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German Pages 288 [241] Year 2020
Analysis dubii
ratio fidei Beiträge zur philosophischen Rechenschaft der Theologie Herausgegeben von Georg Essen, Klaus Müller, Thomas Pröpper (†), Magnus Striet und Saskia Wendel Band 71
Kathrin Stepanow
Analysis dubii Die theologische Legitimität iterativen Zweifelns
Verlag Friedrich Pustet Regensburg
für Konstantin und meine Eltern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-7917-3148-3 © 2020 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany 2020 eISBN 978-3-7917-7276-9 (pdf ) Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie auf www.verlag-pustet.de
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Akt des Zweifelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
2.1
Erste Annäherungen an den Begriff des Zweifels und den Akt des Zweifelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie . . . 2.2.1 Begriffsbestimmung des Zweifels über seine Abgrenzung von der Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Pyrrhonische Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Zweifel bei Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Zweifel bei Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Zweifel und Skepsis bei Hume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Zweifel bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.7 Zweifel bei Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.8 Zweifel bei Hermes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.9 Zweifel bei Kleutgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.10 Zweifel bei Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.11 Zweifel bei Tillich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Typologie des Zweifelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Einführende Bemerkungen zur Unterscheidung zwischen hypothetischem und tatsächlichem Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Zur Differenzierung verschiedener Aspekte des Zweifelns . . . . . . . . 2.3.2.1 Der Aspekt der Voraussetzung des Zweifelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.2 Der Aspekt der Situation des Zweifelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.3 Der Aspekt der Reaktion auf die Situation des Zweifelns . . . . . . . . 2.3.3 Der Akt iterativen Zweifelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Das dezisionistische Verfahren als fragliche Reaktion auf die Situation des Zweifelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 3.1.1
Begriffliche Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff des Dezisionismus und die These des doxastischen Voluntarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 24 24 28 35 38 40 45 48 52 61 67 76 87 88 91 91 92 95 97
99 99 99
6
3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.6.1 3.2.6.2 3.2.6.3 3.2.6.4 3.2.6.5 3.2.7 3.2.7.1 3.2.7.2 3.2.7.3 4 4.1 4.1.1 4.1.2
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Zur Verwendung des Begriffs der Wahl im Kontext des doxastischen Voluntarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung der Gründe für und gegen die These des doxastischen Voluntarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . William James: „The Will to Believe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernard Williams: „Kann man sich dazu entscheiden, zu glauben?“ . . Carl Ginet: „Deciding to Believe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . William P. Alston: „The Deontological Conception of Epistemic Justification“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Knappiks Hegelrezeption zur doxastischen Freiheit . . . . . . . . . Das Verhältnis von Wille und Intellekt bei Thomas von Aquin . . . . Die problematische Verhältnisbestimmung von Wille und Intellekt bei Thomas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise auf einen direkten doxastischen Voluntarismus bei Thomas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise auf einen indirekten doxastischen Voluntarismus bei Thomas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Form des doppelten doxastischen Voluntarismus nach Schüßler als Lösungsansatz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen und Anfragen an dieses Konzept . . . . . . . . . . . Schlussfolgernde Thesen sowie Problematisierung einer dezisionistischen Setzung religiösen Glaubens im Sinne des doxastischen Voluntarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwendung(en) des Glaubensbegriffs innerhalb der Debatte um den doxastischen Voluntarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen auf deskriptiver Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen auf präskriptiver Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101 102 102 108 114 127 135 144 145 149 151 155 156 158 158 161 170
Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Der Begriff des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Annäherungen über vier Ebenen des Glaubens . . . . . . . . . . . Fiduzieller bzw. non-kognitiver und doxastischer bzw. kognitiver Glaubensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Zwei grundlegende Positionierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.1 Fideismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.2 Starker Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Der trotz seiner Schwierigkeiten bestehende Anspruch auf Vernünftigkeit des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173 173 176 180 180 180 183 188
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4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 5
Eine nachgestellte Problematisierung des Rationalitätsbegriffs . . . . Die Vernünftigkeit des Glaubens nach dem Verständnis des kritischen Rationalitätsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folgen des kritischen Rationalitätsbegriffs für das Verhältnis von Glauben und Zweifeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaubensgewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Pflicht zu zweifeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Akt des Zweifelns als Moment des Glaubens . . . . . . . . . . . . . .
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191 198 209 209 211 215
Abschluss: Iteratives Zweifeln als legitimes Moment des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Verzeichnis der verwendeten Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
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Vorwort
