeschenk anbietet, lehnt er bezeichnenderweise ab (238). l8r Auch Mathildes geheimes Wort flößt Heinrich keine poetischen Fähigkeiten ein. Die Vorhersage des Erzählers, Heinrichs Lippen würden sich »durch Laute der Muttersprache und durch Berührung eines süßen Mundes« öffnen (268), wird durch den Traum nicht bestätigt. Als Repräsentantinnen der Naturpoesie besetzen Frauen im >Ofterdingen< eine Stelle, die Heinrich selbst begehrt und die ihm doch verwehrt bleibt. Wie Kuzniar angemerkt hat, rückt Mathilde - als »sichtbarer Geist des Gesanges« (284) - den angehenden Dichter Heinrich in eine unmögliche Position: »short of getting a sex change, he cannot master 181
Dagegen geht Newman davon aus, daß Zulima eine katalytische Wirkung auf Heinrichs Dichterkarriere ausübt: »Under the influence of Zulima's narrative presentation of her homeland [...] Heinrich becomes able for the first time to speak as a poet would speak« (Locating the Romantic Subject, S. 104). Ihr entgeht jedoch nicht, daß Heinrichs poetische Rede dem Leser nicht mitgeteilt wird - ein Umstand, der die behauptete dichterische Leistung denn doch in ein zweifelhaftes Licht rückt: »Significantly, we do not hear the actual words that Heinrich utters from his budding poetic soul; we only learn that he spoke and that the words had an effect« (S. 105).
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what she already is«.102 Heinrichs Lese- und Schreibversuche können deshalb nie an die Poesie der weiblichen Stimme heranreichen. Statt als Produzent von Literatur, wird Heinrich immer wieder als Rezipient und Leser präsentiert. Seine Reise ist eine Reise in die Poesie, insofern sie eine LeseReise ist: »Heinrich's entire journey takes place as the creative interpretation of fictional constructs [...] his interaction with poetic discourse becomes the reality of his own subjectivity and of the world.«183 Kuzniar deutet Heinrichs Sprachlosigkeit als »odd transference of female sexual attributes to the male character«: Heinrich nimmt im Traum eine weiblich kodierte, passiv-rezeptive Rolle ein und wird zudem mehrfach als einer beschrieben, in dem Barrieren durchbrochen und Fenster geöffnet werden.184 Novalis selbst verweist in den Paralipomena auf die »Passive Natur des Romanhelden« (340). Tatsächlich bleibt Heinrich im ganzen Roman auf eine Zuhörerrolle beschränkt, ohne selber zu dichten oder zu erzählen. Im Traum des sechsten Kapitels wird das Hören sogar über andere Sinneswahrnehmungen privilegiert, denn Heinrich kann Mathilde hören, bevor er sie sieht. Auch beim Erwachen aus dem ersten Traum erklingt die mütterliche Stimme, bevor Heinrich die Augen öffnet, und Zulimas Lied ist zu hören, bevor sie zu sehen ist. Die geläufige Deutung, Mathildes Tod sei notwendige Voraussetzung für Heinrichs Entwicklung zum Dichter, wird durch den Traum des 6. Kapitels Lügen gestraft/83 Erst Mathildes Auferstehung bringt Heinrich mit der Poesie in Kontakt, wobei er aber auf eine rezeptive Rolle beschränkt bleibt. Die Natur dieser Auferstehung bleibt jedoch unklar. Wieder wird der zweite Teil des Traums vom Träumer distanziert und verfremdet, wenn es im Traum über die erste Hälfte des Traums heißt: »Wie ein banger Traum lag die schreckliche Begebenheit hinter ihm« (278). Damit suggeriert der Erzähler, Heinrich sei nun aus dem Traum erwacht. Zumindest scheint es ihm im Traum so. Die zweite Traumhälfte wird in einen eigenartigen Zustand zwischen Wachen und Träumen verlegt. Die erste Hälfte dagegen wird zu einem potenzierten Traum von hoher Irrealität umgedeutet. Wenn jedoch fraglich ist, ob Mathilde gestorben ist, wird auch ihre Auferstehung zweifelhaft. Die Interpretation des zweiten Traums erweist sich deshalb als ebenso problematisch wie die des ersten. Besonders die 182 183 184 185
Kuzniar, Hearing Woman's Voices, S. 1198. Newman, The Status of the Subject, S. 64. Kuzniar, Hearing Woman's Voices, S. 1200. Dagegen beschwört Bankhäuser den »strukturelle[n] Zusammenschluß von Erwartung und Erfüllung oder von Suche und Fund mit dem Tod der Geliebten« (Des Dichters Sophia, S. 173). 82
Beziehung zum Rahmen, dem der Traum so offensichtlich widerspricht, bleibt unklar. Deutlich wird dagegen, daß der im zweiten Romanteil suggerierte Nexus von Tod der Geliebten und Dichter- Werdung fantasmatisch sein muß. Tatsächlich ist gerade die Anwesenheit des Weiblichen notwendige Voraussetzung aller Poesie. Die Frau verschwindet nicht, nachdem sie den männlichen Diskurs initiiert hat, sondern ihre Stimme wirkt nach dem Tode entkörperlicht, als reine Poesie, fort. Im Klingsohr-Märchen produzieren der Tod der Mutter und die Kommunion ihrer Asche einen poetischen, oralen Diskurs: »Man hörte nichts, als zärtliche Namen und ein Kußgeflüster« (315). Wie das geheime Wort Mathildes wird die Poesie der Mutter nicht durch Zuhören rezipiert, sondern oral aufgenommen und weitergegeben. Die mütterliche Poesie wird verinnerlicht; in dieser kannibalistischen Fantasie ist die Mutter gerade durch ihren Tod allgegenwärtig, denn jeder trägt sie in sich: »Alle kosteten den göttlichen Trank, und vernahmen die freundliche Begrüßung der Mutter in ihrem Innern, mit unsäglicher Freude. Sie war jedem gegenwärtig, und ihre geheimnisvolle Anwesenheit schien alles zu verklären« (312). Die selbstbezügliche Poesie generiert hier einen perversen, oralsadistischen Subtext, in dem die Gefahr des Androgynenmodells für den kulturellen Diskurs aufblitzt. Dieser beunruhigende Aspekt des Androgynen verbindet sich mit der Vorstellung des weiblichen Körpers. Der »Schoß« der Frau bildet den Widerstand gegen eine Vereinnahmung im Dienste der Poesie: die Einverleibung der Mutter kann die natürliche weibliche Produktivität nicht auf den Mann übertragen. Die männliche Stimme nimmt gegenüber dem vollen Sprechen der Mutter einen supplementären und provisorischen Status ein; der Mann antizipiert in dieser Poetik nur die Rückkehr der Frau und des vollen Sprechens. Der Aufspaltung in zahlreiche Frauenfiguren liegt eine Allgegenwart der weiblichen Poesie zugrunde. Wie jeder die Stimme der Mutter in seinem Innern trägt, so enthält die Geliebte wiederum alles andere in sich: »Wenn man Eins zu lieben versteht - so versteht man auch Alles zu lieben [. . .] Kunst, alles in Sofieen zu verwandeln — oder umgek[ehrt]« (N III, 408:723). 1.4.5 Die Poetik der Androgynie Nicht nur Frauen, auch die Männer des Romans unterliegen dem Prinzip der Transformation. Heinrich selbst sollte im Fortgang der Handlung verwandelt werden: »Heinrich wird im Wahnsinn Stein - (Blume) klingender Baum — goldner Widder — « (N III, 674:623). Sogar ein »umgekehr83
tes Märchen« von seinem Tod war geplant: »Heinrich geräth unter Bacchantinnen - sie tödten ihn — der Hebrus tönt von der schwimmenden Leyer« (675:624). Nach dem Vorbild der weiblichen Figuren sollte sich also auch Heinrich in Poesie auflösen. Seine ohnehin vorhandenen weiblichen Züge wären durch die Verwandlung in weibliche Poesie vervollkommnet worden. Labilität und Wandelbarkeit der Geschlechterbestimmungen spielen in einem anderen Text Novalis' eine zentrale Rolle, auf den hier nur kurz verwiesen werden kann: den >Hymnen an die NachtOfterdingen< siegt Ambiguität über die Vereinnahmung des Weiblichen. Mathilde stirbt und bleibt doch gegenwärtig; ihr Tod wird nicht für die Dichter-Werdung Heinrichs funktionalisiert, denn diese bleibt höchst zweifelhaft: nur Mathilde kennt das »geheime Wort« der Poesie. Ebenso überwindet der Sprecher der >Hymnen< nicht den Tod Sophies. Novalis' Androgynenmodell verweist auf eine Poesie, die — wie die Mutter aus dem Klingsohr-Märchen — fruchtbar, flüssig und wandelbar ist. Diese poetologische Konzeption läßt sich in zahlreichen Fragmenten nachweisen. Wie die Frauenfiguren im >OfterdingenOfterdingen< für den Mann unerreichbar. Das poetische Wort Mathildes entzieht sich der Mitteilung durch den Text; Heinrich kann es nicht wiederholen. Nicht die Vervollkommnung eines narzißtischen Subjekts steht am Ende des Romans, sondern die Allgegenwart des weiblichen Körpers: die Asche der Mutter. Der Mann antizipiert in diesem Modell nur die Rückkehr der Frau. Er rückt dabei in eine passive, weibliche Position. Anders als in den bisher diskutierten Texten, werden im >Ofterdingen< deshalb beide Geschlechter androgyn.187 Erst als im zweiten Romanteil Mathilde aus dem Jenseits zu ihm spricht, findet Heinrich zu einer eigenen poetischen Stimme. Dieser Dichter-Werdung ist keine persönliche Entwicklung des Helden vorausgegangen, sondern sie beruht allein auf der Wiederkehr Mathildes. Sein Lied ist die Aufforderung an sie, ihn durch ihr poetisches Wort in das Reich der Poesie aufzunehmen: »Ohne mein verwegnes Fragen / Wirst mir sagen, / Wenn ich zu dir soll gelangen« (N I, 324). Die Wiedergeburt der Frau generiert eine selbstreferentielle Poesie der ewigen Wiederholung. Heinrichs Lied verkündet die Wiederkehr der Frau, durch die das Lied erst ausgelöst wurde. Diese Poesie hat keinen Anfang und kein Ende, sondern beruht auf einer unendlichen Verweisungsstruktur. »[Die] ganze Poesie«, so Novalis, »beruht auf thätiger Ideenassociation - auf selbstthätiger, absichtlicher, idealischer Zufallsprodukfion« (N III, 451:953). In dieses »Spiel« freier Selbstbezüglichkeit mündet die Lesereise Heinrichs: »Ich weiß nur so viel, daß für mich die Fabel Gesamtwerkzeug meiner gegenwärtigen Welt ist«, erklärt er am Ende des zweiten Teils (N I, 331). Der 187
Auf die Sonderfunktion des androgynen Wesens Astralis und auf die besondere Stellung des Astralis-Gedichts an der Scharnierstelle der beiden Romanteile hat Sophia Victor hingewiesen: »Da im ersten Teil von >Astralis< die Genese des lyrischen Ichs in der Erinnerung an die Vermählung von Heinrich und Mathilde nachvollzogen wird und der zweite Teil die poetischen Voraussetzungen eines neuen Weltentwurfs thematisiert, handelt es sich bei diesem Gedicht in einem ausgezeichneten Sinne um >Poesie der PoesieOfterdingenOfterdingen< dadurch geäußert, daß die Frau eine Poesie verkörpert, die dem Mann (Heinrich) entzogen bleibt. Zugleich wird im >Ofterdingen< jedoch das Paradigma der androgynen Autorschaft in Gestalt einer männlich-weiblichen Wechselrede konkretisiert — ein Modell das, zunächst unabhängig von Novalis, auch in Brentanos >Godwi< entwickelt wird. Die Assoziation des Weiblichen mit dem Körper, mit Tod und mit dem subversiven Bildmedium führt dazu, daß die Frau im >Ofterdingen< nicht vollständig repräsentiert werden kann. Zu dem gleichen Ergebnis führte die Interpretation der androgyn schillernden Mignon-Figur in >Wilhelm Meisters LehrjahreOfterdingen< dagegen wird der weibliche Körper zu einem der Schrift entgegenstehenden Prinzip stilisiert. Der eingeäscherte Körper der Mutter beendet alle sprachlichen Signifikationsprozesse und initiiert einen oralen, nicht durch Schrift oder Klang vermittelten Diskurs. Die beiden eigentlich gegensätzlichen Konzepte der Körperschrift und der Entkörperung der Poesie werden sich bei Brentano im Fantasma einer sprechenden Wunde des weiblichen Körpers begegnen. Die Einschreibung von Ordnungsnormen, die den weiblichen Körper in seine Schranken verweist, wird im Konzept der sprechenden Wunde durch die imaginäre Rede des weiblichen Körpers jenseits der Beschränkungen der Alltagssprache durchkreuzt. Brentano schreibt damit die fantasmatische Vorstellung eines Sprechens mit männlich-weiblicher Zunge, wie sie im >Ofterdingen< begegnet, radikal und konsequent fort. Der weibliche Schoß bildet dabei einen unüberwindlichen Widerstand gegen die Vereinnahmung der Frau im Dienste der Poesie. Wegen dieser radikalen Ambivalenzen ist das Androgynenmodell von vornherein ungeeignet, die Krise der männlichen Autorschaft zu beheben. Wie die oralsadistischen Aspekte der weiblichen Poesie bei Novalis belegen, verbleibt diese im Imaginären, ist folglich ein Fantasma der symbolischen Ordnung. Zugleich wirkt sie jedoch als Störung dieser Ordnung, und zwar durch die Assoziation mit dem weiblichen Körper, der im >Ofterdingen< die Grenze des Sagbaren und die Annäherung an das Unsagbare markiert.
II. »und bin ich kein Dichter, wie wenige, so werde ich doch ein Objekt der Kunst sein, wie wenige«: Brentanos Autorschaftsfantasien
Ich habe wieder recht sehnlich gewünscht daß du tod sein mögest, und ich auch'
II. i Brentanos Texte als poetische Autobiographie Die Krise der männlichen Autorschaft tritt im Werk Brentanos mit besonderer Schärfe zutage, weil sie in hohem Maße seinem individuellen Lebensgefühl entspricht, wie es sich in nicht-fiktionalen Textzeugnissen äußert. Dadurch erhält das Gedankenspiel einer die Schranken des männlichen Autorsubjekts durchbrechenden androgynen Autorschaft für ihn eine besondere Attraktivität. Detlef Kremer bezeichnet Brentano als denjenigen »unter den Prosaautoren der Romantik, der seine eigene Psychohistorie am breitesten und am wenigsten verborgen in den Texten austrägt«.2 Während andere Autoren bemüht seien, eigene Lebensspuren im Text zu verwischen, habe Brentano »[in] seinen Prosatexten [...] gleichsam eine Dokumentation der eigenen psychogenen Krankheitsgeschichte hinterlassen, die sich [...] als eine inzestuöse Symptomatik präzisieren läßt«. Diese These läßt sich einerseits anhand der brieflichen Selbstzeugnisse Brentanos erhärten; andererseits jedoch muß notwendig fraglich bleiben, inwieweit die Briefe als authentische Selbstmitteilung angesehen werden können, da die Selbststilisierung im Verschriftlichungsprozeß von der eigentlichen Selbstmitteilung nicht klar geschieden werden kann. Es stellt sich also die Frage, inwiefern der autobiographische Hintergrund — der ja, wie die biographische Forschung gezeigt hat, in den fiktionalen Texten an vielen Stellen verarbeitet wird — für die Interpretation des Brentanoschen Prosawerks fruchtbar gemacht werden kann.3 Zur Klärung dieser Frage ist das Verhältnis von privatem Ich und öffentlicher AutorPersona in den Texten genauer zu bezeichnen. Dieses Verhältnis ist bei Brentano zweifellos besonders komplex und in der Forschung entsprechend 1 2 3
Clemens Brentano an Sophie Mereau, i8./2i. 8. 1799 (FBA 29, 178). Kremer, Prosa der Romantik, S. 136. Eine ausführliche Darstellung der autobiographischen Bezüge findet sich bei Schultz, Schwarzer Schmetterling. 89
umstritten. Grundsätzlich stehen sich in dieser Frage zwei Positionen gegenüber. Geht die eine davon aus, Leben und Schreiben seien bei Brentano durch eine »Daseinsnot« miteinander verwoben, so daß das Schreiben aus den Problemen des Lebens unmittelbar hervorgeht,4 so beharren die Vertreter der entgegengesetzten Position, allen voran Karl-Heinz Bohrer, auf dem rein ästhetischen Charakter aller Schriftzeugnisse Brentanos — ja auf der ästhetischen Vermitteltheit noch seines Selbstverhältnisses: Brentano wird analytisch nur faßbar im sprachlichen System selbst, nicht in Spekulationen über eine neurotische Biographie. [...] Die Todeserotik ist bei Brentano kein potentielles Selbstmordsyndrom, sondern das manchmal konventionelle, manchmal radikale Zeichen einer Phantasieautonomie, die nicht auf Identität im Sinne einer gefährdeten Dichterbiographie hin gelesen werden kann.5
In den letzten Jahren hat sich verstärkt die erste Position durchgesetzt, und dies in immer radikalerer Ausprägung. So heißt es etwa in einer neueren Arbeit: »Brentanos Texte sind nichts anderes als eine poetische Autobiographie, oder anders gesagt: eine Pathographie seiner Psyche im Gewand erlaubter poetischer Formen und > Verkleidungen^«6 Solche Pauschalurteile sind leider für beide Seiten der Debatte nicht untypisch. Eine differenzierte Bestimmung des Verhältnisses von privatem Ich und öffentlicher Autor-Persona bei Brentano steht hingegen bisher aus. Hierzu wird in den folgenden Einzelinterpretationen ein erster Beitrag geleistet. Dabei wird sich auch die Relevanz der brieflichen Quellen für die Interpretation der fiktionalen Texte erhärten.7
II.2 Selbstmitteilung und Selbststilisierung in den Briefen Brentanos gesamtes Werk ist als Kommunikation konzipiert, wie er selbst in seinen Briefen — etwa an Sophie Mereau — immer wieder betont: »wenn ich dir schreibe, so sehe ich, wie du jede Zeile mit deinen lieben Augen liest, ja ich sehe gar nicht, waß ich schreibe, ich sehe nur deine Augen« (FBA 32, 179). Damit entspricht Brentano genau dem romantischen Literaturbegriif, denn Schlegel und besonders Novalis konzipieren die romantische Literatur in ihren Fragmenten explizit als ein Gemeinschaftsprojekt 4 5 6 7
Brandstetter, Erotik und Religiosität, S. 20. Bohrer, Der romantische Brief, S. logf. Zwetz, Das Geheimnis der Schrift, S. 15. Zum Briefwerk vgl. auch Lermann, Clemens Brentanos Selbstverständnis als Briefschreiber; Dennerle, Kunst als Kommunikationsprozeß; Mittag, Clemens Brentano. 90
von dialogischer Natur.8 Neben der programmatischen Forderung nach einer dialogisch orientierten Literatur finden sich in der Romantik tatsächlich zahlreiche Fälle literarischer Kooperation, die von der gemeinschaftlichen Arbeit an Zeitschriften, Märchen- und Volksliedsammlungen bis hin zu tatsächlichen Koproduktionen wie z. B. Brentano und Görres' >BOGS der Uhrmacher< reichen. Auch die Emmerick-Schriften stellen ein solches romantisches Gemeinschaftsprojekt dar — allerdings ein verdecktes (s. Kap. VII.). Aus der kommunikativen Funktion erklärt sich der hohe Stellenwert, den Briefe für Brentano als Medium der poetologischen Reflexion haben. Die Briefe an seine wichtigsten Briefpartner, u.a. Arnim, Mereau, die Schwester Bettine, Savigny, Luise Hensel und Emilie Linder, bewegen sich stilistisch meist auf demselben ästhetischen Niveau wie die fiktionalen Prosatexte. Zwischen Briefen und Erzählwerk bestehen zudem zahlreiche intertextuelle Verflechtungen, die in den folgenden Einzelinterpretationen jeweils aufgezeigt werden. Auch hat Brentano seine Gedichte häufig in Briefe eingelagert und an seine Briefpartner gerichtet, so daß sie in eine kommunikative Situation eingebettet sind. Gegen die Veröffentlichung seiner Lyrik hat er sich dagegen Zeit seines Lebens gewehrt.9 Brentanos briefliche Kommunikationen sind im Kontext der Briefkultur des 18. Jahrhunderts zu betrachten. Der Brief bildet für die meisten seiner gebildeten Zeitgenossen das wichtigste Medium der kulturellen Kommunikation. Die Muster der Verwendungsweisen von Briefen haben sich im Laufe des 18. Jahrhunderts stark ausdifferenziert, und zwar sowohl was die möglichen Inhalte von Briefen angeht, als auch die Briefrezeption betreffend. Dabei stehen Inhalt und Rezeptionsweise in einem engen Abhängigkeitsverhältnis. Sind es vorrangig Briefe mit öffentlich geprägten Inhalten (politische, philosophische oder auch poetologische Reflexionen), die zu einer Erweiterung des Adressatenkreises führen können, so richten sich Briefe, die vorrangig die Darstellung des Ich als Individuum zum Inhalt haben, meist an einen intimen Briefpartner. Diese intime Briefkommunikation unterliegt im späten 18. Jahrhundert einer strikten Forderung nach >Authentizitätauthentischen< Briefkommunikation ja eine Funktion des (Brief-)Textes dar und benennt keineswegs den »tatsächliche[n] Verweis auf eine Realität 11 12
Bohrer, Der romantische Brief, S. 108. Ders., S. 13. 92
außerhalb des Briefs«: »Just diese Referenz ist fingiert.« 13 Die Briefe Brentanos stellen deshalb zwar einen Extremfall dar, lassen sich aber dennoch von den Normen der Zeit nicht vollkommen »kategorial absondern«.14
II.3 Das Programm der >poetischen Existens< Das Schreiben wird bei Brentano zur Beglaubigungsstrategie für das schreibende Ich und überlagert dabei andere Beglaubigungsstrategien von Subjektivität, vor allem religiöse, autobiographische und erotische. Nicht zufällig spielt die Schreibmetapher in diesen drei Bereichen eine zentrale Rolle. Mit dieser Form der Beglaubigung reagiert Brentano auf zwei Problemfelder, die beide mit seiner Identität als Dichter unmittelbar zusammenhängen. Zum einen ist es die Frage nach der sozialen Stellung und Funktion des Dichters, durch die er seine Position als Autor gefährdet sieht und die er in seinem Werk zu beantworten sucht. Brandstetter nennt eine Reihe von möglichen Auswegen aus dem Dilemma der öffentlichen Autorschaft: Anonymisierung; Pseudonymisierung; Autorisierung durch Frauen; den Einschub weiblicher Erzählerinnen, deren mündliche Erzählungen der männliche Dichter als »Schreiber« nur wiedergibt.15 Alle genannten Strategien gehören zum Komplex der androgynen Autorschaft. Wie Brandstetter zu Recht festgestellt hat, »spricht sich darin seine Abneigung gegen den Status des Künstlers in der Gesellschaft aus. Es ist die Abneigung, als Kunst produzierendes Subjekt in die Gesellschaft eingeordnet zu werden und bestimmten Erwartungen und Leistungsprinzipien unterworfen zu sein«.16 Zum anderen jedoch sind es innere Widersprüche, die textimmanente Funktion von Autorschaft betreffend, die sowohl Dichter als auch Werk radikal in Frage stellen. Letztere sind für den Autor Brentano sehr viel bedrängender, aber auch sehr viel schwerer aufzulösen, denn sie betreffen nicht nur ihn persönlich, sondern sind — wie in Kapitel I.i erläutert wurde — der Konzeption von Autorschaft um 1800 inhärent. Problematisch ist im Werk Brentanos vor allem das Verhältnis von entmaterialisiertem Autor-Ich im literarischen Text und von der mit sozialer Identität verknüpften Körperlichkeit des Ich. Häufig verdanken die Erzählungen ihre Gestalt und Einheit nicht dem auktorialen Ich, sondern dem Opfer des auktorialen Körpers. Das Motiv der Selbstauf13 14 15 16
Anton, Authentizität als Fiktion, S. 134. Bohrer, Der romantische Brief, S. 7. Vgl. Brandstetter, Erotik und Religiosität, S. 2iff. Dies., S. 30.
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Opferung macht einerseits auf die Beschädigung des Dichters durch die Entäußerung im literarischen Text aufmerksam; andererseits aber führt die Beschädigung des Dichter-Ichs wiederum zu einer Beschädigung der Texte, so daß der Fragmentcharakter bei Brentano erheblich anders akzentuiert wird als bei seinen Jenaer Zeitgenossen. Die zentrale Stellung des Autorschaftsmotivs im Werk Brentanos legt die Annahme nahe, daß das Schreiben für Brentano einen Selbstverständigungsprozeß darstellt. Verschiedene Identitätsmuster der Autorschaft werden fiktional durchgespielt, ebenso wie allgemeinere Fragen der Identitätsfindung. Immer wieder aktualisiert Brentano dabei ein Autorschaftsmodell, das sich auf Goethes >Tasso< zurückführen läßt. Dort wird die »unlösliche Verknüpfung von Leiden und dichterischer Rede« erstmals artikuliert.17 Wie Rolf Selbmann festgestellt hat, ist Tassos Erfahrung des pathologischen Untergrunds des Dichters auch als literaturgeschichtliches Konstituens in jede neue Definition eingegangen. Hinfort ist der Dichterberuf immer eine doppelbödige Sache. Einerseits sichert der hohe Anspruch einen neuen Grad personaler und dichterischer Autonomie, andererseits ist das >Scheitern< Folge eines konsequent betriebenen Dichterberufs und beileibe kein persönliches Versagen.18
In den Texten Brentanos spielen das Buch- und Schriftmotiv eine zentrale Rolle, geht es also ganz wesentlich um die Rolle und Funktion von Schriftlichkeit als der medialen Verfaßtheit der Texte selbst. Damit liegt eine Sonderform der von Friedrich Schlegel zum Postulat erhobenen Selbstreflexivität romantischer Texte vor, die sich so höchstens noch im Hardenbergschen >Ofterdingen< nachweisen läßt. Wie bei Brentano, steht auch im >Ofterdingen< die Identitätsfindung als Dichter in einer engen Wechselbeziehung zur Suche nach einer authentischen dichterischen Sprache und nach dem absoluten Buch, in dem sich das dichterische Ich durch die poetische Sprache verwirklicht. Das Ziel einer Identität von Ich und Buch, vermittelt durch die Poesie, kommt in Brentanos Konzept einer »poetischen Existens« zum Ausdruck (FBA 32, 49). Dem liegen poetologische Verschmelzungsfantasien zugrunde, die Brentano auf die prägnante Formel vom »Objeckt der Poesie« gebracht hat: »So ist mein Leben, so scheine ich ein Dichter geworden zu sein, und bin nur ein Objeckt der Poesie, da ich in der Zeit ewig lebe, und alles Endliche, statt es zu genießen, in unendliche Begierde in mir verwandelt habe« (FBA 29, 556). Dichter und Dichtung werden in eins 17 18
Selbmann, Dichterberuf, S. 62. Ders., S. 64f.
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gesetzt, wobei der Dichter von der Verantwortlichkeit gegenüber seinem Werk entlastet und zugleich von den sozialen Pflichten eines Autors (insbesondere der Veröffentlichung unter dem eigenen Namen) entbunden wird. Im Gegenzuge wird die Dichtung aus ihrer sprachlichen Beschränkung befreit und in einen unendlichen Prozeß verwandelt (»unendliche Begierde«). Nicht mehr der Dichter fungiert als Autor seines Werks, der Erzähler als Quelle der Erzählung, sondern Sprache und Dichtung verselbständigen sich zu einem Prozeß, in dem das sprechende Ich sich auflöst. Äußerungen diesen Inhalts finden sich in zahlreichen Briefen Brentanos aus allen Lebensphasen. So schreibt er noch Ende 1833 an Emilie Linder: »Mein Leben ist das wundervollste Gedicht, das je gedichtet worden« (BL 18). Die so entstehende Einheit von Leben und Dichtung bezeichnet Brentano als »poetische Existens«: »Es ist eine freie poetische Existens möglich, die fern von dem Abendtheuer ist, und fern, von dem Häuslichen Tod, ich kenne diese Existens, ich lebe sie, aber ich bin einsam« (FBA 32, 49). Ziel der »poetischen Existens« ist es, sich sowohl vom öffentlichen Leben (»Abendtheuer«) als auch von privaten Verpflichtungen, insbesondere von familiären Bindungen (»Häuslicher Tod«), fernzuhalten. In diesem Kontext sind auch Brentanos Bedenken gegenüber jeder Form von Öffentlichkeit, besonders aber gegenüber der Veröffentlichung seines Werks unter dem eigenen Namen, zu verstehen. An Johann Friedrich Böhmer schreibt er am 15. i. 1837: »ich habe eine krankhafte Angst vor aller Öffentlichkeit« (Seebaß II, 354); und in der sogenannten »Selbstdeutung« an eine Freundin Emilie Linders: »ich habe eine Scheu vor den Nahmen. Der Nähme ist die ganze Macht und Ohnmacht des Menschen. Es gab eine schmerzvolle Zeit in meinem Leben, wo mir das Herz zu brechen drohte, wenn man meinen Namen nannte« (BL 26). Damit liegt der Versuch vor, sich eine rollenlose Identität zu konstruieren, in der Leben und Poesie eins sind. Brentano versucht, dieses Ideal zu verwirklichen, indem er eine bürgerliche Laufbahn verweigert und allein für die Poesie lebt. Auch seine Beziehungen zu Frauen und Freunden unterliegen dem Schema der >poetischen ExistensFaust I< und folgert: »wenn wir uns haben, so laße ich einen schönen Becher machen, aus dem wollen wir immer trinken, und den Göthe Auslachen, daß wir ihm einen letzten Vers an sein Lied gemacht« (FBA 31, 204). Zudem verwischt Brentano ganz bewußt die Grenzen zwischen privater Selbstaussprache in Briefen und der Gestaltung poetischer Identitäten in den fiktionalen Texten, so daß die Trennung zwischen autobiographischen und fiktionalen Texten in der Analyse nicht immer durchzuhalten ist. Alle Schriftzeugnisse Brentanos können deshalb in gleichem Maße als Versuch einer authentischen Ich-Aussprache gelten. Diese Erkenntnis sollte jedoch nicht über den fiktiven Charakter auch der authentischen< Selbstaussprache hinwegtäuschen. Dies zeigt sich schon darin, daß Brentano immer nur bestimmte autobiographische Erlebnisse gestaltet, andere hingegen von dieser Konstruktion einer Dichter-Identität ausschließt so paßt etwa die Ehe mit Auguste Bußmann nicht in sein poetologisch begründetes Konzept der Geschlechterbeziehungen.
