196 65 15MB
German Pages 278 [276] Year 1995
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN N E U E FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM UND HANS-JOACHIM MÄHL
BAND 77
BETTINA KNAUER
Allegorische Texturen Studien zum Prosawerk Clemens Brentanos
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1995
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
D 29
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Knauer, Bettina: Allegorische Texturen : Studien zum Prosawerk Clemens Brentanos / Bettina Knauer. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Hermaea ; N.F., Bd. 77) NE: GT ISBN 3-484-15077-7
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
ι
I. >DerSänger< 1. Entstehungsgeschichte und Problem der Anonymität
7
2. Die Liebe als hermeneutisches Prinzip und als Kommunikationsform
12
3. Tote Schönheit und »Schönheit der Handlung«
26
4. Symbiose und Differenz
32
5. Romantische Liebe in der »Prosa der Verhältnisse«
35
6. Textur als Struktur
42
7. Teppich und Blume: Das geistig-sinnliche Gewebe der Allegorie
48
8. Gewebe, Arabeske und Hieroglyphe
54
9. Die Gewebe- und Webmotivik im Spätwerk: Das Tuch des Webers Jürgo und die amaranthfarbene Decke Ameys
57
II. >Das Märchen von dem Myrtenfräulein< 1. Die zerrupfte Sternblume
71
2. Das zerstückte Myrtenfräulein
75
3. Der zerrissene Osiris und der verwundete Leib des Herrn
91
III. >Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter< 1. Romantische Geselligkeit
101
2. Phantasie im Horizont soziokultureller Diskurse
109
2.1. Wehmüllers Warenwirtschaft und die Dämonie des Tauschwerts 2.2. Wider den Gebrauchswert des Romantischen
112 120
2.3. Aufklärung über die Aufklärung
122
2.4. Der Scheincharakter von Kunst und Politik
125
3. Michaly: Romantischer Witz und orphischer Geist
129
4. Mitidika: Häßliche Hülle und schöner Kern
136
5. Die >Wehmüller< als Groteske
147
Exkurs: Kombination und vierfacher Schriftsinn
154
V
IV. >Das Märchen von Fanferlieschen Schönefüßchen< 1. Vorüberlegungen
2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
1 . 1 . Das Märchen im Horizont von Quelle und Anspielung . . . . 1.2. Allegorie und Arabeske Erzählen als Erinnern Geistliche Arzneimittellehre Exkurs: Poesiapermixta DielnsignienFanferlieschens: Schürze, Fuß, Pantoffel Exkurs: Weshalb Fanferlieschen einen Feennamen trägt? Aufklärungsstaat, Revolution und Philisterwelt Fanferlieschen und Laudamus: Brentanos kirchenpolitisches Bekenntnis Eucharistie und Transsubstantiation Die Legitimierung der Poesie im Gnadenakt: Fanferlieschens Trauerblumenlied Geschichte im Zeichen der Apokalypse Die Natur des Pumpelirio Holzebock Ursulas Sendung Exkurs: Todessymbol und Ewigkeit: Das alte Weib mit der blauen Schürze
12. Die Turmgeschichte: Das Verhältnis von Prophetie und Erfüllung 13. Erlösung
166 169 171 176 184 188 194 198 201 210 217 222 229 236 244 246 252
Nachweis der Motti
259
Literaturverzeichnis
260
VI
Einleitung
Wenn die Welt nicht einmal allegorisch wäre, was bliebe dann noch, was bliebe den Entfernten.
(Arnim an Bettine)
» . . . und so läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie«. 1 Dieses Wort Friedrich Schlegels gewinnt im Zusammenhang von Brentanos CEuvre eine ganz konkrete Bedeutung. Brentano wollte nicht, und er konnte es wohl auch nicht, von Poesie reden — als nur in Poesie. In dem berühmten Bekenntnisbrief an Philipp Otto Runge von 1808, an einen Künstler also, dem Brentano sich am nächsten verwandt fühlte, erklärt er gegenüber der Aufforderung des Malers, sich in ästhetischen Dingen auszutauschen, daß ihm zeit seines Lebens, zunächst durch Vernachlässigung, dann durch »nicht allzuweise« Anwendung, »alleThore philosophirender Abstraction gänzlich verschlossen geblieben« seien. 2 Die Sprache Brentanos ist eine Sprache der Bilder. Wie diese beschaffen und zu verstehen sind, darüber gibt er in seinem Aufsatz für die Zeitschrift >Hesperus< selbst einen Hinweis, indem er allegorische Sinnbilder der Umschlagzeichnung auslegt: D i e tiefere B e d e u t u n g , das freie Gleichgewicht und die zierliche Zusammenstellung der hier geordneten Sinnbildlichkeiten erfreuen uns um so mehr, als w i r in ihrer Aufstellung den Erfinder auf eine verständige Weise die zwei fehlerhaften Extreme der Allegorie vermeiden sehen, nämlich die Abgedroschenheit, und ihr Gegenteil die Ubersinnlichkeit. 3
Abgedroschen, das versteht sich, sind Brentanos Bilder nie, und wider den Fehler der Ubersinnlichkeit steht er mit der ganzen Kraft seines sinnlich-ästhetischen Genies ein. Etwas anders verhält es sich schon mit den Kennzeichen »koquette (sogenannte malerische) Art« und »zusammengeknebelte Attribute«, 4 die Brentano in Allegorien — eigentlich — vermieden wissen will. In einem nicht pejorativen Sinne aufgefaßt, impliziert die Charakteristik ja geradezu eine Leseanleitung für seine eigenen kunstvollen, aus heterogenen Elementen kombinierten allegori1
Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie. In: Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München, Paderborn, Wien 1958 fr. Bd. II, S. 285.
2
Brentano-Runge, S. 19. Werke II, S. 1046. Ebd.
3 4
I
sehen Texte. Wenn der Dichter dabei seine Bildvokabeln auch nicht »aus tiefsinnigen mystischen Brunnen geschöpft« hat, so daß »sieben Siegel« zur ihrem Verständnis »zu erbrechen« sind, 5 so ist doch zu rechnen damit, daß er sich, wie die geschickte Apothekerin aus den >RheinmärchenMärchenFanferlieschen SchönefüßchenBrief über den Roman< bezogen. Ihre genuine poetische Ausdrucksqualität, ja bereits die Frage nach der Realisation der komplexen Allegorien-Theorie wurden dabei weitgehend vernachlässigt. 8 Brentanos Spätwerk vom >Fanferlieschen< gibt das Exempel par excellence für das, was man allegorische Arabeske bezeichnen könnte und sollte. Philipp Otto Runges >TageszeitenSängers< für einen weiblichen Bildungsgang. Er schreibt: »Verschaffe dir doch den Kalathiskos, du kannst in dem Sänger mich, meine Liebe, und vieles erlernen, waß dir nüzzt«." Allein das Erscheinen der Erzählung in einem Taschenbuch für Frauen von Frauen bedingte, wenn das Programm strikt durchgeführt würde, die Ersetzung des männlichen Autornamens durch einen weiblichen Namen oder doch zumindest die Kennzeichnung >anonymSänger< erklären. Die Fragen der Datierung und das Problem der Anonymität führen damit ins Zentrum der Erzählung selbst. Das in Form von Briefen und Aufzeichnungen konzipierte Fragment ist erzählt aus der Perspektive einer Frau. Zunächst vage Ankündigungen eines anonym auftretenden Sängers, in dessen Figur Brentano dann wesentliche Aspekte der eigenen vie intime verschlüsselt — die Schwester Kunigunde weist er in dem oben zitierten Brief auf diese autobiographische Dimension hin - , veranlassen die Erzählerin Julie zu einem Überdenken ihres bisherigen Lebens und ihres Verhältnisses zu dem Bräutigam Karl. 2 2 Zunehmend 18
Mereau, Kalathiskos, S. IV.
,9
E b d . , S . III.
2
° V g l . Schmidt, Nachwort zu: Mereau, Kalathiskos. S. (8).
21
Anfang März 1 8 0 1 . F B A 29, S. 3 0 8 .
" M i t welch geringen Belegen bisher die Forschung über Entstehung und Kontext des >Sängers< spekulierte, zeigt eine Vermutung Werner Bellmanns. J u l i e n s Bräutigam Karl trägt denselben Vornamen wie G o d w i und dessen Freund Römer. Bellmann nimmt an, daß deshalb >Der Sänger< ursprünglich als eine Einlage zum >Godwi< geplant war. V g l . F B A 1 6 , S. 6 3 8 u. F B A 1 9 , S. 4 8 3 . Ähnlich spekulativ ist die Annahme, daß Brentano sein sich immer kritischer entwickelndes Verhältnis zu Sophie Mereau in der Beziehung zwischen J u l i e und Karl abgebildet hat; die Erzählung müßte dann nach dem Sommer 1 8 0 0 entstanden sein. V g l . F B A 1 9 , S. 4 8 0 . D e m widerspricht sowohl der pragmatische G r u n d z u g , der K a r l eigen ist und der besser zu Sophie Mereaus Ehemann Carl Mereau passen würde, als auch die brieflich dokumentierte und historischkritisch ausfuhrlich kommentierte Tatsache, daß Brentano in der Figur des Sängers wesentliche Aspekte der eigenen Biographie verarbeitet hat.
II
verknüpft Julie ihre eigenen Überlegungen mit der Darstellung der Lebensgeschichte des Sängers. Sie schreibt der Brieffreundin: Meine Seele ist überfüllt; ein neues wunderbares Leben, das mich sehr anzieht, entwikkelt sich an meiner Seite, und ein schönes Leben ist vor mir hinab gesunken. Ich wollte Dir die Geschichte des Mannes aufschreiben, der jetzt hier bei mir auf dem Gute lebt, aber da ist alles mit mir selbst zusammen geflossen, und ich kann die Geschichte des Mannes allein nicht mehr heraus finden. ( 4 3 ) 2 '
Der weiblichen Stimme ist die Charakteristik und die narrative Entfaltung des männlichen Parts anvertraut. Unter ihrem (Autor-)Namen teilt Julie der Brieffreundin den Lebens- und Entwicklungsgang des Sängers mit. Weibliche Erzählperspektive und anonymer — das heißt hier auch: nur durch die Stimme der Frau repräsentierter — männlicher Part reflektieren innerhalb der Erzählung sowohl den biographischen wie den werkinternen Kontext von Sophie Mereaus >Kalathiskospoetische< Hypothese zu Brentanos Mitarbeit an Sophies Almanach: sollte sie durch die Hingabe des Namens und der eigenen Erzählung die zwischen den beiden erhoffte Einheit von Poesie und Liebe dokumentieren? Auch zwischen dem Titel des Mereauschen Almanachs und dem dominanten Wort- und Bildfeld des >Sängers< läßt sich ein Bezug herstellen. Das Spinn- und Arbeitskörbchen der Frauen kann als äußerer Anknüpfungspunkt für die im wesentlichen verbal verwendete Metaphorik des Spinnens, Bindens, Flechtens, Webens, der Verschlingung und des Teppichs betrachtet werden, Formen und Produkte (weiblicher) Handarbeit, welche die Erzählung motivisch wie als ganze strukturieren. Denn der Text selbst ist durch die Metapher des Gewebes gekennzeichnet, ist ein Produkt, das durch Binden, Flechten, Weben, durch das Auflösen wie das Knüpfen von Knoten entsteht. Den Verschlingungen gilt es nachzugehen. Sie generieren den Text als Gewebe, das sukzessiv die »Auflösung eines Räthsels« (43) entspinnt und mit dieser Auflösung zugleich an einem qualitativ neuen geheimnisvollen Gebilde webt.
2. Die Liebe als hermeneutisches Prinzip und als Kommunikationsform Initiale der Aufzeichnungen und Briefe der Erzählerin Julie ist der Tod ihrer Schwester Antonie. Das Datum markiert einen Wendepunkt: während Julie bisher mit dem Leben Antoniens in keiner Beziehung stand — sie klagt: »O wie sehr wehe thut es mir, daß mein lustwandelndes Leben sich mit Antoniens ®3 FBA 19, S. 43.
12
fliegendem leichten Daseyn nicht verschlang« (43) — enthüllt sich mit dem Tod ein Rätsel, »in dem« Antonie für sie unerkannt verloren ging« (43), dessen Fügung und Auflösung erst eigentlich — gleichsam post mortem und über den Tod hinaus — ein Verstehen, eine Annäherung und einen gegenseitigen Austausch zwischen den beiden Schwestern und ihren unterschiedlichen Existenzformen möglich macht. Juliens Reflexionen umkreisen in der Weise das Wesen der Schwester, daß deren einstige Fremdheit, Ferne und Abwesenheit, die durch den Tod endgültig besiegelt schienen, sich nach und nach auflösen und erschließen und — hermeneutisch integriert — zu einer qualitativen Veränderung ihres eigenen Lebens führen. Die Todesnachricht wird Julie von dem ehemaligen Geliebten der Schwester, eben dem geheimnisvollen, namenlos bleibenden Sänger überbracht, mit dessen Erscheinen sich zugleich - wie sie schreibt - »ein neues wunderbares Leben, das [sie] sehr anzieht«, neben ihr entwickelt und mit ihrem Leben in eins zusammenfließt, so daß sie »die Geschichte des Mannes allein nicht mehr heraus finden« kann (43). Der Sänger ist aber nicht nur Überbringer der Todesnachricht, sondern auch Bote eines lebendigen Erbes. Mit folgenden Versen übermittelt er die letzten Worte Antoniens, die seinem und der Schwester Leben einen gemeinsamen, auf Antonie bezogenen Sinn verleihen: Theile, was du mirgetheilet, Ihr, die noch im Leben weilet, Bilde ihr ein freundlich Glück; Und ich schaue dann hernieder, Sehne aus dem Himmel wieder Auf die Erde mich zurück. (50)
Antoniens Wesen, die Zeichen »ihres stillen unsichtbaren Wirkens« (43), zu denen die Schwester zu ihren Lebzeiten keinen Zugang fand, weil sich ihr beider Leben nicht miteinander »verschlang[en]«, webt sich mit diesen Worten in die sich entwickelnde Liebesgeschichte zwischen Julie und dem Sänger ein. Was beide in einem höheren Sinne zusammenführt und was sie für einander so anziehend macht, ist eben das Rätsel, das mit dem Leben und Wirken Antoniens verbunden ist. Die Präsenz des Rätsels erfahrt Julie mit dem Tode der Schwester als Erweckung zu einem anderen, höheren Leben. Als sie zum erstenmal die Stimme des Sängers vernimmt, heißt es: Ich war in einer wunderbaren Angst, als hätte sich ein Räthsel mit einem Räthsel gelößt, es war mir als sei ich aus einem Traume ins Leben erwacht, es habe sich dicht an den Traum angereiht, und plötzlich wäre die Hülle vor meinen Augen wieder nieder gesunken, und in mir selbst sey die Reihe der Bilder träumend weitergezogen. (48)
Irritationen, eine >wunderbare AngstGespräch über die Poesiefesseln< vermag, und sie ist Namensgeberin. Im Namen der Schwester Julie und im Namen des Sängers, das heißt im Namen von beider Liebe kommt das »fliegend[e] leicht[e] Daseyn« Antoniens zur Anschauung, erhält ihr »Wesen«, das »nur im Fluge schwebend gleichsam blos mit ihren Schwingen das Leben« berührte, irdische und materielle Substanz, wird das »stillfe] unsichtbare] Wirke[n]« (43) Sprache. Beider Liebesgeschichte ist sprachliche Expansion — und dies meint in extenso letztlich den Text der Erzählung, die im wesentlichen diese Liebesgeschichte ist, selbst - und Explikation des Rätsels, für das Antonie allegorisch eintritt und das, wie es wiederum Juliens »Ahndungen« 27
Vgl. Hans Robert Jauß, Zum Problem des dialogischen Verstehens. In: Dialogizität. Hrsg. von Renate Lachmann. München 1982. S. 11 —24. Hier: S. 1 3 . 38 Vgl. ebd. 29 Ebd.
15
bereits erraten ließen, das Rätsel des höheren Zusammenhangs von Geist und Natur, Himmlischem und Irdischem, Ewigem und Zeitlichem meint. Brentanos Verschränkung von theologischen und hermeneutischen Aspekten, mit denen das Liebesmotiv im >Sänger< inthronisiert wird, weist zurück auf das paulinische Denkmodell von »Geist und Buchstabe«, 3 0 wonach der Geist als das den Menschen »umwandelnde Geschehen und Vernehmen der göttlichen Selbstmitteilung« 3 ' begriffen wird, der Buchstabe allein jedoch tötet. Bei Origenes bedeutet die »Erhebung zum geistigen, allegorischen Sinn Existenzwandel«. 32 Einen solchen — dies nur, um den Bezug auch im einzelnen zu verdeutlichen — vollzieht Julie in dem Moment, wo der spiritus vivificans sich in ihre Seele senkt, ein Vorgang, den Brentano als Erfahrung einer überfüllten Seele mystisch konnotiert (43). Paulus gebraucht das Modell im adversativen Sinne, das heißt, er geht von einer ontologischen Differenz von Körperlichem und Geistigem aus. Diese Differenz wird erst mit Luther - in Ansätzen bereits bei Augustinus — in eine Wechselwirkung überführt, in der die Bindung des Geistes an den Buchstaben in einem hermeneutischen Zusammenhang erscheint. 33 Auf das lebensschaffende und verwandelnde Prinzip des Geistes, durch den die Endlichkeit — paulinisch gesprochen: das Gesetz/Gesetztsein des Buchstabens — transzendiert wird, verweist Brentano in Form tröstender Worte in einem Brief an Antonie Brentano, deren Tochter Mathilde im Frühjahr 1800 gestorben war. Er schreibt: Umarme das Leben, das dir noch gestattet ist und sprich deinen heiligen Sinn in einem andern Worte aus. Es wird nicht wieder Mathilde heißen, die hat aufgehört ein Wort zu sein, sie ist aus dem Buchstaben, aus dem plastischen Dasein, dem Körper, zurückgetreten, sie ist ein zartes Abendgemälde, eine Erinnerung geworden. 3 4
30
R o m . 2 , 2 7 ; 2 , 2 9 ; 7,6; 2 . K o r . 3 , 6 .
31
Gerhard Ebeling, Geist und Buchstabe. In: D i e Religion in Geschichte und Gegenwart. 3. völlig neu bearbeitete A u f l . Tübingen 1958. B d . II, Sp. 1 2 8 9 — 1 2 9 6 . Hier: Sp. 1 2 9 1 . Die weitverzweigte und problemreiche Geschichte des Verständnisses und der Verwendung des paulinischen Modells ist bisher nicht hinreichend dokumentiert. Seine Bedeutsamkeit im romantischen K o n text wurde bislang nur für das Werk Friedrich Schlegels nachgezeichnet. Schlegel benutzt das Modell -
unmittelbarer Anstoß dazu wird J . G . Fichtes »Über Geist und Buchstabe in der
Philosophie« ( 1 7 9 4 ) gewesen sein - zur B e s t i m m u n g eines »antiklassischen nachantiken und antiklassizistischen nachmodernen romantischen kunsttheoretischen Konzepts«. V g l .
Günter
Oesterle, Arabeske und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Friedrich Schlegels »Brief über den R o m a n « . In: Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode. H r s g . von D i r k Grathoff. Frankfurt a . M . , Bern, N e w York 1 9 8 5 . S. 2 3 3 —292. Hier: 2 6 0 . V g l . Bolz 1 9 7 9 und Gerhard N e u m a n n , Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1 9 7 6 . S. 5 4 4 — 5 4 9 . 3a
Ebeling 1 9 5 8 , Sp. 1 2 9 2 .
" E b d . , Sp. I 2 9 3 f . 34
F B A 2 9 , S. 2 1 7 .
16
Wie in einem textum materialisiert sich der Geist im Leben als Buchstabe in Form des »plastischen Daseinfs]« des Körpers. Den paulinischen Geist, als das lebenserschaffende Prinzip, sieht Brentano dabei in der Lebensbewegung selbst am Werke, wodurch die ontologische Differenz von Geist und Körper, wie sie in der paulinischen Antithese vorausgesetzt ist, aufgehoben erscheint. In der Wechselwirkung des Lebens, seinen wechselnden Gestalten, die als Selbstmanifestationen des Geistes zu verstehen sind, beschreibt der Tod nur den Moment des Ubergangs und der Transformation. In einem Brief an Bettine drückt Brentano diese geistige Bewegung des Lebens so aus: » [ . . . ] der Tod aber ist in jedem Momente des Lebens, da das Leben nichts ist, als das ewige Zurückkehren und Hervorgehen des Lebens aus und in sich in demselben Momente«. 3 5 Als dasjenige, was die Wechselwirkung des Lebens und Geistes mit dem Körper und dem Buchstaben als dem anderen seiner selbst gleichsam in Gange hält, was den Buchstaben in seiner endlichen Gestalt auf ein Unendliches hin transzendiert, bezeichnet Brentano im Bild der >Umarmung des Lebens< die Liebe. Liebe als hermeneutisches Prinzip und als Kommunikationsform zugleich ist die eigentliche Entdeckung der romantischen Hermeneutik. In F. D. Schleiermachers >Monologen< ist Liebe, wie es Karl-Heinz Göttert zusammenfaßt, »die Voraussetzung eines Verstehens, das über die Verständlichkeit der Sachen hinausgeht«, das zu einem »Verstehen des andern«, zu einem »Zugang zum Fremden« wird. 3 6 Was in den >Monologen< theoretisch expliziert wird, das ist nach dem Selbstverständnis des Dichters der Poesie - und beim frühen Brentano meint dies immer auch die Poesie des Lebens selbst - als solcher eingeschrieben. Deine Poesie »verdankt« ihren »eigentlichen Werth, der herrlichen kräftigen Expansion deiner Liebe« in ihr, schreibt Brentano 1802 an Arnim. 3 7 Poesie als »Expansion der Liebe« ist in Brentanos >Sänger< Ausgangspunkt und movens einer höchst komplexen allegorischen Textstruktur, in der die einzelnen Handlungselemente, die Motivstruktur, das Geschehen im ganzen zum Zeichen einer universal verstandenen Kommunikationsform der Liebe generieren. Liebe reflektiert dabei sowohl auf das »Verstehen in der Sprache« als auch auf das »Verstehen im Sprechenden«, 38 ist sowohl Verstehens- als auch Verständigungsorgan. Was Brentanos poetologische Hermeneutik besonders auszeichnet, sind Überlegungen zur Zeitlichkeit des Verstehens, die von der romantischen Hermeneutik sonst eher am Rande behandelt werden. 39 Die Analo" F B A 30, S. 157. 36 Karl-Heinz Göttert, Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988. S. 182, S. 1 8 1 , S. 1 8 3 . 37 38
39
F B A 29, S. 490. Z u diesem »Doppelaspekt« in der Schleiermacherschen Hermeneutik vgl. Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt a. M. 1977. S. 160. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Das hermeneutische Problem der Anwendung. In: Seminar: Philo-
17
gie, die Julie zwischen dem Andenken an die Schwester und der Wirkungsgeschichte eines Liedes bildet, kann dies verdeutlichen und fuhrt uns zu den hermeneutischen Implikationen im >Sänger< zurück. Julie schreibt: Es giebt leise, unendlich zarte Lieder, die wir nicht hören, wenn sie von der Lippe k o m m e n , die gleichsam erst vom Echo ergriffen nochmals ausgesprochen werden müssen, wie das G o l d m i t andern Metallen versetzt werden muß, und viele D i n g e nur in Symbole gekleidet uns bekannte Begriffe werden. ( 4 3 f . )
Echo, Metall, Symbol stehen wie der Name fur eine irdisch-geistige Korrespondenzstruktur, die, in die Sprache und Kommunikationsform der Liebe eingeholt, das »Lied«, »das in allen Dingen schläft« 40 — um es mit Eichendorff zu paraphrasieren - vernehmlich und verstehbar macht. Liebe ist die Zauberformel, die das Lied zum Erklingen bringt. Daß das Vernehmen und Verstehen des Liedes unter geschichtlichen Bedingungen steht, was einschließt, daß das Lied nur dann verstanden wird, wenn es jeweils anders, im anderen seiner selbst verstanden wird, 4 ' fuhrt Brentano in der Fortsetzung des Lied-Vergleichs aus: Wenn das leise Lied verklungen ist, und uns von jenseits herüber spricht, so ist es erst für uns gestaltet, wir erbauen die Auflösung noch einmal, und bilden nun das Lied, das wir singen und lieben, aber es ist immer eine Elegie. (45)
Im Hinblick auf Sprache und Zeitlichkeit formuliert Brentano hier wesentliche Aspekte des hermeneutischen Prinzips der Wirkungsgeschichte. 42 Das nachgebildete Lied ist reproduktive Wiederholung eines ursprünglichen Zusammenhangs, das in der Auslegung zur Sprache bringt, was »von jenseits herüber spricht«. Im Moment des Elegischen ist die Zeitlichkeit des Verstehens reflektiert. Was am Lied geschieht, steht dabei stellvertretend für die Endlichkeit des Menschenlebens, zu dessen Reflexion Julie durch den Tod Antoniens veranlaßt wird. Augustinus hat in den >Bekenntnissen< eben diesen Zusammenhang dargestellt. Ich zitiere die Passage ausfuhrlich, da sie m. E. Brentano sowohl als Quelle für seinen Vergleich wie im Ganzen als Folie seiner hermeneutischen Überlegungen gedient haben könnte: Ich will ein Lied vortragen, das ich kenne. Bevor ich beginne, richtet sich meine Erwartung auf das Ganze. H a b e ich damit begonnen, dann richtet sich mein Gedächtnis auf den Teil, den ich zum Vergangenen hinübergelegt habe. Das Leben dieser meiner Tätigkeit spaltet sich dann auf in die Erinnerung an das bereits von m i r Gesungene und
40
41
42
sophische Hermeneutik. Hrsg. von Hans Georg Gadamer und Gottfried Boehm. Frankfurt a. M. 1976. S. 327 — 332. Hier: S. 329. Joseph von Eichendorff, >WünschelruteSänger< erbaut. 44 Es ist deshalb Elegie, weil, nachdem seine einzelnen Teile noch einmal zusammengefugt sind, »die ganze Tätigkeit zu Ende gekommen und in die Erinnerung eingetreten ist«. Julie schreibt: »nur die Erinnerung ist ein Gewand, um sie dem Blicke zu fesseln« (44). Das elegische Moment meint im wesentlichen den Rückfall des Liedes an die Zeit, aus der es nur in erneuter Wechselwirkung von Erinnerung und Erwartung wieder(ge)holt werden kann. In einem Brief an Bettine, in dem Brentano der Schwester die Vergegenwärtigung ihres Bildes vor seinen Augen schildert, finden wir noch einmal diese Reflexion auf die temporäre Struktur des Verstehens. Brentano schreibt: ich empfinde recht deutlich, wie Erinnerung und Sehnsucht einander so ähnlich sind, daß sie sich sogar ergänzen. U n d was die Erinnerung nie gewußt hat, das kann die Sehnsucht in Erfahrung bringen und es der Erinnerung überliefern. Daß ich Dich so lebhaft vor m i r sehe und in jeder Minute Deiner gedenke, ist doch nur eine Folge davon, daß Dein B i l d erst so kurze Z e i t deutlich in mir aufgeregt ist durch Deinen Brief, und hätte ich nun seit längerer Z e i t nichts von D i r erfahren, so würde mein Sehnen danach der Erinnerung die Rolle abnehmen. D i e N ä h e hinter und vor uns, regt uns gleich stark an. Was wir vergessen tödten wir, wessen wir gedenken das beleben wir. Was uns vergißt das tödtet uns. J e d e Sehnsucht ist Begierde zu bilden, zu gebären, jede Erinnerung ist eine W i e d e r g e b u r t . 4 5
Eine dauerhafte »Wiedergeburt« oder, um es anders zu formulieren, einen beständigen Widerhall des Liedes im Gegenwärtigen ermöglicht nach Brentano allein die Liebe, die für die hermeneutische Wechselwirkung, des »Wechsel43
Augustinus, Bekenntnisse. Mit einer Einleitung von Kurt Flasch übers., mit Anmerkungen versehen und hrsg. von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Stuttgart 1989. 11.Buch, X X V I I I . 3 7 . S. 330. 44 Z u r Rezeption der Zeitauffassung Augustins in der deutschen Barocklyrik vgl. Herbert Anton, Allegorischer und mystischer Zeitsinn in deutscher Barocklyrik. In: Festschrift für Manfred Windfuhr zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Gertrude Cepl-Kaufmann. Köln u.a. 1990. S. r~ I s . Bes.:S.4ff. 45
F B A 30, S. 155.
19
lebens zwiefach-lieblich Bild« (76), wie es im >Sänger< auch heißt, überhaupt einsteht. In die »lebendige Gegenwart des Gesprächs«, 46 der Liebenden eingeholt ereignet sich die »Wiedergeburt« Antoniens, die Brentano in das Bild von Verklärung und Auferstehung kleidet. 47 Julie erfährt in der Liebe zum Sänger die > Wiederkehr < ihrer Schwester so: Es ist mir, als habe ein schöner Engel in mir geweint, sey müde eingeschlummert, und mit ihm alle Freude, aller Glaube an ihr Wiederkehren. N u n aber da die Lüfte so leicht und kühl durch seine Locken spielen, da die Sonne so warm auf sein Herz scheint, und das meinige auf dem er ruht, sich heiter hebt, hat er die Augen aufgeschlagen, der freudige hohe Himmel verschlingt seinen Blick, und er sieht überselig aus mir in die Weithinein. (55)
Eine außerordentlich dichte Passage, die in Stil und Bildgebrauch repräsentativ für Brentanos allegorische Erzählkunst im >Sänger< stehen kann. Das Motiv von Schlaf und Erwachen, das Brentano häufig verwendet, führt das Thema ein. Es ist das christliche Symbol für Tod und Auferstehung: Christus ist »auferstanden von den Toten
und
(1.Kor. 15,2ο).
48
der Erstling geworden
unter denen,
die
da schlafen«
Der schöne Engel, ein Sinnbild für Antoniens ätherische,
>fliegende leichte< Existenz, der, weinend in der Schwester, noch einmal fur die Trauer und Klage um den Verlust Antoniens einsteht, ist in der Liebe »überselig« wieder erstanden. Im Bild des Herzens als dem Symbol der Liebe und als Bezeichnung für einen verhüllten, geistig-seelischen Innenraum verbindet Brentano das hermeneutische Prinzip der Liebe mit dem paulinisch im Geist sich vollziehenden, umwandelnden Geschehen, das nicht »auswendig am Fleisch«, »im
Buchstaben«,
sondern
»inwendig
verborgen«
im
Herzen
geschieht
(Röm.2,25ff.). 46 47
G a d a m e r i 9 6 0 , S. 3 5 0 . V g l . J a u ß 1 9 8 2 , S. 1 8 . V g l . auch das Sonett >Auferstehung und Metamorphosen das im Umkreis des >Sängers< entstanden sein dürfte. (Werke I, S. 7 5 ) . Bei Augustinus, dies soll hier zumindest noch angemerkt werden, wird der Z i r k e l der Zeitlichkeit des Verstehens und damit die Endlichkeit des Menschenlebens transzendiert in der Vermittlung des Menschensohns. G e g e n das >Zerrinnen< »in den Zeiträumen« steht die »Folge einheitlicher Lebensrichtung« in Christus; eine Folge, die bei Brentano in der Wechselwirkung der Liebe und des Lebens selbst begründet liegt. Ich zitiere die entsprechende Passage aus den >BekenntnissenDer Sänger< ist eine Erzählung in Briefen. Die funktionale Grundqualität des Briefes hat Luise Rinser einmal als »Monolog, der ein Dialog sein will« 4 9 bezeichnet. Sie gilt sowohl für den nicht-fiktiven wie für den fiktiven bzw. literarischen Brief, auch dann, wenn es sich um eine einseitig-monologische Korrespondenz, das heißt um Briefe eines Schreibers ohne Antwortbriefe, handelt. 50 Ein Verstehen, das wie im >Sänger< so eng mit dem Modell des Gesprächs, dem Dialog in der Liebe verknüpft ist, wird auch auf die potentiell dialogische Struktur des Briefes reflektieren. Die Empfängerin der Briefe Juliens, dies zeigt folgende Passage, wird in den Dialog, aus dem die Brieftexte hervorgegangen sind, einbezogen und an dem hermeneutischen Prozeß der Sinnkonstitution beteiligt. Julie fordert die Brieffreundin Theresa auf, mit dem Mitgeteilten folgendermaßen zu verfahren: D a habe ich D i r nun eine ganze Perlenschnur eingereicht, und mich freut, daß ich ohnwillkürlich von meinen Thränen über den Verlust Antoniens darauf k o m m e , eine Reihe der sogenannten Perlen einzufädeln. O f t kommen m i r diese meine einzelne Ideen wie Quecksilber vor, das der Staub der Erde in einzelnen Küchelchen beschmuzt hat, die sich deswegen ungern in eine glänzende Masse vereinigen. Willst D u sie sammeln und reinigen, liebe kluge Frau, so wird D i r der erste Blick in den Spiegel den D u bildest, ein Lohn sein. (45f.)
Die Bedeutung der Perlen und Tränen erschließt sich aus einer alten Bildtradition. Perlen gelten als irdische und materielle Sedimente des Geistigen. Sie entstehen dort, wo der Geist sich mit den Irdischen berührt, wo eine Vereinigung von Himmlischem und Irdischem stattfindet. In der Dichtmetaphorik wird die Entstehung von Perlen zum Ausdruck inspirierter Dichtung. 5 1 »Dichtrische Perlen«, wie es bei Goethe 52 heißt, sind es, die Julie der Brieffreundin reicht. Indem sie diese auffordert, die Perlen zu sammeln und vom »Staub der Erde« zu reinigen, bezieht sie die Briefpartnerin produktiv in das Deutungs- und Sinngeschehen ein. Die von der Anschauung — durch das Bild und Symbol wie durch die Vermittlung in der Sprache —, hier konkret in der brieflichen Mitteilung verdunkelte Wirksamkeit des Geistes soll von Theresa wieder an eine aszendente, aus dem irdischen Buchstaben sich lösende Bewegung des Geistes geknüpft werden. War die Schnur, auf der Julie ihre Perlen »eingereicht« hat, eine, die symbolisch 49
Luise Rinser, Der Brief des Schriftstellers. In: J b . deutsche Akademie fiir Sprache und Dichtung 1975. Darmstadt 1976. S. 107 —112. Hier: S. 108. Zitiert bei: Reinhard M. G. Nickisch. Brief. Stuttgart 1991. S. 1 1 . 50 Nickisch 1991, S. i89f. 51 Vgl. Friedrich Ohly, Tau und Perle. In: Friedrich Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977. S. 274 — 292. Hier: S. 279. Vgl. ders., Die Geburt der Perle aus dem Blitz. In: Ohly 1977, S. 293 — 3 1 1 . 55
Goethe, West-östlicher Divan. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. 1 1 . überarbeitete Aufl. München 1978. Bd. II, S. 71 u. S. 58. Vgl. Ohly 1977, S. 28off.
21
die Deszendenz des Geistes in die Materie, in den Buchstaben b e s c h r i e b , 5 3 so verläuft die symbolische S a m m l u n g u n d R e i n i g u n g der Perlen in der produktiven Rezeption d u r c h Theresa in umgekehrter R i c h t u n g . » D i e Materie d r i n g t aus der Materie,
und der G e i s t aus dem G e i s t e , aber beide sind innig
verbunden,
unzertrennlich u n d eins« ( 5 9 ) . So beschreibt Brentano die Korrespondenz von unten nach oben und vice versa, die — gekoppelt m i t d e m D i a l o g - das S i n n g e schehen in einen zweifachen Bezugsrahmen stellt: in vertikaler D i m e n s i o n g i l t sie einer höheren V e r b i n d u n g von N a t u r und G e i s t , in horizontaler A u s r i c h t u n g verweist sie auf das Zueinanderfinden von Ich und D u . D i e Liebe als hermeneutisches Leitprinzip, als beziehungsstiftender G e i s t und als K o m m u n i k a t i o n s f o r m bindet dies alles zu d e m G e f l e c h t , für das >Der Sänger< als T e x t i m Ganzen einsteht und das ihn, w i e ich meine, als einen der ästhetisch radikalsten, i m poetischen A u s s a g e g e h a l t höchst komplexen u n d hermeneutisch reflektiertesten Texte der R o m a n t i k und über diese hinaus charakterisiert. D e r » S p i e g e l « , der von Theresa gebildet werden soll, ist zu verstehen als K o m m e n t a r z u m T e x t , 5 4 jedoch nicht i m Sinne einer >SekundärliteraturChronika des fahrenden Schülers< zur Bestimmung eines kunsttheoretischen Konzepts. (Vgl. FBA 19, S. 146 u. S. 570ff.). Mittels der Allegorie als eines Spiegels leistet der Dichter einen Kommentar zu der schaffenden und geschaffenen Welt, verhält sich also rezeptiv-interpretierend zur Welt und ist zugleich in den Schaffensprozeß selbst einbezogen. In den Dichtern koinzidieren daher, so Brentano, zwei Formen des Umgangs, ein reproduktiver und produktiver, ein aufnehmender und schaffender. (Vgl. ebd., S. 572). Der Spiegel (als allegorisches Kunstwerk) selbst ist als ein lebendiger Spiegel (bei Leibniz: miroir vivant; vgl. ebd., S. 570) bestimmt, der die wirkende und schaffende Kraft im Geschaffenen in die dynamis und Verweisungskraft des allegorischen Zeichens einholt, das als gebildetes, geschaffenes Zeichen selbst nur transitorischer Ausdruck einer geistigen Bewegtheit, eines schaffenden Prinzips ist. In einem Brief an Rahel Varnhagen vom 14. August 1 8 1 3 schreibt Brentano: » [ . . . ] die Versteinte Welt [ist] im Christentum in Thränen zerfloßen, und ist wieder ein Spiegel worden der ganzen Schaffenden Geschaffenen Welt, und ein keusches Bild, nur färbend, ein Abschatten in die Idee, [ . . . ] « . (Zitiert nach: FBA 19, S. 572). Mit der »Versteinten Welt« meint Brentano »die alte heidnische schöne Welt« (ebd.). Brentano bindet den Gegensatz von antik und modern, heidnisch und christlich in das Modell von »Geist und Buchstabe« ein, in dem die
22
dern im Sinn einer hermeneutischen Partnerschaft, in der der Text sich als solcher erst konstituiert. Zwischen Produktion und Rezeption steht der Text nicht als vollendetes Werk, sondern als Produkt eines dialogischen Verstehens, einer gemeinsamen Suche nach Sinn, die ihr vorläufiges Ende erst mit dem Tod, als einer »Vollendung« des Werkes, findet. Doch selbst der Tod, das wurde oben an der Wirkungsgeschichte des Liedes expliziert, ist nur transitorisches Moment in einem Text, der die Entbindung des Geistes aus dem Buchstaben mit der Basisenergie des Lebens in eins setzt. Der dialogische Produktionsverbund, den Brentano dann wenig später mit dem »Herzbruder« Arnim bilden wird, aus dem >Des Knaben Wunderhorn< entsteht, und derjenige, den er in der Spätphase seines Werkes mit der stigmatisierten Nonne Anna Katharina Emmerick versucht, haben hier ein poetisch immanentes Vorbild. Es sind beidemal einzigartige Partnerschaften, in denen Brentano sich als Redakteur, als Mittlerinstanz versteht, deren Aufgabe vornehmlich in Auswahl und Anordnung des von dem Freund oder der Nonne Mitgeteilten und auktorial Verantworteten bestehen soll. Brentano hat gegenüber seiner Schwester Kunigunde die Unabschließbarkeit des >SängersSänger< zu formulieren, der vollständigen Auflösung des Rätsels. Damit dies nicht geschieht, damit gleichsam die hermeneutische Sinnsuche als eine dichterische — und literaturwissenschaftliche — (Liebes- und Lebens-)Lust im und am Text erhalten bleibt, setzt Brentano den Imperativ der Liebe: »Wer das Leben liebt, lebt der Liebe« (66), Worte, die eine Paraphrase von Sophie Mereaus oft zitierten Ausspruch gegenüber dem Geliebten »Lebe der Liebe und liebe das Leben«' 6 darstellen. 57 Die Kunst der Liebe im Doppelsinne einer Lebensliebe und eines Liebeslebens stellt wie die an ihr gebildeDominanz des (christlichen) lebensschaffenden Geistes das Gesetztsein des Buchstabens, die Versteinerung der Welt in der schönen Form, aufhebt und im Spiegel christlicher Weltanschauung erlöst. Z u r Verklammerung des Epochenmodells antik-modern mit dem Denkmodell von »Geist und Buchstabe« bei Friedrich Schlegel, das diesem zur historischen und literarästhetischen Präzisierung der eigenen romantisch-christlich-modernen Position dient, v g l . Oesterle 1 9 8 5 , S. 2 5 8 f f . " M ä r z 1 8 0 1 . F B A 2 9 , S. 3 0 8 . 56
Lebe der Liebe und liebe das Leben. Der Briefwechsel von Clemens Brentano und Sophie Mereau. M i t einer Einleitung hrsg. von Dagmar von Gersdorfif. 2 . A u f l . Frankfurt a. M . 1 9 8 3 . S. 8 5 .
57
Schillers »Lehrling zu Sais« büßt mit dem Tod dafür, daß er den Besitz der Wahrheit über die Suche nach dieser stellt. Indem er den Schleier vom Bildnis der Göttin reißt, damit die Sinn- und Wahrheitssuche zu einem Ende bringen will, zerreißt er den Lebensfaden.
23
te Hermeneutik die Suche nach dem anderen, den Zugang zum Fremden vor dessen Besitz. Sie opponiert — und mit ihr die Poesie, die eine »Expansion der Liebe« sein soll — gegen einen Zugang zum anderen, der im Wahrheitsbegriff der neuzeitlichen Wissenschaften fundiert ist. Hans Blumenberg hat diesen so bestimmt: »Die Neuzeit gibt, unter dem normativen Begriff der »Objektivität«, prinzipiell jeden Vorbehalt in bezug auf die Wahrheit auf: sofern sie einmal dem Gegenstand abgewonnen, abgenötigt ist, wird sie zum öffentlichen Eigentum der Menschheit, zur prinzipiell jedermann zugänglichen Sache; erkennen und »veröffentlichen« ist für den professionell fungierenden Forscher der Neuzeit so gut wie dasselbe, und das barbarisch Nackte bleibt Stilmerkmal solcher »Veröffentlichung««. 5 8 Zunächst ohne einen weiteren Kommentar sei dagegen eine in der Poesie selbst vollzogene Hermeneutik gestellt, die >liebend< sich der Welt nähert und die Brentano in Juliens Erfahrung einer Mondnacht folgendermaßen zum Ausdruck bringt: Für mich liegt ein großer Zauber in diesen unbestimmten Bildern, in denen die Harmonie des Innern noch m i t den A u g e n und ohne Vergleichen erkannt wird, wo alle halben Töne durch das Ganze noch erscheinen, und die heimlichste Verwandtschaft sichtbar ist. W i r berühren bei solchen Anschauungen gleichsam die N a t u r auf allen Punkten, weil ihr Inhalt über die Oberfläche hin zu laufen scheint. Wenn ich in das Thal hinab sehe, und sich alles in einander in sanftes Dunkel, und Farbenschimmer löst, kein U m r i ß mehr die Rechte eines Einzelnen hervorruft, sich alle Gestalten durchdringen, und i m Mondenschein wie leise Wellen in einem goldnen fernen Meere zu wogen scheinen, so wird mir das Leben verwandt, daß ich es m i t mir, in mich selbst zurück nehme. D i e N a t u r zieht eine wollüstige Decke über mich, und wo sie mich berührt, durchdringt mich eine unerkannte süße Flamme. Ich fühle mich nicht deutlicher wie in einem süßen Traume, der sich an den heiligsten Fäden verborgener Wünsche entsponnen hat, in dem auch die Liebe sich bewegt, und es ist mir, als schwämme ich eben so unbestimmt schön in der Mondnacht.
(6^f.)
Hier ist nichts Sache, nichts Gegenstand: in »unbestimmten Bildern« ist alles Feste, Abgegrenzte und dual Strukturierte in ein Flüssiges, Unbegrenztes, Bewegtes aufgelöst und in einem Gewebe traumhaft heimlicher Verwandtschaft verschmolzen. Die verbale Dynamik der Worte laufen, lösen, durchdringen und wogen veranschaulicht die Präsenz einer geistigen Bewegung, in der Dinge sich verwandeln, Umrisse und Konturen verschwimmen, »sich alle Gestalten durchdringen« und im sympathetischen Miteinander die Grenzen des Wirklichen auf eine höhere Einheit hin transzendiert erscheinen. 59 Das Unbestimmte selbst steht 58
Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Mecapherologie. Bonn i960. S. 54.
59
Die oft gerühmte Musikalität der Brentanoschen Sprache, insbesondere in der Lyrik, lebt ebenfalls aus solchen Bewegungen. Sie gehorcht, wie es Horst Meixner formulierte, einem Prinzip »der sympathetischen Verbindung«. Reime, Alliterationen und Assonanzen schaffen einen »Aggregatzustand«, in dem das feste Bild und Zeichen sich auflöst und übergeht »in Klangverwandtschaft«.
24
für den Geist der Liebe, der, wie Schlegel sagt, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem schwebt und in einer Dynamik des Verweisens das Geistige ins Materielle, das Feste in Bewegung transformiert. Hier ist keine »vage, unverbindliche Stimmungskunst« intendiert, sondern ein Hinweis »auf das sonst nicht Sichtbare« gegeben. 6 0 Wenn im >Sänger< Verwandtschaft und verrätselte Beziehungen unter den Personen zum Motivbestand gehören, dann sind dies nicht irgendwelche vordergründigen Verbindungen, die sich auf eine Jugendliebe beziehen, sondern es sind diese »heiligsten Fäden«, die Unsichtbares und Sichtbares zu einem höheren Gewebe verweben. Die hermeneutisch-vermittelnde Funktion der Liebe findet in den »unbestimmten Bildern« ihren gestalterischen Ausdruck. Joseph Görres hat in >Glauben und Wissen< (1805) diese Ausdrucksqualität auf das Kunstgebilde im Ganzen, das als Figuration der Rätselhaftigkeit bestimmt ist, übertragen. Er schreibt: N i c h t helle Klarheit soll daher von den Kunstgebilden strahlen, nicht durchsichtig soll ihr Innerstes sich dem schauenden Blick erschliessen, eine liebliche D ä m m e r u n g , ein gefalliger Schein soll nur um ihre Oberfläche spielen, eine gediegene Fülle soll aus ihnen uns ansprechen, und uns in ihre unergründliche Tiefe laden, ein unsichtbares Wehen m u ß die K u n s t an uns vorüberfliessen, ein verborgener Strom soll sie, dahinrauschend sich bewegen, aber die Wellen dieses Stromes sollen in Tönen klingen, und wie sie vorübergleiten, sollen sie alle Gefühle regen, alle A f f e k t e wecken, aber vor allem das tiefe unerklärbare Sehnen, das uns weit und immer weiter in die Ferne zieht und windet. Reine Individualität, gediegene Fülle ist daher das Wesen der K u n s t , und das zauberische Z w i e l i c h t , das sie umgiebt ist ihre eigenste N a t u r , und das Rätselhafte, Tiefverborgene, Unaussprechliche ihr R e i t z . 6 '
Das Ineinanderspielen von Oberfläche und Tiefe, das Görres hier beschreibt und das Brentano in Juliens Erleben einer Mondnacht darstellt, in der die Welt ebenfalls in »zauberische[s] Zwielicht« getaucht als fluoreszierenden Übergang von Inhalt und Oberfläche gestaltet ist, geben ein Beispiel dafür, was im >Sänger< »Auflösung eines Räthsels« (43) eigentlich meint: die in der Liebe affektiv wie kognitiv gleichermaßen erfahr- und erfaßbare Präsenz einer höheren, dynamisch bestimmten Verbindung von Geist und Natur. In der Figuration einer »wollüstige[n] Decke« der Natur (65) erscheint die »Auflösung des Räthsels«, die, wie zu Beginn der Erzählung thematisiert, an die Verschlingung von Juliens »lustwandelnde[m] Leben« mit Antoniens geistigen »fliegendem leichtem Daseyn« (43) im Sinne eines >postmortalen< Verstehens gebunden war, in einem kosmischen Horst Meixner, Denkstein und Bildersaal in Clemens Brentanos »Godwi«. Ein Beitrag zur romantischen Allegorie. In: Jb. der deutschen Schillergesellschaft 1 1 , 1967. S. 435—468. Hier:
S- 455·
60
Mittenzwei 1980, S. 2 1 3 .
61
In: Joseph Görres, Gesammelte Schriften. Hrsg. von Wilhelm Schellberg. Köln iij^CitT. Bd. 3, S. 42. Zitiert nach: Brunemeier 1983, S. 89.
25
kryptographischen Gewebe objektiviert. Daran knüpft sich die Frage, inwiefern die poetisch-hermeneutische Textproduktion und der poetische Text ( = griech.: Gewebe) als ganzer in allegorisch-struktureller Homologie zu einem kosmischen resp. natürlichen Weltgewebe definiert ist? Ich werde in einem späteren Kapitel dieses Problem ausführlich erörtern, das für Brentanos immanente und explizite Poetik — letztere kreist hauptsächlich um die Bestimmung der Arabeske als Hieroglyphe — aufschlußreiche Zusammenhänge erkennen läßt.
3 . Tote Schönheit und »Schönheit der H a n d l u n g « Dem Erzählfragment ist eine selbstbewußte literarästhetische Ortsbestimmung des jungen Autors eingeschrieben, aus der sowohl der prophetische Gestus des Dichter-Sängers als auch der Impetus, mit dem hier eine lebendige, verwandelnde Kraft der Poesie beschworen wird, verständlich werden. Brentano flicht in das Handlungsgeschehen des >Sängers< eine Reflexion über Wesen und Erscheinungsform der Schönheit ein, die mit den Erörterungen der Idee des Schönen im >Godwi< eng verbunden ist. 6 2 Im literarhistorischen Zusammenhang gedeutet, beschreiben diese den Ubergang vom klassizistischen Diskurs des vollendet in sich abgeschlossenen Kunstwerks, das monologisch einen Sinn bezeugt, zum sprach- und geistbewußten, im Dialog sich konstituierenden Kunstwerk der Romantik. Das musische Element — in der Figur des Sängers gegenwärtig — repräsentiert dabei eine Dominanz des Geistes über den Formwillen, der, nach dem Verständnis der Romantik, als eine Kategorie des Buchstabens die antike und klassizistische Kunst beherrscht. 63 Die Richtung von Brentanos Kritik deutet sich in einem Brief an Arnim an, dessen Bildungsreise der Freund mit folgendem Ratschlag begleitet: Wenn d u vor den A n t i k e n stehst, und den G e m ä l d e n , und in der Bibliotheck, so ärgere dich u m Gottes willen, daß sie Anstalten für die K u n s t sind, und faße den Entschluß lieber tausenden den Sinn zu geben, als eine Anticke ausgraben zu laßen, die Goldne Zeit wohnt dicht a m Herzen der Erde, [ . . . ] wo die K u n s t sich dem Marmor gesellte, war keine Poesie mehr im Fleisch. 6 4
Eine Kunst, die sich dem Marmor verschreibt, hat vom Leben Abschied genommen. »Antiken«, »Gemälde« und »Bibliotheck«, das heißt gesammeltes, archäologisch erforschtes und archiviertes Wissen, gelten Brentano als »Anstalten« eines Künstlers, der es verlernt hat, mit dem »Ursprünglichen Gedanken zu
62
Vgl. FBA 19, S.47Öf. Vgl. Oesterle 1985, S. 260. ^ 6. September 1802. FBA 29, S. 497. 63
26
denken« 6 ' und zu schaffen. Das Brentanosche Frühwerk macht in einer Weise Ernst mit einem romantischen Vertrauen in die Poesie als dynamische Mimesis des Lebens und der Liebe, und als sinngebende Instanz, vor der das abgeschlossene, vollendete, marmorne Kunstwerk wie die ästhetisch-autonome Bezeugung eines bestimmten Kunstbegriffs nur Surrogate eines gerade verlorenen Ganzen sind, »traurige Denksäulen verlorner Göttlichkeit«, 6 6 wie es im >Godwi< heißt, »aus dem herrlichen Haushalte der Welt stückweise errettet, und in künstlichen Kisten und Kasten verschlossen«. 67 Mit folgender Überlegung versucht Julie den Tod ihrer Schwester zu begreifen: So m a g wohl jede Schönheit todt sein, denn sie ist fertig, ihre Thätigkeit sich zu bilden ist in der Vollendung erschöpft. Sie hat sich selbst ungestaltet im Busen getragen, und nach und nach aufgestellt; da sie sich ganz erbaut hatte, verlohr sie ihr Leben, und blieb bei einem schönen Menschen wie seine Geschichte, bei einer Bildsäule, wie der Traum einer schönen Thätigkeit, der nun zur vollen B e s t i m m u n g seines ruhigen Inhalts gelangt ist, zurück. (45)
Der Vergleich der vollendeten Schönheit mit einer Bildsäule, an die das Leben, die Geschichte nur noch wie der »Traum einer schönen Thätigkeit« angehängt sind, assoziiert zwei verschiedene Formen künstlerischen Ausdrucks. Die Bildsäule ist plastische Kunstform, die adhärierende Geschichte weist auf narrative Entfaltung, also auf das Sprachkunstwerk, in dem der Bildungs- und Entwicklungsprozeß nachvollzogen und zugleich hermeneutisch expliziert wird. Das plastische Bild steht für die Versteinerung eines einstmals lebendigen Bildungsprozesses, einer »schönen Thätigkeit«, die, zur Ruhe gekommen, nun unter dem Signum des Toten steht, die aber, das wurde für den >Sänger< gezeigt, durch die Liebesgeschichte zwischen Julie und dem Sänger und in Form der sprachlichen Explikation zur neuen, verwandelten »Thätigkeit« gelangt. In der diskursiven und narrativen Entfaltung und Deutung des schönen Bildes durch das Wort wird seine Autonomie aufgehoben und seine ursprüngliche geistige Intentionalität wiederhergestellt. Im >Godwi< hat Brentano die plastische Kunstform in den Denkmalsprospekten und Statuen, denen jeweils ihre Geschichte als subscriptio beigegeben ist, thematisiert. Versammelt in einem »Museum des erinnerten Lebens«, 68 weisen die Denksteine als stumme Zeugen auf Leben und Schicksal der Personen zurück. Die Erstarrung zu schönen Bildern wird jedoch transzendiert durch Canzonen, Sonette und Gespräche, in denen Geschick und Leben sprachlich in Handlung rückübersetzt werden. Das Progressive in der Sprache erscheint als eine notwendige Ergänzung zum Bildwerk, dessen »Wesen«, wie 65
Vgl. den Brief an Hannchen Kraus vom Juni/Juli 1802. FBA 29, S. 458. F B A 16, S. 109. 67 Ebd., S. 108. 68 Meixner 1967, S. 442. 66
27
Friedrich Creuzer sagt, »das Beharrliche im Räume ist«. 6 9 Z u m schönen Bild erstarrt ist auch der Romanheld Godwi. Der Herausgeber von Godwis Briefen, der Dichter Maria, ist »daher aufgefordert«, so Bernd Reifenberg, »Godwi, dem steinernen Bild seiner selbst, durch die Entwicklung seiner Geschichte zum Leben zu verhelfen«. 7 0 Die Wechselwirkung von plastischem Zeichen in Form von Statuen, Denk- und Bildsäulen mit der Progressivität des Wortes enthält in nuce eine Definition der energetischen und synthetischen Funktion der Poesie, wie sie bei Herder, in Kritik an den von Lessing im >Laokoon< gezogenen Grenzen zwischen den einzelnen Künsten, vorgebildet ist. Herder bestimmt die Poesie durch die Verbindung plastisch-malerischer und musikalischer Elemente. Die Poesie wirkt weder allein im Räume (wie die Malerei) noch allein in der Zeit (wie die Musik): Keines von beiden, allein genommen, ist ihr ganzes Wesen. Nicht die Energie, das Musikalische in ihr; denn dies kann nicht stattfinden, wenn nicht das Sinnliche ihrer Vorstellungen, das sie der Seele vormalet, vorausgesetzt wird. Nicht aber das Malerische in ihr; denn sie wirkt energisch, eben in dem Nacheinander bauet sie den Begriff von sinnlich vollkommnen Ganzen in die Seele; nur beides zusammengenommen, kann ich sagen, das Wesen der Poesie ist Kraft, die aus dem Kaum (Gegenstände, die sie sinnlich macht) in die Zeit (durch eine Folge vieler Theile zu Einem Poetischen Ganzen) wirkt: kurz also sinnlich vollkommene Rede.71 Die Folie für Brentanos Motive Denk-, Bildsäule und Statue und die damit verbundene Kritik an einer Welt des schönen, in sich vollendeten Scheins 72 läßt 65
Friedrich Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. 3. verb. A u f l . Leipzig, Darmstadt
1 8 4 4 (Neudruck Hildesheim, N e w York 1 9 7 3 ) . Bd. IV, S. 5 6 0 .
Paradigma für die verbale Vergegenwärtigung nichtsprachlicher Künste vom 18. bis zum 2 0 . Jahrhundert bildet Winckelmanns Beschreibung des Herkules-Torsos, ein Grundtext der klassizistischen Ästhetik und auch Gründungstext in der Geschichte des neueren Fragmentarismus. Durch die Erzählung der Taten des Herkules versucht Winckelmann, die »verstümmelte Statue« als ganze zu evozieren. E r rekonstruiert das »Ideal der Statue« in der W i r k u n g durch das Wort. D e m Wort k o m m t jedoch nur eine dienende Funktion zu, der »idealische Charakter« von Winckelmanns Evokation »geht nur auf das Ideal der Statue«. V g l . Peter Horst N e u m a n n , Rilkes »Archaischer Torso Apollos« in der Geschichte des modernen Fragmentarismus. In: Fragment und Totalität. H r s g . von L u d e n DäIIenbach und Christiaan L. Hart N i b b r i g . Frankfurt a. M . 1 9 8 4 . S. 2 5 7 — 2 7 4 . Hier: S. 2 6 6 f f . Brentano spielt im >Godwi< kritisch auf Winckelmanns Beschreibung an: »Obschon es ein schönes Beginnen ist, die göttlichen Trümmer mit Mühe zu ergänzen und zu erläutern, so bleibt mir doch der Gedanke traurig, daß w i r uns dann selbst mit zerlegen und zusammensetzen müssen, um in unserm Einzelnen die wenigen Stralen, die das Verlorne zurückgelassen hat, aufzufinden, und so aus uns verderbten und verkehrten Wesen die entarteten Gliedmaßen herzustellen, die den Torso ergänzen sollen«. F B A 1 6 , S. 1 0 9 . 70
Bernd Reifenberg, Die »schöne« Ordnung in Clemens Brentanos » G o d w i « und »Ponce de Leon«.
71
J o h a n n Gottfried Herder, Kritische Wälder. Erstes Wäldchen. In: Herders Sämmtliche Werke.