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Vorwort Die Fragestellung dieser Dissertation entwickelte sich einerseits aus einer biographischen Motivation und andererseits aus einer Beobachtung der Gegenwartsgesellschaft heraus. Zweifel an Glaubensüberzeugungen nicht nur religiöser Art scheinen in der Postmoderne immer lauter zu werden, in der Theologie und Philosophie aber kein entsprechendes Gehör zu finden. Mit meiner systematischen Untersuchung des Problems des Zweifelns möchte ich dazu beitragen, diese Lücke der Forschungslandschaft zu schließen. Mein Glück war es, dass Prof. Dr. Ralf Miggelbrink, der ursprünglich selbst Zweifel an dem Thema hatte, mir die Freiheit ließ, der theologischen Legitimität des Zweifelns auf den Grund zu gehen und mich dabei unermüdlich unterstütze. Ich bin zutiefst dankbar dafür, dass er mich philosophisch und theologisch zu denken gelehrt hat. Besonders verbunden bin ich auch Prof. Dr. Dr. Klaus Müller. Er hat mich während meines gesamten Dissertationsprojekts immer wieder dazu eingeladen, meine Entwicklungen und Ergebnisse in seinem Oberseminar vorzutragen. Darüber hinaus hat er mein Zweitgutachten im Dissertationsverfahren verfasst. Die guten Gespräche mit ihm und seinen Schülerinnen und Schülern haben mein Denken ebenfalls stark geprägt. Mein herzlicher Dank gilt ebenfalls Prof. Dr. Markus Tiwald, der an der abschließenden Disputation mitwirkte. Auch meinem Prüfungsvorsitzenden Prof. Dr. Oliver Hallich danke ich für die Einladung in sein Oberseminar, in dem ich wertvolle Hinweise für meine Arbeit mitnehmen durfte. Für die Aufnahme in der Reihe ratio fidei danke ich den Herausgebern Prof. Dr. Dr. Klaus Müller, Prof. Dr. Magnus Striet, Prof. Dr. Georg Essen und Prof. Dr. Saskia Wendel sowie erneut Prof. Dr. Dr. Klaus Müller und Prof. Dr. Georg Essen, die mit ihrer Zustimmung die Aufnahme meiner Dissertationsschrift in dieser Reihe befürworteten. Sabine Karlstetter vom Verlag Friedrich Pustet danke ich für die freundliche Zusammenarbeit bei der Veröffentlichung dieser Arbeit. Finanziell unterstützt wurde die Veröffentlichung in erster Linie durch meine Eltern Magdalena und Josef Stais sowie ebenfalls durch einen Zuschuss des Dekanats für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Mit ihrem Promotionsstipendium hat mich die Studienstiftung des deutschen Volkes nicht nur in finanzieller, sondern vor allem auch in ideeller Hinsicht über die gesamte Promotionszeit unterstützt. Viele prägende Begegnungen und Gespräche wurden durch diesen großartigen Förderrahmen möglich. Gelegenheit zu weiteren einsichtsreichen Gesprächen entlang verschiedener Abschnitte meiner Promotionszeit verdanke ich zudem dem Essener Oberseminar von Prof. Dr. Ralf Miggelbrink sowie dem Münsteraner Oberseminar von Prof. Dr. Dr. Klaus Müller. Auf besondere Weise bereichernd waren meine beiden Forschungsaufenthalte an der University of Cambridge. Ich danke meinem dortigen Supervisor Prof. Dr. Douglas Hedley. Er hat mich nicht nur in seine Seminare an der University of
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Vorwort
Cambridge sowie im Clare College aufgenommen. Er hat mich auch in das Denken angelsächsischer Philosophen und insbesondere der Cambridge Platonists eingeführt und mich mit vielen Anregungen bereichert. Dankbar denke ich an die zwei Semester in Cambridge mit den vielen überaus inspirierenden Begegnungen zurück. Für das Gegenlesen von kleineren und größeren Abschnitten meiner Arbeit danke ich Dr. Christian Hengstermann, Dr. Thomas Hanke, Kristin Kolberg, Dr. Laura Sturm, Dr. Teresa Roger und vor allem meiner Mutter Magdalena Stais. Thorsten Schmied danke ich für die Unterstützung bei Formatierungsfeinheiten. Besonders starken Rückenwind in jeder Situation iterativen Selbstzweifelns erhielt ich von meinem Ehemann Konstantin Stepanow, Nadia Mahmud, Nicola Reinert und meinem Bruder Dr. Patrick Stais, der mich aufgrund meiner Begeisterung für Systematische Theologie dazu ermutigte, sehr früh während meines Studiums den Kontakt zu Prof. Dr. Ralf Miggelbrink und seinem Forschungskolloquium aufzusuchen. Für Unterstützung in jeglicher Hinsicht danke ich meiner gesamten Familie – allen voran meinen Eltern Magdalena und Josef Stais. Sie haben mich stets ermutigt und auf jede erdenkliche Weise unterstützt. Ich bin dankbar und glücklich, dass ich im freien und freundschaftlichen Zusammenwirken mit so vielen Menschen denken und schreiben konnte, was hoffentlich bereichernd wirken möge für andere, die Religion nicht ohne Zweifel denken und leben können, aber auch für diejenigen, die bei Religion und Glauben die Idee des Zweifelns noch nicht mitdenken. Moers, den 11.08.2019 Kathrin Stepanow
1 Einleitung
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1 Einleitung Der gesellschaftliche Kontext der Gegenwart ist durch eine Hochschätzung des Zweifels geprägt. Der grundlegende Anspruch der Moderne und Postmoderne auf Optimierung menschlicher Lebensverhältnisse verlangt um eben dieser Optimierung willen nach der ständigen Infragestellung des Bestehenden. Zweifel gegenüber dem geltenden Althergebrachten erscheint somit geradezu als Tugend. Diese skeptische Grundorientierung kommt auch in der zeitgenössischen Glaubenshaltung zum Ausdruck: Seit dem 31.03.2010 enthält beispielsweise die Wochenzeitung Die Zeit eine Beilage zu religiösen Fragen, die den Titel „Glauben und Zweifeln“ trägt. Die Tatsache, dass diese Beilage sich seit mehr als neun Jahren erfolgreich hält, deutet darauf hin, dass der religiöse Akt des Glaubens in der Gegenwartsgesellschaft fest mit einer nicht mehr skandalisierten Haltung des Zweifelns verbunden ist. Wir glauben nicht, ohne zu zweifeln1, auch wenn das Ideal des zweifelsfreien Glaubens in den Kirchen über Jahrhunderte indoktriniert wurde, wie ein Blick in das immer noch gebräuchliche Liedgut2 belegt. Der zweifelsfreie Glaube steht heute eher unter Naivitätsverdacht. Einerseits ist die hier skizzierte Situation höchst gefährlich für religiösen Glauben, für den es konstitutiv ist, Zustimmung zu Inhalten zu fordern. Andererseits ist die Vermeidung des Zweifels in modernen Gesellschaften nicht legitimierbar. Wie also kann mit dem unvermeidlichen Zweifel religiös umgegangen werden? Muss die christliche Religion vor dieser Situation kapitulieren oder sich fundamentalistisch mit Überzeugungsaffirmation hochrüsten, um bestehen zu können? Sind Zweifel als Widerspruch zum Glauben zu begreifen und deshalb verwerflich? Oder sind Glaube und Zweifel vielmehr als „Geschwisterpaar“3 zu begreifen? Wenn Glaube als Gefühl des Vertrauens Gott gegenüber verstanden wird, dann stellt Zweifel einen Vertrauensmangel dar und erscheint deshalb als illegitim. Wenn Glaube als Zustimmung zu Überzeugungen begriffen wird, dann ist intellektueller Zweifel an Glaubenssät1
2
3
Vgl. Werbick, Jürgen, Glaubensgewissheit: Von der Anfechtung heimgesucht. Oder doch vom Zweifel?, in: Veronika Hoffmann (Hg.), Nachdenken über den Zweifel. Theologische Perspektiven, Ostfildern 2017, S. 109–126, hier: 109. Werbick sieht den Grund für das Einschleichen des Zweifels in menschliche Lebens- und Glaubensgewissheiten durch die Steigerung des Kontingenzbewusstseins begünstigt und verweist hierzu auf Blumenberg, Hans, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1966. Vgl. Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch, Eigenteil für das Erzbistum Paderborn, Paderborn 1975, Nr. 850: „Der Glaube ist nun fest verbürgt, die Hölle ist bezwungen. / Das Leben hat den Tod erwürgt, das Lamm den Sieg errungen. / Nun glaub ich fest und zweifle nicht, ob Höll und Welt auch widerspricht; ich weiß, an wen ich glaube.“ Bongardt, Michael, „Wenn euer Glaube auch nur so groß wäre wie ein Senfkorn …“ (Lk 17,6), in: Veronika Hoffmann (Hg.), Nachdenken über den Zweifel. Theologische Perspektiven, Ostfildern 2017, S. 137–148, hier: S. 137.