II-4 Identitätsmuster von Autorschaft im Werk Brentanos In seinen Prosatexten erprobt Brentano verschiedene Identitätsmuster von Autorschaft, denen gemeinsam ist, daß sie die Verantwortung gegenüber dem Werk wie gegenüber der Öffentlichkeit zu vermeiden suchen. Es handelt sich dabei ausnahmslos um Strategien, die dem Komplex der androgynen Autorschaft angehören. Diese Strategien und ihre poetologischen Implikationen diskutiert er immer wieder in seinen Briefen. Es sind dies: erstens die Selbstaufgabe des dichtenden Ich, wie sie im »Bekenntnisbrief« an Runge geschildert wird: Meine innere Welt war untergegangen, nur ihr Firmament stand noch über mir, meine Berge waren nicht mehr, aber der Schimmer ihrer Abendsonne schwamm noch in der Luft, mein Selbstgefühl glich der abgelößten Farbendecke eines im Wasser versunckenen Pastellgemähldes, welches noch kurze Zeit oben schwimmt [...]. (FBA 32, 201) 96
Wie an der Figur Marias im >Godwi< gezeigt werden kann, führt diese Konzeption von Autorschaft notwendig in Ichverlust und Tod. Zweitens besteht die Möglichkeit der Berufung auf das Weibliche, um die Verantwortlichkeit des Autors an eine höhere Instanz abzugeben. Dieser poetologische Kunstgriff ist bei Brentano gekoppelt an die Erwartung einer umfassenden Heilung des kranken Ich durch die geliebte Frau. Im Juni 1803 schreibt er an Sophie Mereau: »ich bin krank, und kein Mensch auf Erden kann helfen, als du, ach wenn du mich so recht lieben könntest« (FBA3I, 109). Ähnliche Äußerungen finden sich auch gegenüber Luise Hensel und Emilie Linder, wie denn überhaupt Brentanos Liebesaffären stets nach dem gleichen Muster verlaufen. Allerdings ergeben sich bei der Berufung auf das Weibliche Probleme für Brentanos Autorschaftskonzeption. In dem letztgenannten Zitat indiziert die Formulierung im Konditional (»wenn du mich so recht lieben könntest«), daß eine solche Liebe realiter nicht statthat. Die Geliebte soll nach dieser Konzeption die zerstückelte Existenz des Mannes heilen, indem sie einen Bereich der Ganzheit verkörpert, in welchem der Mann mit sich selbst identisch sein kann. Das aber kann sie insbesondere dann nicht mehr garantieren, wenn sie selbst im zerstückelnden Raum der Öffentlichkeit agiert, indem sie etwa ihren Namen zur Veröffentlichung hergibt. Brentano reagiert immer wieder äußerst empfindlich, wenn Sophie Mereau eigene Werke veröffentlicht, etwa als er erfährt, daß sie einen Almanach herausgegeben hat: »Es ist für ein Weib sehr gefährlich zu dichten, noch gefährlicher einen Musenallmanach herauszugeben« (FBA 31, 10). Auch gegenüber Luise Hensel äußert er solche Bedenken.20 Dabei fühlt sich Brentano jedoch, mit Ausnahme Auguste Bußmanns, ausschließlich zu Frauen hingezogen, die als Dichterinnen oder Malerinnen Personen des öffentlichen Lebens sind. Sobald sie mit ihm eine Beziehung eingehen, versucht er sie dann auf die Intimsphäre zu beschränken und verbietet ihnen unter anderem, auszugehen, zu publizieren, ja sogar sich zu schminken: an Sophie Mereau schreibt er, daß ich Sie liebe, wie sie sind, und Sie haße, wie sie sich hingestellt haben, das erkennen Sie nicht, weil Sie eine schlechte Künstlerinn sind, die über ein herrliches Werk hergefallen ist, über sich selbst. Sie sollten schön sein und wollten es werden, und haben sich honett gemacht, waß man so nennt [...]. (FBA 31, 20)
Während Brentano also einerseits darauf hofft, von den Frauen gedichtet zu werden, versucht er andererseits, seine Geliebten selbst zu dichten, inZur Beziehung Brentanos und Hensels vgl. insgesamt Hasenpflug, Clemens Brentanos Lyrik an Luise Hensel.
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dem er sie zu dem macht, was er als ihr wahres Wesen erkannt zu haben glaubt. Die zuvor romantisierte Geliebte soll dann wiederum den Dichter durch ihren Blick romantisieren: »fasse dich nur zusammen, und liebe mich ohne Zerstreuung, wende deine Augen nie von mir ab, und gewähre mir ein romantischeres Dasein« (FBA 31, 174). Brentano spricht der Geliebten das Verfügungsrecht über sich selber und den eigenen Körper ab und macht sie zum Objekt des Voyeurismus und der Fantasie. Dieser Projektionsvorgang ist ihm selbst durchaus bewußt; er grenzt deshalb in einem Brief an Remigius Sauerländer aus dem Jahr 1797 die Frauen- von der Männerliebe ab: »wenn ich verliebt bin daß heist in die ohne Hosen so liebe ich mich nur selbst liebe ich aber einen mit Hosen so liebe ich nur ihn« (FBA 29, 95). Daß die Kolonisierung des Weiblichen auf einer Perspektivierung durch Blicke beruht, schildert Brentano im Brief an Sophie Mereau vom i o. Januar 1803: Wenn ich Vertraulich stumm neben Ihnen auf dem Sopha saß, so ließ ich mein Äug über ihre Gestalt hinlaufen und suchte mir den Sehwinkel aus, der Ihnen am meisten schmeichelte, und ihre einzelnen Häßlichkeiten verbarg, denn Sie sollten ja das Schönste werden, das mir werden konnte, ich sollte Sie ewig lieben, weil Sie es nur von mir verdienten [...]. So sah ich Sie von dem Punkte an, von dem Sie meiner Liebe ein Ganzes, und ein Eigenthum der Phantasie wurden [...]. (FBA 31, 18)
Der gleiche Brief macht jedoch deutlich, daß Mereau sich dieser Okkupation widersetzt und sich keineswegs wie ein Objekt der Fantasie verhält: »Der Popel in ihnen fieng an, und können Sie sich eine gemeinere Bilderstürmerei denken, als in Jener Stunde, da Sie mich mit ihren schönen Füssen traten, da Sie mich von sich stießen« (FBA 31, 19). Wegen der autobiographischen wie konzeptionellen Schwierigkeiten mit der Beglaubigung durch geliebte Frauen bevorzugt Brentano in seinen Briefen an Arnim eine Autorschaftsfantasie, in der der geliebte Freund als Berufungsinstanz fungiert: »Wenn ich das Weßen deiner Poesie betrachte, und meine Empfindung für dich du Wesen aller Poesie, so ist es mir, als wärst du meine Geliebte [...] es ist mein wahrer heiliger Ernst, ich will dein schlichter Dichter werden« (FBA 31, 37). Die Bezeichnung Arnims als »Geliebte« verdeutlicht, wie zentral die Vorstellung eines Tauschs der Geschlechterrollen für Brentanos Autorschaftsfantasien ist. Dieser Gedanke kann noch radikalisiert werden in der Fantasie des Gedichtetwerdens durch die Frau (wie im >GodwiChronicapoetischen Existens< stellt Brentano in der autobiographisch markierten Figur Maria dar, dem fiktiven Autor des >GodwiGodwi
Godwi< greift Brentano ein Identitätsmuster von Autorschaft auf, das er in Tiecks Roman >William Lovell< vorgebildet finden konnte. Für dieses Autorschaftsmodell hat Wolfgang Rath den Begriff der »defizitäre[n] Selbstreferenz« geprägt.2 Im >LovellGodwi< — beschreibe Tieck das Problem der Ichidentität als eine Sprachproblematik: »Das Diagnostizierte versprachlicht sich, wird zum selbstbefreienden Spiel mit Sprache«, ja zum »entmoralisierte[n] Sprachprogramm«. Brentano radikalisiert die Tiecksche Diagnose. Selbstgefühl und Selbstmitteilung sind im >Godwi< identisch, weil die Protagonisten des Romans, Godwi und Maria, in der Romanwirklichkeit dessen Autoren sind. Die Diagnose der »defizitären Selbstreferenz« steht in Abhängigkeit von dem Anspruch, Autor eines literarischen Textes zu sein — ein Anspruch, an dem die Figuren scheitern. Dies wird im >Godwi< mit einer Medienkritik verbunden. Zu ihrer Selbstdarstellung sind die Romanfiguren als Autoren auf das Medium Text angewiesen. Text und Sprache werden jedoch als ungenügend für die Selbstdarstellung bewertet. Der Anspruch der Selbstmitteilung wird also durch die formalen Eigenschaften des Darstellungsmediums ständig subvertiert. Dadurch wird auch das Selbstgefühl der fiktiven Autoren untergraben. Problematisch ist zudem die Struktur des Selbstbewußtseins, wie Schlegel sie im Anschluß an Kant und Fichte entworfen hat. Die »wesenhafte Selbstentzogenheit« des Ich liegt für Schlegel strukturell auch der Form des Kunstwerks zugrunde: »Im Kunstwerk ist das Unendliche — analog wie im Selbstbewußtsein - als in die unendliche Fülle zerschlagen dargestellt.«7 Die »Rückkehr ins Unbestimmte«, welche nach Schlegel die Tendenz aller Kunstwerke bildet, stellt deshalb eine Lösungsmöglichkeit auch für die »Selbstentzogenheit« des Ich dar (die allerdings an das künstlerische Medium gebunden bleibt und nicht in die Lebenswirklichkeit übertragbar ist).8 }
Ders., S. 108. Ebd. 5 Ders., S. 109. 6 Ders., S. H4f. 7 Frank, Das Problem »Zeit«, S. gif, 8 FS XVIII, 4i7f.:n6i. 4
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Im Gegensatz zur Schlegelschen Konzeption fehlt die Vorstellung einer vorsprachlichen Existenz des Subjekts bei Brentano vollständig.9 Das Sprechen und Schreiben der Figuren ist insbesondere im >Godwi< als hochartifizielle Konstruktion ausgewiesen. Andererseits streben der junge Godwi und (im zweiten Band) der Erzähler Maria immer wieder nach Möglichkeiten einer authentischen Mitteilung. Solch ein unmittelbares Sprechen erweist sich im Roman jedoch als unmöglich. Die Figuren müssen erkennen, daß Sprache immer mittelbar ist und daß diese Medialität den unverfälschten Ausdruck des subjektiven Erlebens von vornherein subvertiert. Auch ihrer selbst sind die sprechenden Subjekte nur in der Sprache gegenwärtig. Die Sprachskepsis des Romans ist deshalb zugleich Symptom und Darstellungsmittel einer unauflösbaren Krise des Subjekts. Diese Krise wird durch die Form des Romans verdoppelt, welcher ebenfalls auf das Medium Sprache angewiesen ist. Die im Untertitel des >Godwi< zum Programm erhobene »Verwilderung« der Form stellt deshalb, anders als der Schlegelsche Begriff der »Verwirrung«, keine Lösung der beschriebenen Problematik dar. »Er ist der Spiegel der trübbarsten und beweglichsten Fluth, und nichts als ein Spiegel«, urteilt Molly Hodefield über den jungen Godwi (FBA 16, 98). Sie spricht ihm die Fähigkeit zur Selbstmitteilung ab, weil er über gar keine mitteilbare Subjektivität verfüge, und artikuliert damit ein in der Literatur um 1800 omnipräsentes Problem. Auf das »Zusammentreffen einer auffälligen Konjunktur der Spiegelmetapher mit der Einführung und Etablierung des Subjektivitätsbegriffs« zu dieser Zeit hat Konersmann aufmerksam gemacht: Um 1800 ist das Problem der Unverfugbarkeit des Subjekts weniger ein Thema von Bildungstheorie und Philosophie als Gegenstand der Literatur. Während die zeitgenössischen Subjekttheorien [...] sich mühen, ihren Gegenstand positiv greifbar zu machen, verzeichnet die Literatur - und namentlich die Literatur der Romantiker - die Läsionen des Subjekts.10
Diese Läsionen zeigen sich in der Persönlichkeit Godwis, den Molly Hodefield weniger als Subjekt, denn als ein Produkt äußerer Eindrücke beschreibt, zwischen denen er keine Beziehung herzustellen imstande sei: »Es ist schwer, diesen jungen Menschen ganz zu beurtheilen, denn sein ganzes Wesen wird durch Eindrücke beherrscht« (FBA 16, 98). Dem 9
10
Zur Struktur der defizitären Selbstreferenz bzw. des »defizitären Subjektbewußtseins« bei Brentano vgl. auch Jaeger, Theorie lyrischen Ausdrucks. Konersmann, Spiegel und Bild, S. 40/38. Eine Interpretation des >Godwi< als Beschreibung der psychischen Symptomatik der Generation um 1800 findet sich bei Eilert, Clemens Brentano: Godwi. 105
Selbst Godwis fehlt auch seiner eigenen Einschätzung nach jegliche Kontinuität; es wird allein durch den Wechsel der Umstände definiert, wie er in einem Brief an seinen Freund (und Halbbruder) Römer äußert: »Werden wir uns wieder kennen, Römer, da der Wechsel die Dinge nun ergriff, und in der Werkstätte des Lebens wir, andere Bilder, dastehen?« (129) Das Selbstgefühl des Briefeschreibers Godwi wechselt von Augenblick zu Augenblick. Diese Ich-Dissoziation äußert sich etwa in der Unterscheidung zwischen der »Wendeltreppe meiner Laune« (dem momentanen Erleben des Ich) und dem »wüsten todten Leben in meinem Kopfe« (dem Leben der Erinnerung). Godwi schreibt: ach! so dreht sich die Wendeltreppe meiner Laune aus dem traulichen Wollustdüstern Boudoir meines Herzens hinauf zu dem wüsten todten Leben in meinem Kopfe, dachte ich, und kaum hatte ich es gedacht, so entstand eine sonderbare Generation in mir. Ich sah mich im Durchschnitt wie den Riß eines Gebäudes [...]. (25f.)
Die Dissoziation von Leben und Erinnerung bildet aber nicht nur den Inhalt der Briefe Godwis, sondern auch deren formales Gestaltungsprinzip. Erfüllte Gegenwart und erzählte Vergangenheit stehen in ständigem Widerspruch zueinander, denn das Erzählen und Briefeschreiben hält Godwi vom eigentlichen Leben immer wieder ab. Wenn das schreibende Subjekt aber über keine kohärente Individualität verfügt, wird auch der von ihm verfaßte Text notwendig diskontinuierlich. Weil das Ich nichts als der Spiegel disparater äußerer Eindrücke ist, ist es nicht imstande, diesen eine einheitliche (Text-)Form zu geben, und die »Geschichte meines Lebens« kann höchstens die einzelner »Empfindungen« sein, wie Godwi selbst später bemerkt (463). Il Dies stellt auch der Adressat Römer fest: »Ich habe eine ganze Reihe von Briefen von dir, und wenn ich sie beantworten wollte, was könnte ich sagen? da keiner fest steht, da ein jeder getrieben wird« (218). Dieselbe Aporie beherrscht die Reflexionen des Erzählers und Autors Maria im zweiten Romanteil. Auch Maria beschreibt sich als Produkt äußerer Umstände, auch sein Schreiben entzieht sich der Kontrolle durch das Ich. Sein Romanprojekt bezeichnet er in der Vorrede des zweiten Teils als »unabsehbare[s] Meer«, das ihn wohl vernichten werde: Ich habe mich auf einem schwachen Boote auf das unabsehbare Meer gewagt, und treibe den Wellen überlassen hin. O ihr wenigen Herzen, die ihr liebevoll an mir hängt, ihr seht mich ohne Mast und Steuer auf gutes Glück hinaustrei11
Den Zusammenhang der »verwilderten« Form mit dem Lebensprogramm Godwis betont auch Schmidt, Die Geschichtlichkeit des frühromantischen Romans.
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ben, und ich werde euch nimmer danken können, schon regen sich die Lüfte von allen Seiten, die Wellen bewegen sich, und ich werde in meinem kleinen Kahne wohl zu Grunde gehen! (275)
Dem Autorschaftsmodell des >Godwi< liegt deutlich die aus Brentanos Briefen bekannte Vorstellung zugrunde, nicht Subjekt, sondern Objekt der Poesie zu sein. So fragt sich in der »Dedikazion« des zweiten Romanteils ein ungenanntes Ich: Erschafft mich die Welt, oder ich sie? - die Frage sey die älteste und verliere sich in die dunklen Zeiten meines Lebens, wo keine Liebe war, und die Kunst von dem Bedürfnisse hervorgerufen ward. - Du bist meine Welt, und du sollst mich erschaffen, o bewege dich, öffne mir die Augen [...]. (265)
Adressatin der »Dedikazion« ist nicht zufällig eine Frau.12 Weil die männlichen Autorfiguren einen kohärenten Text nicht begründen können, wird die legitimierende Funktion der literarischen Autorschaft aus dem Subjekt in eine höhere Instanz verlagert, für die das Weibliche einsteht. Diese Weiblichkeitskonstruktion soll nicht nur die Einheit des Textes garantieren, sondern zugleich die Ich-Dissoziation der (männlichen) Subjekte beheben. Der sterbende Maria bezeichnet sich selbst als weiblichen Traum und kehrt damit das Muster der literarischen Weiblichkeitskonstruktion um. Nicht das Weibliche ist das Ergebnis einer männlichen Konstruktion, sondern der männliche Sprecher stellt ein Fantasieprodukt der Frau dar: Sprecht! Wessen bin ich? Wer hat mich besessen? Ich lebte nie — war eines Weibes Träumen — Und nimmer starb ich, — Sie hat mein vergessen. (524)
In dieser Radikalisierung des Autor-Muse-Modells wird die Funktion des Autors auf ein reines Durchgangsmedium für die weibliche Stimme reduziert. Die Inanspruchnahme des Weiblichen verursacht jedoch eine androgyne Verwirrung der Geschlechteridentitäten. Der junge Godwi erscheint den Figuren im ersten Romanteil weiblich: »so ist mir immer, als müßte er ein Weib seyn«, schreibt Otilie an Joduno von Eichenwehen (50). Noch auffälliger sind die weiblichen Züge Marias. Der fiktive Autor des >Godwi< trägt nicht nur einen weiblichen Namen, er steht darüber hinaus in enger Verbindung mit der Sphäre des Weiblichen, der Poesie und des Todes.13 12 13
Gemeint ist wohl Bettine Brentano; vgl. den Kommentar in FBA 16, yoof. Der Vorname »Maria« ist zwar im katholischen Raum auch für männliche Kinder gebräuchlich, steht in diesem Falle jedoch nicht an erster (und erst recht nicht an einziger) Stelle. Vgl. Bach, Deutsche Namekunde, Bd. 1/2, S. 206. Der fiktive Autor Maria hat keinen weiteren Vornamen und trägt nicht einmal einen Familiennamen. Vgl. hierzu auch Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 193. 107
Diese Verbindung vollzieht Maria am Ende des Romans am eigenen Leibe: der Roman erhält seine Form und Einheit nicht durch das Ich des Autors, sondern durch das Opfer seines Körpers, der krank wird und stirbt. Der Romanschluß stellt die Kulmination eines durchgängigen Strukturprinzips dar, das der fiktive Autor Maria bereits in der Vorrede zum ersten Teil formuliert hatte, nämlich des Prinzips der Selbstaufopferung des Ich. Das Opfer des Autorsubjekts ist dieser Vorrede zufolge notwendig, um die Gültigkeit oder »Objektivität« des Textes zu begründen; der Tod Marias wäre damit konstitutiv für die Einheit des Romans. Diese Blätter gebe ich nicht wie ein Opfer hin, nein, sie sollen die Flamme nähren, in der ich ihr einst mein reines Opfer bringen will. Du wirst mir darum wohlwollen, lieber Leser, daß ich mich mit diesem Buche, das nur zu sehr mehr von mir als sich selbst durchdrungen ist, gleichsam selbst vernichte um schneller zur Macht der Objektivität zu gelangen [...]. (14)
Noch seinen Tod wertet Maria jedoch als Ausdruck sprachlichen Ungenügens (52 if.). Seine Selbsteinschätzung wird durch die Benennung der Krankheiten nahegelegt, an denen er stirbt: eine »Zungenentzündung«, die zur »Herzentzündung« wurde. Diese Bezeichnungen legen eine metaphorische Lesart nahe: Maria scheitert nicht nur an den Ansprüchen, denen er sich als Autor eines romantischen Romans ausgesetzt sieht (»Zungenentzündung«), sondern auch an einer Subjektivitätskonstruktion, die im Leben des Einzelnen nicht einholbar ist (»Herzentzündung«). 14 Die medientheoretische Frage nach der Möglichkeit einer Versprachlichung der subjektiven Erfahrung steht im Mittelpunkt der poetologischen Reflexionen der schreibenden Subjekte Godwi und Maria. Dabei geht es nicht um die Schwierigkeit der Mitteilung einer vorgängigen Erfahrung, sondern Subjektivität soll durch das Erzählen überhaupt erst hergestellt werden. Die im >Godwi< wiederholt begegnende Metapher des »Spiegels« oder »Perspectivs« drückt aus, daß im Subjekt gar nichts vorhanden ist, was als inneres Erleben mitteilbar wäre. Die Subjektivität der schreibenden Figuren Godwi und Maria wird so bereits auf der Ebene der Romanwirklichkeit als poetische Fiktion demaskiert. Deshalb kann die Romanwirklichkeit von der formalen Konstruktion des Textes nicht mehr klar unterschieden werden. Die »ästhetische Subjektivität« der Autoren Godwi und Maria, so läßt sich im Anschluß an Bohrer folgern, besteht nur im Akt ihrer Findung 14
Die von Arendt vorgeschlagene Deutung, derzufolge Maria an »Zungenkrebs« stirbt, also HI. einer Krankheit im medizinischen Sinne, ist nicht haltbar; vgl. Arendt, Der >poetische Nihilismuss S. 390. Arendt übersieht, daß Marias »Zungenentzündung« sich zu einer »Herzentzündung« ausweitet. Der Begriff »Krebs« taucht im Roman nicht auf.
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und Erfindung. Die ästhetischen Subjekte erschreiben sich nur, um sich sogleich wieder schreibend zu vernichten. An »Selbsterhaltung« sind sie nicht interessiert; statt dessen zielt ihre Selbsterfahrung auf den Momentanismus einer nicht übertragbaren Erfahrung von »Jetzt«.15 Sowohl Godwi als auch Maria versuchen, die Erfahrung der Ich-Dissoziation durch ein »Transzendieren des isolierten Selbst in die transsubjektive Sphäre der Natur (Tod, Liebe)« aufzuheben.10 So schreibt Godwi an Römer: Ist der Tod nicht eine Genesung, und Liebe nicht der Tod? Es giebt eine allgemein treffende Antwort, eine milde wahre Auflösung aller Räthsel der Kunst, in der reinen Natur, und die Natur hat sie in die Liebe des reinsten Weibes gelegt. - Wenn mich Tilie liebt, so habe ich keinen Wunsch, kein Begehren, keine Geschichte mehr, ich bin aus dem Leben in die Natur getreten, und, guter Römer! knie dann neben mein Andenken hin, stille deine Thränen, und sprich die wahren, heiligen Worte: Er ruht sanft, ihm ist es besser als uns, wir müssen alle diesen Weg, wohl uns! wohl dir! (135)
Während Selbsterhaltung »das Funktionieren konventioneller Sprache und ihres sozialen und kognitiven Bedeutungsanspruchs« voraussetzt,17 zielt die semantische Findung und Erfindung des Ich im >Godwi< von vornherein auf ein Transzendieren von Text und Sprache. Die Unmöglichkeit, ein Ich zu sein, realisiert sich im >Godwi< in Gestalt eines spielerischen Durchbrechens der fiktionalen Vermittlungsebenen. Damit erweist sich die Subjektproblematik der Einzelfiguren als Teil eines formalen Programms, welches das Konstruktionsprinzip des ganzen Romans bildet. III. 1.2 Das Experiment der Briefform Dem Briefeschreiber Godwi im ersten Romanteil fehlt jede vorgängige Gewißheit seines Selbst; sein Ichempfinden beschränkt sich auf den einzelnen Moment. Die Briefe Godwis vom Reinhardstein, die an acht aufeinanderfolgenden Tagen verfaßt werden, sind im wesentlichen der Beschreibung eines einzigen Tages gewidmet. Das Aufschreiben dauert dabei nicht nur länger als der erlebte Moment, es erscheint auch als qualitativ ungenügend. Das Leben auf dem Reinhardstein wird in Godwis Darstellung zu einem Paradigma »erfüllter Gegenwart« stilisiert;18 es ist zeitlos, läßt mit15 16
17 18
Bohrer, Der romantische Brief, S. 12. Ebd. Ders., S. 17. Der Begriff der »erfüllten Gegenwart« ist in Bezug auf die Konstruktion des Reinhardsteins von Marianne Schuller eingeführt worden (Romanschlüsse in der Romantik, S. I24f). 109
hin keine persönliche Entwicklung zu und wird von Godwi als Auflösung des isolierten Ich in die Natur erlebt: Alle meine Pläne, alle meine Hoffnungen sind freiwillig losgetrennt von mir, ich sah sie ruhig, mit wehmütigem Entzücken leise über mir hinwegschweben, wie mächtige, leichte Luftbälle, als habe sie die in uns so traurig gefangene Allgemeinheit des Lebens, als ein Bild ihrer schönen verlornen Freiheit erschaffen, das sich ungetreu von dem Künstler losreißt, um sein Urbild zu suchen, als habe die sehnende Einsamkeit meiner Seele einen herrlichen Boten ihres Verlangens in den unentdeckten Himmel gesandt. (130)
Godwi fühlt sich von seinen »Plänen« und »Hoffnungen«, von jedem subjektiven Fortschritts- und Entwicklungsmoment befreit und in die »Allgemeinheit des Lebens« aufgehoben. Es ist jedoch bemerkenswert, daß diese Empfindung durch den Darstellungsmodus des »als-ob« irrealisiert und somit in der Darstellung wieder zurückgenommen wird. Diese Darstellungsweise, die Realisierung und Irrealisierung der dargestellten Empfindung vereint, begegnet im >Godwi< wiederholt und ist insbesondere für die Kunstbeschreibungen des zweiten Teils konstitutiv. In den Briefen Godwis an Römer tritt sie dagegen nur vereinzelt auf; die Empfindung eines Transzendierens der begrenzten Subjektivität wird in den meisten Fällen im Indikativ realisiert, so weiter unten im selben Brief: »Alles ist mir entschwunden, dem ich sonst ein Spiel war« (130). Auch an dieser Stelle läßt sich allerdings nachweisen, daß die von Godwi behauptete Selbstauflösung nicht wirklich statthaben kann. Denn während der Briefeschreiber vorgeblich »in einer elastischen Ruhe des Genießens« am Busen der Natur liegt, beschreibt er in Wahrheit nur die »ungestalten, farbenlosen Massen« seines vorigen Lebens: »Ich stehe an meinem vorigen Leben wie an einem Hügel unordentlich gesammelter Steine, die eher zur Ruine wurden, als zum Gebäude«. Es ist unmöglich, das Erlebnis des erfüllten Augenblicks zu beschreiben, weil in der Ichauflösung Sprache und Schrift notwendig verstummen müssen. Die zeitliche Dimension der Sprache und des Aufschreibens in Briefen stehen der ästhetischen Realisierung des erfüllten Moments entgegen: »es regt sich alles in mir nach Mittheilung, und doch ist mir die mittelbare des Schreibens etwas unangenehm« (80). Andererseits läßt sich aus den Erlebnissen erfüllter Gegenwart gar keine Geschichte herstellen: »Wer in der reinen Natur und unter den Menschen Gottes lebt, o! der ist so von der unendlichen Kraft durchdrungen, daß er keine Augen für die Handlung hat« (163). Statt der eigenen Geschichte rückt in Godwis Briefen die Darstellung der zeitlosen Natur des Reinhardsteins in den Mittelpunkt. Diese Zeitlosigkeit ist das Ergebnis einer bewußten Konno
struktion, denn die vorgebliche >Natur< des Reinhardsteins ist in Wahrheit von Werdo Senne geplant und künstlich angelegt worden. Ziel dieser Anlage ist der Ausschluß der zeitlichen Dimension, wie Werdo Senne erläutert: Es war kein Bleiben sonst auf Erden, darum habe ich am Felsen dort den Quell zum Teich gehemmt, der immer mich auf seinen wilden Wellen in ferne Zeit mit Sehnsucht hingezogen. Itzt steht er still, kein Schwinden und kein Kommen, und jede Welle, die sich regt, umarmt die andre, die ihr froh entgegen wallt. Und mir ward wohl! (i42f.)
Auch Werdos Gedichte sind Ausdruck einer »Zeit- und Weltlosigkeit«.19 Ihre lyrische Form erscheint dem jungen Godwi als wahre, natürliche Sprache, die ohne Übergang stets in sich selbst kreist: »Alles das hatte sich verschlungen und durchdrungen, ohne daß ich irgendeinen Uebergang sah«, so bemerkt er über ein Gedicht Werdos (141). Diese in sich kreisende Bewegung, die zwischen Ursprung und Vollendung nicht unterscheidet, bildet ein zentrales Motiv in poetologischen Äußerungen Brentanos aus allen Schaffensphasen. Das Erlebnis einer Entkleidung von der zeitlichen Dimension empfindet Godwi als Befreiung von dem Zwang, durch Erinnerung eine Geschichte zur Beglaubigung personaler Identität herstellen zu müssen. Er weiß jedoch, daß alle Reflexion mir Mühe kostet, und wäre ich nicht so ungeschickt, und so verschroben, daß in jeder Minute des Alleinseyns mir alles Genossene als Bedürfniß erscheint, weil ich noch nicht in mir selbst fortdauernd empfinde, daß diese Welt ewig in mir entzündet, so könnte ich dir nichts schreiben, als abgebrochene Sätze und Ausrufungen, wie der, der in dem tiefsten Schooße der Wollust versunken, sich selbst mit aller Aeußerung in ihm auflöst, und keine Beschreibung, als in der Anschauung des Genusses selbst geben kann [...]. (163)
Dennoch versucht Godwi in seinen Briefen das Unmögliche, den Genuß zu versprachlichen. Das ist aber nur deshalb möglich, weil er sich zum Zeitpunkt des Aufschreibens bereits wieder jenseits des erfüllten Moments befindet. In seinen späteren Briefen an Römer kontrastieren deshalb die mit »Fortsetzung meines Tagebuchs« betitelten Passagen (die ausnahmslos der Beschreibung eines einzigen, erfüllten Tages gewidmet sind) mit den rahmenden Teilen, in denen Godwi seinen jetzigen Zustand schildert. Erzählendes und erlebendes Ich treten dabei auseinander. Damit wird das Dargestellte - die erfüllte Gegenwart - in Frage gestellt und zurück19
Schuller, Romanschlüsse in der Romantik, S. 125. III
genommen. Wie die Darstellungsweise im Modus des >als-obpoetischen Existenserfüllte Gegenwart< mitzuteilen; noch weniger, das unmittelbare Gefühl allererst herzustellen. Während das Naturidyll des Reinhardsteins erst im Nachhinein als ästhetische Fälschung erkennbar wird, findet die Handlung des zweiten Teils in einer expliziten Kunstwelt statt. Die Umgebung von Godwis Gut ist »das Bild einer Anstalt, die ins Stecken kam, alles verlangt nach einem Ende, und man könnte sagen, es gleiche einer interessanten Erzählung, die 30
21
Ähnlich argumentiert Anton: »>Authentizität< ist ein Kriterium für die Poetizität des Briefs. Je authentischer, je glaubhafter uns ein Brief erscheint, desto besser ist sein fingiertes Referenzsystem gebaut [...], oder anders gesagt: desto größer ist seine Fiktionalität« (Authentizität als Fiktion, S. 134). Schuller, Romanschlüsse in der Romantik, S. 116. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt bereits Böckmann, Die romantische Poesie Clemens Brentanos, S. 137. 113
mitten durch ein Fragezeichen unterbrochen ist« (343). Die im Briefroman noch aufrechterhaltene Illusion, in der Liebes- und Naturidylle sei eine volle Selbstverwirklichung möglich, wird damit obsolet. Der zweite Romanteil läßt die intertextuelle >LovellGodwi< der Forderung Friedrich Schlegels gerecht wird, die Poesie solle »in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein« (FS II, 114
204:238). Selbstbezüglichkeit findet sich im >Godwi< sowohl auf der Ebene des Erzählten, als auch auf der Ebene des Erzählens, d. h. als Element der Erzählerrede.22 Dabei erscheint die Selbstreflexivität auf der Ebene des Erzählens als Ergebnis einer bewußten Inszenierung durch die schreibenden und erzählenden Subjekte. Dies zeigt sich insbesondere am Ende des zweiten Romanteiles, wenn Godwi und Maria über das von Maria vorgenommene Arrangement der Briefe im ersten Teil diskutieren und die Weiterführung des Romans planen. In ihrem Ergebnis wirkt die Textgestalt auf das Selbstgefühl der fiktiven Autoren zurück. Diesen wird das Aufschreiben des Romans immer mehr zur Last. Maria bittet Godwi deswegen, seine Erzählung möglichst zügig zu beenden: »fahren Sie fort, jedes Wort der Geschichte langweilt mich so, daß es mir wirklich mehr Strafe ist, sie anzuhören, als alle möglichen Vorwürfe« (FBA 16, 477). Doch das Erzählen erweist sich zunehmend als unabschließbar: Maria stirbt, ohne die Geschichte Godwis vollständig erzählen zu können. Kurz vor seinem Tode bemerkt er: Es ist mir traurig zu Muthe, ich muß die Begebenheiten der überfließenden Gesundheit in Mensch und Natur beschreiben, und mir löst sich dieser Gegensatz immer mehr; ich schreibe mechanisch nieder, um meine Begräbnißkosten herauszubringen. (495)
Während im ersten Teil des >Godwi< die Frage nach der Möglichkeit einer brieflichen Selbstmitteilung im Vordergrund steht, handelt der zweite Romanteil von der Schwierigkeit einer biographischen Mitteilung. Beide Romanteile verbindet das Problem, daß Schreiben und Leben nie zueinander kommen können. Die Technik der Durchbrechung von Vermittlungsebenen stellt ein zentrales Konstruktionsprinzip des >Godwi< dar. Insbesondere der zweite Teil des Romans entfaltet ein Spiel von Vermittlungen, in dem das Erzählen immer schon als ein vermitteltes und perspektivisches erscheint.23 Dabei lassen sich zwar die einzelnen Vermittlungsinstanzen feststellen, ohne daß das Spiel der Vermittlungen jedoch auf eine letztgültige, die Fabel des 22
23
Zur Unterscheidung dieser beiden Formen von Selbstbezüglichkeit s.u. Vgl. auch Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens, S. 58ff. Bereits Böckmann hat den Perspektivismus als Konstruktionsprinzip des Godwi erkannt: »Die künstlerischen Vermittlungen [...] werden fühlbar gemacht, so daß die Frage nach dem eigentlich Wirklichen in den Mittelpunkt rückt« (Die romantische Poesie Clemens Brentanos, S. 134). Vgl. auch Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 107, und Meixner, Denkstein und Bildersaal, S. 440. Zur Analyse der Erzählstruktur vgl. Krajenbrink, »Denn das Wort hat Farbe und Ton«, S. 107. Die »verwilderte« Textur des >Godwi< und deren Zusammenhang mit Phänomenen der Autorschaft stellt auch Nicola Kaminski in den Mittelpunkt ihrer Analyse; vgl. Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 175 — 235.