72
G o d w i s Vater lebt zwischen Denkstein und Bildersaal, in einer künstlich geschaffenen Welt des
Göttingen 1 9 9 0 . S. 1 1 2 . H r s g . von Bernhard Suphan. Berlin 1877fr. B d . I I I , S. 1 3 8 . Scheins, in der er das Schicksal der Gestalten, mit denen ihn das Leben zusammenführte, zum
28
sich eindeutig bestimmen. Es ist das klassizistische Kunstverständnis, das die Abgeschlossenheit, Vollendung, die Kontur als Signa einer symbolischen Repräsentation des Ideals im Kunstwerk bestimmt und das nicht von ungefähr deshalb die Plastik zum Paradigma des schönen Kunstwerks wählt. In Karl Philipp Moritz' Programmschrift der klassizistischen Ästhetik >Uber die bildende Nachahmung des Schönen< heißt dies: »mit dem Begriff des Schönen [ist] der Begriff von einem für sich bestehenden Ganzen unzertrennlich verknüpft«, 73 und in der Schrift >Uber die Allegoriec »Das wahre Schöne besteht aber darin, daß eine Sache bloß sich selbst bedeute, sich selbst bezeichne, sich selbst umfasse, ein in sich vollendetes Ganze sey«, 74 es hat seinen »Zweck bloß in sich selbst«. 75 Bernhard Fischer hat die Moritzsche Ästhetik unter dem Aspekt der Sprachlosigkeit gedeutet: »Das schöne Werk ist seine Bedeutung. Insofern nur das ursprüngliche Werk in seiner Sprache authentisch ist, jede andere Sprache an ihm versagt bzw. in seine eigene Sprache umschlägt, ist es unübersetzbar, unbeschreibbar. Dieses Sich-Verweigern des Bildwerks gegen jede andere Sprache ist Ausdruck der Intentionslosigkeit des Kunstwerks, das nur sein will. Das nur noch sich bedeutende Kunstwerk vernichtet aufgrund seiner Unübersetzbarkeit jedes äußere Bedeuten«. 76 Mit den programmatischen Worten aus dem >Godwi>innere[n] Welt in der Einsamkeit des Selbstseins« vgl. Wolfgang Frühwald, Das verlorene Paradies. Zur Deutung von Brentanos > Herzlicher Zueignung< des Märchens >Gockel, Hinkel und GackeleiaSänger< an Einzelstellen überprüfbar. Vg. FBA 19, S. 484 und Einzelerläuterungen. "'Philosophische Fragmente. Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. X V I I I , S. 13. Zitiert nach: Neumann 1976, S. 538. " 6 Vgl. Heinz Schlaffer, Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche. 3. Aufl. Frankfort a . M . 1 9 8 1 . S. 5 1 — 8 5 . " 7 Vgl. Schwab 1982, S. 70.
37
Welt. Entfernung und Nähe, Entfremdung durch die Arbeit und Regeneration und Erfüllung in der Liebe erscheinen nicht als unvereinbare Gegensätze, sondern als lebendiger Wechsel im bürgerlichen Zusammenhang und bilden damit die prosaisch-pragmatische Legitimation, ja Voraussetzung der Möglichkeit eines höheren Wechsellebens, zu dessen tätiger Vermittlung der Sänger bestimmt ist. Brentanos Thematisierung der bürgerlichen Verhältnisse gehört zweifellos zum topischen Bestand der Romantik. Von einer realen Auseinandersetzung und einer realistischen Schilderung kann hier nicht die Rede sein. Aber darum geht es auch gar nicht. Brentanos Darstellung der »Prosa der Verhältnisse« muß vielmehr im Kontrast zum klassischen Bildungsideal, wenigstens wie es durch Schiller vertreten ist, gesehen werden, das die Ausbildung des ganzen Menschen nur in Abgrenzung von der Gesellschaft und ihrer »Prosa« begreift und das analog zur Forderung ästhetischer Autonomie — von Brentano als >tote Schönheit< thematisiert — verläuft. Schiller verlangt nach einer »Klasse von Menschen«, die »ohne zu arbeiten, tätig ist und idealisieren kann, ohne zu schwärmen«, denn: Nur eine solche Klasse kann das schöne Ganze menschlicher Natur, welches durch jede Arbeit augenblicklich und durch ein arbeitendes Leben anhaltend zerstört wird, aufbewahren und in allem, was rein menschlich ist, durch ihre Gefühle dem allgemeinen Urteil Gesetze geben. 1 1 8 Schillers ideales Tätigsein kann Brentano nicht mehr ohne Begründung in der bürgerlichen Arbeitswelt bzw. ohne Auseinandersetzung mit dieser denken. In einem Brief an Bettine, in dem er unter anderem beider Herkunft aus einer Kaufmannsfamilie hervorhebt, heißt es: » [ . . . ] wir müßen unßer Höchstes überal, in allem waß lebt wiederfinden und ehren.—. Drum muß unßer Herz in stiller Andacht im Leben verweilen, [ . . . ] « . 1 1 9 Die Ausgrenzung und Abgrenzung »unßers Heiligsten« 1 2 0 in einen autonomen Raum fern der bürgerlichen Verhältnisse wäre nach Brentano illusionär. Deshalb empfiehlt er auch der Schwester von früh an: Die Zeit die Du nicht arbeitest liebe Bettine, mußt Du ja doch verlieren. Keine Minute lohnt Dir in Deiner Umgebung. Ja wohntest Du in der freien Natur und könntest in Feld und Thal und Wald und Berg herumlaufen, oder könntest Du mit Menschen sein wie mit Sternen, die ihren Einfluß auf große Charaktere ausübten und sie zu erhabnen Handlungen teizten. Aber leider haben die Sterne ihren Einfluß verloren, ich würde Dir
118
Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtkunst. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G . Göpfert. Darmstadt 1984. Bd. V, S. 768. " 9 F B A 30, S. 334. " ° E b d . , S. 3 3 3 .
38
dann nicht sagen arbeite, denn dann würde die Ursprünglichkeit aller höheren Anlagen in Dir, wie das Wort im Geist, Fleisch geworden s e i n . 1 2 1
Brentanos eigene Bemühungen, sein »Vagabunden Leben zu verlassen« und »der Menschen Achtung zu e r w e r b e n « , s i n d vielfältig: Sie reichen von dem Plan, Bauer zu werden, über den Versuch, die Priesterweihe zu erhalten, bis hin zum religiös-sozial engagierten Journalismus, der durch seine Schrift >Die Barmherzigen Schwestern< dokumentiert ist. Die Grenzüberschreitung von der Theorie zur Praxis, von der geschlossenen Fiktionsautonomie und dem exklusiven Dichterleben zum gesellschaftlich verantwortlichen Handeln ist idealiter von Brentano immer wieder entworfen und poetisch wiederholt gestaltet worden. Das soll hier umrißhaft skizziert sein. Für den >Sänger< gilt es, die Synthesevorstellung festzuhalten, die der Liebeskonzeption inhärent, im Entwicklungsgang der männlichen Hauptfigur als Vermittlung des bürgerlichen Lebens mit einer idealisch konzipierten Poesie des Lebens dargestellt ist und die den Dichter-Sänger erst in Kenntnis der Arbeit der anderen zur Bestimmung seiner eigenen Tätigkeit fuhrt. Brentano hat seinem Bruder Franz, der das väterliche Geschäft und Erbe verwaltete, die nach seinem Selbstverständnis geradezu messianisch-vermittelnde, aber vor allem im Zusammenhang prosaischer Verhältnisse notwendige Aufgabe eines Dichter-Sängers in einem Brief erklärt. Er hat damit versucht, eine Rechtfertigung der eigenen schriftstellerischen Arbeit zu geben: In der izzigen Welt kann man nur unter zwei Dingen wählen, man kann entweder ein Mensch oder Bürger werden, [ . . .]. Die Bürger haben die ganze Zeitlichkeit besezzt, und die Menschen haben nichts fur sich selbst, als sich selbst. [ . . . ] ich werde ein Mensch werden und zwar ein zufriedner Mensch, der sich so viel zueignet von dem waß den Bürgern fehlt daß sie ihn durch die Menge ihrer Bedürfniße gezwungen lieben und ehren müßen und ihn nicht entbehren k ö n n e n . 1 2 3
Für den jungen Brentano bilden Wort und Tat, literarische Produktion und nützliche Arbeit keine Gegensätze. >Der Sänger< gibt ein Beispiel für dies entschiedene Selbstverständnis des Dichters, dessen Wort sich ungebrochen als Tat versteht, in einem Sinne, wie Adam Müller es formulierte: »immer will das Wort ergänzt sein durch die Tat, diese möge nun außer dem Worte oder im Worte leben und wirken. Das wahre Sprechen ist also eine wirkliche Tat: Deutlicher noch als beim Sänger zeichnet Brentano die weibliche Hauptperson der Erzählung aus der Differenz von Arbeit und Liebe. Während der Sänger durch Ebd., S. 9of. Vgl. Brief vom Juli 1801 anSavigny. FBA 29, S. 361. 123 An Franz Brentano, 20. Dezember 1798. FBA 29, S. i4j(. 124 Adam Müller, Zwölf Reden über die Beredsamkeit. In: Kritische/ästhetische und philosophische Schriften, Bd. I, S. 403. 122
39
sie erst eigentlich mit einem »Wechselleben« im pragmatisch-bürgerlichen und in einem darauf aufbauenden idealischen Sinne vertraut gemacht wird, muß Julie die Differenz, die schon ihrem bisherigen bürgerlichen Leben zugrunde lag, wieder rückübersetzen in eine neue Art von Beweglichkeit. Bevor Julie in die all umfassende Liebe eingeweiht wird - und mit dem Sänger eine allegorische Konfiguration von Brentanos hermeneutischer Liebeskonzeption bilden wird —, versucht sie ihr Glück bei dem pragmatischen Bräutigam Karl zu finden, ein Glück, das der Braut einen nicht geringen Aufwand in der Inszenierung erfüllter Augenblicke abverlangt. Julie weiß, daß in dieser Liebe »alle Thätigkeit aufhören« würde, wenn sie nicht »einigeTalentlosigkeit [sie!] besäße und manchmal das Schicksal spielte« (56). Ihre Phantasie konzentriert sie dabei vor allem auf das Arrangement eines gelungenen Abschieds. Sie schreibt: Da nehme ich ihm [Karl] dann alles so recht plötzlich weg, was mein ist, um mich an dem meinigen selbst zu ergötzen, und schicke ihn in die Welt. Hinaus muß er, daß ihn das feindliche Leben herausfordere, und er, wenn er wiederkehrt, mir Lorbeeren nach Hause bringt, die heut zu Tage freilich sehr in Mirthen ausgeartet sind. (56)
Da Juliens Verhältnis zu Karl zu einem »halblaute[n], flüsternde[n] Leben« (54) herabgesunken ist, versucht sie auf Grundlage der bürgerlichen Differenz von Arbeit und Liebe, das heißt konkret, zwischen Karls Geschäftsreisen und ihrem Ausharren im gemeinsamen Heim, ein neues »Wechselleben« (54) zu inszenieren. Der Moment des Abschieds wird dabei zur Bewährungsprobe. Wenn Nähe in Ferne sich wandelt, wenn Sehnsucht einsetzt und die Angst um den Geliebten im unwirtlichen Draußen beginnt, wenn auf lange Ruhe und zufriedenen Genuß ein Entbehren folgt, auf Vertrautheit Entfremdung, dann - dies ist der Logik einer so verstandenen Liebe inhärent - wird im dialektischen Umschlag eine erneute und intensivere Nähe zu dem Geliebten begründet. Im Moment des »Abschiednehmen[s]« werden »die Epochen eines ganzen zärtlichen Wechsellebens« aufgerufen, in dem ein Wort das andere gibt, aber »keiner« »das letzte Wort haben« will (54)· Die Bedeutung des Abschiednehmens in der bürgerlichen Literatur als erfüllter Liebesaugenblick hat Heinz Schlaffer an Goethes Elegie >Alexis und Dora< illustriert: »Die Liebe entsteht eben in dem Augenblick, da das Geschäft zur Abreise z w i n g t « . " 5 »Innere Verbindung und reale Trennung, Liebe und Arbeit verschränken sich zu einem elegischen Gegensatz: »Noch schlagen die Herzen/ Füreinander, doch ach! nun aneinander nicht mehr««. 1 2 6 Goethes >Willkommen und Abschied·« 127 nimmt bereits im Titel die Dialektik von Nähe und Ferne auf, "'Schlaffer 1981, S. 68. Ebd. 127 In: Werke, Bd.I, S. 28f.
126
40
die Voraussetzung fur ein unaufhörliches Wechselleben in der Liebe ist. Goethes Reiter ist Held und Abenteurer in einem episch-mythischen Sinne. Wild und entschlossen kämpft er gegen die stürmischen Gewalten der Natur, um dann in der Idylle mit der Geliebten Ruhe, in der Liebe Belohnung fur sein gefahrvolles Dasein zu finden. Nach einer Phase der Regeneration bricht er erneut und erneuert zu neuen Ufern auf. Auch Julie imaginiert sich einen Helden als Liebhaber. In ihrer Phantasie verstrickt sie Karl in verschiedene erotische und kriegerische Abenteuer, weiß aber, daß die Welt »leider so einerlei« ist, daß es mit den wirklichen Abenteuern ihres Karls nicht so weit her sein wird und daß dieser, statt mit kämpferischem Mut vorzugehen, sich wohl eher »in Acht« nimmt, um ihr »keine Kranken-Nachricht zu schreiben« (56). »Der Bürger als Held« - eine durch Heinz Schlaffers Studien 128 bereits zum Topos gewordene Vorstellung - besteht nur in der Fiktion. So paart denn Julie die bürgerliche Dialektik von Ferne und Nähe mit ihrer eigenen Dialektik von Illusionierung und Desillusionierung, in der ihr schöpferischer Geist und ihre Freiheit, wenn auch nur scheinhaft und auf künstlichem Wege, über die Enge ihres Lebens hinausdrängen. Ueber jeder Blume, jedem Ton, jedem Licht und jedem Schatten weilen meine Gedanken mit einem schöpferischen Genüsse, und wie bin ich so froh, daß Karl durch den herrlichen Frühling reitet, ich sehne mich nie nach ihm, als wenn ich an den Winter denke. (54)
Träume, Entwürfe und Illusionen sind ihr Abwechslung in der täglichen Ode, in der sie ihre »Freiheit« durch »Fesseln gedrückt« empfindet (55). Juliens Leben an der Seite Karls ist ein sekundäres Leben, dessen eng gesteckten Rahmen die Attribute Sopha, Buch, ein helles Kaminfeuer und »ein paar schöne Melankolien« markieren (54). Mit dem Erscheinen des Sängers lösen sich die »Fesseln«. Sie schreibt: Sicher wäre ich zu Grunde gegangen, das fühle ich, hätte sich nicht ein fremdes Leben dicht mit dem meinigen verschlungen, und mich in der Bewegung seines Strebens nach andern Zwecken, in anderer Richtung mich von meinem traurigen Zusammenhange mit der Welt gelößt. (62)
Erst das wirklich Fremde, das Unbekannte, das aus der Ferne mit der Figur des Sängers in ihr Leben tritt, löst Julie aus dieser fatalen Dialektik, wonach das Nahe zeitweise als das Fremde und Ferne imaginiert werden muß, damit es überhaupt noch zu ertragen ist. Der Moment, in dem sie die Grenzen ihres sekundären Lebens überschreitet, ist gekennzeichnet durch eine überwältigende Naturerfahrung. Julie hatte sich vorgenommen, ihr »halblautes Leben« in ein »Stillleben« (54) — dies in einem kunstgeschichtlichen wie wörtlichen Sinn — hinzuzeichnen: " 8 Schlaffer 1981.
41
das Thal aber, das sich leise zu meinen Füssen hinab dehnt, zieht alle meine Gedanken in seine stille Heiligkeit, in seine heimliche Freude wie ein bezaubertes Meer hinab, so wie ein Maler in einer kleinen Kapelle einer Kirche arbeitet, er sinnt über den Gewändern des Heiligsten, da flüstert das Gebet wie zitternde Irrlichter von allen Lippen, die ihn irre leiten; da schwillt der Gesang in mächtigen Wellen heran. Der glühende Strom der heiligen Orgeltöne strömt durch die hohen Gewölbe, und reißt sein einzelnes Bilden mit zur allgemeinen Bewunderung fort, er läßt die Pinsel fallen, seine Hände verschlingen sich, er umarmt sein eigenes Herz und betet. (55) Vor der Macht der Naturerfahrung, in der sich die Poesie des Lebens und der Liebe als ein heiliges Gesamtkunstwerk aus Licht, Musik und Worten enthüllen, sinkt das einzelne Kunstbemühen zum nichtigen Surrogat herab. Die Geistbewegtheit des Natur- und Weltgewebes verdrängt das »einzeln[e] Bilden« und läßt Poesie als die ursprüngliche Energie des Lebens selbst erfahren.
6 . T e x t u r als S t r u k t u r In einem Brief Brentanos an seine Schwester Sophie vom März 1 8 0 0 , also etwa zeitgleich zur Entstehung des >SängersSänger< zu lesen, scheint nicht nur möglich, sondern ist m. E. geradezu geboten. Die Hauptmotive, aus denen sich die Handlung des >Sängers< entwickelt und ihren Fortgang nimmt, sind hier von Brentano zusammengefaßt resp. vorgebildet. So wie J u l i e durch den Tod der Schwester mit einem Rätsel konfrontiert wird, das sie, geleitet von »Ahndungen«, in einer hermeneutisch konnotierten Sehnsuchtsbewegung der Liebe auch im Sinne ihres eigenen Glücks auflösen will, wird in dieser Briefpassage Abwesenheit als Ausgangspunkt einer suchenden Bewegung bestimmt. Wenn dabei die Erfüllung des individuellen Glücks mit der Ergründung eines höheren Zusammenhangs verbunden ist und beides sich schließlich in >>heimlichste[r] Verwandtschaft« (65) eint, so dürfen wir dies als Ausdruck für das »heimlich[e] zart[e] Gewebe der Gottheit« sehen, das »zu Tage« zu bringen dem 129
FBA 29, S. 208. 42
Text als hermeneutische Bewegung selbst eingeschrieben ist. Das Such- und Sehnsuchtsmotiv im Zusammenhang der Ahnung einer anderen Ordnung, ist - wie Friedrich Schlegel eine analoge Konfiguration beschreibt - »Hinweis auf das Höhere, Unendliche, Hieroglyphe der Einen ewigen Liebe und der heiligen Lebensfulle der bildenden N a t u r « . 1 3 0 Eine solche Hieroglyphe der Liebe beschreiben folgende Worte aus dem >SängerSänger< präsent. Als »grelle bisarre Figu[r]« 1 3 ' überblendet die bürgerliche Wirklichkeit zunächst Juliens Sehnsucht nach einem anderen, freien Leben, das sich ihr dann in der Liebe zum Sänger erschließt. Von Seiten des männlichen Parts ist es in entgegengesetzter Richtung gerade die Bekanntschaft mit der »Prosa der Verhältnisse«, durch die Brentano die idealistische Liebeskonzeption in die Form eines romantisch-realistischen und realisierbaren Lebensmodells übersetzt. Die Differenz von Bürgerlichkeit und einer ursprünglichen ordo divinus, die in dieser Briefpassage problematisiert ist, wird im >Sänger< im Medium der Poesie und der ihr eingeschriebenen hermeneutischen Funktion überbrückt. Dichten, so zeigt es die Erzählung >Der SängerSänger< vor allem in der dynamischen Verbalform strukturiert. Die Bedeutung dieser Metaphorik für die Poetik Brentanos bis zum Spätwerk ist nahezu unbeachtet geblieben. N u r vereinzelt wurde bisher auf die Rolle hingewiesen, welche die Gewebeme130 131
Schlegel, Gespräch über die Poesie. In: Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II, S. 334. Zum Begriff des Bizarren, wie Brentano ihn im >Godwi< verwendet, verweist Werner Bellmann auf eine Definition Friedrich Schlegels, wonach das Wesen des Bizarren in gewissen willkürlichen und seltsamen Verknüpfungen und Verwechslungen des Denkens, Dichtens und Handelns besteht. FBA 16, S. 742.
43
taphorik — besonders auch in der Form von Stoff, Kleid und anderen gewebten Produkten - im Werk Brentanos spielt. 1 3 2 Die mythische Vorstellung von der Gewebestruktur der Welt, Schöpfung, Natur und, in struktureller Homologie dazu, die Auffassung von Poesie als Mimesis des ursprünglichen Gottes- und Weltgewebes sind so alt wie die Poesie selbst. Die Übertragung des mythischen Modells auf die ästhetische Struktur, mit der Option, im poetischen Sprechen eine mythische Kraft zu reaktivieren, ist das besondere Kennzeichen der romantischen und, von dieser ausgehend, der modernen Mythenrezeption. 133 Im Gegensatz zur Tradition wird der Mythos in Bildern nicht einfach nacherzählt, 134 sondern es werden mythische Erfahrungen in Form der Kunst gedeutet und aktualisiert. Der Kunst wächst damit die Möglichkeit eigener Mythenbildung zu, sie kann selbst mythopoetisch werden. 1 3 5 Friedrich Schlegels >Gespräch über die Poesie< ist eine Initiale dieser veränderten Mythenrezeption. Schlegel schreibt: In ihrem [der Mythologie; Β. K . ] Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr inneres Leben, ihre Methode, wenn ich so sagen d a r f . 1 3 6
Mythologie wird bestimmt über »ihr eigentümliches Verfahren«, »ihr inneres Leben« und »ihre Methode«, die in der mythopoetischen Kraft der Kunst — Schlegels Konzept einer »neuen Mythologie« hat hier neben der transzendentalphilosophischen Fundierung seine Voraussetzung und Garantie seiner Möglichkeit - fortwirkt. Schlegels Charakteristik der Mythologie als Gewebe zeigt zudem, daß dieses Motiv und die ihm inhärente Vorstellung eines Web- und Wirkprinzips prädestiniert ist für eine generative symbolische Deutung der Welt qua poetischer Textur. Im >Godwi< hat Brentano, deutlicher noch als Schlegel, das »inner[e] Leben« der Mythologie akzentuiert, indem er dieses als »ewig« begreift, so daß es des zusätzlich transzendentalphilosophisch fundierten Konzepts einer »neuen Mythologie« gar nicht bedarf. Er schreibt:
132
Die Hinweise beziehen sich entweder nur auf eine bestimmte Werkphase oder sind rein inhaltlicher Natur. Vgl. Frühwald 1977, S. 347 ff. u. Henning Boetius, Der andere Brentano. Nie veröffentlichte Gedichte. 1 3 0 Jahre Literatur-Skandal. Frankfurt a. M. 1985. S. 45.
133
Vgl. Christoph Jamme, »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a. Μ. 1991. S. 299fr. 134 V g l . ebd., S. 300. 135
136
Vgl. ebd., S. 293f. (Anm. 1 1 5 ) u. S. 2c>gf. Zum Begriff der Mythopoesie vgl. Gottfried Boehm, Mythos als bildnerischer Prozeß. In: Mythos und Moderne. Hrsg. von Karl Heinz Bohrer. Frankfurt a. M. 1 9 8 3 . S. 528 — 544. Hier: S. 53of. In: Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II, S. 3 1 8 .
44
Eine neue Mythologie ist ohnmöglich, so ohnmöglich, wie eine alte, denn jede Mythologie ist ewig; wo man sie alt nennt, sind die Menschen gering geworden, und die, welche von einer sogenannten neuen hervorzufuhrenden sprechen, prophezeien eine Bildung, die wir nicht erleben. 137 In der alten M y t h o l o g i e ist das N e u e substantiell und potentiell beschlossen. A n und u m b i l d e n d w i r k t der mytho-logische Prozeß mytho-poetisch fort, denn alle M y t h o l o g i e (und Poesie) ist » e w i g « , wandelbar, weil lebendig. W e n n i m folgenden von der B e d e u t u n g der Gewebevorstellung bei Brentano gesprochen w i r d , so geschieht dies unter den hier angedeuteten Prämissen der romantischen Mythenrezeption, durch die der Text als ein G e w e b e nicht i m Sinne des bloßen A b b i l d s eines ontologischen Gottes- resp. N a t u r g e w e b e s verstanden werden kann, sondern die generative Vorstellung stets mitbedacht
werden
muß.138 D i e komplexe und weitverzeigte Tradition der mythischen G e w e b e v o r s t e l l u n g kann hier nur in A u s w a h l nachgezeichnet werden. V l a d i m i r N . Toporov hat in seiner Studie zur indoeuropäischen P o e t i k 1 3 9 den ursprünglichen M y t h o s rekonstruiert. D e m n a c h g i l t der Künstler als eine Transformation des D e m i u r g e n , der im poetischen Text webend und flechtend den innersten B e w e g u n g s r h y t h m u s , aus dem das A l l entstanden ist, w i e d e r h o l t . 1 4 0 Für Brentano dürfte insbesondere die unmittelbare Nachbarschaft dieser Vorstellung in der Poetik Goethes und A r n i m s w i c h t i g sein. Bei G o e t h e sind das »unendliche W i r k e n der G o t t - N a t u r , das Treiben übersinnlicher K r ä f t e , die Verflechtung menschlicher G e s c h i c k e w i e die Struktur von K u n s t w e r k e n — das Ich und die W e l t « , wie Werner K e l l e r zusammenfaßt, »in d e m universalen u n d zentralen Gleichnis [ . . . ] , d e m W e b e r -
' " F B A 16, S. 380. 138
Als einseitig erweist sich in diesem Zusammenhang auch der strukturalistische Textbegriff, in dem der generative Aspekt hypostasiert und damit die Funktion der progressiven Enthüllung und Entfaltung einer höheren Wahrheit im Text wie seine Referentialität auf eine ontologische Gewebestruktur negiert wird. Bei Roland Barthes heißt es: »Text heißt Gewebe·, aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge. Wenn wir die Freude an Neologismen hätten, können wir die Texttheorie als eine Hyphologie definieren (hyphos ist das Gewebe und das Spinnetz)«. Roland Barthes, Die Lust am Text. Frankfurt a. M . 1974. S. 94. Übrigens: im Neologismus verbirgt sich ein Archaismus. Die mythische Weberin Arachne, die, von Minerva in eine Spinne verwandelt, mit webenden Fleiß die alten Gewebe spinnt, liefert das mythische Muster für die Texttheorie als »Hyphologie«. S. auch Kap. IV dieser Arbeit (Exkurs: Poesia permixta).
' ' ' V l a d i m i r N . Toporov, Die Ursprünge der indoeuropäischen Poetik. In: Poetica 13,
1981.
S. 1 8 9 — 2 5 1 . 140Ebd.,
S. 245.
45
gleichnis, eingefangen«. 1 4 1 Goethe verarbeitet dabei sowohl Anregungen aus der Bibel (»Denn in ihm leben, weben und sind wir«. Apg. 17,28) als auch aus der griechischen Mythologie »mit ihrer Vorstellung von handwerklich tätigen Göttern und von Parzen, die die Lebensfäden spinnen, ordnen und nach Gutdünken abschneiden«. 142 Der Webevorgang wird Symbol, wie Johann Jakob Bachofen sicherlich auch inspiriert von der Goetheschen Vorstellung - in seinen Studien zum Mythos schreibt: »Die Durchkreuzung der Fäden, ihr abwechselndes Hervortreten und Verschwinden, schien ein vollkommen entsprechendes Bild der ewig fortgehenden Arbeit des Naturlebens darzubieten«. 143 Unter den Bildern des Spinnens und Webens wird insbesondere »die Tätigkeit der bildenden, formenden Naturkraft dargestellt«. 144 Brentano hat in einem >Fragment über die ideale Periode der Staaten< 145 die Gewebevorstellung in einen geschichtsphilosophischen Zusammenhang gestellt. Die ideale/goldene Zeit des Staates ist charakterisiert als ein Naturgewebe, in dem alle Tätigkeiten - Künste, Wissenschaften und Handel — miteinander verwoben sind. Alles dies geschieht bewustlos und geht vor sich wie das Leben eines gesunden Menschen, durch den alle Weberschiffe der ewigen Natur schlagen, und der dennoch diese tausendfaltigen Beziehungen nicht kennend, in unendlicher Freiheit lebt, und nichts als l e b t . 1 4 6
Als Gewebe deutet Brentano in einem Brief an Bettine die Welt, deren Struktur aus einem Gewirk sichtbarer und unsichtbarer Fäden bestehe: die W e l t ist so voller Ereignisse, ist ein G e w e b e in dem jedes Menschen harmonische Bildung ein nothwendiger und haltbarer Faden sein m u ß . N i c h t jeder Faden braucht als sichtbare Figur eingewebt zu sein, aber zur Tüchtigkeit und Festigkeit des Gespinstes trägt jeder bei der die Wahrheit in sich begründet, [ . . . ] . 1 4 7
Für die konkrete Transposition dieser Welt- und Naturvorstellung auf die Struktur des poetischen Textes gibt Arnim ein Beispiel. Die Machart seines Romans >Hollin's Liebeleben< beschreibt er folgendermaßen: An den R o m a n habe ich Talent verschwendet wie ein Weber, der künstlich ein changent Taft aus verschiedenem Aufzuge und Einschlage gemacht, aber es so hinlegt, daß es nur von einer Seite, also nur in einer Farbe gesehen werden k a n n . 1 4 8
141
Werner Keller, Goethes dichterische Bildlichkeit. Eine Grundlegung. München 1972. S. 193. Ebd., S. 194. 143 Johann Jakob Bachofen, Mutterrecht und Urreligion. 6. erw. Aufl. Stuttgart 1984. S. 62. 144 Ebd., S. 6 1 . 145 DerTexc ist veröffentlicht in: Bernhard Gajek, Homo poeta. Zur Koncinuität der Problematik bei Clemens Brentano. Frankfurt a. M. 1971. S - 4 7 i f . 146 Ebd., S. 472. 147 FBA 30, S. 20. 148 Steig I, S. 52. 142
46
Arnims Differenzierung zwischen der oberflächlichen, »von einer Seite, also nur in einer Farbe« angesehenen Bedeutung des Textes und allegorischer Tiefendimension 1 4 9 in der Metaphorik des »changent Taft« steht dabei in einer bisher nicht bemerkten Affinität zu Johann Georg Hamanns bildlicher Charakteristik der allegorischen Struktur der Welt und Poesie in der >Aesthetica in nuceSängers< ist es die exzeptionelle Konzeption einer Hermeneutik der Liebe, durch welche sich der Protagonistin das geistbewegte Welt- und Naturgewebe erschloß. Daß diese Initiation auch als hermeneutisches Lektüre- und Leser(-innen)modell zu verstehen ist, braucht hier nicht mehr im einzelnen betont zu werden.
149
V g l . Ulfert Ricklefs, Kunstthematik und Diskurskritik. Das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter«. Tübingen 1990. S. 13fr. 150 Johann Georg Hamann, Aesthetica in nuce. In: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler. Wien 1950. Bd. II, S. 199. 151
In den Metaphern von gewebten Produkten, und zwar von »Oberzeug« und »Unterzeug«, deutet Arnim in einem poetologischen Gedicht die bewußte Doppeldeutigkeit und semantische Komplexität seiner Texte: »Weil euch mangelt der Sinn, nennt ihrs Doppelsinn auch./Wenn das Oberzeug reisst, so kann ich das Unterzeug tragen,/Wo ihr Doppelsinn fühlt, wärmet mich doppelter Sinn./ [ . . . ] « . Gedichte von Ludwig Achim von Arnim. Zweiter Teil. Nachlaß: 7. Bd. In Zusammenarbeit mit dem Freien Deutschen Hochstift hrsg. von Herbert R . Liedke und Alfred Anger. Tübingen 1976. S. 2 1 8 . Zitiert nach: Christof Wingertszahn, Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achim von Arnims. Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft Bd. 2 3 . St. Ingbert 1990. S. 72. Auch das erste Buch von Arnims Roman >Die Kronenwächter< ist bestimmt von dem Leitmotiv der Weberei. Kernstücke bilden vier Teppiche, von denen der kunstvollste in Analogie zu Runges Arabesken gestaltet ist. Vgl. Roswitha Burwick, Dichtung und Malerei bei Achim von Arnim. Berlin, New York 1989. S. 3 i 8 f .
47
η. T e p p i c h u n d B l u m e : D a s g e i s t i g - s i n n l i c h e G e w e b e d e r A l l e g o r i e Für Julie g l e i c h t die Schwester den B l u m e n : Die Blumen stehen alle freundlich neben einander, keine will die andre seyn, selbst in den einzelnen Gattungen herrscht ein freier Wechsel, sie weben ohne sich zu vergleichen, jede ihren eignen Karakter durch den bunten Teppich des Frühlings [ . . . ]. (44) D i e Identifizierung v o n Teppich und N a t u r ist ein Topos i m 18. und 19. Jahrhundert, m i t d e m die natürlichen Prozesse des Werdens analog der kosmologischen Vorstellung v o m Gottesgewebe der Schöpfung als ein A k t des K n ü p f e n s und W e b e n s vorgestellt werden. 1 5 2 Brentano charakterisiert m i t der Teppichmetapher, die er auch in oben zitierter Briefpassage parallel zu d e m G e w e b e b i l d verwendet, die individuelle Existenz Antoniens als ein G e w e b e , in dem die E i g e n t ü m l i c h k e i t des einzelnen gewahrt ist und doch i m freien Wechsel alles miteinander in B e z i e h u n g tritt. Hofmannsthal meint das nämliche, wenn er menschliches Dasein als G e w e b e bestimmt: »dieses große Rätselhafte des Lebens, daß alle D i n g e , für sich sind und doch voller B e z i e h u n g a u f e i n a n d e r « . 1 , 3 U b e r den Teppichvergleich erscheint Antoniens Wesen i m Z u s a m m e n h a n g des g e heimnisvollen N a t u r - u n d Weltgewebes stehend, in d e m alles einzelne Leben, selbst v e r w e b t , als Rätselzeichen eines höheren W i r k - und W e b p r i n z i p s erscheint.
154
D i e B l u m e aber bildet, als ein s i g n u m naturale, gleichsam die Schrift
auf d e m Teppich der N a t u r . Der B l u m e n t e p p i c h des Frühlings ist Symbol eines ursprünglichen Lebens und Gewirks, das — wie Brentano in einem Brief an G r i t h a Hundhausen und H a n n c h e n Kraus schreibt — »nur f r o m m e g u t e Menschen« z u lesen verstehen, w e i l sie »von Gott gelernt [haben], w a ß der Frühling spricht«, während in den » H ä n d e [ n ] der platten« Menschen »diese G e h e i m n i ß e « , ja selbst »das G ö t t l i c h e als Landesproduckt [ . . . ] und die E w i g k e i t w i e ein Stück Leinwand E l l e n w e i ß « verkauft werden w ü r d e n . 1 , 5 Schlegel bezeichnet die Natursprache als eine »bewußtlose Poesie, die sich in der Pflanze regt«, »die erste, ursprüngliche, ohne die es g e w i ß keine Poesie der W o r t e geben w ü r d e « . 1 , 6 A u c h Brentano bestimmt die Sprache der Blumen als eine,
152
V g l . Hans-Günther Schwarz, Orient — Okzident. Der orientalische Teppich in der westlichen Literatur, Ästhetik und Kunst. München 1990. S. 82ff.
1,3Zitiert 154
ebd., S. 9 1 .
Im >Godwi< formuliert Brentano diesen Gedanken so: »Jemehr der einzelne Theil der Göttlichkeit in dem Werke in sich selbst gegründet ist, je weniger schmerzhaft dem Blicke der Uebergang von dem Alleinstehen des Einzelnen in die volle Verbindung des Lebens ist, je schöner ist das Werk, je reiner, je vollkommner ist ein Sinn hineingestellt, ohne uns an das traurige Vermissen des Ganzen zu mahnen«. F B A 16, S. 110.
1,5
Juni/Juli 1802. F B A 29, S. 454.
1 5 6 Friedrich
S. 285.
48
Schlegel, Gespräch über die Poesie. In: Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II,
die keine Worte redet, die erst von der Sprache geborgt werden, nein die gleich vom innersten Herzen der N a t u r , ich mögte sagen, von der geheimen Werkstätte Gottes die einfachen ewigen jedem verständlichen Töne n i m m t , und ihren W i l l e n ausspricht, so haben m i r die unschuldigen Rosenblätter gesprochen [ . . . ] . 1 5 7
Im >Sänger< heißt es, das »Daseyn« der Blumen sei »ganz bewustlos«, ihr »höchster Geist [ist] Blühen« (44). In der »freudenreichere[n] Welt«, die Brentano in der Liebesgemeinschaft mit Hannchen Kraus auferstehen lassen will, werden die »Blumen Gedanken«, die »Früchte Gotteserkenntniß« sein.' 5 8 Der >Fromme< und der Liebende aber sind die berufenen Hermeneuten, die die ursprünglich stumme Poesie in eine »Poesie der Worte« übersetzen und sie damit aus dem Unbewußten ins geistbewußte Dasein erheben. Nur Glaube und Liebe können die Sprache der Blumen und der Natur entziffern, ansonsten bleiben sie s t u m m . 1 , 9 Die hermeneutische Transformation ins geistbewußte Wort und Zeichen ist, wie noch gezeigt wird, für die Allegorie-Definition Brentanos entscheidend. Von einer ursprünglichen »botanischen« Rede der Poesie spricht schon Hamann in der >Aesthetica in nucec »Die erste Nahrung war aus dem Pflanzenreiche; die Milch der Alten, der Wein; die älteste Dichtkunst« war »botanisch; auch die erste Kleidung der Menschen war eine Rhapsodie von Feigenblättern«. 160 Die Naturgeschichte der Poesie in Form einer botanischen Rede resp. Blumen- und Pflanzenrede ist hier parallelisiert mit dem Urtext der Schöpfung. Herder, der Hamanns >Aesthetica< als »eine Orakelstimme unsrer Z e i t « ' 6 ' zitiert, versucht unter Anleitung dieser sowohl die > Alteste Urkunde des Menschengeschlechts< als auch das >Hohe Lied< neu zu lesen und die sinnlich-ästhetische Bildrede von Gottes Natur-Text in ihrer ursprünglichen Gestalt zu erfassen. Im Bild des Webens läßt er das Schöpfungswerk in der >Ältesten Urkunde< noch einmal entstehen: N a c h t : weite Leere: Dunkelheit: brausender Regelloser A b g r u n d , und - was dem ganzen Nachtgemälde Leben, Haltung und durchfahrende W ü r k u n g g i b t , auf ihm liegt und webt der schauernde Nachtgeist. [ . . .] Geist des H i m m e l s ! Hauch Gottes! wie er sich von droben her senkt, die Fluthen durchwühlt, emporwebt: wo er wandelt, webt
157
An Gritha Hundhausen und Hannchen Kraus, Juni/Juli 1802. FBA 29, S. 453f. Juli 1802. FBA 29, S. 468. ' » V g l . Brandstetcer 1986, S. 2 i 2 f . Zur Stummheit des Blumenzeichens vgl. auch Kap. I I . i . in dieser Arbeit. 160 Johann Georg Hamann, Aesthetica in nuce. In: Sämtliche Werke, Bd. II, S. 198. 161 Gerhard vom Hofe, Schöpfung als Dichtung. Herders Deutung der Genesis als Beitrag zur Grundlegung einer theologischen Ästhetik. In: Was aber bleibet stiften die Dichter? Zur DichterTheologie der Goethezeit. Hrsg. von Gerhard vom Hofe, Pecer Pfaff, Hermann Timm. München 1986. S. 6 5 - 8 7 . Hier: S. 73. 158
49
H i m m l i s c h e G e g e n w a r t : u n d alles ist S c h a u e r ! A l l e D i c h t e r d e r N a t u r h a b e n B i l d e r davon gegeben: die Morgenländischen D i c h t e r wieder am stärksten [ . . . ] . 1 6 2 H e r d e r s I n t e r p r e t a t i o n v o n G e n e s i s 1 als p o e t i s c h e s G e w e b e G o t t e s s c h l i e ß t h i e r m i t der B e s t i m m u n g des Dichters, d e r in p r o d u k t i v e r W i e d e r h o l u n g eine h e r m e neutische Entfaltung der ursprünglichen Schöpfung i m Ästhetischen
vollziehen
s o l l . 1 6 3 A m B e i s p i e l d e r B l u m e n s p r a c h e sei e i n H i n w e i s a u f d i e B i l d e r s p r a c h e a l l e r » D i c h t e r der N a t u r « g e g e b e n . In seiner D e u t u n g des > H o h e n Liedes< läßt H e r d e r das m o r g e n l ä n d i s c h e B e i s p i e l f o l g e n , ist i n i h m d o c h i n e i n e r Z e i t d e r
»Ruhe,
Poesie und Liebe«164 durch den Sänger Salomo der »Geist des H i m m e l s « selbst z u e i n e m G e d i c h t d e r L i e b e g e b i l d e t . D a s L i e d d e r L i e b e , so H e r d e r , » s p r i c h t R e i c h e der B l u m e n , n i c h t des G o l d e s : dies, a u c h in G e s c h e n k e n , ist t o d t ; B i l d e r , ihre D e n k m a h l e v o n i h m l e b e n « . 1 6 5 V o n der orientalischen
im ihre
Blumenspra-
che des S e l a m aber h e i ß t es: U n d d a i m O r i e n t d i e s alles N a t u r i s t , d a d i e G e l i e b t e n k e i n e s c h ö n e r e S p r a c h e h a b e n , als d a ß sie e i n a n d e r B l u m e n z u s e n d e n , s i c h d a m i t f r a g e n u n d A n t w o r t g e b e n , [ . . .] w i e ü b e r t r e f f t ihr G o l d u n d K l e i n o d e , als A n d e n k e n d e s G e l i e b t e n . 1 I n d e n » B i l d e r n d e r l e b e n d i g e n N a t u r « , w i e sie das M o r g e n l a n d b e w a h r t
hat,
» w o h n t « nach H e r d e r » E d e n noch auf d e n Spuren, der G a r t e n verlohrner Liebe«.
167
A l s e i n e S p r a c h e d e s Paradieses e r s c h e i n t so u . a. a u c h d i e B l u m e n r e d e i n
Brentanos Spätfassung des >Gockel-MärchensDie Blumen an sie< (Werke I, S. 553f.) und Grüße zum Tauftag (ζ. B . das Gedicht zum Tauftag Luise Hensels am 23. April 1818 >Ich darf mich wohl erfreuenDer Spinnerin NachtliedChronika des fahrenden Schülers< steht. F B A 1 9 , S. 9 0 f . Das Lied gehört aufgrund der artistischen Raffinesse, mit der Brentano den naiven Volksliedton suggeriert, zu den am meisten bewunderten und interpretierten Gedichten, wurde aber bisher nicht im Zusammenhang des mythopoetischen Grundmusters gedeutet. Dabei sind die zwei wesentlichen Aspekte dieses Grundmusters deutlich zitiert, das heißt das Lied der Nachtigall und die Tätigkeit des Spinnens (analog der Tätigkeit des Webens) sind im Sinne einer medialen Korrespondenz aufeinander bezogen, wobei ersteres im Sinne eines Begriffslosen und Geheimnisvollen erscheint, das im Lied der Spinnerin Worte und Ausdruck erhält. Der Spinnerin Lied ist Kunstlied, das vermittelnd für das höhere Naturlied eintritt, es imaginiert »ein Paradies durch Kunst, das jenes verlorene ersetzen muß, von dem der Gesang der Nachtigall kündet«. (Walter Müller-Seidel, Brentanos naive und sentimentalische Poesie. In: J b . der deutschen Schillergesellschaft 1 8 , 1 9 7 4 . S. 4 4 1 — 4 6 5 . Hier: S. 4 5 8 . V g l . Frühwald 1 9 7 7 , S. 2 2 8 — 240). Z u m Spinnrad als Dichtungs- und Kunstmotiv vgl. folgende Briefstelle: »Ich war eine Goldharfe mit animalischen Saiten bezogen, alles Wetter verstimmte mich, und der Wind spielte mich, und die Sonne spannte mich. Und die Liebe spielte so leidenschaftlich Forte, daß die Saiten zerrissen, so dumm zerrissen, daß ich kaum ein Spinnrad mit den Übrigen besaiten kann«. (GS V I I I , S. 167). Zu Brentanos Synonymisierung von Spinnen und Weben als Dichtungsmotive vgl. das Gedicht >Die Liebe spinnt klare SeidePhilomelaTitus Andronicus< (IV, i). D i e vergewaltigte und verstümmelte Lavinia benutzt den Text Ovids über Philomelas Gewebe, auf den sie mit ihren Fingern hinweist, als Zeichen für ihr eigenes Martyrium. V g l . Staub 1 9 9 0 , S. 5 3 4 .
202
A n G u n d a Savigny in einem im J u l i 1 8 1 9 begonnenen Brief. U L , S. 5 0 2 . V g l . e b d . , S. 4 9 9 . V g l . G S V I I I , S. 2 0 1 u. G S I X , S. 50.
203
U L , S. 5 0 2 .
204
V g l . ebd.
205
Nach Erhalt der Nachricht von Heinrich von Kleists Selbstmord schreibt Brentano an A r n i m ( 1 0 . Dezember 1 8 1 1 ) : » D e r arme gute K e r l , seine poetische Decke war ihm zu kurz, und er hat sein Leben lang ernsthafter als vielleicht ein neuer Dichter daran gereckt und gespannt«. Seebaß I I , S. 8 3 .
6l
absticht, antwortet: »Die Farbe zieht mich an, groß genug wäre es auch — aber das Muster des Gewebes ist mir zuwider« (869). Zwischen der Farbe und dem im Tuch enthaltenen Muster, dem sinnlichen, ins Auge springenden Attribut und der gleichsam geistigen Struktur, besteht für Amey eine Diskrepanz, die auch in ihrer Beziehung zu Klareta wiederkehrt, von der sie sich angezogen und abgestoßen zugleich fühlt. Sie sieht, um es mit Hamann zu paraphrasieren, nur die »verkehrte Seite der Tapete«, 2 0 6 vermag also den geistigen Einschlag im Tuch, die Wirkweise des Webers, die hier zugleich als eine in das Gewebe gehüllte stumme Not des »Seelchens« konnotiert ist, nicht zu verstehen. Ameys Sinn geht nach den »roten Fackellichterfn] und Schalmeien« (867), die jenseits des Bleichzauns ihr zurufen und die »schmerzlich Gewalt über [ihr] Herz« (866) ausüben. Es sind Verlockungen weltlicher Lust, die Amey am Verständnis Klaretas hindern und die sie auch von der Bleiche, auf der ihre Wäsche durch Tau gereinigt werden soll, wegziehen. In beiden Liedern Klaretas — aus der Perspektive des einsamen Webers und des Seelchens auf der Heide erscheinen die Klänge und der Glanz von Schalmeien und Fackeln als weltlichsinnliche Antipoden zu den Träumen von Komplettierung und Heilung. Es sind »Schmerz-Schalmeien« (867), »Sie brennen, reißen, schreien/Mir tief durch Mark und Bein« (868), sie spalten und zerreißen, was sich zusammen sehnt, werfen den Traum von der Ganzheit »schmerzlich übern Haufen« (866). Schmerz, Riß, Gewalt bezeichnen eine tiefgreifende Diskrepanz: auf der einen Seite steht die mutternackte Wahrheit (866), welche mit »hellen Töne[n] Glanzgefunkel« (866) das »Dunkel« (866) der Träume überblendet wie die Verschwendung von »tausend Ellen/Rot Zeug« (868), während auf der anderen Seite dem Seelchen das Kleid fehlt, der Traum unerhört im Innenraum des Ich bleibt. Wird diese Differenz in Begriffe übersetzt, so stehen auf der einen Seite das Helle, Entblößte, 207 das verschwenderisch Viele, auf der anderen Seite das Dunkle, völlig Verhüllte, das geheimnisvoll im Innenraum der einzelnen Seele Verschlossene. Erinnert sei an dieser Stelle noch einmal die Symbolik der »grelle[n] bisarre[n] Figuren«, die Brentano als Ausdruck von Sünde, Gewalt und Bürgerlichkeit für die Zerstörung der ursprünglich »heiligen Verschlingungen«, des »heimliche[n] zartefn] Gewebe[s] der Gottheit« 208 kennzeichnete und die hier in »der hellen *° 6 H a m a n n , Aesthetica in nuce. In: Sämtliche Werke, B d . II, S. 1 9 9 . 207
Die entblößte, nackte Wahrheit ist eine traditionell verbürgte Metapher fur den Herrschaftsanspruch der aufklärerischen Vernunft und den neugierigen Trieb der Erkenntnis. Im heilsgeschichtlichen Zusammenhang steht sie für den Sündenfall des menschlichen Wissenstriebes, der A d a m und E v a m i t der Vertreibung aus dem Paradies auch die Erkenntnis ihrer Nacktheit brachte. Entblößung und Nacktheit stehen, so W o l f g a n g Frühwald, bei Brentano stets »im Verdacht des Unerlaubten, ja des Verbrecherischen«. Frühwald 1 9 7 7 , S. 3 5 2 . V g l . U t z 1 9 8 7 , S. 2 3 1 . Z u r Bildtradition v g l . Blumenberg i 9 6 0 , S. 47 — 58.
208
F B A 2 9 , S. 2 8 0 .
62
Töne Glanzgefunkel/Und der grellen Lichter Tanz« (866), welche den Traum des Webers und Seelchens zu zerstören suchen, wiederholt wird. Die in den Liedern thematisierte Diskrepanz spiegelt sich in der Beziehungsund Verständnisproblematik zwischen Klareta und Amey, wie sie sich zuerst am Tuch, das Klareta als Berührungs- und Kommunikationsmedium einsetzt, zeigt. So wie Amey vom Muster des Tuches abgestoßen wird, erscheinen ihr auch die Lieder Klaretas in »irrer Weise« (867) gesungen, unverständlich, unsinnig und unweise. Auch der Schmerz, von dem Klareta singt, ist im Verhältnis beider Frauen ins Konkrete übersetzt. Klareta bringt ihn zum sinnlich-körperlichen Ausdruck, indem sie für Amey Rosen pflückt und sich dabei an den Dornen die Hände blutig reißt (867), aber auch, indem sie sich glühende Kohlen auf die Hand legt (869). 209 Amey aber »tat, als gehe [sie] das nichts an« (869). Die Reflexion der immanenten Struktur der Weberlieder im Kontext des >Tagebuchs< und ihre Transformation in das Handlungsgeschehen ist für die Deutung der Lieder entscheidend. Die jüngere Brentano-Forschung hat, wie bereits erwähnt, generell gezeigt, daß die Einbeziehung des Kontextes für die Deutung der Lyrik Brentanos unabdingbar ist. 2 1 0 Die Weberlieder und ihr 209
Im >Lebensumriß der Emmerick< erzählt Brentano, daß die Nonne von ihren visionär-geistigen Traumreisen oftmals körperliche Zeichen zurückbehielt. So hatte sie u . a . bei ihren geistigen Arbeiten in »verwilderten Weinbergen« »so viele Nesseln« »auszuraufen«, daß »der wirkliche Nesselbrand an ihren Händen ein Zeugniß von ihrem sinnbildlichen Ausraufen der Nesseln« gab. F B A 2 6 , S. 3 9 .
2IO
V g l . Müller-Seidel 1 9 7 4 , S. 4 6 o f . ; Matthias 1 9 8 2 ; U t z 1 9 8 7 , S. 2 3 8 . Heinrich Henel hat mit zwei Interpretationen zu Brentanos Weberlied exemplarisch den Unterschied zwischen einer textimmanenten Interpretation, die das Gedicht als autonomes Gebilde betrachtet, und einer kontextbezogenen Interpretation deutlich gemacht. E r k o m m t zu dem Schluß: » E r g i b t sich die weltliche [textimmanente] Deutung des Gedichts ungezwungener, so ist die religiöse [kontextbezogene] tiefer und dem Denken des alten Brentano gemäßer«. (Henel 1 9 7 8 , S . 4 3 7 ) .
Zum
Problem der unterschiedlichen Methoden v g l . ebd., S . 4 2 i f f . Die jüngste Deutung des Weberliedes durch Gerhart von Graevenitz, in der das Gewebe- und Webmotiv erstmals in seiner traditional vorbestimmten und poetologisch höchst bedeutsamen Spannweite behandelt wird, verfährt wieder rein textimmanent und hat genau darin ihren Mangel. Nach von Graevenitz inszeniert das Weberlied eine negative Version der traditionellen Vorstellung von der sinnhaften Gewebestruktur der Schöpfung, »die zugleich seine >modernste< Version ist«. Das poetische Gewebe verweist nicht mehr auf Sinn, auf eine ontologische contextio. » D i e Suche nach der referentiellen >Wahrheit< bleibt vergebens«. Was bleibt, ist die »autonome Schönheit des Textgewebes«, die unter theologischer Perspektive von Brentano zugleich als »unerträgliche Nichtdarstellbarkeit der Wahrheit G o t t e s « charakterisiert ist. (von Graevenitz 1 9 9 2 , S. 2 5 3 u. S. 2 5 4 ) . Aspekte moderner Dichter- und Dichtungsproblematik werden hier beschrieben, die jedoch nur unter Ausschluß des erzählerischen Kontextes haltbar sind. Bereits Η . M . Enzensberger, auf den sich von Graevenitz bezieht, betonte in seiner rein textimmanenten Interpretation des Weberliedes, wenn auch m i t weniger philologischem Scharfsinn als von Graevenitz und ohne dessen aufschlußreiche Argumentationsbasis, die in diesem Gedicht auf die Moderne vorausweisenden Aspekte. (Hans Magnus Enzensberger, Brentanos Poetik. 2 . A u f l . München 1 9 6 4 . S. 4 i f f . ) . Grundsätzlich: Brentanos literaturwissenschaftlich konstatierte »Modernität« — die meist außerhalb der spezifischen Brentano-Forschung betont wird — bildet ein Kapitel fur sich. A u f drei
63
Thema, das mit der Metapher Heinrich Heines vom » W e l t r i ß « , der dem Dichtermärtyrer mitten durchs H e r z 2 " geht, umschreibbar ist, sind im >Tagebuch< an die Verständigungsproblematik zwischen Klareta und A m e y geknüpft. A m Z u einanderfinden der beiden Frauen entscheidet sich, ob dieser schmerzvolle Riß noch einmal überwunden werden kann, ob es eine Brücke zwischen Geistigem und Irdisch-Weltlichem,
seelischem Innenraum und äußerer W e l t gibt,
ob
Heilung und Ganzheit möglich i s t . 2 " N i c h t weibliche Wäsche- und Bekleidungsprobleme, sondern Poesie, symbolisiert in den Motiven Weberlieder und gewebte Produkte (Tuch, Wäsche), sind hier das Thema. Die Verstehensproblematik zwischen Klareta und Amey und damit der erzählerische Kontext, in den die Lieder eingebunden sind, bilden zu diesen gleichsam den intendierten » W i derhall« ( 8 6 6 ) , das antwortende Gegenüber, das die Heilung bringen soll. Daß Brentano die Vermittlung in einem Vorgang der Verständigung zwischen M e n schen, Freunden, Liebenden darstellt, deutet auf den hohen W e r t des Dialogischen bei ihm. D i e Gefahr, in die Dichtung gestellt ist bzw. der sie sich aussetzt, kommt — in Analogie zu dem beherrschenden Motivbereich formuliert — einer Probe auf die Haltbarkeit ihres Gewebes gleich. Sie beinhaltet die Frage nach jener Möglichkeit der Restituierung der geistlich-weltlichen Einheit, die im ursprünglichen Gottesgewebe der Schöpfung gegeben ist. Durch den Kontext sind die Weberlieder an ein Verstehens- und Kommunikationsproblem gebunden, dessen Lösung für die objektive Sinnhaftigkeit und den ontologischen Referenzcharakter des in den Weberliedern zur Disposition stehenden poetischen Gewebes entscheidend ist. Klaretas wiederholte Appelle an A m e y nennen das
Voraussetzungen beruhen diese »modernisierenden« Deutungen: einmal auf der Vernachlässigung des Kontextes insbesondere bei der Lyrikinterpretation, zum anderen auf der Verwendung von Kategorien der Moderne zur Analyse der Texte und drittens auf der in Auseinandersetzung mit dem W e r k Brentanos ins Z e n t r u m gerückte und isoliert behandelte Problematik seiner krisenhaften Reflexionen auf die K u n s t . 211
Heine, Sämtliche Schriften, B d . III, S. 4 0 5 f .
212
Heines B i l d vom »Weltriß«, das er dezidiert von einer bloß subjektiven Zerrissenheit, der zeitgenössisch modischen Bezeichnung sogenannter »byronischer Zerrissenheit« absetzt, bezeichnet die Krisis der Moderne; als reflektierter Ausdruck für den Legitimationsverlust der Neuzeit ist es Initiale der modernen Welterfahrung und modernen Dichtungsproblematik: »wenn du über jene Zerrissenheit klagen willst, so beklage lieber, daß die Welt selbst mitten entzwei gerissen ist«. (Heine, Sämtliche Schriften, Bd. III, S. 4 0 5 ) . Unter dem Signum der Moderne ist jede Ganzheit für Heine illusionär und lügnerisch. E r schreibt: »Einst war die Welt ganz, und im Altertum und im Mittelalter, trotz der äußeren K ä m p f e gabs doch immer eine Welteinheit, und es gab ganze Dichter. W i r wollen diese Dichter ehren und uns an ihnen erfreuen; aber jede N a c h a h m u n g ihrer Ganzheit ist eine Lüge, eine L ü g e , die jedes gesunde A u g e durchschaut, und die dem Hohne dann nicht entgeht« (ebd., S. 406). Für Brentano aber bleibt die Vorstellung »eine[r] Welteinheit« und »ganze[r] Dichter« als Bezugsort und Gegenhalt dichterischer Subjektivität bestehen. So schreibt er an Runge: »Sobald die Nationen wieder ein Firmament des Glaubens und des Wissens rund wie eine Halbkugel über sich stehen haben, werden ihnen die Gestirne der K u n s t heranziehen, ohne daß sie fragen w a r u m ? « (Brentano-Runge, S. 20).
64
Vermittlungsmotiv: »ohne Opfer gehn die süßen Wunder, gehn die armen Herzen alle unter« (867), und: »Du mußt uns eine Gnade erweisen« (869). Der Opferbegriff und der Begriff der Gnade verweisen auf den Horizont, vor dem die Uberwindung der Diskrepanz möglich erscheint. A m Ende des >Tagebuchs< wird er in der Inschrift auf dem »Feldkreuz« symbolisch konzentriert sein. Doch auch hier reagiert Amey zunächst abweisend: »Es lag mir aber etwas Gewalttätiges in der Art des Begehrens« (869). »Vor meiner Seele flimmerten noch die Fackeln, tönten noch die Schalmeien, dazwischen die wunderlichen Reden der Unweisen und die glühende Kohle und alles« (869). Erst durch einen »Doppeltraum« (910), den beide Frauen gleichzeitig und bis in die Einzelheiten hinein gleichartig träumen, wird Amey offenbar, daß sie auf Klareta angewiesen ist und daß deren Heilung auch für sie selbst Genesung bedeutet (871). Auch Henel sieht in diesem Doppeltraum das »entscheidende Wunder«. 2 1 3 Ich nehme meine Deutung vorweg: es ist das Wunder der Fleischwerdung des Wortes, der Inkarnation der Wahrheit im äußeren Kleid der Sprache und des Textes, der von nun an als irdisch-geistliches Gewebe zu lesen ist, das in diesen Figurationen symbolisiert ist. Klaretas Wunsch, »nimm mir von der Stirne den Traum« ( 8 7 1 ) - eine Hölderlin-Reminiszenz —, wird von Amey dadurch erfüllt, daß sie ihren Traum erzählt, also Klareta den eigenen Traum wörtlich wiederholt. Diese Versprachlichung des Traumes durch Amey ist ganz konkret zu verstehen. Sie hüllt ein seelisch-geistiges Geschehen in die äußere Hülle der Worte und gibt der Seele damit ihr Kleid. Rückbezogen auf das unerhört verhallende Lied des Webers, das aufVerwirklichung seines Traumes drängt, steht die Versprachlichung Ameys fur die Konkretisierung und Realisierung des erträumten Gewebes, das, vom Weber einsam projektiert, im »Doppeltraum« nun gleichsam einen Leib annimmt. Amey gibt sprachliches Zeugnis — und durch ihr weiteres Schicksal Beispiel für die Wahrheit des Traumes. Als Doppeltraum geht der Traum über subjektive Befindlichkeiten, Projektionen und Wünsche hinaus, denn nur Gott kann zwei Menschen genau dasselbe träumen lassen. a ' 4 Zwischen den beiden Frauen stiftet er eine höhere Art von Kommunikation, welche die Mißverständnisse und das Unverständnis zwischen ihnen auf eine göttlich offenbarte Gemeinsamkeit hin transzendiert. Die prophetische Wahrheit und objektive Sinnhaftigkeit des Traumes deutet Klareta an: »Einstens wird es [kein Traum; Β. K . ] mehr sein« (872). Stand die Vision des Webers unter dem Signum der Einsamkeit und Illusion und "
3
2,4
Henel 1 9 7 8 , S. 4 2 7 . H e n e l 1 9 7 8 , S. 4 2 7 (Anm. 12). I m >Lebensumriß der Emmerick< erinnert sich Brentano »eines merkwürdigen Falles ihrer Seelenthätigkeit«, wonach die Nonne und eine arme Frau »Dasselbe geträumt, und die Aufgabe des Traumes war wahr geworden«. Als Quelle für einen ähnlichen Doppeltraum fuhrt Brentano Augustinus (de civitate Dei Lib 1 8 . Cap. 18) an, w o zwei träumende Philosophen »sich besuchen und platonische Sätze erklären, während sie beide zu Hause schlafen«. F B A 2 6 , S. 44 u. S. 4 5 .