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1 Einleitung
zen ebenfalls illegitim: Er stellt dann nämlich eine Negation dar, die diese Zustimmung aufhebt. Der Blick in die Geschichte des Denkens belegt eine weit differenziertere und vielfältigere christliche Haltung zum Akt des Zweifelns. Die analytische Untersuchung exemplarischer Autoren4 lässt philosophische und theologische Positionierungen erkennen, die aufschlussreich für das Verständnis des Zweifelns sind. Sie verspricht ein tieferes Verständnis prinzipieller Möglichkeiten, sich in Situationen epistemischer Ungewissheit philosophisch und theologisch elaboriert zu verhalten. Im Kontext und in Anerkennung unserer gegenwärtigen Situation soll hier die folgende These begründet werden: Der Zweifel ist ein legitimes Moment des Glaubens. Dazu wird erstens geklärt, was unter Zweifeln zu verstehen ist und welche Formen und Aspekte des Zweifelns es gibt (Kapitel 2). Zweitens ist zu untersuchen, welche Möglichkeiten zur Beseitigung des Zweifels es geben könnte, wenn der Akt des Zweifelns als illegitim begriffen werden sollte (Kapitel 3). Schließlich soll das Verhältnis von Glauben und Zweifeln bestimmt werden, um zu beurteilen, ob beide einander ausschließen oder vielmehr aufeinander angewiesen sind (Kapitel 4). Das entscheidende Kriterium für die Kategorie der Legitimität sehe ich in der begrifflichen Widerspruchsfreiheit von Zweifeln und Glauben: Sofern der Akt des Zweifelns konzeptuell mit dem Verständnis von Glauben vereinbar ist, kann er als theologisch legitim gelten. Dieses Kriterium ist logischer beziehungsweise intellektueller Natur. Es ist dadurch begründet, dass religiöser Glaube mit seinem kognitiven Aspekt notwendigerweise diese intellektuelle Ebene beinhaltet – auch wenn er nicht ausschließlich darauf reduziert werden kann. Als problematisch erweisen sich dabei Unklarheiten bezüglich der verwendeten Begriffe sowohl des Zweifels als auch des Glaubens, woraus sich gegenläufige Beurteilungen des Aktes des Glaubenszweifelns ergeben. So wird Zweifel beispielsweise als Widerspruch zum Glauben verstanden, wenn letzterer in einer durch Gewissheit gekennzeichneten Zustimmung zu Glaubenssätzen besteht, in der das Denken und Fragen zu einem Ende gekommen ist. Wenn Glauben einen „perfektiven kognitiven Akt“5 bezeichnet und darüber hinaus „auch den Bedeutungsaspekt der Selbstfestlegung“6 inkludiert, wird Zweifel als Negation des Glaubens begriffen. Außerdem kann Zweifel ebenfalls als Schwäche verstanden werden, wenn er als Ausdruck der Unfähigkeit eines Subjekts, sich zu entscheiden, betrachtet wird. Dabei wird implizit vorausgesetzt, dass wir dazu in der Lage seien, uns zu einer Glaubensüberzeugung zu entscheiden. Zudem wird Zweifel mit Skepsis verwechselt – also mit positioneller Unentschiedenheit. Vorgebrachte Zweifel stehen im Verdacht, auf die grundsätz4 5 6
Vgl. z. B. Sextus Empiricus, Aurelius Augustinus, René Descartes, David Hume, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ludwig Wittgenstein, Georg Hermes, Joseph Kleutgen, Søren Kierkegaard, Paul Tillich in Kapitel 2. Tegtmeyer, Henning, Gott, Geist, Vernunft. Prinzipien und Probleme der Natürlichen Theologie, Tübingen 2013, S. 260. Ebd.
1 Einleitung
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liche Bestreitung der Möglichkeit sinnvoller Wahrheitsbehauptungen abzuzielen. Schließlich brandet dem Zweifler7 der Verdacht des Mephistophelischen entgegen, er sei der „Geist, der stets verneint“8. Damit wird dem zweifelnden Subjekt vorgeworfen, sein Zweifel sei eigentlich eine Attitüde des Skeptikers oder das Subjekt vertrete eine alles negierende Position. Verständigungsschwierigkeiten wie diese machen es erforderlich, den Akt des Zweifelns präziser zu durchdringen und zu erörtern, von welcher Form des Zweifels jeweils die Rede ist. Auch der Begriff des Glaubens muss dabei klar erfasst werden, bevor darüber debattiert werden kann, wie das Verhältnis von Glauben und Zweifeln zu begreifen ist. Aufbau der Arbeit Um den aufgezeigten Verständigungsschwierigkeiten entgegenzuwirken und zu einer Begriffsklärung beizutragen, soll in Kapitel 2 der philosophische und theologische Zugang zum Phänomen des Zweifelns anhand von weiter unten aufgeführten Beispielen rekonstruiert werden. Aus dieser Rekonstruktion wird eine umfassende Typologie des Zweifelns entworfen. Ausgangspunkt für die nähere Begriffsbestimmung bildet zunächst die Abgrenzung des Begriffs des Zweifels von dem der Skepsis. Dabei ist Zweifel – genauso wie bei den darauffolgenden Analysen von Zweiflern – im epistemischen Sinne Gegenstand der Untersuchungen. Er ist abzugrenzen von einer im Alltag ebenfalls gebräuchlichen Redeweise von Zweifel im Sinne eines Gefühls des Misstrauens, das eher vage und nicht rational begründbar ist. Die Auseinandersetzung mit ausgewählten Autoren zu Skepsis und Zweifel erfolgt im Hinblick auf verbindende Merkmale, mithilfe derer zwischen hypothetischem (oft methodischem) und tatsächlichem Zweifel unterschieden werden kann. Insbesondere die Analyse der Merkmale der Entschiedenheit und Unentschiedenheit des Zweifelns erschwert auf den ersten Blick eine klare Charakterisierung des Zweifelns, weil beide Charakteristika einander widersprechen. Um dennoch den Akt des Zweifelns anschaulich darstellen zu können, sollen verschiedene Aspekte des Zweifelns eingeführt werden: der Aspekt der Voraussetzung, der Aspekt der Situation sowie der Aspekt der Reaktion auf die Situation des Zweifelns. Darüber hinaus werden ebenfalls die Momente der Intendiertheit sowie der Abwesenheit von Intendiertheit untersucht. Ziel dieser Untersuchung ist es, zu erforschen, ob tatsächlicher Zweifel konzeptuell mit einer Beabsichtigung des Zweifelns vereinbar ist, oder ob tatsächliche Zweifel prinzipiell ungewollt entstehen. Die Beantwortung dieser Frage wird in Kapitel 5 für die Positionierung zur Legitimität des Zweifelns von Bedeutung sein. 7 8
Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden stellenweise das generische Maskulin verwendet. Diese sprachliche Vereinfachung ist als geschlechtsneutral zu verstehen. Goethe, Johann Wolfgang von/Trunz, Erich (Hg.), Faust I, unveränderter Nachdruck, München 2010, V. 1338.