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Romans beglaubigende Autorfunktion zurückgeführt werden könnte. Dies wird am Übergang vom ersten zum zweiten Romanteil deutlich. Die »vermeintliche Authentizität des Briefromans« wird in der Vorrede des zweiten Teils zurückgenommen:24 der fiktive Autor und Ich-Erzähler Maria gibt sich selbst als Teil der Romanwirklichkeit zu erkennen und gesteht, den ihm anvertrauten Briefwechsel »mit dem meinigen vermischt« zu haben (273). Es stellt sich damit nachträglich heraus, daß die Briefe innerhalb der Romanwirklichkeit ein literarisches Werk darstellen, daß hier also bereits ein »Roman Godwi« vorliegt (59). Das Ich des Briefeschreibers Godwi wird nun als poetische Fiktion Marias lesbar. Mit dieser Perspektivverlagerung wird zudem die Geschichte Godwis, die im Briefwechsel des ersten Teils als eine von vielen Geschichten erschienen war, nachträglich aus diesen herausgehoben und zum eigentlichen Gegenstand des Romans erklärt. Das ästhetische Spiel von Selbstschöpfung und -Vernichtung, das für die Briefe Godwis charakteristisch ist, läßt sich also auch auf der Ebene der erzähltechnischen Strukturen nachweisen. Während der Bruch zwischen erstem und zweitem Romanteil in der Romanwirklichkeit logisch erklärbar ist, stellt Römers Hinweis auf einen »Roman Godwi« in seinem zweiten Brief einen eindeutigen Fiktionsbruch dar.25 Das Spiel mit Autorschaft und Autornamen bezeugt, daß nicht nur die Identität der Figuren, sondern auch die des Romans selbst gefährdet ist. Dessen Einheit und Wahrheitsgehalt können nur durch die Einheit des schreibenden Subjekts garantiert werden, für welche die Identität des Autornamens einzustehen hat. Die Beglaubigung durch den Autornamen wird im >Godwi< jedoch ständig unterwandert. Zwar nennen beide Bände des Romans auf der Titelseite den Autornamen »Maria«; auch die Vorrede des ersten Bandes ist mit diesem Namen unterzeichnet. In der Vorrede zum zweiten Teil meldet sich ein Ich-Erzähler »Maria« zu Wort, der von sich behauptet, der Herausgeber und Bearbeiter der Briefe des ersten Teils zu sein: »Ich habe leider diese Briefe mit dem meinigen vermischt« (273). Jedoch bleibt fraglich, inwiefern beide Maria identisch miteinander sind. Auch der Autor Brentano nennt sich mit zweitem Vornamen Maria und verwendet diesen weiblichen Namen wiederholt im Sinne eines Hagionyms. 26 24 25
26
Reifenberg, Von der Zungenentzündung zur Herzentzündung, S. 119. Es handelt sich dabei um eine narrative Metalepse. Dieses Verfahren »verbindet auf einer gemeinsamen Ebene, was logisch nicht zusammengehört, nämlich die Ebene des Erzählens und die des Erzählten. Dementsprechend verletzt [es] notwendig die Fiktion einer faktualen Erzählung und ist ein offensichtliches Fiktionssignal«. Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens, S. 68. Zu Brentanos Selbststilisierung als »poeta marianus« und seinem »poetologisch ausge-
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Die Widmung des ersten und die Dedikazion des zweiten Teils lassen sich weder dem Autor »Maria« noch dem Ich-Erzähler des zweiten Teils zuordnen; sie müssen einer dritten Autorinstanz zugeschrieben werden, nämlich dem impliziten Autor »Brentano«. Eine solche dritte Instanz müssen wir schon deshalb voraussetzen, weil der Erzähler Maria im zweiten Teil des Romans stirbt, wobei fraglich bleibt, welche Konsequenzen sein Tod für den Autor »Maria« hat. Noch verwirrender werden die Verhältnisse, wenn der Leser im 19. Kapitel erfährt, daß auch die Mutter des Protagonisten Godwi auf den Namen »Maria« bzw. »Marie« hört. Der Roman endet mit einer »Fragmentarische[n] Fortsetzung dieses Romans während der letzten Krankheit des Verfassers, theils von ihm selbst, theils von seinem Freunde« (485). Nach dem Tode des Ich-Erzählers Maria tritt die Romanfigur Godwi ins Mittel und schreibt den Roman nun selbst als Ich-Erzähler zu Ende. Doch auch mit der Einschaltung dieser neuen Autorinstanz ist das Verwirrspiel noch nicht vorbei. Dem zweiten Romanteil beigefügt sind »Einige Nachrichten von den Lebensumständen des verstorbenen Maria. Mitgetheilt von einem Zurückgebliebenen« (561), in denen der Name »Clemens Brentano« als der eines Bekannten des verstorbenen Maria genannt wird. Das ist um so überraschender, als die dabei angedeuteten Umstände von Marias Tod nicht mit der Fabel des zweiten Romanteils in Einklang zu bringen sind. Die Tatsache, daß die »Nachrichten« gar nicht aus der Feder Brentanos stammen, sondern von dessen Freund Winkelmann verfaßt und von Brentano in den Roman einmontiert wurden, trägt ebenfalls zur Verschleierung der Autorfunktion bei.27 Das Vorgehen der ständigen Durchbrechung und Infragestellung der Vermittlungsinstanzen ist programmatisch. Die Verwirrung und Verschleierung der auktorialen Instanz ist Teil des im Titel erhobenen Anspruches der »Verwilderung«, welcher die von Friedrich Schlegel zum Programm erhobene »Verwirrung« der Form noch übersteigert. Die ständige Durchbrechung und Verwischung aller Grenzen dient dem Aufweis, daß authentisches Sprechen und authentische Subjektivität nichts als Fiktionen richtete[n] Marien-Kult« vgl. Brandstetter, Erotik und Religiosität, S. 20ff. Schultz weist darauf hin, daß Brentano sich den Vornamen Maria selbst zugelegt hat, denn der Name taucht nicht im Taufregister auf; vgl. Schultz, Schwarzer Schmetterling, S. 17. Teil dieser Stilisierung ist auch die Verlegung des Geburtsdatums: statt des 9. Septembers, der im Kirchenbuch als Geburtstag eingetragen ist, feierte Brentano stets den 8. September, also den Tag »Maria Geburt« (vgl. ebd.). Krajenbrink nimmt irrtümlich an, die »Nachrichten« stammten aus der Feder Klingemanns (»Denn das Wort hat Farbe und Ton«, S. 109). Vgl. dagegen den Kommentar in FBA 16, jSoff. Zur Verwirrung des Autornamens vgl. auch Kaminski, Kreuz-Gänge, S. 19 iff.
sind, weil die Zurückführung auf eine legitimierende Autorinstanz sich als illusionär erweist. Dies belegt auch das Spiel mit dem Autornamen in seiner »eigentümliche[n] Vermischung von Geschlechtsrollenverwandlung, Poetisierung des bürgerlichen Namens und Sakralisierung des dichtenden Ego«.28 Das durch den Autornamen repräsentierte Legitimationsprinzip wird ersetzt durch das Programm des »Perspective« (314): die Perspektivierung des Erzählens vereitelt alle Versuche der Rückbindung an legitimierende Instanzen. Nicht nur die Autorfiguren fungieren dabei als >PerspectivePerspectivs< Den Bildbetrachtungen im zweiten Teil des >Godwi< liegt die Vorstellung vom Rezipienten als >Perspectiv< zugrunde, welche die Romanfiguren im achten Kapitel dialogisch entwickeln. Das Konzept des >Perspectivs< stellt zudem eine wesentliche Voraussetzung für den Autorschaftsentwurf Marias 28 29
Brandstetter, »Eines Weibes Träumen ...«, S. 27. Spinnler, Clemens Brentano oder die Schwierigkeit, naiv zu sein, S. 32.
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dar. Im sogenannten > Romantikgespräch < des achten Kapitels diskutieren Godwi und Maria eine Art Rezeptionsästhetik. Trotz der Mißverständnisse des Dichters Haber wird deutlich, daß die Gesprächspartner nicht über eine traditionell verstandene Autorschaft als Form künstlerischer Produktivität sprechen, sondern eine Kunstschöpfung im Akt der Rezeption meinen. Auslöser ihres Gesprächs sind die Beobachtungen, die Maria als Zuschauer einer theatralischen Darbietung auf dem Gut Godwis gemacht hat. Marias Eindruck beruht auf einem optischen Trick, nämlich der künstlichen Lenkung des Lichtes im hinteren Teil des Jägerhauses. Die direkte Beleuchtung dieses Raumes erfolgt allein durch »einige[] grüne[] Scheiben« an der Decke (305); was dem Betrachter Maria zunächst als Fenster erscheint, durch welches ein Wasserfall sichtbar ist, entpuppt sich im folgenden als Spiegel, der den Ausblick eines über der Tür gelegenen Fensters reflektiert. Diese optische Konstruktion nutzen die Bewohner von Godwis Gut zu kleineren Theateraufführungen. Während die eigentliche Aufführung am Wasserfall stattfindet, nehmen die Zuschauer sie reflektiert durch den Spiegel im Jägerhaus wahr. In dieser »seltsam unangemessene[n], verzerrende[n] Vermittlung« wird das theatralische Spiel gleich mehrfach gebrochen:30 es wird aus der (selbst schon künstlich eingerichteten) Natur des Parks in einen Innenraum transportiert, im Spiegelbild, also verkehrt herum, reflektiert, und durch die grünen Scheiben in ein künstliches Licht getaucht. An die Stelle des »Naturschauspiels« tritt ein »künstliche[r] Zauber«.31 Indem die Verzerrung des Naturschauspiels die wahrgenommene Aufführung erst konstituiert, gibt sie sich zugleich jedoch als anamorphische Entzerrung des Wahrgenommenen zu erkennen.32 30 31
32
Neureuter, Das Spiegelmotiv bei Clemens Brentano, S. 163. Ebd. Zur Wahrnehmungs-Skepsis der Romantiker vgl. Kuzniar: »the romantics do not so much glorify interiority as they register unease at the implications of an individualized, even private vision that is susceptible to distortion, anamorphosis, and hallucination« (The Crystal Revenge, S. 216). Jonathan Crary hat darauf hingewiesen, daß die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts den Beginn einer »autonomous vision, of an optical experience that was produced by and within the subject« sahen, aber auch »the introduction of temporality as an inescapable component of observation« (Techniques of the Observer, S. 98). Allgemein zur zentralen Funktion des Sehens für die Herausbildung moderner Subjektivität vgl. Eoucault, Überwachen und Strafen. Zur Rolle der Anamorphose in der Romantik vgl. Neumann, Narration und Bildlichkeit. Neumann macht darauf aufmerksam, »daß dem Einsatz der Anamorphose in der Wahrnehmungsgeschichte [...] drei verschiedene technische Möglichkeiten zur Verfügung stehen«: zum einen ein Verfahren, »bei dem das Bildsystem selbst als Dispositiv der Perspektivierung einen Standortwechsel des Betrachters erzwingt [...]. Das zweite Verfahren [...] besteht darin, den entstellt gemalten Gegenstand des Bildes durch einen Spiegel [...] sichtbar zu machen, und zwar ganz im Sinne einer >Entststreckung< des zuvor malerisch >VerstrecktenPerspectivperspectivisch< beleuchtet und verfremdet, so wird dieser Vorgang bei der Rezeption noch einmal potenziert, indem er zum subjektiven »Eindruck« des Betrachters wird. >Perspectiv< ist nun nicht mehr allein das Licht, sondern der Betrachter selbst wird zum Medium der Kunstrezeption, mithin zu einem »Romantischen« nach der Definition Marias: »Alles, was zwischen unserem Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem Seinigen mitgiebt, ist romantisch«. Da das Romantische »seinen Gegenstand nicht allein bezeichnet, sondern seiner Bezeichnung selbst noch ein Colorit giebt« (316), entsteht das Kunstwerk in seiner eigentlichen Gestalt erst durch die subjektive Färbung der Kunstrezeption. Damit Godwi als >Perspectiv< funktioniert, muß er nun den empfangenen Eindruck, bereichert durch seinen subjektiven »Klang«, objektivieren, indem er seine Rezeption versprachlicht. Die subjektive Rezeption bedarf der »Übersetzung« in eine sprachliche Form, um mitteilbar zu werden. Erst durch diese Übersetzung wird der vom Rezipienten empfangene Eindruck mit seinem eigenen »Klang« gestempelt. Das Romantische ist deshalb, wie Maria am Ende des achten Kapitels formuliert, »selbst eine Uebersetzung« (319). Zwei Momente sind entscheidend für die Charakteristik des Romantischen: Bewegung und Reflexion. Das >Perspectiv< ist Medium einer BeweDer Mechanismus des Perspectivs im >Godwi< entspricht zunächst der zweiten genannten Möglichkeit, hat aber im Konzept des Betrachters als Perspectiv auch Aspekte der dritten Lösung.
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gung, die sowohl das betrachtete Kunstwerk als auch den Betrachter selbst erfaßt.33 Deshalb bildet das Licht der auf- oder untergehenden Sonne im Roman ein bevorzugtes >Perspective Indem der Betrachter selbst von der Bewegung des Lichtes erfaßt wird, gerät auch seine Subjektivität in Bewegung und droht sich dabei aufzulösen. Diese Bewegung des Betrachters, die auf eine Ichauflösung zusteuert, versprachlicht Maria in seinen Bildbeschreibungen. Dabei wird das betrachtete Kunstwerk zunächst durch das bewegte Licht reflektiert, erfährt eine weitere Reflexion durch die subjektive Rezeption des Betrachters und wird zuletzt durch dessen Versprachlichungsversuche ein drittes Mal reflektiert, ohne daß sich diese drei Vorgänge in der vollendeten Textgestalt klar unterscheiden ließen. Dieser Reflexionsprozeß, der alle Bildbetrachtungen Marias strukturiert, wird im direkt an das »Romantikgespräch« anschließenden (neunten) Kapitel demonstriert. Maria und Godwi beobachten dort das unter dem Spiegel im Jägerhaus angebrachte, künstlich verzierte Wasserbecken, das durch das Licht der untergehenden Sonne eine scheinbare Verlebendigung erfährt: Zuerst erleuchteten sich der Lorbeerkranz mit dem Schmetterlinge und die Trauben, ein dunkles ernsthaftes Grün, das endlich in verschiedene Stimmungen über die umgebenden Früchte zerrann. Dann glühte das ganze Becken in mildem grünen Feuer und die schillernden Tropfen, die zwischen den Früchten hervor drangen, leuchteten und sammelten die verschiedenen Grade des Feuers in dem Boden des Beckens, das mit grünen [sie] Spiegel überzogen die immer gleiche Menge des Wassers mit einer zurückstralenden Seele belebte, und in dieser brannte das Ganze noch einmal reflektirt. (320)
Durch die Bewegung von Licht und Wasser, sowie durch die Reflexion dieser Bewegung im Spiegel des Wassers, entsteht für den Betrachter der Eindruck eines reflektierten Ganzen, der aber in seiner Bewegung sprachlich nicht faßbar wird. Dieser Eindruck ist der einer Lebendigkeit der vormals unbelebten Materie; da er dem Betrachter als immaterieller Schein bewußt bleibt, weckt er in ihm eine Sehnsucht, die unerfüllt bleiben muß. Betrachter und Betrachtetes treten während der (immer nur momentanen) Vermittlung durch das >Perspectiv< in eine Interaktion, bei der sich das Betrachtersubjekt auflöst in dem Maße, in welchem der betrachtete Gegenstand an Eigenleben gewinnt. Dieser Vorgang ist auf Augenblicke beschränkt und verbleibt in einem scheinhaften Modus des »als-ob«. Dies zeigt sich deutlich in Marias Beschreibung des Beckens: 33
Der Begriff des »Perspectivs« entspricht deshalb der Hardenbergschen Vorstellung des »Romantisirens«. Zur doppelten Reflexion des Perspectivs vgl. Kremer, Prosa der Romantik, S. 10. 121
Wir standen alle erfreut vor dem großen Smaragde, der zu leben schien, und ich empfand in mir einen heftigen Eindruck, eine ganz wunderbare Sehnsucht. Ich wollte, das Ding schwiege still, erblaßte und verlöre seine Gestalt, sagte ich, denn eins allein von diesen könnte ich nicht sagen. Hier ist Ton, Farbe und Form in eine wunderliche Verwirrung gekommen. Man weiß gar nicht, was man fühlen soll. Es lebt nicht und ist nicht todt, und steht auf allen Punkten auf dem Uebergange, und kann nicht fort, es liegt etwas banges, gefesseltes darin.
Marias Eindruck ist zwiespältig, denn die »wunderliche Verwirrung« des Ganzen wirkt auf den Betrachter selbst zurück, so daß dieser ebenfalls in Verwirrung gerät und gar nicht mehr weiß, »was man fühlen soll«. In seiner Eigenschaft als >Perspectiv< steht auch Maria »auf allen Punkten auf dem Uebergange«, und eben daher rührt seine »ganz wunderbare Sehnsucht«. Problematisch ist dieser Eindruck, weil der Betrachter, wie das betrachtete Becken, sich nicht von seiner Materialität lösen und »fort« kann. Wie das Becken nur zu leben scheint, so ist auch die Ichauflösung des Betrachters ein an den ästhetischen Augenblick gebundener, subjektiver Eindruck. Die synästhetische »wunderliche Verwirrung« von »Ton, Farbe und Form« bezeichnet an dieser Stelle nicht allein einen durch Bewegung und Reflexion des >Perspectivs< hervorgerufenen Eindruck, sondern zugleich das von Maria favorisierte Ideal einer Subjektivität, die nicht mehr an die Materialität des eigenen Körpers gefesselt ist, sondern sich »auf allen Punkten auf dem Uebergange« befindet. Diese Ichauflösung, die in einer »wunderbare[n] Sehnsucht« greifbar wird, ist ein zentrales Motiv der Bildbetrachtungen Marias. Künstlichkeit, Verzerrung und Scheinhaftigkeit konnten als zentrale Merkmale des romantischen Vermittlungsprozesses festgestellt werden. Zugrunde liegt ihm, wie Hans Peter Neureuter herausgearbeitet hat, die »Vorstellung einer Spiegelung im leblosen hinterlegten Glas«, die im zweiten Teil des >Godwi< das Gegenprinzip zur im ersten Teil propagierten »Glücksidee« einer »Spiegelung im Lebendigen« bildet.34 Es konnte jedoch nachgewiesen werden, daß diese Glücksidee nirgendwo realisiert wird und die Ich-Erfahrung der Figuren vielmehr auf dem gleichen gebrochenen Weltverhältnis beruht, das im zweiten Romanteil so deutlich ausgesprochen wird. Die von Godwi und Maria entwickelte Theorie des Romantischen gilt deshalb »für das Weltverhältnis überhaupt. >Romantisch< ist das gebrochene, mittelbare Verhältnis zu den Dingen — vermittelt durch eine hypertrophierte Subjektivität«.35 Diese Konzeption des Romanti34 35
Neureuter, Das Spiegelmotiv bei Clemens Brentano, S. 72/63. Ders., S. 163. 122
sehen sieht Neureuter auch bei Friedrich Schlegel angelegt, und zwar im Programm der Ironie, das Neureuter als Gegenentwurf zum Konzept der »Poesie der Poesie« wertet: Ironie transzendiert nicht durch Erhöhung, sondern durch Vernichtung der Gestalt. Sie ist keine positive, synthetische Vermittlung des Endlichen und des Unendlichen, sondern läßt beide sich als Gegensätze berühren und abstoßen. Wird daher der innere Abstand oder mittelbare Bezug des Dichters zu seinen Gestalten zu einem vorsätzlichen Spiel der Ironie erhoben, so weist das eher auf ein prinzipielles Ungenügen an der Welt der Erscheinungen als Erfüllung [...]*
Das im >Godwi< vorherrschende Wechselspiel von ästhetischer Fiktion und deren Bloßstellung und Vernichtung, das in der Selbstzerstörung der Autorfunktion gipfelt, steht demzufolge in engem Zusammenhang mit den Postulaten der Jenaer Frühromantik. Zugleich jedoch kann dieses Strukturprinzip aufgrund der inhaltlichen Parallelen zwischen der Biographie Marias und der des Autors Clemens Brentano als »Bekenntnis des eigenen dichterischen Selbstbezuges« verstanden werden.37 Dieser Doppelbezug soll anhand des Konzeptes der >wilden Rede< näher erörtert werden. III.I.5 Die Sprache und Subjektivität sind im >Godwi< durch die Fingierungsspiele des Ästhetischen eingesperrt; sie bleiben auf einen Zeichen- und Verweisungscharakter beschränkt, ohne je zum lebendigen »Wort« werden zu können. Dies konstatiert der fiktive Autor Maria kurz vor seinem Tode: »So ist mein Ausdruck selbst ein Beispiel eines solchen Traumes der Liebe, in dem der Gedanke und das Zeichen nicht zum Worte wurden« (522). Marias Therapie für diese Sprachkrise besteht im Konzept der >wilden RedeGodwi< eng verschränkt mit sexuellen und religiösen Verschmelzungsfantasien, wie sie sich im fünfzehnten Kapitel auf die Statue der Violette richten. Indem Maria hier zentrale Merkmale von Autorschaft (etwa den Anspruch auf Kontrolle über die eigene Textproduktion) aufgibt und negiert, nähert er sich dem Ideal einer anderen, weiblichen Produktivität, das durch die weiblichen Bilder repräsentiert wird. Diese Annäherung muß notwendig fantasmatisch bleiben, da die Beschränkungen der auktorialen 36
Ders., S. 164. " Ebd.
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Subjektivität sich ebensowenig überschreiten lassen wie die Bedeutungsansprüche der Sprache. Das Konzept der >wilden Rede< scheint zunächst eine radikale Absage an die sozialen und kognitiven Bedeutungsansprüche konventioneller Sprache darzustellen und die Selbstauflösung des Sprecher-Ichs zu bewirken.38 Am Ende des dreizehnten Kapitels beschreibt Maria eine solche Erfahrung des Subjektverlustes in der Sprache: Das Mahl war vorüber, nur die Gläser waren noch ergiebig, und der Wein bringt in jede Stimmung, in der er mich antrifft, noch eine muthwillige fantastische Stimmung. Ich muß mich dann äußern, und empfinde etwas ganz wunderbar Frevlendes, Gewagtes in meinem Herzen; Alles wird mir unter den Händen lebendig, was mein Leben Schmerzliches und Freudiges, Banges und Religiöses umfaßt, reiht sich an meine Worte, und zieht in einem wilden bacchantischen Zuge von meinen Lippen. In solchen Momenten verliere ich mich in meiner Rede, die mit sich selbst zu witzeln anfängt [... ]. (346)
Die »muthwillige fantastische Stimmung« der >wilden Rede< wird hier zum einen durch eine Belebung der Biographie Marias charakterisiert (»Alles wird mir unter den Händen lebendig«); zum anderen durch den Modus der Reflexionsbewegung (»mit sich selbst zu witzeln anfängt«). Die >wilde Rede< fungiert als Auslöser einer Totalitätserfahrung, die sich sowohl auf ihren Gegenstand — Marias Biographie — als auch auf deren Darstellungsmedium, den literarischen Text, richtet. Dabei verliert die Sprache ihre Differenzierungsfunktion und entzieht sich der kommunikativen Kontrolle durch das Sprecher-Ich. Als »wilde[r], bacchantische [r] Zug[]« entwickelt sie eine Eigendynamik, die für den Sprecher sowohl befreiend als auch bedrohlich ist. Die Subjektivität des Sprechers löst sich auf zugunsten eines reinen Sprechens. Diese aufgelöste Rede ist weiblich konnotiert, wie das Adjektiv »bacchantisch« nahelegt. Sie scheint geeignet, den Gegensatz von Leben und Schreiben zu überwinden, denn im Medium der >wilden Rede< wird die eigene Vergangenheit als eine lebendige beschreibbar: »Es ist mir, als sollte ich bald mein ganzes Leben wie eine Braut umarmen, ich sey nun allem gewachsen, was mich einzeln erdrückte«. Zu Anfang des folgenden, vierzehnten Kapitels liefert Maria ein Beispiel für eine solche Rede. Formal ist seine Sprechweise gekennzeichnet durch eine partielle Auflösung der Syntax mit zahlreichen, parataktisch geordneten Anakoluthen. Dennoch kann die >wilde Rede< dem im voraus 38
In diese Richtung weist etwa Grob, Die verwilderte Rede. Die >wilde Rede< wird hier reichlich unreflekciert - als »zum Schein informierende Rede« gedeutet, »als Möglichkeit, einer Darstellung der Persönlichkeit Godwis auszuweichen« (S. 8). 124
formulierten Anspruch einer selbstreflexiven Rede - jenseits der Funktionalität und Referentialität konventioneller Sprache — nicht genügen. Zwar imaginiert Maria eine Belebung der eigenen Vergangenheit; dabei scheint es sich jedoch weit eher um die Wiederbelebung von etwas Totem zu handeln als um eine echte Lebendigkeit. Gegenstand der >wilden Rede< Marias ist seine Familie, die als real anwesend präsentiert wird: sehen Sie, dort steht mein Vater, und dort meine Mutter, und dort meine Schwester — wie sie mit den Fingern auf mich zeigen — wie der Alte den Kopf schüttelt — o und du arme Mutter, du schöne Mutter — die Hände abgerungen - durch den weißen duftigen Busen blutet das warme rothe Herz Liebe heraus zu mir - die Schwester sieht so witzig aus, und so arm mit ihrem liebesuchenden keuschen Leibe - (347)
Diese Präsentation der >wilden Rede< steht in krassem Gegensatz zu der Behauptung, in ihr würde Maria alles »unter den Händen lebendig«. Vielmehr erscheint das ganze Leben, durch das Perspektiv der >wilden Rede< betrachtet, als tot: o! da geht ewig so und nimmt kein Ende — und wie es dunkel ist man möchte ersaufen in eigenen dummen Gedanken - in der Welt geschieht nichts - es ist der Tod draußen, und wir sind gezwungen, unsre abgetragenen Erinnerungen zu zerzerren, bis sie wie lumpichte Geister vor uns treten -
Marias Wunsch, »bald mein ganzes Leben wie eine Braut [zu] umarmen«, enthält vor diesem Hintergrund ein Moment von Vampirismus (346). Die Erinnerungen Marias sind verzerrter Reflex von etwas Totem, weil der Sprecher selbst ein Toter ist, wie er im folgenden ausführt. Maria schildert, wie sein Leben in der Liebe vernichtet worden sei: so rann auch mein Leben zusammen, und da steht nun das Weib, dem ich es in die Arme legte, da steht es, wie die schöne Sünde - aber sie hat mir es vor die Füße geworfen - o sie könne es in ihren Garten pflanzen in den fettesten Boden, es schlägt nie wieder aus - es ist verbrannt, in der Liebe verbrannt (348)
Da in der Welt »nichts« geschieht, bleibt das schreibende Subjekt auf das eigene, tote Leben als Stoff des Erzählens verwiesen. Autobiographie wird damit zum einzig möglichen Gegenstand des Romans. Zu dem gleichen Ergebnis kommt Neureuter bei der Interpretation der Biondetta-Geschichte in den >Romanzen vom Rosenkränze daß nämlich in Brentanos Poetologie »für die Kunst kein anderes Ziel denkbar ist, als das eigene Leben des Künstlers auszusprechen«.39 Diese Folgerung wird in der Erzäh39
Neureuter, Das Spiegelmotiv bei Clemens Brentano, S. 175. I2 5
lung Marias gleich doppelt eingelöst, denn dessen Kindheitserinnerungen (3486°.) sind zugleich diejenigen Brentanos: dieselbe Kindheitsepisode verarbeitet Brentano in den als autobiographisch gekennzeichneten Einleitungsterzinen der >Romanzen vom Rosenkranz< (FBA 10, 6). Durch die Ausstattung mit autobiographischem Material legt Brentano den Blick frei auf ein Dichtungsverständnis, das die Möglichkeit mimetischer Referentialität leugnet. Der Autor kann nur aus dem eigenen Innern schöpfen und die »eigenen dummen Gedanken« zum Ausdruck bringen. Durch das Aufschreiben werden die Erinnerungen des Autors jedoch verzerrt, so daß sie »wie lumpichte Geister vor uns treten«. Die Beschreibung der Familie Marias führt vor, daß das autobiographische Substrat durch die dichterische Bearbeitung schäbig, grotesk und beängstigend wird. Damit erhält das Erzählen eine doppelte Funktion. Einerseits ist es ein »Ansprechen gegen die Angst, den Tod, die Leere, die das Subjekt um und in sich verspürt«.40 Andererseits soll im Erzählen ein Gegenbild zu der erschreckenden Realität des Subjekts entworfen werden, so daß diese »unter den Händen lebendig« wird. Dem Erzählen wird damit eine therapeutische Funktion für den Autor zugesprochen. Dieser soll durch die Textproduktion »allem gewachsen« werden, »was mich einzeln erdrückte« (FBA 16, 346). Die Widersprüche zwischen dem Postulat der >wilden Rede< und ihrer Ausführung erklären sich durch deren Doppelfunktion: als konkretes Dichtungsprogramm und als Sprachutopie, die das sprechende Ich in Verbindung mit einer höheren, weiblichen Sphäre bringen soll.