65
mit der Wirklichkeit im schärfsten, ja schreienden Kontrast, so ist im »Doppeltraum«, in dem — wie es Brentano einmal an Luise Hensel schrieb — »eine Seele [ . . . ] in der anderen [spielt]«, 2 ' 5 die Einsamkeit in der Zweiheit, die Illusion in einer gemeinsamen Verbindlichkeit und prophezeiten Verwirklichung aufgehoben und erlöst. 2 , 6 Der Doppeltraum ist der »Widerhall«, den die Weberlieder so sehnsüchtig rufen. Und: während der schmerzliche Riß, die »Katastrophe« des Liedes vom lahmen Weber, in der »Zerstörung des Traums durch >die Wahrheit «< bestand, 217 überbrückt auch diesen Riß nun der gemeinsame Traum. Daß Träumen eine über das gewöhnliche menschliche Bewußtsein hinausgehobene Erkenntnisweise ist, in der sich eine höhere Wahrheit manifestiert, wird Brentano im Umgang mit der Visionärin Anna Katharina Emmerick zur Gewißheit. Eine ähnliche Vorstellung ist aber auch früher schon bei ihm faßbar. In der Vorrede zur >Gründung Prags< heißt es: W i e aber der Traum der Nacht angehört, welchen ich einer Arche vergleichen möchte, die vieles Leben des untergegangenen Tages über den dunkeln Wogen der Nacht rettend empor trägt, und gleichwie, gieng uns je die Erinnerung mit der Sonne des Tages unter, wir gerne die Bruchstücke seiner Gestalten unter dem Mondregenbogen, der über diese Arche gespannt ist, hervorgehen sähen, damit wir mehr als nur von heute seien, also muß auch jeder Historiker gern in den Träumen der Geschichte lesen, der Dichter aber wird sie verstehen und auslegen. 2 ' 8
Der Dichter versteht sich als ein Medium des Uberzeitlichen, der die Verdinglichung der Wahrheit im Traum auslegt und die Geschichte zu Sinnbildern der Heilsgeschichte konzentriert. Eine Analogie zu Gotthilf Heinrich Schuberts »Traumbildersprache« drängt sich geradezu auf. Nach Schubert, den Brentano als einen »jungfräulichsten, mildesten, rührend kindlichen Philosophen« 219 charakterisiert, ein Lob, das er in dieser Weise nur noch der Emmerick zollt, gelingt es der träumenden Seele sobald sie ihre Traumbildersprache redet Combinationen in derselben zu machen, auf die wir im Wachen freilich nicht kämen; sie knüpft das Morgen geschickt ans Gestern, das Schicksal ganzer künftiger Jahre an die Vergangenheit an, und die Rechnung trifft ein; [. . . ] Eine Art zu rechnen und zu kombiniren, die ich und du nicht verstehen; eine höhere Art von Algebra [. . . ] die aber nur der versteckte Poet in unserm Innern zu handhaben w e i ß . 2 2 0 215
Dezember 1 8 1 6 . GS VIII, S. 2 1 4 . V g I . Gabriele Brandstetter, Hieroglyphik der Liebe. Überlegungen zu Brentanos Fortsetzung von Hölderlins Nacht. In: Jb. des Freien Deutschen Hochstifts 1983, S. 2 1 3 — 266. Hier: S. 226. 217 Enzensberger 1964, S. 47. 218 F B A 14, S. 523. Zur Vorstellung eines Mondregenbogens vgl. Hugo Rahner, Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter. Salzburg 1964. S. 99 (Anm. 6). 219 1 8 1 0 , Brief an Joseph Görres. Seebaß II, S. 26. 220 Gotthilf Heinrich Schubert, Die Symbolik des Traumes. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1 8 1 4 . Hrsg. von Arthur Henkel. Heidelberg 1968. S. 3. 2l6
66
Dieser mathesis universalis analog versteht Brentano die Emmerickschen Visionen und Traumreisen. Die Visionärin ist ihm eine Mittlerin »zwischen himmlischen und irdischen Texten, zwischen »höherer« Wirklichkeit und diesseitiger Scheinwelt«. 221 Mystiker, Propheten und Dichter sind eins in ihrer Partizipation an einer Bildersprache, der sich, so Schubert, »die höhere Weisheit in all ihren Offenbarungen an den Menschen bedient hat«. 222 Im >Lebensumriß der Erzähler i n beschreibt Brentano die in den Emmerickschen Visionen am Leitfaden des kirchlichen Kalenders offenbarte >Ewigkeit in die Zeitc D i e geschichtliche Grundlage jeder kirchlichen Handlung sah sie als einen A k t Gottes in der Zeit zur Herstellung der gefallenen Menschheit, und da sie die A k t e Gottes als ewige sah, so erkannte sie, daß dieselben, um den Menschen in der endlichen Z e i t , die gezählt wird, zu G u t e zu k o m m e n , in fortgesetzten Momenten in Besitz genommen werden, und darum nach Anordnung J e s u Christi und des heil. Geistes in seiner Kirche in Mysterien wiederholt und erneuert werden m ü s s e n . 2 2 3
Der Kalender repräsentiert für Brentano ein System, in dem Ewiges und Zeitliches sich berühren, in dem Göttliches in Weltliches sich veräußert und in der Form eines Erlösungsgeschehens wirksam wird. 2 2 4 Große Mühe gab sich Brentano damit, die Biographie Jesu aus den Visionen der Emmerick mit Hilfe der Kontamination eines alt-hebräischen, eines modernen und des Kirchen-Kalenders auf den historischen Tag zurückzuführen, 225 also ihre historisch-symbolische Wahrheit zu eruieren, um nach dieser in der Veritas evangelii zu leben. Im >Tagebuch der Ahnfrau< sind die Ereignisse auf die kalendarische Struktur des Kirchenjahres abgestimmt. Das gesamte Geschehen steht im Kontext einer zyklisch sich wiederholenden Heilsgeschichte, die im »Doppeltraum« von Klareta und Amey als höhere Einheit von Geistlichem und Irdischem, Ewigem und Zeitlichem inkamiert ist. Von dem Moment des gemeinsamen Traumes an beginnt das Heilungs- und Erlösungsgeschehen, das kalendarisch-strukturell vorgegeben, am Einzelschicksal der beiden Frauen konkretisiert und über die Motivik von Weben und Gewebtem in den Kontext der Wiederherstellung einer ontologischen Gewebestruktur gerückt ist. Die Beziehung zwischen beiden Frauen begann durch ein Tuch, sie endet, kurz bevor das Kloster feierlich gegründet wird und beider Weg zum Ziel gelangt ist, mit einem Wäscheproblem. Denn Amey besteht vor der Unterzeichnung der Gründungsurkunde darauf, »daß ich notwendig erst meine große Wäsche wieder von der Bleiche in den Schränken 221
Hans-Walter Schmidt, Erlösung der Schrift. Zum Buchmotiv im Werk Clemens Brentanos. Wien 1 9 9 1 . S. 219. 252 Schubert, Symbolik des Traumes, S. 14. " ' F B A 2 6 , S. 53. 224 225
Vgl. Schmidt i 9 9 i , S . 206. Vgl. Frühwald 1977, S. 276.
67
haben muß, ehe ich an so etwas mit Ruhe denken kann« (903E).
Schon kurz
danach ist Amey dieser Sorge ledig. Klareta nämlich hat mit ein paar Helferinnen über Nacht die Wäsche geordnet, und als Amey aufwacht, hängt alles »schon auf den Leinen und wehte der aufgehenden Sonne entgegen« (904). »St. Johannis Tau«, so stellt Amey fest, »hatte mit vollem Segen gewirkt. Ich habe noch nie eine so gesegnete Wäsche gehabt« (904). Die vom Tau »gesegnete Wäsche« ist Symbol eines Geist und Welt vereinenden Gewebes, dessen Möglichkeit zwischen Klareta und Amey zur Diskussion gestellt war. Durch ein zweites Textil, Ameys amaranthseidene Decke, die ihr das »Rührendste« unter ihrem Besitz ist (906), symbolisiert Brentano, von der weltlichen Perspektive der Ahnfrau ausgehend, die Problematik von »Geist und Kleid« und ihrer Verbindung in der Textur des >TagebuchsMärchen< erklärt Gockel, was in einem geistigen Sinne unter dem »Amaranth-Rot« vorzustellen sei: »weil die Amaranthe nicht verwelkt und ihre tiefe, rote Farbe auch getrocknet bewahrt«, ist sie das »Sinnbild treuer, beständiger Gottes- und Menschenliebe, und ein Schmuck geliebter Toten«. »Die Erde trägt eigentlich nur den Schatten dieser Blume, der Himmel allein bringt sie in der Fülle ihrer ganzen Bedeutung wirklich hervor, als ein unvergängliches, unbeflecktes, unverwelkliches Erbteil, das uns in ihm bewahrt ist« (803). Die Fixierung auf die sinnlich-ästhetische Qualität der Decke wird Amey zum Verhängnis. Verlockt von der roten Farbe, die ihr wie ein Fleck vor den Augen tanzt (804, 909), fällt sie drei Rittern ins Netz, welche die von ihnen geraubte
68
»Decke wie einen Sack« über ihr zusammenzogen ( 9 1 1 ) . Der Fortgang des Geschehens braucht uns hier im einzelnen nicht zu interessieren. N u r die wichtigen Stationen seien zusammengefaßt, die Amey übrigens nicht mehr in ihrem Tagebuch dokumentiert, sondern in einem Brief an Klareta schreibt, den sie jedoch nicht abschickt (910). Diese Wende vom monologisch-einsamen Tagebuchschreiben zur potentiell dialogischen Kommunikation im Brief ist signifikant. Daß der Brief auch unabgeschickt ankommt, ist nach dem Doppeltraum von Amey und Klareta, der eine A r t telepathischen Rapport zwischen beiden herstellte, nicht zweifelhaft. 2 2 6 Amey wird von Urgockel gerettet werden, diesen heiraten und als Ahnfrau des gräflich hennegauischen Geschlechts in die Märchengeschichte eingehen. Beigesetzt wird sie in einem amaranthfarbenen Gewände, was, wie es im Märchen selbst heißt, »auf jene Decke [deutet; Β . K . ] , in der sie entführt, gerettet und die Braut Urgockels ward« (804). Ihre auf den Spiritualsinn des Geschehens aufmerksam gewordene Nachfahrin Gackeleia setzt hinzu: »Es paßt recht schön, [ . . . ] daß sie diese Farbe auch im Tode trägt, denn so ist sie auch in dieser Farbe von der Erde entfuhrt, und unter dem wahren Hennenkreuz gerettet, eine Braut des Himmels, und wie ein Küchlein unter die Flügel der Henne versammelt worden« (8o4f.). A m 29. November 1 8 3 6 hatte Brentano eine Liste an Johann Friedrich Böhmer geschickt, die seine Vorstellung von den auszuführenden Lithographien und der Gestaltung des Einbandes für das >Gockel-Märchen< dokumentiert. Unter »achtens« vermerkt er: Der Umschlag, mit Hahn, Henne und Küchlein in Schriftzügen. - Dieser Umschlag welcher nur Schrift und die geschriebene Hahnenvignette enthält, dürfte vielleicht weniger zu lithographieren kosten. — Weil ich diesen Umschlag in Metallgold will drucken lassen, müßte Herr Schmerber seinen Komissionär beauftragen, dunkelfarbiges Papier zu dem Umschlag zu besorgen. Am besten wäre to/rotes (amaranthfarbiges) Papier - es kann auch Tapetenpapier sein [ . . . ] . 2 2 7 Der amaranth-rote Einband sollte also in seiner Funktion einer Hülle und Decke für das Buch der Erscheinung des Geistigen im Kleid/Gewebe der Poesie noch einmal symbolischen Ausdruck verleihen. Die Poesie- und Texturthematik im >Tagebuch der AhnfrauMärchen von dem MyrtenfräuleinMyrtenfräulein< und, daran anschließend, innerhalb von Brentanos Deutung des zerstückten Osiris, die in einem Brief an Fouque dokumentiert ist, dienen. Bei Wind heißt es: »Die Kastration des Uranos gehört zu dem gleichen Typus wie die Zerstückelung von Osiris, Attis und Dionysos, die den neo-orphischen Theologen alle dasselbe Mysterium bedeuten: wann immer das höchste Eine zu den Vielen hinabsteigt, wird dieser Schöpfungsakt als qualvoller Opfertod gedacht, so als würde das Eine zerstückelt und zerstreut. Schöpfung wird somit als kosmogonischerTod verstanden, durch den die in einer Gottheit konzentrierte Macht geopfert und verteilt wird, doch folgt auf Abstieg und Ausstreuung der göttlichen Macht ihre Auferstehung, wenn die Vielen wieder zum Einen >versammelt< werden«. 1 2
2. Das zerstückte Myrtenfräulein Die Entstehungszeit des >Märchens von dem MyrtenfräuleinIris< erschien, kann bisher nur sehr ungenau angegeben werden. Brentanos Vorlage ist Giambattista Basiles Märchen >La MortellaPentamerone< 13 vorlegte, übersetzt den Titel mit >Der HeidelbeerzweigDer MyrtenzweigPilgrimmschaft nach Eleusis< die in der Feier der heiligen Mysterien
78
Studien brachte man von Seiten der Romantiker hohe Erwartungen entgegen. Arnim hatte bereits am 20. April 1808 an Brentano aus Heidelberg geschrieben, daß er Creuzer aufgrund seiner »herrlichen Einleitung über Mythologie« in den >Heidelberger Jahrbüchern< »zu bereden gesucht« habe, »eine Mythologie zu schreiben«. 25 Für Arnim dient die >Symbolik< dann unmittelbar nach ihrem Erscheinen als Quelle für seine >Päpstin JohannaGründung Prags< hat. A m 8. September 1 8 1 2 meldete Arnim den Grimms, Brentano habe seine Märchen »mit mehreren neuen Zugaben geschmückt, zierlich, zuweilen witzig, aber ohne Märchencharakter«. 27 Während seines Aufenthaltes in Prag Mitte 1 8 1 1 und Mitte 1 8 1 3 kaufte Brentano die Ausgabe des Basile im neapolitanischen Dialekt von 1 7 4 9 , die von Max Preitz als Handexemplar des Dichters bezeichnet wird. 2 8 Die bisherigen Datierungshypothesen gehen von einer Entstehung des >Myrtenfräuleins< zwischen 1805 und 1809/11 aus. Dabei kann es sich aber auch nur um eine erste Niederschrift gehandelt haben, 29 denn man weiß, daß Brentano sich noch einmal von 1 8 1 3 bis 1 8 1 5 / 1 6 intensiv mit seinen italienischen Märchen beschäftigte. Mein Vorschlag einer Datierung des >Myrtenfräuleins< nach 1 8 1 2 , also nach Erscheinen jenes letzten Bandes von Creuzers >SymbolikAn die Madonna< das Geschehen in der heiligen N a c h t von Eleusis als Präfiguration der Christgeburt gedeutet u n d dabei die Parallele zwischen d e m K e i m e n d e n , pflanzlich A u f b l ü h e n d e n und d e m K i n d gezogen. Eine T y p o l o g i e zwischen Semele, M u t t e r des Bakchos, und der christlichen Madonna bildet auch Novalis, der die Madonna »die xstliche Semele« nennt. 3 5 D e r N a c h t von Eleusis k o m m t zudem die B e d e u t u n g einer heiligen N a c h t resp. W e i h e n a c h t z u , wie sie so sonst nur i m christlichen K u l t bekannt ist. 3 6 Bei Hölderlin heißt es: Und wenn in heiliger Nacht Der Zukunft einer gedenkt und Sorge für Die sorglos schlafenden trägt 3 °Friedrich
Creuzer, Symbolik und Mythologie der alcen Völker, IV, S. 9 5 f. Die Quellen zum
Dionysos-Mythos sind von Manfred Frank im literaturwissenschaftlichen Zusammenhang aufgearbeitet (Frank 1982). 3'
V g l . Frank 1982, S. 292.
53
V g l . ebd., S. 3 i 7 f .
33
Bei Schelling heißt es, das Geistprinzip schlage wie ein Blitz in die bis dahin unbewußte Natur ein. V g l . Frank 1982, S. 3 i 7 f .
34
Im Dionysos-Mythos gibt es außerdem die Variante, daß der jüngste Sohn in eine Pflanze verwandelt wird, aus der ein berauschendes und halluzinogenes Getränk hergestellt wird. V g l . Toporov 1981, S. 220 (Anm. 80). Außerdem ist der zweite Dionysos Vegetationsgott.
35
Novalis, Schriften III, S. 5 9 1 . V g l . Frank 1982, S. 308. Die Typologie zwischen Semele und der christlichen Madonna hat patristischeTradition. Ausfuhrlich dazu: Rahner 1964, S. 9 i f f .
36
V g l . Frank 1982, S. 289ff.
80
Die frischaufblühenden Kinder Kömmst lächelnd du, und fragst, was er, wo du Die Königin seiest, befurchte. Denn nimmer vermagst du es Die keimenden Tage zu neiden. 3 7
Ausgehend von dem neuen allegorischen Kontext, den Brentano in poetischer Adaption des Dionysos-Mythos in das Märchen einführt, lassen sich seine einzelnen Veränderungen am Märchen Basiles erklären. Brentano mildert sowohl die eindeutig sexuellen Konnotationen, die bei Basile in der Beziehung zwischen dem Prinzen und dem Myrtenfräulein vorherrschen, als auch die Handlungszüge, mit denen Basile das Thema von Frevel und Strafe erzählerisch entfaltet. Nicht Sexualität, sondern Keuschheit und Liebe, die durch das Sinnbild der Myrte vorgegeben sind, bestimmen bei Brentano die Berührungen zwischen dem Prinzen und dem Fräulein. Zwar ist der Prinz durchaus an einer irdisch-sinnlichen Erfüllung seiner Liebe interessiert — in dem »goldene[n] Gießkännchen« (317), mit dem er liebevoll den Myrtenbaum begießt, konnotiert Brentano phallische Kraft resp. Fruchtbarkeit - , findet aber von Seiten seiner Auserwählten dafür kein Gehör. Im Gegensatz zu Basiles Helden befindet sich der Prinz und Landesherr Wetschwuth nicht auf der J a g d , sondern auf einer Forschungs- und Entdeckungsreise, als er Bekanntschaft mit der Myrte macht. In Wetschwuths Kunststadt, mit der Brentano auf der Erzählebene des Textes sein stereotypes Thema von Kunst und Künstlichkeit einfuhrt, ' 8 ist nämlich die Tonerde ausgegangen, die als Substanz das zerbrechliche Stadtgebilde zusammenhält. Aus der Bedeutung der Myrte als einem Symbol des Lebens entwickelt Brentano ein neues Handlungselement. Nach der ersten Bekanntschaft mit der Myrte wird des Prinzen Sehnsucht nach dem Wunderzweig so groß, daß er in eine schwere Krankheit fällt (317). »Wenn er die Myrte nicht hat«, so räsonnieren die Eltern, nachdem sie aufgefordert wurden, ihr Kind dem Prinzen zu übergeben, »so muß er sterben, und wenn wir die Myrte nicht haben, so können wir nicht leben« (317). Die Myrte, die auch als der »geliebt[e] Baum« ( 3 1 7 ) oder der »unschuldig[e] Baum« (318) bezeichnet wird, weist so in einem konkreten wie einem allegorischen Heilung und Heil versprechenden - Sinne auf den Lebensbaum. Nach langen Unterhandlungen zwischen dem Töpferehepaar und den Abgesandten des kranken Prinzen ziehen diese mit der Myrte in die Hauptstadt ein. Der feierliche Einzug, zu dem sich bei Basile kein Gegenstück findet, wird folgendermaßen geschildert: nach Erhalt der Zustimmung durch das Töpferehepaar 37
Hölderlin, Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. H r s g . von Friedrich Beißner. Stuttgart 1 9 5 1 .
38
V g l . Lawrence O . Frye, Poetic Wreaths. Art, Death and Narration in the Märchen of Clemens
B d . II, S. 2 i 2 f . (Vers
48fr.). V g l .
Frank 1 9 8 2 , S. 290.
Brentano. Heidelberg 1 9 8 9 . S. 1 0 3 .
8l
schickten [die Abgesandten; Β. K.] einen Reiter in die Stadt mit der frohen Nachricht, die Myrte werde ankommen, der Prinz sollte Mut fassen. Nun stellte der Töpfer das Gefäß mit der Myrte auf eine Tragbahre, über welche die Frau ihre schönsten seidenen Tücher gebreitet hatte, und sie trugen beide, nachdem sie ihre Hütte verschlossen hatten, den geliebten Baum nach der Stadt, wohin sie von den Abgesandten begleitet wurden. Von der Stadt kam ihnen der Prinz selbst in einem Wagen entgegen und hatte ein goldenes Gießkännchen in der Hand, womit er die geliebte Myrte begoß, bei deren Anblick er sich sichtbar erholte. Vier weißgekleidete, mit Rosen geschmückte Jungfrauen kamen mit einem rotseidenen Traghimmel, unter welchem die Myrte nach dem Schloß getragen wurde. Kinder streuten Blumen, und alles Volk war froh und warf die Mützen in die Höhe. (317^)
Brentano verteilt die in den Eleusinien konzentrierten Motive über die Handlungsabfolge des Märchens. Stellte das Motiv der nächtlichen Geburt die Initiation in den geheimnisvollen mystisch-esoterischen Zusammenhang dar, so verbirgt sich hinter der auf den ersten Blick so märchenhaft unbeschwerten Prozession der religiöse Subtext, auf dessen Folie der Myrte Einzug als Prolog eines rituellen Opfergangs erscheint und auf das Schicksal ihrer Zerstückelung in Porzellania vorausweist. Bei den eleusinischen Mysterien wird in der Prozession eine Saatwanne mitgetragen, in der das göttliche Kind liegt. Die Wanne - bei Vergil mystica vannus Iacchi 39 - könnte auch als Wiege bezeichnet werden. Schelling deutet die Wanne als Präflguration: [es] sollte dadurch das Unscheinbare seiner [Iakchos; Β. K . ] Geburt, daß er noch nicht erschien als der er seyn sollte, bezeichnet seyn, und durch eine wunderbar scheinende Prolepsis ist die Wanne das, was in Bezug auf eine höhere und viel heiligere Geburt in der Folge die Krippe geworden ist. 4 0
Demnach wäre, so Manfred Frank, »Dionysos als göttliches Kind nur die mystische — die esoterische - Vorwegnahme der exoterischen, der offenbaren Geburt des Heilandes«. 4 ' Die Engführung des Opfertodes und der Wiedergeburt, wie sie mystisch-esoterisch in den Eleusinien verknüpft ist, präfiguriert in konzentrierter Form den christlichen Heilsweg von Geburt, Opfertod und Wiederauferstehung. Wie Creuzer berichtet, haben die Mysten in Eleusis ihre Kleider als Windeln für das göttliche Kind verwendet, ein Motiv, auf das Brentano mit den seidenen Tüchern der Töpferin anspielt und das typologisch den Einzug Jesu in Jerusalem, Beginn der Karwoche, wo Kleider auf den Eseln und dem Weg ausgebreitet werden, andeutet. Es kann m. E. kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß 3 9 Vergil,
Georgica I, Vers 166. V g l . Frank 1982, S. 293.
4 °Friedrich
W i l h e l m Joseph Schelling, Sämmdiche Werke. Hrsg. von K . F. A . Schelling. I. A b t .
Bde. i —10; II. A b t . Bde. 1 — 4 . Stuttgart 1 8 5 6 — 1 8 6 1 . Bd. II/3, S. 518. Zitiert nach: Frank 1982, S. 293. 41
Frank 1982, S. 293.
82
Brentano diese Vorstellungen hier einarbeitet. Zwischen der Saatwanne und dem Blumentopf, der dem Myrtenfräulein als eine Wiege dient, eine Parallele zu bilden, drängt sich nahezu auf. Ausschlaggebend und vielleicht sogar Brentanos Ausgangspunkt für die Uberlagerung des Basileschen Märchens mit dem Dionysos-Mythos ist die Myrtensymbolik, über deren Bedeutung bei der Feier der eleusinischen Mysterien Creuzer folgendes berichtet: Dionysos wurde bei den Eleusinien mit dem Myrtenkranz auf dem Kopf in den Cerestempel zu Eleusis gebracht. 42 Bei der Feier selbst hatten alle Priester den Myrtenkranz zum Abzeichen. Die Myrte »war ein heiliger Baum und der Ceres, wie der Venus gemeinschaftlich. Die Seelen der Eingeweihten hielten sich, dem Mythus nach, in Myrthenhainen auf«, 4 3 ein Motiv, das Brentano in das Schlußtableau seines Märchens aufnimmt (326). Auch hinsichtlich des Ablaufs der Prozession lassen sich Parallelen im Märchen finden. Creuzer berichtet im Kapitel über >Die Feier der grossen MysterienMärchen v o n d e m Myrtenfräulein< in einen K o m p l e x , der G a n z h e i t unter religiöser wie ästhetischer Perspektive gleichermaßen begreift. Hören wir, was m i t den »aus einander g e w o r f n e n « Gliedern des Myrtenfräulein geschieht. N a c h A u f f i n d u n g des M y r t e n f r ä u l e i n s ( 3 2 3 ) ist d i e T r a u e r d e r H i n t e r b l i e b e n e n g r o ß . W ä h r e n d bei B a s i l e die R e k r e a t i o n d e r M y r t e o h n e K o m p l i k a t i o n e n statten g e h t , gestaltet sich der H e i l u n g s p r o z e ß bei B r e n t a n o wesentlich
von-
kompli-
zierter, das H e i l , a u f das d i e s e H e i l u n g w e i s t , ist d a n n a b e r a u c h v o n w e i t h ö h e r e r Bedeutsamkeit. Aus den »Glieder[n] und K n o c h e n « der Myrte bilden die Trauernden einen G r a b h ü g e l , d e n sie m i t » b l u t v e r s c h m i e r t e [ m ] W a s s e r « ( 3 2 3 ) ihren Tränen
begießen.
Für
die
Blutmetaphorik
lassen
sich
im
und
Gesamtwerk
Brentanos die vielfältigsten Stellen anführen, deren Bezugsort jedoch zumeist das lebensspendende Opferblut Christi78 77
ist.
In der späten
Lebensbaum-Allegorie
Ebd. Ein solcher »Einfaltspinsel« ist übrigens K . Ph. Moritz' Ancon Reiser, von dessen poetischen Bemühungen folgendes berichtet wird: » U n d als nun gar der Kantor zuletzt eine Anzahl durcheinander geworfener lateinischer Wörter, welches Verse gewesen waren, diktirte, damit sie wieder in metrische Ordnung gebracht werden sollten, welch ein Vergnügen für Reisern, da er nun m i t wenigen Fehlern, ein paar ordentliche Hexameter wieder herausbrachte«. Sven-Aage j0rgensen zitiert diese Stelle als K o m m e n t a r zu Hamanns »Turbatverse«. Johann Georg H a m a n n , Somatische Denkwürdigkeiten/Aesthetica in nuce. M i t einem Kommentar hrsg. von Sven-Aage J 0 r g e n sen. Stuttgart 1 9 6 8 . S. 86.
78
In dem berühmten »schlimmen Liebesbrief« (Paul Wachtier) an Karoline von Günderode gestaltet Brentano eine Bluthochzeit, d i e m . E . andieorgiastischen Riten des Dionysos-Kultes erinnert und diese in Beziehung zur christlichen Abendmahlslehre, in der Wein gereicht wird, aber B l u t gemeint ist, setzt. Brentano schreibt im Frühjahr 1 8 0 2 an die Freundin: » G u t e Nacht! D u lieber Engel, ach bist du es, bist d u es nicht? so öfne alle Adern deines weisen Leibes, daß das heiße schäumende B l u t aus tausend wonnigen Springbrunnen sprizze, so w i l l ich Dich sehen, und trinken aus den Tausend Quellen, trinken biß ich berauscht bin, und deinen Tod mit jauchzender Raserei beweinen kann, weinen wieder in dich all dein B l u t und das meine in Trähnen, biß sich dein Herz wieder hebt, und d u mir vertraust, weil das Meinige in deinem Puls lebt. —« ( F B A 2 9 , S. 444). Diese mystische Bluthochzeit geht schließlich in ein Bild über, in dem die N a t u r selbst, »Mondnacht, und der F r ü h l i n g « , das »süße heilige Liebeswerk« »vollbringen« (ebd., S. 445). D i e Verehrer des Dionysos suchen durch Weingenuß und durch orgiastische Tanze von ihrem G o t t besessen zu werden. Ihr K u l t ist ein Frühlingsfest, in dem das Wiedererwachen der ganzen N a t u r gefeiert wird. Das Instückereißen eines Tieres oder auch eines menschlichen Opfers, bei Brentano im Aufreißen der Adern der Freundin angedeutet, gehört zum Ritus. Es ist ein Liebesmahl, das
89
>Lilia s u b tilia< h e i ß t es: » d e s L e i b e s L e b e n ist i m B l u t , u n d das B l u t ist d i e V e r s ö h n u n g fürs L e b e n « . 7 9 N a c h u n e r m ü d l i c h e r P f l e g e u n d Sorge u m die g e s c h ä n d e t e M y r t e k e i m t diese s c h l i e ß l i c h w i e d e r a u f s n e u e , n u r f e h l e n an i h r e n b e i d e n H a u p t ä s t e n je f ü n f resp. v i e r S p r o s s e n ( 3 2 4 ) .
E s sind dies die F i n g e r ,
w e l c h e d i e M ö r d e r i n n e n als A n d e n k e n an ihre S c h a n d t a t m i t n a h m e n . D e r R i n g finger,
Symbol
des prinzlichen Eheversprechens u n d H i n w e i s auf eine
Hohe
Z e i t , a b e r b l i e b d e r M y r t e , d a das z e h n t e M o r d s f r ä u l e i n n u r eine » H a a r l o c k e genommen
und
ihr den R i n g f i n g e r « gelassen hatte ( 3 2 5 ) .
Durch
eine
List
g e l i n g t es d e m P r i n z e n , d i e M ö r d e r i n n e n zur A b l i e f e r u n g d e r f e h l e n d e n F i n g e r zu bewegen,
so d a ß n a c h l a n g e r T o r t u r das w i e d e r e r s t a n d e n e
Myrtenfräulein
ausrufen kann: N u n bin ich ganz I m alten Glanz, Bring mir den Kranz U n d führe mich z u m Hochzeitstanz. ( 3 2 6 ) W i e d e r d r i t t e D i o n y s o s n a c h s c h w e r e m L e i d e n als w i e d e r h e r g e s t e l l t e r Z a g r e u s a u s d e m V i e l e n u n d Z e r s t ü c k t e n a u f e r s t e h t , so feiert a u c h hier das M y r t e n f r ä u l e i n , n a c h d e m alle z e r r i s s e n e n S t ü c k e w i e d e r z u s a m m e n g e t r a g e n s i n d , ihre l e i b lich-geistige W i e d e r g e b u r t . 8 0 Die » M y r t e w a r d unter einen T h r o n h i m m e l
ge-
stellt, u n d der schönste B l u m e n k r a n z , m i t G o l d d u r c h w u n d e n , w a r d ihr v o n d e m T ö p f e r u n d der Töpferin aufgesetzt [ . . . ] « ( 3 2 6 ) . D a s Hochzeitsfest führt Brentano mit dem Blut der Geliebten zu sich nehmen will und das ähnlich wie das Verschlingen des Leibes in den Dionysos-Orgien einem sakramentalen Ritus folgt, durch welchen der Mensch die Kraft des Göttlichen in sich aufnimmt. Auch in Novalis Abendmahls-Hymne ist die »dionysische Omophagie mit dem mystischen Nachtmahl identifiziert, das Christus einsetzt«: » N i e endet das süße Mahl,/Nie sättigt die Liebe sich./Nicht innig, nicht eigen genug/Kann sie haben den Geliebten«. (Novalis, Schriften I, S. 1 6 7 . Vgl. Frank 1 9 8 2 , S. 3 1 9 ) . Aufschlußreich für die Deutung der Briefstelle ist auch der Zusammenhang, den Novalis zwischen dem sakramentalen Mahl und dem Verzehren des Geliebten in der Liebe und Freundschaft herstellt: »In der Freundschaft ißt man in der That von seinem Freunde, oder lebt von ihm. Es ist ein ächter Trope den Körper fur den Geist zu substituiren - und bey einem Gedächtnißmahle eines Freundes in jedem Bissen mit kühner, übersinnlicher Einbildungskraft, sein Fleisch, und in jedem Trünke sein Blut zu genießen«. (Novalis, Schriften II, S. 6 2 0 . V g l . Frank 1 9 8 2 , S. 320). 79 80
Feilchenfeldt-Frühwald, S. 2 5 2 . Z u m Bildfeld des Pflanzenwachstums und der vegetativen Erneuerung als archetypische Vorstellung vom Dichter und seinem Text vgl. Toporov 1 9 8 1 , S. 2 2 1 (Anm. 83). Dort der Hinweis auf Darstellungen des Osiris in den Zweigen einer ihn überwuchernden Weinrebe und auf die des Opferpriesters, der die Sprößlinge, die aus Osiris herauswachsen, begießt. Z u diesen Typos gehört auch die Vorstellung, daß der Text ein besätes Feld ist, dessen Zeilen Furchen, dessen Buchstaben Samen sind. Säen ist Schreiben, während das Einbringen der Ernte Lesen und Verstehen meint (vgl. ebd.). In den Zeilen ist ein Sinn ausgesät, der sich analog dem natürlichen Pflanzenwachstum enthüllt. Brentano hat im >Tagebuch der Ahnfrau< diese Vorstellung in der Figur und allegorischen Funktion des Bübleins chiffriert. V g l . von Graevenitz 1 9 9 2 , S. 2 5 4 u. Elisabeth Stopp, Brentano's » O Stern und Blume«. Its poetic and emblematic context. In: The Modern Language Review 67, 1 9 7 2 . S. 95 — 1 1 7 . Bes.: S. I 0 7 f f .
90
nicht nur dem Prinzen eine tugendhafte, nun auf Dauer in Menschengestalt verwandelte Braut zu, sondern bedeutet im allegorischen Zusammenhang eine Verbindung zwischen Himmel und Erde, für die das Myrtenfräulein als Opfer sich darbrachte. Aus der Myrte wird zum Schluß ein ganzer Myrtenwald (326), der, wie bereits angedeutet, als Aufenthalt der Seelen gilt, die in die Mysterien von Eleusis eingeweiht waren und die hier mit dem Märchen vielleicht erst eingeweiht worden sind.
3 . D e r zerrissene Osiris und der verwundete Leib des H e r r n Den Zerstückungs-Mythos, der in der Geschichte von Isis und Osiris erzählt wird, benutzt Brentano als Folie für eine Kritik an der Kunst der Gegenwart. Kenntnis von dem Mythos hatte er durch Joseph Görres' >Mythengeschichte der asiatischen Welt< ( 1 8 1 0 ) 8 1 erhalten, wo er wiederum zu den Mysterien von Eleusis in Analogie gestellt ist. 82 Osiris und Dionysos Iakchos als der wiedererstandene Zagreus bilden also auch bei Görres Typen eines gemeinsamen Grundmythos, 8 3 in dem Zergliederung und Zerstückung, Sammeln und Zusammensetzung der Teile auf die Utopie einer neuen Ganzheit bezogen sind. Brentano zitiert den Mythos in einem nicht abgeschickten Brief an Friedrich de la Motte Fouque vom Februar 1 8 1 6 , da in ihm das »Streben und Ringen der Dichter« in der Gegenwart »sehr schön symbolisiert« sei. 84 Während »im Jean Paul die letzte Phantasie einer sterbenden Zeit den schimmernden Regenbogenfuß wehmütiger Erinnerung an alles Verlorene und einer frommen, sehnsüchtigen Hoffnung zu der Zukunft diesseits und jenseits setzt«, 85 suchen alle anderen Dichter wie Isis »über diese Brücke« wandelnd »die Glieder ihres zerrissenen Gemahls«. 8 6 Das Brückenmotiv, das, semantisch hier an das Symbol des Regenbogens gebunden, eschatologisch konnotiert ist, hat Brentano bereits in einem frühen Brief an Hannchen Kraus ex negativo als Symbol seines Dichtungs- und Weltverhältnisses verwendet: w a r u m ich traurig bin das will ich erklären, ich finde eine tiefe Aehnlichkeit zwischen meiner jezzigen Lage, und dem Schiksal der ganzen W e l t , Sieh, hier sizze ich, und meine Sehnsucht liegt jenseits, zwischen durch braußt der Fluß, der sich um diesseits und jenseits nicht k ü m m e r t , und doch beide bildet, so ist der Mensch durch ein fremdes 81
Vgl. Mathes 1978, S. 172 (Anm. 34). Joseph Görres, Mythengeschichte der asiatischen Welt. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Wilhelm Schellberg. Köln 1935. Bd. 5, S. 210. 83 Vgl. Toporov 1981, S. 221 (Anm. 83). 84 Seebaß II, S. 162. 85 Ebd. 86 Ebd. 82
91
Element, von allem Göttlichen getrennt, und es scheint und tönt ihm nur aus der Ferne her ein A b g l a n z des vortreflichen e n t g e g e n . 8 7 D e n M y t h o s fuhrt Brentano folgendermaßen aus: W i e nachher T y p h o n den geliebten Leichnam zerreißt, wie sie [Isis; Β . K . ] alle Stücke wiederfindet bis auf das Zeugende, wie sie jedes dieser Stücke (nach Diodor) m i t einer menschlichen F i g u r von W a c h s und Spezereien u m g i b t , und es verschiedenen Priestern als den wirklichen Leib des Osiris zur Verehrung g i b t : ist mir ein deutliches B i l d der neuen K u n s t . D a s zeugende Stück hat der Strom, der N i l , unter jenem Regenbogen hinströmend, verschlungen. Jeder glaubt den ganzen Osiris zu haben. Plutarch sagt, Isis solle mit dem verschlungenen Gemahle den Harpokrates mit schwachen verzogenen Beinen erzeugt haben; aber man hält nicht viel darauf. Das zeugende Prinzip durch sie, als Phallus zu religiöser Verehrung eintretend, scheint mir, wie ich die M y t h e hier zufällig benütze, bedeutender. 8 8 » B i l d d e r n e u e n K u n s t « ist z u m einen d i e K u n s t f i g u r , d i e Isis a u s d e n z e r r i s s e n e n T e i l e n d e s O s i r i s b i l d e t u n d d i e m i t t e l s » W a c h s u n d S p e z e r e i e n « eine e h e m a l i g e G a n z h e i t s u g g e r i e r e n s o l l . 8 9 Z u m a n d e r e n ist es d i e A u f s t ü c k u n g d e r u r s p r ü n g l i c h e n E i n h e i t in d a s V i e l e , d a s v o n I s i s d a d u r c h p o t e n z i e r t w i r d , d a ß sie jedes e i n z e l n e G l i e d d e s G a t t e n » v e r s c h i e d e n e n P r i e s t e r n als d e n w i r k l i c h e n L e i b d e s Osiris zur Verehrung g i b t « .
A n d i e S t e l l e des u r s p r ü n g l i c h e n
schöpferischen,
l e b e n s s p e n d e n d e n P r i n z i p s t r i t t die m ü h s a m e R e k o n s t r u k t i o n u n d v e r v i e l f ä l t i gende R e p r o d u k t i o n . 9 0 Konkreter A n l a ß fur Brentanos D e u t u n g der g e g e n w ä r t i g e n K u n s t ist d i e L e k t ü r e v o n F o u q u e s > Z a u b e r i n g < , in d e m er
87
J u l i 1 8 0 2 . F B A 2 9 , S. 4 7 9 . Gegenüber Runge bezeichnet sich Brentano einmal als der »geringste Brückenbauer, Pontifex minimus«, dessen einzig sinnvolle Tätigkeit im Leben darin bestand, daß er »schon oft sich fremde Menschen zusammengeführt, die sich viel geworden«. Brentano-Runge, S.27.
88
Seebaß II, S. I 0 2 f .
89
Wachsfiguren gehören wie Puppen und Automaten zu den in der Romantik thematisierten Kunstgebilden, deren Orte künstliche Paradiese sind. Die Puppen- resp. Kunstfigur aus Brentanos >Gockel-MärchenDie Geheimnisse< ( 1 8 2 1 ) erklärt er deren Bedeutung: es ist »ein künstliches Bildnis [ . . . ] , das, indem es geheime Kräfte der Geisterweit weckt, durch scheinbares Leben täuscht«. (Ε. T. A . Hoffmann, Poetische Werke, Bd. 6, S. 363). Ein Kunstprodukt ist auch Schnürlieschen, Hauptfigur in Brentanos unvollendeter Überarbeitung seines italienischen Märchens >LiebseelchenDie Gründung PragsDie Gründung Prags< und Grillparzers >LibussaDes Vetters Eckfenster< den intern künstlerisch, extern sozialgeschichtlich und politisch motivierten »Dominanzwechsel« von »phantastischer, auf das Spiel mit Texten ausgerichteter Literatur zur am mündlichen Dialog orientierten fiktionalen Auslegekunst« beschrieben. In der Ö f f n u n g auf Geselligkeit, Gespräch und soziale Gegebenheiten tritt die »subjektive, monologische, auf Schrift fixierte Imagination des einsamen Romantikers« »zurück gegenüber der geselligen K o m munikation, dem kombinatorischen Spiel, die Erscheinungen des sogenannten »bunten Lebens« auf ihren sozialen Gehalt hin zu durchschauen«. Günter Oesterle, Ε . T. A . H o f f m a n n : Des Vetters Eckfenster. Z u r Historisierung ästhetischer Wahrnehmung oder Der kalkulierte romantische R ü c k g r i f f auf Sehmuster der A u f k l ä r u n g . In: Deutschunterricht H f t . 1 , 3 9 , 1 9 8 7 . S. 84 — 1 1 0 . Hier: S. 99 u. S. 1 1 0 .
13
V g l . Oesterle 1 9 9 1 , S. 8 2 .
105
masse«, 24 so beschreibt Α. W.Schlegel die von den Romantikern privilegierte parole-Definition der Sprache. Eine Poesie, so ließe sich hinzufügen, die im lebendigen Sprachmilieu fundiert ist und deren korrespondierender Geselligkeitsentwurf Heterogenität und Vielstimmigkeit berücksichtigt, bestimmt das Gemeinsame im lebendigen und offenen Austausch des Einzelnen und das Einzelne in seinem Bezug zu einem lebendigen Allgemeinen. Beim frühen Brentano - dies wurde bereits gezeigt — sind es nicht Regeln und Gesetze, sondern ist es die Liebe, die den Bezug der Gesprächspartner sichert, das Verstehen garantiert und ein neues Allgemeines begründet. In den >Wehmüllem< vollzieht Brentano gleichsam die Probe aufs Exempel. Indem er unterschiedlichste Charaktere gegeneinander führt, verschiedene Weltanschauungen aufeinander prallen läßt und dieses Konglomerat bis in die Verwirrung, ins Chaos treibt, konstituiert Brentano eine Form der Geselligkeit, die allein aus dem Leben und dem offenen Gespräch von Mensch zu Mensch ihre Kriterien bezieht. Und diese sind, wie auch Goethe weiß, von anarchischer Qualität: »Verwirrungen und Mißverständnisse sind die Quellen des tätigen Lebens und der Unterhaltung«. a 5 Brentano läßt in Umkehrung der Goetheschen Maximen für eine sittlich-kultivierte Unterhaltung dem Leben freien Lauf. Subversive Elemente werden nicht ästhetisch sublimiert, aufgehoben oder ausgegrenzt, sondern im geselligen Verein direkt ausagiert. Das Wirtshaus der Frau Tschermack ist dafür der geeignete Ort. Auch der Name der Wirtin, bei dem es sich um eine Verballhornung von »Geschmack« handeln dürfte, verweist auf Unziemliches, wenn nicht unbedingt auf einen schlechten, so doch zumindest auf einen ungewöhnlichen Geschmack. Erotische Anzüglichkeiten, derbe Scherze, unbeherrschte Gesten und Worte, lautes Lachen, Tränen sowie Aggressionen, allesamt Grenzüberschreitungen dessen, was sich gehört und als solches den Bestand von Normen — das reglementierende Gesetz der Konversationslehre darf hier als pars pro toto gelten — sichern würde, dringen in die Unterhaltungen der geselligen Runde ein. Das heißt aber auch: Revolutionen passieren hier nicht in einem Draußen, in der großen Politik, vor der man sich rettend abschließt — Goethes Ausgewanderte sind Flüchtlinge der Französischen Revolution - , sondern sie passieren zwischen Mensch und Mensch. Verwirrungen und Zerwürfnisse im geselligen Kreis stehen stellvertretend für ein subversives Potential, das über den konkreten Anlaß hinaus auf gesellschaftliche und politische Veränderungen weist. Brentano entwickelt die Vorstellung eines neuen Allgemeinen aus dem Chaos, positiv: auf der Grundlage einer pluralen Gesellschaft, in der ständische, weltanschauliche, kulturelle, nationale und hierarchische Grenzen sukzessiv aufeinander durchlässig werden, "•August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801 — 1804). I n : Vorlesungen über Ästhetik I (1798 —1803), S. 4 1 7 . 25 Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Werke, Bd. VI, S. 186.
106
auch wenn sie zunächst miteinander in Widerstreit geraten. Das Vertrauen in das Leben und in die Liebe ist einziges Regulativ innerhalb des romantischen Geselligkeitsdiskurses, der in den >Wehmüllern< von Brentano in seiner freiesten und offensten Form dargestellt wird. Z u r Erklärung dieser Superlative bedarf es zumindest eines textübergreifenden Hinweises. Dort, wo das Vertrauen in die Formen romantischer Lebensliebe und/oder Liebeslebens resp. Geselligkeit und ihrer selbstregulierenden Kraft schwindet, rekurriert Brentano auf soziale oder religiöse Enklaven und bestimmt diese als Keimzellen fur die Konstitution eines neuen Allgemeinen. Dies gilt auch fur die Dülmer Jahre des Dichters. Die »Gemeinschaft der Heiligen« - als solche bezeichnet Brentano sowohl die intime Trias seiner selbst, der Emmerick und Luise Hensels wie die katholische Kirche im Ganzen - garantiert transsubjektive Verbindlichkeit. Auch wenn dezidiert keine Gesetze und reglementierende Normen damit verbunden sind, so verpflichtet doch die Idee einer »Gemeinschaft der Heiligen« zum Konsens und zu einer analogen Gestimmtheit. Anstelle des Vertrauens in die Entwicklungsfähigkeit offener Geselligkeit setzt Brentano hier ein gemeinsam verpflichtendes Drittes voraus. 2 6 N u n : das bunte Völkchen in den >Wehmüllern< ist davon nicht betroffen. Lärmend artikuliert es sein Vertrauen ins Leben. Damit aus diesem Stimmenchaos wirkliche Pluralität entsteht, romantische Geselligkeit ihren hier noch etwas >kneipenden< Charakter übersteigt, bedarf es der Liebe, dieses — wie es in der >Philistersatire< heißt - »herrlichste[n] Trieb[s] im Menschen«. 2 7 A u f der Erzähl-
26
Es lassen sich hier Parallelen zur Gesprächstheorie Adam Müllers ziehen, in der ein »psychologisches Dilemma« — so Claudia Schmölders — offener Geselligkeitsentwürfe in der Romantik sichtbar wird. Müllers Prinzip des Dialogischen ist offen charakterisiert: als »Vermittlung, Ironie, Freiheit, Beweglichkeit, Komödiantentum«. U m dieses Prinzip aber mit der Grundverschiedenheit von Gesprächspartnern vereinen zu können, setzt Müller ein gemeinsames Drittes voraus, das Institution ist. N u r unter dem Schutz der Institution (ζ. B. eines vertrauenswürdigen Staates) ist Konsens und Verstehen garantiert. V g l . Schmölders 1986. S. 58. Eine weit problematischere Möglichkeit, offene Geselligkeit und Konsens zu vereinen, stellt die vorgängig verabredete Aus- und Abgrenzung von bestimmten Gruppen und Personen dar, wie sie ζ. B. durch die
»Christlich-deutsche
Tischgesellschaft« mit dem Zutrittsverbot f ü r j u d e n und Philister getroffen wurde. Günter Oesterle hat dies untersucht. Die »Tischgesellschaft«, an deren Konstitution Adam Müller, Achim von Arnim und Brentano entscheidend beteiligt waren, ist in ihrer internen Struktur symposional angelegt, das heißt man »huldigte einer ganzheitlichen, das Geistige und Leibliche umfassenden Rekreation«. In den »Tischreden« wählen die Redner »eine Gattung, die seit der Antike und Renaissance das volkstümlich-festliche Recht heiterer, offener, furchtloser Freimütigkeit als wesentliche Lizenz besitzt«. W i e brüchig und gefährdet man das Programm offener Geselligkeit in einem »sich zunehmend beschleunigenden Modernisierungsprozeß« sah, zeigt die »aggressive Identitätsbehauptung nach außen; sie ist zugleich Ausdruck eigener Selbstunsicherheit und Ambivalenz, eines abgewehrten Philisterhaften und Jüdischen an sich selbst«. Günter Oesterle, Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik. In: Athenäum 2, 1992. S. 55 — 89. Hier: S. 7 9 , S. 59, S. 83. 27
Werke II, S. 979.
107
ebene des Textes antizipiert dies die Wehmüllersche Schicksalsfrage: nur die Liebe seiner Frau, von der Wehmüller durch den Pest-Cordon getrennt ist, kann ihn von der fatalen Doppelgängerei erlösen, »wenn die sich nur nicht irre« (258). Die eigentlich romantische Form der Liebe, die - wie Brentano es einmal formuliert — einem durch »Kühnheit« und »Gefahr« geheiligten Abenteuer 28 gleichen sollte, ist zwischen Devillier und der Zigeunerin Mitidika gestaltet. Eine wilde Naturkulisse und eine unkonventionelle, auch im kriminalistischen Sinne am Rande der Gesellschaft geführte Existenz bilden den atmosphärischen Hintergrund dieser Beziehung, von der in der letzten Binnengeschichte berichtet wird. Im romantisch-bunten Kolorit thematisiert Brentano die hermeneutisch-vermittelnde Funktion des Liebesmotivs. Die Beziehung zwischen Mitidika und Devillier, beider Trennung und das Wiedersehen weisen über das Einzelschicksal hinaus auf eine freie, in der Liebe vereinte Gesellschaft. Zwei so unterschiedliche Geister wie die Zigeunerin und der Aufklärer im Geist der Liebe vereint, lassen fur das ganze Völkchen hoffen. Adam Müller hat dies so ausgedrückt: ist das harmonische Gesetz für zwei gegeben, so ist es für Tausende da und für die Welt: zwei Liebende, sagt der Dichter in diesem Sinne, bilden ein versammeltes Volk - und je verschiedenartiger die Stimmen, je eigentümlicher die Instrumente, um so gewaltiger und tiefer wird der harmonische Ausdruck. 2 9
Wenn Mitidika am Ende der Erzählung den Pest-Cordon von der jenseitigen Grenze her durchbricht, Wehmüller seine Frau Tonerl zurückgibt und dem Bruder Michaly und dem Geliebten Devillier »wechselweise um den Hals« (304) fällt, ist das Glück dieser Gruppe Symbol einer höheren, in der Liebe vereinten Gesellschaft. Freie Gesellschaft und Liebe bilden für Brentano einen Begründungszusammenhang. Die Ehekritik, wie sie exemplarisch im >Godwi< formuliert wird, vermag dies zu verdeutlichen. Ehe, heißt es dort, ist ein »monopolitisches Einerlei«: 30 Ο wäre eine Fläche auf der Erde, wo die Liebe nicht zünftig wäre, und läge sie hinter der bürgerlichen Welt und ihren Gewässern, [ . . . ] könnte ich sie dann nicht abbilden, in ihren verschiedenen Graden von Streben nach dem Himmel, wie die Strahlen einer aufgehenden Sonne — nach langer Nacht. Und die kalte Zone der Ehe würde erwärmt werden, und erleuchtet - wir werden gesund seyn, wenn wir unsere Organisation nicht mehr fühlen, wir werden einen Staat haben, wenn sich die Gesetze selbst aufheben, wir werden eine Liebe haben, wenn wir keine Ehe mehr kennen. 3 1
28
Ebd.
29
A d a m Müller, Z w ö l f Reden über die Beredsamkeit. In: Kritische/ästhetische und philosophische
30
F B A 1 6 , S. 3 5 8 .
31
E b d . , S. 3 5 8 f .
Schriften, B d . I, S. 3 1 5 .
108
Mit seiner Kritik greift Brentano die »Institutionalisierung und Reglementierung der Liebe« in Form der »staatstragenden Organisation« der bürgerlichen Ehe an. 3 2 Gesetze und Normen wirken gleichermaßen restriktiv auf die Entfaltung einer freien Gesellschaft wie die Ehe auf eine echte Liebesbeziehung. Gegenentwurf ist die Liebe ohne Trauschein. In den >Wehmüllern< wird Devillier von Michaly darüber aufgeklärt: M i t i d i k a wird nicht an dem Stückchen Erde kleben, sie wird nicht in einem gemauerten Haus gefangen seyn wollen und sich um Abgaben und Zinsen zerquälen. W e r nichts hat, hat Alles; es war i m m e r ihr Sprüchwort: Der H i m m e l ist mein H u t ; die Erde ist mein Schuh; das heilige K r e u z ist mein Schwerdt; wer mich sieht, hat mich lieb und werth. ( 3 0 2 )
Während im >Godwi< die Vorstellung einer neuen Gesellschaft noch in den Sehnsuchtsbereich der Utopie verschoben wird, so können die >WehmüllerTheorie des geselligen Betragens< formulierte — »auch die fremdesten Gemüther und Verhältnisse [ . . . ] befreundet und gleichsam nachbarlich werden können«. 3 3
2 . Phantasie i m Horizont soziokultureller Diskurse Dem heterogenen Personal in den >Wehmüllern< korrespondiert eine Vielfalt soziokultureller Diskurse. Sowohl Wehmüllers Geschichte wie die drei Binnengeschichten, die als Ich-Erzählungen von dem Kroaten, Devillier und Baciochi vorgetragen werden, repräsentieren jeweils historisch-politisch, ständisch-gesellschaftlich und weltanschaulich bedingte Diskurse aus der zeitgenössischen Gegenwart Brentanos. Die Nebenpersonen treten ergänzend hinzu. In der Kommen32 33
Brandstetter 1986, S. 74. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: F. D. E. Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Hans-Joachim Birkner u. a. Berlin 1984. Bd. 2, S. 165. Zitiert nach: Oestetle 1992, S. 7 1 . Trotz dieser Definition ist auch Schleiermachers Theorie der Geselligkeit von 1799 wie diejenige Goethes dem Begriff der Schicklichkeit supponiert und an der Vermittlungsfahigkeit höfischer Tugenden orientiert. Ich führe dies als weiteren Beleg fur die Problematik offener Geselligkeitsdiskurse in der Romantik an. Vgl. Claudia Henn-Schmölders, Sprache und Geld oder »Vom Gespräch«. In: Jb. der deutschen Schillergesellschaft 2 1 , 1977. S. 327—351. Bes.: S. 3 3 i f f .
109
tierung, D i s k u s s i o n u n d A u s l e g u n g der v o n ihnen y o r g e t r a g e n e n
Geschichten
setzen
Argumenta-
sie
eigene
Akzente
und
deuten
soziokulturell
bedingte
tionsmuster und Diskursrichtungen an. Mittels der poetischen A n s a m m l u n g von wesentlichen
Diskursen
und
Meinungen
der eigenen Z e i t ,
d i e als
»topische
S u b s t a n z « des W e r k e s 3 4 bezeichnet w e r d e n dürfen, stellt B r e n t a n o die > W e h m ü l l e n g l e i c h z e i t i g in einen gesellschaftlichen w i e ästhetischen B e d e u t u n g s Rezeptionszusammenhang.35
A u f produktionsästhetischer
und
Seite setzt dies eine
R ü c k b i n d u n g der ästhetischen E i n b i l d u n g s k r a f t an die H e r m e n e u t i k voraus. Ist B r e n t a n o s s i t t l i c h - k o m m u n i k a t i v e B e s t i m m u n g d e r d i c h t e r i s c h e n P h a n t a s i e in der > C h r o n i k a des f a h r e n d e n Schülers< v o r n e h m l i c h an die p o e t i s c h - h e r m e n e u t i sche V e r m i t t l u n g des g e i s t b e w u ß t e n W o r t e s d u r c h eine K u n s t der Lehre Rede geknüpft 34
36
und
u n d in der >Geschichte v o m braven K a s p e r l u n d d e m schönen
Topik ist nach Aristoteles die Substanz der »herrschenden Meinungen«. Ich beziehe mich hier und im folgenden auf Lothar Bornscheuers grundlegende Studie zur Topik: Lothar Bornscheuer, Topik. Z u r Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M . 1 9 7 6 . Hier: S. 2 1 .