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1 Einleitung
Die Erforschung verschiedener Typen des Zweifelns soll schließlich eine differenzierte Betrachtung einer bestimmten Form des Zweifelns ermöglichen, die sich zwar in der Literatur wiederfindet, die bisher aber noch nicht als solche kenntlich gemacht wurde. Diese Form ist überhaupt erst vor dem Hintergrund einer systematischen Erfassung und Differenzierung der Aspekte der Voraussetzung, Situation und Reaktion des Zweifelns als bestimmter Typ auszumachen. Es handelt sich dabei um den Akt des iterativen Zweifelns, der als fortgesetzte, weghafte Reaktion auf die Situation des Zweifelns zu verstehen ist. Um die Rechtfertigung ebendieser Form des Zweifelns soll es in dieser Arbeit gehen: Ist die Reaktion iterativen Zweifelns auf eine situativ vorgefundene Unentschiedenheit als legitimes Moment des Glaubens zu begreifen? Wer diese iterative Reaktion des Zweifelns als illegitim zurückweisen wollte, müsste eine Alternative aufzeigen, mit der sich das Subjekt aus der Situation des Zweifelns herauslösen könnte. In Kapitel 3 wird deshalb untersucht, ob die Entscheidung zum Glauben eine derartige Alternative darstellen kann. Andere denkbare Reaktionsverfahren wie z. B. das skeptische beziehungsweise das negierende werden deshalb nicht eingehender untersucht, weil das skeptische Verfahren einen Dialogabbruch mit dem Glauben darstellt. Seine Legitimität muss insofern zurückgewiesen werden, als dass der skeptische Dialogabbruch begrifflich eine Abwendung vom Glauben darstellt. Für ein bloßes den Glauben negierendes Verfahren gilt das gleiche. Die Entscheidung zum Glauben dagegen, wie sie beispielsweise in Anlehnung an Kierkegaard9 empfohlen wird, scheint zumindest eine zu sein, die in Erwägung zu ziehen beziehungsweise gezogen worden ist. Sie soll deshalb Gegenstand der Untersuchung sein. Zur Erforschung der Möglichkeit und Legitimität der Umsetzung einer Entscheidung zum Glauben wird in Kapitel 3 die These des doxastischen Voluntarismus diskutiert. Dessen Vertreter behaupten, dass wir unseren Glauben willentlich kontrollieren könnten. Während einige die Möglichkeit einer direkten Kontrolle verteidigen, die in einer Entscheidung zu einer Glaubensüberzeugung ohne Umwege bestehen soll, gehen andere von einer indirekten Kontrolle aus. Mittels letzterer könnten wir unsere Untersuchungen in eine konkrete Richtung lenken, um eine bestimmte Glaubensüberzeugung zu evozieren. Ob eine der beiden Alternativen denkbar ist und wir indirekte oder direkte Kontrolle über unsere Glaubensüberzeugungen haben, wird unter Bezugnahme auf Vertreter beider Lager analysiert werden. Diese Untersuchung von Verteidigern und Gegnern der Position des doxastischen Volun9
Vgl. Kierkegaards Ausführungen zum qualitativen Sprung in den Glauben ohne Verstehen. Vgl. auch seine Annahme, dass Glaube nicht vermittelt werden kann, sondern dass der Einzelne dazu aufgefordert ist, im Glauben zu existieren, ohne ihn nachzuvollziehen. (Kierkegaard, Søren, Abschliessende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, zweiter Teil, übersetzt von Hans Martin Junghaus, Regensburg 1958; ursprünglich: 1846, S. 82 f. Im Folgenden abgekürzt mit UN II.)
1 Einleitung
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tarismus soll in drei Thesen in Bezug auf diese Position auf deskriptiver sowie auf präskriptiver Ebene resultieren. Was die Begrifflichkeiten betrifft ist anzumerken, dass Glaube im Kontext des doxastischen Voluntarismus als eine epistemische Einstellung, also als eine zustimmende Bezugnahme auf einen propositional ausdrückbaren Wahrheitsanspruch aufgefasst wird. Nicht eindeutig ist, ob alle hier aufgenommenen Autoren, die sich zum doxastischen Voluntarismus äußern, Glauben als epistemisch starke oder schwache Einstellung begreifen. Mit einer Zusammenführung am Ende des dritten Kapitels soll auf diese Unklarheiten aufmerksam gemacht werden. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen sollen in einer Schlussfolgerung aufeinander bezogen werden, um die Unstimmigkeiten einbeziehen und aufheben zu können. Sollte es möglich sein, aufzuzeigen, inwiefern eine Entscheidung zum Glauben nicht die Situation des Zweifelns aushebeln kann, wäre eine iterativ zweifelnde Reaktion also zumindest nachvollziehbar. Legitimierbar wäre sie darüber hinaus, wenn der Versuch einer willentlichen Kontrolle im dezisionistischen Sinn auch normativ zurückzuweisen wäre. Damit die Schlussfolgerungen in Bezug auf die Legitimität des Zweifelns jedoch nicht bei einer Begründung ex negativo stehen bleiben müssen und darüber hinaus auch auf den religiösen Glaubenszweifel appliziert werden können, ist in Kapitel 4 das Verhältnis von Glauben und Zweifeln Gegenstand der Betrachtung. Dazu wird zunächst der Begriff des religiösen Glaubens untersucht um zu