III.2 Weibliche Bilder III.2.1 Das steinerne Bild der Mutter Das bereits im Untertitel des Romans genannte »steinerne Bild der Mutter« bildet das geheime Zentrum der imaginären Kunstwelt des Reinhardsteins.41 Zwar befindet sich die Statue auf dem väterlichen Gut Godwis; sie ist jedoch durch die Erzählsituation der »Scene aus meinen Kinderjahren«, in welcher Godwi Otilie von seiner Geschichte mit diesem Bild berichtet, als Teil der zeitlosen Welt des Reinhardsteins ausgewiesen. Diese Erzählung stellt deshalb keine authentische biographische Mitteilung dar, 40 41
Reifenberg, Von der Zungenentzündung zur Herzentzündung, S. 126. Zur »Muttersymbolik« vgl. auch Nagele, Die Muttersymbolik bei Clemens Brentano. 126
sondern eine poetische Fiktion Godwis. Die genetische Bezeichnung als »Scene« indiziert eine bildliche Gestaltungsweise und verweist damit bereits auf den Inhalt der Erzählung, die Betrachtung des steinernen Bildes der Mutter. Ohnehin gibt Godwi hier keine tatsächliche Erinnerung wieder, sondern nur die in eine unendliche Ferne gerückte »Erinnerung an eine Erinnerung«, die letztlich auf die vor jeder Erinnerung liegende, pränatale Mutter-Kind-Dyade verweist.42 Von den übrigen Tagebucheinträgen Godwis ist die »Scene« sprachlich und stilistisch differenziert. Während die erfüllte Gegenwart des Reinhardsteins in metaphernreicher Prosa beschrieben wird, ist die »Scene« durch eine wesentlich formalisiertere Sprachverwendung gekennzeichnet.43 Godwi beschreibt sein Leben im ersten Teil der »Scene« als »trübes träges Einerlei« (167). Der Gegensatz von »trübe« und »bunt« begegnet auch in der Schlegelschen >LucindeBekenntnisbrief< an Philipp Otto Runge:
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Godwi verwendet in der betreffenden (fünften) Strophe der »Scene« kein einziges Mal das Personalpronomen »ich«, das in den vorangehenden Strophen wiederholt begegnet. Gegenstand der Darstellung ist allein der Eindruck, den der Betrachter vom bewegten Himmel hat. Das Konzept der »Ferne« wird näher entwickelt in dem Lied Otilies »Sprich aus der Feme« (184). 128
Meine innere Welt war untergegangen, nur ihr Firmament stand noch über mir, meine Berge waren nicht mehr, aber der Schimmer ihrer Abendsonne schwamm noch in der Luft, mein Selbstgefühl glich der abgelößten Farbendecke eines im Wasser versunckenen Pastellgemähldes, welches noch kurze Zeit oben schwimmt ich hätte es vielleicht behutsam wieder auffassen können, aber ich sah lieber so lange lächelnd hinein, bis heftig stürzende Thränen es verwirrten, und der wiederliche Gedancke, daß durch das Auffassen solcher schwimmenden Farben marmorirtes Papier gemacht wird, machte, daß ich dem geliebten Bilde noch einen herzlichen Scheideblicke gönnte, und mich dann muthig den Wellen übergebend es an meiner Brust scheidern ließ. (FBA 32, 201)
Im Brief liegt das gleiche Ineinander von sprachlicher Realisierung und Irrealisierung vor, das auch für die Auflösungsfantasien Godwis konstitutiv ist. Der Versuch des Schreibers, die unmittelbare Erfahrung zu versprachlichen, fuhrt zu deren Irrealisierung. Die Erfahrung kann nicht direkt dargestellt werden, sondern bleibt auf bildhafte Vergleiche angewiesen. Während jedoch im >Godwi< die Ichauflösung an die (in der Romanwirklichkeit) tatsächliche Betrachtung des Sonnenuntergangs gebunden ist, stellt die »Abendsonne« im Runge-Brief lediglich eine Metapher für die subjektive Stimmung dar. Der Briefschreiber Brentano konstruiert ein »Selbstgefühl«, das die Erfahrung der Ich-Dissoziation mit der Fantasie einer Auflösung in ein neues, ungeschieden fluktuierendes Ich verbindet. Das schreibende Ich erfährt sich als mit einem Mangel behaftet (»Meine innere Welt war untergegangen«), welcher ex negative auf eine vormalige, imaginäre Ganzheit verweist (»nur ihr Firmament stand noch über mir«). Der zitierte Briefausschnitt belegt jedoch, daß die Mangelerfahrung des Subjekts einer bewußten Setzung entspringt. Das Ich hätte sein untergegangenes Selbstgefühl »vielleicht behutsam wieder auffassen können«, aber diese Option wird nicht realisiert, weil »durch das Auffassen solcher schwimmenden Farben marmorirtes Papier gemacht wird«. Die Assoziation >Marmorpapier< bezeichnet eine gegenüber dem »versunckenen Pastellgemählde« minderwertige, kunsthandwerkliche Produktion. Die Realisierung einer vollen, kohärenten Identität wird also unter ästhetischen Gesichtspunkten abgelehnt: jede realisierbare Ichidentität wäre minderwertig gegenüber der ursprünglichen Identität der »innere[n] Welt«, weil sie statt natürlicher Perfektion immer nur künstliche Stillstellung sein könnte. Die Dissoziation von schreibendem Ich und abgelöstem »Selbstgefühl« ist nur heilbar, indem »die leere Stelle meines untergegangenen Lebens« neu erfüllt wird — durch ein »Gemähide«, eine »Blume« oder einen »Geschmack«. Der >Bekenntnisbrief< kann für die >GodwiGodwi< sind keine Gemälde, sondern — wie im Bekenntnisbrief geschildert - das Spiel bewegter Farben auf einer Wasseroberfläche. Diese dürfen nicht fixiert werden. Solche Bewegung in Raum und Zeit ist eigentlich nicht dem Bildmedium eigen, sondern für die Musik charakteristisch. Die Bildbeschreibungen im >Godwi< beruhen folglich auf einer synästhetischen Medienverwechslung. Zugleich rekurriert das Modell der »unbestimmten Bilder« (FBA 19, 65) nicht auf tatsächlich geschaute, sondern auf geistige Bilder und Träume. Auch im Bekenntnisbrief wird kein materielles Gemälde geschildert, sondern ein immaterielles inneres Bild. Das Ausfüllen des Mangels durch ein Bild bezeichnet Friedrich A. Kittler in Anlehnung an Lacan als charakteristisch für die Funktionsweise des Imaginären.48 Es ist deshalb zu klären, ob die schreibenden Subjekte im >Godwi< tatsächlich im Imaginären verharren, oder ob es ihnen gelingt, ihren Mangel sprachlich zu symbolisieren. In dem zitierten Briefausschnitt dient die Malerei zunächst als Vergleich für das »Selbstgefühl« des schreibenden Ich (»mein Selbstgefühl glich der abgelößten Farbdecke«). Die metaphorische Funktion des »Pastellgemähldes« wird jedoch überlagert durch die Erwartung des Briefschreibers, die Betrachtung von Bildern könne seine als defizitär empfundene Subjektivität tatsächlich ergänzen und heilen. Der Briefschreiber Brentano hegt ein tiefes Unbehagen gegen das Medium Text. Schreiben und Sprache betrachtet er als defizitär, weil sie eines Grundes im sprechenden/schreibenden Subjekt entbehren. Brentano vergleicht seine >Romanzen vom Rosenkranz< deshalb mit einem unehelichen Kind, bezeichnet Sprache und Dichtung also als ein illegitimes Medium (FBA 32, 206). Für die Formulierung seiner Medienkritik bleibt er jedoch auf die sprachliche Darstellung angewiesen, denn »könnte ich zeichnen, ich würde es [das Lied, S. H.] nie erdichtet haben, es ist nicht dieses Lied selbst, das ich liebe, es ist mein verschwundenes Leben, meine Seele, mein verbranntes Herz in dessen Asche blasend, ich diese Gestalten Seele gesehen habe, aber ich konnte sie nicht zeichnen, ich mußte sie singen mit gebrochener Stimme«. Statt sich tatsächlich auf die Malerei zu verlegen, versucht Brentano immer wieder, Bilder in seine Texte zu integrieren. Während er in den >Romanzen< durch die Integration von Illustrationen ein Bild-Text-Verhältnis herzustellen beabsichtigt, sind im >Godwi< Bilder und Statuen durch die Bildbeschreibungen inkorporiert. 47
48
Zum Verhältnis von Wort und Bild im Runge-Brief vgl. auch Lorenczuk, Die Bilder der Wahrheit, S. ^tt. Kittler, »Das Phantom unseres Ichs«, S. 155. 130
Durch die Bildbeschreibungen gelingt es Brentano, eine Einheit von Text und Bild herzustellen. Allerdings liegen die Bilder im >Godwi< nicht graphisch vor. Statt dessen werden sie durch das sprachliche Medium Text vereinnahmt. Sie geben dabei ihre Simultaneität auf und werden in eine narrative Sukzessivität übersetzt, so daß sie die Insuffizienz des Textes annehmen.49 Neben der Herstellung von Bild-Text-Verhältnissen, welche indirekt auf die Überlegenheit des bildlichen Mediums verweisen, besteht für den Autor Brentano eine zweite Möglichkeit der Repräsentation seiner Sprachskepsis darin, den Mangel des Subjekts durch die Darstellung einer Urszene auszufüllen. Dieses Verfahren liegt nicht nur der Subjektivitätsdarstellung des Runge-Briefs zugrunde, sondern es läßt sich auch im >Godwi< nachweisen. Kennzeichnend für solche Urszenen ist, daß die defizitäre Subjektivität der Sprecher auf ein traumatisches Erlebnis in der Kindheit zurückgeführt wird, welches in Zusammenhang mit einer Bildbetrachtung steht. Die Urszene Godwis wird in der »Scene aus meinen Kinderjahren« dargestellt, diejenige Marias im vierzehnten Kapitel des Romans. Beide Figuren führen die Erfahrung der Ich-Dissoziation auf einen biographischen Ursprung zurück: auf die Trennung von der Mutter. Zu Recht hat Kenneth Calhoon die toten oder abwesenden Mütter in romantischen Texten als wichtigsten Motor für das romantische Schreiben überhaupt bezeichnet.50 Diese Schreibmotivation läßt sich psychoanalytisch begründen. Elisabeth Bronfen hat Freuds Subjekttheorie so reformuliert, daß Mangel und Kastration nicht nur Frauen betreffen, sondern beide Geschlechter. Als dominantes Paradigma für den Mangel des Subjekts bestimmt Bronfen deshalb nicht die Kastration, sondern die Loslösung von der Mutter oder radikalisiert — deren Tod. Merkmal dieses Mangels ist nicht der Phallus (als Fetisch, der den kastrierten Penis ersetzt), sondern der Nabel oder Omphalos als Index des Geburtsvorgangs.51 Nicht allein die Frau ist diesem Modell zufolge mit Mangel behaftet, sondern auch der Mann. Die Frau bleibt aber auch in diesem Szenario kulturelles Symbol für den Mangel. Bronfens Theorie bildet ein äußerst plausibles Erklärungsmodell für die Auflösungsfantasien des jungen Godwi in der »Scene aus meinen Kinderjahren« und für die Funktion, die das Mutterbild in der »Scene« übernimmt. Im Mittelteil der »Scene« nimmt das Bild der Mutter konkrete 49
50 51
Zum Bild-Text-Verhältnis in der Romantik vgl. auch Schmidt, »Die Wundernadel des Meisters«, sowie ders., »Callots fantastisch karikierte Blätter«. Calhoon, Fatherland. Bronfen, The Knotted Subject.
Gestalt an. Die typographische und stilistische Form der vierstrophigen Bildbeschreibung verleiht ihr den Charakter einer bereits vorliegenden, in die Erzählung als Zitat eingerückten Dichtung oder eines Liedes. Diesen Eindruck des Typischen, Überindividuellen bestätigt Godwi an späterer Stelle, wenn er vom »Lied von der Marmorfrau« spricht (FBA 16, 463). Gegenstand der Betrachtung scheint in dem Lied ausschließlich das Bild zu sein; das betrachtende Ich dagegen ist in der sprachlichen Formulierung völlig zurückgenommen. Der Gehalt der Dichtung steht jedoch in Widerspruch zu der vermeintlich objektiven Darstellungsform: beschrieben wird nicht die Statue selbst, sondern deren Wirkung auf den Betrachter. Dabei wird das steinerne Bild zum Fokus von Wünschen und Emotionen, die von dem Betrachter Godwi ausgehen. Die dem Bild zugeschriebenen Empfindungen sind deshalb dieselben, die Godwi eingangs an sich selbst beschrieben hatte: das Gefühl des Eingesperrtseins und die Sehnsucht nach einem anderen, wechselvollen Leben, welches mit dem Element des Wassers assoziiert wird. Und es schien das tiefbetrübte Frauenbild von Marmorstein, Das ich immer heftig liebte, An dem See im Mondenschein, Sich mit Schmerzen auszudehnen, Nach dem Leben sich zu sehnen. (171)
Godwi ist bei der Bildbetrachtung doppelt zugegen: einmal als Betrachter, ein zweites Mal als Teil des Bildes, nämlich als steinernes Kind auf den Armen der Statue. Er betrachtet in dem Bild also sich selbst als Versteinerten und zugleich den Grund für diese Versteinerung. Das steinerne Mutterbild ist deshalb von hoher Symbolkraft für die Individuationsproblematik des jungen Godwi. Erst die »Geschichte der Mutter Godwi's und ihrer Schwester« im zweiten Romanteil enthüllt, daß die Komposition des steinernen Bildes eine Urszene des Kindes Godwi darstellt. Beim Anblick ihres für tot gehaltenen Geliebten Joseph stürzt Godwis Mutter Marie, die das Kind Godwi auf dem Arm trägt, ins Meer (46iff.). Dabei stirbt Marie, während Godwi gerettet wird. Diese Geschichte liefert eine Erklärung sowohl für die Abwesenheit der Mutter als auch für die Ich-Dissoziation Godwis. Die Rettung aus dem Wasser, die mit dem Verlust der Mutter verbunden ist, läßt sich als Wiederholung des Geburtsvorgangs lesen. Der Austritt aus der pränatalen Mutter-Kind-Dyade bezeichnet den »tödtende[n] Moment im Leben« Godwis (173). Die Individuation des Ich wird damit auf den Verlust der Mutter zurückgeführt. Tatsächlich haben alle Romanfiguren 132
die Mutter früh verloren. Diese Mutterlosigkeit spricht Römer am Ende des ersten Romanteils emphatisch an: »O Godwi, wo ist deine Mutter! die Schmerzen des steinernen Bildes fielen mir ein; wo ist meine Mutter!« (253) Stellt der Tod der Mütter einerseits ein Erklärungsmuster für die IchDissoziation der Figuren dar, so wird deren Mangelerfahrung andererseits auf das Mutterbild zurückprojiziert, wie sich anhand der »Scene« verdeutlichen läßt. Der Mangel des Bildes besteht in seiner Versteinerung, die den Auflösungsfantasien des Betrachters entgegensteht: Aber kann die kalten, engen Marmorfesseln nicht zersprengen. (172)
Das Mutterbild, das Leben zu versprechen scheint, erweist sich als kalt und tot.52 Auch das Kind Godwi ist als Teil der Darstellung von dieser Versteinerung affiziert: Ihre kalten Brüste schwellen, Hält das Kindlein fest im Arm. Ach, in ihren Marmorarmen Kann's zum Leben nie erwarmen! (171)
Obwohl das steinerne Bild durch seine Beschaffenheit die Wünsche des jungen Godwi untergräbt, wird es zum Fokus seines Begehrens. Weil der Erzähler zugleich Teil der steinernen Darstellung ist, muß die Versteinerung des Mutterbildes gelöst werden, denn nur dann kann eine Erfüllung der Auflösungsfantasien Godwis gewährleistet werden. Godwi sucht sich deshalb aus seiner steinernen Gefangenschaft zu lösen, indem er dem »kalten Busen« des Mutterbildes »Leben« einhaucht (172). Die Wirkung der Bildbetrachtung auf Godwi ist ambivalent. Einerseits scheint jeder Versuch, das tote, tödliche Mutterbild ins Leben zurückzuholen, zum Scheitern verurteilt; andererseits jedoch erlebt Godwi im Anschluß an die Betrachtung eine tatsächliche Selbstauflösung. Godwis Sturz in den Teich wiederholt den ersten Sturz in den Armen der Mutter. Insofern der in der Statuengruppe dargestellte Augenblick diesem ersten Sturz unmittelbar vorausgeht, gelingt es Godwi dabei tatsächlich, sich aus den Marmorarmen zu lösen. Wie beim ersten Sturz, bleibt die Ichauflösung jedoch unvollständig, denn Godwi findet in den Wellen nicht den Tod, sondern wird gerettet. Dennoch erlebt er seinen Sturz in den Teich mit der anschließenden Bewußtlosigkeit als Moment tiefsten Genusses. 52
MacLeod hat daraufhingewiesen, daß Statuen im 18. Jahrhundert häufig als Grenze zwischen Leben und Tod beschrieben werden (Sculpture and the Wounds of Language, S. I 79 f). 133
Doch bleibt in meinem Leben eine Stelle, Ich weiß nicht wo, voll tiefer Seligkeit, Befriedigung und ruhigen Genüssen, Die alle Wünsche, alle Sehnsucht löste.
Der Bildcharakter verbürgt hier einen Assoziationsrest, der gegenüber der Sprache bleibt. Die Wirkung des Mutterbildes auf Godwi ist deshalb ambivalent. Handelt es sich einerseits um eine in der Romanwirklichkeit materiell vorliegende, von Godwi tatsächlich geschaute Statue, so hat das Mutterbild andererseits die Funktion eines immateriellen Urbildes. Während der reale Anblick des steinernen Bildes für Godwi beklemmend, ja tödlich ist, stellt das imaginäre Urbild der Mutter eine ideale Projektionsfläche für seine Auflösungsfantasien dar. Die Doppelbestimmung des Bildes, das den Mangel des Betrachters einerseits symbolisieren, andererseits ausfüllen soll, entspricht den beiden Aspekten bei der Bildbetrachtung: dem steinernen Kunstwerk und seinem beweglich-natürlichen Spiegelbild im Wasser des Teiches. Während die Versteinerung des Mutterbildes und sein ästhetischer Charakter den Mangel zugleich festschreiben und darstellbar machen, verdeckt das Spiegelbild die Ich-Dissoziation und macht das Subjekt damit handlungsfähig. Das Schwanken des Mutterbildes zwischen Bild und Urbild stellt jedoch eine Überdetermination des Mütterlichen dar; das Mutterbild wird deshalb instabil, es droht zu »zerspalten«. Diese Spaltung der Mutter-Imago in eine gute, lebenserhaltende und eine böse, tötende Mutter ist symptomatisch für zahlreiche Erzähltexte Brentanos. Die Teilung der Elternimagines in >gute< und >böse< Aspekte hat Melanie Klein in den Mittelpunkt ihrer Theorie der Objektbeziehungen gestellt.53 In früher Kindheit, so Klein, werde die Umwelt des Kindes von diesem als entweder absolut gut oder absolut böse wahrgenommen. Das Kleinkind ist jedoch unfähig, die widersprüchlichen Aspekte zu integrieren und so seine Bezugspersonen als Ganze wahrzunehmen. Insbesondere die Mutter wird deshalb einer Spaltung unterzogen. Ein Verlust, wie Godwi ihn im Tod seiner Mutter erlebt, führt notwendig zur Wiedereinnahme der frühkindlichen Position.54 Die daraus resultierende Spaltung des Subjektes äußert sich in den Pathologien Manie, Depression, Paranoia und Aggression.55 Deutlich zeigen sich in der Reaktion Godwis auf das Mutterbild die widersprüchlichen Emotionen der Aggression gegen die Tote und der Angst davor, selbst für deren Tod verantwortlich zu sein. 53
Vgl. Klein, Mourning and Its Relations to Manic-depressive States. >4 Dies., S. i73f. 55 Dies., S. I52ff. 134
Dagegen findet ein späterer Trauerprozeß mit der Reintegration der beiden Mutter-Imagines im Roman nicht statt. Die »Scene aus meinen Kinderjahren« ist als Teil einer Kommunikation mit Otilie konzipiert, die sich über einen einzigen erfüllten Tag auf dem Reinhardstein hinzieht und zu deren Beschreibung Godwi fünf aufeinanderfolgende Briefe an Römer benötigt. Der Rahmen der poetischen Fiktion hat Folgen für Godwis Vorhaben, durch die Erzählung der eigenen Kindheit Subjektivität herzustellen. Otilie ist keine wirkliche Kommunikationspartnerin für Godwi, sondern nichts als eine imaginäre Konstruktion. In ihrer Funktion als romantische Geliebte zeigt sie auffällige Ähnlichkeiten mit der Schlegelschen Lucinde. Godwi macht Otilie zum Zeichen der eigenen Ganzheitsfantasien und erwartet im Gegenzuge von ihr die Wahrnehmung und Deutung des eigenen Selbst als eines kohärenten Ganzen. In dieser Absicht schildert er ihr die fragmentierende Erfahrung der Begegnung mit dem steinernen Bild der Mutter. Otilies Weiblichkeit, die hier für die Zielimagination von Ganzheit und Fülle einsteht, definiert sich — wie die der Lucinde - durch ihre Differenz gegenüber dem männlichen Autorsubjekt. Otilie steht für den in sich ruhenden Naturschoß ohne konzentrierte Subjektivität oder eine individuelle Entwicklungsdynamik: Sie [Otilie, S. H.] war nie anders, sie ist nie so geworden, und wird nie anders werden. Sie ist so, und ewig so. Sie scharrt sich ewig selbst, und weiß es nicht. [...] Wenn ich sie mir denke, wie sie sich bewegt, wie sie spricht, oder singt, so sehe ich eine Reihe schöner weiblicher Gestalten in harmonischen Wellen vor mir hinschweben, die sich bald mit ihren zarten Armen, bald mit einzelnen Blumen oder Tönen, mit ganzen Blumen- und Tonfolgen, bald mit süßen durchsichtigen Liedern aus beiden gewebt berühren. (166)
Hinter dem Bereich vegetativer Weiblichkeit bleibt Otilie selbst farbund konturlos. Nicht nur läßt sie sich, wie Godwi sagt, »mit schönen abwechselnden Bildern allegorisieren«, sie ist selbst schon Allegorie und kann problemlos für eine »Reihe schöner weiblicher Gestalten«, also für den gesamten Bereich des Weiblichen, einstehen. Die Vereinigung mit der Geliebten wird wie die Regression in die Mutter-Kind-Dyade als Selbstauflösung in einer weiblichen Natur imaginiert: Natur ruft dich mit aller Weibes Allmacht hier, sie reicht die Arme dir so frei und schön entgegen, und ihres Busens Wellen dich verschlingen. Du kehrest nimmermehr zurück. So muß es die Natur, sie meint es gut. Die Mutter sehnt sich ewig nach dem Sohne, den sie aus ihrem Schooße hervorgerufen, daß er sich ihr an ihrem Busen angesaugt verbinde. (144)
Godwi fantasiert sich damit in eine weibliche Position, denn die Auflösung im Naturschoß entspricht genau dem Bild, das er sich zuvor von 135
Otilie gemacht hat. Allerdings kann Otilie seine zersplitterte Subjektivität nur heilen, indem sie sie vollständig auflöst. Die auf sie gerichteten Fantasien Godwis sind daher geprägt von den Bildbereichen Tod, Aufbrechen von Wunden und Zerrinnen im Schöße der Natur (i6off.). Die Struktur der romantischen Liebe wiederholt also die auf das Mütterliche gerichteten Fantasien, so daß die imaginierte Weiblichkeit als einheitlicher Bildbereich erkennbar wird, in dem verschiedene weibliche Rollen (Mutter, Geliebte) sich nicht klar gegeneinander abgrenzen lassen. Godwi kann das Mutterbild gegenüber Otilie deshalb bezeichnen als »das fremde Bild / Dem du so ähnlich bist« (171). Die auf die Geliebte Otilie gerichteten Verschmelzungswünsche Godwis bedeuten den Austritt aus der konventionellen Sprache, weil »der, der in dem tiefsten Schooße der Wollust versunken, sich selbst mit aller Aeußerung in ihm auflöst, und keine Beschreibung, als in der Anschauung des Genusses selbst geben kann« (163). Otilie allegorisiert diese Sprachutopie, denn in ihrer Erscheinung sind »Wort« und »Inhalt«, Bezeichnung und Bezeichnetes ohne Differenz vereinigt: »So finde ich in diesem Bilde [Otilie, S. H.] gewiß Beides. Es ist keine Kühnheit, daß ich dir sage, wie dies Mädchen ist, da ich sie nur sähe; aber ihre Erscheinung ist ein reines Wort für ihren Inhalt« (89). Wie das Bild der Mutter, wird auch Otilie zum Symbol und zur Verheißung einer Auflösung der Ich-Dissoziation stilisiert. Die Bezeichnung als »Bild« verweist auf eine utopische Sprachgestalt, die dem Briefschreiber Godwi versagt bleibt. Damit wird Otilie für ihn unerreichbar. Die Konzepte des Weiblichen und des Mediums Bild sollen die »Sehnsucht« Godwis illustrieren und als Zeichen für seine ideologische Erwartung einstehen. Andererseits sollen sie den Mangel in der Gegenwart des Schreibens verdecken oder sogar heilen. Diese Erwartung Godwis richtet sich nicht nur auf das gesamte weibliche Figural seiner Briefe (Molly, Joduno, Otilie und das Mutterbild), sondern auch auf den Bereich der Natur, des Todes, auf das lyrische und das bildliche Medium. Weiblichkeit gehört im ersten Romanteil einem in sich undifferenzierten Bereich von Konzepten an, die der Briefeschreiber Godwi in Abgrenzung von seinem eigenen Schreiben konstruiert. Diese Konzepte bilden untereinander einen höheren Zusammenhang, der dem schreibenden Ich versagt bleibt. Andererseits soll schon jedes einzelne dieser Konzepte eine solche Ungeschiedenheit allegorisieren. Da diese höhere Sphäre in der Romanwirklichkeit als eine literarische Konstruktion kenntlich ist, bleibt das Ich des Briefeschreibers allein mit sich: das defizitäre Ich Godwis bildet den einzigen Stoff der Briefe vom Reinhardstein. Die explizite Beschäftigung mit dem eigenen 136
Ich, wie sie in der »Scene aus meinen Kinderjahren« vorliegt, führt deshalb zu einer Durchbrechung der Illusion, der Ich-Erzähler sei Teil einer lebendigen Wirklichkeit. Die Erzählung der »Scene« löst ein Heraustreten aus der poetischen Fiktion des Reinhardsteins und der romantischen Liebe aus: Ich fühlte plötzlich, daß ich mich in meiner Erzählung verloren hatte, und aus der Folge meiner innern Erneuerung getreten war. Ich hatte mich auf meiner Erzählung in mein wirres Leben zurückgetragen, ich hatte meinen Talismann abgelegt. Meine ganze Umgebung sprach mich wieder fremd an. (177)
Der erste Teil des >Godwi< schließt an die Weiblichkeitskonstruktion der >Lucinde< an. Im Gegensatz zu Schlegels Roman wird im >Godwi< der Prozeß dieser Konstruktion mit seinen negativen Folgen jedoch kenntlich gemacht. Dadurch wird die Paradoxie des Schlegelschen Romanschlusses vermieden, daß nämlich die als unerreichbar gedachte Vervollkommnung durch die Annexion des Weiblichen dennoch einkehrt. Dagegen wird im >Godwi< deutlich, daß das Konzept der Vervollkommnung selbst eine Aporie darstellt, denn das Weibliche funktioniert nicht als Ziel einer teleologischen Progression. Die androgyne Vereinigung mit einer weiblichen Natur stellt für das männliche Subjekt keine Progression dar, sondern eine Regression in den Mutterschoß. Zugleich wird die Mutter jedoch zum begehrten Sexualobjekt, so daß der Wunsch nach Rückkehr in die uterinale Ungeschiedenheit mit den Anforderungen erwachsener Sexualität zusammenfällt. Das Inzestmotiv ist in der Begegnung Godwis mit dem steinernen Bild der Mutter deutlich herausgearbeitet. Vor diesem Hintergrund muß angezweifelt werden, daß die Statue der Violette (im Gegensatz zum steinernen Mutterbild) eine ideologische Progression des männlichen Subjekts bezeichnet, wie Godwi behauptet: In diesem Marmorbilde lag all mein Schmerz gefangen, ich lag, wie das Kind in den kalten Armen des Bildes: was in dem Teiche sich bewegt, das ist dasselbe immer wieder, nur im beweglichen Leben gesehen; aber was dort über den grünen Büschen in die Höhe strebt, das ist meine Freiheit, in Marien lag der Schmerz und die Liebe gefangen, in Violetten ward das Leben frei. (463^)
Dieser Behauptung eines Unterschiedes zwischen imaginärer Fixierung auf das Mutterbild und der Symbolisierung erwachsener Sexualität steht die Tatsache entgegen, daß der Bereich des Weiblichen im >Godwi< in sich undifferenziert ist, daß also einzelne weibliche Rollen nicht voneinander unterschieden werden können. Die von Godwi vorgenommene Entgegensetzung von imaginärer »Gefangenschaft« und symbolischer »Freiheit« kann deshalb nicht auf die weiblichen Figuren verteilt werden, sondern charakterisiert als Spannungsverhältnis jede Bildbetrachtung. 137
III.2.2 Formen der Bildbeschreibung im zweiten Romanteil In der Liedeinlage der »Scene aus meinen Kinderjahren« werden die beiden Aspekte der »Gefangenschaft« und der »Freiheit« verteilt auf zwei weibliche Körper, die zugleich eins und verschieden sind: auf den steinernen Leib der Statue und sein bewegliches Spiegelbild. In den Bildbetrachtungen des zweiten Teils dagegen wird dieses Spannungsverhältnis in den Zwischenraum von Bild und Betrachter eingeschrieben. Die Bildbetrachtungen haben deshalb die Gestalt einer prozessualen Interaktion von Bild und Betrachter, welche der linearen Erzählung weit weniger widersteht als das steinerne Mutterbild. Die weiblichen Statuen und Bilder des zweiten Romanteils sind in der Forschungsliteratur zumeist allegorisch gedeutet worden.5*5 Dabei wurden mehrere Aspekte der Bildbeschreibungen ausgeblendet: die Geschlechterdifferenz von Bild und Betrachter; die materielle Beschaffenheit der Bilder (die besonders bei den Beschreibungen der steinernen Statuen immer wieder in den Vordergrund gerückt wird); ihre Wirkung auf den Betrachter, die in Gestalt einer sprachlich strukturierten Kommunikation wiedergegeben wird; und die Opposition von bildlichem Medium und der sprachlichen Verfaßtheit des literarischen Textes, die schon Lessing im >Laokoon< beschrieben hatte. Eine weitere Besonderheit der Bild-Text-Interaktionen im >Godwi< besteht darin, daß einem Bild häufig mehrere sprachliche Annäherungen korrespondieren. Erst aus dem Zusammenwirken der einzelnen Beschreibungen ergibt sich der widersprüchliche Eindruck der Bilder. Mit der stilistischen Differenzierung zwischen den einzelnen Beschreibungsversuchen schließt Brentano an die von Novalis erhobene Forderung an, der romantische Roman solle »alle Gattungen des Styls in einer durch den gemeinsamen Geist verschiedentlich gebundenen Folge begreifen« (N III, 271). Dem Schwanken Marias zwischen imaginärer Ichverhärtung und Selbstaufgabe entspricht auf der formal-sprachlichen Ebene die Bewegung zwischen den beiden Polen einer konventionellen Sprache (mit tradierten Bauformen wie Sonett und Canzone) und der selbstreflexiven, am Rande der Sprachlosigkeit sich bewegenden >wilden Redewilden Rede< kulminiert. Diese kündigt das Einbrechen autobiographischer Erfahrung in die Bildbetrachtung an und löst einen Abbruch der subjektiven Erregung aus. Es stellt sich die Frage, ob das Weibliche, das sich in den Bildern manifestiert, nicht mehr als nur das willenlose Produkt männlicher Autorschaft ist, da es als Spiegel für den männlichen Narzißmus nicht taugt. Träfe dies zu, so wäre weiter zu fragen, ob es in den Bildbetrachtungen überhaupt ein männliches Subjekt und männliches Sprechen gibt, oder ob der Text nicht vielmehr in das Weibliche hinein kollabiert, während das
57
So auch Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 126. 139
Männliche im Imaginären verbleibt.58 Die >männlichen< Figuren wären dann weibliche Sprachkörper, die an einer Subjektposition nicht teilnehmen oder diese ständig verfehlen. In diesem Falle wäre zu untersuchen, ob der Text der Bildbeschreibungen überhaupt noch bedeutet, oder ob er nur Geste ist. Gerade die >wilde Rede< ist in diesem Sinne in der Forschung immer wieder als unkontrollierbar und nicht mehr bedeutungstiftend beschrieben worden. So spricht Brandstetter von einem »rauschhafte[n], phantasmatische[n] Diskurs«, der »dem Weiblichen zu-geschrieben [sie] und zugleich als (männliche) Rede an die Frau gerichtet« werde, und Janz resümiert: »die Dekonstruktion der Sprache fällt zusammen mit der Depersonalisation des Subjekts«.59 Allerdings konnte bereits nachgewiesen werden, daß die >wilde Rede< keineswegs rauschhaft und unkontrolliert ist, sondern vielmehr das Ergebnis einer kalkulierten Konstruktion darstellt. Auch anhand der Bildbeschreibungen des zweiten Romanteils läßt sich dieses konstruierte und artifizielle Moment demonstrieren. Die Vorstellung, daß die männlichen Autorfiguren lediglich Produkte der weiblichen Bilder darstellen, wird sich deshalb als vom Text selbst produziertes, männliches Fantasma erweisen. Die Gefangenschaft in einem weiblichen Areal bestimmt das Leben und Schreiben Marias im zweiten Romanteil. Es ist die Vergangenheit des Ich, die in Gestalt der weiblichen Bilder wiederkehrt und die das Ich davon abhält, ein eigenes Leben überhaupt erst anzutreten. Der zweite Teil, der eigentlich die Biographie Godwis zum Inhalt haben soll, erzählt als »Geschichte der Mutter Godwi's und ihrer Schwester« statt dessen die Vorgeschichte des Protagonisten. Die Biographie der weiblichen Figuren Annonciata und Marie hat, im Gegensatz zur Geschichte Godwis, die Gestalt einer in sich geschlossenen Erzählung. Erst gegen Ende des dreißigsten Kapitels kommen Godwi und Maria überhaupt dazu, die Geschichte des Protagonisten abrißhaft zu berichten. Während der Niederschrift ist Maria jedoch bereits todkrank. Die »Geschichte der beiden Schwestern« hat die Biographie Godwis nicht nur an das Ende des Romans, sondern auch in die Nähe des Todes gerückt. Der von den männlichen Autoren Godwi und Maria verfaßte Text erscheint vor diesem Hintergrund als ein scheiternder Befreiungsversuch: Maria stirbt, ohne zu einem eigenen Leben gekommen zu sein, und läßt Godwi in der Gefangenschaft der weiblichen Bilder zurück. Die Macht des Weiblichen und der Bilder über das Subjekt stellt Maria in einer Urszene dar. Er erzählt im vierzehnten Kapitel von der traumati58 59
Vgl. Janz, Marmorbilder, S. 381". Brandstetter, »Eines Weibes Träumen ...«, S. 218; Janz, Marmorbilder, S. 44. 140
sierenden Begegnung mit einem Bild, welches das »Urtheil Salomons über die zwei Kinder der Bulerinnen« darstellt (349). Die autobiographische Erzählung Marias überführt die aufgelöste Syntax der vorausgegangenen >wilden Rede< in eine geschlossene sprachliche Form. Der Gegenstand bleibt dabei der gleiche: das tote Leben des Sprechers wird mit einer tödlichen Frauenfigur in Verbindung gebracht. Ist es in der >wilden Rede< die Geliebte, die das Ich getötet haben soll (348), so wird diese Rolle in der folgenden Erzählung von einer »Muhme« übernommen, bei welcher der Erzähler aufwächst. Die Doppelung von »Mutter« und »Muhme«, guter und schlechter Mutter, die das Ich auch auf dem Salomon-Gemälde dargestellt findet (349), wiederholt die in der »Scene aus meinen Kinderjahren« begegnende Doppelung von steinernem Mutterbild und lebendiger Spiegelprojektion im Wasser des Teiches. Das Gemälde vom »Urtheil Salomons« bildet den Gegenstand einer traumatischen Begegnung Marias. Maria betritt den Bildersaal, »um dort, wie ich oft that, vor einem kleinen Jesusbilde zu beten« (350). Zu dem beruhigenden Anblick des Jesusbildes kommt es jedoch nicht. Statt dessen wird das Betreten des Bildersaales zu einem beängstigenden Erlebnis. Durch das >Perspectiv< des Mondlichtes entwickeln die Bilder plötzlich ein bedrohliches Scheinleben: Als ich in den Saal trat, überfiel mich eine große Angst; es waren keine Scheiben in den Fenstern, und Weinlaub über sie gezogen. Der Mond schien herein, und alle die vielen Oelgemälde schienen zu leben durch das Licht, das sich durch das Schwanken des Weinlaubs über sie bewegte.