" V g l . ebd., S. 20. 36
Lehre und Rhetorik in ihrer theologischen Würde und als Formen sittlich-kommunikativen Handelns sind in der >Chronika< Ausgangspunkt fur ein Kunstverständnis, das die Gottebenbildlichkeit des Menschen, aber auch die lebensweltliche und endliche Bedingtheit menschlicher Existenz spiegelt. D i e H a u p t f i g u r Johannes formuliert das Programm: »denn lehrend soll und ist alle wahre K u n s t , wenn sie gleich oft eine bloße Ergötzung der Sinne scheint, so fuhrt sie doch die geheimeren wunderbarlichen Eigenschaften Gottes, der Seele und der Welt vor unser G e m ü t h , das sie mit mannigfacher R ü h r u n g bewegt, von dem alltäglichen befangenden Leben die A u g e n zu erheben, und sich nicht verlohren zugeben, an die kurze Z e i t , und ihren Dienst [ . . . ] « . ( F B A 1 9 , S. 1 4 6 0 . A n d e r »lebendigen Wirkung« (ebd., S. 1 3 1 ) der K u n s t , ihrem movere, das Brentano in Analogie zur Redekunst definiert, entscheidet sich ihre lebensweltlich wie religiös bestimmte objektive Verbindlichkeit. Die Kunst der Rede zeigt sich darin, wenn sie »in Wirksamer Deutlichkeit alle ihre K r a f t verwendet, um in den Gemüthern der Redenden und Zuhörer, in denen sie lebt, wie der Mensch in der W e l t , ihr Werk zu vollenden, und ihr eignes Wesen durch ein zurückbleibendes Zeichen zu befestigen, dann sinckt sie wieder in kindischer Unschuld, und verstummt gerne m i t einer lächelnden W e h m u t über die Vergänglichkeit des irdischen Lebens, sich hinwendend m i t Sehnsucht und Hoffnung zu Gott, und dem Göttlichen [ . . . ] « ( e b d . , S. 1 3 0 ) . Brentano schreibt dem Künstler eine Mittlerfunkt ion zu. E r steht, wie es A d a m Müller analog fur den Redner beschreibt, »in der Region des Menschen«, der den »Doppeldurst des Menschen«, seine geistlichen und weltlichen Bedürfnisse, gleichermaßen befriedigt. Seine W i r k u n g ist (nach Müller) eine »wohltätige Spur, welche alle echte Beredsamkeit in uns zurückläßt; das Allgemeine und Besondre, das Höhere und das Niedre, der H i m m e l und die Erde haben sich berührt: der Redner schweigt, w i r finden uns wieder in den bekannten Tälern dieser Erde, wir verweilen noch immer in besonderen, wohnen noch immer hier in den Niederungen, aber ein himmlischer Tau ist zurückgeblieben, beglänzt die Erde, und wenn er auch sanft verduftet, indem die Geschäfte der Erde uns forttreiben, so bleibt doch unser ganzes Dasein auf lange Zeit erfrischt«. (Adam Müller, Z w ö l f Reden über die Beredsamkeit. In: Kritische/ästhetische und philosophische Schriften, B d . I, S. 4 4 2 , S. 3 9 9 , S. 3 9 8 f . ) . Zwischen Müllers >Reden über die B e r e d s a m k e i t von 1 8 1 2 , die die bedeutendste romantische Theorie der Rhetorik darstellen, und Brentanos >Chronika< bestehen hinsichtlich der A u f f a s s u n g des Wortes und der Kunst der Rede zahlreiche Übereinstimmungen. Grund für diese ist, daß Müller in seiner Rhetorik und Brentano in der >Chronika< als Paradigma ihres Rhetorik- resp. Kunstverständnisses die heilige Rede wählen, das heißt sich an der ursprünglichen logos-Kraft des Wortes orientieren. Einen voridealistischen Quellgrund beider Konzepte,
HO
Annerl< an den moralischen Aktionismus des Schriftstellers, so geht es in den >Wehmüllern< paradigmatisch um die hermeneutische Relevanz der Phantasie im soziokulturellen Bereich. 3 7 Man hat in der Brentano-Forschung kontrovers darüber diskutiert, auf welche Weise in den >Wehmüllern< die einzelnen Personen miteinander in Beziehung stehen und wie Rahmen und Binnenerzählungen und diese wiederum untereinander zusammenhängen. Z u unterschiedlich schienen das Personal, die Erzähler und erzählten Geschichten wie ihr jeweiliges Thema hier, so daß Heterogenität, Stimmenvielfalt und Kombination scheinbar ein oberstes Prinzip darstellen. 3 8 Entsprechend wurde die Zuordnung der einzelnen Binnenerzählungen untereinander als »summierende, additive Aneinanderreih u n g « 3 9 gedeutet. Ein unmittelbar evidenter, innerer Begründungszusammenhang ließ sich nicht erkennen. Für die Oberflächenstrukur des Textes treffen die Analysen zu. Bunt, ja zusammengewürfelt scheint hier alles mit allem kombiniert. Aber gerade dieses Verfahren der Kombination ist strukturell hintergründig. Die Kombination steht in einem direkten Zusammenhang mit der Vielfalt des topischen Materials, das präsentiert wird. Lothar Bornscheuer definiert diesen Zusammenhang so: » J e >topischer< aber ein W e r k ist, desto >kombinatorischer< ist auch seine Struktur. Kombinatorik ist die Methode einer innovativen Vermittlung topischen Materials. J e kombinatorischer ein W e r k strukturiert ist, desto leichter läßt sich umgekehrt auch sein topisches Material identifizieren. K o m b i natorik ist also zugleich ein Verfahren, topisches Material als solches sichtbar werden zu lassen. Topik und Kombinatorik [ . . . ] sind zwei Aspekte derselben
in denen es auch um eine romantische Synthese von Poesie und Rhetorik geht, bildet J . G . Hamanns >Aesthetica in nuce< ( 1 7 6 2 ) . M i t der berühmten Formulierung, daß die Schöpfung eine »Rede an die Kreatur durch die Kreatur« sei (in: Sämtliche Werke, B d . II, S. 198), bestimmt Hamann die göttliche Offenbarungsrede des Schöpfers als Ursprung heiliger Poesie und liefert damit sowohl die Voraussetzung fur die Definition der Poesie als heilige Rede (Brentano) als auch eine Quelle flir die Rückbesinnung der Rhetorik auf die heilige Rede und ihre ursprüngliche Personalunion mit der Poesie (Müller). Eine detaillierte Untersuchung der Vorstellung von der Lehre und Rede wie der rhetorischen Aspekte in der >Chronika< könnte Brentanos Gegenkonzept zur frühromantischen Literaturprogrammatik verdeutlichen, deren »emphatischer K u n s t b e g r i f f « auf der Basis einer »Philosophie der K u n s t « das »»bloß« rhetorische vom hochwertigen Kunstwerk« abgrenzt und damit den Streit zwischen den seit der Antike »sich befehdenden Lebenslehren« Rhetorik und Philosophie zugunsten letzterer entscheidet. (Vgl. H e l m u t Schanze, Einleitung. In: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 1 6 . — 2 0 . Jahrhundert. Frankfurt a. M . 1 9 7 4 . S. 7 — 1 6 . Hier: S. 14). Für Brentano dagegen beschreibt K u n s t , die auf philosophischen Grundlagen steht, eine substantielle Krise. A n Ph. O . R u n g e schreibt er: »der speculirende Künstler m a g wohl ein eben so trauriger K o m e t der verlornen K u n s t seyn, als alle Philosophie überhaupt da anfangen dürfte, wo das Leben Abschied genommen, und der Trieb nackt und bloß mit sich selbst ringt«. (Brentano-Runge, S. 2 1 ) . 37
Grundlegendes zu dem Modell einer »Hermeneutik der Einbildungskraft im Horizont gesell-
38
V g l . Schaub 1 9 8 4 , S. 3 4 7 passim.
39
K l u g e 1 9 8 0 , S. 1 0 5 .
schaftlicher Praxis« bei: Bornscheuer 1 9 7 6 , S. 1 9 passim.
III
Sache, nämlich des Umgangs mit einem gesellschaftsgeschichtlich identifizierbaren Erfahrungs- und Bildungswissen«. 40 In den >Wehmüllern< ist Erzählen ein Akt der Identifikation und hermeneutischen Explikation soziokultureller Diskurse. Tiefenstrukturell manifestiert sich in der Abfolge der verschiedenen Geschichten und Diskurse ein hermeneutischer Prozeß, in dem einseitige Denkstrukturen, rigide Weltanschauungen und erstarrte Formen des Lebens hinterfragt und aufgebrochen werden. Signifikantes Bild für die Verknüpfung von narrativer Abfolge und einem tiefenstrukturell wirksamen hermeneutischen Prozeß ist das Motiv der Grenze und Grenzüberschreitung. Als movens des Prozesses aber bestimmt Brentano das Liebesmotiv.
2 . 1 . Wehmüllers Warenwirtschaft und die Dämonie des Tauschwerts Das Schicksal Wehmüllers, 41 ein »mehrerer Wehmüller« sein zu müssen, stellt Brentano in den Zusammenhang zeitgenössisch-aktueller historischer und politischer Ereignisse. Der Maler wird auf seiner Kunstreise, die ihm nicht nur lukrative Geschäfte, sondern auch ein Wiedersehen mit seiner Gattin einbringen sollte, von dem Pest-Cordon aufgehalten. Bei Wehmüllers derzeitig mitgeführten Kunstwerken handelt es sich um 39 Nationalgesichter, das sind: »39 Portraits von Ungaren, welche Herr Wehmüller gemalt hatte, ehe er sie gesehen« (254). Wolfgang Frühwald hat die Bedeutung der Zahl 39 aufgelöst: »Die Zahl 39 erscheint auf den ersten Seiten der Erzählung nicht weniger als viermal, so daß sich auch der unbefangene Leser und nicht nur der des Jahres 1 8 1 7 nach ihrer Bedeutung fragen muß. Sie bezieht sich wohl auf jene berüchtigten 39 Vaterländer der Deutschen, die aus der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongreß hervorgegangen sind. Ihrer 38 hatten sich 1 8 1 5 zu einem »unauflöslichen Bunde« zusammengeschlossen, dem 1 8 1 7 , als das 39. Vaterland, die Landgrafschaft
40
Bornscheuer 1 9 7 6 , S. 2of.
41
Daß Brentano mit dem N a m e n Wehmüller auf W i l h e l m Müller anspielt, konnte jüngst von Heinz Wetzel (Wilhelm Müller, » D i e schöne Müllerin« und »Die Winterreise«: Die Frage nach den Zusammenhängen. In: Aurora 5 3 , 1 9 9 3 . S. 1 3 9 — 1 7 1 ) nachgewiesen werden. Brentano und Müller haben sich im Staegemannschen Kreis kennengelernt. D i e Motive des Pest-Cordons und vielleicht auch die Geschichte von dem »wilden J ä g e r « verweisen auf Müller, »der auf seiner Forschungsreise nach Griechenland und Kleinasien in Wien aufgehalten wurde und dann nach Italien fuhr, weil in Konstantinopel die Pest herrschte, und in dessen Müllerin-Liedern der »grüne J ä g e r « eine so entscheidende Rolle spielt« (ebd., S. 149). D i e Rivalität zwischen Müller und Brentano um die Liebe Luise Hensels ist »biographische Parallelaktion zum fiktionalen Geschehen des Singespiels« >Die schöne Müllerin< (ebd., S. 146). Brentanos explosives Wesen und sein unverhohlenes Werben um Luise, das mit den im Stillen gehegten Gefühlen W i l h e l m Müllers für die Frau extrem kontrastierte, gleicht »dem zerstörerischen Einbrechen des J ä g e r s in die Idylle des Müllerburschen« (ebd.).
112
Hessen-Homburg beitrat«. 4 1 Brentano verbindet die historisch-politische Dimension mit der Diagnose gesellschaftlicher und merkantiler Verhältnisse, in denen derart praktische Kunstprodukte, wie sie Wehmüller hervorbringt und vertreibt, auf Nachfrage stoßen. Der Produktionsprozeß von Kunst wird auf seine objektiven Bedingungen befragt. Das »Portraitmahlen« ist die traditionelle Kunstausübung zum Broterwerb und deshalb für einen Teil der romantischen Künstler indiskutabel. So erklärt Ph. O. Runge dem Buchhändler Perthes: »da ich doch das Beste immerfort treiben muß, [es] nicht angeht, nämlich mich (des Erwerbs halber) aufs Portraitmahlen zu appliciren, das geht gar nicht;« 4 3 und: »Die großen Bilder und Sachen sind es also nicht [ . . . ] worauf sich zu verlassen ist, sondern das, was man so ohne viele Umstände aus dem Aermel schütteln kann; denn wer von der Anstrengung leben will, stirbt an der Erschlaffung«. 4 4 Wehmüller weiß haushälterisch mit der Anstrengung umzugehen. Im Winter malt er »Nationalgesichter« (254) auf Vorrat, um im Sommer seiner Klientel ein angemessenes Warenangebot vorlegen zu können, aus dem dann »Jeder sein Bildniß fertig nach bestimmtem Preise, wie ein Weck auf dem Laden, selbst aussuchte« (254). Auf Wunsch fügt Wehmüller dann noch mit wenigen Pinselstrichen »einige persönliche Züge und Ehrennarben, oder die Individualität des Schnurrbartes des Käufers« hinzu (254). Teuer wird es allein bei der Uniform, welche Wehmüller »immer ausgelassen hatte« und die »nach Maaßgabe ihres Reichthums nachgezahlt werden« mußte (254). Das blühende Geschäft mit der Kunst ist hintergründig. Es verrät den Zustand einer Gesellschaft, in der das Individuelle auf reine Äußerlichkeit reduziert ist. Identität und soziales Prestige bestimmen sich nach der Kaufkraft. Im negativen Sinne sind in dieser dem abstrakten Tauschwert unterworfenen Gesellschaft alle Menschen gleich, das heißt, wie Wehmüllers Porträts austauschbar. Kein Wunder also, daß Wehmüller diese Austauschbarkeit am eigenen Leibe erfahren muß. Ein Doppelgänger tritt ihm entgegen, der jedoch nicht, wie man im romantischen Kontext vielleicht erwarten würde, ein Ausdruck des Solipsismus oder eine pathologische Projektion des durch Identitätsverlust bedrohten Wehmüller ist, sondern ein ganz realer Gegenspieler, der Wehmüller in jenem Bereich bedroht, aus dem er allein seine Identität gewinnt: im Kunstgeschäft. Der den Doppelgänger mimende Maler Froschauer aus Klagenfurt ist »Antagonist und Nebenbuhler« (255) in einem Spiel, in dem mit dem Tauschwert der Ware, mit Gewinn und Verlust, auch die eigene Person verhandelt wird und die Produktions- oder besser Reproduktionspotenz zum Schicksal des einzelnen generiert. Bedrohlich ist Froschauer vor allem 4
* Wolfgang Frühwald, Achim von Arnim und Clemens Brentano. In: Handbuch der deutschen Erzählung. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. Düsseldorf 1 9 8 1 . S. 145 — 158. Hier: S. 1 5 5 . 43 Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. II, S. 186. 44 Ebd.
113
auch dadurch, daß er Vertreter einer »entgegengesetzten Schule« ist: »er hatte nämlich immer alle Uniformen voraus fertig, und ließ sich für die Gesichter extra bezahlen« (255). Brentano deutet hier das Gegenmotiv zu Wehmüllers paradigmatisch aufzufassender (bürgerlichen) Lebenspraxis und Warenwirtschaft an: das Prinzip der Individualität, die als radikal gelebte in Mitidika Gestalt annehmen wird. Wenn Devillier seine Suche nach Mitidika mit den Worten beschreibt: »Ich habe das holdselige Geschöpf durch ganz Ungarn aufgesucht, aber leider nicht wieder gefunden; hundert Mitidikas sind mir vorgestellt worden, aber keine war die rechte« ( 3 0 1 ) , so reflektiert das, wie später noch deutlicher werden wird, die hermeneutische Suchbewegung des Textes selbst, die Entbergung des Individuellen hinter allgemeinen und verkrusteten Diskursen, die epiphanische Erscheinung Mitidikas, von der es heißt: »Es giebt auch nur Eine [ . . . ] und wird alle tausend Jahre nur Eine geboren« (301). Über die historisch-politische und gesellschaftliche Bedeutungsdimension hinaus interpretiert Brentano die Wehmüllersche Reproduktionsspirale des Immergleichen im Kontext des mechanistischen resp. deistischen Weltbildes. Darauf deutet zunächst die Beschreibung von Wehmüllers Reisestab. Als ein »wahres Wunder an Mechanik« ist dieser angefüllt mit brauchbaren und weniger brauchbaren Gegenständen und enthält doch immer nur: »sich selbst« (255). Brentano liefert in der halbseitigen Auflistung des Inhalts, vom Reise-, Maler-, Meßstock über »Blaserohr«,
»Tabackspfeifenrohr«, »Stiefelknecht«,
»Thermometer«,
»Zeichenstuhl« bis zum »Brauchbarstefn] von allem: eine approbirte hölzerne Hühneraugen-Feile« (255) ein anschauliches Dokument mechanischer Effizienz, bei der es mehr auf Quantität als auf Qualität und Sinnhaftigkeit anzukommen scheint. Mechanik und Reproduktion sind bereits in der Satire >Bogs, der Uhrmacher< ein Hauptthema, die Brentano gemeinsam mit Joseph Görres in der Heidelberger Zeit geschrieben hat. Wie Wehmüller ist Bogs »ein Gestalter im mechanischen Sinn, Kunstgewerbler, nicht Künstler«, der »die Kunst als Mittel zum Zweck« gebraucht. 45 Daß Brentano Bogs und Wehmüller als Gleichgesinnte begreift, zeigt er unter anderem im Zitat. Von beiden Personen wird ein Protokoll aufgenommen »an dem nichts merkwürdig war, als daß es mit dem Worte »sondern« anfing« (264). 46 Durch den identischen Beginn der Protokolle wird hier Doppelgängerei bzw. Reproduktion 47 angedeutet. Bogs beschreibt die Entstehung seiner Kunstwerke folgendermaßen: 45
Elisabeth Stopp, Die Kunstform der Tollheit. Z u Clemens Brentanos und Joseph Görres< »BOGS der Uhrmacher«. In: Brentano-Kolloquium 1980. S. 359—376. Hier: S. 3 7 1 .
46
Vgl. W e r k e l l , S. 875. Das Reproduktions- resp. Vervielfältigungsmotiv steht im übrigen in einem pragmatischen, den zeitgenössischen Literaturmarkt betreffenden Kontext. Für die Figur Wehmüllers konnte Konrad Feilchenfeldt sowohl nachweisen, daß dessen >Vermehrung< auf die Erscheinungform der Erzäh-
47
114
Ich suchte [ . . . ] meine Kunst immer zu vervollkommnen, und fing endlich die sieben freien Künste selbst ein, um meine Uhren zu verschönern. Die Malerei lieferte mir allegorische Zifferblätter und Emaillen, die Bildhauerei schöne Figuren, welchen ich statt der altfränkischen Uhrgehäusen die Uhrwerke in den Magen oder rittlings zwischen die Beine setzte; [ . . , ] . 4 8
Uhrwerke zwischen den Beinen: hier bedarf es der Erklärung fast nicht. Die Mechanik des Uhrwerks steht anstelle schöpferischer Potenz. Das Produkt im Ganzen ist Abbild eines toten Maschinenwesens namens Welt. Elisabeth Stopp hat auf die traditionelle Bedeutung der Uhrmacher- und Uhrwerksmetapher hingewiesen. Nach Leibnizs berühmtem Uhrengleichnis »soll Gott, als erster Schöpfer, der Inbegriff des Uhrmachers überhaupt sein, der das große Uhrwerk der Welt, und zwar der besten aller möglichen Welten, geschaffen und aufgezogen hat, um es dann mit Hilfe der Erdenkinder und ihres naiven Fortschrittsglaubens einfach laufen und endlich ablaufen zu lassen«. 49 Bogs ist eine Doppelgestalt. Geschaffen von dem Doppelgespann Brentano und Görres, deren Anfangsund Endbuchstaben den Namen Bo-gs bilden, ist er auch Doppelgänger in einem metaphysischen Sinne. Der Name weist über seine konkreten Schöpfer hinaus auf die wendischen Götzen resp. slawischen Gottheiten, die in der >Griindung Prags< eine große Rolle spielen. Alle Götternamen enthalten dort die -bog Endung. Mit der Assonanz heidnischer Gottheiten bei gleichzeitiger Doppelgestalt ist Bogs als »wunderbarer Zwilling Gottes« 5 0 identifiziert, das heißt als Teufel, welcher in der trügerischen Gestalt Gottes einhergeht. Sein Wesen ist Täuschung und
lung in »mehreren Exemplaren«, das heißt in zwölf Fortsetzungen in einem Monat, in Gubicz Zeitschrift >Der Gesellschaften deutet, als auch, daß Brentano m i t dessen Schnellmalerei auf das »verlegerische Geschäft mit dem Nachdruck« anspielt. (Feilchenfeldt 1 9 8 9 , S. 2 0 9 , S. 2 1 7 ) . Unbeachtet von Feilchenfeldt blieb hingegen die Verwandtschaft, die auch in diesem Zusammenhang Wehmüller und Bogs auszeichnet. I m >Paralipomenon< zu >Bogs, der Uhrmacher< erlaubt sich Bogs vor der Schützengesellschaft den kühnen Vergleich: »Jeder von uns [ . . . ] ist [ . . . ] ein Manuskript, das der H i m m e l auf Pergament geschrieben [ . . . ] « , um darauf die Kunst vorzufuhren, »dieses Manuskripc im Drucke zu vervielfältigen, so oft und so wiederholt«, als immer man will. Z u m Exempel, oder besser: exemplarisch für seine Existenz, verwandelt sich B o g s in eine Rotationsmaschine. Bogs drehte sich »um sich selbst herum, und jedesmal, wenn eine Rotation vollendet, fuhr ein Abdruck aus ihm hervor, [ . . . ] « . (Werke II, S. 9 1 1 ) . Z u Brentanos Auseinandersetzung mit der Kommerzialisierung des literarischen Lebens v g l . auch Schaub 1 9 8 4 , S. 2 0 8 f f . D i e entscheidenden Neuerungen einer leistungsfähigen Massenpresse fallen in den Entstehungszeitraum beider Werke. 1 7 9 8 / 9 9 und 1 8 0 5 wurde die maschinelle Papiererzeugung entwickelt, 1 8 1 1 die Schnellpresse erfunden. D i e Diskussion um das geistige Urheberrecht im Zusammenhang des Nachdruckproblems dauerte während des ganzen 1 9 . Jahrhunderts. Das Gesetz des Nachdruckverbots erging 1 8 3 5 . V g l . Helmuth Kiesel und Paul Münch, Gesellschaft und Literatur im 1 8 . Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland. München 1 9 7 7 . S. i 6 i f . u. S. 1 3 9 . 48
Werke II, S. 8 7 9 f .
49
Stopp 1 9 8 0 , S. 3 7 0 .
5
° V g l . Michel Foucault, Die Prosa Aktaions. In: P. Klossowski, G . Bataille u . a . , Sprachen des
115
Doppelgängerei. Seine Taten und seine Kunst sind geprägt durch die Verneinung des Schöpfergottes und können daher nie mehr als tote mechanistische Wiederholung des ursprünglichen Gotteswerkes sein. Brentano/Görres verknüpfen hier die deistische Gottes- und Weltvorstellung mit dem Fall Luzifers. Der Leibnizsche Gedanke vom Rückzug Gottes aus der sich selbst überlassenen Schöpfung wird interpretiert als Resultat des teuflischen (Ab-)Spaltungswerkes. Bo-gs - der Trennungsstrich ist Symbol — ist der geteilte/gespaltene G o t t . 5 ' Gottes »Erdenkinder« sind Teufelskinder, wenn ihre Seele wie die Seele der ganzen Maschine aus »Metall« ist, was nichts anderes heißen will als klingende Münze. Sowohl Bogs Pfennigfuchserei, sein philiströses Lebenselexier, seine geschäftlichen Spekulationen als auch seine nachdrückliche Forderung eines Brotstudiums weisen darauf hin, daß nach seiner Vorstellung das zirkulierende Metallgeld den Rhythmus des Räderwerks Welt bestimmt: 5 2 denn, hauchte Gott gleich Seele in den Erdenkloß, dem es not tat, Adam zu werden, so geziemt es uns doch nur, mit dem Pflugschar das Erdenkloß zum Acker zu bilden, und mit gründender Furche die Scharte Adams auszuwetzen, weil unsre Seele das Metall ist, und wir nur durch dieses beleben und belebt werden können; es ist Feder und Gewicht an der Uhr und, wenn mans beim Lichte besieht, was aber behutsam geschehen soll, gar die Uhr selbst. 5 3
Auch dort, wo der doppelte Wehmüller auftaucht, ist Teufelsgeruch nicht fern. Zahlreiche Signale werden gesetzt. So fragt ein irritierter Bauer: »wer von den Beiden ist nun der Teufel« (257)? Ein Chirurg ist nur im Schutz eines WacholderFeuers, dem seit alters anti-dämonische Zauberkräfte zugeschrieben werden, 54 bereit, mit Wehmüller zu sprechen (260). Frau Tschermack ruft beim Anblick Wehmüllers ein »Gott steh uns bei!« (263) aus. Von dem Grafen Giulowitsch
Körpers. Berlin 1 9 7 9 . S. 25 — 38. Hier: S. 2 6 . Elisabeth Stopp weist ebenfalls auf die Bedeutung Bog f ü r G o t t , ohne jedoch die Götzenhaftigkeit zu reflektieren. Stopp 1 9 8 0 , S. 368fr. 51
Die Teilung und Aufspaltung der Welt spiegelt sich in der Gespaltenheit, ja Schizophrenie Bogs'. Er ist nämlich sowohl philiströser Zweckspekulant wie enthusiatischer Musikliebhaber, geistloser Mechanikus und hochgradiger Phantast.
52
Das G e l d als T h e m a in Brentanos Werken ist, worauf Schaub hinwies, ein Desiderat in der
53
Werke II, S. 8 7 9 . D i e Verknüpfung von G e l d , Metall und Seele findet sich häufig in der
Brentano-Forschung. Schaub 1 9 8 4 , S. 270. romantischen K r i t i k am Kapitalismus. Franz Baader verurteilt den »affekt-, herz- und gefühllosen Purismus« des »ökonomischen Kalkulierens«, der die Seele zur Sache, das zirkulierende »Metallgeld« zur allgemeinen »Ware [ . . . ] und zur einzigen spinozistischen Weltsubstanz, somit auch zum unsichtbaren W e l t g o t t « , mache. In Tiecks >Fortunat< heißt es von dem reichen Kaufmann: Sein » A t e m klingt nach Münze, und man fühlt/Daß die Gedanken nur Silber sind«. U n d bei Karl Marx heißt es dann: »Das metallene Dasein des Geldes ist nur der offizielle Ausdruck der Geldseele, die in allen Gliedern und Bewegungen der bürgerlichen Gesellschaft steckt«. Zitate bei: Manfred Frank, Kaltes Herz. Unendliche Fahrt. N e u e Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne. Frankfurt a. M . 1 9 8 9 . S. 4 0 , S. 4 1 ( A n m . 4). 54
V g l . F B A 1 9 , S. 6 7 6 .
Il6
wird der Gedanke mitgeteilt: »der falsche Wehmüller sey wohl nur eine Strafe Gottes für den ächten Wehmüller, weil dieser alle Ungarn über einen Leisten male, so gäbe es jetzt auch mehrere Wehmüller über einen Leisten« (258). Der kroatische Edelmann behauptet, Wehmüller »könne sehr leicht ein Vampyr seyn, oder die lebende Leiche des ersten an der Pest verstorbenen Wehmüllers, der hier den Leuten das Blut aussaugen wolle« (263). Mit diesen Äußerungen rückt Brentano Wehmüllers Doppelgängerei in den Kontext des Doppelgängers Gottes. An dem Punkt der Erzählung aber, wo Wehmüller in seiner dämonischsten Metamorphose der im Wirtshaus versammelten Gesellschaft Angst und Schrecken einflößt, findet zugleich die Entmystifizierung statt. Und dies in Gestalt des Franzosen Devillier, zunächst aus der Perspektive der Ratio. Gegen das allgemeine Stimmengewirr, das ein Gemisch aus Aberglauben, Angst, »Gelächter und Geschrei des Verwunderns« (263) darstellt, setzt sich die Meinung und Absicht Devilliers durch, daß sowohl aus Gründen der »Gastfreiheit und Menschlichkeit« (263) als auch aufgrund der Tatsache, daß wegen fehlender Beweise hier von Teufeln noch nicht die Rede sein kann, Wehmüller in den Zirkel aufzunehmen sei. Spielerisch führt er den Aberglauben ad absurdum, indem er, gekleidet in Wehmüllers grauen Reisekittel und dessen Hut auf dem Kopf (266), das Publikum mit einem Wehmüller narrt. Der rationale Diskurs Devilliers relativiert das Phänomen »mehrere Wehmüller« mit der dahinter stehenden Weltsicht. Als traditioneller Gegenentwurf zu dem mythischen Diskurs, dessen Weltapperzeption eine Form des Erschrekkens und Verwunderns ist, erfüllt der rationale Diskurs im Zuge der hermeneutischen Relativierung eine konsequente Funktion, wird aber von Brentano selbst wieder in seiner Relativität deutlich gemacht. Devilliers eigene Erzählung von den Hexen auf dem Austerfelsen< enthüllt ihn als Anhänger eines kruden Rationalismus, der jedoch wenig später, durch Michalys Schwester Mitidika eines Besseren belehrt, von ihm selbst korrigiert wird. Darauf wird noch ausführlich einzugehen sein. Die bürgerliche und kapitalistische Ideologie, die Wehmüller nach Brentanos Figuration bereits in persona vertritt, ist überdies als Qualität einer metaphysisch-geschlossenen Formation durch die deistisch/mechanistische Vorstellung von der Welt als einem Uhrwerk gekennzeichnet. Solche Verbindung findet sich in säkularisierter Form auch in der zeitgenössischen Kritik gegenüber dem Staat und der bürgerlichen Ordnung. Schelling nennt die bürgerliche Gesellschaft eine Maschine, die auf gewisse Fälle zum voraus eingerichtet ist, und von selbst, d. h. völlig blindlings wirkt, sobald diese Fälle gegeben sind; und obgleich diese Maschine von Menschenhänden gebaut und eingerichtet ist, muß sie doch bald, sobald der
117
Künstler seine Hand davon abzieht, gleich der sichtbaren Natur ihren eigenen Gesetzen gemäß, und unabhängig, als ob sie durch sich selbst existirt, fortwirken. 55 W i e sich nach deistischer Vorstellung G o t t nach >Fertigstellung< der Schöpfung aus der W e l t zurückzieht und diese, aufgezogen wie ein Uhrwerk, weiterläuft, so funktioniert der Maschinen-Staat, nachdem seine Gesetze einmal festgelegt sind Schelling meint dezidiert den auf der Basis der Menschenrechte errichteten bürgerlichen Staat' 6 - , als perpetuum mobile. Die mythisch-metaphysische Qualität, mit der Brentano den Diskurs Wehmüllers und Schelling den Maschinen-Staat qualifizieren, ist negativ definiert ein in sich selbst geschlossener Automatismus. D a aus ihm die Idee der Freiheit - im theologisch/ästhetischen Zusammenhang formuliert, der Schöpfer und Künstler - gewichen ist, läuft er unaufhaltsam und unveränderlich fort, als ein Schreckgespenst, das wie sein A g e n t Wehmüller im Diffusionsraum von Dämonie und Täuschung steht. Z u fragen ist, warum Brentano gerade einen so defizitären Diskurs wie den W e h m ü l lers als Ausgangspunkt für den romantischen Entwurf einer offenen und freien Form von Geselligkeit wählt. Welchen Spannungsbogen resp. Entwicklungsgang beschreibt Brentano vom Auftritt Wehmüllers bis zur Schlußapotheose, in der eine in Liebe und Freiheit vereinte Gesellschaft paradigmatisch flir einen Staat steht, in dem - wie im >Godwi< utopisch entworfen - die Gesetze sich selbst aufgehoben haben? Der Maschinen-Staat, Ausdruck des totalitär gewordenen Gesetzes, ist den Romantikern »das gerade Gegenteil einer Sozietät, in welcher, wie Schelling sagt, »das Privatleben« und das »öffentliche« einander >organisch< durchdringen«. 5 7 Zwischen dem Gesetz, dem uniformen Allgemeinen, und dem individuellen Leben gibt es im Gegensatz zu organischen Gebilden keinen Austausch, keine gegenseitige Beförderung, Mitwirkung und wechselseitige Indienstnahme, in seinem Bereich gibt es vor allem keine von der Basis (dem Volk als Ganzem oder den einzelnen Personen) selbstgesetzten Zwecke. Der Staat als Maschine ist genaues Gegenbild zu den Selbstregulationsprozessen, die Brentano im Vertrauen auf das Leben, und, übertragen auf den gesellschaftlichen Verkehr, im geselligen U m g a n g voraussetzt und auf denen allein er seinen Entwurf freier und offener Gesellschaft gründet. »Das Ganze teilt sich [im Maschinen-Staat] wie in einem »Räderwerk« - den Teilen äußerlich mit, es reflektiert sich nicht in ihnen«.' 8 Diese politisch-gesellschaftliche Problematik reflektiert Brentano in Wehmüllers Kunst der Reproduktion des/der Uniformen, nach der das Individu-
55
Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. I/3, S. 548. Zitiert nach: Manfred Frank, Die Dichtung als »Neue Mythologie«. In: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Hrsg. von Karl Heinz Bohrer. Frankfurt a. M . 1983. S. 15—40. Hier: S. 25.
' 6 V g l . Frank 1983, S. 25. " F r a n k 1982, S. 181. 58Ebd.
Il8
V g l . Frank 1983, S. 25.
eile nur als Träger des Allgemeinen fungiert. Dagegen — in der Funktion, Sand im Getriebe zu sein, — stellt Brentano die Idee radikal gelebter Individualität, die, in Froschauers Gegen-Kunst angedeutet, in der Person Mitidikas zur ästhetischen Präsenz gelangt. Damit diese Idee über eine exklusiv-private Verwirklichung und ästhetisch autonome Inszenierung, das heißt über ein bloßes Gegenkonzept hinaus konstitutiv auf ein neues Allgemeines bezogen werden kann, bedarf es der Rückkopplung und Fundierung in der Vielfalt gesellschaftlicher Diskurse. 5 9 Mit Schelling formuliert, bedarf es dazu der Existenz einer »sittlichen Totalität, eines Volkes, das sich selbst wieder als Individuum constituirt hat«. 6 ° Brentano verleiht in unserer Erzählung dieser bei Schelling utopischen Vorstellung ein konkretes und anschauliches Fundament, indem er verschiedene gesellschaftliche Diskurse im Mit- und Gegeneinander über die Neu-Organisation ihres Zusammenseins entscheiden läßt. 6 ' Mit dem symbolischen Motivkomplex Wehmüller, der für das automatenhafte Funktionieren eines äußerlichen, durch Gesetze installierten Allgemeinen steht, überprüft und hinterfragt Brentano die in der zeitgenössisch bürgerlichen Gesellschaft gegebenen Voraussetzungen des Zusammenlebens und organisiert sie damit zugleich neu.
59
Auch Brentanos Vorstellung einer »poetischen Existenz« weist grundsätzlich über einen privaten, in den sozialen Enklaven der Ehe, Liebesbeziehung oder Freundschaft existierenden Bereich hinaus. Das wurde bereits im Zusammenhang der Liebeskonzeption im >Sänger< deutlich. Ein weiteres Beispiel sei hier genannt, in dem patriotische Gefühle und die allgemeine Trauer um den Tod Luisens von Preußen mit dem persönlichen Schmerz um den Tod Sophie Mereaus, Partnerin seiner »poetischen Existenz«, verbunden werden: die Variation von Goethes Lied des Harfners. (Werke I, S. 247ff. u. S. 1 0 9 2 ; F B A 17, 252ff. u. S. 558fr.). Frühwald sieht hier paradigmatisch die Verbindung von Individuellem und Allgemeinem, von Privatem und Öffentlichem — hinzuzufügen wäre: von Kunstwerk und Gesellschaft — in Brentanos Vorstellung der »poetischen Existenz« gegeben. Er fuhrt aus: »Dieser Pendelschlag vom Allgemeinen zum Individuellen, zurück zum Allgemeinen, ist eine poetische Bewegung im Werk Brentanos, zu der sich existentielle Parallelen aufdrängen. Die pendelnde Bewegung vom »Kunstwerk der Geselligkeit« zur intensiviert poetischen Existenz in der Liebesbewegung auf eine je einzelne Gestalt aus dem Kreise der Freundeskonstellation und die Rückordnung des intensiv erfaßten D u in den Zirkel des lebenden Kunstwerkes ist die genaue Entsprechung zu dieser in vielen Einzeltexten erkennbaren Sprachbewegung«. (Frühwald 1 9 7 7 , S. 83).
60 61
S c h e l l i n g , Sämmtliche Werke, B d . 1/6, S. 5 7 2 . Zitiert nach: Frank 1 9 8 3 , S. 20f. Der unbegrenzte Austausch von Diskursen ist in Habermas' Sozialtheorie Gegenpol zum System zweckrationalen Handelns, das »sich nicht notwendig mehr von Diskursen in Dienst genommen weiß, in welcher die vergesellschafteten Individuen in prinzipiell nicht begrenztem Miteinander über die Werte und Ziele dieses Handelns sowie über die Organisation ihres Zusammenlebens sich verständigt haben (Interaktion)«. Frank 1 9 8 2 , S. 1 8 2 . Manfred Frank zieht eine Parallele zwischen diesem modernen Konzept und dem Entwurf eines neuen Gemeinwesens im > Altesten Systemprogramm des deutschen IdealismusDas Picknick des Kater MoresGestiefeltem Kater< gesehen wird, dürfte von den philiströsen Sitten Kater Mores' nicht unbeeinflußt gewesen sein.
63
V g l . F B A 1 9 , S. 6 8 1 .
64
Von der Entromantisierung der Romantik durch den Tourismus, ihrer Trivialisierung
und
Sentimentalisierung, wurde auch eine der schönsten Gestalten Brentanos betroffen: die Lore-Ley. In Heinrich Heines Lore-Ley-Ballade von 1 8 2 4 steht das »Märchen aus alten Zeiten« bereits im K o n t e x t eines trivialen Tourismusprogramms. Mitte der 20er Jahre war die Rheingegend Tourismusattraktion. Der eminente Zulauf von Besuchern führte 1 8 2 7 zur G r ü n d u n g der Rheinischen Dampfschiffahrtsgesellschaft. Die Figur der schönen J u n g f r a u hat bei Heine ihre dämonisch-
120
Die Geschichte ist im Zuge der hermeneutischen Analyse und diskursiven Relativierung, die Brentano erzählerisch betreibt, zugleich Fortsetzung, Reflexion und Kritik des von Wehmüller repräsentierten Weltbildes. Sowohl das dämonische wie das kapitalistische Element kehren in der Geschichte des Kroaten wieder. Während sich beide Elemente in der Geschichte Wehmüllers zur Konsistenz eines mythischen Diskurses formierten und dieser Weltsicht damit ihre Geschlossenheit und Unangreifbarkeit - gleichsam ihren teuflischen Segen - verliehen, treten sie in der Geschichte des Kroaten auseinander. Die Deutlichkeit, mit der Brentano hier Mythisches als Verbrämung eines kruden Kapitalismus darstellt, löst die Struktur des Bösen von dem kapitalistischen Zweckrationalismus ab, so daß im Kalkül des Geldes die eigentliche Macht in der Gesellschaft sichtbar wird. Und noch eine zweite Dekonstruktion geht vonstatten. Indem der »Teufel« nun von dem philiströsen Agenten Kater Mores vertreten wird, degradiert Brentano diesen zur >komischen Karikatur/' 5 seiner selbst und zieht ins Lächerliche, was im Deutungsspielraum des Doppelgängermotivs bereits evident wurde, daß nämlich dort, wo Teufelsgeruch (resp. ein Wehmüller) auftritt, sich vor allem ein Philister ankündigt. In der Rede >Die Philister vor, in und nach der Geschichte< hat Brentano die Genese dieser Verwandtschaft so erläutert: als die Eigenheit selbst, nur sich selbst wollte und nach der Einheit nicht mehr fragte, entstand der erste Philister, oder die Idee des Philisters, Luzifer, der als B i l d , gebildet, eingebildet und ausgebildet, als geneintes N e i n , sich über das J a erheben wollte und zur Hölle niedergestürzt wurde.
Wie souverän und reflektiert Brentano mit den Diskursen seiner Zeit und selbst dem eigenen romantischen Diskurs umgeht, zeigt er in der Reaktion Lindpeindlers - ein »zartfühlender Dichter, der oft verkannt worden ist« (262) - , dem er auf die Geschichte vom Kater Mores hin ein Selbstzitat in den Mund legt. Nach dem Ende der Geschichte äußert Lindpeindler: »es möge an der Geschichte wahr seyn, was da wolle, so habe sie doch eine höhere poetische Wahrheit; sie sey in jedem Falle wahr, insofern sie den Charakter der Einsamkeit, Wildniß, und der türkischen Barbarei ausdrücke, sie sey durchaus für den Ort, auf welchem sie spiele, scharf bezeichnend und mythisch und darum doch wahrer, als irgend eine Lafontainesche Familiengeschichte« (274). Diese Kritik Lindpeindlers steht im hexenhaften Züge, ihre magisch-anziehende Qualität verloren. Ihre Gestalt ist reduziert auf schöne Fassade, ihre Erscheinung ist romantische Dekoration der Landschaft. Nur noch erinnernd — und dies auch nur in Form des Zitats — kann Heine den ursprünglichen Zauber hervorrufen. Heines Ballade ist reflektiert als ein Kunstwerk aus zweiter Hand: Reproduktion und Kopie einer romantischen Zauberballade. Vgl. Johann Jokl, Von der Unmöglichkeit romantischer Liebe. Heinrich Heines »Buch der Lieder«. Opladen 1 9 9 1 . S. i68ff. 65
In der Philister-Rede bezeichnet Brentano den Philister als »komische Karikatur-Silhouette des Teufels«. Werke II, S. 967. 66 Ebd., S. 971.
121
folgenden Bezugsrahmen. Das Märchen vom Kater Mores hatte Brentano in einer wesentlich kürzeren Fassung bereits in der 8 3 . Anmerkung zur >Gründung Prags< erzählt und es dort mit dem Satz beendet: »Dieses Mährchen hat einen eigenthümlich localen, einsamen, schauerlichen Charakter«. 67 Brentanos Selbstzitat ist ambivalent. Es reflektiert zum einen die Verfügbarkeit romantischer Topoi und ihren argumentativen Gebrauchswert, mittels dessen Lindpeindler hier analog zum Kroaten operiert. Zum anderen deutet Lindpeindlers Einschätzung auf die Problematik des romantischen Enthusiasmus. Des Dichters zartfiihlendes Gemüt, das im Preis romantischer Nächte sich ergeht (303) und im Idealischen sich heimisch fühlt, unterliegt ohne Gegengewicht des Wirklichen der Tauschung und Lüge. 6 8 In der >Gründung Prags< ordnet Brentano die »poetische Wahrheit« der Gattung Märchen zu. Indem Lindpeindler dieses Prädikat auf die Lügengeschichte des Kroaten überträgt, deren Wahrheitsstatus ihm völlig gleichgültig ist, stellt er Märchen und Lüge in einen Kausalzusammenhang und kehrt damit seine eigene romantisierende Argumentation um. Die Lindpeindlersche Entscheidung für die Priorität des ästhetisch-poetischen Scheins vor der Wirklichkeit und Wahrheit ist Reflexion der Blauäugigkeit einer unkritischen, Realitäten negierenden Romantik. Die Figur Lindpeindlers ist mehr als bloße Parodie des romantischen Dichters: 69 sie steht für Brentanos selbstkritische Relativierung des Romantischen im Kontext der diskursiven Vielfalt des Wirklichen.
2 . 3 . Aufklärung über die Aufklärung Devilliers analytische Kompetenz und rationale Argumentation, die er mit der bürgerlichen Verfassung und den »Rechte[n] der Menschheit« (263) moralisch fundiert, zeigen ihn als Aufklärer. Im Chaos der unterschiedlichen, aber einhellig gläubigen Reaktionen auf die Geschichte des Kroaten behält er, wie schon gegenüber Wehmüller, die Oberhand und das letzte Wort, indem er in ironischer 67
F B A 1 4 , S. 5 1 2 .
68
B e r e i t s im >Godwi< kritisiert Brentano in der Figur von Godwis Vater den enthusiastischen Schwung der Seele, der ohne Gegenwicht eines Zweckes, das heißt ohne Verknüpfung mit dem tätigen Leben bis zur Weltverneinung, zum »schwärmenden Spotte« führen kann. F B A
16,
S. 4 6 5 . Analog seiner K r i t i k an der Philosophie beschreibt Brentano den Enthusiasten als unfähig zu wirklicher B i n d u n g , Liebe und Freundschaft, da er die Idee über die Wirklichkeit stellt. G o d w i s Vater »liebte früh, und ward bewundert, nie geliebt; es konnte sich kein Wesen an ihn hängen, denn er sprach im A r m der Liebe vom Universum, w o er es hätte seyn sollen«. U n d : » E r war daher sehr unglücklich, denn er sehnte sich nach Liebe und Freundschaft, aber nicht nach Menschen«. E b d . , S. 4 6 4 . 69
A l s eine Selbstparodie Brentanos deutet David B . Dickens die Figur Lindpeindlers. David Β . D i k kens, Brentanos Erzählung » D i e mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter«: Ein Deutungsversuch. In: Germanic Review (58) 1 9 8 3 , S. 1 2 — 2 0 . Hier: S. 1 5 . V g l . F B A 1 9 , S. 6 8 3 .
122
Distanz seine Ungläubigkeit artikuliert (275). Im Kontrast zu dem kroatischen Edelmann, der eine ländlich-feudale Ordnung repräsentiert, stellt Brentano in der Figur Devilliers den rationalen und bürgerlichen Pragmatismus dar, so daß in beider Diskurs auch eine historisch-politische Abfolge angedeutet ist. Daß entsprechend mit dem Ende des Absolutismus durch Aufklärung und Französische Revolution nicht notwendig auch ein Fortschritt und konsequentes Umdenken gegeben ist, sondern feudales Lebensverhalten auch im gewandelten Kontext der Aufklärung bestehen bleibt, wenn dieses pragmatischen Interessen entgegenkommt, macht Brentano an Devillier deutlich. Der ehemalige Lieutnant war nämlich lange Zeit »von einer alten reichen Ungarin gefesselt, in Ungarn sitzen geblieben«, bis »seine Gönnerin starb« und ihm »ein kleines Gütchen« hinterließ, »auf welchem er lebte und sich bei seinen Nachbarn umher mit der Jagd und allerlei Liebeshändeln die Zeit vertrieb« (262). Es ist der Libertin des 18. Jahrhunderts, der in Gestalt des Aufklärers seine Fortsetzung findet und dessen Lebens- und Weltanschauung der des kroatischen Edelmanns in diesem Punkt doch sehr nahe kommt. Bis zu dem Moment, wo Devillier seine >Erzählung von den Hexen auf dem Austerfelsen< zum Besten gibt, ist der Diskurs des Aufklärers vergleichbar mit dem analytischen Verfahren, das Brentano erzählstrategisch verfolgt. An der Entlarvung des falschen Mythos und der Infragestellung und Relativierung der Diskurse ist der Verstand Devilliers entscheidend beteiligt. Welche Konsequenz aber die Dominanz einer Verstandeskultur hinsichtlich der Erfahrung und Deutung des Wirklichen hat, veranschaulicht Brentano in Devilliers eigener Erzählung. Des Franzosen >Erzählung von den Hexen auf dem Austerfelsen< ist die kürzeste unter den Binnengeschichten: ein Faktum, dem akzentuierte Bedeutung zukommt. 7 0 Während der Kroate für sein aufgesetzt poetisches Brimborium einigen Erzählraum beansprucht, verfahrt Devillier in der rationalen Analyse und Destruktion wunderbarer Phänomene, die auch hier durch Katzen repräsentiert sind, reduktiv und lakonisch. Quantitative Reduzierung des Erzählraums und qualitative Reduktion bilden in seiner Geschichte einen Begründungszusammenhang. Die Handlung ist kurz zusammengefaßt. Devilliers Vorgesetzter, lüstern nach einem luxuriösen Mahl, schickt den Lieutnant zu einem Austernfelsen, auf dem scheinbar wunderliche Dinge geschehen. Eine wehklagende »Unzahl von Katzen« (278) hält den Felsen besetzt, und man vermutet eine »Hexengesellschaft«. 70
Brentanos signifikanter U m g a n g mit dem Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Z e i t , und dem von äußerlich beanspruchtem Erzählraum und erzähltem R a u m kann eingehend an der b e s c h i c h te vom braven Kasperl und dem schönen Annerl< studiert werden. V g l . Richard A l e w y n , Brentanos »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl«. In: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a. M . 1 9 7 4 . S. 1 3 3 — 1 9 7 .
123
Schnell aber klärt es sich auf: die Katzen, leidenschaftliche Austernfreunde, sind mit Schwanz oder Pfote in die Austern eingeklemmt, »wo sie sich dann so lange mit Wehklagen unterhielten, bis die Austern, von der Fluth überschwemmt sich wieder öffneten und ihre Gefangenen entließen« (280). U m den Zauber zu bannen und den eigenen Magen zu füllen, werden sämtliche Katzen von den Soldaten erlegt. Devilliers Erzählung ist Entmythisierung und Säkularisierung. Nach dem Tod von Hunderten von Katzen ist die Beunruhigung durch das Wunderbare, für das bisher der Teufel oder sein poetischer Stellvertreter, die Katze, eingetreten sind, völlig aus der Welt geschafft. Auf die Geschichte Devilliers folgt denn auch keine Reaktion von Seiten der Gesellschaft mehr. Hier gibt es nichts mehr zu diskutieren, ist über nichts mehr zu streiten. Als konsequente Folge der analytischen Entmythisierung der Welt ist das eingetreten, was Novalis unter den Begriff Aufklärung faßt: Die Mitglieder [der Aufklärung; Β . K . ] waren rastlos beschäftigt, die Natur, den Erdboden, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, - jede Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhebende Vorfälle und Menschen durch Sarkasmen zu verleiden, und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. 7 1
Da aber das Bedürfnis nach Wunderbarem und Wundern — und sei es nur ein >bunter Schmuck< - einen wohl unstillbaren Drang im Menschen darstellt, muß schnell ein neuer Stoff her: die Gesellschaft kam - »nachdem die Aufklärung [ . . . ] die Erzählung des Kroaten in ihrer Schauerlichkeit sehr gemildert hatte« — nun »auf allerlei Jagdgespenster zu sprechen« (280). Und »bald waren alle Stimmen vereint, den Feuerwerker einzuladen« (280), seine Geschichte vom wilden Jäger zum besten zu geben. Die Sehnsucht nach dem Wunderbaren, nach der Erfahrung von Wundern, die die sonst so heterogene und zerstrittene Gruppe hier einstimmig artikuliert, hat Brentano als religiöses resp. anthropologisches Grundbedürfnis des Menschen gegenüber seiner Schwester Gunda beschrieben: A n Wundern hängt der Mensch, nach Wundern sehnt er sich und selbst der nüchternste hohlste hungert nach Wundern in Künsten und Wissenschaften, alle verlangen etwas anderes als das Tagliche, Gewöhnliche, alle fühlen sich gefallen, gefangen, sie wollen einen Strahl, ein Zeichen aus einer andern Welt, einem andern Gesetz, ja alle Begierde, alles Bedürfnis begehrt und bedarf und wird nur durch eine Gnade, ein Wunder befriedigt, wer wollte eine Befriedigung anders erklären? Der Verstand aber empfängt nicht, er zerlegt, vergleicht, wirft zurück, ordnet, erklärt, [ . . , ] . 7 2
Gerade dadurch, daß Devilliers Verstand dem Wunderbaren den Garaus gemacht hat, wird nun der Gegenpol aufgerufen. Eine Dialektik, die, wie Horckheimer/ 71
Novalis, Die Christenheit oder Europa. In: Schriften III, S. 5 1 6 .
72
Brief vom J u l i bis 24. Oktober 1 8 1 9 . U L , S. 5 0 1 .
124
Adorno analysierten, in der Aufklärung selbst beschlossen liegt. Z u welcher Problematik dieses durch die entmythologisierende Aufklärung herausgeforderte Bedürfnis fuhren kann, zeigt Brentano in der Erzählung Baciochis. Dort vertritt eine theatralisch inszenierte Kunstveranstaltung die Stelle des Wunderbaren. Auf dem Hintergrund kruder Rationalität und entzauberter Welt bei gleichzeitigem Bedürfnis nach einem »Zeichen aus einer andern Welt« tritt die Kunst als täuschendes Surrogat fur den Verlust der Erfahrung des Wunders im Wirklichen ein.
2.4. Der Scheincharakter von Kunst und Politik Des Feuerwerkers Baciochis >Erzählung vom wilden Jäger< unterscheidet sich von den anderen Geschichten durch »einen eigenthümlichen theatralischen Charakter« (280) und wird von ihm auch so in Szene gesetzt. Die Gesellschaft rückt wie vor einer Bühne zusammen und Baciochi »schlug mit der Faust so unerwartet heftig auf den Tisch, daß die Lichter verlöschten, und alle laut aufschrieen« (280). Die Guckkastensituation und die damit verbundene Illusion unmittelbarer Teilnahme verspricht den Zuschauern resp. Zuhörern ein ästhetisches Vergnügen, das ihrem Bedürfnis nach Wunderbarem Genüge tun soll. Die Erzählung ist zweigeteilt. Bevor Baciochi auf das »Waldgespenst« (296) zu sprechen kommt, erzählt er zunächst von dem Krönungstag Napoleons, zu dem er ein großes Feuerwerk in Venedig inszenierte, das seinen Abschluß in einer unfreiwilligen Allegorie auf den Niedergang der napoleonischen Macht 73 fand. Von »hunderttausend Schwärmern und Racketen umzischt« leuchtete »Napoleon Bonapartes Namenszug« »kaum eine Viertelstunde« am Himmel, bis das Feuerwerk »ein wenig zu frösteln anfing« und in einen »kunstlosen Scheunenbrand«, den man zunächst für einen Höhepunkt und »Triumph« des ganzen Schauspiels einschätzte, überging (281). Daß mit dem »[Fjrösteln« des Feuerwerks und dem unfreiwilligen Scheunenbrand auf den Winterrückzug Napoleons und den Brand von Moskau, mit dem das Schicksal der französischen Armee besiegelt war, angespielt wird, scheint offensichtlich. Die Feuerwerkskunst selbst steht in einem doppelten Bezug. Bereits in >Bogs, der Uhrmacher< charakterisiert Brentano Feuerwerk und Illumination als Werk für des »Teufels Namens- und Geburtstag« und als einen Ausdruck »weltlicher Lust und sündlichen Träumen«, 7 4 die hier mit dem Machtanspruch des französischen Imperators kontaminiert sind. Die Identifizierung Napoleons mit dem Teufel und Antichristen wiederum ist ein Topos in roman73 74
Vgl. Schaub 1984, S. 447. Werke II, S. 8 8 1 . Im Märchen von >Liebseelchen< entschwindet die frän2Ösische Hexe Marquise de Pimpernelle, die »rot und weiß und blau wie eine französische Nationalkokarde« geschminkt ist, in einem Feuerwerk, das »Pech- und Schwefelgeruch« hinterläßt. Werke III, S. 299 u. S. 3 0 1 .
125
tisch konservativen Kreisen, 75 den Brentano übernimmt und noch im Spätwerk mit einer Kritik am Staat der Aufklärung und Revolution verbindet. 76 In der Feuerwerkskunst ist die Staatsform, auf der Napoleons Herrschaft fußt, reflektiert, beruht diese doch auf einem ausgeklügelten Mechanismus, in dem der Maschinen-Staat, wie Brentano ihn bereits im Diskurs Wehmüllers kritisierte, und der effektvolle Schein, mit dem Wehmüller wie der Kroate ausgestattet waren, eine symbolische Verbindung eingehen. In der Abfolge der verschiedenen Diskurse bildet deshalb der Diskurs des Feuerwerkers einen kumulativen Höhe-, Schluß- und Wendepunkt. In dem Moment nämlich, wo Kunst und Macht in der Person des mystifizierten französischen Kaisers 77 sich verbinden, die Kunst mit ihrer Möglichkeit zur Glorifizierung und Inszenierung der Macht scheinhafte Legitimation gewährt, kippt Brentano das Ganze um. Einmal mehr wird das ideologie- und machtkritische Potential der Erzählung von den >Mehreren Wehmüllern< deutlich, das in bisherigen Interpretationen völlig unbemerkt blieb. Ein Grund dafür mag vor allem darin liegen, daß zum großen Teil die Kunsthematik im Brentanoschen Werk hypostasiert, das heißt unabhängig von ihrer Verschränkung mit politischen, sozialen und historischen Problemstellungen behandelt wird. So nur ist zu verstehen, daß selbst ein ausgewiesener Brentano-Kenner wie Wolfgang Frühwald in Baciochis theatralischer Kunst eine Vereinigung von Irrationalem und Rationalem zu sehen vermag, in der »das Paradies der Harmonie«, »die verlorene Einheit des Seins wiedergefunden« wird. 7 8 Das politisch-ästhetische Desaster des Feuerwerks kann als poetische Realisation dessen gelesen werden, was Novalis in der Rede >Die Christenheit oder Europa< in der prekären Verbindung von Aufklärung und Kunst angelegt sah: »So verschrien die Poesie in dieser neuen Kirche [d. i. die Aufklärung; Β. K.] war, so gab es doch einige Poeten darunter, die des Effekts wegen, noch des alten Schmucks und der alten Lichter sich bedienten, aber dabei in Gefahr kamen, das neue Weltsystem mit altem Feuer zu entzünden«. 7 9 Mit dem unfreiwilligen Schauspiel entzündet die Kunst nicht nur das »neue Weltsystem mit altem Feuer«, sondern vernichtet sich gleichsam durch sich selbst. Ein Wendepunkt ist markiert, von dem aus eine Gegenrichtung eingeschlagen wird, die Brentano 75
V g l . Paul Michael Lützeler, Napoleon-Legenden von Hölderlin bis Chateaubriand ( 1 7 9 8 — 1 8 4 8 ) . In: Geschichte in der Literatur. Studien zu Werken von Lessing bis Hebbel. München, Zürich 1 9 8 7 . S. 2 6 4 — 299.
76 77
S. auch K a p . IV. 9. M i t dem N a m e n des Feuerwerkers, der auf Napoleons Schwager Felix Bacciochi anspielt, g i b t Brentano einen weiteren Hinweis auf die verwandtschaftliche Verbindung, die hier K u n s t und Macht eingehen. V g l . F B A 1 9 , S. 676.
78
W o l f g a n g Frühwald, D i e mehreren Wehmülier und ungarischen Nationalgesichter. In: Kindlers Literatur Lexikon i m d t v . 25 Bde. München 1 9 7 4 . B d . 1 4 , Sp. 6 1 4 9 .
79
Novalis, Schriften III, S. 5 1 6 .
126
zunächst in einem kulturellen Kontrast zum Ausdruck bringt. Baciochi, durch sein künstlerisches Mißgeschick eines »halben Daumens« (281) beraubt, flüchtet samt Frau und Gehilfen aus der städtischen Kultur Venedigs in eine wilde, unwegsame Bergwelt, die ihm nicht nur zum Versteck, sondern vor allem auch zur Rekreation seiner beschädigten künstlerischen Existenz — dies, wie gezeigt werden wird, stellvertretend für die Kunst insgesamt — dienen soll. Aus Wachs hat sein Weib während des Weges »die Figur eines Daumens geknetet, und hängte dieselbe, nebst einem Rosenkranz [. . .] dem kleinen Jesulein auf dem Schooße der Mutter Gottes in der Kapelle als ein Opfer an das Händchen« (282), auf daß der Daumen heilen möge. Ein katholischer Brauch, der aber im Zusammenhang der Kunstthematik auch den Isis-und-Osiris-Mythos assoziiert, wonach Isis dem Gatten aus Wachs sein schöpferisches Prinzip zu ersetzen hofft. Im Kontext meiner Interpretation des >Myrtenfräuleins< habe ich Brentanos Deutung dieses Mythos ausführlich dargelegt. 80 Die Grenzüberschreitung von der Zivilisation in eine Wildnis, die Brentano mit dem Motiv der Rekreation und Regeneration in Verbindung setzt, folgt der Dialektik von Kultur und Natur, wie sie Hans Peter Duerr in >Traumzeit. Uber die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation^ 1 eindrücklich beschrieben hat. In der Wildnis, Ort des Ausstiegs, des anderen zur Kultur, sind nach Duerr Nachtschwärmer, Hexen, Werwölfe - eine Geisterfamilie, zu der der wilde Jäger ohne weiteres zugehörig scheint - Agenten einer Erneuerung. 82 Die Wildnis ist ein »Ort zwischen den Zeiten«, wo die »Normalität außer Kraft gesetzt« ist, »Ordnung und Chaos« aufhören, »Gegensätze zu sein«. 83 Kulturelle und soziale Differenzen werden hinfällig, weil die Menschen »außerhalb der Zeit ihre normalen, ihre Alltagsaspekte verlieren und zu jenseitigen Wesen werden, sei es nun, daß sie ihre sozialen Rollen umkehren; sei es, daß sie leiblich durch die Landschaft schwärmen«. 84 Die Umkehrung der sozial-kulturellen Rolle wird an Devillier deutlich, denn es ist niemand anderes als der Aufklärer, den Brentano im Raum der Wildnis in der Maske des wilden Jäger auftreten läßt. Der jenseitige AspektKater Mores< zu Ende gebracht hat. Michaly provoziert mit dem unvermittelten Einfall, der Gesellschaft statt einer erfundenen eine wirkliche Katze zu präsentieren, einen großen Tumult: denn Nanny kam einer Ohnmacht nah, die Katze sprang auf den Tisch, warf das Licht um, und fuhr dem armen Wehmüller über seine nassen Farben; [. . . ] Alles war rebellisch geworden; die Büffelkühe im Hintergrund der Stube rissen an den Ketten, und Jeder drängte nach der Thüre. Wehmüller und Lindpeindler sprangen auf den Tisch und stießen mit dem Tiroler zusammen, der es auch in dem selben Augenblick that, und mit seinen nägelbeschlagenen Schuhen mehr Knopflöcher in das Portrait des Vizegespanns trat, als Knöpfe darauf waren. ( 2 7 5 ^ ) Usf.