prüfen, ob die bisherigen Ergebnisse auf religiösen Glauben und sein Verhältnis zum Zweifel, wie er hier untersucht wird, angewendet werden können. Obwohl religiöser Glaube mehr als ausschließlich die epistemische Komponente enthält, ist diese jedoch immer sein grundlegender Bestandteil. Ohne sie ist Glaube nicht vermittel- und verstehbar. Dies wird im Besonderen in Auseinandersetzung mit dem fiduziellen und doxastischen Glaubensbegriff verdeutlicht. Damit wird der Weg für die Übertragung der Ergebnisse aus Kapitel 2 und 3 auf das Verhältnis von Zweifel und religiösem Glauben in Kapitel 4 geebnet. Eine eingehendere Verhältnisbestimmung zwischen beiden soll insbesondere über den Einbezug des Vernunftanspruchs des religiösen, zumindest christlichen Glaubens ermöglicht werden. Dafür werden die Positionen des Fideismus und starken Rationalismus aufgegriffen, die beide unbefriedigend in Bezug auf den Anspruch beziehungsweise die Erfüllbarkeit des Anspruches der Vernünftigkeit religiösen Glaubens sind. Als Alternative soll der Ansatz des kritischen Rationalismus aufgezeigt werden, mit dem die Schwierigkeit des Postulats der Rationalität des Glaubens anerkannt wird. Dennoch lassen Vertreter des kritischen Rationalismus dieses Postulat nicht fallen, sondern sie formulieren den Begriff der Rationalität des Glaubens in Orientierung an Karl Popper um. Durch die Analyse dieser Position soll gezeigt werden, inwiefern der Akt iterativen Zweifelns ein konstituierendes, legitimes Moment religiösen Glaubens darstellt. Schließlich sollen die Ergebnisse der Kapitel hinsichtlich der Begriffsklärung des Zweifelns (Kapitel 2), der Möglichkeit einer Entscheidung zum Glauben (Kapitel 3) sowie des Verhältnisses von Glauben und Zweifeln vor dem Hintergrund des An-
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spruchs auf Vernünftigkeit des Glaubens (Kapitel 4) in den Schlussfolgerungen zusammengeführt werden (Kapitel 5). Unter Bezugnahme auf die Positionen zum Zweifel, die in Kapitel 2 referiert wurden, soll für die theologische Legitimität iterativen Zweifelns argumentiert werden. Forschungsstand Bislang stellt die in Kapitel 2 zu erarbeitende Typologie des Zweifelns zur Verständigung über seine theologische Legitimität ein Desiderat innerhalb der Forschung dar. Einzelne Autoren haben sich mit Zweifeln bei bestimmten Philosophen oder Theologen befasst, wie z. B. Kristin Kaufmann in ihrer Dissertation Vom Zweifel zur Verzweiflung. Grundbegriffe der Existenzphilosophie Sören Kierkegaards10. Zur Verhältnisbestimmung von Glauben und Zweifeln gibt es beispielsweise einzelne Aufsätze wie z. B. „‚An Gott zweifeln‘ – eine logische Untersuchung“11 von Gunter Zimmermann, der hier auch Erwähnung findet. Jürgen Werbick arbeitet in Gebetsglaube und Gotteszweifel 12 heraus, inwiefern Zweifel und Glaube als Bundesgenossen zu begreifen seien. In ihrem Sammelband Nachdenken über den Zweifel. Theologische Perspektiven13 bemängelt Veronika Hoffmann, dass der Zweifel kein prominentes Thema der Theologie sei. Zweifel werde in verschiedenen Forschungsfeldern (z. B. dem des Naturalismus oder der Rationalität von Überzeugungen) zwar berührt, aber nicht ausdrücklich untersucht.14 Der bisherigen Lücke in der Forschungslandschaft stelle ich eine systematische Zusammenführung verschiedener Typen des Akts des Zweifelns entgegen. Mit dieser Typologie soll ein differenzierter Einblick in das Phänomen des Zweifelns gewährt werden. Eine derartige Typologie ist bisher weder in theologischer noch in philosophischer Fachliteratur zu finden. Angesichts der Tatsache, dass die Bewertung des Zweifelns und seiner theologischen Legitimität vom zugrunde gelegten Verständnis desselben abhängt, ist die Erarbeitung und Etablierung einer solchen Typologie längst überfällig. Die Frage des dritten Kapitels, welche Reaktionsmöglichkeiten es geben könnte, um den skeptischen Zweifel zu überwinden, wurde unter anderem von Dietmar H. Heidemann unter dem Problem der antiskeptischen Strategien erfasst, worunter beispielsweise die Strategien der immanenten Widerlegung, eliminativen und integrativen Immunisierung fallen.15 Einerseits gehen diese antiskeptischen Strategien jedoch 10 Kaufmann, Kristin, Vom Zweifel zur Verzweiflung. Grundbegriffe der Existenzphilosophie Sören Kierkegaards, Würzburg 2002. 11 Zimmermann, Gunter, „‚An Gott zweifeln‘ – eine logische Untersuchung“, in: NZRTh 48, Berlin 2006, S. 305–320. 12 Werbick, Jürgen, Gebetsglaube und Gotteszweifel, Münster 22005. 13 Hoffmann, Veronika (Hg.), Nachdenken über den Zweifel. Theologische Perspektiven, Ostfildern 2017. 14 Vgl. Hoffmann 2017, S. 14. 15 Vgl. zur Problematisierung der antiskeptischen Strategien z. B. Heidemann, Dietmar H., Der Begriff des Skeptizismus. Seine systematischen Formen, die pyrrhonische Skepsis und Hegels Herausforderung, Berlin 2007.