Der optische Trick der Bildbelebung funktioniert ähnlich wie die Belebung des gläsernen Brunnens im neunten Kapitel, auch wenn das scheinhafte Leben des Brunnens das Ergebnis einer künstlichen Einrichtung ist, während die Bildbelebung im vierzehnten Kapitel spontan und zufällig geschieht. Die Beleuchtung durch das Mondlicht führt zu einem beängstigenden Gesamteindruck. Dieser bildet die Kehrseite der »wunderbare[n] Sehnsucht«, die von dem beleuchteten Brunnen ausging (320). Die Auflösung des Betrachters, die beim Anblick des Brunnens positiv als Zerrinnen in eine lebendige Umgebung gedeutet wurde, erscheint nun negativ als Tod. Dies zeigt sich sowohl in der Deutung des Salomon-Bildes als auch in dem Lied »von dem Kinde, dessen Großmutter eine Hexe war, und das Kind vergiftete« (351). Im Lied wie im Gemälde steht einer bösen, tödlichen Mutterfigur eine zweite gute, aber hilflose Mutter gegenüber. Die Bilddarstellung des Salomon-Gemäldes bezieht das Kind Maria in der Erzählung auf sich, indem er sie als Abbild seiner eigenen Lebenssituation und seines Selbstgefühls interpretiert: 141
Sieh der auf dem Throne, das ist der liebe Gott, die Frau, die die Hände ausstreckt, das ist unsre Mutter, die da so sitzt und ruhig ist, das ist die Muhme, und der Mann, der das Kind zerhaut, ist auch die Muhme, und das Kind bin ich, und das todte Kind, ach das bist du - (350)
Nicht nur die Position der Mutter ist hier doppelt besetzt, sondern auch die des Kindes: die Schwester fungiert als alter ego des Ich-Erzählers, denn in dem Lied von der >Großmutter Schlangenköchin< ist es das Kind »Maria« selbst, das von der bösen (Groß-)Mutter getötet wird (35i).6° Maria wird folglich nicht erst durch das »Zerhauen« gespalten. Vielmehr zerfallen in der Bilddarstellung der männliche und weibliche Persönlichkeitsanteil Marias in zwei Figuren, »Ich« und Schwester. Der weibliche Aspekt dieser Ich-Dissoziation ist derjenige Anteil des Ich, welcher der Tötung durch die böse Mutter anheimfällt: die Schwester ist »todt«, das Ich dagegen überlebt (353). Von dem Tod der Schwester berichtet Maria in einer Textpassage, die an die Form der >wilden Rede< anknüpft: die Interpunktion wird zunehmend durch Gedankenstriche ersetzt, die Rede ist mit Ausrufen (»ach!«) durchsetzt, der Inhalt durch »heftige Uebergänge« charakterisiert. Wie zu Anfang des Kapitels, beschreibt Maria auch hier eine Personengruppe, die als Bild vor ihm erscheint. Obwohl die übrigen Anwesenden nichts sehen können, spricht Maria wie von einem sichtbaren, graphischen Bild, das er den anderen erläutert: sehen Sie dort an der Thüre die alte Großmutter stehen, mit der Giftschale in der Hand, wie ihr die Augen aus der Pelzmütze herausstieren; und dort sehen Sie die Mutter, die weinend im Stuhle sitzt, und der kleinen Maria, die vor ihr steht, und sie liebkoset [...].
Dieses innere Bild Marias hat im Text den gleichen Status wie das Gemälde vom »Urtheil Salomons«, das den Zuhörern in der Romanwirklichkeit ebenfalls nicht graphisch vorliegt, und das Maria mit ähnlichen Formulierungen beschreibt. Die >wilde Rede< stellt den Versuch einer sprachlichen Vergegenwärtigung der Bilder dar. Diese Vergegenwärtigungsleistung geht noch über die sprachliche Realisierung hinaus, wenn Maria selbst zu einem Teil des betrachteten Bildes wird: hier sitze ich mit meiner Schwester - ich setzte mich auf die Erde, und nahm ein Küssen in die Arme - ach meine liebe Schwester, wie geht es mir so traurig - hier sprang ich auf, es riß mich wie mit den Haaren in die Höhe es war mir, als hielt ich sie lebendig in den Armen, und ach! sie ist doch todt. 60
Unter dem Titel >Großmutter Schlangenköchin< wurde das Gedicht in >Des Knaben Wunderhorn< publiziert (FBA 6, i6ff.)· 142
Die >wilde Rede< stellt also ein sprachliches Analogon des optischen >Perspectivs< dar: sie bildet das Relais zur Verbindung graphischer und innerer Bilder mit der Wirklichkeit des Betrachters. Dabei wird der Betrachter selbst zu einem Teil des Bildes; dieses Eindringen in den betrachteten Gegenstand ist aber immer nur augenblickshaft. Die momentane Identität mit dem Betrachteten wird durch abrupte Übergänge begrenzt, welche die Scheinhaftigkeit des Identitätserlebnisses bloßstellen. Der in dem Ölgemälde dargestellten Tötung durch das Weibliche steht die mortifizierte Weiblichkeit der Violettenstatue gegenüber. Daß beide Tötungsakte miteinander zusammenhängen, belegt die »Scene aus meinen Kinderjahren«, in welcher der Tod der Mutter zum »tödlichen Moment« im Leben des Ich wird. Die Abwesenheit des Mütterlichen stellt eine Bedrohung für das schreibende Subjekt dar, die auch durch die Konstruktion einer imaginären Kunstweiblichkeit nicht gebannt werden kann. Diese Bedrohung des Ich wird manifest, wenn die weiblichen Bilder nach Bewegung streben und ins Leben zurückzukehren trachten, und wenn der erzählerische Rückbezug auf die verlorenen Mütter die Geschichte des Subjekts verhindert und geradezu aus dem Text drängt. III.2.3 Die Statue der Violette Das »Verharren in der Dimension des Imaginären« hat Brandstetter als die »Grundbefindlichkeit des Poeten« (Maria) bezeichnet.01 Neben den >perspectivischen< Blick auf die weiblichen Bilder tritt dabei der Wunsch des Betrachters, selber zum Objekt der Bilder zu werden. Das Begehren Marias, die durch den Eigennamen bezeichnete personale Identität aufzugeben und statt dessen von den weiblichen Bildern gedichtet zu werden, ist besonders für die Begegnung mit der Violettenstatue konstitutiv. Die sprachliche Sukzessivität subvertiert jedoch das Streben nach einer Identität, wie sie durch die Simultaneität der Bilder repräsentiert wird. Es ist deshalb fraglich, ob der Scheinhaftigkeit und Künstlichkeit des Identitätserlebnisses eine reale Bedrohung durch das Weibliche gegenübersteht, wie Maria im vierzehnten Kapitel behauptet. Das Verhältnis von weiblichen Bildern und männlichem Text erweist sich als äußerst komplex. Dies zeigt sich wohl am deutlichsten in der Violettenepisode im fünfzehnten und sechzehnten Kapitel. Marias Betrachtung der Violettenstatue gliedert sich in mehrere Phasen, die inhaltlich und formal voneinander unterschieden sind. Es handelt sich dabei um die 61
Brandstetter, »Eines Weibes Träumen ...«, S. 220. 143
folgenden Textpassagen: die Fensterschau Marias (354 — 356), sein Eindringen in die betrachtete Landschaft mit der dadurch ausgelösten Reflexionsphase (356 — 359), die Belebung der Violettenstatue (359 — 360), Marias indikativische Kunstbeschreibung (361-362) und die das sechzehnte Kapitel abschließende Passage mit der Beschreibung der sprechenden Wunde (362 — 363). Auf diese chronologisch geordneten Einzelmomente der Bildbetrachtung Marias folgt im siebzehnten Kapitel eine poetische Bearbeitung, die nicht mehr an den Augen-Blick der Bildbetrachtung gebunden ist (364-372). Vorherrschende Tageszeit der Bildbetrachtungen im >Godwi< ist die Dämmerung oder Nacht. Die Funktion der Abenddämmerung für das steinerne Bild der Mutter wurde bereits hervorgehoben, ebenso die beängstigende Wirkung des Mondlichtes bei der Betrachtung des Salomon-Gemäldes. Die Betrachtung der Violettenstatue ist sowohl hinsichtlich der Erzählzeit als auch der erzählten Zeit die längste Bildbetrachtung des Romans. Sie ist facettenreicher als die bisher untersuchten Beispiele, auch der Wechsel der Beleuchtung (vom nächtlichen Mondlicht über die Morgendämmerung bis zum Erreichen des vollen Tageslichts) ist genauer dokumentiert als sonst im Roman. Die Violettenstatue, die Maria zunächst gar nicht genau erkennen kann, bildet im ersten Teil der Bildbetrachtung ein passives Objekt des männlichen Blicks. Es kommt zu keiner Interaktion zwischen Bild und Betrachter; vielmehr wird der voyeuristische Blick Marias durch seinen Abstand von dem betrachteten Bild strukturiert. Den Ausblick aus seinem Fenster schildert Maria wie folgt: Meine Aussicht war sehr reizend, das Fenster ging in den Garten, eine gebildete Wildniß, und mitten unter den träumenden grünen Bäumen stieg eine hohe weiße Marmorgruppe zum Himmel. Ich erkannte bald, es müsse Violettens Denkmal seyn, denn ich bemerkte über dem Ganzen einen gehobenen Arm mit einer Lyra. Der Mond stand hinter der Lyra [...]. (354f.)
Maria vermischt Darstellung und Interpretation, wenn er die Bäume als »träumend« bezeichnet oder der Marmorgruppe Aktivität zuschreibt (»stieg«). Damit setzt ein fortschreitender Prozeß der Perspektivierung, mithin Poetisierung, des betrachteten Gegenstandes ein. Diese Perspektivierung durch den Betrachter ist markiert durch die formelhafte Verwendung der Verben »es schien mir« oder »es war mir«. Der Ich-Erzähler hebt damit nicht nur die Subjektivität seiner Wahrnehmung hervor, sondern zugleich deren Unwirklichkeit und Scheinhaftigkeit, die auch durch die gehäuft auftretenden Vergleichsformeln »als« oder »als ob« unterstrichen wird. Der Betrachter Maria ist an dem Vorgang der Perspektivierung aktiv beteiligt, wenn er seinen (durch die Wirkung der Beleuchtung ausgelö144
sten) inneren Zustand auf den betrachteten Gegenstand zurückprojiziert: »der Eindruck der Aussicht verlohr bald so sehr die Gewißheit einer Ansicht, daß ich nichts mehr vom Garten, noch von mir wußte, und es war mir, als wäre ich das alles zugleich und läge in einem gelinden Traume« (355). Die perspektivische Betrachtungsweise Marias führt zu einer »Unbestimmtheit« des betrachteten Gegenstandes. Das Durcheinanderwallen des Gartens wird im folgenden mit der aus dem ersten Teil des >Godwi< bekannten Farbmetaphorik verknüpft. Die Romantisierung des Ausblicks verläuft prozessual (analog zur Bewegung des Mondes). Sie erreicht eine Klimax in der karnevalistischen Auflösungs- und Verschmelzungsfantasie Marias: Es war mir, als sähe ich auf den Markusplatz in Venedig in der Karneval, Alles strömte durch einander, und die einzelnen Farben, die unter verschiedenen Gestalten immer wieder kamen, flössen zusammen; Schatten und Licht rannen in spielender Bewegung durch einander, und kaum verfolgte ich eine Gestalt, so war sie zu hundert ändern geworden. (356)
Die Distanz von Betrachter und Betrachtetem kann aber durch die Fantasie Marias, »als wäre ich das alles zugleich«, nicht überwunden werden. Im folgenden Abschnitt erfolgt ein Paradigmenwechsel in dem Vereinigungsstreben Marias. Sein identifikatorischer Impuls richtet sich nun nicht mehr auf eine imaginäre Verschmelzung mit der betrachteten Landschaft, sondern auf eine explizit sexuelle, postödipale Vereinigung mit der Statue. Die vorher allgemein bezeichnete »hohe weiße Marmorgruppe« wird durch die Beschreibung bestimmter, erotisch konnotierter weiblicher Körperteile sexuell aufgeladen: »Ich sah mit vieler Liebe nach den kernigten Hüften, und den netten feinen Füßen, und ärgerte mich mit vieler Aufrichtigkeit, daß ich den Busen nicht sehen konnte« (355). Das steinerne Kunstwerk erweist sich jetzt als Darstellung eines weiblichen Körpers, dessen erotische Attraktivität Maria in sexuelle Erregung versetzt. Dabei wird die Wahrnehmung Marias nicht durch tatsächlich von der Statue ausgehende erotische Signale bestimmt, denn deren materielle Beschaffenheit steht einer sexuellen Vereinigung ja gerade entgegen. Ausschlaggebend für die Wirkung auf den Betrachter ist vielmehr dessen eigenes Begehren nach Sein und Identität. Die Verwirklichung solcher Verschmelzungsfantasien setzt das Eindringen des Betrachters in die romantisierte Landschaft voraus. Der Vorgang der Poetisierung beruht jedoch gerade auf der Distanz und Nicht-Identität von Betrachter und Betrachtetem. Der Versuch Marias, sich dem betrachteten Bild nun tatsächlich anzunähern, führt deshalb zu einer Abbrucherfahrung: 145
Ich stieg das Fenster hinab an dem Rebengeländer, welches die Mauer bekleidete, aber unten verliert sich alle der Reiz, der nur bey der Ansicht von oben herab mit von oben herab kömmt. Nun stand ich zwischen den Bäumen, die sich bewegt hatten, da ich nur ihre Gipfel sah, sie wurzelten fest im Boden, alles war wieder von mir getrennt, und ich war allein und einsam. (356)
Daraus erwächst eine neue Distanzierung, die nun nicht mehr durch einen »Reiz [...] von oben herab« perspektivisch überbrückbar ist. Diese Distanznahme gibt Maria Raum für eine Reflexion, die das Feststellen einer höheren (utopischen) Identität von Bild und Betrachter zum Gegenstand hat. Maria bestimmt zunächst den »Inhalt« der Statue, also die Geschichte der dargestellten Figur, die er mit dem Konzept der »freien« oder »natürlichen« Liebe assoziiert (357).02 Die »natürliche« Liebe der »Dichterinnen mit dem Leibe« verweist auf eine Dichtung, die sich keinen sozialen und ökonomischen Zwängen beugt: »Warum sind die Dichter verstoßen von der Gesellschaft? bis sie die Gesellschaft mit ihrem Gesänge zwingen, sie zu ernähren«. Der männliche Dichter hat dasselbe Ziel wie die »Dichterinnen mit dem Leibe«, nämlich das Herstellen einer utopischen Ganzheit, die Maria in Abgrenzung von der mangelhaften Gegenwart beschreibt: »wir werden gesund seyn, wenn wir unsere Organisation nicht mehr fühlen, wir werden einen Staat haben, wenn sich die Gesetze selbst aufheben, wir werden eine Liebe haben, wenn wir keine Ehe mehr kennen« (359).63 Die Analogie von »freier Liebe« und Poesie begegnet bereits in dem poetologischen Brief Molly Hodefields im ersten Romanteil. Molly macht deutlich, daß das Konzept der freien Liebe nicht mit der »Geschlechtsliebe« identisch ist, sondern daß die zweitere nur ein unvollkommenes Bild der ersteren darstellt. Während die Geschlechtsliebe als eine Form von »Vereinzlung« oder Individuation bestimmt wird, stellt die freie Liebe ein Moment von Verallgemeinerung dar, indem sie »die Gottheit in schönen Kunstwerken aus[spricht]« (109). Poetische und erotische Ganzheitsvorstellungen werden in Mollys Brief zu einem einheitlichen Bereich zusammengeschlossen, der mit der Kategorie des Weiblichen verbunden 62
63
Die »freie Liebe« kann nicht einfach auf ein ungezügeltes Ausleben der Sexualität oder aber auf das Konzept der »Dirnenliebe« reduziert werden, wie vor allem Horst Meixner es tut (Denkstein und Bildersaal, S. 449). Vgl. dagegen jedoch Reifenberg, Die »schöne Ordnung«, S. 151. Die gedankliche Anlehnung an das sogenannte »älteste Systemprogramm« belegt, daß Maria der Idee einer Neuen Mythologie näher steht, als er selber wahrhaben will. Maria erklärt: »die, welche von einer sogenannten neuen hervorzuführenden [Mythologie] sprechen, prophezeien eine Bildung, die wir nicht erleben« (380). Damit thematisiert er die eigene Poesie-Utopie. 146
wird. Diese Verbindung sieht Molly in der Person Kordelias verwirklicht. Für das Schaffen einer Poesie-Utopie nennt Molly als Voraussetzung vor allem »Unwissenheit«, also Bewußtlosigkeit: Wenig Schöne sind mehr in der Welt, die durch Unwissenheit sich schuldlos fühlen, die das Verlerne nicht suchen, weil sie es nicht vermissen, indem die freie Liebe, die Mutter aller Kunst, in ihnen wohnt. Wie reine Wesen erblicken sie den Spiegel, in dem sie sich spiegeln, und tragen aus der Welt mit ihrem eignen Bilde die Welt in sich zurück. Sie durchströmt das Leben, das sie selbst durchströmen, und das Schaffen, das sie mit dem Ganzen in sich aufnahmen, schafft unwillkürlich wieder in ihnen.
Ein solches bewußtloses Schaffen schriebt Maria der Violetten-Statue zu. Dabei dient das Konzept der »freien Liebe« oder der »freien Weiber« (358) dazu, Sexualität und Poesie miteinander konzeptuell zu verbinden. Ähnlich wie die Poesie-Utopie des >GodwiPerspectiv< für das weibliche Kunstwerk dar. Vor mir ward das Bild gleichsam geboren. Ich sah es in der Nacht wie in Liebe und Traum, im Mondlicht wie mit dem Begehren, erschaffen zu werden, in des 64
Brandstetter, »Eines Weibes Träumen ...«, S. 218. 147
Morgens Dämmerung wie in der Ahndung des Künstlers, mehr und mehr in den Begriff tretend, und ich stand vor ihm und sah, wie es hervor drang mehr und mehr in die Wirklichkeit, und endlich zum vollendeten Werke ward im Glänze der Sonne, getrennt von dem Schöpfer, der nur ein Gebährer ist, für sich selbst, mit allen Rechten seiner Gattung. (359f.)
Während die Statue der Violette mit dem »Begehren, erschaffen zu werden« Merkmale von Subjektivität ausbildet, schlüpft der Betrachter Maria als »Gebährer« in eine weibliche Rolle. Diese Phase der Bildbetrachtung illustriert die These des >RomantikgesprächsGeburt< der Statue als eine männliche Zuschreibung erkennbar machen. Insbesondere die gehäufte Verwendung des Modalpartikels »wie« weist die weibliche Selbstschöpfung als eine Fantasie des Betrachters aus. Die dem Kunstwerk zugeschriebene Aktivität geht in Wahrheit von Maria aus, der sich den betrachteten weiblichen Körper mit Blicken aneignet (»Ich sah es ... ich stand vor ihm und sah«). Wird die Belebung der Statue zunächst sprachlich irrealisiert, so findet in der nun folgenden Phase der Bildbetrachtung ein Wechsel in den Indikativ statt. Während die Selbstschöpfung des Bildes als männliche Fantasie erkennbar wurde, bildet die vollendete Statue anscheinend doch noch Merkmale von Subjektivität aus: das Bild »begehrte mit Gewalt, daß ich es erkenne, und ich fühlte mit Freude in meiner Brust, daß ich es erkannte, und daß es und ich in der Dunkelheit sein Begehren war, und daß sein Erlangen mit dem Lichte kam, in mir und in ihm« (360). Die Kunstbetrachtung wird in die Fantasie einer sexuellen Vereinigung mit dem Bild verwandelt. Dabei findet ein Rollentausch statt - das weibliche Bild penetriert den männlichen Betrachter: »Da ich von seinem Ausdruck durchdrungen war, da ich es in mich aufgenommen hatte mit seinem Willen«. Diese Verschmelzung mit dem Bild wirkt nicht bedrohlich, sondern befriedigend auf den Betrachter, denn die der Statue zugeschriebene Gewalt geht in Wahrheit von Maria selbst aus. Durch die Verbindung mit dem Konzept der Transsubstantiation wird die steinerne Statue mit Bedeutung aufgeladen und geradezu überdeterminiert: opfern wollte ich sie [Violette, S. H.] emporgehoben, wie der Priester opfert; die ganze Natur würde niederknieen und ans Herz schlagen, wie das Volk, und hätte sie gesprochen, wie der göttliche sprach - nimm hin, das ist mein Leib 148
o wie sollte sie unter meinen glühenden Küssen in mich selbst zerrinnen, und ich in sie. (356)
Die Transsubstantiationsmetapher evoziert sowohl Tötungs- und Vergewaltigungsfantasien als auch die Vorstellung einer Wiederbelebung des steinernen Körpers, der durch die Transsubstantiation in Fleisch und Blut zurückverwandelt würde.05 Auch wenn es sich dabei nur um eine Fantasie Marias handelt, wird die Statue durch diese Ambivalenz zu einer Bedrohung für das betrachtende Subjekt, denn der ruhelose Zustand des Bildes zwischen Tod und Leben reflektiert die Entstehungsbedingung des Kunstwerks, nämlich den Tod der Frau. Die Bedeutungsüberfrachtung der weiblichen Bilder steht dabei in deutlichem Kontrast zu dem leeren, »mechanischen« Erzählen Marias. Die Violetten-Statue erhebt folglich einen Anspruch an den männlichen Text, der sich gegen die sprachliche Formulierung sperrt und der deshalb nur metaphorisch und indirekt wiedergegeben werden kann. An den weiblichen Bildern kristallisiert sich die Sprachskepsis des Romans, so daß die Ambivalenz des Weiblichen, die doch erst eine Konstruktion des männlichen Textes darstellt, als Ursache des sprachlichen Ungenügens erscheint. Die bisher untersuchten Beschreibungsversuche Marias belegen, »daß das Objekt des Begehrens niemals real, sondern ein Symptom der Phantasie des Liebenden ist«, und »daß der betrachtete weibliche Körper die Macht des männlichen Blicks bestätigen soll«.66 Das Begehren Marias richtet sich auf ein Wahrgenommenwerden durch das Weibliche. Die weiblichen Bilder des zweiten Romanteils können diese Sehnsucht des Betrachters jedoch nicht befriedigen, vielmehr verweisen sie durch ihre materiellen und formalen Eigenschaften ständig auf den Mangel des Subjekts. Der Betrachter ist deshalb selbst »wie eine kalte Bildsäule« (107). Die Zuwendung des Bildes zu Maria stellt eine imaginäre Zuschreibung des Betrachters dar. Dieser befriedigenden Fantasie steht eine höchst bedrohliche Erfahrung bei der Bildbetrachtung gegenüber: die Überwältigung Marias durch eine »sprechende Wunde« der Statuengruppe. Während in den vorausgegangenen Phasen der Bildbeschreibung allein der perspektivische Eindruck des Betrachters dargestellt wurde, versucht Maria in der nun folgenden, vierten Phase (361 f.), das betrachtete Denkmal selbst in eine sprachliche Form zu übersetzen. Maria sieht sich bei seiner Kunstbeschreibung gezwungen, den eigenen Blick (das »Romanti65
66
Auf den »implizite[n] Katholizismus der brentanoschen Sinnlichkeit« hat Wetzel hingewiesen (Allegorien des männlichen Begehrens, S. 153). Bronfen, Nur über ihre Leiche, S. 151. 149
sehe«) ständig mit darzustellen. Dadurch wird die »Gruppe auf dem Würfel« in zahlreiche Einzelperspektiven zerlegt, aus denen kein Gesamteindruck mehr herstellbar ist. Die Bildwahrnehmung folgt zudem einer interpretatorischen Vorannahme: Maria erklärt, daß die »vier Seiten des Piedestals [...] allegorisch Violettes Geschichte enthielten«, und daß die eigentliche Statuengruppe »ihre Apotheose selbst, ihr[en] Tod im Wahnsinne« darstelle (36of.). Die Reliefs auf dem Piedestal werden jedoch überhaupt nicht beschrieben, sondern es wird nur ihre allegorische Deutung mitgeteilt.67 Dabei geht Maria davon aus, daß auf den Reliefs eine Entwicklung Violettes (deren Biographie er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kennt) dargestellt ist, die in der Statuengruppe auf dem Würfel kulminiert. Der Statuengruppe wird damit eine quasi sprachliche Sukzessivität zugesprochen, die eine Überführung in das Medium des Textes ermöglichen soll. Die allegorische Deutung folgt also dem Interesse Marias, die semantische Differenz zwischen sprachlicher und nichtsprachlicher Kunst aufzuheben. Die Sukzession wird jedoch erst durch den Betrachter hergestellt, der seine einzelnen Perspektiven bei der Betrachtung in eine lineare Abfolge bringt. Die Elemente der Statuengruppe bestehen dagegen simultan nebeneinander. Während die Reliefs von Maria als Allegorien mit einem eindeutigen Denotat bestimmt werden, erscheint die Statuengruppe auf dem Würfel ambivalent. Ihre Beschreibung gliedert sich in nur sieben, immer länger werdende Sätze.68 Bei seiner Bildbeschreibung hat Maria nicht nur mit dem semiologischen Problem der Übersetzung von bildlicher Simultaneität in sprachliche Sukzessivität zu kämpfen, sondern auch mit dem subjekttheoretischen Problem der Bildwahrnehmung: nicht erst die sprachliche Sukzession, sondern schon der zerstückelnde Blick des Betrachters löst die behauptete Einheit der Statuengruppe auf. Die sukzessive Wahrnehmung Marias ist folglich bereits sprachlich strukturiert, und Sprache und Text stellen eine unhintergehbare Barriere für sein Streben 67
68
Das ist häufig von der Forschung übersehen worden, so daß die Perspektive Marias für eine detailgetreue Beschreibung der Bilder gehalten wurde. Aus der allegorischen Deutung Marias wurde dabei geschlossen, die Bilder seien tatsächlich Allegorien. Vgl. etwa Wetzel, Allegorien des männlichen Begehrens, S. 152: »Die Bilder auf Violettes Grabmal sind Allegorien, in denen sich die Konkretion des mädchenhaften Begehrens mit sinnbildlichen Abstraktionen mischt«. Marias im Roman explizit thematisierte Unzuverlässigkeit als Erzähler macht es dem Leser jedoch unmöglich, einzuschätzen, bis zu welchem Grad die Statuenbeschreibung der romaninternen Realität der Statuengruppe entspricht (wenn von einer solchen überhaupt die Rede sein kann). Nicht fünf, wie Scharnowski annimmt (Ein wildes gestaltloses Lied, S. 166). Scharnowski hat beim Zitieren einfach um zwei Sätze gekürzt.
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nach Identität und Simultaneität dar. Die weiblichen Bilder bleiben deshalb auf ihren Status als männliche Spiegelprojektionen beschränkt. In Gestalt der unauflösbaren Ambivalenz des Weiblichen dringt das Andere als bedrohlich-Reales allerdings doch noch in den Text ein. Diese Ambivalenz spielt in der Beschreibung der Violettenstatue eine zentrale Rolle. Sie führt dazu, daß alle graphisch-plastischen Rekonstruktionsversuche der Statuengruppe scheitern müssen. Die Verben- und Partizipialhäufungen der Bildbeschreibung verbinden immer wieder entgegengesetzte Bewegungsrichtungen. So wird Violette etwa im zweiten Satz als »halb ringend, halb schwebend und mit Schwere kämpfend« beschrieben (361). Damit wird die männliche Perspektive offengelegt: der auf das Weibliche gerichtete Blick wird dynamisiert und dadurch partiell aufgelöst. Auf stilistischformaler Ebene äußert sich die Ambivalenz der Statuengruppe im Unsicherwerden der syntaktischen und semantischen Beziehungen zwischen den einzelnen Satzgliedern, am stärksten im sechsten (längsten) Satz der Beschreibung: Von der Seite des Genius sieht man den Unterleib Violettens, um den sich das Gewand noch gierig anschmiegt, ihren Busen und den schmerzlich liebenden Zug ihres Gesichts, den der Tod nicht ganz besiegt, und der Wahnsinn wie ein letzter heftiger Reiz noch einmal ins Leben zu wecken scheint, sieht man von der einen Seite genug, damit das Bild seinem Sinn genüge; denn der ganze schöne Leib Violettens ist durch den einen schwebenden Fuß, und den Zug der Hand des Genius in ihren Haaren auf ihrem ändern schwer an die Erde gebannten Fuße gewendet.
Unsicher ist insbesondere, welche syntaktische und semantische Beziehung der Teilsatz »sieht man von der einen Seite genug« zum Vorigen hat: ist es der »schmerzlich liebende Zug ihres Gesichts«, den man »von der einen Seite genug« sieht, oder sieht man genug, »damit das Bild seinem Sinn genüge«? Zudem bleibt der behauptete »Sinn« des Bildes enigmatisch; ebenso ist fraglich, wieso das Bild diesem Sinn »genügt«. Auch die Funktion des folgenden »denn« bleibt mit einer Unklarheit behaftet. Daß das Andere des Textes nur in Form einer Ambivalenz, eines Rätsels darstellbar ist, dokumentiert auch die »Wunde, die dem Ganzen Einheit giebt« (362). Aus der Formulierung »erschließt sich gleichsam« geht eindeutig hervor, daß der Begriff der Wunde metaphorisch (und nicht im Sinne der realistischen Abbildung einer Wunde der Violette) zu verstehen ist: In der Mitte des Bildes, wo sich die Hand in die Locken windet, stirbt seine Wollust und Liebe, die mit dem Mädchen heraufdrang, und löst sich sein Stolz und seine Hoheit, die vom Haupte des schwebenden Genius nieder wallet, und erschließt sich gleichsam eine Wunde, die dem Ganzen Einheit giebt, und in der sich beide schön durchdringen [...].
Der Rätselcharakter dieser Passage verweigert sich einer logischen Auflösung. Deutlich wird dennoch, daß die »Wunde« sich aus der Betrachtung der Statuengruppe als ganzer ergibt, daß sie also eine Gegenposition zur bisherigen, zerstückelten Betrachtungsweise bezeichnet.69 Damit erhält die Wunde utopischen Charakter: sie bezeichnet etwas, das anders (noch) nicht gesagt werden kann, nämlich die Einheit von Weiblichkeit (Violette), Tod und Poesie (Genius). Auf die Beschreibung des Bildes folgt ein erneuter Versprachlichungsversuch, der sich von den bisherigen radikal unterscheidet. Maria nimmt keinen direkten Bezug mehr auf die Situation der Bildbetrachtung, sondern versucht in einem einzigen, über eine Seite langen Satz, des Bildeindrucks als ganzem habhaft zu werden. Damit wird das Bemühen dargestellt, den »Sinn« der Statue, ihre »Wunde«, sprachlich auszudrücken, ohne daß der Sinn selbst zur Darstellung gelangen würde. Schon dies Bemühen ist durch die konjunktivische Einleitung jedoch von vornherein irrealisiert und als ein hypothetisches Sprechen ausgewiesen: »Wenn ich sagen wollte, wo man das Bild im Leben fände, so würde ich sagen«. Durch die Verwendung von Neologismen (»Liebeheischenden«), die Bevorzugung dunkler Vokale (»durch wunderbare kunstreiche«) und die Häufung von Assonanzen (»traulicher Lauben«) tritt im folgenden die Poetizität der Sprache in den Vordergrund. Der Text wird immer stärker durchrhythmisiert, und die lyrische Tendenz durch das Auftreten von Endreimen noch unterstrichen (»Hand«/»Widerstand«, »Mitte«/»Sitte«, »Lust«/»Brust«). Diese zunehmende Poetisierung führt dazu, daß der klangliche Eigenwert der Sprache gegenüber ihrer kognitiven und kommunikativen Funktion eine deutliche Aufwertung erfährt. In der Rede Marias werden Sprache und Sprechen in einen ohnmächtigen und obsessiven Voyeurismus transformiert: wenn sich dann in allen deinen Gliedern das Leben regt, und alle Natur ein Bündniß schließt in deines Herzens Mitte gegen die Tyrannei der Furcht der Sitte und der Unerfahrenheit, und wenn du dann mit kühner Hand das Tuch, das dich so von der Liebe trennen will, verachtend, schüchtern, doch gelinde von den Füßen aufwärts ziehst, und immer höher in Seligkeit die lustbethränten Augen gleiten [...].