Die Gesellschaft ist nahe der Auflösung. »Jeder drängte nach der Thüre«, sucht sich, wie schon nach der Konfrontation mit Wehmüller und Michalys darauffolgendem »Schariwari«, über den begrenzten Raum der Stube hinaus im Freien und Unbegrenzten Bewegungsraum zu verschaffen. Michalys Einfall erfüllt die Funktion des Witzes, und dies zunächst in einem trivialen Sinne. Nach einer Definition Friedrich Schlegels ist der Witz trivial, wenn er als Affekt im gesellschaftli90 9
Heine, Sämtliche Schriften, B d . 5 , S. 4 4 8 .
' D i e Worte stammen aus einem Gedicht aus der Wiener Z e i t >Ich weiß es wohl, du hast um mich geweintTheodor Körner an Viktoria< überschrieb und das in Verschränkung mit der Thematik des Dichterlebens das »vornehmste Z i e l der Freiheitskriege, die nationale Einheit« artikuliere, die »von der politischen Restauration als eine Idee der Revolution unterdrückt wurde«. Werke I, S. 2 8 8 . V g l . Frühwald 1 9 7 7 , S. I 0 9 f .
131
chen Zusammenhang 92 erscheint und »Rache« oder »Sinnenkitzel« zu seiner Voraussetzung hat. 9 3 Beide Motive lassen sich mit Michalys Einfall vermitteln. Die wirkliche Katze dient dem Zigeuner als ein Werkzeug der »Rache«, indem er dadurch dem Kroaten die Lügengeschichte vom Kater Mores heimzahlt. »Sinnenkitzel« entsteht dadurch, daß Michaly der Kammerjungfer Nanny - auch sonst Adressatin erotischer Anzüglichkeiten - die Katze wie den leibhaftigen Teufel in den Schoß setzt (275). Z u den trivialen Aspekten aber tritt eine zweite Funktion des Witzes hinzu, welche den auf der Erzählebene breit ausgeführten Tumult als Resultat einer geistig vermittelnden Dynamik bezeugt. Die romantische Witztheorie, wie sie von Friedrich Schlegel exemplarisch formuliert wurde, enthält — das hat Gerhard Neumann in seinen Studien zu Schlegels Aphorismen über den Witz angedeutet 94 - eine Theorie der Geselligkeit wie eine Theorie der ars combinatoria, wobei beide aufeinander bezogen sind. Mit dem Witz, nach Schlegel der »unbedingt gesellig[e] Geist«, 9 5 ist eine »Denkform des Kombinatorischen« verknüpft, »die alles mit allem in Verbindung bringt, das Einzelne auf das Ganze hin erweitert, das Ganze zum Einzelnen hin verengt«. 96 Als »prophetisches Vermögen« 97 vermittelt der Witz das Aktuelle mit dem Utopischen, 98 das heißt, er transzendiert zugleich eine gegebene Gesellschaft auf eine Gesellschaftsform, in der »Einheit in Vielheit, und Vielheit in der Einheit« 99 sich finden. Die geistige Medialität des Witzes faßt Friedrich Schlegel in den Aphorismus: »Witz ist eine Explosion von gebundenem Geist«. 1 0 0 Die Explosionsmetapher bildet dabei — so Neumann —, »sehr genau den Vorgang plötzlichen Begreifens, die allseitige Entbindung von Verstehensenergie ab, die, von einem prägnanten Punkt ausgehend, alles Umliegende umgreift und sich blitzartig weitervermittelt«. 1 0 1 Dafür, daß Michalys Interventionen innerhalb der geselligen Runde in diesem geistigen Sinne als explosiv verstanden werden wollen, liefert die Gesamtcharakteristik der Figur des Zigeuners den Hintergrund. Es ist offensichtlich, daß Brentano diesem genialischen (Lebens-)Künstler eine höhere Funktion zu93
V g l . Neumann 1 9 7 6 , S . 4 5 6 .
93
» W i t z als Werkzeug der Rache ist so schändlich, wie K u n s t als Mittel des Sinnenkitzels«. Lyzeums-Fragment 5 1 . Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe,
Bd. II, S. 1 5 3 . V g l .
Neumann
Bd. II, S. 1 4 8 . V g l .
Neumann
1 9 7 6 , S. 4 5 6 . 94
N e u m a n n 1 9 7 6 , S. 4 5 6 — 4 6 8 .
95
Lyzeums-Fragment
9. Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe,
1976, S.459. 96
Neumann 1 9 7 6 , S. 4 6 0 .
97
Lyzeums-Fragment 1 2 6 . Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II, S. 1 6 3 . V g l . N e u m a n n
98
V g l . N e u m a n n 1 9 7 6 , S. 4 5 8 .
1 9 7 6 , S. 4 5 8 . "Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. X I I , S. 46. V g l . N e u m a n n 1 9 7 6 , S. 4 9 5 . 100
Lyzeums-Fragment 90. Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 1 9 7 6 , S. 4 6 2 .
101
Neumann 1 9 7 6 , S. 4 6 2 .
132
Bd. II, S. 1 5 8 . V g l .
Neumann
schreibt, als jene »Büffelkühe« in eine momentane Aufruhr zu versetzen. In Michalys witzigen Einfallen öffnet sich ein höherer Kommunikationsraum, in dem die Begegnung von Heterogenem und Widersprüchlichem möglich wird. In dem von ihm ausgelösten Tumult und Chaos lösen sich starre Meinungen und werden Konstellationen aufgehoben, durch die das Personal in den >Wehmüllern< zunächst untereinander geschieden ist. Konkret: indem alles übereinander purzelt, wird die Gruppe gemischt, in eine lebendige Bewegung versetzt, wird eine qualitative Veränderung ihrer Beziehungen untereinander bewirkt und sie zu einer höheren Form des geselligen Beisammenseins bestimmt. Die Relativierung von Diskursen und Positionen um eines höheren Zusammenspiels willen, die ich in Kapitel III.2. als gesellschaftlich-hermeneutische Funktion der Phantasie beschrieben habe, konzentriert Brentano in Michalys spontanen Aktionen. Das heißt: was im Erzählen sukzessiv aufgelöst und aufeinander durchlässig wird, ist in der Kunst und dem Witz Michalys gleichsam in actu präsent. Friedrich Schlegel charakterisiert die geistige Erkenntnis- und Vermittlungsfunktion des Witzes durch dieses momentane Zugleich. Dem Witz eignet eine Bezüge stiftende und Verbindungen lösende, eine »zugleich synthetische und analytische K r a f t « . 1 0 2 Wir wissen aus verschiedenen Zeugnissen, daß Brentano ein höchst begabter und erfolgreicher Gesellschafter war. In einem Brief vom Dezember 1 8 1 6 an Luise Hensel rekapituliert Brentano diese Begabung und erläutert, was es heißt, etwas »mit dem sogenannten Witz« zu ergreifen. 1 0 3 Diese Rekapitulation, die für Brentanos Auseinandersetzung mit der romantischen Witztheorie ein aufschlußreiches Dokument darstellt, steht jedoch unter dem Vorzeichen einer religiösen »Wende«, unter deren Perspektive das witzige Vermögen als fragiles, nicht mehr tragfähiges Instrumentarium hinsichtlich der Stiftung höherer Beziehungen kritisiert wird. Die Definition dessen, was Witz in einem positiven Sinne bedeutet und wie ihn Brentano unter künstlerisch-selbstbewußtem Vorzeichen verstanden hat, aber kann unbeschadet von dieser kritischen Haltung eruiert werden. Brentano schreibt Luise von der »witzigen« Beurteilung dessen, was ist: Alles ergreift mich, und ich tue oft D i n g e m i t großer Lebhaftigkeit, welche ich, während der scheinbar lebendigsten Beschäftigung m i t ihnen, mit einer zweiten, tiefer liegenden Seele in ihrer ganzen N i c h t i g k e i t nach dem allgemeinen Wert der weltlichen D i n g e beurteile und erkenne. 1 0 4
Die hermeneutisch-analytische Fähigkeit des Witzes, der aus einer »tiefer liegenden Seele« das Weltliche hinterfragt und interpretiert und der nach außen eine lebendige, ja gesellige Wirkung hat, nennt Brentano auch »Doppeltätigkeit« 1 0 5 " " Neumann 1976, S. 453. I03 Seebaß II, S. 182. 104 Ebd., S. 181. 105 Ebd., S. 183.
133
und »bizarre Manier«. 1 0 6 Gerade dann, wie es weiter heißt, wenn er »sehr lebendig« 107 wirkt, »als witzig[er] und guter Gesellschafter« erscheint, ist es oft so, als ob ihm »innerlich das Herz brechen möchte, aus Verachtung gegen die Interessen der Z e i t « . 1 0 8 Die wesentlichen Komponenten der romantischen Witztheorie, bei Friedrich Schlegel exemplarisch formuliert, sind hier ex negativo angesprochen: die analytische Auflösung und Hinterfragung gegebener Verhältnisse, die lebendig, das heißt verändernd nach außen wirkt und einen geselligen Effekt macht. Problematisch wird Brentano das Erkenntnisvermögen des Witzes, wenn die Analyse und analytische Fähigkeit keinen Gegenhalt mehr in der Synthese und im Zusammenspiel mit anderen Erkenntniskräften (als Bestandteile des Witzes nennt Brentano: »Gefühl, Klugheit, Scharfsinn, Begeisterung, Teilnahme«) 109 finden, wenn, so Brentano, »der Witz das bißchen Architektur, das ich verstehe«, 1 , 0 zu keiner Vermittlung des analytisch Vereinzelten mit einem neuen Ganzen mehr fuhrt. Auch Schlegel spricht von einem »architektonischen« 1 1 1 Vermögen des Witzes, das in der Vermittlung des Systemlosen und Heterogenen mit dem Systematischen und der Ordnung besteht, wo aber immer die Freiheit des einzelnen bewahrt bleibt. Der Witz, so Schlegel, »muß ordentlich systematisch sein, und doch auch wieder nicht; bei aller Vollständigkeit muß dennoch etwas zu fehlen scheinen, wie abgerissen«. 1 1 2 Mit der Synthesefähigkeit des Witzes, das heißt mit der Möglichkeit, aus dem analytisch Vereinzelten ein neues Allgemeines zu begründen, steht und fallt für Brentano die Poesie als Medium lebendigen Ausdrucks. Gelingt dies nicht mehr, und bei Brentano steht dies immer im Zusammenhang seines brüchigen Welt- und Selbstvertrauens, greift er zur religiösen Einheitsperspektive, in der das Viele und Heterogene aufgehoben werden. An Luise schreibt er resigniert und hoffnungsvoll zugleich, der Witz wendet sich dann »zudem, der allein helfen kann, [. . .] zum H e r r n « . 1 1 3 Anders in den >WehmüllernSchulmeister Klopfstock< ist die Figur Trilltralls, der so schmutzig, »wie die Erde so schwarz« ist, daß man auf ihm »ackern und säen« könnte, der »so zottig wie ein Zeiselbär« ist und dabei spricht »wie Honig so süß«, beispielhaft für Brentanos Adaption der grotesk-allegorischen Struktur von häßlicher Hülle und schönem Kern. (Werke III, S. 443 u. S. 449). Trilltrall ist wie Micidika Repräsentant einer Gegen-Kultur. Sein unschönes Außeres ist Hülle einer inneren Schönheit, die in seinem im »tiefen, tiefen W a l d « (ebd., S. 444) geführten Einsiedlerdasein, in dem sich Religiosität und ein unmittelbares Verhältnis zur Natur paaren, zum Ausdruck kommt. Heinz Rölleke hat die Figur Trilltralls als allegorische Personifikation einer unbürgerlichen Gegen-Kultur, das heißt naturpoetischen Existenzform gedeutet, die Brentano in Kontrast zu »der unfrommen Aufklärung« stellt, in der er und »seine romantischen Zeitgenossen den Tod der wahren Poesie« sahen. (Heinz Rölleke, Brentanos Märchen von dem Schulmeister Klopfstock als literarhistorische Allegorie. In: Jb. des Freien Deutschen Hochstifts 1977, S. 292 — 308. Hier: S. 305). Im romantischen Kontext gibt E . T . A . Hoffmanns Märchen vom >Nußknacker und Mausekönig< (1816) ein anschauliches Beispiel für die lebendige Tradition der grotesk-allegorischen Kombination von häßlicher Hülle und schönem Kern. Der Nußknacker, der »nicht eben zum besten gewachsen« und dessen »Gesicht nicht eben schön zu nennen ist«, der schlicht sich durch »sotane Häßlichkeit« auszeichnet, birgt in sich einen »Schönheitskern«, den zu erkennen und bloßzulegen allein dem kindlichen Glauben und der Liebe Maries gegeben ist. Das Leitmotiv des Nüsse-knackens, durch das der »süße Kern« von der harten Hülle befreit wird, entwickelt Hoffmann dabei komplementär zu Maries Erkenntnis des Schönen im Häßlichen als hermeneutische Lektüreanleitung, mittels welcher ein hinter der Oberfläche des Textes verborgener Sinn >geknackt< werden soll. ( E . T . A . Hoffmann, Poetische Werke, Bd. III, S. 2 7 5 , S. 288,
141
äußere Effekte sich verstehenden Feuerwerkers Baciochi die hermeneutischen Schwierigkeiten einer solch verborgenen Schönheit reflektiert, zeigt die Poetologik, mit der hier das Thema einer verborgenen Schönheit behandelt wird. Mit der Tugend verknüpft Brentano aber auch eine religiöse bzw. mystisch-spirituelle Dimension. Rabelais deutet diese in den Begriffen »tiefbedeutsame Geheimnisse und schaudervolle Mysterien« an, die als subversives Potential hinter der Oberfläche des Textes verborgen sind; 1 2 9 Brentano offeriert sie spielerisch, und zwar in der Schwarz-Weiß-Metaphorik, die als eine Variation der allegorischen Verweisstruktur von unscheinbarem Äußeren und schönem Inhalt zu verstehen ist. Martino und Mitidika benutzen die Schwarz-Weiß-Metaphorik zweimal zu einem kleinen Flirt (285; 293). Martino hänselt Mitidika mit ihrem Äußeren. Er nennt sie bei der Begrüßung »Brauner Schatz« (285), später dann die Schwarze (293), kann dabei aber nicht seine starke Affektion durch ihre Gesamterscheinung verbergen. Auch in der Beschreibung von Mitidikas Aussehen setzt Brentano in auffälliger Weise die Schwarz-Weiß-Metaphorik ein. Sie wird zunächst als »schwarzbraunes Mägdlein« (284), als »nußbraune Jungfer« (285), als »kleine Braune« (285) bezeichnet. Ihr »reizendes und wildes Ansehen« erhält Mitidika aber durch den Kontrast, den ein »Strom von schwarzen Haaren« mit ihren »weißen Augäpfel[n] und d[en] blanken Zähnefn]« (295) bildet. Wenn der Erzähler ihr dann noch »eine Handvoll weißes Zuckerwerk in das Mäulchen« stecken läßt, so tut er dies, um den »schönen dunkeln Grund« (295) noch deutlicher hervorzuheben. Der Anspielungshorizont ist hier kein geringerer als die dunkle Farbe Sulamiths im >Hohen Liedc die Beschreibung der Braut als S. 258). Die hermeneutische Metaphorik aus dem Bereich des Eßbaren — bei Hoffmann die Nuß — im Zusammenhang der Allegorie als Textform und der hermeneutischen Allegorese als Rezeptionsform, ist u. a. auch bei Rabelais belegt. In >Gargantua und Pantagruel< wird ein Hund, »das philosophischste Viehzeug auf Gottes weiter Welt«, der »einen Markknochen aufgestöbert hat«, diesen »belauert«, »darein beißt« und ihn »aussaugt«, zum Vorbild des Lesers: »Behende müßt ihr sein im Pirschen und kühn im Zustoßen. Dann knackt vermittels eifrigen Lesens und häufigen Kopfzerbrechens den Knochen auf und saugt das nahrhafte Mark aus [ . . . ] « . (Rabelais, Gargantua und Pantagruel, S. n ) . In diesem Zusammenhang erklärt sich m. E. auch die zunächst recht merkwürdige Antwort Ph. O. Runges auf Brentanos Bitte, er möge durch Randzeichnungen zu den >Rümanzen vom Rosenkranz< seine »Empfindung« bei der Lektüre »allegorisiren«. Runge schreibt: »Ihre Gedichte kann ich nun nicht so eben lesen und beriechen, ich muß sie gleich eßen und aussaugen, wenn ich sie auch zu den meinigen machen soll«. (Brentano-Runge, S. 18 u. S. 37). 129
Rabelais bezieht sich dabei auf Piatons >SymposionHohen Liedes< und der >Hohen-LiedLilia sub tilia< auf, einem kryptischen Geburtstagsgeschenk für Emilie Linder, und gestaltet ihn zu einer Allegorie des Glaubens. Er schreibt: Der Glaube pflegt zu erscheinen als eine Jungfrau mit dunklem, oder verhülltem Angesicht, denn wir sehen nur durch den Spiegel in einem dunklen Wort, einst aber von Angesicht zu Angesicht und selig die nicht gesehen und geglaubt haben und ich bin schwarz, aber gar lieblich; [ . . . ] . 1 3 7
150
V g l . Brandscetter 1 9 8 3 , S .
131
Brentanos stereotype B e z e i c h n u n g f ü r E m i l i e Linder als »schwarzlaubige L i n d e « k o n t a m i n i e r t m .
133
V g l . Brandscetter 1 9 8 3 , S. 2 2 9 Γ
133
V g l . Brandstetter 1 9 8 6 , S. i 8 o f f .
22c>f.
E . den L i e b e s b a u m m i t der d u n k l e n Farbe der B r a u t des >Hohen LiedesMehreren Wehmüllern< einführt, äußert sich im Gesamtverlauf der Erzählung als subversives Potential, das am Ende in der Engführung von Binnen- und Rahmenerzählung erzählstrukturell reflektiert wird und in Form einer Erlösung und Heiligung des Lebens auf der Erzählebene zur Anschauung kommt. Die Erlösungsfunktion, die Mitidika erfüllt, impliziert konkrete poltitische und gesellschaftliche Veränderungen. Zusammen mit einer Gruppe von Bauern und Zigeunern (307), das heißt nach der gegebenen Gesellschaftsordnung von unten - gleichsam basisdemokratisch - durchbricht sie die von der Obrigkeit - von oben - verhängte Blockade und führt zusammen, was bislang getrennt war. Es ist die Synthese der Liebe selbst, die, nachdem der analysierende Witz des Bruders die verschiedenen Diskurse aufeinander vorbereitend öffnete und mit orphischem Geist die Ahnung einer Ordnung der Liebe und freien Geselligkeit erweckte, hier zum Ausdruck kommt. Oder anders formuliert: es ist das >andere Gesetzihr< ist der Grund der Schönheit der Bewegung enthalten. 147 Im Schlußtableau der Erzählung läßt Brentano sein »schöne[s], unschuldige[s] und geistvolle[s] wilde[s] Naturkind« (299) noch einmal seine tänzerische Verwandlungskunst vorführen: nach dem Abendessen mußte die schöne Mitidika all ihren Schmuck, den sie einst von Devillier empfing, anlegen, [...]. So geschmückt trat das braune Mädchen wie eine Zauberin vor die Gesellschaft; der Tiroler breitete seine Teppiche aus, und das reizende Geschöpf tanzte, schlug das Tambourin und sang - wozu Michaly sie begleitete — so ganz wunderbar hinreißend, daß Alles vor Erstaunen versteinert war. Sie Schloß ihren Tanz damit, daß sie den Teppich plötzlich erfaßte, sich schnell in ihn einpuppte und an die Erde niederstreckte, wie damals in der Hütte. (3iof.) Das Publikum nimmt einstimmig mit einem »lebhafte[n] Beifallklatschen« ( 3 1 1 ) diese Darbietung auf. Devillier aber »kniete vor [Mitidika], weinte wie ein Kind und wurde ausgelacht« ( 3 1 1 ) . Diese kleine Szene faßt noch einmal in konzentrierter Form die Hauptmerkmale der Erzählung zusammen: Lachen und Ergriffenheit, Spott und Anbetung, das Heitere und das geheimnisvoll Wunderbare. Das Motiv der Versteinerung reflektiert die Einschnürung durch den PestCordon, dessen Durchbrechen der lebendigen Verwandlungskraft Mitidikas vorbehalten war. D e m Tanz ist dabei in einem ursprünglichen Sinne dieser Grenzübertritt selbst eingeschrieben. Gabriele Brandstetter bezeichnet in einer allgemeinen Definition das Transitorische als Grundelement des Tanzes: »Der Tanz über die Grenzlinie — im unwiderruflichen Augenblick der vergänglichen Beweg u n g , in der Flüchtigkeit der Erscheinung bewegter Schönheit, im Spiel der Balance, zwischen Schwere und antigraver Erhebung, zwischen Elevation und Transparenz — erscheint als Inbegriff des Transitorischen in Raum und Zeit. Er ist wesentlich die Kunstform des Ubergangs«. 1 4 8 Eine besondere Wirkung ruft Mitidikas Tanz bei Devillier hervor, der ergriffen auf die Knie sinkt. Diese 147 148
Ebd. Brandstetter 1 9 9 3 , S. 4 2 1 . Im Gesamtwerk Brentanos ist mir keine vergleichbare Tanzszene bekannt, was die exzeptionelle Idealkonzeption der Figur Mitidikas m. E. nur unterstreicht. Ein Vergleich mit Arnims Idee des Tanzes bietet sich insofern an, als mit ihr eine naturpoetische Basisenergie des Tanzens verbunden ist, die für Mitidikas Ausdrucksformen »Tanz, Gesang und freundliche Rede« im Ganzen gelten kann. Ich zitiere eine zusammenfassende Interpretation Ulfert Ricklefs', die auf Arnims »reisenden Tänzer« Ariel Bezug nimmt: »DerTanz verbindet für [Arnim] Ernst und Leichtigkeit, er ist wie das Lied unmittelbarer Ausdruck von Leben, Gefühl und Begeisterung, hat das Mediale und Wortlose der Naturpoesie, er steht für die Lösung von der Erde, die Überwindung der Schwere und den Aufschwung zum Himmlischen, repräsentiert darin das Wesen der Poesie und Kunst überhaupt, aber er leistet vor allem ein fast Utopisches, die Einheit von Kunst und Wirklichkeit in der anthropologischen Ganzheit von Lebensausdruck und Kunstbewegung«. Ricklefs 1990, S. 67.
146
demütige Gebärde kann mit den Versen Rilkes umschrieben werden, die den genuinen Sinn der Poesie, den Brentano im Ausdrucksgehalt der Naturpoesie wahrnahm, nämlich ihre orphische, verwandelnde Kraft, noch einmal beschwören: »Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert/Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen/Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert«. 1 4 9
5. D i e >Wehmüller< als G r o t e s k e Eigenarten und Besonderheiten von Brentanos Erzählung >Die mehreren Wehmüllen durch eine angemessene Gattungsbezeichnung zu klassifizieren, hat die Brentano-Forschung bisher wenig Anstrengung bewiesen. Daß die Erzählung mit einer traditionellen Novelle nicht mehr vergleichbar sei, bemerkte schon 1 9 1 4 Max Preitz, ohne jedoch selbst einen passenden Begriff anbieten zu können. 1 5 0 Gerhard Schaub hat versucht, dieses Desiderat einzulösen. Er schlägt den Begriff literarisches Capriccio 1 5 ' vor, dessen Charakter im »Widerspruch zwischen Plan und Planlosigkeit, zusammenhängender Ordnung und freier Form« besteht 152 und dessen antiklassischer, manieristischer Stil auf Brentanos »kapriziöses Erzählen«' 5 3 in den >Mehreren Wehmüllern< zutreffe. Mit diesem Begriff, der im 16. und 17. Jahrhundert zunächst nur in der Kunst- und Musiktheorie verwendet wird, im 18. Jahrhundert dann als ästhetischer Terminus in die Literaturtheorie zwar eingeführt wird,' 5 4 aber zur Kennzeichnung literarischer Genres nur eine partielle Verwendung findet, schlägt Schaub einen exotischen Umweg ein. Die stilistischen und formalen Merkmale, die der Begriff Capriccio zur Verfügung stellt und die in ihrer Anwendung auf die Literatur zum Teil erst umständlich aus dem primär musikalischen Gattungsbegriff deduziert werden müssen, sind nämlich allesamt bereits in der Tradition der literarischen Groteske vorhanden. Schaub gibt selbst zwar einen Hinweis auf diese Tradition, argumentiert dabei jedoch von einer eingeschränkten Perspektive aus. Zur Charakteristik der grotesken Elemente bedient er sich ausschließlich des Begriffsinstrumentariums von 149
Rainer Maria Rilke, Sonette an Orpheus II, 10. In: Sämtliche Werke. Hrsg. vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt a. M. 1955/59. Bd. 2> S. 757.
" ° V g l . Schaub 184, S. 345. 151 Ebd. Auch Werner Hoffmann spricht von einem »böhmischen Capriccio«, ohne diesen Begriff jedoch näher zu erläutern. Synonym dazu gebraucht er den Begriff der phantastischen Burleske. Werner Hoffmann, Clemens Brentano. Leben und Werk. Bern 1966. S. 289 u. S. 2 9 1 . 1,2 Ebd., S. 347. '"Ebd. 154
E b d . , S. 345.
147
Michail Bachtin, das dieser in seinen Rabelais- und Dostojewskij-Studien entwikkelt hatte. 155 Groteske Literatur heißt bei Bachtin karnevalistische Literatur, deren Elemente in vier »Karnevals-Kategorien« 156 zusammengefaßt sind. Schaub kann diese überzeugend in den >Wehmüllern< nachweisen, was, wie er selbst zugibt, auch »keine besonders schwierige Aufgabe« ist, 1 5 7 er bleibt dabei jedoch an der Oberfläche der Erzählebene des Textes. Für die Textstruktur ergibt sich daraus keinerlei Erkenntniswert. Die Kritik an der Bachtinschen Konzeption von Groteske als Kamevalskultur - sie trifft hier gleichermaßen auf Schaubs unreflektierte Anwendung zu — hat gezeigt, daß ein wesentlicher Komplex der grotesken Tradition in dieser Theorie ausgeblendet wird. Bachtin spart nämlich, so Renate Lachmann, »das provokative, ja destruktive Potential von Bewegungen [aus], die zwar ebenfalls anti-institutionell, aber nicht mit seinem Konzept der Volkskultur der Materie vereinbar sind«. 158 Bachtin geht von der »sichtbar-tastbare[n] Formation« 1,9 der Materie und des Körpers, der »Exzentrik«, in der das Verborgene und Verdrängte veröffentlicht ist, 160 der Regeneration und Veränderung aus. Das Esoterische, Geheimnisvolle, das allegorisch Verhüllte, das erst zu entschlüsseln ist, 1 6 1 hat ebenso wie das hinter der materiell-ästhetischen Oberfläche des Textes tiefenstrukturell und subversiv Wirksame in der Bachtinschen Konzeption keinen Platz. Rabelais' >Gargantua und Pantagruel< ist ihm daher ein »groß angelegtes Sinn-Spiel, das sich auf keinen Sinn festlegen will, das weder Identität, noch Substanz, noch Definition anstrebt«. 162 Die neuere Rabelais-Forschung hat dagegen die hermetisch-esoterische Sinndimension dieses Werkes und Rabelais' Anknüpfung an die Tradition heidnisch-christlicher Mysterien betont. 163 Ich skizziere den theoretischen Hintergrund für Schaubs Auffassung der >Wehmüller< als Karnevalsliteratur aus zwei Gründen so ausfuhrlich. Zum einen wird dadurch deutlich, daß Schaub mittels der Karnevalskategorien nur äußere, sinnlichplakative, auf der Erzählebene des Textes situierte Elemente des Grotesken erfassen kann' 64 und eine mögliche esoterisch-allegorische Sinndimension völlig 155
Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt a. M . 1 9 8 7 . D e r s . , Probleme der Poetik Dostoevskijs. Übers, von A . Schramm. München 1 9 7 1 .
,,s
V g l . e b d . , S. 3 4 9 .
157
Schaub 1 9 8 4 , S. 3 4 9 .
1,8
L a c h m a n n 1 9 8 7 , S. 1 6 .
159
E b d . , S. 2 5 .
,6o
V g l . e b d . , S. 3 1 .
,6,
V g l . e b d . , S. 4 3 .
162
E b d . , S. 3 4 .
163
V g l . F. M . Weinberg, T h e Wine and the W i l l . Rabelais' Bacchic Christanity. Detroit 1 9 7 2 . Der
164
Eine Auflistung der auf der Oberfläche des Textes erscheinenden grotesken Elemente findet sich
Hinweis bei Lachmann 1 9 8 7 , S. 4 5 (Anm. 50). auch bei Reinhard Hosch, Immanente Reflexion und Binnen-Rahmen-Struktur. Z u m formalen
148
ausblendet, was m. E. auch den Grund für seine zwei voneinander unabhängigen Deutungsversuche (einen Vorschlag zur Gattungsbezeichnung, einen zur Charakteristik der karnevalistischen Elemente der > Wehmüller Wehmüller< in die Bachtinsche Tradition karnevalistischer Literatur einreiht, verstellt er sich den Blick für die komplexe Tradition der literarischen Groteske und deren Textstruktur, und das fuhrt ihn auf den Umweg des Capriccios. Einen zweiten Grund für meine Reflexion liefern die schon fast inflationär gebrauchten, ebenfalls auf Bachtin als einen der Kronzeugen zurückgehenden Begriffe Vielstimmigkeit und Vieldeutigkeit, mit denen man nicht nur die >WehmüllerGeschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl< zu erschließen glaubte. 1 6 7 Im Zusammenhang unserer Erzählung führen sie zu dem bereits dargestellten Deutungsmuster, wonach in Brentanos Kombination des Heterogenen, das heißt konkret: in der Kombination unterschiedlicher Personen, Stillagen und historischer, politischer, ästhetischer Themen, sich kein innerer Begründungszusammenhang mehr erkennen lasse. Folgt daraus, daß man hier notwendig auf das verzichten muß, »was man gewöhnlich Verstehen nennt«, wie Goethe es in Auseinandersetzung mit Johann Georg Hamanns Kunst der Kombinatorik von heterogenem Material formulierte? 168 Gerhart von Graevenitz leitet aus dem Goetheschen Dilemma die Crux gewöhnlichen Verstehens< ab, die m. E. exemplarisch auch bei den interpretatorischen Schwierigkeiten hinsichtlich der Kombinatorik des Heterogenen in den >Wehmüllern< sichtbar wird. »Das »gewöhnliche Verstehen«, so von Graevenitz, »kennt nur die gewöhnliche Alternative des einen totalen Sinns oder der Heterogenität vieler Sinne«, 1 6 9 eine Alternative, die sich heute in der Kontroverse zwischen der hermeneutischen Schule und den Dekonstruktivisten verstärkt abzeichnet. Von Graevenitz faßt zusammen: » W i r beobachten einerseits die Fixierung der theoretischen Hermeneutik auf das Thema des »einen Sinns«, und zwar unter der Leitmetapher der »Verschmelzung«. Verstehen unter dieser Leitmetapher heißt unverändert, die Deutungswiderstände und Sinnbrüche, die Heterogenität der Horizonte verschwinden zu machen im Konstrukt der Sinntotalität. [ . . . ] Galt der hermeneutischen »Verschmelzung« die Einheit des Sinns als Ziel, da gilt umgekehrt, so scheint es den Hermeneuten, die Negation dieser und stofflichen Zusammenhang von Clemens Brentanos Erzählungen. Diss. Heidelberg 1988. S. 1 0 6ff. ,6 ' Vgl. Schaub 1984, S. 345. 166 Vgl. Martin Neuhold, Achim von Arnims Kunsttheorie und sein Roman »Die Kronenwächter« im Kontext ihrer Epoche. HermaeaN.F. 7 3 . Tübingen 1994. S. 271fr. 167 168
169
Vgl. Schaub 1984, S. 355. Goethe, Dichtung und Wahrheit. In: Werke, Bd. I X , S. 5 1 5 . Zitiert nach: von Graevenitz 1989, S. 32. Von Graevenitz 1989, S. 32.
149
Einheitsteleologie als historische Absicht der »Dekonstruktion«. 1 7 0 Daneben aber — von Graevenitz zeigt dies an Texten Montaignes und Goethes — »gibt es literarische Sinnordnungen, denen sich diese Probleme so gar nicht stellen«. 1 7 1 Eine solche literarische Sinnordnung stellt, wie im folgenden gezeigt werden soll, die Groteske dar. Eine literarästhetische Ortsbestimmung von Brentanos >Wehmüllern< innerhalb der grotesken Tradition wird nach dem bisher Gesagten notwendig eine Reflexion der hermeneutischen Implikationen der Erzählung einschließen, wobei sich zeigen wird, daß Einheitsperspektive und allegorische Sinnstrukturierung auf der einen und Heterogenität und Kombinatorik auf der anderen Seite keine Ausschließlichkeiten darstellen. Daß das Geschehen in den >Wehmüllernökonomisch-technologische[n] Enzyklopädie< mit umfangreichen Sachtiteln, die manchmal fast einen ganzen Band ausmachen, die 1 7 7 3 begonnen wurde, aber nur bis zu dem Artikel >Leiche< gelangte. 2 0 3 Darauf, daß die Enzyklopädie inkomplett ist, verweist auch Brentano: wer die >langweiligen< Zusätze seines Märchens »nicht darin findet, bedenke doch nur, daß alle Exemplare inkomplett sind« (628). Brentano wendet die tatsächliche Unvollständigkeit des Krünitz in eine all-Aussage, macht diese so zu einem Grundsatz, was — wie ich meine - als Hinweis auf den prinzipiellen Fragmentcharakter und die (irdische) Unabschließbarkeit der enzyklopädischen Buchform und Wissensquelle im allgemeinen zu verstehen ist. Die Enzyklopädie zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie ein offenes, ständig anwachsendes Medium ist, das bei steter Sachentwicklung immer neue Autoren, Überarbeitungen und Artikel verlangt. 2 0 4 Ihre konzeptuelle Unvollständigkeit ist Methode und in der Natur der Gattung begründet. Die Ordnung des Alphabets, die repräsentativ für die weltliche, enzyklopädische Ordnung des Wissens steht, reflektiert in sich keinen über die bloß äußerliche Reihenfolge hinausgehenden Sinn. Sie steht damit in extremem Kontrast zur hierarchischen Strukturierung des Schriftsinns und zu einer an diesen gebundene Werteskala. Peter Horst Neumann hat in seiner Studie zu Günter Eich die anarchische Funktion, die die Ordnung der Enzyklopädie und des Alphabets innerhalb literarischer Konzepte erfüllen kann, erschlossen: »Die 203 204
Vgl. Kommentar zu Werke III, S. 1 1 3 1 . Vgl. Schmidt 1 9 9 1 , S. 93. Schmidt verweist auf die Forderung der französischen Enzyklopädisten, wonach »die Nachwelt [ . . . ] ihre Entdeckungen zu den von uns aufgezeichneten hinzufugen [soll], damit die Geschichte des menschlichen Geistes und seiner Taten von einem Zeitalter zum anderen bis in die fernsten Jahrhunderte vorliege«.
159
Reihenfolge der Buchstaben impliziert keine Skala der Werte, sie ist die in den Rang einer Ordnung erhobene Beliebigkeit. Eine zweckvolle Ordnung: sie ermöglicht Registratur ohne Sinn, und Sinnlosigkeit ist die Voraussetzung ihrer Zweckmäßigkeit«. 2 0 5 Wenn Brentano in der >Herzlichen Zueignung< die Enzyklopädie als Quelle seines Schreibens anspricht, so steht damit die Sinnhaftigkeit bzw. Sinnlosigkeit der poetischen Konstruktion im Ganzen zur Disposition. Die damit verbundene Frage ist, wie sich dieses sinnlose Konglomerat weltlichen Wissens — und im Spätwerk synonymisiert Brentano dieses in seiner Negativität mit seinen eigenen bis dato entstandenen poetischen Produkten - noch einmal mit Sinn verbinden läßt, eine Frage, bei der es um die Rettung des Sinns im Unsinn geht. In Gockels Leichenrede orientiert sich Brentano an einem Modell kombinatorisch-allegorischer Sinnstrukturierung, das ihm erlaubt, die weltliche Wissensflut innerhalb einer durch Tradition und Glauben geheiligten Werteskala noch einmal zu strukturieren. Die wenigen Studien, die sich eingehender mit dem >Märchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia< auseinandergesetzt haben — Oskar Seidlins Interpretation ist dabei besonders hervorzuheben 206
haben
gezeigt, daß Brentano bei der Wiederaufnahme und Umarbeitung seines italienischen Märchens dem Handlungsgeschehen eine heilsgeschichtliche Struktur unterlegt. Hier wäre eine Gesamtinterpretation des großen >Gockel-Märchens< anzuschließen, die in diesem Rahmen nicht intendiert sein kann. Im Zusammenhang der zweiten poetischen Großproduktion im Spätwerk des Dichters, dem >Märchen von Fanferlieschen SchönefüßchenGockel< soll der Hinweis genügen, daß in der Struktur der Heilsgeschichte eine Einheit des Sinns gewährleistet ist, die es Brentano möglich macht, Wissensfragmente seiner Zeit, Theologisches, Politisches, Mystisches usf. in diesem Märchen kombinatorisch-allegorisch zu integrieren. Z u einem zweiten Textbeispiel seien noch einige Bemerkungen hinzugefügt. Wenige Dichtwerke haben Brentano so nachhaltig beschäftigt wie Hölderlins >NachtBrod und Wein< ist mit dem Titel >Die Nacht< in Seckendorfs Musenalmanach für das Jahr 1807 erschienen. Hölderlins eigene Erweiterung des Gedichtes um acht Teile konnte Brentano nicht mehr kennen, da sie erst 1894 im Druck erschien. Vgl. Brandstetter 1 9 8 3 , S. 2 i 3 f . u. Boetius 1985, S. 02f.
160
den, ja, es nie ohne tiefe Bewegung und ohne neue Bewunderung empfunden« habe. 208 Mit dem Wunsch verbunden, Luise möge »die wunderbare Gewalt dieses einfachen Gedichtes so fühlen« 209 können wie er selbst, läßt Brentano seine Deutung des Gedichtes folgen. Die Interpretation folgt dem patristischen Deutungsschema des vierfachen Schriftsinns. Mit fiktiv gesetzten Fragen der Adressatin bezieht Brentano eine gegebene hermeneutische Situation in seine Deutung ein und gibt Luise damit eine Leseanleitung, die es ihr ermöglichen soll, den »einfachen« Literalsinn von einer allegorischen Sinnstrukturierung her zu verstehen. Brentano schreibt: Es ist so einfach, daß es alles sagt: das ganze Leben, der Mensch, seine Sehnsucht nach einer verlorenen Vollkommenheit, und die bewußtlose Herrlichkeit der N a t u r ist darin. Ist das alles? W o ist denn die Erbarmung und die Erlösung? fragt sie vielleicht, und ich sage: sie lese es als ein Ebenbild aller Geschichte, und sie wird auch Erbarmung darin finden. Sind die ersten sechs Verse nicht das weltliche Treiben ins Reale bis zur E r m ü d u n g , die folgenden sechs nicht die Sehnsucht der Zeit und das G e f ü h l der Verlorenheit? Tritt im siebenten Vers nicht der R ü c k b l i c k zur verlorenen Unschuld ein, und sprechen die immer quillenden Brunnen nicht von dem ewigen Quell der Verheißung, an dem die Gerechten sich laben? Mahnt diese die G l o c k e nicht, durch die den K l a n g verhüllende Welt zu harren und zu beten, und rufet der Wächter nicht die Erfüllung der Zeit aus? Ist der dreizehnte Vers nicht der Vorläufer des Heils, die S t i m m e des Predigers in der Wüste, der dem Herrn seinen W e g bereitet und seine Steige richtig macht? U n d tritt mit dem vierzehnten Vers nicht der Herr auf: »Sieh', er k o m m t mit den Wolken, und es werden ihn sehen alle A u g e n . « I m sechzehnten Vers aber steht: » U n d das Licht scheinet in die Finsternis, und die Finsternisse haben's nicht begriffen«.210
Brentano interpretiert Hölderlins Text analog dem heiligen Text der Bibel. Auch sein am Schluß der Interpretation angekündigter Plan, »dieses Lied nochmals zu dichten, und es ganz auf die Christnacht zu beziehen« — eine »schöne Aufgabe«, die »sehr leicht« 2 " wäre — macht deutlich, von welch hermeneutischen Voraussetzungen er ausgeht. Brentano deutet den Text von oben nach unten, will heißen: von der spirituellen Bedeutung der Nacht als Heiliger Nacht schließt er den Text auf. Den apostrophierten einfachen Sinn des Textes enthüllt er als einen Sinn, der »alles sagt«, das heißt als ein totales, letztlich nicht ausschöpfbares Sinnpotential, das so der in der Bibel geoffenbarten significatio divina entspricht. 2 1 2 Die Einleitung ist eine Zusammenfassung des unter spiritueller Einheits- und Totalitätsperspektive erkannten Sinnpotentials. Für Luise aber löst Brentano dieses »alles« noch einmal auf und beginnt Hölderlins Verse analog der 3o8
Seebaß II, S. 192. Ebd. a, °Ebd. 2.1 Ebd. 2.2 Vgl. von Graevenitz 1989, S. 32f. 209
161
Struktur des vierfachen Schriftsinns von unten nach oben interpretatorisch aufzuschlüsseln. Brentano fuhrt seine Leserin über die verschiedenen Bedeutungsebenen vom historischen zum anagogischen Sinn des Textes, wobei er aber nicht die einzelne Textsequenz auf ihren höheren Sinn befragt, sondern die vierfache Bedeutung des Textes in die Abfolge des Gedichts hineinliest. Er beginnt seine Deutung mit der Akzentuierung der historisch-weltlichen Sinnebene: »das weltliche Treiben ins Reale bis zur Ermüdung«. Mit dem Motiv der Sehnsucht erschließt er die allegorische Ordnung des Textes, in der das Zeitliche und Weltliche unter der Perspektive des Ewigen und des Heils erscheinen. Im siebten Vers eruiert er einen typologischen Bezug, das heißt er bezieht die heilsgeschichtlich ausgerichtete allegorische Bedeutungsdimension auf die Lehre von Sündenfall und Erlösung. Der Mahncharakter des Glockenmotivs sowie die Aufforderung auszuharren können dann als tropologisch-moralische Deutung aufgefaßt werden, die das Verhalten der Einzelseele zu Gott charakterisiert. Den Schluß der Deutung — beginnend mit dem dreizehnten Vers — stellt Brentano ganz ins Zeichen einer anagogisch-eschatologischen Sinndimension, der er mit Verweis auf Joh. ι , 5 einen dramatischen Abschluß verleiht. Mit Hölderlins Gedicht hat diese Interpretation kaum mehr etwas zu t u n . 2 ' 3 Bis ins Detail genau folgt Brentano dem Muster der patristischen Exegese der Bibel. Selbst die Diktion ist dieser nachempfunden. Der Modellcharakter seiner Interpretation ist ein Kunststück für sich. Aus der Vita Brentanos wissen wir, daß er Inspirations- wie Lebenskrisen u. a. durch Ubersetzungen und mit Sammeln alter und neuer Literatur zu überbrücken suchte, 2 ' 4 das heißt vornehmlich sich rezeptiv und interpretierend mit Werken der Literatur auseinandersetzte. Uber einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren erstreckt sich die Auseinandersetzung mit Hölderlins >NachtGott der Melancholies und seine Geschöpfe sind die einsamen Künstler, ebenso aber die Gefangenen und die Bettler«. 2 1 8 Die Nacht ist nicht tröstend, sondern quälend. 2 ' 9 Brentano schreibt mit dieser Deutung der Nacht seine erste (überlieferte) Auseinandersetzung mit dem Gedicht fort, über die er 1 8 1 0 gegenüber Philipp Otto Runge in folgenden Worten gesprochen hatte: Niemals ist vielleicht hohe betrachtende Trauer so herrlich ausgesprochen worden. Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bittern Brunnen seines Herzens; meistens aber glänzet sein apokalyptischer Stern W e r m u t h wunderbar rührend über das weite Meer seiner E m p f i n d u n g . [. . . ] Besonders ist die N a c h t klar und sternenhell und einsam und eine rück- und vorwärts tönende Glocke aller Erinnerung; ich halte sie für eines der gelungensten Gedichte ü b e r h a u p t . 2 2 0
Es ist das Lebensgefühl der Schwermut, das Brentano bereits hier mit dem Hölderlinschen Text verbindet und an das er 1 8 3 6 in seiner >Fortsetzung< wieder anknüpft. Die christologische Auslegung der Elegie von 1 8 1 6 steht demgegenüber isoliert, entfaltet aber ihre Bedeutsamkeit vor dem hier aufgezeigten Hintergrund. Mit seiner Umdeutung der Nacht auf die Heilige Nacht vollzieht Brentano nämlich eine Objektivierung, in der die subjektive Problematik des einsamen und schwermütigen Dichters und Menschen, aufgenommen im heilsgeschichtlichen Liebesakt der Heiligen Nacht, der Erlösung entgegenwartet. Es gehört zu Brentanos chiffriert-komplexen Bemühungen um eine Frau oder einen Freund, daß er diesen eine hermeneutische Anleitung zur Ergründung seiner Person und Liebe gewöhnlich mitliefert. Das hermeneutische Modell des vierfachen Schriftsinns, das er Luise Hensel so exemplarisch, zur Nachahmung anregend, an Hölderlins >Nacht< vorführt, dient damit nicht zuletzt dem Zweck, sie in die Geheimnisstruktur eines, seine eigene problematisierte poetische Existenz widerspiegelnden, Textes einzuweihen. Die Exegese des Hölderlinschen Gedichtes ist in diesem Sinne auch Medium einer zugegebenermaßen höchst komplizierten Liebesbotschaft. Doch noch ein zweiter Zusammenhang, vor dem Brentanos Aufnahme des Modells vom vierfachen Schriftsinn seine Bedeutung entfaltet, muß angesprochen 2,6
V g l . Brandstetter 1983, S. 223 u. S. 254. E b d . , S. 224. 2,8 Ebd. 217
219
E b d . , S. 225. Vgl. auch die Deutung von Walter Rehm, Brentano und Hölderlin. In: Walter Rehm, Begegnungen und Probleme. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1957. S. 4 0 - 8 8 . 220 Brentano-Runge, S. 14.
163
werden. Die Deutung der >Nacht< findet sich in demselben Brief, in dem Brentano die, Beziehungen und Geselligkeit stiftende, Funktion einer witzigen ars combinatoria rekapituliert und in ihrer Unmöglichkeit kritisiert, um mit der hoffnungsvollen Hinwendung »zu dem, der allein helfen kann« 2 2 1 einen höheren, das Heterogene verbindenden Geist anzusprechen. Die Kapitulation des Witzes kleidet Brentano in einen Vergleich: Der Witz legte Schlacken an eine Kapelle 2 2 2 — D i e Ironie aber lachte, daß der Witz das bißchen Architektur, das ich verstehe, nicht unterlassen könne, anzubringen, baute doch treulich m i t , aber weil die Schlacken unförmlich sind, und der Mörtel fehlt, rutscht alles sofort wieder e i n . 2 2 3
Mit dem Bild eines äußerst brüchigen Gebäudes signalisiert Brentano das Unvermögen des Witzes, und mit ihm das der Kunst insgesamt, eine »andere Weltordnung« 2 2 4 zu bauen. Das Modell des vierfachen Schriftsinns, das er gleichzeitig in der Zwischenform von rezeptiver Allegorese und eigenständigem allegorischen Text — an Hölderlins >Nacht< probiert, bietet ihm dagegen eine hierarchische, das heißt auch architektonisch festgefugte Sinnordnung, in der das Heterogene in thematischen Ordnungen gesammelt und durch die Einheitsperspektive auf den, »der allein helfen kann«, sinnhaft strukturiert ist. Wie kunstvoll Brentano in der poetischen Gestaltung und Textauslegung das Modell des vierfachen Schriftsinns nach dieser hermeneutischen Einübung an Hölderlins Gedicht anwendet, zeigt das >Märchen von Fanferlieschen SchönefiißchenRomantischen Schule< zum Besten gibt. Sie sei — vorsichtshalber — zitiert: Der Unterschied [zwischen klassischer und romantischer Poesie; Β . K . ] besteht darin, daß die plastischen Gestalten in der antiken K u n s t ganz identisch sich m i t dem Darzustellenden, m i t der Idee die der Künstler darstellen wollte, ζ. B . daß die Irrfahrten des Odysseus gar nichts anders bedeuten als die Irrfahrten des Mannes, der ein Sohn des Laertes und G e m a h l der Penelopeia war und Odysseus hieß; daß ferner der Bacchus, den wir im Louvre sehen, nichts anders ist als der anmutige Sohn der Semele m i t der kühnen W e h m u t in den A u g e n und der heiligen Wollust in den gewölbt weichen Lippen. Anders ist es in der romantischen K u n s t ; da haben die Irrfahrten des Ritters noch eine esoterische Bedeutung, sie deuten vielleicht auf die Irrfahrten des Lebens überhaupt; der Drache der überwunden w i r d , ist die Sünde; der Mandelbaum der dem Helden aus der Ferne so tröstlich zuduftet, das ist die Dreieinigkeit, G o t t Vater 221
Seebaß II, S. 184. Ebd., S. 185. 223 Ebd., S. i 8 5 f . 224 Ebd., S. 138. 225 Altenhofer 1979, S. 150. 222
164
und Gott Sohn und Gott Heiliger Geist, die zugleich eins ausmachen, wie N u ß , Faser und Kern dieselbe Mandel sind. Wenn Homer die Rüstung eines Helden schildert, so ist es eben nichts anders als eine gute Rüstung, die so und so viel Ochsen wert ist; wenn aber ein Mönch des Mittelalters in seinem Gedichte die Röcke der Muttergottes beschreibt, so kann man sich darauf verlassen, daß er sich unter diesen Röcken eben so viele verschiedene Tugenden denkt, daß ein besonderer Sinn verborgen ist unter diesen heiligen Bedeckungen der unbefleckten Jungfrauschaft Maria, welche auch, da ihr Sohn der Mandelkern ist, ganz vernünftigerweise als Mandelblüte besungen w i r d . 2 2 6
226
Heine, Sämtliche Schriften, Bd. 5, S. 367.
165
IV. Das Märchen von Fanferlieschen Schönefiißchen [ . . . ] eine Büchse voll Zierlichkeit, eine voll Lieblichkeit, eine voll Muthwill, eine voll Einfalt, eine voll Unschuld, eine voll Tiefsinn, eine voll Ahndung, eine voll Wahrheit, eine voll Gleichniß, [ . . . ] eine Schachtel voll Neugier, eine Flasche voll Mutterliebe, ein Bündel Geduldskrautchen, und eine Düte voll Ammenwitz. (C. Brentano) Hier gibt es Züge zusammen zu lesen, und sie in gehöriger Folge mit den Merkmahlen des Begriffs zu vergleichen, das Ähnliche zu verbinden, und das Unähnliche abzusondern. Hier ist mithin Freiheit, und die Spiellust der Phantasie umschwebt den Gedanken, ehe sich der Geist seiner bemächtigt. (Fr. Greuzer) Wie es manchmal aber zu geschehen pflegt, daß man den Weg, der scheinbar irre leitet, rüstig verfolgend plötzlich zum Ziel gelangt, das man aus den Augen verlor, so möcht' es vielleicht auch sein, daß diese Episode, nur scheinbarer Irrweg, recht hinleitet in den Kern der Hauptgeschichte. (E.T. A. Hoffmann)
i. Vorüberlegungen 1 . 1 . Das Märchen im Horizont von Quelle und Anspielung Wie würden Sie die Hände überm Kopf zusammenschlagen, wenn ich Ihnen so ein Märchen bis in die kleinsten Wendungen erklären könnte. 1 Über Textkommentar und -interpretation ein Brentanosches Märchen zu erschließen, hieße nach dieser Äußerung des Autors gegenüber Charlotte von Ahlefeldt, auf alles gefaßt sein zu müssen. Brentano hat in seiner Münchner Zeit (ab 1 8 3 3 ) noch einmal zwei seiner italienischen Märchen vorgenommen und diese in Spätfassungen verwandelt, welche die Erstfassungen um ein Vielfaches im Umfang übertreffen. Es sind das >Märchen von Gockel, Hinkel und GackeleiaMärchen von Fanferlieschen Schönefiißchen^ das erst 1 8 4 7 in der zweibändigen, von Guido Görres besorgten Ausgabe, zusammen mit fast dem gesamten Märchenkorpus der Öffentlichkeit
' Clemens Brentano. Dichter über ihre Dichtungen, S. i83f.
166
zugänglich wurde. Die Text-, Entstehungs- und Überlieferungsverhältnisse sind im übrigen kompliziert und harren der Klärung in der historisch-kritischen Ausgabe. 2 Als Werk der Kunst steht >Das Märchen von Fanferlieschen Schönefußchen< analog dem großen >Gockel-Märchen< in dem spannungsreichen Verhältnis, das durch Brentanos Doppeltätigkeit als Dichter und Erbauungsschriftsteller gegeben ist und als solches bereits thematisiert wurde. Die als Lebensaufgabe begriffene Ausarbeitung seiner Emmerick-Bücher hat Brentano nicht mehr losgelassen und sich in Zielsetzung und Thematik offensichtlich in alle anderen Arbeiten mit eingedrängt. 3 Das Emmerick-Erlebnis und die Bestätigung seiner religiösen Anliegen durch die große Publikumsresonanz auf sein Buch von der Passion Christi 4 lieferten ihm Begründungselemente zu einer Poetik, die in Uberwindung der vieldiskutierten Kunstkrisen Kunst und Religion im Sinne eines zu bestimmenden Legitimationsverhältnisses korreliert. Das dichte Beziehungsgeflecht des Brentanoschen Spätwerkes verlangt eine Vorgehensweise, in der die Gesamtstruktur des Märchens sowie die Erläuterungen der »kleinsten Wendungen« gleichermaßen berücksichtigt werden. Dem architektonischen Kalkül und der phantastisch-spielerischen Ornamentik ist methodisch mit einer Gratwanderung zwischen Interpretation und Kommentar zu folgen. Ein besonderes Problem ergibt sich dabei hinsichtlich der QuellenFrage. Die jüngere Brentano-Forschung hat gezeigt, daß der Quellennachweis und die Analyse der Quellenadaption unabdingbare Voraussetzung der Interpretation sind. Die Bestimmung des Quellenbegriffs bleibt jedoch problematisch und bedarf für das einzelne Werk angemessener Differenzierung. Neben der bewußt zugrunde gelegten Stoffquelle prägen Allusion, Reminiszenz und verstecktes Zitat Brentanos teilweise extrem apokryphes Verfahren des Quellenbe-
2
Brentano hat wahrscheinlich vor dem >Gockel-Märchen< mit dem >Fanferlieschen< die Überarbeitung der italienischen Märchen begonnen. Als Beleg für den ungefähren Beginn der Arbeit dient ein Brief vom April 1835 an die Schwester Bettine, in dem Brentano Fanferlieschens Trauerblumenlied zitiert. Lujo Brentano, Der jugendliche und gealterte Brentano. In: J b . des Freien Deutschen Hochstifts 1929. S. 325 — 3 5 2 . Hier: S. 34of. Vgl. Seebaß II, S. 344. Der von Seebaß aufHerbst 1834 datierte Brief ist auf April 1835 zu datieren, da Brentano Joseph Görres Rezension von Bettinens Buch >Goethes Briefwechsel mit einem Kinde< vom April 1835 erwähnt. Vgl. Feilchenfeldt/Frühwald, S. 304. Rolf Spinnler hat eine tabellarische Übersicht erstellt, die das proportionale Verhältnis von Grundtext (Frühfassung) und Erweiterung (Spätfassung) sichtbar macht. Spinnler 1990, S. 109.
3
Vgl. den Diskussionsbeitrag Wolfgang Frühwalds in: Emmerick und Brentano. Dokumentation eines Symposions der Bischöflichen Kommission »Anna Katharina Emmerick«. Hrsg. im Namen der Bischöflichen Kommission »Anna Katharina Emmerick« Münster von Clemens Engling, Heinrich Schleiner und Basilius Senger. Dülmen/Westfalen 1983. S. 174.
4
1836 erschien bereits die vierte Auflage von Brentanos Erfolgsbuch. Um die Jahrhundertwende war die Millionenauflage erreicht.
167
zugs und der Quellenaneignung. 5 Als poeta doctus und respektloser Enzyklopädist, der, wie bereits angedeutet, mitunter auch das lexikalische Wissen seiner Zeit poetisch exzerpiert und in bunter Folge amalgamiert, verschließt sich Brentano zum großen Teil seinen Kommentatoren. Die Suche nach Quellen gestaltet sich daher nicht selten ähnlich derjenigen nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Anhaltspunkte bieten die vorliegenden Versteigerungskataloge von Brentanos Bibliotheken 6 wie seine literatur- und kunsthistorischen Interessen, soweit sie im Werk und in den Briefen deutlich werden. Seine umfassenden Kenntnisse in theologischer Topik und Symbolik sind im Kontext der EmmerickArbeiten verbürgt. Eine besondere Bedeutung kommt den >Emmerick-Schriften< als Eigenquellen zu. Eine Quelle im weitesten Sinne bildet die äußere und innere Biographie Brentanos, der wie kein anderer Dichter Poesie und Leben in der oft apostrophierten Einheit einer poetischen Existenz zu verschmelzen suchte. Der Anspielungsraum, der durch Brentanos Art der Quellenaneignung gegeben ist, kann im >Märchen von Fanferlieschen Schönefüßchen< zum großen Teil über den Nachweis des traditionellen Bildrepertoires fokussiert werden. Dies geschieht in Anlehnung an die Methode der ikonologischen Interpretation, die, angeregt von Aby Warburg, von Erwin Panofsky als Verfahren zur Analyse der bedeutungstragenden Elemente eines Werkes für die Kunstwissenschaft systematisiert wurde und die in jüngster Zeit, im literaturwissenschaftlichen Kontext reflektiert, 7 zu höchst aufschlußreichen Ergebnissen hinsichtlich der Analyse literarischer Bildlichkeit gefuhrt hat. 8 Die ikonographische Analyse gibt dem Interpreten Halt
' V g l . F B A 1 7 , S. 3 9 4 f . 6
Clemens und Christian Brentanos Bibliotheken. Die Versteigerungskataloge von 1 8 1 9 und 1 8 5 3 . H r s g . von Bernhard Gajek. Heidelberg 1 9 7 4 (Beihefte zum Euphorion 6).
7
V g l . Günter Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenium est ineffabile? Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne.