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nicht auf.16 Andererseits wird mit dieser Arbeit zu zeigen sein, inwiefern Skepsis von Zweifel abzugrenzen ist, weshalb die Strategien nicht auf den Fall des Zweifelns anwendbar sind. Deshalb kann die Erforschung dieser antiskeptischen Strategien zwar als Ausgangspunkt für die Untersuchung von Umgangsweisen mit Zweifeln dienen; beide sind jedoch nicht als deckungsgleich zu betrachten. Eine weitere, bereits angedeutete Möglichkeit, auf Zweifel zu reagieren, um sie zu beseitigen, könnte im Kontext des religiösen Zweifelns die Forderung sein, seine Zweifel durch eine Entscheidung zum Glauben zu überwinden. Hierzu ist, wie schon erwähnt, die These des doxastischen Voluntarismus näher zu untersuchen, die innerhalb der Philosophie bereits viel diskutiert wurde: Bekannte Teilnehmer dieser Debatte sind z. B. Bernard Williams17, Carl Ginet18 und William P. Alston19. Für die Frage nach der Möglichkeit einer Entscheidung zum religiösen Glauben lässt sich die Diskussion um die Relation von voluntas und intellectus bei Thomas von Aquin fruchtbar machen, die beispielsweise von Claudia Eisen Murphy20 und Bruno Niederbacher21 bereichert wurde. Weil die These des doxastischen Voluntarismus dennoch stark umstritten ist und gerade durch die Verteidigung von epistemischer Freiheit auch aktuell wieder neu gestellt wird22, liegt es nahe, sich genauer mit dieser Debatte auseinanderzusetzen. Vor dem Hintergrund der Untersuchung dieser Debatte kann die Frage danach, ob religiöser Glaube Gegenstand willentlicher Kontrolle sein kann, fundiert beantwortet werden. Für das in Kapitel 4 thematisierte Verhältnis zwischen Glauben und Zweifeln ist die Bestimmung des Begriffs des Glaubens und dessen Verhältnis zur Vernunft zentral. Dazu ist es notwendig, den Begriff des Glaubens und sein Verhältnis zur Vernunft genauer zu erfassen, wenn Glaubenszweifel als Zweifel an einer epistemischen Einstellung und damit als Tätigkeit der Vernunft begriffen wird. Hinsichtlich des Glaubensbegriffes gehört es zum Grundlagenwissen, zwischen Positionen wie Fideismus und starkem Rationalismus unterscheiden zu können, die das Verhältnis von Glauben und Vernunft unterschiedlich auslegen. Deshalb werden die diesbezüglichen Ausführungen kurzgehalten. Die Frage nach der Rationalität des Glaubens betreffend wird dagegen das Modell des kritischen Rationalismus, das insbesondere von Michael Peterson et al. für das Verständnis der Rationalität des Glaubens plau16 Vgl. ebd. 17 Williams, Bernard, „Kann man sich dazu entscheiden, zu glauben?“, in: ders., Probleme des Selbst, Stuttgart 1978, S. 217–241. 18 Ginet, Carl, „Deciding to Believe“, in: Matthias Steup, Kowledge, truth and duty. Essays on epistemic justification, responsibility, and virtue, Oxford 2001, S. 63–76. 19 Alston, William P., „The Deontological Conception of Epistemic Justification“, in: Philosophical Perspectives, Vol. 2, Epistemology (1988), S. 257–299. 20 Eisen Murphy, Claudia, „Aquinas on Voluntary Beliefs“, in: American catholic philosophical quarterly, Vol. 74, No. 4, 2000, S. 569–597. 21 Niederbacher, Bruno, Glaube als Tugend bei Thomas von Aquin. Erkenntnistheoretische und religionsphilosophische Interpretationen, Stuttgart 2004. 22 Vgl. z. B. Knappik, Franz, Im Reich der Freiheit, Berlin 2013.
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sibilisiert wurde, seltener rezipiert. Eine Erforschung der Rolle des Zweifelns angesichts des Anspruchs auf Vernünftigkeit des Glaubens nach dem Modell des kritischen Rationalismus steht also noch aus. Methode und Grundlagenliteratur In methodischer Hinsicht verfolge ich mit der vorliegenden Arbeit das Ziel, einen problemorientierten Nachvollzug philosophischer und theologischer Positionen darzustellen, wobei ein zentral verbindendes Konzept dieser Positionen systematisch expliziert werden soll. Um die oben aufgeführten Forschungslücken zu schließen, beziehe ich ein breites Textkorpus ein. Für die Erarbeitung verschiedener Aspekte und Formen des Zweifelns, die in einer Typologie zusammengeführt werden, können dabei jedoch ausschließlich diejenigen Passagen der jeweiligen Autoren aufgegriffen werden, in denen sie sich mit Zweifeln auseinandersetzen und die damit für die hier eingeführte Typologie relevant sind. Bei der Auswahl der Textgrundlage wurden die Prinzipien der Klassizität, der Exemplarität und – mit Bezug auf die katholische Theologie – der Wirkmächtigkeit angewandt. Eine höhere Anzahl verschiedener Autoren und verschiedener Arten des Zugangs zum Zweifeln wurde einer umfangreichen Analyse weniger Zweifler vorgezogen, um in der schematischen Darstellung verschiedener Aspekte und Formen des Zweifelns möglichst viele Formen des Zweifelns abdecken zu können. Für eine grundlegende Begriffsbestimmung des Zweifels werden in Kapitel 2 zunächst Lexika und Handbuchliteratur maßgeblich sein. Um den Begriff des Zweifels und Zweifelns genauer erfassen zu können, ist eine Abgrenzung von der Skepsis notwendig, was unter Einbezug der Pyrrhonischen Skepsis vollzogen werden soll, weil es sich dabei um die elaborierteste Form der (antiken) Skepsis handelt. Hierfür wird auf Hossenfelders Übersetzung des Werkes von Sextus Empiricus mit dem Titel Grundriss der pyrrhonischen Skepsis23 zurückgegriffen. Auch Humes Werke wie Dialoge über natürliche Religion24, Ein Traktat über die menschliche Natur 25, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand 26 sowie die Naturgeschichte der Religion27 werden der Veranschaulichung einer weiteren möglichen skeptischen Positionierung dienen, in der der Zweifel Ausgangspunkt der skeptischen Haltung ist. Zur Illustra23 Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, übersetzt und herausgegeben von Malte Hossenfelder, Frankfurt am Main 72013. Im Folgenden abgekürzt mit Grundriß. 24 Hume, David, Dialoge über natürliche Religion, übersetzt und herausgegeben von Norbert Hoerster, Stuttgart 2004; ursprünglich: 1779. Im Folgenden abgekürzt mit Dialoge. 25 Hume, David, Ein Traktat über die menschliche Natur, übersetzt und herausgegeben von Horst Brandt, Hamburg 2013; ursprünglich: 1737. Im Folgenden abgekürzt mit Traktat. 26 Hume, David, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übersetzt und herausgegeben von Herbert Herring, Stuttgart 1967; ursprünglich: 1748. Im Folgenden abgekürzt mit Untersuchung. 27 Hume, David, Die Naturgeschichte der Religion, übersetzt und herausgegeben von Lothar Kreimendahl, Hamburg 22000; ursprünglich: 1757. Im Folgenden abgekürzt mit NR.