Dabei kollabiert die (Distanz schaffende) Sprache in ein Einverleiben, in die Begierde nach Identität. Die Aufwertung des akustischen Aspekts der 69
Dagegen geht Wetzel davon aus, daß in der Statuengruppe tatsächlich eine Wunde abgebildet ist, und deutet diese als »fetischistische Verschiebung des sexuellen Organgeschehens vom Genitalen zur Herzregion« in Anlehnung an Berninis Plastik der hl. Teresa I52
Sprache steht in Zusammenhang mit der romantischen Erwartung, in der Poesie könne die Entfremdung des Subjekts von seiner Umwelt aufgehoben werden. Die Poetizität des Textes erhält damit die Funktion, die Distanz von sprachlichem Zeichen (dem literarischen Text) und dessen Referent (dem in der Romanwirklichkeit betrachteten Bild) zu überbrücken und aufzuheben. Wie schon im ersten Romanteil, soll dabei Unmittelbarkeit das Ziel einer hochartifiziellen (also höchst mittelbaren) Darstellung sein. Anders als in den Briefen Godwis vom Reinhardstein, wird die Vereinigung mit der weiblichen Natur hier jedoch nicht einfach behauptet; vielmehr wird die Konstruktion des männlichen Blicks in schockierender Drastik aufgedeckt. Die hypothetische Schilderung dient zunächst der Darstellung des männlichen Begehrens nach Einheit und Identität. Das angeredete »du« bewegt sich durch eine vorgängig romantisierte Landschaft: das Stichwort »traulich« bezeichnet bereits ein identifikatorisches Moment; Ich und Welt sind einander nicht fremd, sondern vertraut. Das schlafende »Weib« ist Teil dieser vertrauten Umgebung. Die angestrebte Vereinigung von »du« und »Weib« wird jedoch unterbrochen, wenn das Weibliche sich in einem Akt plötzlicher Erkenntnis als das gänzlich Andere entpuppt: und wenn das geschürzte Gewand das würdevolle Haupt schon längst bedeckt, den Busen du befreien willst, um hinzugehn in aller Freiheit in die Lust, wenn dann die schöne holde Brust — — - - mit einer offenen Wunde blut'gen Lippen zu dir spricht, was dir des Hauptes Würde nicht, und nicht des Schooßes heimliches Vertrauen sagte, wenn alle deine Lust in diese Wunde, wie in ihr Grab dann sinkt [...]. (363)
Die sprechende Wunde vereinigt die Funktionen von Mund (»des Hauptes Würde«) und Vagina (»des Schooßes heimliches Vertrauen«) in sich, ist aber zwischen beiden Körperöffnungen lokalisiert und führt so zu einem Oszillieren. In dieser Mund-Wunde, die aus dem Literalnehmen der Paronomasie >Wunde/Munde< resultiert, konstruiert der Erzähler einen imaginären Ort der Begründung der Rede.70 Zugleich läßt die Rede Marias jedoch die Frage offen, ob das Weibliche sich dem Betrachter in der Wunde entzieht und verweigert, oder ob die sprechende Wunde nicht erst durch den zerstückelten Blick des Subjekts konstruiert wird. Die Betrachtung der Wunde ist deshalb eine paradoxe Erfahrung. Die ambivalente Position der Wunde wirkt auf das Subjekt zurück; Selbstbehauptung und Identitätsverlust des »du« stehen in einem spannungsvollen Widerstreit:
70
von Avila in Sta. Maria della Vittoria in Rom (Allegorien des männlichen Begehrens, S. 153). Vgl. Menke, Prosopopoiia, S. 522ff.
153
und [wenn du] von der schmerzenvollen Wunde aufwärtsblickst, hin nach dem Haupte, Gebet zu holen, und nieder über des süßen Leibes Zaubereien, mit dem Traume der irdischen Wonne deinen Schmerz zu lindern, wie in der Erinnerung des schönen Lebens die Trauer um den Tod sich mildert, und wenn du ewig zu der Wunde wieder hin mußt [...].
Immer wieder ist in der Forschungsliteratur über die Bedeutung der sprechenden Wunde spekuliert worden. Janz interpretiert sie als Begründung einer »poetische[n] Sprache, die sich selbst als blutende Wunde versteht«, und wiederholt damit im wesentlichen die enigmatische Aussage des Textes.71 Reifenberg deutet die Wunde als widersprüchliche Einheit, »Ort der Poesie« ebenso wie »Ort des Todes«. Sie sei deshalb »die Wunde dessen, der sie sieht und von ihr spricht«.72 Auch Scharnowski geht davon aus, daß die sprechende Wunde eine Funktion des männlichen Textes, und nicht der von diesem verfehlten Weiblichkeit darstellt: »Indem der teilnehmende Beobachter Maria an Violettes Bild das keineswegs wirklich dargestellte Element der Wunde mehr ahnend interpretiert als tatsächlich sieht, wird er der Statue und zugleich Violettes Biographie gerecht.«73 Entscheidend für das Verständnis der sprechenden Wunde ist offenbar die Frage, wer denn verwundet ist, männlicher Sprecher oder weibliches Bild. Um diese Frage beantworten zu können, muß geklärt werden, ob das Weibliche auf die poetologische Funktion beschränkt werden kann - dann wäre die Wunde tatsächlich eine des Sprechers — oder ob diese Funktionalisierung in der untersuchten Passage transzendiert wird.74 Die Rede Marias soll »des Bildes Eindruck« sprachlich formulieren und so dem Leser mitteilbar machen (363). Dieser Eindruck beruht auf der Disposition des Betrachters Maria. Wie schon typographisch anhand der Gedankenstriche erkennbar wird, verweigert sich der Eindruck des Betrachters jedoch der Übertragung in die Sprache. Die elliptische Formulierung des letzten Satzes verrät deshalb gerade nicht, »was du dich vom Bilde wendend fühlest«. Der weibliche Körper markiert hier die Grenze des Sagbaren, die er mit seiner sprechenden Wunde zugleich auf das Unsagbare hin durchlässig macht. Allerdings kann der Text den letzten Schritt in die Wunde nicht vollziehen, und die Gedankenstriche stellen dieses Zurückweichen vor der Regression in die semiotische Sprachlo71 72 73 74
Janz, Marmorbilder, S. 45. Reifenberg, Die »schöne Ordnung«, S. 165. Scharnowski, Ein wildes gestaltloses Lied, S. 169. Gegen die erstere Annahme spricht bereits der schockierende Charakter der beschriebenen Szene, die von MacLeod als »violent rape scene« gedeutet wird (Sculpture and the Wounds of Language, S. 191). Diesen Aspekt blenden fast alle anderen Interpretationen aus.
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sigkeit graphisch dar. Da die Wunde kein realistisches Element der Statuengruppe bildet, sondern allein auf der Perspektivierung durch den Betrachter beruht, ist anzunehmen, daß sie eine Funktion innerhalb der imaginären Weiblichkeitskonstruktion des männlichen Textes darstellt. Fraglich ist jedoch, ob sie in dieser Funktion auch aufgeht. Obwohl der Text eine hochartifizielle Konstruktion darstellt, scheint sich darin nämlich eine tatsächliche Bedrohung durch das Weibliche auszudrücken. Andererseits ist selbst der Abbruch des Textes ein Element der poetischen Konstruktion und die sich darin ausdrückende Bedrohung also wiederum eine männliche Zuschreibung. Nun wird die konstruierte »Verwirrung« des >Godwi< von den Figuren in der Romanwirklichkeit allerdings nicht als ein ästhetisches Gelingen bewertet, sondern als ein Verfehlen von Wahrheit und Totalität. Die weiblichen Bilder stehen zwar als positive Zeichen für die verfehlte Ganzheit ein, verweisen dadurch jedoch ständig auf die Unzulänglichkeit des sprachlichen Mediums. Das sich entziehende Ganze ist durch die sprachliche Insuffizienz nur als Wunde und Verwundung (des Textes wie seiner Autoren) darstellbar. Insofern der Text ein unvollständiger und Versehrter ist, ist die Wunde eine Eigenschaft des männlichen Betrachters. In seinen Briefen hat Brentano Schreiben und Text immer wieder als ein versehrtes, aber auch als ein den Autor versehrendes Medium der Selbstaussage bestimmt. Wie der fiktive Autor Maria, äußert auch der Briefeschreiber Brentano »die Empfindung in einer leeren, langweiligen Zeit, sich selbst parforce in Gedichte auflößen zu müßen, um den Undankbaren Laien ihre Feiertage zu decoriren« (FBA 31, 175). Die Idee des Gedichtetwerdens verlegt die Verantwortung für das Schreiben auf eine höhere Ebene; der Autor wird auf ein Moment des Textes reduziert und kann für dessen Mittelbarkeit nicht mehr verantwortlich gemacht werden. Die Mittelbarkeit wird selbst zu einem Qualitätsmerkmal, wenn sie ex negative auf eine übergeordnete Instanz verweist, die als weiblich gedacht wird. So schreibt Brentano in einem Brief an Mereau, daß »ich nur als Stoff eines Gedichts und nicht als Dichter je vortrefflich sein werde« (FBA 31, 12). Insofern die höhere Identität von Dichtung und Weiblichkeit über das Konzept der »freien Liebe« hergestellt werden kann, ist der Dichter selbst eine Violette. In einem Brief an Savigny heißt es: »Ich habe eine Hoffnung, es ist auf den unglücklichen Bruder der Poesie, auf den Wahnsinn, die Poesie, kann mir mit all ihren Reizen, nie geben, waß ich gelebt habe« (FBA 29, 228). Aus der Reliefdarstellung der Geschichte der Violette folgert Maria ganz analog, daß »sie in der Umarmung ihres Genius die Poesie nur noch im Wahnsinne erringt« (FBA 16, 361). Die weibliche Poesie ist hier im Ge155
gensatz zum männlichen Schreiben mit dem Begriff »Wahnsinn« bezeichnet. Nur in einer paradoxen, »wahnsinnigen« Poesie kann das Dilemma der Autorschaft gelöst werden, »eine >poetische Existenz< zu führen im Schreiben von Texten und ihrem Widerruf zugleich«.75 Die Sonette und Canzonen des siebzehnten Kapitels scheinen diesem Konzept einer >wahnsinnigen< Poesie zunächst zu widersprechen. Das Prinzip der »Verwirrung« ist hier ausgeschaltet; ja die Gedichte stellen nach Ansicht des Lesers Godwi eine explizite Gegenposition zu diesem Konstruktionsprinzip dar: »Sie scheinen mir das Verwirrteste entwirren zu können. Sie haben Violettens Leben so treu in einer bloßen Darstellung ihres Grabmahls geschildert« (374). Die Sonettform scheint aufgrund ihrer formalen Geschlossenheit in höherem Maße geeignet für eine sprachliche Umsetzung der Bildbetrachtungen als die digressiven Prosabeschreibungen. Die Kürze und Prägnanz des Sonetts ermöglicht es nämlich, jenen Eindruck von Unmittelbarkeit zu erzeugen, den die Autorfiguren im >Godwi< anstreben. Das Spiel mit den Vermittlungsebenen fällt im siebzehnten Kapitel weg, an seine Stelle tritt eine scheinbar objektivierte Beschreibung der Reliefs auf dem Piedestal der Violettenstatue. Das perspektivierende Ich des Betrachters bleibt den Sonetten äußerlich, es findet keine direkte Erwähnung. In der auf die Sonette folgenden Canzon zeigt sich jedoch, daß auch die lyrischen Bildbeschreibungen durch das Begehren des Betrachters strukturiert sind. Der durch die Sonettform erweckte Eindruck von Unmittelbarkeit wird besonders im ersten Teil der Canzon (»Gebet«, 368) durchbrochen. Auch der Gedichtzyklus folgt also dem Schema von Schaffen und Vernichten. Das siebzehnte Kapitel ist insbesondere von der neueren Forschung kaum berücksichtigt worden.70 Während Meixner, der die übrigen Versprachlichungsversuche Marias wegen ihrer angeblichen Rauschhaftigkeit und Verwirrung und wegen ihres Inhalts als »Apotheose einer Dirne« kritisiert, die Sonette und Canzonen ihrer konventionellen, geschlossenen Form wegen aufgewertet hat, gehen gerade diejenigen Arbeiten, die auf die planvolle Konstruktion der angeblich »verwilderten« Bildbetrachtungen hinweisen, durchweg nicht auf die Rolle des siebzehnten Kapitels ein.77 Da der Lyrikzyklus jedoch ein Moment des inszenierten Wechselspiels von Textproduktion und -destruktion darstellt, kann eine Untersuchung zu den Bildbetrachtungen im >Godwi< auf die Interpretation des siebzehnten Kapitels nicht verzichten. 75 76 77
Brandstetter, »Eines Weibes Träumen ...«, S. 217. Vgl. zuletzt Matthias, Kontextprobleme. Meixner, Denkstein und Bildersaal, S. 449. I56
Wie bereits in der vierten Phase der Bildbeschreibung, werden im Gedichtzyklus zunächst die vier Reliefs auf dem Statuensockel behandelt, und zwar in Sonettform.78 Der konventionellen Form korrespondieren die scheinbar objektiven Beschreibungen der Reliefs, in denen der »Eindruck« des Betrachters keine Rolle spielt. Die Bilddarstellungen werden jeweils als angehaltener Moment einer kontinuierlichen Entwicklung der Violette gewertet und in ein lineares Zeitverhältnis gestellt. Jedoch kann zwischen der Beschreibung des Bildinhaltes und dessen allegorischer Deutung nicht durchgängig klar geschieden werden, denn die Beschreibung ist bereits durch die allegorische Deutung des Betrachters strukturiert. Dies zeigt sich etwa darin, daß den Figuren (insbesondere der Violette) Emotionen unterstellt werden, welche die dargestellten Handlungen motivieren.79 Die Wirkung der Bilder auf den Betrachter wird zwar nicht offen thematisiert, durch Adjektive aber dennoch in die Beschreibung integriert; so, wenn die »Geberde« Violettes im dritten Sonett als »reizend[]HerzHerz< spricht, dann meint er den Körperteil, der in Emphatik explodieren könnte [. ..].35
Der emphatischen Aufgeladenheit des »Herzens« steht im Lied dessen vorgebliche Klarheit und Reinheit gegenüber. Diese entspricht der des Spinnens selbst, dessen Zweck darin besteht, aus einem wirren, ungeordneten Wollballen einen einzelnen, »klaren, reinen« Faden herzustellen. Spinnen wird im Lied als ordnende Tätigkeit mit symbolischem Gehalt aufgefaßt. Die immer wieder beschworene Klarheit und Reinheit fehlt jedoch in der Liedform selbst, die ja nicht an die Linearität eines Fadens, sonder vielmehr an die Zyklizität des Spinnrades angelehnt ist. Es ist deshalb zu vermuten, daß auch das »Herz« der Sängerin keineswegs »klar und rein« ist. Eben deshalb muß die im Lied behauptete Folgerichtigkeit der triadischen Zeitfolge von vergangener Einheit der Liebenden, Trennung in der Gegenwart und zukünftiger Wiedervereinigung auf einer höheren Stufe (in Gott) bezweifelt werden. Die eigentliche Motivation des Liedes wäre demnach in einer Sehnsucht der Sängerin zu vermuten, die sich für ihre mangelhafte Gegenwart Kompensate in Vergangenheit und Zukunft konstruiert, ohne selbst wirklich an deren Realität zu glauben. Diese Interpretation läßt sich anhand des Liedschlusses untermauern. Der letzte Vers der vierten Strophe bildet mit der Anrufung Gottes einen möglichen Liedschluß. Die Sängerin hat die wesentlichen Aspekte ihres Themas benannt und wird dem Formulierungsrepertoire des Liedes in den noch folgenden zwei Strophen keine neue Phrase hinzufügen. Die Berufung auf Gott, als einzig mögliche Hoffnung in der Trennung von dem Geliebten, scheint ein geeigneter Endpunkt für die Gedanken der Sängerin. Doch das Lied fährt mechanisch fort. Die fünfte und sechste Strophe, die das bereits Gesagte nurmehr neu kombinieren, haben die musikalische Funktion einer Coda, oder der Durchführung in der Sonatenhauptsatzform, auf die hier jedoch keine Reprise folgt. Dieses Nichtenden-können stellt die behauptete Versöhnung durch Gott in Frage. Stärker als die ersten vier Strophen verdeutlichen die beiden letzten, daß Trauer und Einsamkeit die Bedingung des Selbstverhältnisses der Sängerin sind, nicht die Folge ihres Lebensschicksals. Sie sind sogar die Conditio der menschlichen Existenz überhaupt, ein das menschliche Leben »stets« begleitender Nachtigallengesang: »Seit du von mir gefahren / Singt stets die Nachtigall« (97). Das Lied endet deshalb nicht mit dem Ausdruck der
35
Bohrer, Der romantische Brief, S. 74. 203
Hoffnung auf Gott, sondern die Sängerin bleibt allein mit sich: »Ich sing und mögte weinen«. Dieser Liedschluß bildet nicht nur ein wichtiges Indiz dafür, daß die Religiosität der >Chronica< keine neuen Möglichkeiten zur Überwindung der Ich-Problematik bietet. Er stellt auch eine zentrale poetologische Aussage dar. Daß es sich bei »Der Spinnerin Lied« um ein poetologisches Gedicht handelt, ist in der neueren Forschung unumstritten. Fraglich ist jedoch die Interpretation des Liedes. Brandstetter nennt als wichtigste poetische Motive des Liedes »zum einen das Bild der Nachtigall - als Symbol für die Stimme des Dichters; zum anderen das Motiv des Spinnens, als Zeichen für das Gewebe, für die Schreibspur des Textes«.30 Dabei übersieht sie, daß das Spinnen - im Gegensatz zum Weben — als poetologische Metapher doppeldeutig ist und einerseits die Verfertigung von Schrift, andererseits jedoch eine schriftlose, zyklische weibliche Sphäre bezeichnet. Beide Assoziationen sind für »Der Spinnerin Lied« von gleicher Relevanz. Denn einerseits geht es ja um den schriftlosen, als spontan und authentisch präsentierten Liedvortrag der Mutter. Andererseits jedoch wird das Lied nur in der schriftlichen Vermittlung durch die Chronik des Johannes mitgeteilt. Insbesondere die musikalische Komponente geht in diesem Vermittlungsprozeß verloren. Die Schriftform ist deshalb gegenüber dem mündlichen Original defizitär. Ebenso steht das Motiv der Nachtigall nicht allein für die Stimme des Dichters, sondern repräsentiert daneben eine weibliche Stimme, derer der männliche Dichter schriftlich nicht habhaft werden kann. Das Nachtigallenmotiv stellt einen intertextuellen Verweis auf den Philomele-Mythos dar. Philomele, die von ihrem Schwager Tereus vergewaltigt wurde, die Zunge herausgeschnitten bekam und eingekerkert wurde, webt im Gefängnis ein Gewebe, in welchem sie ihrer Schwester Prokne mit purpurnen Zeichen ihr Schicksal mitteilt. Durch Proknes Intervention gelingt beiden Frauen die Flucht; dabei verwandeln sie sich in Vögel: Prokne in eine Rauchschwalbe, Philomele in eine Nachtigall.37 Der Philomele-Mythos enthält bereits die Koppelung der beiden poetologischen Metaphern Nachtigallengesang und Spinnen/Weben. Das Web-Motiv spielt allerdings innerhalb »Der Spinnerin Lied« keine Rolle, erst im späteren Verlauf der >Chronica< wird Weben als weitere Tätigkeit der Mutter genannt.38 Diese 30 37 38
Brandstetter, »Eines Weibes Träumen ...«, S. 224. Ovid, >MetamorphosenTagebuch der Ahnfrau< verwiesen. In diesem Lied macht Brentano von der Web-Metapher, die in »Der Spinnerin Lied« unterdrückt wurde, eindeutigen Gebrauch. Die intertextuelle Referenz auf die Ovidschen >Metamorphosen< tritt dadurch deutlicher zutage als in »Der Spinnerin Lied«. Zudem sind im Weberlied weitere Motive aus dem Philomele-Mythos verarbeitet: das Motiv der geraubten Zunge (»stumme Nachtigall«) und des (Schmerz-)Schreis. Wenn der lahme Weber träumt, er webe, Träumt die kranke Lerche auch, sie schwebe, Träumt die stumme Nachtigall, sie singe, Daß das Herz des Widerhalls zerspringe, Träumt das blinde Huhn, es zähl' die Kerne, Und der drei je zählte kaum, die Sterne, Träumt das starre Erz, gar linde tau' es, Und das Eisenherz, ein Kind vertrau' es, Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche, Wie der Traube Schüchternheit berausche; Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen, Führt der hellen Töne Glanzgefunkel Und der grellen Lichter Tanz im Dunkel, Rennt den Traum sie schmerzlich übern Haufen, 205
Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schalmeien Der erwachten Nacht ins Herz all schreien; Weh, ohn Opfer gehn die süßen Wunder, Gehn die armen Herzen einsam unter! (Werke I, 611)
Die Nachtigall, an deren realer Anwesenheit schon in dem früheren Lied einiger Zweifel bestehen konnte, ist im Weber-Lied stumm, und ihr Lied ist nur noch geträumt. Dieser Aussage korrespondiert die Hermetik des Liedes selbst. Wie der Gesang der Nachtigall, so findet auch das Weben nur noch auf der Schwundstufe statt, im Traum, denn in der Wirklichkeit ist der Weber lahm und also unfähig, seinem eigentlichen Beruf nachzugehen. Auf der Basis des Philomele-Intertextes kann das Weben hier als Schreib-Metapher interpretiert werden. Damit wird die widersprüchliche Aussage des ersten Verses poetologisch verstehbar: als Beschädigung des Autors, der nicht (mehr) fähig ist, Texte zu schreiben oder zu vollenden. Im Weberlied wird überdeutlich, daß für Brentano, wie in den >Metamorphosenwilden Rede< aus dem >GodwiGodwi< her gelesen, erhellt auch die Botschaft der letzten beiden Verse. Das »höchste Opfer«, das Opfer der Annonciata, bedeutet dort das Opfer der Poesie selbst, so daß diese gar nicht mehr mitgeteilt werden kann und also in nichts als dem Opfer besteht. In analoger Weise sind Opfer und Wunder im Weberlied ununterscheidbar. In einem Brief Brentanos an Bettine heißt es, »daß das Schöne kein Bleibens hat auf Erden als im Opfer« (Seebaß II, 343). Das Schöne ist Opfer in der gleichen Weise, wie der Nachtigallengesang Schmerzschrei ist. Damit widerspreche ich vehement Brandstetters These, Brentano halte im Weberlied daran fest, »daß sich der Schmerz nicht in Gedichte verwandeln lasse«.40 Vielmehr verdankt sich die Poesie als Schrift-Kunst erst dem Schmerz der geraubten Zunge. Dieser Schmerz muß sich in Gedichte verwandeln in dem Maße, in dem das Autor-Ich »die Empfindung [hat] in einer leeren, langweiligen Zeit, sich selbst parforce in Gedichte auflößen zu müßen, um den Undankbaren Laien ihre Feiertage zu decoriren« (FBA 31, 175). Der Schmerz des Dichters — die traumatische Biographie — kann sich nur im Gedicht, in der Schrift äußern, und es ist aufgrund der formalen Anlage der Texte fraglich, ob dem poetischen Schrei der Schmerz-Schalmeien ein echter Schrei und ein echtes Trauma vorausgehen. Auch an der >Chronica< läßt sich zeigen, daß dem Schreiben gar kein Leben vorausgeht, sondern daß das Leben sich auf eine schriftliche Fiktion reduziert. Dies ist die fatale Folge des Versuchs einer >poetischen ExistensChronica< in geradezu absurdem Ausmaße. Die Niederschrift des Liedes wird in der Erzählung laut vorgelesen. Diese Mündlichkeit zweiter Ordnung liegt dem Leser wiederum in schriftlicher Form vor. Das vermittelte Lied wird durch die zahlreichen Vermittlungsebenen nicht nur verzerrt, es wird auch seiner behaupteten Authentizität in drastischer Weise beraubt. Folgt der Leser den Vermittlungsstufen von außen (>Chronica des fahrenden SchülersChronica< nicht geklärt. Ich gehe im folgenden davon aus, daß es sich hierbei um keinen durch die formale Fragmentarität der Erzählung bedingten Zufall handelt, sondern daß mit
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der >Urchronica< ein abgeschlossener Text vorliegt, dessen formal und inhaltlich offener Schluß sich aus den Gegebenheiten der romantischen Poetologie in ihrer spezifischen Ausprägung durch Brentano erklären läßt. Dabei scheint ein Zusammenhang zu bestehen zwischen dem offenen Schluß der eingelagerten Autobiographien der Mutter und des Johannes und dem fragmentarischen Erscheinungsbild der >ChronicaGebet und Gesang« entworfen. Die frühe Erfahrung dieser Einheit wird dem Kind durch die weibliche Stimme vermittelt«. 209
rung als herausgehobenen Moment der Identitätsstiftung bezeichnet. So schreibt er noch 1836 an Mathilde von Guaita: Da gedachte ich, daß ich als kleiner Knabe manchmal von einer gewissen Frische erweckt nachts meine Mutter, die im Winter aus der Gesellschaft gekommen war, über mich gebeugt sitzen sah, die das Ave Maria und das Gebet an meinen Schutzengel über mich betete und mir das Kreuz auf die Stirne machte. (Seebaß II, 351)
Diese Personenkonstellation, in der der Mann oder vielmehr das männliche Kind als Zuhörer der weiblichen Stimme auf eine passive Rolle verwiesen bleibt und später als »Schreiber« — nicht als Autor! — das Gehörte nur wiedergibt, strukturiert zahlreiche Texte Brentanos. Dabei handelt es sich um eine Strategie, deren Ziel zum einen im Vermeiden und Umgehen der Rolle des literarischen Autors besteht, und die zum anderen auf eine Verschmelzung weiblicher und männlicher Aspekte in der Person des Autors zielt. Überzeugend hat Brandstetter deshalb Brentanos gesamte Dichtung als »Suche nach der reinen weiblichen »milden Stimm'Männlich< und >Weiblich< die Einheit von >Gebet und Gesang< (wieder) zu erdichten«.44 Daß es sich hierbei um eine Okkupation des Weiblichen durch den männlichen Dichter handelt, erhellt aus einer Passage, in der der fahrende Schüler über eben diese Einheit von Gebet und Gesang reflektiert. Dabei werden Gebet und Gesang als »Schwestern« und als »Töchter des Himmels« bezeichnet, also mit weiblichen Attributen versehen, andererseits jedoch im Inneren des männlichen Dichters verortet, so daß Subjekt und Objekt der Dichtung eins werden: Wer diese zwei Töchter des Himmels recht begreifen und anschauen will der muß sie selbst im Herzen tragen, und muß selbst beten und singen können, dann erblickt er sie überal wieder, und sieht wie sie im Innersten alles Lebens wohnen [...]. Ach dann hört alle Einsamkeit auf Erden auf, und aller Zweifel [...]. (FBA 19, 125)
Als fantasmatische Konstruktion repräsentiert das Ideal der Oralität einen dem literalen Erzählen entzogenen Bereich der Wahrheit und Gültigkeit. Darauf deutet bereits der Widerspruch zwischen der Behauptung eines vormodernen Reservates mündlichen Erzählens und dem modernen Bewußtsein des fahrenden Schülers, das sich etwa in seiner Kenntnis des 43 Dies., S. 21. 44
Ebd.
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Kalenderdatums äußert ( ).45 Ong hat darauf hingewiesen, daß »der Übergang von der oralen zur schriftlichen Rede wesentlich der Übergang vom Klang zum sichtbaren Raum ist«.46 In der Tat beruht das narratologische Spiegelverfahren der >Chronica< auf einem visuellen Denken, das der Oralität fremd ist. Deshalb indiziert die symmetrische Einlagerung einer weiteren Binnengeschichte (der Geschichte des Kilian) in die mündliche Erzählung der Mutter die Kontamination der Oralitätsvorstellung durch literale Verfahren. Auch die Akzentuierung von Buch und Schrift im >mise en abymeVon den traurigen Untergang zeitlicher LiebeGodwiChronica< gegenüber dem autobiographischen Sujet hat, und ob die aus dem >Godwi< bekannten Probleme der Autorschaft mit Hilfe der religiösen Rückkoppelung lösbar sind. Bietet die neue Religiosität Alternativen zu den bisher untersuchten Autorschaftsfantasien ? Eine wesentliche Funktion der Religion besteht in der Literatur der Romantik darin, die formalen Schwierigkeiten der reflexiven Poetik inhaltlich zu lösen: Als Korrektiv der unabschließbaren ästhetischen Bewegung kommt bereits in der Friihromantik die christliche Religion in den Blick, deren festgefügte Ordnung in der Lage ist, sowohl nihilistische als auch ästhetizistische Konsequenzen der doppelten Reflexion abzuwenden.49
Bei Brentano resultiert die Form der doppelten Reflexion aus dem sehr persönlichen Versuch, die eigene >poetische Existens< poetologisch zu legi45
Vgl. Ong, Oralität und Literalität, S. 99: »Bevor das Schreiben mittels des Buchdrucks tief verinnerlicht war, fühlten sich die Menschen nicht in jedem Lebensaugenblick an abstrakt berechnete Zeit gebunden. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die meisten westeuropäischen Menschen im Mittelalter oder sogar noch in der Renaissance das laufende Kalenderjahr kannten.«
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Ders.,S. 118. Ders., S. 136. 48 Ebd. 49 Kremer, Prosa der Romantik, S.u.
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timieren. Die poetologische Problematik der Mittelbarkeit des Erzählens läßt sich deshalb nicht von persönlichen Fragen trennen. Aus diesem Zusammenschluß poetologischer und persönlicher Fragen ergeben sich mehrere formale Schwierigkeiten. Wenn Individualität erst durch die Texte hergestellt werden soll, dann kann es keine dem Schreiben vorgängige auktoriale Position geben, von der aus erzählt wird. Daraus folgt die Problematik des Erzählens selbst: wenn es kein Ich gibt, das im Text eine Einheit von Fühlen und Erleben vermitteln könnte, dann wird fraglich, wovon überhaupt erzählt werden kann. Auch die Form eines solchen Erzählens ohne Ich und ohne Inhalt ist höchst fraglich. In Anlehnung an des poetologische Projekt der Jenaer Frühromantik findet Brentano eine Lösung für diese Fragen darin, das Erzählen stets vom Erzählen selbst (oder von dem Versuch, zu erzählen) handeln zu lassen: in der Selbstbezüglichkeit der »verwilderten« Form und des mise en abyme. Problematisch bleibt jedoch die Ich-Position. Für diese wird nun eine Reihe von Beglaubigungsstrategien in die Erzählungen eingeführt. Die Beglaubigung durch das Weibliche (in seinen beiden Spielarten als Geliebte und als Mutter) wurde am >Godwi< bereits ausführlich erörtert. Als weitere Beglaubigungsstrategie tritt in der >Chronica des fahrenden Schülers< die Beglaubigung durch in der Erzählwelt vorgefundene Quellen in den Vordergrund: durch die mütterliche Stimme und durch das Auffinden eines alten Buches. Dem entspricht im >Godwi< die Betrachtung der weiblichen Bilder. Beide Strategien fallen zusammen in der Erfindung weiblicher Erzählinstanzen, deren mündliche Rede der Autor als >Schreiber< nur noch fixiert. Neben die Begründung durch das Weibliche und Mütterliche tritt in der >Chronica< das komplementäre Verfahren einer Beglaubigung durch das Väterliche: Gottvater, seinen irdischen Vertreter, den Ritter Veltlin, sowie überhaupt die christliche Religion. Betrachtet man nur die Rahmenhandlung der >ChronicaChronica< auf eine Funktion des Mutterkultes reduzieren, denn das väterliche Prinzip wird ja erst mit Einsetzen der Erzählung neu in das Leben des fahrenden Schülers eingeführt. Zugleich unterstreicht diese Neuerung die vorausgehende Abwesenheit des Vaters, die als Indikator für die von der imaginären Mutter-Kind-Dyade verdeckten Probleme fungiert. Dadurch erhält auch die Vaterfiktion imaginären Status. Andererseits wird der Mutterkult des fahrenden Schülers dadurch unglaubwürdig, daß die Mutter Gebete spricht, also objektive Sprachformeln der symbolischen Ordnung. Diese verdeckte Dynamik von väterlicher und mütterlicher Ordnung wird in der die >Urchronica< beschließenden Erzählung >Von den traurigen Untergang zeitlicher Liebe< offen thematisiert.