Stuttgart
1 9 9 1 . S. 3 9 — 4 7 . Blambergers Vorschlag (ebd., S. 40), bei der Übertragung von Panofskys Modell auf den literarischen Text nicht mehr von Ikonologie bzw. Ikonographie zu sprechen, sondern mit dem Begriff Grammatographie den Wechsel des Interpretationsobjektes vom B i l d zum literarischen Text deutlich zu machen, ist hier im Zusammenhang Brentanoscher Bildlichkeit nicht zu folgen. Z u m einen, weil Brentanos literarische Bilder oft von visuellen Bildvorgaben inspiriert resp. Bildwerken, wie ζ. B . denjenigen Philipp Otto R a n g e s , entnommen sind und sich daher der Begriff der Ikonographie, der die poetische Transformation der verbalisierten visuellen Vorstellung akzentuiert, besser eignet. Z u m anderen kann im einzelnen oft nicht angegeben werden, ob Brentano seine Bildvorstellungen aus Bildwerken oder über literarische Bilder bezieht. U m den Horizont des Quellenspektrums offen zu halten, scheint mir daher der Begriff der Ikonographie angemessener. 8
Hervorzuheben sind neben der Studie Blambergers: Peter-Klaus Schuster, Theodor Fontane: E f f i Briest - Ein Leben nach christlichen Bildern. Tübingen 1 9 7 8 . Waltraud Wiethölter, Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts. Psychostrukturelle und ikonographische Studien zum Prosawerk. Tübingen 1 9 9 0 . Bernhard Buschendorf, Goethes mythische D e n k f o r m . Z u r Ikonographie der Wahlverwandtschaften. Frankfurt a. M . 1 9 8 6 .
168
und zugleich Bewegungsfreiheit. 9 So kann entsprechend auf die Unschärfen und Unwägbarkeiten reagiert werden, mit denen der Bilderschatz eines Brentanoschen Märchens den Interpreten konfrontiert. Ikonographie als Untersuchung der literarischen Ein-Bildungs-Kraft (wörtlich verstanden) zeigt einen Weg, auf dem kollektives Bildreservoir eines Textes beschrieben werden kann, selbst wenn dessen einzelne Quellen sich dem kontrollierten Zugriff entziehen. 10
1 . 2 . Allegorie und Arabeske Wolfgang Frühwald hat für Brentanos großes >Gockel-Märchen< den Begriff des Arabeskenromans vorgeschlagen und dabei den hinweisenden hieroglyphischallegorischen Charakter betont. 1 1 Eine Übertragung dieser Gattungsbezeichnung auch auf das zweite Spätmärchen von >Fanferlieschen Schönefüßchen< liegt, verstärkt durch die bisherigen Ergebnisse unserer Untersuchung, nahe. Durch die Herausarbeitung differenzierter Formen allegorisch-hieroglyphischer und kombinatorischer Darstellung im Prosa-Werk Brentanos konnte und kann der Begriff des Arabeskenromans und seine Genese vom Frühwerk an schärfer und konturenreicher gefaßt werden. In der frühen Erzählung >Der Sänger< bestimmt Brentano die arabeske Metamorphosenkunst über ihre Funktion der allegorischen Repräsentanz eines ontologischen Gottes- resp. Naturgewebes. Erzählerische Oberflächenstruktur und allegorische Tiefendimension sind verbunden in einer Textur von hervorragend sinnlich-sinnhafter Ausdrucksqualität. In der Kombinationskunst des Dichters, die im >Märchen von dem Myrtenfräulein< auf mythischer Folie reflektiert wird, die wir in den >Mehreren Wehmüllern< vor allem in ihrer hermeneutischen Funktion thematisiert fanden, wird das einzelne bedeutungstragende Element mit dem generativen Element der Arabeske resp. des Gewebes verknüpft, so daß das einzelne Zeichen dynamisch und flexibel auf ein höheres Ganzes weist. Kombination des Heterogenen und allegorische Sinnstrukturierung bilden in Form des Arabeskenromans eine dynamische, ästhetisch aufregende Einheit. In Brentanos Spätmärchen basiert die allegorische Arabeske, wie in der Durchführung zu zeigen sein wird, auf intertextuellen Bezügen, durch die Vexierbilder entstehen, die im märchenhaften Gewände poetische, erotische, religiöse und kirchenpolitische Intentionen miteinander verknüpfen. Brentano greift bei der Gestaltung allegorischer Figuren (die immer auch Realfiguren im Märchenkontext sind) auf den Fundus der christlichen Ikonographie zurück und ergänzt Sinnbilder, diedurch die Textprojektion gegeben sind, ζ. B . den hortusconclusus, 9 Vgl. Blamberger 1 9 9 1 , S. 39. ' " V g l . Wiethölcer 1990, S. 16. " Frühwald 1962, S. 137.
169
additiv-attributiv durch eine Vielfalt von Anspielungen und Erweiterungen, so daß eine Uberlagerung von Sinnschichten entsteht, in der das allegorische Zeichen, eingebettet in der sinnlichen Vielfalt des Wirklichen und Körperlichen, in einem höchst beweglichen Verweisungsnetz erscheint. In der älteren Forschung hat man oft Brentanos Aufschwellungen bestimmter Märchensequenzen und -figurationen getadelt, ohne nach den Gründen solcher, den Handlungsablauf retardierenden Disproportionen zu fragen. 1 2 Sie wurden mitunter auch als »kränkliche Arabesken« bezeichnet, als Verzierungen und Schnörkel der Phantasie, die den geradlinigen Handlungsablauf überwuchern. 13 Wolfgang Frühwald hat diese Schnörkel den Randzeichnungen, den »lebendigsten und ideellsten Variationen«, 14 gleichgesetzt, die Brentano sich von Runge als Seitenumrahmung für sein Gedicht >Romanzen vom Rosenkranz< erwartete. 15 Demnach wären alle um den Kern wie um das einzelne Handlungselement des Märchens »befestigten Blumen« eine »tiefsinnige Bildersprache«, »deren Enträtselung«, so Frühwald mit einem Terminus Friedrich Schlegels, »erst den verborgenen »Centraipunkt«, den Sinn des Ganzen enthüllt«. 1 6 Heinz Rölleke wies den Zusammenhang von spielerisch-märchenhafter Stilornamentik mit allegorischer Komposition an der Aufschwellung der Figur des Trilltrall im >Märchen vom Schulmeister Klopfstock< nach. 17 Daß Allegorie und Arabeske im Sinne von Zeichen- und Bedeutungsstruktur einerseits und Stilornamentik andererseits in einem Begründungszusammenhang stehen, hatte schon Goethe mit analytischem Scharfsinn für Ph. O. Runges wie C. D. Friedrichs Kunst herausgestellt. Die Goethesche Kritik an der romantischen Arabeskenkunst, die in der Diskussion um die Poetologie der Arabeske weitgehend unbeachtet blieb, dient einer historisch wie ästhetisch differenzierten Einschätzung dieser genuin romantischen Kunstform. In Runges >Tageszeiten< sieht Goethe »Darstellungen einer neuen wundersamen Art; ihrem äußern Ansehen nach dem Fach der sogenannten Groteske verwandt, hinsichtlich auf den Sinn aber wahre Hieroglyphen«. 1 8 Hinsichtlich des Verhältnisses von »äußern Ansehen« und immanenter Sinnstrukturierung gleichen sich C. D. Friedrichs Landschaftsbilder und Runges >Tageszeitenechten< Märchen, da dessen Auszeichnung gerade darin besteht, die determinierenden Dimensionen Zeit und Raum zu transzendieren. Ein Hiatus ist aufgetan, in dem das Märchen nicht als ein Gegebenes im Sinne von Naturpoesie bedeutet wird, sondern durch den Erzähler gleichsam erst eingerichtet werden muß. So wird die Gattung Märchen neu definiert, indem sie in anderer Weise als in der Frühfassung im Modus des Kunstmärchens reflektiert wird. Angesichts der Tatsache, daß das Märchen eine vergangene, historisch gewordene Gattung ist, weil ihm der kollektive Bezugsrahmen fehlt, 2 7 ist der Erzähler sentimentalischer 24
Vgl. Werke III, S. 105 5 f . Vgl. Gadamer 1960, S. 363 u. S. 378. 26 Werke III, S. 934. 27 Diese Einsicht ist toposhaft allen Sammlungen von Volksliteratur seit Herder vorangestellt. Die Brüder Grimm schreiben in ihrer Vorrede zu den >Kinder- und Hausmärchenc »Es war vielleicht gerade die Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltener werden (freilich, die sie noch wissen, wissen auch recht viel, weil die Menschen ihnen absterben, sie nicht den Menschen), denn die Sitte darin nimmt selber immer mehr ab, wie alle heimlichen Plätze in Wohnungen und Gärten einer leeren Prächtigkeit weichen, die dem Lächeln gleicht, 25
173
Reflektor des Verlusts von Naturpoesie. Er selbst konstruiert nun die Rahmenbedingungen, die das Märchen autorisieren und erzählbar machen. Die alte Gattung verwandelt sich vor unseren Augen: in der künstlichen Produktion des Märchens wird es zum Medium der Kunst, die sich in ihm einen neuen Ausdrucksträger schafft. Dabei werden die phänomenologischen Grundqualitäten des Märchens, als eine Zeit und Raum transzendierende und von diesen befreiende Darstellung, nicht mehr vollzogen, sondern thematisiert. Das Märchen steht nicht mehr für sich, sondern deutet auf etwas hin, wodurch sowohl die Bedeutung des Erzählers als geistig/geistlicher Führer als auch die Allegorisierung des Märchentextes ihren Grund finden. Indem zeitliche und geschichtliche Dimensionen in die dingliche Statik des Märchens einbrechen, wird ein weiteres Moment kennzeichnend für den neuen Märchentypus. Es gibt Vergangenheit, Rückblick auf die Vergangenheit und die Dimension der Erinnerung im Märchen, ja Erinnerung — letztlich begründet in der Historizität des Heilsgeschehens und des Bezugs darauf im Christentum wird zu einem zentralen Thema, zum movens und zur Essenz des Märchengeschehens selbst. Nach den - später ist genauer darüber zu reden - fruchtlosen Nachforschungen beim »Herrn Nebenmensch« (938), dem sich durch aufklärerischen Dünkel und rationalistische Weltsicht die eigentliche Bewandtnis, was es mit all dem Geschehen um Fanferlieschen auf sich hat, verschließt, verlegt sich der Erzähler aufs Erzählen »wie es [ihm] am bequemsten ist« (939). Er wird dabei inspiriert durch ein Licht, daß ihm Fanferlieschen »in ihrer Studierstube« (938) aufgesteckt hat, gleichsam ein Pfingstlicht gegenüber dem säkularen Licht des Aufklärers, das den Erzähler verwirrt »ganz in der Dunkelheit stehen« ließ (938). 2 8 Den Epistemen der Aufklärung, der Ausforschung und Erklärung, wird die Ursituation zwischenmenschlicher Kommunikation, das Erzählen und das Gespräch, gegenübergestellt und als geeigneter Erkenntnismodus für das Erraten des Geheimnisses und der Vergangenheit eingeführt. Nichts anderes geschieht denn auch. Der Erzähler, sich lösend vom eigenen historischen Standpunkt und damit auch ausscherend aus dem progressiven Erzählfluß, gibt seine Version der Geschichte des Fanferlieschen zum besten, bis er, am Tag des Erzählens, in der womit von ihnen spricht, welches vornehm aussieht und doch so wenig kostet«. Der Wandel gesellschaftlicher Strukturen und sozio-ökonomischer Gegebenheiten, das heißt konkret die veränderten Erwerbs- und Lebensgewohnheiten im Z u g e der industriellen Revolution, aber auch die Verbreitung der Lesefahigkeit durch die allgemeine Schulpflicht, entziehen der mündlichen Märchentradierung gleichsam ihren Sitz im Leben, machen das Märchen zu einer historischen Gattung. V g l . D i e Märchen der Brüder G r i m m . Hrsg. von Heinz Rölleke. München, Zürich 1 9 8 5 . S. 2 3f. 28
V g l . Brentanos Anspielung auf den rationalistischen Geist der eigenen Zeit in >Das bittere Leiden unsers Herrn J e s u ChristiFanferlieschen< das Erinnerungsgeschehen folgendermaßen beschrieben: »Die ganze ausfuhrliche Vorgeschichte also, die Regierungszeit der Königin-Mutter, die Auffindung der Schachtel mit Fanferlieschen, die Geburt und Lebenszeit des König Laudamus — all dies wird nachgeholt, hervorgeholt aus einer versunkenen Zeitschicht, in die wir an der Hand des Erzählers hinuntersteigen müssen, bis wir wieder zu der eigentlichen Erzählebene zurückkehren können, auf der sich die wüsten Untaten Jerums, das bittere Schicksal der Bärin Ursula und das glückliche denouement abspielen sollen. Dieser bewußte und bewußt gemachte Zeitperspektivismus, der jedem echten Märchen gewiß fremd wäre, bewirkt nun, daß der am Anfang verdeckte Ursprung deutlich wird, daß wir uns in eine Vor-Zeit zurücktasten, die hinter der Vergangenheit des »Es war einmal« lebendig ist«. Diese »Vor-Zeit« ist das Reich, »wo das wahre Leben noch zu Hause ist, bevor es in die Geschichte — in des Wortes doppeltem Sinne — hinausgestoßen wird«. 2 9 Es ist aber auch die Zeit oder besser Nicht-Zeit, in der das Märchen immer schon steht, die hier im Modus des Kunstmärchens reflektiert und thematisiert wird. Die Erinnerungsarbeit als Transzendierung der historischen Situation ist dabei vorbildhafte Aufgabe des Erzählers, seine Praxis gleichsam ein Programm der Erziehung zur Geschichte. In diesem Sinne schließt der Erzähler seine Reise in die Vergangenheit mit folgenden Worten ab: »Da wären wir wieder, wo wir angefangen hatten. Jetzt wissen wir, wer Fanferlieschen etwa sein kann; wer es besser weiß, der sage es uns; wer es auf andere Art wissen will, der denke es sich selbst aus; die Gedanken sind zollfrei« (950). Hier wird kein dogmatischer Anspruch erhoben, sondern der Leser um eine eigene Version der Geschichte und Enträtselung der allegorisch-vieldeutig verschlüsselten Wahrheit ersucht. In moralisch-didaktischem Sinne bedeutet dies eine Einübung ins Vergangenheitsbewußtsein durchs Erzählen, Ausbildung des Erinnerungsvermögens und die Erweckung des Sinnes für spirituelle Bedeutungen und geistige Transparenz der ' ' O s k a r Seidlin, Brentanos Spätfassung seines Märchens vom Fanferlieschen Schönefiißchen. In: Oskar Seidlin, Klassische und moderne Klassiker. Göttingen 1972. S. 38—60. Hier: S. 42f. Im Gegensatz zum Zeitperspektivismus und zur allegorischen Struktur des Märchens steht das Phänomen der Eindimensionalität des Volksmärchens: »Dem (Volks)Märchen fehlt nicht nur das Gefühl der Kluft zwischen profaner und numinoser Welt. Es ist überhaupt und in jedem Sinne ohne Tiefengliederung. Seine Gestalten sind Figuren ohne Körperlichkeit, ohne Innenwelt, ohne Umwelt; ihnen fehlt die Beziehung zur Vorwelt und zur Nachwelt, zur Zeit überhaupt«. Max Lüthi, Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. 4. erweiterte Aufl. München 1974. S. 1 3 .
175
Dinge beim Leser. Daß es sich um ein moralisches Vermögen handelt, wird nicht zuletzt deutlich durch die Kontrastierung mit der Amorali tat Jerums, die aus der Verdrängung der Erinnerung - gleichbedeutend mit der Gottlosigkeit und Ehrfurchtslosigkeit vor dem Alter ( 9 3 1 ) - hergeleitet wird.
3 . Geistliche Arzneimittellehre Die Beantwortung der Frage des Erzählers in bezug auf Fanferlieschen: »wer auf aller Welt mag sie nur sein?« (933) wurde in der älteren Forschung mit bestem Gewissen konsequent umgangen. Das gesamte um die Gestalt des Fanferlieschen gruppierte erste Drittel des Märchens hat man aufgrund seiner scheinbar phantastischen Überschwenglichkeiten und Erweiterungen gegenüber der Frühfassung ästhetisch als »einen einzigen großen M i ß g r i f f « 3 ° verurteilt. Die Kritik entzündete sich dabei immer wieder an der angeblich absurden Disproportion eines einzigen Satzes in der Frühfassung des Märchens: »Sie legte die geliebte Ziege in ein schönes Bett und verband ihr die Wunde mit Kräutern und Wein« (387) zu dessen >ÜberarbeitungGockel-Märchen< sowie die Blumenrede am Sarg der Ahnfrau, die beide in Analogie zu den segensreichen Gartenarbeiten der Emmerick stehen. Werke III, S. 67of. u. S. 7 9 8 - 8 0 0 .
48
Brentanos zum Teil kuriose Anverwandlung der Ikonographie im Märchen durch attributive Ergänzungen, die den zeitgenössischen Horizont seiner Allegorien deutlich machen, steht in einer Entwicklungslinie, die als Säkularisierung biblischer Themen in Literatur und Kunst über einen Zeitraum von 1 5 0 Jahren von A n f a n g des 1 8 . Jahrhunderts bis Mitte des 1 9 . Jahrhunderts reicht. Friedrich Theodor Vischer hat das Problem der Ikonographie im säkularen Kontext präzise benannt, wenn er die Nazarener anspricht: » N e i n , eure Madonnen sind nicht Madonnen der alten Kirche; sie haben in den Stunden der Andacht gelesen, sie sind in einer Pension, in einer Töchterschule aufgewachsen, ein Jährchen wenigstens, ja sie trinken Tee, wenig, aber etwas. [ . . . ] Aber wie frevle ich! Das B i l d ist doch so schön! U n d ich habe doch recht; eine Madonna ist fiir uns eine Unmöglichkeit«. F. T h . Vischer, Overbecks Triumph der Religion. In: Kritische G ä n g e .
180
Entsprechend dem geistlichen Sinn erschließt sich nun Fanferlieschens Rezeptur, die das Ohr Ursulas wieder herstellen soll, als folgendes wahres Pharmakon: »Traube« und »Weizenkleie«, von einer »artige[n] weißen Ziege« und einer Gans herbeigeschleppt, sind Symbole für das lebensspendende Blut Christi und die Hostie des Lebens. Das »Olzweiglein mit Oliven«, von einer Taube gebracht, ist ein Sinnbild des Friedens. Die »Fädchen«, von einem Finkenweibchen »aus einer weißen Windel« gezupft, weisen auf die Reinigung von der Sünde (Jes. 1 , 1 8 ) . Und der Honig von »ein paar Bienen« deutet auf die »allersüßeste Frucht« (Jes. Sirach 1 1 , 3 ) (934ff.). Das Ganze wird von Fanferlieschen — nach einer rituellen Fußwaschung analog der Vorstellung vom Christus in der Kelter, einem Sinnbild für die Lehre von der Transsubstantiation 50 — in ihrem Pantöffelchen zu der »schönste[n] goldgelbe[n] Salbe« »ausgepreßt« (936) und in ihre Schürze gesammelt. U m »kurz zu sprechen«: sie machte »einen Balsam von O l , Wein und Honig, strich ihn auf Charpie und band ihn der Bärin mit einem kühlen Blatt auf das verwundete Ohr« (937). Dieses für eine Entsündigung des Geschlechtlichen zur Umkehrung der erotischen Verletzung in eine unbefleckte Empfängnis zunächst eher kurios anmutende Verfahren bedarf der Exegese und der theologischen Fundierung. In den Aufzeichnungen nach der Paris-Reise< - dies als Uberleitung - heißt es in der Parabel von den fruchtbaren Gärten der Kirche: jeglicher hatte von allem was in seiner Lage gedieh, immer aber Wasser, Oel, Balsam, Salz und Waizen und Wein die Fülle, und alle Gärten waren ein Garten und dem Nachfolger des Vaters gehorchten sie und fragten ihm um Rath [. . . ] . 5 1
Joseph Adam hat in seiner Erstveröffentlichung der Dülmer Tagebuchaufzeichnungen Brentanos dessen Auffassung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis im Zusammenhang mit der Vorstellung von der »Geschichte als Sündenfall« und vom »Wiederverband mit Gott« interpretiert. 5 2 Der Sündenfall besteht für Brentano »in der Erfahrung der Geschlechtlichkeit«. 5 3 Neugier, Erkenntnistrieb H r s g . von Robert Vischer. 2. verm. A u f l . München 1 9 2 2 . B d . V, S. 2Bitteren Leiden unsers Herrn J e s u
Christie FBA 26, S. 3 9 8 f r . 51
F B A 2 2 , i , S. 6 2 5 .
52
Joseph A d a m , Clemens Brentanos Emmerick-Erlebnis. Bindung und Abenteuer. Freiburg 1 9 5 6 . S. 2 i o f f . V g l . auch Brentanos Verarbeitung seiner Auffassung von der unbefleckten Empfängnis in den >Lehrjahren JesuHohen LiedesDon Sylvio< entnehmen können, in der die Fee Fanferlüsch in des Helden »feen-mäßi[g]« ausgestattetem »Kabinet« 1 0 0 mit dem üblichen Feenmäßigen Part betraut ist. Die Assonanz des >Fanferlieschen< an das Feenmärchen des französischen Rokoko hat schon Eichendorff in seinem Aufsatz über >Brentano und seine MärchenMärchen von Fanferlieschen< sieht er den »Gegensatz von Naturpoesie und Kunstpoesie« 104 thematisiert. In Form eines impliziten Verweises von Fanferlieschens Pantoffelregiment 105 auf die »Philinen-Pantöffelchen« im galanten Märchen des Rokoko macht Eichendorff deutlich, vor welchem literarhistorischen Hintergrund Brentano hier Kunstpoesie zum Thema macht. Die Charakteristik der Figur Fanferlieschens fällt insofern recht negativ aus. Daß Brentano über den Namen und die feenhafte Erscheinung seiner Protagonistin (bes. 932f.) an das Rokokomärchen anknüpft, kann nach meinen bisherigen Ausführungen jedoch nicht allein inhaltlich-motivisch, sondern muß vor allem im Sinne einer poetologischen Reflexion verstanden werden, die auf den Darstellungsstil des Märchens insgesamt wie auf einen entsprechenden Wahrnehmungsmodus bezogen ist. "Mathes 1978, S. I02f. Brentano besaß den 17. Band der >Bibliothek< und hat diesen vielleicht sogar den Brüdern Grimm zugänglich gemacht, die das >Mährchen von Fanfreiuschens Haupte< in ihrer ältesten Märchensammlung aufgenommen haben. In den »Kinder- und Hausmärchen< ist es nicht mit übernommen. Zum Text s. Heinz Rölleke, Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. Synopse der handschriftlichen Urfassung von 1 8 1 0 und der Erstdrucke von 1 8 1 2 . Cologny-Geneve 1975. S. I28ff. u. S. 3 6 i f f . 100
Christoph Martin Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. In: Sämmtliche Werke. Hrsg. von der »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur«. Hamburg 1984. (Hamburger Reprintausgabe). Bd. IV, S. 29f. 101 Eichendorff, Brentano und seine Märchen. In: Werke, Bd. III, S. 84. " " V g l . ebd. '°»Ebd.,S.84f. 104 Ebd., S. 85. 105 Ebd.
195
Die Gattung des Feenmärchens bildet das literarische Pendant zur Rokokoarabeske. 1 0 6 Günter Oesterle hat die Entwicklung von Ε. T. A. Hoffmanns Arabeskenkunst aus dem arabesken Darstellungsmodus der Feenmärchen stimmig nachgezeichnet. Als einzige Gattung in der Aufklärung ist es dem Feenmärchen erlaubt, ein irritatives Spiel zwischen Einbildung und Verstand, Wunderbarem und Wahrem zu fuhren. 1 0 7 In der arabesken Linie werden verschiedene Realitätsbereiche und Sinnebenen in fließenden Ubergängen aufeinander durchlässig, wobei der unwillkürliche Wechsel »vom Alltag ins Wunderbare, vom Wirklichen ins Traumhafte, vom Prosaischen ins Poetische, vom Realistischen ins Phantastische« rezeptionsästhetisch ein »Irritationsspiel« mit dem Leser impliziert. 108 Als Fee ist Fanferlieschen diesem Spiel verpflichtet. Und vor allem der krude Aufklärer König Jerum fühlt sich davon irritiert (vgl. 933). Es wird auch an anderen Stellen noch deutlich werden, daß Irritationen der sich bei Verstand glaubenden Märchenpersonen Wendepunkte in der Handlung markieren, die einer Logik des Wunderbaren zum Durchbruch verhelfen. Das Spiel mit verschiedenen Wahrnehmungslogiken in der Rokokoarabeske resp. dem Feenmärchen wird in der romantischen Arabeskentheorie fortgeführt und vertieft. Ludwig Tieck hat in seiner Novelle >Die Sommerreise< (1834) eben dies an der arabeskallegorischen Kunst Runges bewundert. Er schreibt: Ist es nicht sonderbar, daß gerade die Z e i t , die mehr Phantasie e n t w i c k e l t , als die votigen Menschenalter, zugleich im Phantastischen und W u n d e r mehr B e d e u t u n g , V e r n u n f t und äußere und innere Beziehung finden w i l l , als früher die Menschen von jenen Productionen der K ü n s t e verlangten, die doch gewissermaaßen ganz aus der Verständigkeit hervorgegangen w a r e n ? " 0 9
Die traditionelle Polarisierung von Phantasie und Verstand, die in der klassizistischen Diskussion um Allegorie und Arabeske noch einmal verstärkt wird, indem erstere in einseitiger Bestimmung aus der rhetorischen Tradition heraus auf die Versinnlichung abstrakter Begriffe reduziert wird, 1 " 3 die zweite allein als selbstgefälliges Ornament oder — wie Kant es formulierte — als »freie Schönheit«, die »für sich nicht« bedeutet, 1 1 1 erscheint, ist in Form der romantischen allegori106
Vgl. Oesterle 1 9 9 1 , S. 92. Vgl. ebd., S. 93. '° Vgl. ebd., S. 92. 107
8
109
Zitiert nach dem Abdruck in: Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. II, S. 539f. Ernst Bloch spricht hinsichtlich dieser Reduzierung von einem »klassizistischen Mißverständnis«. Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie II. Frankfurt a. M. 1964. S. 143. 1 ' ' Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983. Bd. 8, S. 3 1 0 u. S. 3 1 3 . Bei Kant ist die Polarisierung von Arabeske und Allegorie in der Unterscheidung »zweierlei Arten von Schönheit: freie Schönheit (pulchritudo vaga), oder die bloß anhängende Schönheit (pulchritudo adhaerens)« präsent. »Die erstem heißen (für sich bestehende) Schönheiten dieses oder jenes Dinges; die andere wird, als einem Begriffe anhängend (bedingte Schönheit) Objekten, die unter dem Begriffe eines besondern Zwecks stehen, 110
196
sehen Arabeske aufgehoben. Die romantische Arabeske stellt damit auch ein »Phänomen« dar, wie es Gottfried Willems ausdrückte, »das eine extreme Möglichkeit dessen bezeichnet, wie Bedeutungsstiftung und Veranschaulichung ineinandergreifen«. 1,2 Die Allegorie-Definition in der Romantik, und dort insbesondere die Friedrich Creuzers, nimmt eben dieses Wechselspiel von Phantasie und Verstand in sich auf und schreibt somit der Allegorie als Darstellungsstil und Wahrnehmungsmodus einen neuen dynamischen und offenen Charakter zu. Ich zitiere hier eine exemplarische Stelle, die, gerade indem Creuzer den Ausgang polemisch, wie ich meine — von der rhetorischen Definition nimmt, das Novum seiner Charakteristik der Allegorie verdeutlichen kann: Es liegt [. . .] etwas sehr Wahres darin, daß manche Rhetoren die Allegorie eine Durchführung oder so zu sagen, die Entfaltung eines und desselben Bildes [ . . .] nannten, denn dieses Durchfuhren und Fortleiten des Bildlichen ist ein der Allegorie angebohrner H a n g . Daher hat hier auch der combinirende W i t z und der nachdenkende Verstand sein eigentliches Feld. H i e r g i b t es Z ü g e zusammen zu lesen, und sie in gehöriger Folge mit den Merkmahlen des B e g r i f f s zu vergleichen, das Ahnliche zu verbinden, und das Unähnliche abzusondern. Hier ist mithin Freiheit, und die Spiellust der Phantasie umschwebt den Gedanken, ehe sich der G e i s t seiner bemächtigt. "
3
Als Fee, um die Ausgangsfrage aufzunehmen, als Fee mit irritativer Ausdruckskraft ist Fanferlieschen poetologische Reflexionsfigur für das märchenhafte Spiel mit den verschiedenen Wahrnehmungs- und Darstellungsmodi. Phantasie und Verstand, spielerischer Witz und Ernsthaftigkeit, ebenso das Wirkliche, Wahre und das Wunderbare verbinden sich in ihrer Person zu einer Einheit, die auch Grund für ihre Überlegenheit über einseitige Positionen wie die eines mit radikalem Freiheitspathos polternd auftretenden Jerum ist. Wenn Fanferlieschen etwas mit der »Spiellust der Phantasie« ergreift, so zeigt die Ausführung, daß das auch seinen vernünftigen Hintergrund hat. Indem sie das Ernste so »fein« als eine Fee zu sagen versteht, vermag sie mitunter mehr auszurichten als ihr Parolen schwingender Gegner Jerum. Feenhaft-weibliche Spiellust, Laune und Koketterie werden hier zu subversiven Tugenden, indem sie das Verhärtete und einseitig Dogmatische aufbrechen und in Verwirrung setzen.
beigelegt« (ebd., S. 310). Als Beispiel fur die freie Schönheit wählt Kant »Zeichnungen ä la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen, oder auf Papiertapeten usw.«, die »für sich nichts« bedeuten: »sie stellen nichts vor, kein Object unter einem bestimmten Begriffe, [ . . . ] . Man kann auch das, was man in der Musik Phantasien (ohne Thema) nennt, ja die ganze Musik ohne Text, zu derselben Art zählen« (ebd.). Bei der anhängenden Schönheit wird die sinnliche Erscheinung nach dem beurteilt, was einer »in Gedanken hat« (ebd., S. 3 1 3 ) . 112
Gottfried Willems, Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. S. 143. 113 Friedrich Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker. Zitiert nach: S0rensen 1972, S. 219.
197
5 · A u f k l ä r u n g s s t a a t , Revolution u n d Philisterwelt Den im ersten Teil des Märchens stets gegenwärtigen Erzähler, der gelegentlich auch die vielleicht abschweifende Aufmerksamkeit des Hörers resp. Lesers mit einem »Nun, gebt acht« (934) zur Konzentration zwingt, interessiert in seinen Nachforschungen brennend Geschichte und Wesen der kuriosen »Tierarzneischule« resp. des »Erziehungsinstitutes« der Jungfer Fanferlieschen (937). Dabei gerät er aber prompt an den Falschen; denn er erhofft sich entscheidende Aufklärung von einem »solide[n] Nachbar mit einer weißen Schlafhaube« (937). Der Herr Biedermeier persönlich oder die Personifizierung des Antihelden der Romantik, des Philisters, die Aufklärung im trivialsten Gewände tritt ihm denn auch gegenüber. Zunächst durchaus menschenfreundlich gesinnt, findet der »Herr Nebenmensch« zuerst auch freundliche und lobende Worte für Fanferlieschens Erziehungsinstitut und erhofft sich sogar, diese möge »bald eine öffentliche Prüfung mit ihrer Arche Noah halten« (937f.), um die »verdrehten Schullehrer« (938) des Landes zur Raison zu bringen. Auch als »hülfreicher Engel für Stadt und Land« hat er sie zu schätzen gelernt, den — wie er meint - die »betrübten Zeiten« (938) unter Jerums Regierung ins Exil getrieben haben. Uber ihre Herkunft aber weiß er nichts Bestimmtes zu sagen, außer daß »im Lande [ . . . ] schon lange die Rede« geht, »sie sei eine mediatisierte, emanzipierte, morganatische Prinzessin von Inkognito aus dem Lande Ysni« (938). Als der Erzähler aber nach den früheren Verhältnissen Fanferlieschens in Besserdich fragt, wird der Informant ernstlich verstimmt und böse angesichts der Gefahr, bei einer eigenen Stellungnahme für einen »Finsterling und Jesuiten ausgeschrieben« zu werden, der die offizielle Erklärung König Jerums, Fanferlieschen sei »eine abergläubische fanatische, mystische, phantastische, überspannte Person aus dem Stichedunkeln Mittelalter« (938), nicht auf sich beruhen läßt. Schließlich ist dem »Herrn Nebenmensch« die »unausstehliche Spionierei« zuviel, und er schlägt dem Auskunftsuchenden »die Türe vor der Nase zu« (938). Die Philistersatire, das wurde bereits in den >Wehmüllern< deutlich, dient Brentano als thematische Folie zur Darstellung spezifischer, zeitgenössisch-relevanter und politischer Argumentationsmuster. Sie erfüllt ihren Zweck nicht in der Charakterisierung der romantischen Opposition von Künstler- und Philistertum, sondern wird von Brentano im Sinne offener Diskursformationen genutzt, in die er historischen Wandlungen unterworfene gesellschaftlich-politische Themenstellungen aufnimmt. In der Philistersatire des >Fanferlieschen-Märchens< ist die Opposition Kirchengarten alias Fanferlieschens Erziehungsinstitut bzw. Waisenheim für exilierte Adelskinder versus Aufklärung und Philistertum thematische, aber auch strukturelle Argumentationsbasis. Der philiströse Nachbar vertritt einen Stand198
punkt, den Brentano in seiner religiösen Prosa als Haltung der Aufklärer und Revolutionserben gegenüber den geistlichen Vereinen und klösterlichen Kongregationen, die sich um die Armen-, Waisen- und Krankenpflege verdient gemacht haben, analysiert hat und der einer Diagnose realer kirchlicher und politischer Verhältnisse in der Restaurationszeit gleichkommt. Staat und Bürokratie stehen der Kirche durchaus distanziert und kritisch gegenüber, tolerieren und benutzen sie jedoch in ihrer Funktion als Erziehungsinstanz und für die Krankenpflege. 1 1 4 In den Aufzeichnungen nach der Paris-ReiseFanferlieschen< bildet. Der Philister lobt in weltlicher Argumentation die Erziehungsund Pflegeinstanz Fanferlieschen, verhält sich aber bei der Frage nach der Herkunft und der inneren Organisation ihres Institutes 120 unwillig und ist wohl auch unfähig zu einem tieferen Verständnis. Die weltlich reduzierte Argumentation des Philisters gegenüber den geistlichen Institutionen nimmt nicht wunder, sieht man noch einmal auf Brentanos Abstammungstheorie dieses Menschentyps, wie er sie in der Satire >Die Philister vor, in und nach der Geschichte< entwickelt hat. Der Philister, bei Brentano sogar Erbe Luzifers und damit gleichsam personifizierter Sündenfall und Engelssturz, hat sich durch Verstand, Hoffart, Eigenheit vom Quell des Lebens gelöst und kann nicht mehr auf das »A das Ursprüngliche, Ewige, den Quell« zurückkommen, weil er »das Maul so über dem B « , »das scheinbar Gegenwärtige, das Pechpflaster, das einem der Teufel über die Augen wirft, das Zeitliche, das bequem Tote, den cul de sac, wo die Welt mit Brettern vernagelt ist«, »aufgerissen« hat. 1 2 1 Der Philister im Märchen beweist seine Herkunft durch die Art seiner Beantwortung der Fragen nach den ursprünglichen Verhältnissen des Fanferlieschen. Als »eigene[m]«, autonomen Menschen ist ihm die spirituelle Grundlage ihres barmherzigen Erziehungsinstituts verschlossen, und er wagt nicht einmal spekulierend in diese Sphäre vorzudringen, aus Furcht, in den Verdacht des Aberglaubens aus »stichedunkle[m] Mittelalter« (938) zu geraten. Noch einmal sei eine Stelle aus Brentanos Aufzeichnungen nach der Paris-Reise< zitiert, wo der spirituelle Grund von Fanferüeschens Institut gleichsam Gegenstand der Beurteilung wird: Es muß also wohl die Quelle dieser Anstalten, welche Jedermann einleuchten und erfreuen aus einer Tiefe emporsteigen, die nicht jedermann einleuchtet und die meisten ärgert, ja deren man sich schämt, und gegen die man ankämpft, ja die man f ü r immer verschütten mögte. W i r finden sie aber wirklich in der sammelnden, Korporativen, organisirenden, weil lebendigen Natur der K i r c h e . 1 2 2
!JO
Die Bezeichnung »Institut« fiir die Kirche ist häufig in der katholischen Literatur anzutreffen. Friedrich Schlegel spricht ζ . B . von der » R e l i g i o n als Institut, als Kirche«. Kritische-FriedrichSchlegel-Ausgabe, B d . X X I I , S. 2 1 2 (Nr. 9 5 ) .
" " Werke II, S. 9 6 5 . " " F B A 2 2 , I , S . 616.
200
6. Fanferlieschen und Laudamus: Brentanos kirchenpolitisches Bekenntnis Noch steht die Geschichte aus, die aus der »Tiefe der Zeiten« erinnert werden und als typologisches Modell die ideale Folie zur dunklen Gegenwart bilden soll. Sie hat mit dem alten König Laudamus und den Verhältnissen unter einer vorbildlichen, weltlich-geistlichen Regierung zu tun. Als Findelkind in einer Schachtel dem designierten König Laudamus von Besserdich in die Wiege gelegt, wächst Fanferlieschen, durch eine tiefe Sympathie mit diesem verbunden, zusammen mit dem Königssohn heran. Das Motiv des Findelkindes, das sein Urbild in der Auffindung Mose in einem Kästlein hat ( 2 . M o s . 2 , 1 — 1 0 ) , 1 3 3 verweist auf eine Abkunft aus Bereichen jenseits der Erde und natürlicher Geburt wie auf eine hohe Abstammung. " 4 Fanferlieschen ist dem jungen Prinzen stets Lehrerin und Vorbild seines Handelns. Auf seinen Reisen in die Welt unterweist sie ihn mit Hilfe einer von ihr konstruierten »sympathetische[n] Uhr« (940), die spirituell dem Pulsschlag der Liebe, nicht einem mechanischen Antrieb folgt. A m schönsten aber drückt sich beider Verhältnis in der gemeinsamen Feier des Kringelbrunnenfestes 125 aus (961), das sie zu Pfingsten zusammen mit Fanferlieschens Fräuleinstift und der Ritterakademie im Sinne der ersten Gemeinde ( A p g . 2 , 3 7 f f . ) begehen. Das Fest symbolisiert die Einigkeit und Fürsorge ihrer gemeinsamen Regierungsjahre, wobei die wesentlichen Zutaten von Fanferlieschen bereitgestellt werden, während dem Kronprinzen Laudamus, der sich gleichsam als irdisch-weltlicher Pflegevater der adligen Waisenkinder versteht, die exekutive Funktion zukommt: er ist Spender der »silberne[n] Schüssel voll Hirsenmus«, streut »Zucker und Zimt«, von Fanferlieschen in ihren Pantöffelchen hergestellt, über den auf diese Weise schmackhaft gemachten Brei, von dem dann jedes Adelskind mit einem »silbernen Löffel mit dem Wappen seiner Familie« kostet (961). Der König leiht sich für seine Person als Eßbesteck Fanferlieschens Goldpantöffelchen. Das ist märchenhafter Detailrealismus, ein liebevolles Genrebild, dessen Wirkung auch dann bestehen bleibt, wenn wir den allegorischen Sinn erkennen. Das Gold der Pantöffelchen assoziiert das himmlische und heilige Licht, das über dieses Pfingstfest ausgegossen ist. Fanferlieschen vollzieht auch hier, wie schon beim Trauerfest, den Akt der Weihe und Heili123
Die Auffindung Mose gilt auch als Präfiguration Mariens und der Kirche als Arche. Vgl. Salzer 1967, S. 22.
124
Ein ein analoges Motivfeld bezeichnet Max Kommerell als »edles Blut im Exil«. Max Kommereil, Gedanken über Gedichte. Frankfurt a. M. 1956. S. 398ff. Vgl. auch das Findelkindmotiv in Arnims >KronenwächterHohen LiedesHohe Lied< als eine Ehe in der Veritas Christiana gedeutet. Sponsa und sponsus des >Hohen Liedes< stehen vorbildlich für eine heilige Haushaltung und Ehe. Darüber hinaus wird durch die Überlagerung des Literalsinns, d. i. die mechanische Bewegung der Uhr, durch den Spiritualsinn von Gottes Stundenschlag in der Zeit der Mechanismus transzendiert in eine geistliche Zeitvorstellung. Brentano verbindet diese Vorstellung mit dem romantischen Begriff des Sympathisierens, der in den philosophischen Spekulationen der romantischen Naturwissenschaft wiederum als Verbindungsmodus zwischen der mechanischen und der geistigen Welt des Allebens verwendet wird. 1 3 2 Laudamus verliert mit der Uhr also den geistlichen 129
Z u m Namen vgl. die arme Sünderin Scandalina, die mannigfaches Ärgernis gibt in Brentanos religiöser Prosaschrift >ArgernissProlusiones et paradigmata eloquentiae< ( 1 6 1 7 ) , wo von zwei Liebenden erzählt wird, welche vermittels des Magnetsteines und der Nadel miteinander verkehren, indem sie ihre Zeigertafeln über das Alphabet drehen. Streit 1 9 1 0 , S. 88 (Anm. 1). Einen interessanten Hinweis auf ein möglicherweise reales Pendant zu Fanferlieschens Uhr gibt Hans-Walter Schmidt. Der Engländer Francis Ronald hatte 1 8 1 6 der Admiralität seines Landes einen der ersten funktionierenden elektrischen Telegraphen präsentiert. Dieser bestand aus zwei synchron laufenden Uhrwerken, verbunden mit Scheiben, auf denen sich keine Ziffern, sondern die Buchstaben des Alphabets befanden. Ein elektrisches Signal wurde genau dann
203
Kontakt zur wahren Braut, kann den göttlichen Stundenschlag, der in dem »EheUhrlein« an ein verbales Gebot geknüpft ist, nicht mehr vernehmen und verspielt damit den einstigen paradiesischen Zustand der gemeinsamen Regierung in den Fängen einer sündhaften Eva. Ein dritter Fehler des Königs macht das Maß voll. In seiner jugendlichen Leidenschaft als Mitbringseljäger hat er einen »freiefn] Stiefelknecht« (941) in Besserdich eingeschleust, der für viel Unruhe und liberalistische Parolen sorgt. Dessen »nackt und barfuß« machendes Diktat als »Fußbefreier« (949) drückt der neuen Zeit ihre Signatur auf und verweist das milde »Pantoffel- und Schürzenregiment« Fanferlieschens, unter dem sich die Besserdichianer »sehr wohl befanden und nicht ächzten noch seufzten« (946), ins Exil. Jerum wütet nun im Zeichen der Freiheit im Lande, und der Adel, bisher treuer Vasall und Stütze der Monarchie, erliegt infolge einer ungesund-schnellen Assimilation an die neuen aufklärerischen Ideen einem »ganz gemeinen Schlagfluß« (948). Brentano entwirft - wobei Erinnerungsbild und Zukunftsentwurf in eins fallen — im Staat des Laudamus und Fanferlieschens sein utopisches Bild eines Idealstaates, das auch innerhalb des Märchens selbst, wie schon gezeigt, eine Funktion als typologisches Vorbild einnimmt. Im Staat des Jerum dagegen schildert er mit zahlreichen allegorischen Motiven die eigene Gegenwart und ihre Krisis, so daß sich im Märchen in aktualisierter biedermeierlicher Form das romantische triadische Geschichtsmodell wiederholt. In der Allegorie ist im wesentlichen die Frage der Suprematie von Kirche oder Staat thematisiert, die ja auch hinter der poetischen Einbeziehung des Dülmer Konflikts steht. Auf der Folie der leitenden Gedanken der politischen Restauration und des aktiven Katholizismus wird das allegorische Geflecht des Märchentextes neben den >Emmerick-Schriften< als Zeichen der Anteilnahme Brentanos an der aktuellen Diskussion um Kirche und Staat und als hintergründiges Resümee der kirchenpolitischen Ideen des Dichters erkennbar. Im Verhältnis von Laudamus und Fanferlieschen versinnbildlicht sich die konstantinische Tradition der Kirche, das Bündnis von »Thron und Altar«, wobei die Kirche als notwendige Legitimation der weltlichen Herrschaft ausgegegeben, wenn der Z e i g e r auf den zu übertragenden Buchstaben wies. (Schmidt 1 9 9 1 , S. 2 2 2 ) . Z u m Zusammenhang des Eheuhrmotivs m i t dem > Hohen Lied< sei außerdem auf Dantes >Divina commedia< verwiesen, wo es analog dieser alten Tradition im 1 0 . Gesang des >Paradiso< heißt — ich zitiere eine Übersetzung, die dieses Motiv deutlich herausarbeitet -: »Drauf gleich dem Seiger, der uns ruft zur Stunde,/Da Gottes Braut aufsteht, dem Bräutigame,/Dass er sie lieb', ihr Morgenlied zu bringen,/Da einen Theil er zieht, den andern treibet,/'Tin, tin' enthallend mit so süssem Klange,/Dass wohlgestimmt der Geist von Liebe schwellet;/Also gewahrt' ich das ruhmvolle R a d sich/Bewegen, tausend S t i m m ' um Stimm', in solchem/Accord, mit solcher Süssigkeit, wie dort nur/Man sie vernimmt, w o ewig der Genuss währt«. Dante Alighieri's Göttliche Komödie. Metr. übertr. und mit krit. und histor. Erläuterungen versehen von Philalethes. Dritter Theil. Das Paradies. Leipzig 1 8 6 8 . S. I 3 7 f .
204
zeichnet ist. Die weiteren Prinzipien der Legitimation des Königs, diejenigen der Tradition und Kontinuität, werden vor allem ex negativo bedeutet, indem sie in ihrer Diskreditierung unter Jerum zu einem Machtmißbrauch und Machtkampf fuhren. In der Folge der Jerumschen Revolution und des Liberalismus bleibt schließlich auch die Entfeudalisierung der Kirche nicht aus: Fanferlieschen verliert ihren Anteil an der Herrschaft im Staate und hört auf, traditionelle Orientierung des Adels zu sein. Von hier aus erklärt sich auch die Charakterisierung Fanferlieschens durch den Philister, der sie als »mediatisierte« Prinzessin (938) vorstellte. Die Mediatisierung der geistlichen Territorien und geistlichen Reichsstände durch die Säkularisation bedeutete das Ende der Reichskirche wie den Niedergang des katholischen Adels, der zuvor in den katholischen Ländern die fuhrende Schicht im Staate war. Die exilierten verwaisten Adelskinder bilden nach ihrer Rückverwandlung in Menschen später wieder die Basis des neuen Bundes. Ihr Zwischenzustand als Tiere steht in einer interessanten Analogie zu Brentanos Charakterisierung der Barmherzigen Schwestern in bezug auf ihre pflegende und heilende Tätigkeit an den »an der Revolution Erkrankten« im »Irrenhaus von Mareville«. 1 3 3 Dort ermöglichen sie - wie Fanferlieschen im Märchen - den Opfern der Revolution - solche sind ja auch die Adelskinder, die ihre Eltern durch deren Assimilation an die Parolen des Liberalismus verloren haben—ein menschenwürdiges Dasein, bei dem sich »gewissermaßen [ . . . ] das paradiesische Verhältniß der Herrschaft des Menschen über die Thiere« 1 3 4 wiederherstellt. Brentanos Aversion gegen den Liberalismus ist vor allem moralisch motiviert. Jerums amoralisches Verhalten manifestiert sich in seinen Gewaltakten und Mordtaten, die ritualisiert unter dem Bann eines heidnischen Dämons vollzogen werden. Die liberalistischen und revolutionären Freiheitsparolen Jerums sind durch seine Abhängigkeit von dem Götzen Pumpelirio ad absurdum geführt. Jerum, der sich frei wähnt, ist im Grunde nur Vollstrecker der perversen Gelüste des Pumpelirio, und so bekennt er in Erkenntnis seiner fatalen Lage: »Was sein soll, das muß geschehen,/Nichts kann dem Geschick entgehen;/Ach! ich möchte nicht und muß,/OI ich armer Jerumius« (987). Eine solche Satire entspricht der allgemeinen konservativ-romantischen Einschätzung des Liberalismus. Während die konservative Orientierung an der Tradition ihrem eigenen Selbstverständnis nach ein »Beharren darauf« bedeutete, »daß das konkrete Dasein mannigfach, verschieden, individuell ist«, 1 3 5 sah man in den liberalistischen Programmen eine allgemeine Unfreiheit artikuliert. Die Absicht, »alles unter allgemeine Gesetze der Natur oder der Vernunft« zu bringen, unter Prinzipien, die »im Namen 133
FBA 22,1, S. 103. Ebd. '"Nipperdey 1984, S. 315. 134
205
abstrakter Freiheit und Gleichheit« »das Besondere und Partikulare« abschaffen, galt als Auslieferung des einzelnen an die Ubermacht des Staates. 1 3 6 Eine besondere Bedeutung verbindet Brentano mit der Idealisierung des Adels. Dem hat er vor allem auch im Hühnergeschlecht des Märchens von >Gockel, Hinkel und Gackeleia< poetischen Ausdruck verliehen. Hinsichtlich der historischen Beurteilung und poetischen Darstellung des Adels im >Gockel< orientiert sich Brentano m. E. an Carl Friedrich Rumohrs vierbändigem Werk >Deutsche Denkwürdigkeiten aus alten Papieren< von 1 8 3 2 , das er hoch schätzte und für dessen Verbreitung er sorgte. 1 3 7 Rumohr, einem literarisch verkannten, kunsthistorisch und durch sein Buch >Geist der Kochkunst< profilierten Autor, geht es in seinen >Denkwürdigkeiten< u. a. um die Rechtfertigung, ja Verherrlichung der adligen Lebensform in der vorrevolutionären Epoche des 18. Jahrhunderts. Er fuhrt den Leser durch Reichsfürstentümer, Graf- und Ritterschaften in einer Zeit, als diese noch unmittelbar dem Reich unterstanden und die adlige Lebensform noch als Ausdruck eines harmonischen und wohlsituierten Gemeinwesens gelten konnte.' 3 8 Solch eine pietätvolle und rühmende Erinnerung an Zustände des Dixhuitieme lebt auch in Brentanos >Gockel-Märchen< und wird insbesondere in seinen Illustrationen zum Märchen beschworen. Der »reichsfreiherrliche Unmittelbarkeitssinn«' 39 Alektryos, Stammhahn des Grafengeschlechts derer von Gockel, wird ebenso betont wie das Glück des Adelsgeschlechts vor Einbruch der Franzosen gepriesen. Ahnlich wie im >Fanferlieschen< verwendet das Adelsgeschlecht viel Sorgfalt auf die Erhaltung des Erbes, auf Wappenfahnen und Stammbäume. 1 4 0 Als Gockel in sein Stammschloß zurückkehrt, wird ihm folgendes Sinnbild auf den Rücken geschnallt: Gockel schlüpfte mit den Armen in die Tragriemen seiner Erbhühnertrage und trug sie wie eine gothische Kirche auf dem Rücken, oben drauf saß Alektryo, neben dran war sein Grafenschwert befestigt, und im Innern befanden sich sein Stammbaum, Grafenbrief, Taufschein, [. . . ] . 1 4 1 ' if'Ebd.
' " V g l . U L , S. 5 0 8 .
• » " V g l . Gert Schiff, Carl Friedrich Rumohrs »Deutsche Denkwürdigkeiten«. In: K u n s t um 1 8 0 0 und die Folgen. Werner H o f f m a n n zu Ehren. H r s g . von Christian Beutler, Peter-Klaus Schuster und Martin Warnke. München 1 9 8 8 . S. 2 0 0 — 2 0 6 . 139
Werke III, S. 6 3 5 .
140
In dem Fragment einer >Erzählung aus der französischen R e v o l u t i o n (früher: >Der arme RaimondinGockel< stellen der Adel, im >Fanferlieschen< die Kirche als allegorisierte Figuren die Hauptträger der Handlung. Beide betreiben die Restauration der ursprünglichen Einheit aus einer geschichtlich bedingten desolaten Verfassung der Gegenwart heraus. 142 Sowohl die religiöse wie die staatlich/adlige Fundierung ist jeweiliger Garant des Gelingens im Sinne der Idee kirchenpolitischer Einheit von geistlichem und weltlichem Reich. Die erinnerte Erzählung von der ehemaligen glücklichen Verbindung des Fanferlieschen mit Laudamus ist typologisches Vorbild des neuen Bundes zwischen Ursulus und Fräulein Neuntöter am Ende des Märchens. Brentanos erzählerischer Gang in die Zeitentiefe läßt damit den »großartigen Zusammenhang ahnen«, »daß die heiligende Vorwelt, die entheiligende Mitwelt und die richtende Nachwelt sich [ . . . ] als ein [märchenhaftes; Β . K . ] und zugleich allegorisches Drama nach den [verschiedensten; Β . K . ] Motiven« abspielen werden, wie Brentano es analog im >Lebensumriß der Emmerick< — hier paraphrasiert für den Kontext des Märchens — als Verhältnis von innerem und äußerem Leben der Nonne dargestellt hat. 1 4 3 Die durch die Gewaltsamkeit der Regentschaft Jerums gekennzeichnete Geschichte ist im heilsgeschichtlichen Nexus Zwischenreich zwischen Urbild und Erfüllung, in das hinein die neue »Christusgeburt«, die Geburt des Ursulus, als Initiale des neuen Bundes geschieht. Dem heilsgeschichtlichen Geschehen entspricht die heilszeitliche Strukturierung des Märchens, insofern der Erinnerungstag, an dem des typologischen Vorbilds, des idealen Königs Laudamus und seiner Regentschaft, der idealiter Fanferlieschen als die 142
Im Kontext romantisch-restaurativer Geschichtsphilosophie ist die Votstellung vom Adel als Traget von Moral und Traditionsbewußtsein KristallTsationspunkt einer praktisch zweifellos fiktiven Politik, die — in der Wertung Klaus Peters - »im Widerspruch zur Gegenwart und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft, [ . . . ] ihre Maßstäbe mehr und mehr aus der Vergangenheit« bezog. »Aus der Vergangenheit freilich nicht, wie sie war, sondern, wie die >Erinnerung< sie aufbewahrt, als Nie-Gegenwart, als das immer schon Vergangene und damit ganz und gar Irreale«. (Klaus Peter, Adel und Revolution als Thema der Romantik. In: Legitimationskrise des deutschen Adels (1200—1900). Hrsg. von Peter Uwe Hohendahl und Paul Michael Lützeler. Stuttgart 1979. S. 197 — 2 1 7 . Hier: S. 205.). Für Friedrich Schlegel ist der »hohe Beruf des Adels« »den Kampf des Zeitalters siegreich« zu bestehen. (Friedrich Schlegel, Studien zur Geschichte und Politik. In: Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. VII, S. 407). Die erinnernde Rückkehr zur Verfassung des Feudalabsolutismus geschieht, um die Erschütterungen der eigenen Zeit, die im revolutionären Schwindel apokalyptische Züge trägt, durch die Rückbindung an christlich begründete sittliche Normen zu überwinden. Der Adel gilt Schlegel als der Repräsentant der »in Gott fest bleibenden, und in ihr fortwachsenden Freiheit«. (Vgl. Hannelore und Heinz Schlaffer, Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie der Restauration. In: Hannelore und Heinz Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt a. M. 1979. S. 48 — 54. Hier: S. 49).
143
FBA 26, S. 34.
207
geistliche Königin zugeordnet war, gedacht wird, auch Beginn einer neuen-alten Ära ist. Das typologische Denken bewahrt derart vor dem Fall ins Vergessen. Fanferlieschen erklärt Jerum an diesem Tag für abgesetzt und richtet in Besserdich alles nach altem Herkommen wieder ein. Dazu gehört konsequenterweise die Rehabilitation des exilierten Bestiariums, die Erlösung der adligen Waisenkinder zum menschlichen Geschlecht, so daß in den Wappenfahnen wieder die Tierbilder anstelle der Abbilder der menschlichen Gestalten erscheinen. Ist Jerum politisch unter anderem mit der Revolution gleichzusetzen, so bedeutet letzterer Vorgang die konservative Revolution, die von der geistlichen Macht, der Kirche, ausgeht. Im Zuge dieser Umwälzung erfolgt die Initiation des neuen Heilsgeschehens mit dem Ziele der Bekehrung und »Besserung« des teuflischen Königs: der Märtyrerauftrag, die Sendung Ursulas zu Jerum. Dies ist der heils-historische Beginn eines Geschehens, das zur Überwindung der »Zwischenzeit«, zur Erfüllung der Geschichte, zur Gnade des neuen-alten Bundes führen wird. Nach diesem Einschnitt, der Proklamation und Einsetzung der alten-neuen Ordnung, führt der bisher persönlich auftretende Erzähler, der sich in seinem Amt als geistlicher Führer zur Erhellung der allegorischen Tiefenschicht der Dinge pädagogisch bewährt hat, eine gelassene Regie aus dem Off. Der Schritt aus der historischen Zeit in die Nicht-Zeit des Märchens ist getan, die allegorische Perspektive verbindlich und verpflichtend gemacht; alles weitere Erzählen geschieht in der Objektivität des Märchens, das der personalen Lenkung nicht mehr bedarf. Ist der heilsgeschichtliche/allegorische Zusammenhang einmal aufgedeckt, so setzt er sich wie von selbst in der Objektivität des Märchenvorgangs durch. Daß diese Objektivität mit höchst artistischer Raffinesse hergestellt wird, ist noch einmal zu betonen. Ein doppelter Rekurs, auf die Phänomenologie des Volksmärchens wie auf die Verschlingung von Oberflächen- und Tiefenstruktur der allegorischen Arabeske, vermag Brentanos Kalkül in der Einrichtung dessen, was man ein Märchen zu nennen gewohnt ist, zu verdeutlichen und zudem eine weitere Begründung dafür zu geben, warum man angesichts Brentanoscher Spätmärchen besser von (märchenhaften) Arabeskenromanen sprechen sollte. Kennzeichen des Volksmärchens ist es, »Inhalte der verschiedensten Bereiche auf ein und dieselbe Fläche zu projizieren«, »das Ineinander und Nacheinander in ein[em] Nebeneinander« darzustellen. 144 Dieses eindimensionale Erzählgesetz des Volksmärchens wird von Brentano nach einem Durchgang durch den Perspektivismus eines personalen Erzählers, der bis zur Zusammenführung von Märchen und Allegorie, geschichtlicher und heilgeschichtlicher Zeit in einer geeinten Perspektive als hermeneutische Leitfigur fungierte, künstlich hervorgerufen und installiert, so daß Märchen und Allegorie, in einem gleichsam transsubjektiven M4
L ü t h i 1 9 7 4 , S. 2 3 .
208
Beziehungsgeflecht verknüpft, sich gegenseitig befördern und erklären. Für die künstliche Einrichtung einer scheinbar eindimensionalen Erzählwelt, in der sich Wirkliches und Wunderbares, Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches zur Dignität einer anderen Ordnung fugen, hat das Volksmärchen Vorbildfunktion. In seiner flächigen Erzählwelt liefert es ein naturpoetisch-naives Orientierungsmuster 145 hinsichtlich der Zusammenfügung von Oberflächen- und Tiefenstruktur, wie sie dann von der Arabeske als Kunstform intendiert ist, wo — im >Sänger< wird dies ebenfalls an einer »Naturform«, der des Baumes expliziert - »die ganze Fläche [ . . . ] zum Genüsse geschaffen« erscheint und »ihre Oberfläche« zugleich »ihre Tiefe« bedeutet. 1 4 6 Friedrich Schlegel fordert von der »fortgehendefn] Tätigkeit des poetischen Geistes« 147 eine Verdoppelung, Erhöhung und Poetisierung der Poesie des Märchens, das er der Arabeske zuordnet. 1 4 8 Den Prozeß der Poetisierung qualifiziert er als einen ebenso philosophischen wie poetischen Akt, in dem der Allegorie als Darstellungsform eine einheitsstiftende Funktion zugeschrieben wird: Ja, indem nicht unwillkürliche Dichtung, Fabeln, Sagen, sondern absichtliche Sinnbilder oder willkürliche Umerdichtung hier das Hinzugefugte sind, hat die Philosophie den größten Anteil. Jenes Umdichten des Poetischen läßt sich nur durch Allegorie bewerkstelligen, insofern jene Allegorie eine willkürliche, systematisch zusammenhängende ist, hat die Philosophie den größten Anteil daran; das Märchen soll also philosophisch sein, obschon das, was herauskommt, poetisch ist. 1 4 9
Als Poesie der Poesie entspricht das allegorische Märchen der allegorischen Arabeskenkunst, von der Görres sagt, sie sei »in wahrhaft progressivem Geist gedacht«. 150 Brentanos Vorstellung von einer Restauration des Märchens, die er gegen die philologische Treue der Grimms anfuhrt, geht ebenfalls vom Primat der variierenden, fortdichtenden Phantasie aus, 151 die auf künstlerischer Ebene an das Gegebene anknüpft und es in neuer Form' 5 a sich zubildet. 1 5 3 145
Z u Brentanos Auffassung der N a t u r des Märchens vgl. Frühwald 1 9 6 2 , S. I 4 3 f f .