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tion eines hypothetischen Zweifels, der nicht in Skeptizismus resultiert, werden Augustinus28 sowie Descartes29 einbezogen. Nicht nur hypothetische, sondern auch tatsächliche Formen des Zweifels sollen Gegenstand des zweiten Kapitels sein und der Veranschaulichung des iterativen Zweifelns dienen. Hierfür wird insbesondere der erste Teil der Einleitung in die christkatholische Theologie 30 von Hermes maßgeblich sein. Auch mit Hegel werden die Charakteristika tatsächlichen Zweifelns deutlich werden, wofür seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 31 sowie die Einleitung in seine Phänomenologie des Geistes32 einbezogen werden. Die Untersuchung von Passagen zum Zweifel bei Wittgenstein, der in seinen Philosophischen Untersuchungen 33, in Über Gewissheit 34 und in seinem Tractatus LogicoPhilosophicus35 das Verhältnis von Zweifel und Gewissheit näher beleuchtet, werden wichtig sein, um insbesondere den Aspekt der Voraussetzung des Zweifelns zu begreifen. Die anderen Aspekte wie der der Situation und Reaktion des Zweifelns werden durch die Gegenüberstellung der eben genannten Formen des hypothetischen und tatsächlichen Zweifelns herausgearbeitet werden, wozu die anderen oben genannten Werke dienen sollen. Die ansonsten hinsichtlich ihrer Grundlagen höchst divergenten Autoren Kleutgen36 und Kierkegaard37 werten den Zweifel aufgrund der ihm zugeschriebenen De28 Vgl. z. B. Aurelius Augustinus, Contra Academicos, zitiert nach: Karl Emmel (Hg.), Des Aurelius Augustinus drei Bücher gegen die Akademiker, Paderborn 1930. Im Folgenden zitiert mit Acad. 29 Vgl. z. B. Descartes, René, Meditationen, übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers, Hamburg 2009; ursprünglich: 1641. Im Folgenden abgekürzt mit Meditationen. 30 Hermes, Georg, Einleitung in die christkatholische Theologie. Erster Theil. Philosophische Einleitung, Münster 1819. 31 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, herausgegeben von Rolf Nölle, Norderstedt 2008; ursprünglich: 1979. Im Folgenden abgekürzt mit VGPh. 32 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, neu herausgegeben von HansFriedrich Wessels und Heinrich Clairmont mit einer Einleitung von Wolfgang Bonsiepen, Hamburg 1988; ursprünglich: 1807. Im Folgenden abgekürzt mit PhG. 33 Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, herausgegeben von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 82017, ursprünglich: 1953. Im Folgenden abgekürzt mit PU. 34 Wittgenstein, Ludwig, Über Gewissheit, übersetzt und herausgegeben von G. E. M. Anscombe et al., Frankfurt am Main 132015; ursprünglich: 1969. Im Folgenden abgekürzt mit ÜG. 35 Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus, Logisch-philosophische Abhandlung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, ursprünglich: Leipzig 1921. Im Folgenden abgekürzt mit Tractatus. 36 Kleutgen, Joseph, Die Philosophie der Vorzeit, Innsbruck 21878. 37 Vgl. z. B. Kierkegaard, Søren, Philosophische Brocken, übersetzt und herausgegeben von Emmanuel Hirsch, Frankfurt am Main 1975; ursprünglich: 1844. Im Folgenden abgekürzt mit PB. Vgl. auch ders., Stadien auf des Lebens Weg, übersetzt und herausgegeben von Emmanuel Hirsch, Regensburg 1958; ursprünglich: 1845. Im Folgenden abgekürzt mit SW. Vgl. ebenfalls ders. Kierkegaard, Søren, Der Begriff Angst, übersetzt und herausgegeben von Liselotte Richter, Hamburg 21964; ursprünglich: 1884. Im Folgenden abgekürzt mit BA.
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struktivität und Unvereinbarkeit mit dem Glauben ab. Dagegen sieht Tillich38 im Zweifel eine den Glauben gar konstituierende und konstruktiv bereichernde Größe. Die Auseinandersetzung mit diesen Bewertungen wird nicht nur relevant sein für die zu entwerfende Typologie des Zweifels, bei der untersucht wird, ob Zweifel als solcher überhaupt eine Abwertung erfahren kann oder ob die Angreifer sich gegen bestimmte Aspekte oder Formen des Zweifels wenden. Sie wird auch für die abschließende Begründung der Legitimität des Zweifelns hilfreich sein. Für das dritte Kapitel, in dem es um die Möglichkeit einer Entscheidung zum Glauben zur Überwindung des Zweifels gehen wird, soll der Aufsatz „The Will to Believe“39 von William James Ausgangspunkt der Untersuchungen sein. Damit werden zwar noch keine Begründungen für oder gegen die These des doxastischen Voluntarismus ins Feld geführt, aber es wird immerhin mit James eine Position vorgestellt, die implizit voraussetzt, dass wir uns dazu entscheiden könnten, etwas zu glauben – und mit der ebenfalls behauptet wird, dass wir dies unter gewissen Umständen, die im entsprechenden Kapitel expliziert werden, auch tun sollten. Während mit Carl Ginets „Deciding to Believe“40 ein Befürworter der These des doxastischen Voluntarismus präsentiert wird, ist anhand des Aufsatzes von Bernard Williams „Kann man sich dazu entscheiden, zu glauben?“41 eine entgegengesetzte Haltung zu veranschaulichen. Beide Autoren gehen bei ihrer Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit einer willentlichen Kontrolle von Glaubensüberzeugungen sehr verschieden um: Ginet etwa arbeitet hauptsächlich mit Gedankenexperimenten, wohingegen Williams begriffliche Klärungen vornimmt und die konzeptuelle Vereinbarkeit von Glauben und willentlicher Lenkung untersucht. William P. Alston nimmt beide Aufsätze auf, indem er in seinem Aufsatz „The Deontological Conception of Epistemic Justification“42 verschiedene Formen des doxastischen Voluntarismus systematisierend zusammenführt und anschließend seine eigene Einschätzung im Hinblick auf die Möglichkeit einer direkten oder indirekten willentlichen Kontrolle von Glaubensüberzeugungen abgibt. Die Auseinandersetzung mit Knappiks Werk Im Reich der Freiheit ermöglicht eine fundierte Ermittlung der Denkbarkeit einer willentlichen Entscheidung zum Glauben im Hinblick auf den Zusammenhang von verschiedenen Glaubensüberzeugungen eines Subjekts auf der einen Seite und von unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen verschiedener Subjekte auf der anderen Seite. Auch diejenigen Untersuchungen des Verhältnisses von Wille und Intellekt im Kontext des Glaubens, die wir 38 Vgl. z. B. Tillich, Paul, Der Mut zum Sein, Stuttgart 1969; ders., Wesen und Wandel des Glaubens, Berlin 1961; ders. The God above God (1961), in: Christian Danz et al. (Hg.), Paul Tillich. Ausgewählte Texte, Berlin 2008. 39 James, William, „Der Wille zum Glauben“, in: Ekkehard Martens, Philosophie des Pragmatismus, Stuttgart 2009, S. 128. 40 Ginet 2001, S. 63–76. 41 Williams 1978. 42 Alston 1988.