IV. 3 Das Buch- und Schriftmotiv in >Von den traurigen Untergang zeitlicher Liebe< In der Binnenerzählung >Von den traurigen Untergang zeitlicher Liebe< findet eine Neubewertung des Legitimations- und Interaktionsmodells einer männlich-weiblichen Autorschaft statt. Daneben wird das gegenüber der Rahmenhandlung neue Androgynenmodell des selbstgenügsamen Perlengeistes eingeführt, der männliche und weibliche Aspekte in sich vereint. Die Umwertung des Androgynenmodells zeigt sich auch in der stärkeren Betonung der gefährlichen, ja tödlichen Aspekte literarischer Autorschaft. Wie die gesamte >ChronicaVon den traurigen Untergang zeitlicher Liebe< nach dem verschachtelten >mise en abymeabyme< auf die Rahmenhandlung in >Von den traurigen Untergang Zeitlicher Liebe< zu beziehen, in welcher vom Untergang eines Schiffs mit zwei (nicht drei) Jungfrauen berichtet wird. Diesen beiden steht auf der Ebene der Rahmenhandlung der Binnengeschichte lediglich eine andere Jungfrau gegenüber, der es im Verbund mit dem alten Schiffer gelingt, ihre Schwestern aus der Verzauberung durch den Perlengeist zu erlösen. Die Parallelisierung von zwei Gruppen von Jungfrauen in dem Bild legt zugleich einen intertextuellen Bezug auf das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen in Matthäus 25, 1 — 13 nahe. Damit eröffnet sich ein hermeneutischer Tiefenraum, zu dem auch die verrätselte Einleitung der Erzählung beiträgt. Dort heißt es: die Gemüther, welche mit allen herrlichen Eigenschaften der Seele in frechem Selbstvertrauen dem Leben entgegen gehen, ohne sich erst mit ganzer Liebe dem Vater der Liebe zu nähern, alle ihr Treiben ist zeitlich, und wird untergehen in der Zeit [...]. Es ist aber das Wesen der Zeit, daß sie nie ruht und ewig verschwindet, wie ein verschlingender Strudel, und hat uns der barmherzige Gott die ewige Seele gegeben, daß wir triumpfiren können über die Vergänglichkeit [...]. (153)
Als Thema der Erzählung wird der »verschlingende Strudel« der Zeit benannt. Zeitlichkeit bezeichnet hier (als metaphysischer Begriff) einen Gegensatz zur Ewigkeit. Zugleich wird die Zeit jedoch mit jenem Phänomen des Kreisens und der Auflösung assoziiert, das im folgenden dem Reich des Perlengeistes, also dem Bereich der Poesie und Kunst zugeordnet wird. Kunst und Gesang sind die Sphäre des Perlengeistes, sie sind gleichbedeutend mit Lockung und sexueller Verführung und führen in den Untergang
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und die Selbstauflösung im Strudel des Meeres, welcher der Schoß des Perlengeistes ist. So heißt es über den Untergang der törichten Jungfrauen: Da zog ihr Schifflein wie ein Pfeil zwischen die Felsen, und kam in den Strudel, und begann sich im Zirkel zu drehen, anfangs glaubten sie es sei zur Lust, auch blies der Jüngling einen schönen Tanz dazu auf einer schimmernden Muschel, aber es drehte sich der Strudel immer heftiger, und unter schrecklichem Angstgeschrei riss er das Schifflein mit den eitlen weltliebenden Jungfrauen hinab in seinen Schooß. (155)
Gegenprinzip zum eingangs beschworenen Triumph über die Vergänglichkeit ist also eigentlich nicht die Zeit, sondern vielmehr die Poesie. Auf gedrängtem Raum begegnen in der Schilderung des Perlengeistes eine ganze Reihe von poetischen Chiffren, deren gemeinsamer Nenner in der Assoziation mit Zyklizität und Strömen, Verströmen bzw. Aufsaugen besteht: Sonnenuntergang, Strudel, Kreis/Zirkel, Schoß und Wunde. Sowohl die Drehbewegung an sich als auch die Verbindung mit Wasser, speziell mit einem Sturz ins Wasser, taucht bei Brentano immer wieder im Zusammenhang mit poetologischen Fragen auf. Dies konnte bereits am >Godwi< gezeigt werden und läßt sich anhand brieflicher Äußerungen Brentanos erhärten. So schreibt Brentano in dem als >Selbstdeutung< bekannt gewordenen Brief an eine Freundin Emilie Linders in Bezug auf die eigene >poetische Existenspoetische Existens< ist in einem circulus vitiosus gefangen, der den Dichter ständig zu vernichten droht. Die unabschließbare Spiegelbewegung des Textes und die unendliche Verdoppelung des dichtenden Ich — »der ewige sich selbst fressende Hunger, der ewige sich selbst berauschende Durst, die nie gesättigt werden« (BL 26) -, d.h. die Grundprinzipien der frühromantischen Poetik, werden bei Brentano zu einem der religiösen Ordnung entgegenstehenden Prinzip umgedeutet: der Sünde. Die »mit bunten Fetzen bedeckte, halb nackte, halb geschminckte, halb unschuldige, halb schaamrothe Poesie« (BL 26) übt dennoch weiter ihren Reiz auf die Figuren aus. Das zeigt sich deutlich an der Faszination des Perlengeistes, der als »Geist der Weltlichen Eitelkeit und Liebe« (FBA 19, 161) im Zentrum der Poesiekritik der Erzählung steht.
Da die »Freundin« Emilie Linders im Brief nicht namentlich genannt ist und sich der Brief zudem im Nachlaß Linders befand, ist anzunehmen, daß er sich auf indirektem Wege an Linder selbst richtet. 215
Die poetologische Funktion des Perlengeistes zeigt sich nicht zuletzt in seiner Androgynie: Er erscheint aber bald als ein Weib, bald als ein Jüngling und zieht durch seine liebliche Musick die Menschen zu sich hinab ins Verderben, oft auch hat er sich als ein liebliche Jungfrau in heimliche Ehe auf Erden begeben und edle Männer mit weltlicher Liebe und Treue, und grosen Glücksgütern von dem rechten Wege scheinheilig geführt wenn ihr Gatte aber sich gesammelt, und zu wissen begehrt, wer sie sei, hat er dieselben verlaßen, und ihren baldigen Tod verursacht. (164)
Auffällig ist in dieser Passage die uneinheitliche Pronominalisierung, wobei jedoch maskuline Pronomina überwiegen, wie ja schon die Bezeichnung »der Perlengeist« den männlichen Aspekt in den Vordergrund rückt. Das überrascht um so mehr, als der Perlengeist in der Gegenwartshandlung zwar als Jüngling firmiert, in den Erzählungen des alten Fischers jedoch durchweg in seinem weiblichen Aspekt auftritt. Überdies wird sein Wesen von Eigenschaften dominiert, die im Werk Brentanos eindeutig dem Bereich des Weiblichen zugeordnet sind. Insbesondere die Assoziation mit Poesie und Gesang weist ihn als Verkörperung des weiblichen Prinzips aus. Auch die sexuelle Lockung und Verführung ist ein weiblich kodiertes Verhalten. Überdies wird der Perlengeist explizit als Mutter des schönen Bettlers bezeichnet (169^). Damit erweist sich die Androgynie des Perlengeistes als ein Sonderfall von Weiblichkeit, und nicht als vollkommene Vereinigung weiblicher und männlicher Aspekte. Die Selbstgenügsamkeit des Perlengeistes ist vor allem in poetologischer Hinsicht von Bedeutung. Der Perlengeist vereint die Funktionen von Dichter und Muse in einer einzigen, androgyn-perversen Gestalt. Er stellt deshalb ein Gegenmodell zum Androgynenmodell des Rahmens dar, in dem Androgynie als Kommunikation auf den Dichter (Johannes) und seine Mutter verteilt wurde. Daneben figuriert die Gegenüberstellung von Perlengeist und Mutter die aus dem >Godwi< bekannte Spaltung der Mutter-Imago. Das lockende, tödliche Wesen des Perlengeistes weist ihn der Sphäre der Sirenen und Melusinen zu, mit denen er von den Figuren der Erzählung auch ausdrücklich identifiziert wird (164). Diese Naturwesen vereinen Charakteristika des Weiblichen mit solchen des Naturhaften, Nicht-Menschlichen. Weiblichkeit erscheint dabei als Form von Depersonalisierung. Auf die Popularität des Nixen-Motivs in der Literatur um 1800 hat Böschenstein aufmerksam gemacht.53 Sie nennt als strukturellen 55
Vgl. Böschenstein, Undine oder das fließende Ich, S. 104. Böschenstein nennt u.a. Goethes Ballade »Der Fischer«, »Die neue Melusine«, Brentano-Arnims >Armen Raimondin< und Fouques >UndineDialektik der Aufklärung< die Sirene als eine der (männlichen) Individuation entgegenstehende Macht beschrieben: Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. [...] Die Angst, das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderen Leben aufzuheben, die Scheu vor Tod und Destruktion, ist einem Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblick die Zivilisation bedroht war.50
Dieses Glücksversprechen ist das der Sirenen, die mit ihrem lockenden Gesang nicht nur das Individuum, sondern auch die auf ihm sich gründende Gesellschaft bedrohen.57 Der Briefschreiber Brentano und die Figuren seiner Prosaerzählungen drohen dieser Lockung ständig zu erliegen, und erliegen ihr auch oft. Dabei besteht nach Horkheimer und Adorno die besondere Macht des Sirenengesangs in ihrem Anspruch, »als Erkenntnis zu gelten«: »Solange Kunst darauf verzichtet, als Erkenntnis zu gelten, und sich dadurch von der Praxis abschließt, wird sie von der gesellschaftlichen Praxis toleriert wie die Lust. Der Gesang der Sirenen aber ist noch nicht zur Kunst entmächtigt.« Auch der Gesang des Perlengeistes ist dieser Entmächtigung entgangen und kann deshalb eine unmittelbare, vernichtende Wirkung auf die Zuhörer ausüben. Wie Menke überzeugend argumentiert, basieren Sirenenerzählungen immer auf metasprachlichen Metaphern, die auf die Unzulänglichkeit der Sprache verweisen.58 Nicht zuletzt manifestiert sich diese Ambiguität eines >anderen< Sprechens im weiblichen Geschlecht der Sirenen. Daß die Macht des Sirenengesangs in der Verstörung, Versehrung und letztlich Tötung seiner Zuhörer besteht, zeigt sich deutlich in >Von den traurigen Untergang zeitlicher LiebeWilhelm Meisters Lehrjahre< und auf die »Lehrjahre der Männlichkeit« in der >Lucinde< dar.12 Mit dem >Meister< bezieht sich das Emmerickprojekt direkt auf einen Text, der eine Schlüsselfunktion für alle romantischen Romane hat. Damit wird Brentanos Intention deutlich, in den Emmerickschriften eine Neufassung der Romantik vorzulegen. Die >Lehrjahre Jesu< figurieren als letztes, vollendendes Glied in der Kette der sich auf >Wilhelm Meister< berufenden romantischen Romane, zugleich aber als deren Summe, ja als Summe der Literatur und der Schrift überhaupt. Zudem stellt die Emmerick-Trilogie, wie Frühwald zu Recht angemerkt hat, eine »geistliche Kontrafaktur der >Romanzen vom RosenkranzOfterdingen< oder der eigene frühe Roman >GodwiOfterdingen< verbindet das EmmerickProjekt auch die Buch- und Schriftthematik; dazu s. u. Zwar ist Brentano in der Titelgebung uneinheitlich; er verwendet neben »Lehrjahre« auch den Titel »Leben Jesu«. Doch findet sich in den Briefen an Edward von Steinle im Jahr 1838 durchgängig der Titel »Lehrjahre Christi«; Brentanos eigenhändiges Register ist überschrieben mit »Register über die Lehrjahre Jesu [...]«. Vgl. dazu Frühwald, Das Spätwerk Clemens Brentanos, S. 2 i i f . Frühwald hat zudem nachgewiesen, »daß schon früh »Lehrjahre Jesu< und >LebenJesu< nebeneinander gebraucht werden, wobei der Titel >Lehrjahre< stets ein deutliches Übergewicht hat« (S. 212). Frühwald, Das Spätwerk Clemens Brentanos, S. 213. 280
Aussage nicht gelesen (FBA 26, 41). Emmerick ist deshalb lebender Beweis für die »Überflüssigkeit« von Büchern, wie Brentano polemisch bemerkt (FBA 28/1, 21). Der sich hier ein weiteres Mal zeigenden Sprachund Schriftskepsis Brentanos korrespondiert auf der anderen Seite jedoch eine grandiose Überschätzung von Schrift und Buch, wie sie sich im Projekt eines absoluten Buches manifestiert. Kritisiert wird in den Schriften denn auch nicht die Überflüssigkeit von Büchern, sondern die medial bedingte Verzerrung und Verfälschung des dargestellten Geschehens durch die Schrift. Diese Verfälschung sieht Brentano gerade in der Überlieferungsgeschichte der Bibel am Werk.14 Das Thema der Bibelfälschung und -Wiederherstellung spielt als Motiv vor allem in den >Lehrjahren Jesu< eine Rolle. Emmerick berichtet dort vom Versuch einer Schriftenfälschung, die von Jesus unterbunden wird. Jesus diskutiert mit den Pharisäern des Ortes Klein-Sephoris über die Ehescheidung. Einer der Lehrer des Ortes hatte »eine Gesetzrolle abgeschrieben, und kleine verkehrte Auslegungen dazwischen eingefügt« (FBA 24/2, 53). Gegen diese Bibelfälschung geht Jesus vor: »Er bewies ihnen das Verbot der Einschaltung, und daher die Pflicht der Austilgung.« An anderer Stelle verbietet Jesus nicht nur Einfügungen, sondern auch Kürzungen. So ist das Buch Hiob einer Vision der Emmerick zufolge von Moses, später nochmals von Salomon überarbeitet und dabei erheblich gekürzt worden (i35). 15 Jesus erzählt die Geschichte Hiobs deshalb noch einmal neu, so daß sie in den >Lehrjahren< in ihrer ursprünglichen Gestalt erscheint (i30ff.). Signifikant an dieser Episode ist, daß die Schriftenfälschung hier die heutige Gestalt der Bibel betrifft, die erst durch Emmericks Vision korrigiert wird, während in der Klein-Sephoris-Episode ja von einer nachträglichen Fälschung die Rede ist, die nicht die tradierten Schriften betrifft. Darin zeigt sich, daß Brentano tatsächlich von einer Verfälschtheit des biblischen Kanons ausgeht, der nur durch Emmericks unmittelbaren Zugang zum Heilsgeschehen revidiert werden kann. Insgesamt werden Schrift und Sprache in den Emmerickschriften als prinzipiell unzulängliche, deshalb notwendig verfälschende, Medien präsentiert. Der Begriff der Schriftenfälschung ist deshalb nicht nur historisch, sondern vor allem auch semiologisch relevant. In einem Brief an 14
15
Mit dieser Kritik am biblischen Kanon befindet sich Brentano zwar in Übereinstimmung mit Novalis (vgl. N III, 512), aber in Widerspruch zum katholischen Dogma. Vgl. hierzu DH 1501 — 1503. Daß Hiob der biblischen Überlieferung zufolge nach Moses gelebt hat, scheint Brentano nicht gestört zu haben. Solche >Irrtümer< der Emmerick korrigiert er sonst gerne in Fußnoten. 28l
Melchior Diepenbrock fuhrt Brentano seine Theorie der Evangelienentstehung aus, die auf einer Verfälschung basiere: Nach ihren [Emmericks, S. H.] [...] Mittheilungen aus dem Leben Jesu, erscheint die größte Wahrscheinlichkeit, daß die Evangelien in der ersten Zeit der Kirche von den Aposteln selbst, (wie sie einmahl sagte dreimahl) zußammengezogen und nur in eine Reihe von Aneckdoten und Parabeln und Summen der Lehren und kleine Auswahl der Heilungswunder gebildet wurden. Ja es entsteht die Wahrscheinlichkeit, als seyen mehrere Handlungen in eine zußammengezogen, und vieles der Schwachen wegen ganz verschwiegen.
Es geht Brentano folglich gar nicht um eine Restauration der biblischen Schriften, die ja von Anfang an auf Fälschung beruht, sondern um einen erneuten unmittelbaren Zugang zum biblischen Geschehen durch die visionäre Schau. Die von der Kirche anerkannte, neben dem biblischen Kanon bestehende ungeschriebene Überlieferung spielt für ihn jedoch keine Rolle.17 Nicht die von der Kirche bewahrte mündliche Lehre soll die Bibel ergänzen oder korrigieren, sondern die alle Tradition ausschließenden Visionen Emmericks. Wiederholt hat Brentano brieflich den Gedanken geäußert, der Zugang zum Leben Jesu sei durch die Überlieferungsgeschichte der Bibel, durch »alle die Glossen, Kommentare, Übersetzungen, Allegorien, Symbole, Phantasien, Transfusionen, Mystifikationen, Applikationen usw. zertrümmerter Jahrhunderte« unwiderruflich verstellt, denn diese wirkten »zerstörend, hindernd, verführend«, ja seien »dem armen Menschen nur Versuchungen [...], über dem bunten Gefäße den Trank zu vergessen« (Seebaß II, 142). Zudem wettert Brentano heftig gegen die historisch-aufklärerische Bibelkritik, deren Anhänger er als »Bibelhusaren und Wortkosaken« bezeichnet, die die »Fundamente« der Schrift »zerwühlen« (Seebaß II, 3oy/BL 79).l8 In ihnen sieht er »eine Masse von Ungläubigen, Verdrehern, Eigengläubigen, Sectierern und allerlei Gespenstern« am Werk, »so viele Irrende als Bibelleser« (BL 42/39^). Durch die Visionen der Emmerick wird der von der historischen Bibelkritik, aber auch von der Überlieferungsgeschichte der Schrift angerichtete Schaden wiedergutgemacht und der verlorengegangene Zugang zum Leben Jesu wiederhergestellt. Der Sinn des Emmerickprojekts besteht für Brentano 16
17
18
Unveröffentlichter Brief vom 28. n. 1822, zitiert nach Frühwald, Das Spätwerk Clemens Brentanos, S. 286. Zum Begriff der ungeschriebenen Überlieferung vgl. die Entscheidung des Trienter Konzils in DH 1501. Zu Brentanos Position in der Frage der historischen Bibelkritik vgl. Frühwald, Das Spätwerk Clemens Brentanos, S. 278ff. Zu Brentanos Kritik am Protestantismus insgesamt vgl. Hasenpflug, Clemens Brentanos Gedichte an Luise Hensel, S. 2990°. 282
also darin, das durch die historische Bibelkritik in Zweifel gezogene Heilsgeschehen durch die Visionen der Emmerick in seinem Wahrheitsgehalt zu bezeugen und die biblischen Schriften so zu >restaurierenlive< miterlebt. Bei zweiteren handelt es sich um den selteneren Fall symbolischer oder allegorischer Visionen, die das Geschehen transzendieren, indem sie den Sinn des Geschauten erschließen. Zu diesem Typus gehören, neben dem »geistigen Baum«, auch die Visionen vom Hochzeitshaus, vom Prophetenberg und vom Reliquienberg. Der »geistige« oder »allgemeine Baum« fungiert in Emmericks Vision als Allegorie einer »allgemeinen Sprache«: Dieser Baum war der allgemeine Baum aus Gott, und die Gärten enthielten alle Gattungen der Früchte aus diesem Baume, und unten auf der Erde sah ich alle dieselben Früchte in der gefallenen Natur, mehr oder weniger verderbt [...]. Um diese Gärten sah ich Bilder der Bedeutung und der Wesenheit dessen, was mit diesen Pflanzen ausgesprochen war, ich sah den Sinn ihres Namens in der allgemeinen Sprache. (15)
»Ausgesprochenes«, »Bedeutung« und »Wesenheit«, d.h. Zeichen, materieller Referent und die immaterielle Idee hinter dem Referenten, fallen 19
Vgl. Frühwald, Das Spätwerk Clemens Brentanos, S. 2j6f. Die Form der Restauration besteht in unglaublicher Detailfülle; vgl. Schmidt, Erlösung der Schrift, S. iSjf: »Verwandtschaftsverhältnisse, Sitten und Gebräuche zur Zeit Jesu, Kleidermoden, Orte, Gebäude, Wanderwege: alles wird deshalb aufs genaueste festgehalten, keine Einzelheit ist zu banal, jede scheint wertvoll und wird dem gewaltig anschwellenden Text einverleibt; Quantität wird zum Kardinalargument für den erhobenen qualitativen Anspruch«. 283
in der allgemeinen Sprache in eins. Im Gegensatz zur menschlichen, beruht die allgemeine Sprache folglich nicht auf willkürlichen Setzungen. Mißverständnisse und Ambivalenzen sind damit ausgeschlossen. Die allgemeine Sprache ist rein visuell (»Bilder«) und wird nicht akustisch erfahrbar. Sie bleibt deshalb der visionären Seherin vorbehalten und kann dem Schreiber nur durch Vergleiche indirekt mitgeteilt werden. Die Fähigkeit Emmericks, das Wesen der Dinge jenseits der Beschränkungen durch die Sprache zu erkennen, wird in der Visionssequenz vom »Hochzeitshaus« weiter entwickelt. Emmerick berichtet: Es waren sehr viele Gäste und Bewohner im Haus, die letzten waren lebende geistliche, Priester und Nonnen, und auch selige heilige Priester und Klosterfrauen, [...] alles aber war durchsichtig und alle Form war wie Buchstabe über dem Begriff liegend, [...] die Lebenden waren wie der Buchstabe, und die Seligen wie der Begriff ... Indessen wurde ein Mahl bereitet von den seligen Hausbewohnern, es war ein Tisch und es wurden die wunderbarsten und schönsten Speisen aufgesetzt, alles aber war durchsichtig und ich sah durch alles Formliche den Begriff durchleuchten, so war der Tisch kein eigentlicher Tisch, sondern ein Bann des Genießens, eine Genossenschaft, eine Einigung, eine Kommunion, wie auch die wunderbaren Speisen nicht das waren, was sie schienen, sondern das schienen, was sie waren, das nenne ich Durchsichtigkeit des Scheinens, ich sah nämlich, daß sie waren, was sie vor der Erscheinung sind, sie waren das was ihre Erscheinung begriff, umfaßte, sie waren das Wesen 'ihres Scheins.20
Was Emmerick hier sieht, ist eine Art vorsprachlicher Ideen. Da die allgemeine Sprache auch hier nicht auf Sprache und Kommunikation beruht, sondern auf unmittelbarer Einsicht in das Wesen der Dinge, ist das Geschaute dem >Schreiber< wieder nur eingeschränkt und indirekt mitteilbar. Emmerick muß sich mit Umschreibungsversuchen begnügen: »ein Bann des Genießens, eine Genossenschaft, eine Einigung, eine Kommunion«. Im Widerspruch zur Präsentation der Visionen als Erlebnis unmittelbarer Evidenz steht die Tatsache, daß Emmerick wichtige Informationen nicht durch visionäre Schau, sondern — aus Büchern erhält. Die utopische Vorstellung visionärer Erkenntnis erweist sich damit als eine aus der Schrift erwachsende Konstruktion. Das kann anhand der »Reise nach Cypern« gezeigt werden. Emmerick hat in einer Vision Jesu Reise nach Zy-
Tagebuch Brentanos, zitiert nach Hümpfner, Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit, S. 32if. Hasenpflug zufolge stehen die Visionen vom »Hochzeitshaus« neben ihrer Bedeutung für die Sprachthematik im Zusammenhang mit Brentanos Bemühen, Luise Hensel zum Eintritt in ein Kloster zu bewegen, das sich auch in den häufigen Hinweisen Emmericks auf die »Braut« (d.h. Braut Christi) niederschlägt (Clemens Brentanos Gedichte an Luise Hensel, S. 42).
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pern miterlebt. Als sie dem nach kurzer Abwesenheit nach Dülmen zurückgekehrten Brentano davon berichten will, stellt sich jedoch heraus, daß sie das Geschaute vergessen hat. Die Seherin ist also keineswegs ein zuverlässiges Medium zur Restitution der biblischen Schriften. Zwar mag die Informationsvergabe in Visionen der Schrift wegen deren Fälschbarkeit überlegen sein. Doch andererseits ist die Schrift eine verläßlichere Speicherungstechnik als das Gedächtnis der Seherin, und deshalb hält auch Brentano die Visionen schriftlich fest. Am nächsten Tag nun berichtet Brentano von einer erneuten Vision der Emmerick: »Hoffnung zum Ersatz der verlorenen Gesichte. Sie habe heute Nacht ein neues Evangelienbuch erhalten, gar deutlich und groß gedruckt.« 21 Wohlgemerkt, das Buch ist nicht von Menschenhand geschrieben, sondern gedruckt, und ist auch nicht dazu gedacht, mit menschlichen Augen gelesen zu werden. Emmericks Einwand: »was soll mir das, ich kann mit meinen kranken Augen ja gar nicht drinn lesen«, wird von einer anonymen Stimme abgeschmettert: »man liest das nicht mit den Augen«. In der Tat steht das vergessene Geschehen Emmerick kurz darauf wieder unmittelbar, ohne in dem Buch gelesen zu haben, »vor Augen«. Dieses Vor-Augen-Führen basiert nun allerdings wieder nicht auf Visionen, sondern auf Schrift — nämlich auf der Schrift Brentanos, die er der Emmerick vorliest. »Als er [der Pilger, S. H.] aber am Montag ihr die letzten Notizen des dritten Lehrjahres aus April vor der Cyprischen Reise bis zur Apostelteilung vorlas, sagte sie Alles wieder vor Augen zu sehen, und alles was fehle, wohl zu bemerken.« Das Auffinden eines alten Buches ist ein in der ganzen Romantik beliebtes Motiv. Das Buch in der >Chronica des fahrenden SchülersVon den traurigen Untergang zeitlicher Liebe< enthält, und das >Tagebuch der Ahnfrau< aus dem Gockelmärchen haben jedoch nicht nur motivischen Wert, sondern die Integration von Büchern in Bücher ist eine der wichtigsten Techniken zur Herstellung von Selbstbezüglichkeit, wie sie die Jenaer Frühromantiker vom romantischen Roman fordern. Das Buchmotiv signalisiert in den Emmerickschriften also einen Bezug auf die frühromantische Poetik. Es ist deshalb bedeutsam, daß die Episode der Reise nach Zypern mit einem anderen Schriftkonzept operiert als die oben erörterten Visionen über Bibelfälschungen. Nicht mehr die Restauration einer authentischen, aber verfälschten Schrift oder eines ursprünglichen Geschehens steht hier zur Disposition, sondern das Erscheinen einer neuen, modernen, gedruckten Schrift. Dies kann nur das Buch Brentanos sein. 21
Zitiert nach Hiimpfner, Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit, S. 490.
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Sein absolutes Buch soll alle anderen Bücher überflüssig machen und sogar abschaffen — die (ohnehin verfälschten) überlieferten Schriften weichen dem neuen, fälschungssicher gedruckten Buch. Die Authentizität dieser neuen Schrift Brentanos wird durch ein ganz neuartiges Buch bezeugt, das vor der Emmerick noch nie jemand gesehen hat. Dies ist das »Weissagungsbuch«, das Emmerick in ihren Visionen von Zeit zu Zeit einsehen darf. Es befindet sich auf der »Thibetanische[n] Gebirgs Thurminsel« (FBA 28/2, 392), die Emmerick an anderer Stelle auch als »Prophetenberg« bezeichnet. So nennt sie einen Berg, der mehrmals in ihren Gesichten als die Höhe erscheint, von welcher die Quellen heiligen Wassers und höherer Weissagung niederströmen. Unter grüner und bemoster Gestalt sieht sie gewöhnlich das Uralte, aus den frühesten Zeiten der Welt Herrührende. [...] Es ist in diesem sogenannten Prophetenberg ein Bezug auf den Berg Meru der Indier und den Alberdi der Perser usw.22
Der Prophetenberg dient in Emmericks Visionen als Bewahrungsstätte der vor den Menschen geretteten himmlischen Schätze, d.h. Reliquien:23 Als die Menschen so schlecht wurden, wurden alle Gnaden, alle himmlischen Schätze und Geheimniße, da oben hingerettet, es ist der höchste Berg auf der Welt, das Wasser die Insel, die Thürme sind, daß es immer fest und sicher bewahrt ist, und keiner wird jemals hinauf kommen. [...] Ich glaube das Paradies muß nicht weit von da sein [...]. (FBA 28/2, 393)
Vor allem aber ist der Prophetenberg eine Art himmlischer Bibliothek: dort ist in »sehr alten und kostbaren Büchern und Rollen«, die auf einem Tisch liegen, »alles Heiligste der Menschen enthalten«.24 In der Mitte liegt das göttliche »Weissagungsbuch«, mit dem die bekannten prophetischen Schriften verglichen werden.25 Die Aufgabe der Wissensverwaltung und -kontrolle fällt dem Propheten Elias zu. Dieser trennt die Bücher und Blätter, die mit dem »Weissagungsbuch« übereinstimmen, von denjenigen, die davon abweichen. Letztere werden verbrannt. Elias erhält fortlaufend neue Bücher, d.h. neue Offenbarungen, von einer Gestalt aus dem Himmel herabgereicht, der er die gereinigten Schriften zurückreicht. Brentano kommentiert: »Jener verhielt sich wie das neue zum alten Testament zu ihm, deshalb möchte ich ihn Johannes und den ändern Elias 22 23 24 25
Zitiert nach dems., S. 494. Eine andere Version dieses Berges ist deshalb der Reliquienberg. Zitiert nach Hümpfner, Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit, S. 496. Zum Gegensatz von Einheit und Vielheit der Bücher in den jüdischen und christlichen Religionen vgl. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, S. 22ff. Zum Gedanken einer Buchführung in der Offenbarung des Johannes vgl. ders., S. 31. 286
nennen.« 20 An dieser Stelle durchbricht Brentano die von ihm selbst verbreitete Fiktion, Emmerick sei die alleinige Schöpferin der Visionen, indem er den eigenen kreativen Anteil an den Schriften benennt. Das »Weissagungsbuch« wird zur Quelle der Emmerickschen Visionen stilisiert. Emmerick reproduziert also ein Kompendium ultimativer Wahrheit, das von Brentano - dieser Konstruktion zufolge - erneut verschriftet wird, denn Emmerick erzählt ihm alles, was sie im »Weissagungsbuch« gelesen hat: »Es ward mir auch gesagt, wenn ich das Buch ausgelesen habe, solle es mir geschenkt werden, und ehe ich sterben werde, will ich dir Alles, so viel Gott vergönnen wird, sagen, was drinn geschrieben stand« (FBA 28/1, 309). Die von Brentano hergestellte Neufassung des »Weissagungsbuchs« sieht Emmerick auf dem Prophetenberg: »Ich weiß, warum ich auf dem Berge war; es liegt auch mein Buch bei den Schriften auf dem Tische: ich werde es wieder erhalten, um die fünf letzten Blätter zu lesen.« 27 Die Emmerickschriften werden also, wie alle prophetischen Bücher, mit dem »Weissagungsbuch« verglichen. Doch hat Emmerick die Gewißheit, ihr Buch zurückzuerhalten - es wird nicht verbrannt werden, sondern von Elias das Echtheitssiegel erhalten. Einmal mehr erweist sich hier die weibliche Stimme als schriftliche Fiktion. Emmericks Sprechen ist kein Quell unverfälschter Wahrheit, sondern beruht auf Schrift und Text - wenn auch auf einem überirdischen Text. Indem Brentano Emmericks Visionen aufzeichnet, schreibt er das »Weissagungsbuch« neu und macht es seinen Lesern erstmals zugänglich. Damit wird er selbst zum Propheten, während Emmerick in dieser Konstellation nurmehr das Durchgangsmedium zwischen der göttlichen und der männlichen Schrift bildet. Sie selbst bestätigt diese Analyse in einer Vision, wenn sie über ihren Schreiber sagt: »dieser Mann schreibet dies nicht so aus sich, er hat die Gnade Gottes dazu, es kann es kein Mensch als er, es ist als sehe er es selbst«.28 Allerdings unterscheidet sich die Schrift Brentanos dieser Vision zufolge medial von der unbefleckten, spirituellen Schrift des Prophetenbuchs. Während die Schriften auf dem Prophetenberg nämlich mit Wasser geschrieben sind, schreibt Brentano mit Milch.29 Seine Schrift ist weniger rein und klar, wenn auch immer noch dem Wasser farblich näher als der Tinte. Das organische Medium »Milch« evoziert zudem die materiellen und körperlichen Aspekte der Schrift. 26
Zitiert nach Hümpfner, Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit, S. 496. ^ Ders., S. 497. 28 Tagebuch vom 30. 12. 1819, zitiert nach Hümpfner, Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit, S. 467. 29 Zitiert nach dems., S. 466. 287
Nicht zuletzt ist die (Mutter-)Milch ein weibliches Medium. Der Schreiber nährt seine Schrift mit Milch wie eine Mutter ihr Kind. Indem er sich so die weiblichen und naturhaften Aspekte von Produktivität zueignet, nimmt er eine androgyne Position ein. Wenn der Schreiber jedoch bereits männliche und weibliche Aspekte in sich vereinigt, wird die weibliche Rolle im »Produktionsverbund« 30 Brentano-Emmerick überflüssig. Emmericks Funktion beschränkt sich folglich auf die eines Katalysators für die männliche Kreativität.