146
F B A 1 9 , S. 59.
147
Z i t i e r t nach: K a r l Konrad Polheim, Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik. München, Paderborn, W i e n 1 9 6 6 . S. 260 (Anm. 27).
'""Vgl. ebd.,S. 257ff. ' « Z i t i e r t e b d . , S. 2 6 0 (Anm. 27). 150
Rezension zur Runges >TageszeitenMärchen von Fanferlieschen Schönefiißchen< manifestiert sich dies im Anbilden an objektive Symbolik, in poetischhermeneutischer Explikation gegebener Tradition. Diese Wieder-Holung im Sinne des erinnernden Nachsprechens garantiert dem Ich, mehr als nur von heute und mehr als nur durch sich selbst zu sein. 1 " Brentano kritisiert die philologische Treue der Grimms bei der Märchenbearbeitung folgendermaßen: » W i l l man ein Kinderkleid zeigen, so kann man es mit aller Treue, ohne eines vorzuzeigen, an dem alle Knöpfe heruntergerissen, das mit Dreck beschmiert ist, und wo das Hemd den Hosen heraushängt. Wollten die frommen Herausgeber sich selbst genug tun, so müßten sie bei jeder Geschichte eine psychologische Biographie des Kinds oder des alten Weibs, das die Geschichte so oder so schlecht erzählte, voransetzen. Ich könnte ζ. B. wohl zwanzig der besten aus diesen Geschichten auch getreu und zwar viel besser oder auf ganz andere Art schlecht erzählen, wie ich sie hier in Böhmen gehört [ . . . ] « . An Arnim, Frühjahr 1813. (Seebaß II, S. 87f.). Joseph Görres leitet aus den Rungeschen Arabesken seine Vorstellung von der romantischen Kunst ab, in der die Behandlung des Alten ähnlich der Vorstellung vom phantastischen Weiterdichten und Umdichten der Märchen durch Brentano charakterisiert ist und eine Restauration des Vergangenen ähnlich der Brentanoschen Kritik an der philologischen Treue der Grimms — abgelehnt wird. In der Rezension zu Runges >Tageszeiten< heißt es: »Und was hat denn diese Zeit, das ihr eigen wäre, in dem sie bilden könnte? Ihre Höhe ist ihr eigen; ihre freye Allgemeinheit, der Blick über eine weite Vergangenheit, die vergeistigte Ansicht aller Dinge, die Durchsichtigkeit des Lebens für sich selbst, und die Macht des Gemeinbegriffes, den keine starre Besonderheit mehr bindet. So bilde sie denn in dem Medium, in dem sie athmet. Den scharfen Schnitt des Alterthums hat sie verloren, und die fromme Einfalt der Mittelzeit; sie ehre das alles als schöne, historische Monumente, aber wo sie gestalten will, bilde sie in dem eignen Geiste, damit sie nicht in leeren Bestrebungen verrauche, und nicht Hütten-Trümmer von Backsteinen, Großthaten in Gyps, als eignes Denkmal, ein Spott der Nachwelt hinterlasse«. In: Runge, Hinterlassene Schriften, Bd. II, S. 524. 1 5 4 Oskar
210
Seidlin, Brentanos Heraldik. In: Brentano-Kolloquium 1980. S. 349 — 358. Hier: S. 355.
fur Brentanos Kunstfertigkeit, Märchen-Realebene und Allegorie zugleich zu gestalten. Oskar Seidlin hat auf die enge Verbindung der Erzählstruktur des Märchens mit diesem Verwandlungsakt Fanferlieschens hingewiesen, den er, da er mittels der Wappen geschieht, als »heraldischen Vollzug« bezeichnet, wobei Brentano jeweils dem »Ineinandergreifen der Zeiten« »nachgespürt« hat, »im Erzählerischen als Märchen, im Bild als Heraldik«. 1 5 5 Heraldik ist zu verstehen als »eine bildliche Darstellung, die in emblematischer Form eine Familie, eine Gemeinschaft oder den Sitz einer solchen Gemeinschaft identifiziert, indem sie in visueller Sprache den Ursprung und die Quelle festhält, aus der sie hervorgegangen [ . . . ] . Aber es ist ebenso die Projektion ins Zukünftige, indem es die Fäden, die das Gewirk unserer Gegenwart ausmachen, einsammelt und für die Kommenden bewahrt. Darum wird es uns nicht erstaunen, daß heraldischer Entwurf und Hochzeit eng miteinander verknüpft sind, denn die eheliche Vereinigung ist die hohe Zeit, die Scheitelhöhe, auf die hin alles Vergangene sich zubewegt, und indem es momentane Gegenwart wird, den Ausblick öffnet in die Z u k u n f t « . 1 5 6 In Fanferlieschens »blitzschnellefm] Austausch von heraldischer Figur und dem Lebewesen, das in dieser Figur porträtiert ist«, 1 5 7 gerinnt die erzählstrukturelle Zeitverschachtelung zu einer momenthaften Präsenz. Das Frühere ist in die Zeit eingeholt, indem die Identität der Zöglinge wiederhergestellt ist. Es ist eine »hohe Zeit«, da die Verwandlung den Initialakt zum neuen-alten Bund am Schluß des Märchens und zum glücklichen Märchenende darstellt. Die rettende »Arche« Fanferlieschens hat sich damit als Verwahrung und Rettung des neuen Geschlechts bewährt, und ihre Schürze, die »als Fahne« geschwenkt (970) den Auftakt zur Verwandlung anzeigt, ist Mutterschoß, dem das neue Leben entspringt.
158
Der bedeutsame Sinn des Zeichens, hier in der speziellen Form des Wappens, bei diesem Vorgang ist evident. Es steht, solange man ihm vertraut, wie ein unverrückbares Leitbild jenseits der geschichtlichen Veränderung, indem es die zeitlichen Dimensionen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gültig zusammenfaßt. Die Scheitelhöhe, die Seidlin heilsgeschichtlich konnotiert, hat ihr sprachtheologisches Pendant in der im mittelalterlichen Sinne »realistischen« Verbindung von Name und Ding, Bild und Abbild, so daß Name und Bild nicht "'Ebd. 156 E b d . , S. 352 u. S. 357. " " E b d . , S. 355. 158
Aus der typologischen Beziehung von Arche und Kirche entfalteten die Kirchenväter die Dogmatik vom Mutterschoß der Kirche. Die Arche/Kirche ist mütterlicher Schoß, aus dem die von der Sintflut in der Taufe Geretteten als Kinder eines neuen Geschlechts hervorgehen. In der mittelalterlichen Hymnenpoesie bedeutet die Arche den Mutterschoß der heiligen Jungfrau, die in Christus das neue Leben gebiert. Vgl. Rahner 1964, S. 5 3 1 u. S. 546.; Salzer 1967, S. 5.
211
bloße Verweisungen sind, sondern ihre geheime Identität mit dem D i n g und A b b i l d bewahren. Heraldik ist ein » M e d i u m « , »das diesen Tatbestand verdeutlichen k a n n « . 1 5 9 Eine magisch-»realistische« Verbindung von N a m e und Wesen wird insbesondere der Funktion des Eigennamens eingeschrieben. In einem Brief von J u l i / A u g u s t 1 8 3 4 schreibt Brentano an Emilie Linder: ich habe eine Scheu vor den Nahmen. Der Nähme ist die ganze Macht und Ohnmacht des Menschen. Es gab schmerzvolle Zeit in meinem Leben, wo mir das Herz zu brechen drohte, wenn man meinen Nahmen nennte. Der Nähme eines heiligen, vollendeten Menschen ist heilend und heiligend auszusprechen, er ist ein individueller Ausschnitt mit bestimmter Kraft gesättiget und befruchtet aus dem allerheiligsten Nahmen, in welchem sie beugen alle Kniee über und unter der Erde. Der Nähme eines unvollendeten, gefährdenden und gefährdeten Wesens, ist aber um so sorglicher auszusprechen, als es eine Gewalt aus der Natur, die gefallen ist, aus sich selbst, die nicht hergestellt ist, auf uns, die eben nicht besser sind, ausübt. — Möge Gott einst alle Nahmen ins Buch des Lebens schreiben! 1
0
Seidlin begeht den Flüchtigkeitsfehler, daß er die gemäß dem mittelalterlichen Universalienstreit »realistische« Position dem Nominalismus zuschreibt, 1 6 1 der in Wahrheit in konträrer Auffassung den N a m e n als »flatus vocis« begreift, als einen durch Ubereinkunft und Konvention geregelten Bezug zwischen W o r t und D i n g . 1 0 2 A u c h diese Sprachauffassung ist bei Brentano thematisiert. In Zeiten sogenannter Inspirationskrisen und der Kritik an der Kunst als einem künstlichen 1,9
S e i d l i n 1 9 8 0 , S. 3 5 4 .
l6o
L i n d e r - B r i e f e , S. 2 6 . In diesen Zusammenhang gehört auch Brentanos Selbstbezeichnung als Pilger und Schreiber in den Dülmer Jahren; sie enthält eine Absage an den eigenen N a m e n mit dem Z i e l , in ein Kollektiv einzutauchen, sich der »Gemeinschaft der H e i l i g e n « zu assimilieren und ihren nicht-identifikatorischen allgemeinen Namen zu fuhren. Aus Brentanos Pseudonym und H a g i o n y m »Maria«, das er aus seinem zweiten Vornamen bildet, spricht der Wunsch, so Gabriele Brandstetter, »daß der Eigenname, der gewissermaßen zur individuellen, erlösungsbedürftigen » N a t u r « des Menschen gehört, geheiligt (gemäß der Bitte aus d e m »Vaterunser«: »geheiligt werde dein N a m e « ) und damit zum Hagionym der Reinheit und der Liebe erhoben w i r d « . Brandstetter 1 9 8 6 , S. 27. Aber nicht die Bitte aus dem »Vaterunser«, sondern vielmehr die Taufe im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, weist, in R ü c k g r i f f auf J e s . 4 3 , 1 - » S o spricht der Herr, der dich geschaffen hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinen N a m e n gerufen; du bist mein« —, auf die besondere Bedeutung des Eigennamens und des Namenswechsels bei Brentano. Die Aufnahme des im Taufsakrament »benannten« Individuums in die »Gemeinschaft der Heiligen« wird im Initiationsritus des Mönchstums (die Ersetzung des weltlichen Namens durch einen N a m e n aus der »Gemeinschaft der Heiligen«) wiederholt. Z u Brentanos Ubergabe des Eigennamens an die Geliebte v g l . K a p . 1 . 1 . dieser Arbeit; zu seinem Pseudonym »Benone« vgl. K a p . IV. 1 2 .
161
V g l . Seidlin 1 9 8 0 , S. 3 5 4 .
l6a
Exemplarisch ist die nominalistische Position bereits in Piatons >Kratylos< vertreten. Hermogenes glaubt nicht, »daß es eine andere Richtigkeit der Worte g i b t , als die sich auf Vertrag und Ubereinkunft gründet. Denn [ . . . ] [ihm] dünkt, welchen Namen jemand einem D i n g beilegt, der ist auch der rechte, und wenn man wieder einen anderen an die Stelle setzt und jenen nicht mehr gebraucht, so ist der letzte nicht minder richtig als der zuerst beigelegte [ . . . ] . Denn kein N a m e irgendeines Dinges gehört ihm von N a t u r , sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer,
212
und
lügnerischen
S u r r o g a t äußert er eine u m f a s s e n d e S p r a c h s k e p s i s . 1 6 3
So
schreibt er i m J a n u a r 1 8 1 3 in e i n e m nicht a b g e s c h i c k t e n B r i e f an E . T . A . H o f f mann: ich bin leider so alt, daß mir die Worte nicht als rechtmäßige Bewohner, sondern als Mäuse, Raubtiere, Diebe, Buhler, Flüchtende und dergleichen mit meinen Empfindungen aus dem Maule laufen; [. . . ] ich habe die tiefe Uberzeugung, daß dem Gaukler, schüttelte er auch die göttlichsten Gaben aus dem Zauberbecher, es dennoch mit dem Geben nicht ganz Ernst ist; es macht ihm Lust, den Hungernden mit Manna totzuschlagen, und die Schwalbe des Tobias ist unschuldiger als er. Fromme Eltern, alte Diener mahnen die Kinder oft, nicht so mit dem lieben Brot zu spielen; [. · .] und als es zuerst aufkam, sich mit Brotkugeln nach Tisch zu werfen, trat eine Hungersnot ein. [. . . ] Uber das liebe Brot ließe sich etwas ungemein Frommes und Wirkliches schreiben, über das Wort auch. Die Mythe jener Hungersnot, wenn man mit Brotkugeln schießt, werden Sie gewiß bei dem Wort auch finden. Die witzigen, gaukelnden, sogenannten Humoristen treten immer in der Literatur ein vor der Hungersnot. Es ist das Henkersmahl, der letzte Schmaus des verlorenen Sohnes [. . . ] . 1 6 4 D i e Sprache der K u n s t ist negativer A u s d r u c k d a f ü r , » d a ß w i r in k e i n e m Paradiese w o h n e n « , w i e B r e n t a n o an V a r n h a g e n schreibt, » s o n d e r n a m b a b y l o n i s c h e n T u r m e b a u e n « . 1 6 5 In der V e r s e l b s t ä n d i g u n g u n d V e r v i e l f ä l t i g u n g der Sprache verlieren die D i n g e ihre E i n d e u t i g k e i t u n d S e l b s t h e i t , d i e M ö g l i c h k e i t ihres W e s e n s a u s d r u c k s . D i e E r f a h r u n g ihrer Selbstheit ist d a n n n u r noch i m s t u m m e n Z u g a n g , i m noli m e tangere der Sprache m ö g l i c h . In dieser E i n s i c h t schreibt B r e n t a n o a m 3 . J u l i 1 8 2 6 an J o h a n n F r i e d r i c h B ö h m e r : Wer nur einen Moment des Lebens, nur das kleinste Fragment der Natur, ich will nicht sagen, versteht, nein, nur ruhig stehen läßt und vorübergehend anschaut, ohne daran zu zerren, zu modellieren, zu metamorphosieren: der findet eine so unendliche, tiefe, hohe und doch naive, einfältige Würde und Bedeutung in jeder Realität ohne übrige Deutung, daß für das Empfangen nur Dank und für das Besitzen nur Opfer übrig bleibt, um es zu würdigen. Aller übrige Umgang mit den Dingen, der sie dreht und wendet und färbt und schmückt und überdestilliert, was die Poesie besonders will, ist am Ende nur ein Götzendienst, der durch seine Spiritualität um so gefährlicher i s t . 1 6 6 welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen«. Piaton, Kratylos. In: Sämtliche Werke. H a m b u r g 1 9 6 2 . B d . 2, S. 1 2 7 . 163
V g l . Frühwald 1 9 6 2 , S. i 8 i f f .
,Ich furcht mich so vor der Menschen WortBarmherzigen Schwestern< gehören in diesen Zusammenhang. 167
3. J u n i 1 8 2 6 . Joseph Görres, Gesammelte Briefe. H r s g . von Franz Binder. München
1874.
B d . I I I : Freundesbriefe ( 1 8 2 2 — 1845). S. 2 5 4 . 168
Gabriele Brandstetters Übertragung der Transsubstantiationsidee auf die Poetik Brentanos scheint mir insofern problematisch, als die legitimierende Funktion des Ritus ausgeklammert ist, aus dem der Zeichenwert resultiert. V g l . Brandstetter 1 9 8 6 , S. 2 i 8 f f . Die Vorstellung einer Sprache, die »die Qualität der eucharistischen Verwandlungsbeziehung von Brot und Wein in die »Substanz« von Fleisch und B l u t « annimmt (ebd. S. 2 3 7 ) , steht im Diffusionsraum des Metaphorischen, wiederholt ein Wunschbild Brentanos, trägt aber zur Erkenntnis der konkreten Zeichen- und Textstruktur wenig bei.
214
Transsubstantiationslehre ist, wird durch das Schwenken der Fahnen der Segen der Gabe des Leibes veranschaulicht. An die Fronleichnamsprozession erinnert auch die gleichsam als Monstranz getragene »gläserne Bienenkorbportechaise«(958), in der die verwundete Bärin den Zug in die Kirche begleitet. Brentano kontaminiert hier die Symbolik von Maria als dem »Glas in der Monstranze, innerhalb dessen Gott verborgen war«, 1 6 9 mit dem Sinnbild der Biene als einem Zeichen der Jungfräulichkeit Mariens. 1 7 0 Fronleichnam, an dem sich alle Stände zum christlichen Fest vereinen, bildet die Grundlage für die staatssymbolische Bedeutung dieses Trauertages im Märchen, der auch Gedenktag an den ehemaligen König Laudamus ist. Eine analoge Verbindung von Totenfeier und Staatsfest hat Brentano in den >Romanzen vom Rosenkranz< gestaltet. Dort wird Rosarose auf einem umgebauten Staats- und Triumphwagen zu Grabe getragen. Ihr Begräbnis bewirkt eine zeitweilige Versöhnung der streitenden, den Frieden und die Einheit des Staates unterminierenden Parteien. Der Wagen »Als des Staates Bundeslade,/Als Symbol der Bürgerehre,/Als der Thron des Zorns, der Gnade [ . . . ] « 1 7 1 symbolisiert die Einheit von Staat und Kirche. Auch die Besserdichianer unseres Märchens vereinen sich zum Fest und stimmen »vaterländische Lieder« (971) an. Brentano spielt in beiden Dichtungen auf eine seit der konstantinischen Wende den christlichen Gottesdiensten und Festen zugewiesene Funktion an, die diesen neue Züge verliehen. Als offizieller Kultus des Reiches hatten sie dessen Bestand, Wohl und Einheit zu erbitten und zu garantieren; eine Einheit von Staat und Kirche, die im Märchen auch im Ausruf der Bevölkerung »Oramus Laudamus« (971) - der Kontamination christlicher Demut mit der Liebe zum König und in dem die Zeremonie beschließenden Fußkuß zum Ausdruck kommt. Der Höhepunkt des Festes ist eine prächtige Inszenierung der Trauerfeierlichkeit, bei der Brentano aus dem Fundus der Volksfrömmigkeit, wie sie sich in Leichenzügen präsentiert und im Aberglauben manifestiert hat, schöpft. Einige hervorragende Motive sollen hier erklärt werden. Da tritt ζ. B . ein altes Weib mit einer blauen Schürze auf, »ohne welche keine Prozession möglich ist« (959). Brentano übernimmt diese Figur aus Sagen in Tirol und der Oberpfalz, wie sie bis heute lebendig sind. Die Hirsche mit ihrem zitronenbestückten Geweih (956) symbolisieren die Auferstehung, was durch die ihnen aufgesteckten Früchte, die nach einer abergläubischen Vorstellung als Lebensfrüchte 172 gelten, verstärkt 169 ,7
Salzer 1 9 6 7 , S. 90. Eines der häufigsten nicht-biblischen Bilder fur die unbefleckte Empfängnis.
° S c h o n im Altertum wird die Biene als heiliges Tier verehrt. In der deutschen und lateinischen Literatur des Mittelalters wird sie Symbol der Parthenogenese der Gottesmutter; dies wegen ihrer angeblich ungeschlechtlichen Fortpflanzung. V g l . Handbuch der Marienkunde 1 9 8 4 , S. 9 5 2 .
171 172
Werke I, S. 9 7 0 . V g l . H D A , B d . 5 , Sp. 1 1 3 9 . Brentanos Bild von den Hirschen, die ergänzend zu den Zitronen ihr Geweih mit »goldene(n) Kränzchen und L i c h t e r n ) [ . . . ] , daß es wie ein Weihnachtsbaum aussah« (956), schmücken, basiert auf der patristischen Symboltheologie des Hirschen. Die Kirchenväter
215
wird. Ihre exzeptionelle Stellung innerhalb der Prozession - sie führen die anderen Tiere an — könnte im Zusammenhang mit einer bestimmten Quelle Brentanos stehen. In seiner Bibliothek findet sich das Buch >Thaumatographia Theriotrophei Sacri: Das ist: Wunder=Beschreibung des Heiligen Thier-Garten/Absonderlich der HirschenTrutznachtigallEmmerick-Schriften< zu finden ist und von Wolfgang Frühwald in einen Zusammenhang mit der »Aufbruchsbewegung des deutschen Katholizismus« gestellt wurde, »in der kirchliches Brauchtum - Wallfahrt, Andachtsübung, geistliches Spiel, Sakramentalienpflege etc. - wiederentdeckt wurden, in der sich die neue Pastoral und die zugehörigen Frömmigkeitsbewegungen bewährten«.
176
Die gesamte Inszenierung aber ist Fundament wie symbolischer Wegweiser zu dem entscheidenden Ereignis: der in Fanferlieschens Verwandlungsakt bedeuteten Idee von derTranssubstantiation, durch die nicht nur das exilierte Bestiarium geheiligt wird, sondern, wie im folgenden gezeigt werden soll, in der eine grundsätzliche Neubegründung und religiöse Legitimierung der Poesie eingeschlossen ist.
übernehmen das aus dem >Physiologus< stammende Gleichnis vom Hirschen (=Chriscus), der den großen Drachen, den Teufel, tötet, und geben es weiter: Christus ist der »größte Hirsch der Welt« mit goldenem Geweih, der leuchtet oder Lichter auf dem Geweih trägt; er erscheint an heiligen Tagen. Ebd., Bd. 4, Sp. g6{. Vgl. Der Physiologus, S. 4$f. (Nr. 30). 173
. . . Z u Lob des Schöpfers/Und heilsamer Ergetzung der Geschöpften; Mit raren Historien und seltsamen Begebenheiten außstaffieret/Und zweyen Registern versehen/Durch Matthaeum Brandl. Ausgburg 1692. Katalog der Bibliotheken II (1853), Nr. 3462.
174
E b d . , S. 259fr. Vgl. Gerhard Schaub, Die Spee-Rezeption Clemens Brentanos. In: Litwiss. J b . N . F. 1 3 , 1 9 7 2 . S. 1 5 1 —179. Hier: S. 177. 176 Wolfgang Frühwald, Die Emmerick-Schriften Clemens Brentanos. Ein Versuch zur Bestimmung von Anlaß und literarischer Intention. In: Emmerick und Brentano 1982. S. 13 — 33. Hier: S. 29. 175
216
8 . D i e L e g i t i m i e r u n g der Poesie im G n a d e n a k t : Fanferlieschens Trauerblumenlied Der Märchentext enthält eine autobiographische Rückschau, die sich aus dem Motiv der Kunst-Blume entwickelt. Bei der Vorbereitung zum Trauerfest macht Fanferlieschen das Herbeizaubern der »Flitterblumen«, die die Trauergemeinde zieren sollen, besondere Mühe. Erst nach einer langen Litanei gelingt es ihr, die künstlichen Blumen aus ihrer Schürze zu schütteln. Brentano hat im Trauerblumenlied Fanferlieschens in Retrospektive auf sein nominalistisches Kunst- und Sprachverständnis die Legitimierung der Poesie aus dem Gnadenschatz der Kirche, ihre sakramentale Heiligung dargestellt. Die Namen werden hier Thema. Fanferlieschens akzentuierte Suche nach dem Namen der für den Trauerakt gewünschten Blumen - mit dem Namen sind jene zugleich da, so wie alles, was sie beim rechten Namen nennt, alsbald aus ihrer Schürze fällt - wird im Gedicht poetisch als Abfolge der Stationen der Dichterexistenz gestaltet. Es sind dies Stationen einer in der Sprache und im Wirklichen Halt suchenden Existenz. »[L]ange vergeblich« (952) ist das Mühen um den rechten Namen, so daß sie über den vielen »Worten ganz tiefsinnig« (953) wird. In monotoner Reihung, die sich lautlich in den o- und u-Lauten und dem Reimschema aa/bb spiegelt, werden im ersten Teil des Liedes die Themen des Todes, der Einsamkeit und Verlassenheit durchlaufen, für die als höchster Ausdruck das Bild Jesu am Kreuz steht. Gleichsam in Rückbesinnung auf das Anliegen dieser Worterinnerungen klärt sich noch einmal die Düsternis der Bilder. Ein kurzes Idyll wird entworfen, das aber gleich als Wunschbild desavouiert wird: dort sind Trauerblumen nicht zu finden, denn die »sind so frostig,/Traurig, modrig, schimmlig, rostig, [ . . . ] « (952). Nach diesem Zwischenaufenthalt begibt sich Fanferlieschen (resp. das lyrische Ich) in den Bereich, dem die gesuchten Blumen zugeordnet sind. Dieser ist jedoch kein realer Ort mehr, auch nicht Grab oder Kreuz, sondern die Verzweiflung, die in einem Sprachrausch, einer Wortflut ohne Atempause artikuliert wird. Expressive Bilder folgen, die zugleich die Unmöglichkeit des unverstellten Ausdrucks dieser existentiellen Not artikulieren, indem sie zwischen schauerromantischen Topoi »Wenn auf Gräbern hagre Wölfe [ . . . ] « und radikalen eigenen Bildfugungen »Wie ein Kind, bald hell auf kreischet/Wie ein Herz, das sich zerfleischet [ . . . ] « (952) in die Extreme ausschlagen. Gegensätze zwischen innen und außen werden aufgerissen und im sprachlichen Stakkato verstärkt. Eine verführerische Sprachkunst scheint unter die Perspektive der Verzweiflung, des Schmerzes und des Todes gestellt, so daß »Verzweiflung an der Kunst in der Kunst« 1 7 7 hier als durchgeführtes Thema erkennbar ist. Die Personi177
Vgl. Walter Müller-Seidel, Brentanos späte Lyrik - Kontinuität und Stilwandel. In: Clemens Brentano. Brentano-Kolloquium 1980. S. 239 — 275. Hier: S. 254.
217
fikation der Verzweiflung »Sich zerrauft die feuchten Haare« assoziiert das Bild der Sirene, verführerisches Weib und zugleich Brentanos Symbol für die sündhafte Verderbnis des Kunstgesanges. 178 Die Thematik der Verzweiflung als christliche Todsünde hat Walter Müller-Seidel im dichterischen Spätwerk Brentanos untersucht. Sie ist dem Glauben unmittelbar benachbart;' 79 und so gehen auch diese Zeilen über zu dem Mann am Kreuz, der in Todesangst, Schmerz und Einsamkeit im Glauben bleibt. Die Identifikation und Stilisierung des eigenen Leides zum Leiden Christi und der »Jungfrau, die voll Schmerzen,/Sieben Schwert im Mutterherzen« l8c (953) - die Zitation der mater dolorosa steht kontrafaktorisch zum Bild der Sirene — leitet über zum Rettungsanker Kreuz und Glauben. Der Bildbereich Schiff und Mastbaum, auf den u. a. auch Caspar David Friedrich in seinen Seestücken rekurriert, ist nach Matth.8,23 und Matth. 1 4 , 2 3 seit frühchristlicher Zeit Symbol für die Kirche und das Kreuz. 1 8 1 Weil Fanferlieschens Wunsch sich auf Blumen richtet, die sie schon im »Sinne«, wenn auch noch nicht beim rechten Namen hat, fallen ihr zunächst, gleichsam als Nebenprodukte, »Fliederblumen und Vergißmeinnichte aus der Schürze« (954). »Das war nun nicht, was sie wollte; aber sie konnte es doch gebrauchen« (954). In der Sprache der Blumen wird noch einmal die erste und letzte Station rekapituliert. Der Flieder oder auch Holunder, von Fanferlieschen in ihrem Lied synonym gebraucht, bedeuten nach abergläubischen Vorstellungen Blumen oder Bäume des Todes und werden vornehmlich auf Gräbern gepflanzt. 1 8 2 Die Symbolik der »Vergißmeinichte« erklärt Brentano in seinem Gedicht >Zweimal hab' ich dich gesehnc »Denk, hier die Vergißmeinnicht/Blicke sind, die fromm Sie hebet,/ Wenn Sie zu dem Heiland spricht,/Der für uns am Kreuze schwebet«. 1 8 3 Der zweite Teil des Liedes, zu dem Fanferlieschen ihre »fünf Sinne wieder [ . . . ] sammelte« (954), ist insgesamt eine Reminiszenz an die Frankfurter Messe mit ihrer für jedes Kind paradiesischen Warenfülle. Brentano hat für dieses Paradies in seiner Heimatstadt bereits einen Kunstnamen — Vadutz — bereit, dem er im 178
V g l . Erika Tunner, Sirene und Dirne. Chiffren der Dichterexistenz und der Poesie in Clemens Brentanos lyrischem Werk. In: Recherches Germaniques 9, 1 9 7 9 . S. 1 4 1 — 1 5 9 .
179 180
Müller-Seidel 1 9 8 0 , S. 2 5 6 . Das B i l d von der Schmerzensmutter geht zurück auf den Marienkult des 1 2 . / 1 3 . Jahrhunderts. Maria unter dem Kreuz ist durchbohrt von sieben Schwertern, die die sieben Schmerzen um ihren Sohn — Beschneidung oder Weissagung Simeon, Flucht nach Ä g y p t e n , Suche nach dem zwölfjährigen J e s u s , Kreuzweg, K r e u z i g u n g , Kreuzabnahme und Grablegung — symbolisieren. V g l . Brentanos Gedicht >An Frau Marianne von W i l l e m e r i 8 2 7 < , wo in ähnlichen B i l d f u g u n g e n die Errettung des lyrischen Ich aus der sündigen Welt durch Christus am Kreuz, bzw. die Schmerzensmutter »Maria, Mutter, Kirche, Gnadenvoll« geschildert wird: »Daß sie mich neu gebäre unter Schmerzen./Maria, Mutter Gottes, Wahrheit, B i l d und Schild, [ . . . ] « . Werke I, S. 4 9 5 .
181
Z u r christlichen Schiffsallegorese v g l . Rahner 1 9 6 4 , S. 3 5 5 f r .
182
V g l . H D A , B d . 4, Sp. 206f.
183
Werkel, S.451.
218
großen >Gockel-Märchen< seine poetische Gestalt gegeben hat. 1 8 4 Dieses mit der Kindheit in Frankfurt assoziierte Traumland, wo das Kind Clemens sich seine eigene Wirklichkeit mit Spielzeugen aller Art phantasierte, erhält nun die für das Brentanosche CEuvre topische Bedeutung des verlorenen Paradieses und der Surrogatfunktion der Kunst. Die kindliche Anthropomorphisierung des Spielzeugs erweist sich im Rückblick als eine bloße Zusammenstellung von Flitterkram. In der >Herzlichen Zueignung< zum >Gockel-Märchen< erzählt der Dichter: »Als ich später [ . . . ] eine große Reise [ . . . ] machte, teils um dem verlornen Paradies, teils u m allen Raritäten und der Kunst auf die Spur zu kommen, war das Resultat [ . . . ] : »Einige bunte Seideflöckchen mit Goldfädchen, Füttern und andern Agrements mehr oder weniger fantastisch verwirrt und hinter einem Quadratzoll weißen Glases auf Papier platt gedrückt«. 1 8 5 Flitter oder Flitterblumen, auf die ja Fanferlieschen in ihrer Wortkrämerei, ihrem langen Memorieren aus ist, sind also Relikte dieser Kindheit, des verlorenen Paradieses. Mit der Erinnerung an die Frankfurter Messe ist sie somit durchaus auf einem richtigen Weg. Im Dialog mit ihrer Schürze: »Schürzchen, weißt du nicht, sie kamen/Auf die Messe, draus am Main/Blinkten sie zur Welt hinein, [. . . ] « (954) braucht es dann nur noch eine Prise »Schnupftabak,/Der für das Gedächtnis ist,/Daß man niemals was vergißt« (955), um die gesuchten Wort-Flitterblumen realiter auferstehen zu lassen. Der Tabak aber ist von besonderer Konsistenz, nämlich »aus lauter Vergißmeinnichten, die der Registrator Urkundius am Tempel der Erinnerung gepflückt« (955). Hinter diesem Tabakfabrikanten versteckt sich Brentanos Freund Johann Friedrich Böhmer, dem der Dichter diesen Beinamen ob dessen Bemühungen um sein dichterisches Werk verliehen hat. Fanferlieschen nimmt also eine Prise aus dem Werk des Dichters selbst und »[sjogleich fielen ihr die Blumennamen ins Gedächtnis und die Blumenkronen aus der Schürze« (955). Nach einem abschließenden Dialog mit ihrer Schürze hat sie dann endlich auch die Flitterblumen, schon zu »Kronen und Kränzen« 1 8 6 geflochten' 8 7 (956), parat,
,84
V g l . Frühwald 1 9 6 2 , S. 1 6 7 f r .
" " Werke III, S . 6 2 2 . 186 »Totenkronen« oder »Flitterkronen«, die mehrfach bei den märchenhaften Trauerfeierlichkeiten Erwähnung finden, sind eine kultische Weiterentwicklung der Totenkränze. Statt aus lebendem Grün bestehen sie aus Flittergold und künstlichen Blumen und werden nur Ledigen und Kindern aufgesetzt. Vgl. HDA, Bd. 5, Sp. 420. Im Zusammenhang des Fronleichnamsfestes, das hier ja gestalterische Grundlage ist, spielt der Kranzschmuck eine bedeutende Rolle. Die Kirche ist mit geweihten Kränzen geschmückt; die Personen, die unmittelbar an der heiligen Handlung beteiligt sind, tragen sie bei der Prozession. Ebd., Sp. 390f. 107
Vgl. Brentanos Brief vom 15. März 1836 an den Minister Schinas in Athen nach dem Tode von dessen Gattin Bettina von Savigny, einer Nichte Brentanos: »Vielleicht ist es Ihnen tröstlich, einen so ausgezeichneten, vortrefflichen Onkel zu haben — in Gottes Namen, es sei Ihnen dieser
219
um die »Memoralia« (Gedächtnisfeiern) und »Funeralia« (Trauerfeierlichkeiten) begehen zu können. Relikte der Kunst, Blumen des Todes werden erinnert, zugleich aber auch erneut hervorgebracht, 188 freilich jetzt unter einem anderen Vorzeichen. Wie es den Fronleichnamsbräuchen gemäß ist, werden alle Kränze in heiligen Handlungen geweiht. Fanferlieschen vollzieht diese Weihe mit ihrer Schürze, die als Mutterschoß der Kirche, als Gnadenschürze bereits kenntlich geworden ist. Zusammenfassend seien noch einmal die Stationen erinnert: Tod, Grab, Verzweiflung, der Rettungsanker Kreuz und das Schiff der Kirche, die Frankfurter Messe als Paradies der Kindheit und die pulverisierte Poesie des Dichters Brentano wurden im Zeichen dieser Flitterblumen durchlaufen. Kein Wunder, daß Fanferlieschen bei all ihren »Kirchhofsgedanken« (952) Melancholie, Signatur der Kunst im experimentum medietatis, 189 befallt. Die Blumen symbolisieren Künstlichkeit und Kunst unter der Perspektive von Tod und Vergänglichkeit. Mit dem zum Kranz gebundenen Flitter zieht Fanferlieschen als Reflektor und Medium der Dichterexistenz die Summe aller künstlerischen Bemühungen, die nichts anderes eingebracht haben als ein paar »Flitterblumen«. Die Wahl Fanferlieschens als Medium ist entscheidend. Als Personifikation der Kirche übernimmt sie stellvertretend die Leiden der Künstlerexistenz und segnet sie, indem sie das Surrogat dieser Kunst aus ihrer Gnadenschürze schüttelt. Da diese Rehabilitation der Kunst wiederum in der Kunst, im Kunstmärchen geschieht, muß sie notwendigerweise unter positive Prämissen gestellt sein, Voraussetzungen, welche in Fanferlieschen Gestalt angenommen haben. Die Transformation der Kunst in den Gnadenstand, die Brentano hier vorführt, ist ein erstaunlicher Rettungsversuch in bezug auf die eigene dichterische Existenz, der eine generelle Neulegitimierung und Neubegründung der Poesie im Spätwerk des Dichters impliziert. Vergleichbar ist hier nur die im >Tagebuch der Ahnfrau< vollzogene Restitution des ontologischen Gottesgewebes in der poetischen Textur. Gnade ist freies Geschenk, das denen zuteil wird, die von sich aus keinen Anspruch auf Gottes Zuwendung vorbringen können (Rom.3,24).
tröstliche Aberglauben geschenkt - es ist ja diese gute Meinung von mir ein Kranz, den Ihnen die g u t e Bettine zurückgelassen; wir wollen alles von ihrem Herzen, ihren Händen Zurückgelassene lieb haben, und sind Flitterblumen in diesem Kranze, so hat diese sinnvolle Seele sie gewiß ahnend hineingeflochten, daß dieses Lob da werde niedergelegt werden, wo man Flitterkränze, Vergängliches, Verwelkliches niederlegt, am Grabe!« G S I X , S. 3 3 8 . 188
Brentano zitiert dieses Lied, wie schon erwähnt, als »Todtenlied« in einem Brief an Bettine. E r reagiert damit auf Bettinens Buch >Goethes Briefwechsel mit einem KindeFanferlieschen Schönefüßchen< durch die K o n t a m i n i e r u n g des ehemaligen K u n s t p r o d u k t s m i t d e m Emmerick-Erlebnis. Ein in kunstseelsorgerischer A b s i c h t verfaßter A n t w o r t b r i e f Johann Michael Sailers — das Schreiben Brentanos ist nicht e r h a l t e n — g i b t A u s k u n f t über die B e s c h ä f t i g u n g Brentanos gerade m i t diesem Problem einer E i n b i l d u n g durch V e r b i n d u n g geistlicher und weltlicher Diskurse, das die Spätphase seines Schafifens beherrscht: Glaube mir, daß die Imagination für mich nichts so Verwerfliches ist, wie für Viele. Sie ist mir eine magische Potenz, die uns in Alles hineinbilden und in alle ihre Gebilde verwandeln kann, sie seien himmlisch oder irdisch, oder unirdisch. 194 D e r über jeden Z w e i f e l erhabene Regensburger Bischof Sailer dürfte Brentano m i t dieser A n t w o r t gleichsam einen - sicher unbeabsichtigten — Freibrief f ü r dessen Experimente m i t den visionären, telepathischen und hierognostischen Fähigkeiten der E m m e r i c k gegeben haben.
9. G e s c h i c h t e i m Z e i c h e n der A p o k a l y p s e In der heilsgeschichtlichen Metaerzählung des Märchens hat die kirchenpolitische A l l e g o r i e ihren eschatologischen O r t . W i e Christus in der A p o k a l y p s e den persischen Mithras und den römischen Gottkaiser überwindet, so besiegt in der Postfiguration des Märchens die Heilsgestalt des Ursulus den Dämonendiener 195 FBA 194
28,1, S. 102. GS IX, S.432. 222
Jerum und dessen spiritus malignus Pumpelirio Holzebock. Dieser apokalyptische Kampf steht unter dem Vorzeichen der im biedermeierlich kirchenpolitischen Streit von Brentano konkret erhofften Synthese von religiöser und weltlicher Macht. Die Gestalt des Jerum selbst ist in einem mehrfachen Sinne kodiert. Einerseits verweist sie im heilsgeschichtlichen Konnex auf den Antichrist, andererseits im historischen Zusammenhang auf Napoleon, der in romantischen konservativen Kreisen wiederum als Antichrist apostrophiert wurde; drittens verkörpert Jerum als Regent den Staat der Aufklärung wie den der Revolution und dabei in der kirchenpolitischen Konstellation nicht zuletzt den antikatholischen preußischen Staat 195 in seinen Maßnahmen gegen die Selbstbehauptungsbestrebungen der Kirche in seinem Bereich. Zunächst ist es der Name »Jerum« selbst, dessen Etymologie Aufschluß über die Analogie zum Antichrist gibt. Scandalias, der falschen Königin, letzter Ausruf »O Jerum!« (947) auf dem Sterbebett hat dem Kind zu seinem Namen verholfen, ein tatsächlich folgenschwerer Akt, da es sich dabei um einen Fluch handelt, der jedwedes Unheil auf die betroffene Person herabwünscht, und — indem er zum Eigennamen wird — diese als Personifikation des Unheils selbst ausweist. Jerum ist eine Fluchformel, die auf die Verdrehung des Namen »Jesum« zurückgeht. Die Verdrehung resultiert aus magischer Scheu vor der durch direkte Nennung hervorgerufenen Fluchwirkung des Namens Jesus auf den Sprecher selbst, der, um sich zu schützen, den Namen verdreht. 196 Erweist sich so der Name Jerum als Kontrafaktur des Christusnamens, so impliziert allein schon die Namensdeszendenz die heilsgeschichtlichen Antithesen Unheil und Heil, Antichrist und Christ. Abgesehen von dem sprechenden Namen, dessen Wesensbedeutung nach allem, was bisher über die magische Kraft des Namens bei Brentano gesagt wurde, unzweifelhaft ist, hat Brentano in Rekurs auf die ikonographische Antichrist-Tradition in der Königsgestalt Jerum das apokryphe Schemen des Antichrist chiffriert. Die zuerst im >Hortus Deliciarum< ausgebildete Ikonographie stellt den Antichrist als »eine völlig normal gebildete Menschengestalt« im königlichen Gewände vor, so daß er rein äußerlich in keiner Weise von anderen Königsdarstellungen abgehoben ist. Infolge der Verwechselbarkeit mit
195
V g l . zu Indizien flir einen Bezug zwischen J e r u m s Königreich und dem preußischen Staar, Spinnler 1990, S. i8off.
196
V g l . H D A , B d . 2, Sp. 1 6 3 8 . In Brentanos Bibliothek findet sich das Buch: >Die bedencklichen Gerichte Gottes/über die Z u n g e n = S ü n d e n wider Die überall sich täglich findenden Atheisten/ Epicurer/und Spötter dieser Zeiten, A u s denen alten und neuen bewerthesten Historicis mit Fleiß zusammen getragen, und durch merckwürdige Exempel vorgestellet, Nebst einer Vorrede M . Paul Christian Hilschers. Dresden und Leipzig Ι 7 Ι 9 · < In der Vorrede wird das ständige im Munde fuhren des N a m e n Gottes verurteilt und werden die fluchenden Verdrehungen und Verderbungen des Namens J e s u in Herr jemini etc. m i t ihren bösen Folgen flir den Fluchenden selbst vorgestellt. Katalog der Bibliotheken II ( 1 8 5 3 ) , N r . 2 7 4 3 .
223
anderen Königsgestalten wird der Antichrist alltäglich und in seiner Unkenntlichkeit unheimlich. 197 Die alltägliche Antichristgestalt wird zur Signatur der stets gegenwärtigen Endzeit. Max Beckmann hat als Illustrator der Frühfassung des Märchens bereits die radikale politische Aussage des Textes herausgestellt und Jerum ganz offensichtlich als Antichrist gedeutet. 1 9 8 Der »beinahe kreischende Strich« 1 9 9 seiner acht Radierungen von 1923/24 verstärkt die grelle Symbolik der Jerumschen Amoralität, die endzeitliche, antihumane Gewalt eines Königs, der einer dämonisch-perversen Macht gehorcht. Im Gegensatz zur Brentanoschen Märchenwelt, in der am Ende alles wieder gut wird und der böse König auf eine Vergebung im Jenseits hoffen darf, zeichnet Beckmann das Schlußtableau als ungelösten Widerstreit von Heil und Unheil. Der offene Sarg mit dem toten Jerum steht in doppelter Weise im kontrafaktorischen Bezug zum Heil. Der Leichnam weist nämlich in der Form einer umgekehrten Pietä — ikonographisches Gegensymbol zur Aufbahrung Christi, wie sie ζ. B . Mantegna darstellte, und damit Antichristsymbol — mit den Füßen auf das Kreuz, hinter dem die Sonne aufgeht. Brentano hat die apokalyptische Atmosphäre um die Gestalt Jerums in einem düsteren Tableau, das die erste Begegnung Ursulas mit Jerum auf wüster Heide darstellt, verdichtet: Schon stand der Mond tief über der dunkeln Waldschlucht, worin Munkelwust lag: als sie auf einmal ein wildes Horngetön erklingen hörte und aus dem Waldgrund Pferdegetrapp herauftönte. Sie richtete sich auf und trat auf einen Felsen: da sah sie einen Reiterzug m i t brennenden Fackeln heransprengen, daß die Funken und die brennenden Pechtropfen rings ins dürre Laub fielen, und die Flammen prasselnd durch die Büsche herumzischten. Sie sprengten im G a l o p p heran; an ihrer Spitze saß J e r u m im roten Mantel auf dem getigerten Rosse; auf seinem H e l m war das B i l d eines Drachen; seine langen Haare wehten w i e die Mähnen seines Rosses im W i n d , und an seinem Gürtel hatte er eine breite Scheide hängen, worin viele Messer staken. Sie sangen das wilde Lied, welches also lautete: J u c h ! J u c h ! über die Heide!/Fünfzig Messer in einer Scheide,
[. · .]. (986) Der Anklang an den Volksglauben vom wilden Jäger, der gleich den apokalyptischen Reitern nachts mit seinem Heer durch die Lüfte braust und Feuer legt, verleiht dem Bild seine endzeitliche Atmosphäre.
Das Jerumsche Lieblings-
lied, dessen erotische Konnotation deutlich genug ist - »Messer und Scheide« 197
Vgl. Gosbert Schüssler, Studien zur Ikonographie des Antichrist. Diss. Heidelberg 1975. S. 145 passim. 198 Abbildung in: Clemens Brentano, Das Märchen von Fanferlieschen Schönefiißchen. Mit 8 Radierungen von Max Beckmann. Leipzig 1977. S. 87. '"Bernhard Heisig, Die Radierungen zu Brentanos »Fanferlieschen« im Werk Beckmanns. In: Clemens Brentano, Das Märchen von Fanferlieschen Schönefiißchen 1977, S. 102. 200 Vgl. Jacob Grimm, Deutsche Mythologie. Nachdruck der 4. Aufl. Berlin 1875 — 78. Graz 1968. Bd. II. S. 765ff. Vgl. Brentanos Anspielungen auf diese Sage in den >WehmüilemGodwi< ( F B A 1 6 , S. 3 2 8 u. S. 3 3 5 ) und im >Lied v o m J a g d g e spenstLegenda aurea< des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz. 1 0 . A u f l . Darmstadt 1 9 8 4 . S. 8 0 7 — 8 1 2 . Bei Jacobus de Voragines Version handelt es sich u m die Endfassung der seit dem 1 0 . Jahrhundert in schriftlich fixierten Texten greifbaren Legende. Jacobus kontaminiert die sogenannte zweite Passio Ursulae, die im Mittelalter weit verbreitet war, mit den >Revelationes< der Elisabeth von Schönau ( 1 1 2 9 — 6 4 ) — visionäre Offenbarungen zur Geschichte der Heiligen — und dem >Speculum historiale< des Vincenz von Beauvais (um 1 1 9 0 — 1 2 6 4 ) . Die verschiedenen Legendenversionen divergieren hinsichtlich der geschichtlichen Einordnung des Geschehens. Die Legende des 1 0 . Jahrhunderts stellt Ursulas Martyrium in die Zeit des Hunneneinfalls um 4 5 1 ; ebenso die zweite Passio, in der, wenn auch noch nicht namentlich präsent, Attila als Antagonist Ursulas vorgestellt wird. Elisabeth dagegen fuhrt die Legende auf die Zeit zweier ruchloser Fürsten in R o m u m das J a h r 2 3 6 zurück; ebenso Vincenz von Beauvais, der das Märtyrium auf das J a h r 2 3 7 datiert. Jacobus de Voragine setzt den Tod um 2 3 8 an, plädiert jedoch für die Regierungszeit des Kaiser Marcianus ( 4 5 0 — 4 5 7 ) und chiffriert damit den Hunnenfursten als Attila ( 4 4 5 — 4 5 3 ) . Die Rezeption der Legende konzentriert sich auf das Duell Attila-Ursula oder den Z u g der 1 1 0 0 0 J u n g f r a u e n . V g l . Frank Günther Zehnder, Sankt Ursula. L e g e n d e - V e r e h r u n g - B i l d e r w e l t . K ö l n 1 9 8 5 . S. 1 8 — 4 8 .
225
der B e z u g erweitert, w e n n i m Kontrast zu d e m Greuelheer Jerums die »wunderb a r e ] Schönheit« (986) Ursulas als geistliche Schönheit i m Sinne des >Hohen Liedesc » v o l l k o m m e n schön bist du meine Freundin und kein M a k e l ist an dir« ( H L 4 , 7 ) erscheint, die in der Legende Auslöser der gewaltsamen und zuletzt mörderischen V e r f o l g u n g durch den H u n n e n k ö n i g ist. D i e Identifizierung N a p o leons m i t einem H u n n e n k ö n i g , meist A t t i l a , ist gemeinromantischer und biedermeierlicher Topos und besonders ausgeprägt in der gegen das moderne Frankreich gerichteten konfessionellen Allianz. Brentano hat in dem G e d i c h t >Der Inhalt deines N a h m e n s ist dies BildEmmerick-Schriften< wird N a p o leon zur modernen Inkarnation des A n t i c h r i s t e n stilisiert, was primär a u f seine Feindschaft g e g e n alles Christliche und K i r c h l i c h e zielt, die in der napoleonischen A u f h e b u n g des Kirchenstaates und dessen Eingliederung ins französische Kaiserreich g i p f e l t . 2 0 6 Die A n a l o g i e zum Märchengeschehen ist unübersehbar. J e r u m ist es, der Fanferlieschen zur A b d a n k u n g z w i n g t . D i e Chiffrierung Napoleons in J e r u m und dessen B e z u g zur Antichristgestalt gehört z u den wesentlichen historisch-politischen Figurationen des Märchentextes. N o c h 1842 hat Brentano den Stoff der Ursula-Legende zur Darstellung eines welthistorischen K o n f l i k t s zwischen K i r c h e und Staat in heilsgeschichtlicher Perspektive seinem Freund Steinle anempfohlen. Er insistiert formlich auf der bildnerischen G e s t a l t u n g dieser Legende, die er dem Künstler in einem A u s z u g aus seinen Emmerick-Manuskripten m i t t e i l t : Ich habe Ihnen, was die Emmerich von der hl. Ursula mitgeteilt, aus den Visionen ausschreiben lassen [. ..]. Dieses rührende, hinreißende Epos katholischer Martyrin (so!) ist mehr als irgendein Faktum dieser Art durch Zeugnisse gestützt. Von den Niederlanden, dem (sie!) ganzen Rhein herauf bis Basel, und dort mehrfach in der Umgegend, finden wir reichliche Spuren des Zuges und der Verfolgung dieser heiligen Martyrin [ . . . ] . Es hat vielleicht keine Legende so viele Autoritäten und dennoch auch keine so viele Anfechtungen und Hohn. Was gelüstet es dem Satan mehr lächerlich zu machen als eine so große Schar von Jungfrauen, und wo findet er leichter bereitwillige Genossen [ . . . ] . Es ist höchst beschämend, ja hie und da empörend, daß selbst übrigens (wenn viel übrig bleibt) gottesfurchtige, geistliche Schriftsteller allen Koth der Kritik zusammenfuhren, um die Wahrscheinlichkeit der heiligen Märtyrinnen zu trüben; kurz es ist schier niemand da, der einfach an sie glaubt, als einige prophetische Heilige oder Selige, darunter deutlicher und bestimmter als alle früheren die gute Emmerich [.. .]. Welch ein unendlich heiligerer und edlerer Gegenstand ist Ursula und ihre Schar als die 2°'Gajek
1 9 7 1 , S. 206. Z u r Bedeutung der Attila-Gestalt als Typologie Napoleons in Arnims
>Kronenwächter< vgl. Ricklefs 1990, S. 158 u. S. 238f. (zeitgenössische Quellen, die das Kryptonym Attila belegen). a o < s Vgl.
226
F B A 2 8 , 1 , S. 37.
N i b e l u n g e n , und keiner hebt die Hand darum auf als etwa zum H o h n , es sei denn zu einer herkömmlichen Andacht, insofern sie den Hermesianern entgangen ist. Es g i b t kein herrlicheres Sujet in unserer Z e i t und kein zeitgemäßeres. Ein Religionskrieg, gleich einer Völkerwanderung, ist kein ganz fremdartiger Gedanke; wie und wohin die Hunnen m i t Attila gekommen, dahin können auch Russen mitkommen [ . . .]. Es kann leicht ein Zusammenströmen von wehrlos fliehenden Frauen und J u n g f r a u e n vor der russischen Völkerwanderung an den Rhein hin erfolgen, es ist leicht möglich, daß in Jahrzehnten erlebt wird, was jetzt noch als Fabel verhöhnt ist u s w . 2 0 7
Wird in dieser späten Äußerung die Bedeutung der Ursula-Legende auch stärker im Mägdekrieg gesehen, während im Märchen das Zusammentreffen von Ursula und Attila im Vordergrund steht, so ist doch der Bezug der Legende auf die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen derselbe. Z u beachten ist außerdem die damalige allgemeine politische Angsterwartung, aus Rußland könne ein neuer Napoleon - Personifikation der russisch-französischen Allianz — kommen. Auch in dieser Vorstellung konnte Brentano das Duell Ursula-Attila (Jerum) als Figuration wiedererkennen. Märchen und Legende sind im >Fanferlieschen< aufs engste verbunden. Neben die Legende der heiligen Ursula tritt im dritten Teil des Märchens — der Turmszene - als Präfiguration der Geschichte Ursulas und ihres Sohnes das legendenhafte Volksbuch von der heiligen Genovefa und ihrem Sohn Schmerzenreich, a ° 8 das wiederum mit der Heiligenvita Genovefas, der Schutzpatronin von Paris, kontaminiert ist, deren Fest am 3. Januar Mutter und Sohn im Märchen gemeinsam feiern (1036). 2 0 9 Im Unterschied zur Legende des Volksbuches ist das Schicksal Genevieves nicht poetisch-märchenhaft realisiert, vielmehr nur über ihr Fest ideell integriert. Auf allegorischer Ebene wird jedoch eine bemerkenswerte Konsequenz Brentanos hinsichtlich der Grundopposition Ursula - Attila erkennbar. Die Legende von der Pariser Heiligen berichtet von einem Ansturm der Hunnen unter Attila im 5. Jahrhundert auf die Stadt, den die Frau durch Gottvertrauen und Gebet ablenken konnte und somit ihr Volk vor der Fremdherrschaft bewahrte. 2 1 0 Ähnliches gedenkt Ursula im Märchen fur ihre ehemaligen Untertanen, die im Ländchen Bärwalde unter der Knechtschaft Jerums stöhnen, zu vollbringen. Einmal mehr wird hier deutlich, wie Brentano durch geringfügige Zeichen den Märchenzusammenhang erweitert und in Transparenz auf andere Geschichten und Ereignisse allegorisch transzendiert. 207
Edward von Steinle's Briefwechsel mit seinen Freunden. Hrsg. von Alphons Maria Steinle. Freiburg i. Br. 1897. Bd. II, S. 6 1 . 208 Joseph Görres, Die teutschen Volksbücher. Heidelberg 1807. (Neudruck: Berlin 1925). S. 246fr. Brentano besaß zwei Ausgaben der Legende von der heiligen Genovefa: Katalog der Bibliotheken II (1853), Nr. 1229 u. 2 7 1 6 , wovon letztere Görres als Vorlage diente. 209 Vgl. Kommentar zu Werke III, S. 1 1 6 1 . 2IO Vollständiges Heiligen-Lexikon. Hrsg. von Joh. Evang. Stadler. 5 Bde. Augsburg 1861. Bd. 2, Sp. 377.
227
In der Anbildung des zweiten und dritten Teils des Märchens an die überlieferte Legende überläßt sich Brentano m. E. einer thematischen wie poetologischen Konsequenz, die mit dem Hinweis auf die arabeske Gesamtpoetologie des Märchens, wie sie für die Kombination von Märchen, Allegorie und Legende im großen >Gockel-Märchen< festgestellt wurde, nicht hinreichend erfaßt werden k a n n . 2 " Die Anlehnung an die Legende erfolgt in unserem Märchen stets auf beiden Ebenen, dem pragmatischen Märchennexus wie dem allegorisch-heilsgeschichtlichen Motivzusammenhang. Um die Logik der Überführung des Märchengeschehens in die Legende zu verdeutlichen, bedarf es einer Bestimmung der Legende aus spätromantischer Sicht. Joseph Görres hat in seiner Einleitung zur >Legende von der gnadenreichen Lebensführung und dem glorreichen Martertode der h. Jungfrau und Märtyrerin Sankt Katharina< 2 ' 2 eine geistesgeschichtliche Definition der Legende gegeben, die ich als Schlüssel zur Poetologie der Märchenlegende verstehe. Eine analoge Untersuchung der Legende und ihrer poetisch-märchenhaften Transformation ist insofern gerechtfertigt, als Görres selbst keine Unterscheidung zwischen authentischer, poetisch verarbeiteter und fiktiv-erfundener Legende trifft, so daß auch letztere, »wenn nicht eine gänzlich ungebundene Phantasie vorwiegt«, ebenso auf dem »Grund der Wahrheit« baut. 2 1 3 Görres beschreibt die Legende als Vermittlung und mimetische Wiederholung der »fundamentalen Thatsache« des Christentums in der »Mitte der Zeiten« 2 1 4 in der »besonderen Geschichte« 2 ' 5 eines Heiligen, in der »die von oben niedersteigende höhere Geschichte« [Geschichte Gottes, Heilsgeschichte; Β. K . ] »und die von unten aufsteigende untere« [Menschengeschichte, Historie; Β. K . ] »wie in einem Knotenpunkte sich begegnet, und indem die Eine in ihrem Haupt und Lenker im Centrum der Andern Mensch geworden [ . . , ] « . 2 ' 6 In der Legende wird im Besonderen, in der christlichen Religionsgeschichte im Allgemeinen das Ziel der »die christliche Gesellschaft leitendefn] Macht« 2 1 7 deutlich: »Das Zukommen des Gottesreiches und das Verähnlichen« der menschlichen Geschichte »mit der jenes höhern Reiches in der standhaften Ruhe und dem heitern Gottesfrieden, die immerdar in ihm walten und bestehen«. 218 Der Legende eigentümlich ist also eine vorweggenommene Vermittlung zwi211 212
V g l . Feilchenfeldt/Frühwald, S. 225 u. Kommentar zu Werke III, S. 1 1 1 9 . In: Joseph Görres, Gesammeice Schriften. Geistesgeschichtliche und politische Schriften der Münchner Zeit (1828—1838). Hrsg. von Ernst Deuerlein. Köln 1958. Bd. 1 5 . S. 480 — 502.