VII.2 Der »Produktionsverbünd« Anhand der Visionen Emmericks konnte gezeigt werden, daß die weibliche Stimme in den Emmerickschriften keineswegs als Quelle von Authentizität und Wahrheit fungiert, sondern ein reines Durchgangsmedium zwischen göttlicher und männlicher Stimme darstellt. Im folgenden soll erörtert werden, inwiefern diese Darstellung die realen Produktionsbedingungen der Emmerickschriften reflektiert. Emmericks »Visionen« gehen zu einem erheblichen Teil auf visionäre Literatur zurück, die sie selbst nicht gelesen hat, die sich aber samt und sonders in Brentanos Bibliothek befand. Auch auf der Produktionsebene erweist sich Mündlichkeit somit als schriftliche Fiktion, und auch hier fungiert Emmerick als Medium der Anverwandlung göttlicher in männliche Schrift. Spätestens seit der verspäteten Eröffnung des Seligsprechungsverfahrens reißen die Diskussionen darüber nicht ab, in welchem Maße Emmerick und Brentano jeweils an den publizierten Schriften beteiligt waren. Gerade im Seligsprechungsprozeß selber hat die »Schriftenfrage« — »Sind diese Visionsberichte als Schriften der Emmerick anzusehen, oder sind es Werke Brentanos?«31 — von Anfang an eine, wenn nicht die entscheidende Rolle gespielt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein herrschte weitgehend die Überzeugung, die Schriften seien das alleinige Werk der Emmerick, während Brentano nur als passiver Schreiber fungiert habe. Diese Ansicht findet sich noch in dem enthusiastischen Buch des Pater Höcht über die Geschichte der Stigmatisierten: Hinfort schaute sie [Emmerick, S. H.] nun in wunderbaren Visionen das Leben und Leiden unseres Herrn, die der >Pilger< Clemens Brentano in den Jahren 1818-1824 in aller Ausführlichkeit aufgezeichnet und der Nachwelt überlie30 31
Schmidt, Erlösung der Schrift, S. 162. Adam, Zum Stand des Seligsprechungsverfahrens, S. 21. 288
fert hat. [...] Es dürfte, abgesehen von der Hl. Schrift, kaum ein Buch der Weltliteratur geben, das erhabener und packender die großen Heilstaten Jesu Christi lebendig und wirklichkeitsnahe wiedergibt wie das >Bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi< [. ..].32
Der genauen Untersuchung durch die vatikanische Ritenkongregation ist es zu verdanken, daß diese - aus kirchlicher Sicht — positive Einschätzung der »Schriftenfrage« bald als eine von Brentano selbst verbreitete Fiktion erkannt wurde. Dazu hat insbesondere die im Auftrag der Ritenkongregation entstandene Arbeit Winfried Hümpfners über >Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit in seinen Emmerick-Aufzeichnungen< beigetragen. Dieses Buch hat eine entscheidende Rolle für die vorläufige Einstellung des Seligsprechungsprozesses im Jahr 1928 gespielt.33 Hümpfner weist nach, daß im »Produktionsverbund« Emmerick-Brentano, entgegen der Präsentation in den veröffentlichten Schriften, Brentano die führende Rolle gespielt hat.34 Dabei geht er von der für die Seligsprechung entscheidenden Frage aus, »ob Brentano als zuverlässiger Aufzeichner der Visionen und Mitteilungen Emmericks und als glaubwürdige Geschichtsquelle überhaupt angesehen werden kann, und ob und in welchem Umfang er etwa die Mitteilungen der Seherin und unser Bild von ihr verunechtet hat«. 35 Bei seiner Untersuchung der Brentanoschen Tagebuchaufzeichnungen stößt Hümpfner auf Anachronismen, die darauf hindeuten, daß vieles erst Wochen oder Monate nach Emmericks angeblichen Berichten niedergeschrieben wurde.36 Zudem ermittelt er Widersprüche zwischen Briefen Brentanos und dem Tagebuch Dr. Weseners, des Arztes der Emmerick, 32 3}
34
35 36
Höcht, Von Franziskus zu Pater Pio, S. 125. Zur Einstellung des Verfahrens vgl. Adam, Zum Stand des Seligsprechungsverfahrens, S. 24. Der Seligsprechungsprozeß war von Anfang an mit Schwierigkeiten behaftet, wie schon die verspätete Eröffnung des Verfahrens zeigt. Diese Schwierigkeiten sind nicht allein äußerlicher Natur, sondern reflektieren die veränderte Einschätzung der Stigmatisation innerhalb der katholischen Kirche. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der abnehmenden Zahl von Selig- und Heiligsprechungen. Dazu Yarom, Body, Blood and Sexuality, S. 11: »Apparently, since the 19th century, saints have been chosen according to different criteria than previously and the status of the stigmata seems to have been devalued«. Auch katholische Autoren wie Thurston und Biot stehen der Stigmatisation kritisch bis ablehnend gegenüber; vgl. Thurston, Die körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik; Biot, Das Rätsel der Stigmatisierten. Die ambivalente Haltung des Vatikan zur Stigmatisation ließ sich im Heiligsprechungsprozeß Padre Pios deutlich verfolgen. Da es im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich war, das gesamte, 15000 Seiten umfassende Handschriftenmaterial Brentanos zu sichten, verlasse ich mich im folgenden — was die Fakten angeht - auf Hümpfners Untersuchung. Hümpfner, Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit, S. 37. Ders., S. 6^{. Eine genaue Beschreibung der Tagebücher findet sich bei dems., S. 09ff. Hümpfner führt auch einen Vergleich zwischen Tagebüchern und Druckfassungen der Emmerickschriften durch (S. 14iff). 289
und spricht deshalb von »Brieffiktionen« Brentanos.37 Hümpfner stützt seine Fälschungs-These durch eine akribische Untersuchung des Handschriftenmaterials. Dabei profitiert er von der Quellenlage: die Dülmener Zeit Emmericks ist hervorragend dokumentiert. So sind außer den Schriften Brentanos auch Tagebuchaufzeichnungen des Dechanten Overberg und von Dr. Wesener erhalten; daneben auch Briefe und Aufzeichnungen Luise Hensels. Die Tagebücher Weseners und Overbergs haben Brentano vorgelegen und sind von ihm als Quellen, besonders für die frühen Lebensjahre der Emmerick, benutzt worden.38 Dabei war Brentano sehr frei im Umgang mit solchen Quellen und scheute sich nicht, die hier überlieferten Äußerungen der Emmerick gemäß der eigenen, widersprüchlichen Doppelagenda einer Wiederherstellung der biblischen Offenbarung einerseits, der eigenen Autorschaftsfantasien andererseits, zu verändern und zum Teil bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Hümpfner zählt mehrere Techniken der »Verunächtung« auf, die Brentano bei der Überarbeitung fremder Tagebücher für seine eigenen Aufzeichnungen verwendet:39 — aus indirekter Rede Emmericks in den Tagebüchern Weseners und Overbergs wird bei der Überarbeitung durch Brentano direkte Rede;40 - Brentano zieht mehrere ähnliche Äußerungen Emmericks, die von Wesener oder Overberg in indirekter Rede wiedergegeben werden, zu einer einzigen Äußerung in direkter Rede zusammen;41 — in die so entstandenen Äußerungen fügt Brentano Übertreibungsformeln ein: »oft«, »nichts als«, Superlative, »nur«; 42 — Brentano verbindet zeitlich auseinanderliegende Berichte aus den Tagebüchern Weseners oder Overbergs zu einem Ereignis;43 — von Wesener oder Overberg dokumentierte Äußerungen Emmericks werden bei Brentano sinnentstellt wiedergegeben.44 Die Bearbeitung der Tagebücher für den Druck führe dann zu weiterer »Verunächtung«; Hümpfner spricht von einer »[a]benteuerliche[n] Ausgestaltung von Tatsachen durch Brentano«.45 Daneben vergleicht Hümpfner 37 38
59 40
41 42 43
44 45
Ders., S. 9off. Eine Abschrift der Tagebücher findet sich im X. Band von Brentanos eigenem Tagebuch. Vgl. Hümpfner, Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit, S. 113. Ders., S. 141. Ebd. Ders., S. 115. Ebd. Ebd. Ders., S. n6f. Ders., S. 125. 290
die Visionen der Emmerick in einem »Quellennachweis« mit mystischer Literatur aus Brentanos Bibliothek.40 Als Hauptquellen ermittelt er Martin von Cochem, die hl. Brigitta und die Apokryphen. Daß »Brentanos imposante Büchersammlung bei der Entstehung der Aufzeichnungen eine tragende Rolle« gespielt hat, gilt mittlerweile als erwiesen.47 Daneben hatte Brentano auch Zugang zu Görres' reichhaltiger Bibliothek mit den Quellen für dessen >Mythengeschichte der asiatischen Welt< von 1810. Dort findet sich eine der Hauptquellen für die Emmerick-Visionen: die >Dissertations, qui peuvent servir de prolegomenes de l'Ecriture sainte< von August Calmet.48 Eine Abhängigkeit besteht jedoch nicht nur von der in Bibliotheken vorliegenden Visionsliteratur, sondern ebenso von Brentanos eigenem Werk. Auffällige inhaltliche Parallelen zwischen verschiedenen Texten Brentanos, oft bis in einzelne Formulierungen, konnten bereits im Frühwerk beobachtet werden. Bei Hümpfners synoptisch gedruckten Vergleichen zeigt sich, daß Brentano auch in die Druckfassung der EmmerickSchriften typische Formulierungen und stilistische Besonderheiten wie »es war mir, als« oder »es ist, als« interpoliert, die in den Tagebuchaufzeichnungen fehlen. Dadurch ergeben sich semantische Verschiebungen: während Emmerick den Tagebuchaufzeichnungen zufolge durchgängig Indikativ verwendet und damit den Eindruck vermittelt, bei ihren Visionen real anwesend zu sein (»ich sah«), stehen Brentanos überarbeitete Berichte im Konjunktiv, erhalten also den irrealen Anstrich eines Vergleichs (»es war mir, als sähe ich«).49 Hümpfner weist aber schon auf der Ebene der Tagebuchaufzeichnungen zahlreiche stilistische »Eigentümlichkeiten« Brentanos nach.50 Daneben zitiert er mehrere Beispiele für typisch romantische Anschauungsformen,
46 47
48
49 50
Ders., S. 2i6ff. Hümpfners auf Vergleichen basierende Abhängigkeitsthesen haben sich mittlerweile anhand der publizierten Versteigerungskataloge der Bibliothek Brentanos positivistisch erhärten lassen: die genannten Werke befanden sich in der Tat in Brentanos Besitz. Vgl. Gajek, Clemens und Christian Brentanos Bibliotheken. Übers, von Johann Daniel Overbeck, 6 Bände, Bremen 1738/44/47. Vgl. dazu Hümpfner, Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit, S. 254ff. Vgl. die zitierten Passagen bei Hümpfner, Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit, S. I48f. Hümpfner nennt u.a. die Häufung von Assonanzen; den Gebrauch der Metaphorik; das Wörtlichnehmen von Sprichwörtern und Redensarten, bzw. deren Ausgestaltung in Bildern und die besondere Häufigkeit von »Natursymbolik« (S. 28^ff). Zur Begründung, warum dies Merkmale einer Bearbeitung Brentanos seien, führt Hümpfner - ganz im Sinne meiner Interpretation — an, »daß Brentano wie in den früher besprochenen Bildern auch hier von der Sprache ausgeht« (S. 339). 291
die Brentano in die Rede Emmericks interpoliert haben muß; z.B. im Tagebucheintrag vom ersten November 1820: alles war eins und wie gewachsen, und eines erklärte das andere und liebte im anderen [...] Es waren allerlei zusammengestellte Früchte und Blumen [...] sie waren lebendig und wachsend, denn sie waren genossen doch ewig da. Ihre Erscheinung war der Genuß ihres Begriffes.51
Die inhaltlichen und stilistischen Parallelen zu bestimmten Passagen aus dem >Godwi< (etwa dem Erlebnis des sich belebenden Brunnens52 oder der Betrachtung der Porträts der Annonciata und der Wallpurgis)53 oder aus der >Chronica< (Gang in den Garten)54 sind unübersehbar. Der Begriff des »Genusses« ist von zentraler Bedeutung für das Lebensgefühl des jungen Godwi; so äußert er beispielsweise: »Glück und Genuß ist der Zweck unsers Lebens, und muß in uns selbst liegen, indem wir die Umstände so auffassen, so behandeln und so in uns tragen, daß sie in uns Glück und Genuß erschaffen können, und dann geben wir uns selbst wieder hin und werden zum Zwecke alles Lebens« (FBA 16, 43). Bei der Episode der Hochzeit zu Kana läßt Brentano die Emmerick von einem »wundervolle[n] Spiel« berichten, das Jesus mit den Männern veranstaltet und bei dem die Gewinne aus »Portionen von verschiedenen Blumen und Krautern und Früchten« bestehen: Diese Früchte hatte Jesus vorher ganz allein nach allerlei tiefsinnigen Bedeutungen geordnet ... Es war aber in diesem von Jesus geordneten Spiel etwas ganz Wunderbares und mehr als Zufälliges, denn das Loos, das jedem Spielenden zufiel, war ganz bedeutend auf seine Eigenschaften, Fehler und Tugenden [...].»
Die Passage enthält intertextuelle Parallelen zur Erzählung des Lehrlings in den >Lehrlingen zu SaisLehrlingen< bereits angelegt im Bericht über das Kind, das der Lehrer fortgeschickt hat, und dessen Wiederkehr den eschatologischen Horizont der Erzählung bildet: »wir hätten gern ihm unsere Blumen, Steine, Federn alles gern geschenkt«, berichtet der Lehrling. »Einst wird es wiederkomen, sagte der Lehrer, und unter uns wohnen, dann hören die Lehrstunden auf« (N I, 8of). 292
nach Maßgabe der frühromantischen Poetik gedeutet und geformt hat, belegt nicht zuletzt das Bild der Emmerick als Nachtigall. Hier liegt der seltene Fall vor, daß Brentano erst von einer Vision Emmericks berichtet und seine eigene Interpretation davon getrennt wiedergibt. Das heißt allerdings nicht, daß die Vision als genuine Vision Emmericks anzusehen ist, denn die Figur der Nachtigall spielt eine zentrale Rolle in Brentanos poetologischen Entwürfen - wie oben anhand von »Der Spinnerin Lied« erörtert wurde - und geht daher vermutlich auf seinen Einfluß zurück. Die Wiedergabe der Vision ist deshalb bereits durch eine vorgängige Deutung der Person Emmericks kontaminiert. Brentano läßt Emmerick berichten: >Mein Führer aber trat vor mich, er hatte eine sterbende Nachtigall in der Hand und sagte: »Gott gibt alles Nützliche der Kirche zu angemessener Zeit nach ihrem Verdienst, du sollst aber diese Blumen, diese Bilder, diesen Schatz jetzt nicht mehr haben, weil man dir die Schonung, die Ruhe, die Mittel nicht läßt, sie auszusprechen, wozu sie dir gegeben sind. Damit sie dir nun genommen seyen, so gieb der sterbenden Nachtigall das Leben deines Mundes zurück.« Dann hielt er mir den Vogel an die Lippen, und ich flößte ihm etwas aus meinem Munde in den Schnabel; da ward die Nachtigall gesund und lebendig und sang von ganzem Herzen wunderschön, und der Führer ging mit ihr von dannen. Mir aber verschwand Alles, war Alles todt und stumm, ich sah nichts mehr.< (FBA 26, 5if.)
Brentano deutet die Episode als »Sinnbild« (52) und ordnet sie damit der Kategorie der »symbolischen Festbilder« zu. In seiner Interpretation der Vision führt er aus: Der Schreiber mußte sich damit trösten, daß die Nachtigall das Verlerne nun sang, welche mehr Ruhe und Frieden und einen schönern Vortrag als sie [Emmerick, S. H.] hatte, und von welcher sie in ihrer Jugend wohl Vieles gelernt. - Wie rührend erscheint in diesem Sinnbild die Nachtigall als die Verkündigung, als die Stimme des höhern Naturliedes, welches entsiegelt auf den Lippen der Begnadigten lag, während die Nachtigall seiner beraubt, starb. Sie aber mußte es in die Kehle des Vogels zurückgeben, wo es nun wieder in begriffslosen Tönen als Geheimniß versiegelt ist, um in dem Menschen eine allgemeine Rührung und Sehnsucht nach der Lösung aller Räthsel zu erwecken usw.
Die Nachtigall, so hatte die Analyse von »Der Spinnerin Lied« ergeben, stellt im poetologischen Kosmos Brentanos eine Referenz auf den Philomele-Mythos dar - einen Ursprungsmythos der Dichtung und des Gesangs, der die Poesie auf eine weibliche Stimme zurückführt. Die Schrift ist in diesem Mythos einerseits unvollkommener Ersatz eines primären Ausdrucksmediums, der weiblichen Stimme, andererseits jedoch Indiz für ein furchtbares Verbrechen: den Raub der weiblichen Zunge. Für Bren293
tano, so hatte ich festgestellt, denotiert der Philomele-Mythos, daß der männliche Dichter die weibliche Stimme durch Verschriftlichung nur vergewaltigen kann. Sie jedoch entzieht sich seinen Aufschreibeversuchen im Gesang der Nachtigall. Gemäß dieser Mythos-Deutung Brentanos wird auch in der Vision Emmericks die weibliche Stimme durch das Lied der Nachtigall ersetzt. Während der Krankheit der Nachtigall sprach Emmerick als »Stimme des höhern Naturliedes«. Dieses gibt sie der Nachtigall zurück, »wo es nun wieder in begriffslosen Tönen als Geheimniß versiegelt ist«. Die Vision schließt sich damit bis ins Detail an Brentanos Nachtigallen-Gedichte »Der Spinnerin Lied« und »Wenn der lahme Weber träumt, er webe« an. Wie dort, ist auch in der Emmerickvision das Lied der Nachtigall »höher«, das heißt poetischer und geheimnisvoller als die weibliche Rede, die nur eine Schwundstufe der unerreichbaren Poesie darstellt. Die romantische Poesie wird dabei zudem höher bewertet als die biblische. Die Stellung des »Schreibers«, der hier die Beziehung zum eigenen Frühwerk diskutiert, ist folglich ambivalent. Daß Brentano hier die eigene »Werksituation« diskutiert, hat auch Frühwald erkannt.57 Er interpretiert die Passage jedoch im Sinne einer Ablösung Brentanos vom eigenen Frühwerk: »Nicht mehr dem Dichter ist es jetzt gegeben, die Siegel der Naturgeheimnisse zu lösen, die verschütteten Quellen freizulegen und, als ein getreuer Historiker der Poesie, das >höhere Naturlied< zu enträtseln, der Dichter ist nur noch Hörer und Schreiber der Worte der begnadeten Seherin.«58 Das Bild der Nachtigall deutet jedoch weit eher auf eine Fortführung der im Frühwerk entwickelten Positionen. Die Höherbewertung des Naturliedes macht deutlich, daß Brentano an dem eigenen frühromantischen Programm auch unter verändertem Kontext festhält. Daß er als >Schreiber< keineswegs hinter die Nonne zurücktritt, zeigt sich im übrigen auch darin, daß er die wichtige Aufgabe übernimmt, die Vision zu deuten, während Emmerick nur das Geschehen schildert. Damit tritt der produktive Anteil Brentanos an den Schriften in den Vordergrund. Diese Analyse wird durch die Einschätzung des Verhältnisses Emmerick-Brentano bestätigt, die Luise Hensel in ihren Briefen niedergelegt hat. Hensel betont zudem den Einfluß poetologischer Fragen auf Brentanos Rolle als >SchreiberHeinrich von Ofterdingen< das Ende kommunikativer Sprache herbei: »Man hörte nichts, als zärtliche Namen und ein Kußgeflüster« (N I, 315). Emmerick bestätigt diese poetologische Konzeption einer sprechenden Wunde, die in den früheren Texten utopischen Status hat, nun dadurch, daß sie tatsächlich Wunden entwickelt, wobei diese nicht nur von Brentano — als sprachäquivalente Bedeutungsträger verstanden werden können. Die Deutung der Stigmata als einer Körperschrift hat in der katholischen Kirche Tradition. So bilden einige Stigmatisierte eine regelrechte Wundenschrift aus, indem das Blut aus den Wunden Buchstaben bildet; in anderen Fällen erscheinen die Stigmata selbst in Buchstabenform.74 Die Stigmatisation ist dem äußeren Erscheinungsbild nach ein höchst uneinheitliches Phänomen; schon deshalb fordern die einzelnen Symptome zu steter Deutungstätigkeit heraus. Das Spektrum der »körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik« 75 resümiert Höcht: Als Stigmatisation bezeichnet man nach Oswald Pfülf S. J. gewöhnlich >die Nachbildung der von Christus in der Passion erduldeten Körperleiden an den entsprechenden Gliedmaßen einzelner dem innerlichen Leben hingegebenen Christen. Wesentlich hierbei ist die Teilnahme am Leiden Christi d u r c h physisches Schmerzgefühl und zwar an den durch die Passionsges c h i c h t e besonders b e z e i c h n e t e n Stellen des Körpers. Der Grad dieser Teilnahme oder Nachbildung ist allerdings verschieden, ebenso auch das 74 75
Vgl. Höcht, Größe, Erhabenheit und Beurteilung der Stigmatisation, S. 41. Thurston, Die körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik. 299
Hervortreten in der äußeren Erscheinung. Bald findet sich bloß das Schmerzgefühl (dauernd oder periodisch) ohne jedes andere äußere Zeichen; bald sind die äußerlich hervortretenden Wundmale nur vorübergehend für kurze Zeit sichtbar oder erscheinen erst nach dem Tode; bald aber sind sie vom Zeitpunkte der Stigmatisation bis zum Ende des Lebens viele Jahre hindurch bemerkbar oder treten periodenweise an bestimmten Tagen der Woche oder des Jahres hervor; bald wieder verschwinden sie nach einigen Jahren ganz spurlos oder hinterlassen nur leichte Narben.Ofterdingen< für den Mann unerreichbar. Am Ziel dieser weiblichen Poesie steht die Transformation und letztlich Auslöschung der männlichen Identität. In poetologischen Androgynenmodellen, so läßt sich auf der Basis dieser Lektüren resümieren, werden die inhärenten Widersprüche im System der binären Geschlechterrollen für die problematische Konstruktion von Autorschaft und Autorität verantwortlich gemacht. Die Konstellation von Autor und Muse bildet das Relais für die fantasmatische Rückbindung einer Krise der Autorschaft an die Krise der Sexualität. Liefert das AutorMuse-Szenario also einerseits die Möglichkeit, die Unzulänglichkeit der männlichen Autorschaft (angesichts der an den Autor gestellten Erwartungen) imaginär zu überbrücken, so führt es andererseits zu neuen Problemen. Insbesondere birgt die Körperlichkeit der Musenfiguren in den untersuchten Texten ein tiefgreifendes Konfliktpotential, denn der weibliche Schoß bildet einen unüberwindlichen Widerstand gegen die Vereinnahmung der Frau im Dienste der Poesie. Die Assoziation des Weiblichen mit dem Körper, mit Tod und mit dem subversiven Bildmedium führt dazu, daß die Frau im Text nicht vollständig repräsentiert werden kann. Wegen der radikalen Ambivalenzen des Weiblichen ist das Androgynenmodell von vornherein ungeeignet, die Krise der männlichen Autorschaft zu beheben. Wie die oralsadistischen Aspekte der weiblichen Poesie bei Novalis belegen, verbleibt diese im Imaginären, ist folglich ein Fantasma der symbolischen Ordnung. Zugleich wirkt sie jedoch als Störung dieser Ordnung, und zwar durch die Assoziation mit dem weiblichen Körper, der die Grenze des Sagbaren und die Annäherung an das Unsagbare markiert. Allerdings beruhen auch die bedrohlichen Aspekte des Weiblichen letztlich auf einer Konstruktion durch männliche Blicke, so daß sich die Ambivalenz des Weiblichen als eine Ambivalenz des Textmediums selbst erweist. Die Poetik der Versehrung im Werk Brentanos geht jedoch teilweise noch über diese allgemeine Androgynenproblematik hinaus. Das liegt nicht zuletzt an dem Versuch Brentanos, die poetologischen Postulate der 313
Frühromantik im eigenen Leben zu verwirklichen. Aus der Verbindung von poetologischer und persönlicher Problematik im Projekt einer poetischen Existens< ergeben sich dabei mehrere formale Schwierigkeiten, die auch die Autorfiguren in den fiktionalen Texten betreffen. Wenn Individualität erst durch die Texte hergestellt werden soll, dann kann es keine dem Schreiben vorgängige auktoriale Position geben, von der aus erzählt wird. Vielmehr soll eine solche Position des Ich-Sagens erst durch Sprache und Text geschaffen werden. Daraus folgt die Problematik des Erzählens selbst: wenn es kein Ich gibt, das im Text eine Einheit von Fühlen und Erleben vermitteln könnte, dann wird fraglich, wovon überhaupt erzählt werden kann. Auch die Form eines solchen Erzählens ohne Ich und ohne Inhalt ist höchst fraglich. In Anlehnung an des poetologische Projekt der Jenaer Frühromantik findet Brentano eine Lösung für diese Fragen darin, das Erzählen stets vom Erzählen selbst (oder von dem Versuch, zu erzählen) handeln zu lassen: in der Selbstbezüglichkeit der »verwilderten« Form und des mise en abyme. Problematisch bleibt jedoch die Ich-Position. Für diese wird nun eine Reihe von Beglaubigungsstrategien in die Erzählungen eingeführt: die Legitimation durch das Weibliche, durch Liebe und Freundschaft und durch die Religion. Insbesondere ist es jedoch die frühkindliche Mutterbindung, die sämtliche Erzählungen Brentanos als Fantasma durchzieht. Die Funktion des Androgynenmodells besteht in diesem Kontext darin, sich als Autor jenseits der Geschlechterdifferenz, als Ganzer, zu repräsentieren. Damit wird das Projekt einer »progressiven Universalpoesie« auf das Ich des Dichters angewandt. Im Gegensatz zu Schlegel und Novalis zeigt sich Brentano jedoch der negativen Seiten dieses Reflexionsprozesses höchst bewußt. Er thematisiert sie in seinen fiktionalen wie autobiographischen Texten als Selbstbeschädigung des Dichters beim Schreiben. Dadurch erhält das Androgynenmodell eine neue Bedeutung. Der utopische Charakter dieses Modells wird bei Brentano mitreflektiert. Sein Wirkungsanspruch wird damit durchkreuzt, ohne daß das Modell selbst aufgegeben würde.
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Register
Androgynenmodell, frühromantisches 11 8? Androgynie 3?·, 9. 2 > 3 -37, ?3> 2 6> 222, 239, 2 44> 246. 249- 256, 275, 3*2 ästhetische, 54 poetologische, 11-35. 2 Der S nger< 227, 231, 24of., 244246,252,255 Goethe, >Wilhelm Meister< 55 Kristeva 25f., 29f. Novalis, 63-66, ogf., 76-78, 81-87, 185, 309, 3i2f. Friedrich Schlegel, >Lucinde< 62, 231 Objekt der Poesie 94, 107 Poesie der Poesie 69, 123 progressive Universalpoesie 7, 58, 6of., 65, 222, 25if., 314 Transzendentalpoesie 32, 64 Volkspoesie 257 poetische Existens 63, 93-95, ιοί, 112, i8if, 196, 207, 2 i i , 215, 226, 233, 234, 242, 248, 312, 314 Pseudonymisierung 93, 229f. Psychoanalyse, psychoanalytisch 16, 21-31, 45. 131 Reflexion Brentano 114, 120-122, 124, 144, 172, I74f.,
I9of.,
2 1 1 , 222, 220f.,
240,
311. 314 Fichte 66f., 185 Novalis 66-70, 76, 185 Schlegel 66f. Religion 179, 209, 211-213, 2 2 I > 262, 280,314 Kunstreligion 159 Roman, romantischer nf., 35, 64—66, 69, 138, 175, 285 Romantik 71"., 28, 32, 91, 198, 211, 285 Brentano und die, 5, 7, 256, 280, 311, 3 i 3 f. Schiller, Friedrich 8, 176—178
Schlegel, Friedrich 4, 7, 12, 27, 32-35, 66, 90, 94f., 1035., 117, 123, 173, 175,222, 279. 314 >Lucinde< 58—63, 170, 231-233, 240 Schleiermacher, Friedrich >Vertraute Briefe ber Friedrich Schlegels Lucinde< 61 FN 145, 232 Schrift, Schriftlichkeit 10, 21, 36, 56, 77, 87,94, I I O > Ι 73^·> 183 — 186, 198-223, 227, 234, 263-275, 283-288, 293, 299, 301-308 Selbstbez glichkeit 8f., 19, 32, 58, 64-66, 69, 70f., 83, 85, 94, 115, 125, 127, 138, 174, 184-189, 212, 225 — 228, 242, 247f., 255f., 259, 285, 314 Sexualit t und Autobiographie 3 Autorschaft und, 313 freie Liebe und, 146 FN 61, 147 Gefahren weiblicher, 217 und Geschlecht 15, 28 Brentano 1—3 >Chronica des fahrenden Sch lers* 217 Emmerick-Schriften 304 >Die Geschichte vom braven Kasperl und dem sch nen Annerl< 265^, 274 >Godwi< 137 >Der S nger« 240 Bronfen 28 Foucault I4f. Goethe, > Wilhelm Meister< 12, 36, 40, 45-47, 5i, 56f., 86f., 233 Novalis, >Heinrich von Ofterdingen< 74 Sirene 216-219 Sp tromantik 6f., 311 Spiegel, Spiegelung 23-25, 30, 40-46, 57, 60, 73, 70f., 80, 105^, 108, 119—122, 125, 134, i38f, 141, 147, 151, 164, 175, i77f, 184-191, 208, 2 i i , 215, 226, 241, 243, 246—248, 263, 278 Stigma, Stigmata 299-304, 306-308 Stigmatisation 289 FN 33, 299-309 Stimme 10, 35, 75, 81-83, 85, 107, I73f., 183, 186, 189, 195, i97f., 2O4f., 2072 I O , 2 1 2 , 2I9f., 234, 242, 245, 248f.,
251, 256f., 26of, 274, 279f., 285, 287^, Subjekt, Subjektivit t 8, 14-19, 21-33, 35, 44, 54f., 58-62, 65-67, 72, 74, 78-80, 84-86, 89, 92f., 99, 103-110, 114-126, 128-131, 134-137, i39f., i43f., 147-150, 153, 158, 160, 162327
164, ι66, 169-171, 174, ij6f., 1851"., 189, 196, 210, 221, 231, 243-245, 247, 249^, 252, 263, 265, 31 if. Tieck, Ludwig 8, 65, 95, 311 >William Lovell< iO3f. Verwilderung, verwilderte Form 6, 105, 114 — 118, 124, 156, 158-160, 169, 1771"., 182-191, 198, 212, 263, 314 Weiblichkeit 25, 27-30, 58-60, 74, 77, 107, 118, 135-137, 143, 152, 154?-,
328
i04f., 167, 169, 171, 186, 189, 192, 209, 216, 245, 250, 299, 308 wilde Rede 123-126, 140, i42f., 159, 192, 238 Wunde 87, 144, 149, 151-155, 159, 170172, i88f., 215, 219, 27of., 299, 301, 303
Zeichen 22, 66, 68, 77, 84, 123, 153, 2041"., 220, 259, 269, 273, 283 absolutes Zeichen 299—309 metabolisches Zeichen 220