2 3
' Ebd.,S. E b d . , S. 2,5 E b d . , S. 2l6 E b d . , S. 2,7 Ebd., S. 2lS Ebd. 214
228
485. 483. 484. 483. 484.
sehen Himmel und Erde, Gottesreich und Menschenreich in Hinblick auf das heilsgeschichtliche Ziel des neuen Bundes mit Gott, aber zugleich auch erreichte Vermittlung im Sinne einer eschatologischen Präsenz, indem das Ziel durch die mimetische Wiederholung des »Grundfactums«, 2 ' 9 der Fleischwerdung Gottes, als schon anwesend bedeutet wird. Brentanos Einbildung der Legende entspricht exakt dieser Görreschen Bestimmung, die er zugleich auch zum Thema macht. Er rekurriert auf die Legende, wenn es um die Vermittlung von Geschichte und Religion, der Aussöhnung des Konfliktes von Staat und Kirche geht. Die Heiligenviten Ursulas und Genovefas bzw. Genevieves werden Grundlage der poetischen Gestaltung, wenn in einer Art Postfiguration oder Mimesis der Heilstat Christi eine einzelne ausgesandt wird, die Zeit zu wenden, das Land zu befreien und den Typus des bösen Herrschers, Jerum, zu bekehren, so daß an der einzelnen Figur vorgestellt wird, was im Ganzen geschehen soll, »das Zukommen des Gottesreiches und das Verähnlichen [ . . . ] der besonderen Geschichte [ . . . ] mit der jenes höheren Reiches«. 2 2 0
10. Die Natur des Pumpelirio Holzebock Das heidnische und kirchenfeindliche Prinzip, das in Jerum sich verkörpert, wird präzisiert durch die topographische Landschaft, in die der Autor diese Figur stellt. Wir werden mit dieser bekannt auf dem Weg Ursulas nach Munkelwust. Denn nicht das Schloß mit dem schaurigen Namen, sondern der wüste Naturraum, den Jerum auf seinen Jagdzügen durchstreift — den Ursula gleichsam als weibliche Beute durchschreiten muß — und dessen Hauptattraktion der Götze Pumpelirio Holzebock darstellt, gilt als eigentlicher Aufenthaltsort des unsteten Königs. Die Gegend ist traurig und öde, »verbrannte Hütten und zerstörte Gärten« säumen den Weg. »Hie und da« steht »ein dürrer Baum, von dem die Eulen herunter schrieen: hu, hu, ο weh!« (982). Eingetaucht in das Licht des blutroten Mondes, erscheint schließlich der böse Götze auf einem Felsen unter einem dürren Baum (983). Diese leblose Landschaft ist Gegenbild zu dem zivilisierten und umfriedeten Gärtchen Fanferlieschens, ist topographischer Gegenentwurf sowohl zur Natur im Gnadenzustand, die in Fanferlieschens Heils- und Heilungsverfahren symbolisiert ist, als auch zur Kunst im Gnadenzustand, die sich in Fanferlieschens Schürzenwunder darstellte. Im folgenden soll dies über die Erklärung der ikonographischen Zeichen, die in ihrer Mehrdeutigkeit die Bereiche Kunst, Natur und Geschichte umgreifen, gezeigt werden. 29
' Ebd. "°Ebd. 229
Im Gegenzug zu den christlich-allegorischen Landschaftsbildern Philipp Otto Runges und Caspar David Friedrichs entwirft Brentano ein heidnisch-allegorisches Landschaftsbild, das sich als Kontrafaktur von C. D. Friedrichs >Kreuz im Gebirge< von 1808, das als >Tetschener Altar< schon kurz nach seiner Vollendung berühmt geworden war, zu erkennen gibt. Vermutlich hat Brentano das Bild erstmals auf seiner Reise nach Prag um 1 8 1 1 / 1 2 gesehen. Die Situierung des Götzen auf dem Felsen korrespondiert mit der golden glänzenden Gestalt des Kruzifixes bei Friedrich, der aufgehende blutrote Mond hinter Pumpelirio mit der untergehenden Sonne, dem Bild der ewigen allbelebenden Kraft des Gottvaters, und der dürre Baum ist Gegenbild zu den immergrünen Fichten, Zeichen der hoffenden Christen bei Friedrich. 221 Die Orientierung Brentanos im Bildzitat an C. D . Friedrich muß ebenso wie die evozierte Doppelbödigkeit des Dargestellten auch unter dem Aspekt des romantischen Kontaminationskonzepts gesehen und beurteilt werden. In Friedrich findet Brentano einen Wahlverwandten, mit dem ihn die Allegorie als Gestaltungsprinzip verbindet und der in seinen Bildern, wie der Dichter hier im Märchen, religiöse Glaubenssätze chiffriert. Welcher Glaubenssatz aber steht hinter Brentanos destruktivem Landschaftsbild? Über die Ikonographie des dürren Baumes, die Brentano in den >Emmerick-Schriften< und der kleinen religiösen Prosa einsetzt, und die Genese der Figur des hölzernen Bockes Pumpelirio, wird dies zu eruieren sein. Brentano verwendet den dürren Baum als ikonographisches Zeichen der Gottferne in bezug auf eine alte Tradition. Der tote Baum ist Relikt einer einstmaligen Zugehörigkeit zum Baum des Lebens und symbolisiert in ekklesiologischer Deutung die Fruchtlosigkeit und Dürre des Lebens derer, die außerhalb der Kirche stehen. In einer Emmerickschen Vision wird die Verbindung von Lebensbaum und Kirche deutlich: In der Mitte der Kirche wuchs nun auf einmahl ein schöner B a u m empor, [ . . . ] . Dann wuchsen ihm die schönen Blätter [. . . ] und diese Blätter waren g r ü n und glänzend und bewegten sich alle so lieblich in und durch einander, daß es unaussprechlich süß anzuschauen war, [ . . . ] . So wächst auch jezt die Heilige Kirche und wie die Blätter in einander spielen, so ist die Gemeinschaft der Heiligen auch und so weben die u m einander. 2 2 2
Der tote Baum, der das »Heiligtum« des Götzen Pumpelirio schmückt, ist also Gegenbild zur Lebendigkeit der Kirche, die in Fanferlieschens Garten symbolisiert ist. In den Aufzeichnungen nach der Paris-Reise< hat Brentano das arbor vitae-Symbol, das in der christlichen Ikonographie seit Bonaventura mit dem
231
222
Vgl. Helmut Börsch-Supan, Caspar David Friedrich. Werkverzeichnis. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980. S. 3ff. FBA 2 8 , 1 , S. 44f.
230
Kreuz Christi als »Holz des Lebens« (Off. 2 2 , 2 ) 2 2 3 zu einer Einheit verschmilzt, in einer poetisch-witzigen Parabel gestaltet. Ingeniös wählt Brentano als Bilder für die Abkehr von der Kirche und dem Kreuz nur Gegenstände, die aus Holz hergestellt werden: Möbel, Hobelspäne, Papier und Kohle, dazu deren chemischen Verwandten, den Diamanten. 224 Die Liberalen, Protestanten und Revolutionäre, die allesamt das »Feldgeschrei der Abgefallenen«, das Lied der »Freiheit« 225 anstimmen, haben den Garten der Kirche verlassen und versucht, sein Lebensprinzip gleichsam an der Wurzel auszureißen, indem sie die Bäume dieses Gartens zu Mobilien verarbeiteten. Dürftigkeit und Fruchtlosigkeit eines toten Materialismus sind ihr Lohn. Ein in geschnitztem Holz inkorporierter Dämon in Bocksgestalt ist auch der Götze Pumpelirio Holzebock im Märchen, in dem, wie ich meine, die Pervertierung des »Holzes des Lebens«, des Kreuzes, zu seinem höchsten Ausdruck findet.
226
Die betonte Situierung des Götzen auf dem Felsen, welche die zum
Tableau geronnene Szenerie als negatives Bildzitat von C. D. Friedrichs >Kreuz im Gebirge< ausweist, unterstützt den kontrafaktorischen Bezug zum Baum oder Holz des Lebens. Diese Antithetik wird von Brentano nun in virtuoser Ausschöpfung der Vielfalt der ikonographischen Bedeutungsrichtungen des Lebensbaumsymbols durch dessen Gegensymbol, den Baum der Erkenntnis — der durch den Sündenfall zum Baum des Todes wurde — ausgeweitet und fortgeführt. 227 Die kultischen Vorgänge im Bannkreis des greulichen Götzenheiligtums geben sich als Wiederholung des Sündenfalls in seinen Motiven der Neugier und des Sexus zu erkennen. Der Götze ist Orakel des Jerum, Gegenstand seiner Neugierde und Machtgier, die in der märchenhaft stereotypen Frage an den Götzen: »Pumpelirio Holzebock !/Sag mir doch,/Wann die Jungfer Fanferlieschen/Schönefüßchen/Sterben wird?/Wann ich komme nach Besserdich?« (979) zum Ausdruck kommen, und die der Götze jeweils mit der Forderung »Für einen Mord/Nur ein Wort« (979) quittiert. In der Antwort manifestieren sich die tatsächlichen Gelüste dieses Götzen und scheinbaren Erkenntnismediums. Jerum wird durch ihn zum ausfüh225 224
Vgl. Der Lebensbaum des hl. Bonaventura aus dem Lateinischen übersetzt. Freiburg 1886. Vgl. Renate Moering, Angelus Silesius als Quelle für die Lyrik Clemens Brentanos. Zur Authentizität des Gedichtes »Liebster Hirte, denkst du nicht«. In: Aurora 40, 1980. S. 52 — 70. Hier: S. 58.
225
F B A 2 2 , 1 , S. 627. " 6 Vgl. Jer. 1 0 , 1 — 16: »Denn sie hauen im Walde einen Baum und der Werkmeister macht Götter mit einem Beil [ . . . ] denn ein Holz muß ja ein wichtiger Götzendienst sein«. 327 Vgl. die antithetische Verwendung des Motivs in der >Marina-LegendeTagebuch der Ahnfrau< gestaltet. Dort symbolisiert Wolfbrand das naturhaft-animalische und unzüchtige Wesen eines Bockes kryptisch in seiner Leidenschaft für das »Hammelstutz«-Spiel, das darin besteht, »daß er >Hammel, Hammel stutz !«< sagt und »mit seiner harten Stirn gegen die Stirne seines armen Bruders« rennt, um ihn zu töten. 2 3 3 Pumpelirio Holzebock demonstriert als perverse Naturgottheit den Sündenfall als letzte Ursache des zeugenden Prinzips. Der Götze ist damit auch Symbol eines Naturdienstes, den Brentano synonym für die weltliche Kunst und alles irdisch Schöne, die mit der Natur die Sündhaftigkeit gemein haben, verurteilt. Brentanos Rückblick auf seine Rheinreise macht diese Uberlagerung und Engführung von weltlicher Kunst und sündhafter Natur deutlich. An Böhmer schreibt er, daß er »in der Wirkung des Erhabenen und Schönen nur die Täuschung eines schönen Schattens von einem gefallenen, verkrüppelten Bild« 2 ' 4 erkennen könne. An anderer Stelle heißt es: Kunst ist ein »Götzendienst der Natur und Creatur«, da sie die Dinge »dreht und wendet und färbt und schmückt und überdestilliert« und durch ihre »Spiritualität um so gefährlicher ist«. 2 3 5 Naturdienst und Dienst an der Kunst koinzidieren in ihrer Verherrlichung des bloß Irdischen und Endlichen. An Wilhelm Grimm schreibt Brentano:
232
I m >Märchen vom Schneider Siebentodt< aus den >Rheinmärchen< wird eine ähnliche Selbstkasteiung bzw. -kastration über den K a m p f m i t einem Schwein, in dem der Geschlechtsakt chiffriert ist, beschrieben: » K a u m war ich eine Stunde weit in den Wald gegangen, als ich das grunzen des Schweins hörte, mich ergriff eine Unbeschreibliche A n g s t , [ . . . ] schnell lief ich in eine Kapelle die im Wald stand, und machte die Thüre zu aber sieh, das entsezliche Schwein, sprang zu mir durch das Fenster herein, als ich es ankommen sah, sprang ich zur Thüre hinaus und hielt sie zu, da sprang das Schwein wieder zum Fenster heraus gegen mich [ . . . ] so gieng dieß raus und rein und rein und raus über sechs Stunden lang biß das Schwein welches immer den schweren Sprung über das Fenster machen mußte, so müde ward, daß es in der Kapelle beinahe tod an die Erde fiel, nun warf ich m i t Steinen nach ihm und als ich sah daß es sich kaum mehr regen konnte nehte ich ihm die Nasenlöcher und das Maul zu, und schnitt ihm den Schwanz ab, [ . . . ] « . F B A 1 7 , S. 3 2 5 . Das Motiv des Sündenbocks, das Brentano auf die Schneider und J u d e n bezieht, ist ebenfalls deutlich sexualsymbolisch konnotiert. V g l . e b d . , S. 3 0 6 passim.
333
Werke I I I , S. 8 7 6 .
234
8. Februar 1 8 2 4 . Seebaß II, S. 2 4 0 .
235
A n Böhmer, 3. J u l i 1 8 2 6 . Seebaß II, S. 2 9 4 .
233
Meine dichterischen Bestrebungen habe ich geendet, sie haben zu sehr mit dem falschen Wege meiner Natur zusammengehangen; es ist mir alles mißlungen, denn man soll das Endliche nicht schmücken mit dem Endlichen, um ihm einen Schein des Ewigen zu geben; jedes, auch das gelungenste Kunstwerk, dessen Gegenstand nicht der ewige Gott und seine Wirkung ist, scheint mir ein geschnitztes Bild, das man nicht machen soll, damit es nicht angebetet werde. 236 DieMetaphorik »Götzendienst«, »verkrüppeltes B i l d « , »geschnitztes B i l d « weist auf die Gestalt des Pumpelirio zurück und über diese hinaus zugleich in eine wesentlich andere Richtung. Als Personifikation des zeugenden Prinzips deutet der Dämon vor allem die bestimmte Art von Kunst, die Brentano mit einem Verdikt belegt: es ist die Kunst des Könnens, Machens und Zeugens; eine Kunst, die dem produktionsästhetischen und transzendentalpoetischen Grundsatz »Dichten ist Zeugen« 2 3 7 gehorcht. Damit ist nicht nur die frühromantische Transzendentalpoesie verurteilt, 2 3 8 sondern auch das antithetische Verhältnis zu einer Kunst des Empfangens gesetzt, die Brentano aufs kürzeste in dem Diktum »Empfangen ist das Geniale« 2 3 9 gefaßt hat und die mit der Kunst im Gnadenzustand koinzidiert. 2 4 0 In der allegorischen Kontrastierung Pumpelirios mit den positiven Märchenfiguren verleiht Brentano seiner Ästhetik des Empfangens insbesondere in der Figuration von Ursulas unbefleckter Empfängnis und Fanferlieschens Legitimierung der Poesie im Gnadenakt poetische Ausdrucksgestalt. Das Geschehen um Pumpelirio und dessen Handlanger J e r u m , wobei der eine vernichtet und der andere durch seinen Sohn in den Schoß der Kirche zurückgeführt wird, kann insgesamt als poetische Abrechnung mit der weltlichen, gefallenen Poesie gelesen werden. In dieser Konstellation, die zunächst paradox erscheint, versucht Brentano Kunst als erlöste und erlösende, als gottesdienstliche Handlung im wörtlichen Sinne zu begreifen. An den Bruder Christian schreibt Brentano am 24. April 1 8 2 3 :
236
1 5 . Februar 1 8 1 5 . Clemens Brentano und die Brüder G r i m m . H r s g . von Reinhold Steig. Stuttgart, Berlin 1 9 1 4 . S. 2 0 1 .
237
Novalis, Schriften I I , S. 5 3 4 . V g l . Brandstetter 1 9 8 6 , S. 2 0 8 .
238
Z u Brentanos K r i t i k an der Transzendentalpoesie vgl. Brentano-Runge, S. 2 0 u. S. 2 4 f . Brentano kontrastiert einen der N a t u r und dem Lebensprozeß analogen Produktions- bzw. Geburtsprozeß von Kunst mit den > Aftergeburten< und »affectirten Fratzen« der »Kunstenthusiasten, welche theils ihr Evangelium aus d e m Athenäum, aus Wackenroder's undTieck's Phantasien haben, sich aber weiter vor Selbstgefühl nie umsehen [ . . . ] « . Die Orientierung an einer »idealisirenden Empirie« hat »die meisten Künstler zur höchsten Unempfänglichkeit aufgeblasen [ . . . ] « .
259 240
Werke II, S. 1 0 1 3 . V g l . Brandstetter 1 9 8 6 , S. 2 0 7 f f . In der >Gründung Prags< heißt es: »Einsiedlerisch der G o t t den Dichter stellte,/Geheimniß sey Empfangen und Gebähren, [ . . . ] « . FBA 1 4 , S. 1 2 . Brentanos Geniekonzeption steht hinsichtlich der Kategorien des Empfangens und der Gnade derjenigen Johann G e o r g Hamanns sehr nahe. Für Hamann g i l t : menschliches Genie ist eigentlich eine durch das göttliche » G e n i e « zuteilwerdende Gnade, ist nicht selbstherrliches, sondern mitgeteiltes Sein. V g l . Jochen Schmidt, D i e Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik ( 1 7 9 5 — 1 9 4 5 ) . D a r m stadt 1 9 8 5 . B d . I (Von der Aufklärung bis zum Idealismus), S. 99.
234
W e n n ich nur erst von einem Künstler hörte, der aus wahrer F r ö m m i g k e i t und Gottesund Menschenliebe arbeitete, und ohne alle Kunsthoffart und Selbstdünkel, wie die alten Heiligen mit ihrer Lehre, u m Gottes willen käme, die Altäre zu verzieren, d i e Kreuze und Stationen herzustellen, und Nichts wollte als einfältig leben u n d G o t t dienen.241
Daß es im Märchen vom >Fanferlieschen Schönefiißchen< um solche »Blumen streuenfde]« »Ausschmückung« des »Tempelbau[s] der streitenden Kirche« 2 4 2 geht, ist die Konsequenz, wie ich meine, einer Entwicklung der inneren Biographie Brentanos. Diese neue Intention ist es, die zur Wiederaufnahme und Umarbeitung dieses nun von theologischen Figurationen geprägten Märchens fuhrt. Mathes deutet für die Frühfassung die Rückkehr Jerums zur Kirche ebenso wie die Uberwindung der Sünde in der symbolischen Tötung des Bockes durch Ursulus aus dem Kontext einer beginnenden »Neudefinition der Kunst und der eigenen Kunst unter religiös-kirchlichen Vorzeichen«. »Sie trifft zeitlich mit Brentanos erneuertem Interesse an der Kirche zusammen, das seine Kontakte zu pietistisch-erweckten Kreisen lange vor der Reversion bekunden«. 243 Solch eine Neudefinition kann in der Frühfassung jedoch nur gleichsam ex negativo vor sich gehen, da noch keine theologische Basis für eine Uberwindung und einen positiven Gegenentwurf zur Verzweiflung an der Kunst in der Kunst gegeben ist. Diese wird erst durch die allegorische Ausdeutung und Erweiterung des Märchens gemäß der gleichsam modern adaptierten und künstlerisch fruchtbar gemachten uralten kirchlichen Tradition des mehrfachen Textsinns initiiert, wie Brentano sie besonders an den Vorgängen um die Figuren des Fanferlieschen und die BärinGenofeva Ursula durchfuhrt. Eine Fundierung des Märchens auf den Anschauungen der seligmachenden Kirche, wie sie gleichsam als biographische Vorausdeutung im Werdegang Jerums angezeigt war, vollzieht Brentano erst in der Spätfassung. Damit läßt sich auch die nahezu unveränderte Übernahme der »Pumpelirio«-Szene in die Spätfassung erklären: sie bildet indirekt und negativ die Keimzelle für die Überarbeitung, da Brentano sie nun in vielfachem Sinn als Negativfolie und zu überwindende Position gebraucht und als solche erhalten wissen will. Erst nach dem Emmerick-Erlebnis und in Anlehnung an die Bild- und Formensprache der katholischen Kirche konnte er die dazu notwendige positive Kunstauffassung entwickeln. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß Brentano in seiner pietistischen Phase den katholischen Kultus und die religiöse Formenwelt strikt ablehnt, die »Lauheit, Kälte, Leerheit, Unwürde und Verkehrtheit, ja oft Abgeschmacktheit der Formen« 244 beklagt und damit auch 241
GS I X , S. 34. An Windischmann 1822. GS IX, S. 10. 243 Mathes 1978, S. 174. 244 An Ringseis, Februar 1816. Seebaß II, S. 1 4 1 . 242
235
keinen objektiven Boden hat, aus dem ein positives Verhältnis zwischen Kunst und Religion zu gestalten wäre. Erst die Ablösung des christozentrischen KreuzGlaubens der mittleren Zeit durch den Glauben an die Sichtbarkeit der Kirche ermöglicht die Vermittlung zwischen Theologie und Kunst.
I i . Ursulas Sendung Die Gottferne des J e r u m zugeordneten Naturraumes ist fur Ursula zugleich Ort der Ausgesetztheit und Verlassenheit wie Ort der Verheißung und Offenbarung. Im Werk Brentanos hat diese ambivalente Erfahrung ihren Ausdruck im Bild der Wüste gefunden, 2 4 5 die biblisch sowohl einen locus horridus bezeichnen kann als auch - und dies verstärkt in der Adaption durch die Mystik - als Ort der Vereinigung von Seele/Mensch und Gott begriffen wird. 2 4 6 Der verlassene Naturraum ist einer der loci, die dem exemplarischen resp. im Heilssinn allegorischen Weg Ursulas zugeordnet werden. Entscheidend für die Anlage und damit für das Verständnis der Ursula-Handlung ist die wiederholt durchgeführte Kontamination des heilsgeschichtlichen und des individuell seelengeschichtlichen Moments. In der Figur Ursulas kulminieren somit die typologische Konzeption und das Grundmuster des gesamten Märchens. Ausgangspunkt für die typologisch-heilsgeschichtliche wie politische Figuration und Voraussetzung für die Erlösungsbedürftigkeit sind die objektiven Mißstände, die Exilierung des Fanferlieschenschen Adelsinstituts und das Leiden der Bewohner von Besserdich unter der Fremdherrschaft J e r u m s , vor allem aber die nach der »konservativen Revolution« in Besserdich noch bestehende — gleichsam babylonische - Gefangenschaft von Ursulas Landeskindern in Munkelwust. Farbensymbolik ist neben der allegorischen Topographie ä la Bunyan eines der poetischen Mittel zur Bedeutung der allegorischen Verhältnisse. Ursulas Auszug aus Besserdich, ihrer »Untertanen wegen« (980), postfiguriert die Liebe Christi für die erlösungsbedürftige Menschheit und steht im Zeichen der Hoffnung auf Erlösung in der Synthese der Liebe. Einer Liebe, die in Ursulas freiwilliger, leidensreicher und durch keine Schandtat des Gemahls entmutigten Ehe mit dem pathologischen und vom Dämon beherrschten Bösewicht J e r u m gipfelt. Ursulas Auszug aus Besserdich gestaltet sich folgendermaßen: Fanferlieschen [. . .] sah ihrer lieben Ursula nach, wie sie in ihrem roten Mantel fort über die grünen Wiesen zog; und so oft Ursula sich nach Besserdich umsah und mit ihrem weißen Tuch winkte und sich die Augen trocknete, mußte der Kammerherr [.. .] mit der Schürzenfahne Femoralia auf dem Turme wehen. (981) ">> Vgl. Brandstetter 1986, S. ι$η{. Vgl. Windfuhr 1966, S. 208.
246
236
Die Wiese in der Bedeutung eines allegorischen Orts der Adventszeit verwendet Brentano mehrfach in den >Emmerick-SchriftenDülmer Tagebuch< aufgezeichneten Visionen der Emmerick als paradigmatischen Weg, der sie zur Konversion führt, durchläuft, und der typologisch die Wiederauferstehung der neuen und geeinten Kirche bedeutet. 248 Die Analogie zwischen dem stilisierten Heilsweg Luisens und dem märchenhaften Heilsweg Ursulas weist zurück auf die schon für die Anfangsszene und die Grundkonstellation des Märchens bestimmende Quelle aus dem >Dülmer Tagebuch< des Dichters. 249 Sie ist hier als konsequente Fortsetzung der Intertextualität zwischen dem Märchentext und der »großen Vision« im >DülmerTagebuch< zu verstehen. Die Farben rot, grün und weiß, die allgemein für Liebe, Hoffnung und Frieden stehen, hat Brentano in spezieller Deutung und in Anlehnung an das >Hohe Lied< als symbolische Auszeichnung Emilie Linders in seiner Lebensbaumallegorie >Lilia sub tilia< (in Form einer fiktiven Wechselrede) beschrieben: Was sollen wir aber dem armen Lind f u r ein Kleidchen anlegen, [ . . . ] . Soll die H o f f n u n g in der Erscheinung des armen Linds vorwiegen, so ziehen wir ihm ein g r ü n Röckchen an, g r ü n die Farbe der hervorbrechenden Saat, und des Frühlings, die Farbe der H o f f n u n g , [ . . .] als die Lieb wollen w i r dich schmücken, [ . . . ] ο leget mir schnell das rothe Gewand der Liebe u m , bedeckt mich m i t dem Mantel der Liebe, damit ich viele, viele Wunden bedecke, die m i r geschlagen worden. R o t h ist meine Liebe, mein Freund ist weiß und roth, auserwählt unter vielen Tausenden. Kleidet mich roth, wie jenen der von E d o m k ö m m t , mit röthlichen Kleidern von Bosra, sein Gewand ist rothfarb, [ . . . ] des Leibes Leben ist B l u t , und die Versöhnung fürs Leben. — Sey nur ruhig, arm Lind, wir wissen w o h l , daß du ein rothes Kleidchen haben mußt, roth ist das Gewand der ewigen Liebe [ . . . ] . 2 , 0
Uber eine den Verhältnissen im Märchen analoge Farbensymbolik wird hier eine Verbindung von Individuellem und Allgemeinem wie zwischen biographischem Nexus und Märchennexus hergestellt. Zudem wird durch die Reminiszenz an Emilie Linder — in ihrer spezifischen Bedeutung als Mittlerin der Hoffnung und Liebe zu einem versöhnten Leben, in welcher Weise Brentano sie ähnlich wie früher schon Luise Hensel stilisierend umwirbt — jenes ins Märchengeschehen eingewobene biographische Thema fortgesetzt, das oben bereits in Verbindung 347
In einer Emmerickschen Vision heißt es: »Ja, die Wiese ist die schöne Zeit, da der Pilger mich verläßt, es ist die heilige Zeit, da will ich ruhig dem Christkindlein dienen«. FBA 2 8 , 1 , S. 83. Vgl. ebd., S. 132. 248 Vgl. FBA 2 8 , 1 , S. 105, S. 83, S. 169; Verf. 1991, S. 99. 245> Vgl. Verf. 1991. 25 °Feilchenfeldt/Frühwald, S. 2 5 i f .
237
mit der Grundkonstellation des Märchens und dem Fuß- und Pantoffelmotiv als eine Sinnebene des Textes aufgezeigt wurde. Das bisher nur assoziierte Bild der Wüste erhält in Ursulas Traum von der Nottaufe poetisch realen Ausdruck (io2of.). Ihr erscheint als »Engel in der Wüste« — himmlische Trostgestalt und zugleich Motiv der Erlösung und Offenbarung der Gnade Gottes, das Brentano in dem in drei Fassungen überlieferten Gedicht >Ich bin durch die Wüste gezogen< 25 ' bedeutungsvoll variiert - eine »liebliche Jungfrau« ( 1 0 2 1 ) namens Nottaufe. Diese übermittelt der jungen Mutter in der Vision eines todkranken Kindes, das durch himmlische »Tauwölkchen« ( 1 0 2 1 ) wieder erquickt wird, den göttlichen Fingerzeig, ihr Kind schnell zu taufen. 252 Ursula erfährt die Gabe des Himmelstaues auch an ihrer eigenen Person. In die Verlassenheit ihres Kerkers fliegt »ein Vogel auf ihre Hand, sie zog ihn an sich und drückte ihn an ihre Wangen, die er sanft mit den Flügeln streichelte. »Deine Flügel sind ja naß«, sprach Ursula. »Ja, liebe Ursula!« sagte der Vogel, »ich habe sie in kühles Quellwasser getaucht und habe flatternd dein Gesicht [ . . .] besprengt, [ . . . ] « (1000). In dieser Spende gibt sich wiederum ein »Engel in der Wüste« zu erkennen, der —ähnlich wie im Gedicht, wo es heißt »Er legte sein tauicht Gefieder/Mir kühl um das glühende Haupt,/Und sang mir Pilgerlieder/Da hab' ich geliebt und geglaubt« 2 5 3 - Ursula in ihrer seelischen Not tröstet. Dieser im Märchengeschehen bedeutsame Vogel gehört der unglücklichen Familie Neuntöter an, ein unter Jerum als Handlanger seiner Mordgelüste in Sünde gefallenes Adelsgeschlecht, das zur Strafe in diese unsympathische, im Tierleben auch Würger genannte, Vogelart verwandelt wurde und nach reuevol251
Werke I, S. 3 4 8 f . , S. 3 4 9 f r . , S. 3 5 4 f f .
252
D e r Traum von der Nottaufe hat ein thematisches Pendant im »Tagebuch der AhnfrauIch bin durch die Wüste gezogen< ( 1 8 1 6 ) . (Werke I, S. 354). D i e Erzählung der Emmerick scheint ebenfalls von der Brentanoschen Fragestellung beeinflußt: »Es war mir in meiner J u g e n d immer ein sehr betrübter Gedanke, daß die Kinder, welche vor der Taufe sterben, nicht glücklich sein sollten. Und wenn ich dann einen solchen Gedanken nicht loswerden konnte und unter allen Geschäften immer mit mir herumtrug und ihn G o t t empfahl, kriegte ich Weisung darüber in einem Gesicht, ich sah diese Wesen als kleinere Seelen an einem Ort, w o es auch freudig war, denn ich weiß, daß die Erbsünde allein niemand ewig verdammt [ . . . ] « . ( V g l . W i n f r i e d H ü m p f n e r , Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit in seinen Emmerick-Aufzeichnungen. W ü r z b u r g 1 9 2 3 . S. 328fr. und S. 474; e b d . , S. 3 3 0 , die zitierte Erzählung der Nonne).
253
W e r k e l , S. 3 5 6 .
238
ler Umkehr und tätiger Buße nun ein gefahrvolles Dasein im Walde Jerums fuhrt. Selbstkasteiung und Sühne sind der Familie täglich Brot. Ihr ganzes Begehren richtet sich darauf, Ursula dafür Dank zu erweisen, daß diese ihre Brut vor einem Marder gerettet hat. 2 , 4 Mit dieser Familie introduziert Brentano, abgesehen von ihrer tröstenden, zwischen Heils- und Seelengeschichte übergänglichen Mittlerfunktion für Ursula, ein erbauliches Thema, das auf intersubjektiver Ebene Seelengeschichte repräsentiert und bewirkt. Im Gegensatz zu Jerum, der erst durch seinen Sohn Ursulus zum Sündenbekenntnis gelangt, hat diese Familie aus freiem Entschluß ihre Buße angetreten und stellt somit ein erbauliches Vorbild dar. Es ist nur konsequent, daß die Familie Neuntöter Ursula auf ihrem Weg der Erlösung hilfreich begleitet, kann sie doch dadurch selbst an dem Mittlertum der Ursula partizipieren und zum endlichen Heil gelangen. A m Schluß des Märchens findet dieser sinnreiche Bezug seinen symbolischen Ausdruck in der Hochzeit der in schöne Menschengestalt zurückverwandelten Fräulein Neuntöter mit dem künftigen König Ursulus. Neben den poetischen Figurationen sind vor allem die Allusionen und Zitate heilsgeschichtlicher Motive und traditioneller Bildsymbole im Geschehen um die so vielschichtig angelegte Heilsfigur der Ursula bezeichnend für den Sinnzusammenhang. An einer der poetisch schönsten Stellen des Märchens, der Geburt ihres Kindes, tritt das reiche Beziehungsgeflecht hervor. Daß es sich um eine Postfiguration der Heiligen Nacht handelt, wird durch die insistierende Hervorhebung des Wechsels der Tageszeiten, »es ward Abend«, »es ward Nacht« ( 1 0 1 9 ) , bedeutet. Die Reihe der Szenen wird mit dem folgenden Traumgesicht Ursulas eingeleitet: Es war ihr aber im Traum: als trete ihre Mutter zu ihr und schaue m i t ihr in das Sternbild, und da zuckten auf einmal die Sterne zusammen, und es falle ein Stern herunter in ihren Schoß. Da fühlte sie eine so hastige Freude und einen süßen Schmerz, als fliege alles irdische G l ü c k wie ein feuriger Pfeil durch ihr Herz, und als fange sie ihn m i t ihren Händen, und als wäre es ein wunderschöner bunter Vogel, der sich an ihre Brust schmiege, und von ihren Lippen esse und trinke, wie von roten Kirschen. Aber es war ihr: als ringe ihre Mutter m i t ihr u m die wunderbare Gabe des H i m m e l s , ein R i n g e n , wie der Engel mit J a k o b rang, und es fuhr ein Schmerz wie ein Blitz durch das Innerste ihres Lebens; da lächelte ihre Mutter und legte ihr ein liebes K i n d in die A r m e , und segnete sie und verschwand. ( 1 0 2 0 )
254
Der Familie Neuntöter verwandt ist das Mäusepaar Sissi und Pfiffi im großen >Gockel-Märchen< hinsichtlich der »Entrichtung des Dankes für einen Akt, in dem Liebe und Güte (Charitas) im Dienste der Lebenserhaltung zusammenflössen.« Durch sie wie durch ihre jeweiligen Retter wird nach Oskar Seidlin »das Gedicht bewegt und belebt [.. .] vom Geiste der Liebe und Güte«. Seidlin 1973, S. 243.
239
In dieser Kumulierung von Bildern ist die Erfahrung der mystischen Einheit mit Gott Kristallisationspunkt der poetischen Argumentation. Der in den Schoß fallende Stern ist Zeichen kosmischer Empfängnis und der folgende Schmerz wie die Freude sind Reaktionen auf das Wunder der Vermählung des Ewigen mit dem Irdischen. Das Bild des feurigen Pfeils zitiert Brentano m. E. nach Teresa von Avila, wo es als Ausdruck der Gottesminne fungiert. 255 Der Schmerz Ursulas wird analog zu Teresas Erfahrung in einen geistigen Schmerz verwandelt, in dem sich die ewige Liebe offenbart. Im Bild des Vogels, der Metamorphose des Pfeiles, wird diese geistlich-erotische Einheit mit Gott objektiviert und zugleich die auf dieses Gesicht Ursulas folgende Geburt vorweggenommen. Der Vogel, der sich an ihre Brust geschmiegt von Ursulas Lippen nährt, folgt dem ikonographischen Konzept der »Maria lactans«. Der sinnliche Gestus dieses Bildes beruht auf einer exegetischen Tradition in der >Hohe-LiedHohen-Liedes< ist in einer passiven Rolle zugleich als Säugling wie als minnender Bräutigam präsent. Entsprechend besteht das Glück Ursulas in der Symbiose der Jesusminne mit dem Gefühl einer stillenden Mutter. Sulamith und Mater Maria werden eins im mütterlichen Liebeskörper. Die Entgrenzungserfahrung, die Ursula im Schmerz des Pfeiles erfährt, wird noch einmal in der Analogie zu Jakobs Kampf mit dem Engel betont. In der Verbindung von epiphanischer jüdischer Gotteserfahrung und mystischem Identitätserlebnis akzentuiert Brentano eschatologische Präsenz. Da wir uns im Märchen befinden, folgt dem Traum sofort seine reale Einlösung. Ursula erwacht und ein
255
V g l . D i e sämtlichen Schriften der hlg. Theresia von J e s u . Hrsg. von G . Schwab u. M . J o c h a m . 2. A u f l . Sulzbach 1 8 5 1 / 5 3 . S. 348/50: »Es gefiel den Herrn, daß ich zuweilen diese Schauung hatte: Ich sah zur Linken neben mir einen Engel in leiblicher Gestalt. Er war nicht groß, sehr schön und so strahlend von Anlitz, wie es den liebentflammten seligen Geistern der höchsten Ordnung eigen ist. Ich sah in seiner Hand einen langen goldenen Pfeil mit einem Flämmchen an der Spitze. Er bohrte ihn einige Male mir ins Herz bis auf den G r u n d . Z o g er ihn zurück, so war es mir, als zöge er mein Leben an sich. Endlich verließ er mich ganz entzündet von der heißesten Liebe zu Gott, So brennend war der Schmerz, daß ich leise Klageseufzer von mir gab, hinwieder war auch die Wonne dieses ungemeinen Schmerzes so über alles Maß, daß ich unmöglich sein Ende wünschen noch eine höhere Stillung in G o t t begehren konnte. Es ist kein leiblich, sondern geistig empfundener Schmerz, obwohl auch der Leib, und zwar nicht wenig, daran Anteil hat.«
256
M a r t i n Opitz, Geistliche Poemata 1638. Deutsche Neudrucke. Hrsg. von Erich Trunz. Tübingen 1 9 6 6 . S. 3 2 . Zitiert nach: Andre Stoll, Nachwort: Poetische Rückeroberung der irdischen Paradiese des Ichs. Elemente einer (weiblichen) Liebestheorie. In: Teresa von Avila. Von der Liebe Gottes. Ü b e r etliche Wort des Hohenlieds Salomonis. Nach der dt. Erstübers. von 1 6 4 9 bearb. von Barbara Könneker. H r s g . und mit einem Nachwort versehen von Andre Stoll. Frankfurt a. M . 1 9 8 4 . S. 8 6 — 1 7 6 . Hier: S. 1 3 5 .
240
märchenhafter Christusknabe »lag an ihrer Brust« (1020). 2 5 7 Das seelengeschichtliche Ereignis der mystischen Erfahrung Ursulas ist zu einer heilsgeschichtlichen Inkarnation erweitert. Mutter und Kind, die - gemäß der Mehrschichtigkeit auch der >Hohe LiedLebensumriß der Emmerick< von jährlich zur Adventszeit wiederkehrenden Visionen der Nonne, in denen sie Maria auf ihrer Reise nach Bethlehem begleitete und die werdende Mutter sinnbildlich tätig unterstützte, indem sie »mit großer Mühe und Geschicklichkeit Nachts ohne Licht im Schlafe viele Windeln, Wämser, Mützen und Binden für die Kinder armer Wöchnerinnen, deren Stunde nahte, aus vielen Läppchen zusammenflickte, welche sie dann Morgens hoch verwundert neben sich im Schränkchen zierlich aufbewahrt fand«. 284 In der weiblichen visionären Literatur ist diese Wäschevorsorge ein Topos, wird die Vision des göttlichen Kindes, wie Ernst Benz paradigmatisch für Caterina Ricci gezeigt hat, zu einem »Krippen-und Körbchenidyll« stilisiert, wobei die bekannten Windeln aus der Geburtsgeschichte des Lukasevangeliums
283 384
Schuster 1980, S. 339. Vgl. ebd., S. 339f. u. S. 340 (Anm. 12). F B A 26, S. 55.
248
(Luk.2,7) durch eine »ganze Baby-Ausstattung« ergänzt werden. 2 8 ' Das von Basile übernommene Motiv des Bächleins, das den Turm unterspült, steht in einem dreifachen Sinnbezug. Als anfänglich verschlossene Quelle (HL 4 , 1 2 ) ist es ein Sinnbild der Jungfräulichkeit, als geöffnete Quelle, die Ursula zur Erfrischung und später zur Kommunikation mit ihrem Kind mittels der Flaschenpost dient, weist es auf Ursulus (Christusfigur) als das Wasser des Lebens (Jer. 1 7 , 1 3 ; J o h . 4 , 1 0 ; O f f . 2 1 , 6 ; 2 2 , 1 ) . Zudem erinnert Brentano mit Ursulas Tritt in das kalte Naß der Quelle während des Traumes von der Nottaufe an die Taufe Christi im Jordan (Matth. 3 , 1 3 —17; Mark. 1 , 9 — 1 1 ) . Von den biographischen Allusionen seien nur einige kommentiert. Mit Ursulas Wunsch, vom Blick der Vögel verschont zu werden, spielt Brentano auf seine eigene Angst vor der Ausgesetztheit an ein Publikum an. Das Verlangen Ursulas nach der mit ihrem Namen signierten Wäsche hat ein autobiographisches Pendant in Brentanos Wunsch, stets seine Bücherkisten um sich zu versammeln, da er sich mit diesen jede Fremde heimisch zu machen wußte. Die Lektüre Ursulas, »ein Katechismus, ein Gebetbuch, ein Evangelienbuch und ein Kalender« ( 1 0 1 8 ) , ist Anspielung auf die Lektüre der Emmerick, von der Brentano im >Lebensumriß< der Nonne in Hinblick auf das Ideal der sancta simplicitas schreibt: Aeußerlich wußte und glaubte sie nichts, als den Katechismus, die gewöhnliche biblische Geschichte, die Sonn- und Festtäglichen Evangelien und den Kalender, der ihr, als einer Schauenden, als das tiefsinnigste Buch erschien, welches ihr auf wenigen Blättern den Leitfaden darbot, Zeit und N a t u r von einem Mysterium der Erlösung zum andern m i t allen Heiligen feiernd zu durchwandern, u m in dieser Wallfahrt mit d e m Kirchenjahr alle Gnadenfrüchte der E w i g k e i t in der Z e i t zu ernten, zu bewahren und wieder auszutheilen, [. . . ] . 2 8
Ernst Benz, Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt. Stuttgart 1969. S. s Die Windeln oder ein Windelband werden als Attribute der Menschwerdung im Weihnachtsbild oft deutlich hervorgehoben. Vgl. Gertrud Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst. Gütersloh 1 9 6 6 - 8 0 . Bd. 1, Sp. 8·)ί. :86
F B A 26, S. 4 1 . Vgl. auch Brentanos Lektüreempfehlung für die Kinder Sophie von Schweitzers: »Im Allgemeinen kann ich aus eigener Erfahrung und aus der Erfahrung vieler trefflicher Eltern und Erzieher vor der allzu beförderten Leserei der Jugend nur warnen, besonders in unserer Zeit [. . . ] . Ich weiß aus eigener Erfahrung, was Lesesucht durch die Entdeckung solcher in Familien zerstreuter Büchernester für große Gefahren laufen kann [ . . . ] . Eine fromme Mutter [ . . . ] muß auch alles beseitigen, wodurch die, von denen sie Rechenschaft geben muß in Versuchung gefuhrt werden können, [ . . . ] ich bin in solcher Gelegenheit in viele Versuchung eingegangen und schwer darum beschädigt worden. [ . . . ] Als einen sehr guten Katechismus schaffe Dir an: >Katholischer Katechismus J . Jgn. Felbiger's erste und zweite Klasse [ . . .]Orbis sensualium pictusScherzendes Gemisch von der N a c h a h m u n g der Heiligen< in der >Zeitung für Einsiedlern Heidelberg 1 8 0 8 (Reprint Darmstadt 1 9 6 2 ) . N r . 7 , 2 3 . April. Buchausgabe, Sp. 4 9 — 5 1 . Der Beitrag beginnt mit der Erzählung aus der J u g e n d J e s u , in die A r n i m einen früheren Beitrag von Bettine und sich einarbeitete und umgestaltete. Steig hat das Orginal veröffentlicht in: Euphorion 1 9 , 1 9 1 2 . S. 2 3 0 — 2 3 2 . V g l . den K o m m e n t a r von Hans Jessen zum Reprint 1 9 6 2 , Anhang, S. 1 0 . S. auch Bettina von A r n i m , Werke und Briefe. Hrsg. von Gustav Konrad. Darmstadt 1 9 6 3 . B d . IV, S. I 3 2 f f .
250
unterwirft sich ihrem visionären Gnadenstrom und nimmt dann wieder in der Pflege und Beförderung des Emmerickschen visionären und körperlichen Mitleidens der Passion Christi eine mütterliche Stellung ein, die am prägnantesten in einer Art Pietä-Gebärde wiederkehrt. Was sich im Rollenverhalten Brentanos aufspaltet, konvergiert in der Vorstellung der Emmerick als kindliche Mutter analog dem mater et virgo-Konzept, das fiir Brentano, wie bereits gezeigt, auch Grundlage seiner Ekklesiologie darstellt. Die kindliche, weil unschuldige Nonne ist dem Dichter Anlaß und Weg zur eigenen Kindwerdung. Gerhard Schaub, der den Motivkomplex des Kindes thematisiert hat, fuhrt aus: die Kindlichkeit und eigene Kindwerdung »einzuleiten, schien Brentano niemand geeigneter als eine kindliche Frau«, weil in ihrer Kindlichkeit zugleich die Mütterlichkeit Inbegriffen sei. 290 Es ist deutlich, daß diese Vorstellung Brentano letztlich zu der Vorbildhaftigkeit der Gottesmutter und der unbefleckten Empfängnis führt, die »in der katholischen Glaubenslehre sowohl auf die Empfängnis und Geburt Christi durch Maria als auch auf die Parthenogenesis der Gottesmutter selbst bezogen ist«. 2 9 ' Hervorzuheben ist, daß die Kindwerdung analog zur Menschwerdung Christi gedacht ist, das Kind also Erlöstes und Erlöser, Geschöpf und Schöpfer zugleich bedeutet. Die aktive Funktion als Erlöser und Schöpfer manifestiert sich m. E. auch in der angedeuteten Muttergebärde Brentanos gegenüber der Emmerick. Sie könnte zudem sein Rollenverständnis als Schreiber und Sammler ihrer Visionen erklären, die er in ihrer heiligen Bedeutsamkeit aus ihrer - oft beklagten - nicht vorhandenen »Anlage [ . . . ] , etwas objektiv zu erzählen« oder »das Förmliche des Ganzen zu sagen«, 292 mitschöpfen und mitgestalten muß. Die Identität des Gott-Kindes Dichter steigert sich jedoch nie zum selbstund weltmächtigen Souverän und Erlöser, findet nicht zur Identität des Gott-Ich, sondern bleibt gebunden an den personalen Bezug zu dem anderen, von dem es herkommt, aus dem es geboren ist. In der Anfangsszene des Märchens hatte Brentano das mater et virgo-Konzept in allegorisch-objektiver Weise in Anbildung an ikonographische Traditionen entworfen; in der komplementären Turmszene wird es präzisiert und in dem personalen Verhältnis von Mutter und Kind individualisiert. Dies erlaubt einen Einblick in die Entwicklung des Märchens von einer Mittelbarkeit zur Unmittelbarkeit. Die Interdependenz zwischen der Mittelbarkeit der Form und der Unmittelbarkeit der Empfängnis des schöpferischen Impulses, die zu einer Konkordanz einer allegorisch-objektiven Ästhetik mit einer weiblichen Ästhetik des Empfangens führt, konkretisiert sich für Brentano, gespiegelt unter anderem im Motivzusammenhang des >Fanferlieschen-MärchensAllegorie< und >Symbol< in Winckelmanns, Moritz' und Goethes Kunsttheorie. In: D V j s 64, 1 9 9 0 . S. 2 4 7 - 2 7 7 . Foucault, Michel: Die Prosa Aktaions. In: P. Klossowski, G . Bataille u . a . : Sprachen des Körpers. Berlin 1 9 7 9 . S. 25 — 38. Frank, Manfred: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt a. M . 1 9 7 7 . — Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. I. Teil. Frankfurt a. M . 1 9 8 2 . — Die Dichtung als » N e u e Mythologie«. In: Mythos und Moderne. Hrsg. von K a r l Heinz Bohrer. Frankfurt a. M . 1 9 8 3 . S. 1 5 — 4 0 . — Kaltes Herz. Unendliche Fahrt. N e u e Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne. Frankfurt a. M . 1 9 8 9 . Frühwald, W o l f g a n g : Das verlorene Paradies. Z u r Deutung von Clemens Brentanos »Herzlicher Z u e i g n u n g « des Märchens »Gockel, Hinkel und Gackeleia« ( 1 8 3 8 ) . In: Litwiss. J b . N . F. 3, 1 9 6 2 . S. 1 1 3 — 1 9 2 . — Stationen der Brentano-Forschung 1 9 2 4 — 1 9 7 2 . In: D V j s 4 7 , 1 9 7 3 (Sonderheft). S. 1 8 2 — 269. — Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter. In: Kindlers Literatur Lexikon im dtv, 25 Bde. München 1 9 7 4 . B d . 1 4 , S. 6 1 4 9 . — Anfange der Katholischen B e w e g u n g . Z u r Parteinahme der Romantiker im Streit zwischen Kirchen und Staat in den preußischen Westprovinzen 1 8 1 9 — 1 8 4 5 . In: Rheinische Vierteljahrsb l ä t t e r 4 i , 1 9 7 7 . S. 2 3 1 — 2 4 8 . — Das Spätwerk Clemens Brentanos ( 1 8 1 5 — 1 8 4 2 ) . Romantik im Zeitalter Metternichscher Restauration. Tübingen 1 9 7 7 . — A c h i m von A r n i m und Clemens Brentano. In: Handbuch der deutschen Erzählung. H r s g . von K a r l Konrad Polheim. Düsseldorf 1 9 8 1 . S. 1 4 5 — 1 5 8 . — Die Emmerick-Schriften Clemens Brentanos. Ein Versuch zur B e s t i m m u n g von Anlaß und literarischer Intention. In: Emmerick und Brentano. Dokumentation eines Symposions der Bischöflichen
265
Kommission »Anna Katharina Emmerick«. Münster 1982. Unter Mitarbeit von Wolfgang Frühwald hrsg. von Clemens Engling u. a. Dülmen 1983. S. 1 3 - 3 3 · Frye, Lawrence O.: Poetic Wreath. Art, Death and Narration in the Märchen of Clemens Brentano. Heidelberg 1989. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Tübingen i960. — Das hermeneutische Problem der Anwendung. In: Seminar: Philosophische Hermeneutik. Hrsg. von H . - G . G . und Gottfried Boehm. Frankfurt a. M. 1976. S. 327 — 3 3 2 . Gajek, Bernhard: Homo poeta. Zur Kontinuität der Problematik bei Clemens Brentano. Frankfurt a.M. 1 9 7 1 . — Heidelberg-Regensburg —München. Stationen Brentanos. In: Euphorion76, 1982. S. 58—81. Göttert, Karl-Heinz: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988. von Graevenitz, Gerhart: Das Ich am Rande. ZurTopik der Selbstdarstellung bei Dürer, Montaigne und Goethe. (Konstanzer Universitätsreden 172). Konstanz 1989. — »Contextio« und »conjointure«, Gewebe und Arabeske. Über Zusammenhänge mittelalterlicher und romantischer Literaturtheorie. In: Literatur, Artes und Philosophie. Hrsg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1992. S. 229 — 257. Heisig, Bernhard: Die Radierungen zu Brentanos »Fanferlieschen« im Werk Beckmanns. In: Clemens Brentano. Das Märchen von Fanferlieschen Schönefußchen. Mit 8 Radierungen von Max Beckmann. Leipzig 1977. S. i o i f . Henel, Heinrich: Nochmals: Brentanos Weberlied. Ein Beitrag zur Frage der kontextbezogenen Interpretation. In: Euphorion 7 2 , 1978. S. 4 2 1 — 4 3 8 Herzog, Urs: Geistliche Wohlredenheit. Die katholische Barockpredigt. München 1 9 9 1 . Hocke, Gustav Rene: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Hamburg 1957. vom Hofe, Gerhard, Ρ faff, Peter, Timm, Hermann (Hrsg.): Was aber bleibet stiften die Dichter? Zur Dichter-Theologie der Goethezeit. München 1986. vom Hofe, Gerhard: Schöpfung als Dichtung. Herders Deutung der Genesis als Beitrag zur Grundlegung einer theologischen Ästhetik. In: Was aber bleibet stiften die Dichter? Zur DichterTheologie der Goethezeit. Hrsg. von G. vom H . , Peter Pfaff, Hermann Timm. München 1986. S. 6 5 - 8 7 . Hoffmann, Werner: Clemens Brentano. Leben und Werk. Bern 1966. Holst, Christa und Sudhof, Siegfried: Die Lithographien zur ersten Ausgabe von Brentanos Märchen »Gockel, Hinkel und Gackelja< (1838). In: Litwiss. J b . N . F . 6, 1965. S. 140—154. Hosch, Reinhard: Immanente Reflexion und Rahmen-Binnen-Struktur. Zum formalen und stofflichen Zusammenhang von Clemens Brentanos Erzählungen. Diss. Heidelberg 1988. Hümpfner, Winfried: Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit in seinen Emmerick-Aufzeichnungen. Würzburg 1923. Jamme, Christoph: »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer MythosTheorien der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1 9 9 1 . Jauß, Hans Robert: Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur. In: Die Groteske. Hrsg. von Otto F. Best. Darmstadt 1980. S. 143 — 178. — Zum Problem des dialogischen Verstehens. In: Dialogizität. Hrsg. von Renate Lachmann. München 1982. S. I i — 2 4 . Jokl, Johann: Von der Unmöglichkeit romantischer Liebe. Heinrich Heines »Buch der Lieder«. Opladen 1 9 9 1 . Kastinger-Riley, Helene M.: Clemens Brentano. Stuttgart 1985. Kayser, Wolfgang: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg, Hamburg 1957· Keller, Werner: Goethes dichterische Bildlichkeit. Eine Grundlegung. München 1972. Kemp, Friedhelm: Nachwort. In: Werkel, S. 1 2 9 0 — 1 3 3 6 . Kiesel, Helmuth und Münch, Paul: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland. München 1977.
266
Kleinschmidt, Erich: Denkform im geschichtlichen Prozeß. Zum Funktionswandel der Allegorie in der frühen Neuzeit. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Hrsg. von Walter Haug. Stuttgart 1979. S. 388—404. Kluge, Gerhard: Clemens Brentanos Erzählungen aus den Jahren 1 8 1 0 —1818. Beobachtungen zu ihrer Struktur und Thematik. In: Brentano-Kolloquium 1980. S. 102 — 1 3 4 . Knauer, Bettina: König Jerum. Zur Entschlüsselung einer Figurenkonstellation in Brentanos Märchen von »Fanferlieschen Schönefiißchen«. In: Aurora 5 1 , 1991. S. 95 — 103. Köhler, Oskar: Müde bin ich, geh' zur Ruh'. Die hell-dunkle Lebensgeschichte Luise Hensels. Paderborn 1 9 9 1 . Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1982. Lachmann, Renate: Dialogizität und poetische Sprache. In: Dialogizität. Hrsg. von R. L. München 1982. S. 5 1 — 6 2 . - Vorwort. In: Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Frankfurt a. M. 1987. S. 7—46. Lovejoy, Arthur O.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a. M. 1985. Lüders, Detlev: Nachwort. In: Clemens Brentano, Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter. Stuttgart 1966. S. 7 1 — 7 9 . Lüthi, Max: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. 4. erw. Aufl. München 1974. Lützeler, Paul Michael: Napoleon-Legenden von Hölderlin bis Chateaubriand (1798—1848). In: P . M . L . : Geschichte in der Literatur. Studien zu Werken von Lessing bis Hebbel. München, Zürich 1987. S. 264 — 299. Man, Paul de: Allegorie und Symbol in der europäischen Frühromantik. In: Typologia Litterarum. Festschrift für Max Wehrli 1969. S. 403—425. Manger, Klaus: Himmelwracks. In: Paul Celan »Atemwende«. Materialien. Hrsg. von Gerhard Buhr und Roland Reuss. Würzburg 1 9 9 1 . S . 235 — 2 5 1 . Mathes, Jürg: Pumpelirio Holzebock in Brentanos »Märchen von Fanferlieschen Schönefiißchen«. In: Zeitschrift für dt. Philologie 97, H f t . 2 , 1978. S. 161 — 176. Matthias, Ursula: Kontextprobleme der Lyrik Clemens Brentanos. Eine Studie über die Verseinlagen im »Godwi«. Frankfurt a. M., Bern 1982. Meixner, Horst: Denkstein und Bildersaal in Clemens Brentanos »Godwi«. Ein Beitrag zur romantischen Allegorie. In: J b . der deutschen Schillergesellschaft 1 1 , 1967. S. 435—468. Moering, Renate: Angelus Silesius als Quelle für die Lyrik Clemens Brentanos. Zur Authentizität des Gedichts »Liebster Hirte, denkst du n i c h t . . . « . In: Aurora 40, 1980. S. 52—70. - Französische Quellen zu Brentanos »Barmherzigen Schwestern«. In: Brentano-Kolloquium 1980. S. 216—238. Müller-Seidel, Walter: Brentanos naive und sentimentalische Poesie. In: J b . der deutschen Schillergesellschaft 18, 1974. S. 441—456. - Brentanos späte Lyrik. Kontinuität und Stilwandel. In: Brentano-Kolloquium 1980. S. 239 — 275. Nägele, Rudolf: Die Muttersymbolik bei Clemens Brentano. Diss. Zürich 1959. Neuhold, Martin: Achim von Arnims Kunsttheorie und sein Roman »Die Kronenwächter« im Kontext ihrer Epoche. Hermaea N . F . 7 3 . Tübingen 1994. Neumann, Gerhard: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976. Neumann, Peter Horst: Legende, Sage und Geschichte in Achim von Arnims »Isabella von Ägypten«. In: J b . der deutschen Schillergesellschaft 1 2 , 1968. S. 296 — 3 1 4 . - Die Rettung der Poesie im Unsinn. Der Anarchist Günter Eich. Stuttgart 1 9 8 1 . - Rilkes »Archaischer Torso Apollos« in der Geschichte des modernen Fragmentarismus. In: Fragment und Totalität. Hrsg. von Lucien Dällenbach und Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt a. M. 1984. S. 2 5 7 - 2 7 4 . Neureuter, Hans-Peter: Das Spiegelmotiv bei Clemens Brentano. Studie zum romantischen IchBewußtsein. Frankfurt a. M. 1972. Nickisch, Reinhard M. G . : Brief. Stuttgart 1 9 9 1 . Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800—1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1984.
267
OesterLe, Günter: Arabeske und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Friedrich Schlegels »Brief über den Roman«. In: Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode. Hrsg. von Dirk Grathoff. Frankfurt a . M . , Bern, New York 1985. S. 233—292. — E . T . A. Hoffmann: Des Vetters Eckfenster. Zur Historisierung ästhetischer Wahrnehmung oder Der kalkulierte romantische Rückgriff auf Sehmuster der Aufklärung. In: Deutschunterricht 39, Hft. 1, 1987. S. 84 — 1 1 0 . — Arabeske, Schrift und Poesie in E . T . A . Hoffmanns Kunstmärchen »Der goldene Topf«. In: Athenäum 1, 1 9 9 1 . S. 69—107. — Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik. In: Athenäum 2, 1992. S. 5 5 - 8 9 . Ohly, Friedrich: Die Geburt der Perle aus dem Blitz. In: F . O . : Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977. S. 2 9 3 — 3 1 1 . — Einleitung in: Hieronymus Lauretus, Silva Allegoriarum totius Sacrae Scripturae. In: F . O . : Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. S. 156—170. — Tau und Perle. Ein Vortrag. In: F. O.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977. S. 274—292. — Zur Goldenen Kette Homers. In: Das Subjekt in der Dichtung. Festschrift fur Gerhard Kaiser. Hrsg. von Gerhard Buhr, Friedrich A. Kittler, Horst Turk. Würzburg 1990. S. 4 1 1 — 4 8 6 . Peter, Klaus: Adel und Revolution als Thema der Romantik. In: Legitimationskrise des deutschen Adels 1200 —1900. Hrsg. von Peter Uwe Hohendahl und Paul Michael Lützeler. Stuttgart 1979. S. 1 9 7 - 2 1 7 · Polheim, Karl Konrad: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik. München, Paderborn, Wien 1966. Rahner, Hugo: Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter. Salzburg 1964. Rehm, Walter: Experimentum medietatis. Studien zur Geistes- und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. München 1947. — Brentano und Hölderlin. In: W. R . : Begegnungen und Probleme. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1957. S.40—88. Reifenberg, Bernd: Die »schöne Ordnung« in Clemens Brentanos »Godwi« und »Ponce de Leon«. Göttingen 1990. Richter, Dieter: Brentano als Leser Basiles. In: J b . des Freien Deutschen Hochstifts 1986. S. 2 3 4 — 2 4 1 . Ricklefs, Ulfert: Objektive Poesie und Polarität Gesetz und Gnade: Brentanos >Die Gründung Prags< und Grillparzers >Libussa