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in den Werken des Thomas von Aquin43 finden, sind ertragreich für die Bewertung der Möglichkeit und Legitimität eines dezisionistisch gesetzten Glaubens. Die entsprechenden Schlussfolgerungen werden am Ende des Kapitels 3 in abschließenden Thesen zusammengefasst. Im vierten Kapitel, in dem es um die Verhältnisbestimmung von Glauben und Zweifeln geht, werden vor allem Perry Schmidt-Leukels Grundkurs Fundamentaltheologie 44 sowie Klaus Müllers zweiter Band seiner Reihe Glauben – Fragen – Denken45 bei der Begriffsbestimmung des Glaubens eine tragende Rolle spielen. Für die Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft sowie die kurze Einführung in Fideismus, starken und kritischen Rationalismus wird darüber hinaus das Werk Reason & Religious Belief 46 von Peterson et al. eingehend analysiert. Speziell für die Problematisierung des Vernunftbegriffs sowie des Anspruchs auf Vernünftigkeit des Glaubens trotz der damit einhergehenden Schwierigkeiten werden das Handbuch der Fundamentaltheologie 47 von Walter Kern et al. und erneut Schmidt-Leukels eben genannter Grundkurs Fundamentaltheologie berücksichtigt. Die Erforschung der Rolle des Zweifels innerhalb des Glaubens angesichts des Vernunftanspruchs im Sinne des kritischen Rationalismus nach Peterson et al. erfordert wiederum die eingehendere Untersuchung von Reason & Religious Belief, weil in diesem Werk die Anwendung des Modells des kritischen Rationalismus auf den religiösen Glauben erstmals in dieser Tiefe ausgearbeitet wurde. Zusammenfassung des Vorgehens Das vorliegende Projekt soll also zur Schließung der oben aufgeführten Forschungslücken beitragen. In Kapitel 2 wird unter Einbeziehung der genannten Positionen zum Zweifel eine Typologie eingeführt, die eine Verständigung über verschiedene Formen des Zweifelns erleichtern soll. Auf der Grundlage der Typologie soll die Begründung der theologischen Legitimität des Zweifelns erfolgen. Mit der eingehenderen Betrachtung der Argumente für und gegen die These des doxastischen Voluntarismus in Kapitel 3 wird eine fundierte Einschätzung der Möglichkeit und 43 Vgl. z. B. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, zitiert nach: Karl Albert et al., Thomas Aquinatis Summa contra gentiles libri quattuor, 3 Bde., Darmstadt 42013. Im Folgenden abgekürzt mit S. G. Vgl. auch Thomas von Aquin, Quaestiones disputate de veritate, übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Edith Stein, 2 Bde., Freiburg 1952. Im Folgenden abgekürzt mit Ver. Vgl. darüber hinaus Thomas von Aquin, Summa Theologiae, zitiert nach: Joseph Bernhart (Hg.), Thomas von Aquino. Summe der Theologie. Zusammengefasst, eingeleitet und erläutert von Joseph Bernhart, Stuttgart 31985. Im Folgenden abgekürzt mit STh. 44 Schmidt-Leukel, Perry, Grundkurs Fundamentaltheologie. Eine Einführung in die Grundfragen des christlichen Glaubens, München 22014. 45 Müller, Klaus, Glauben – Fragen – Denken, Band II, Münster 2008. 46 Peterson, Michael et al. (Hg.), Reason & Religious Belief. An Introduction to the Philosophy of Religion, New York 52012. 47 Kern, Walter et al. (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. 4, Traktat Theologische Erkenntnislehre, Freiburg im Breisgau 22000.
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Rechtfertigung der Anwendung dieser These auf den Bereich des religiösen Glaubens und damit der willentlichen Kontrolle zur Beseitigung der Situation des Zweifelns ermöglicht. Schließlich soll in Kapitel 4 die Beleuchtung des Verhältnisses von Glaube und Vernunft nach dem Modell des kritischen Rationalismus fruchtbar gemacht werden, um zu zeigen, dass dem Akt des Zweifelns für den Glauben ein konstitutives Moment zukommt. In Kapitel 5 werden die Ergebnisse zusammengeführt, um die theologische Legitimität iterativen Zweifelns zu begründen.
2.1 Erste Annäherungen an den Begriff des Zweifels und den Akt des Zweifelns
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2 Der Akt des Zweifelns In diesem Kapitel werden verschiedene Werke von Philosophen und Theologen analysiert, um zu untersuchen, auf welche unterschiedlichen Weisen vom Begriff des Zweifels und vom Akt des Zweifelns die Rede ist. Beide – der Begriff des Zweifels sowie der Akt des Zweifelns – sind für diese Untersuchung gleichermaßen von Bedeutung, weil ersterer zunächst klar umrissen worden sein muss, bevor der Akt des Zweifelns mit seinen verschiedenen Aspekten erfasst werden kann. Dabei wird das Ziel verfolgt, eine Typologie des Zweifelns mit sowohl diversen Formen als auch voneinander abzugrenzenden Ebenen des Aktes des Zweifelns einzuführen. Sie soll das Verstehen einer jeweiligen Form des Zweifelns erleichtern. Vorausblickend wird am Ende einer jeden Auseinandersetzung mit verschiedenen Positionen zum Zweifel bereits auf bestimmte Merkmale hingewiesen, die für die Unterscheidung verschiedener Formen des Zweifelns in der Typologie wichtig sein werden. Vor allem dient die Einführung dieser Typologie der präzisen Charakterisierung der Form des iterativen Zweifels, deren theologische Legitimität in dieser Arbeit verteidigt werden soll. Die Analyse verschiedener Positionen zum Zweifel soll außerdem die abschließende Charakterisierung des Zweifelns in Kapitel 5 vorbereiten.
2.1 Erste Annäherungen an den Begriff des Zweifels und den Akt des Zweifelns Im alltäglichen Sprechen (ordinary language) bezeichnet der Ausdruck „Zweifel“ den Akt des Infragestellens von beliebigen Wissens- und Wahrheitsansprüchen, der zumeist aus der kritischen Reflexion über allgemein postulierte Ansichten, konkret aufgestellte Behauptungen oder auch sinnliche Wahrnehmungen hervorgeht. Insofern ihm die Funktion zukommt, vor leichtfertig angenommenen, irrtümlichen Meinungen zu bewahren, gilt der Zweifel auch als „Signum eines aufgeklärten Bewusstseins“.1 Etymologisch ist das Wort „Zweifel“ vom Zahlwort „zwei“ und dem Suffix „falt“ abgeleitet und bedeutet „zweifältig, gespalten“.2 Aus der Sprachgeschichte geht also hervor, dass derjenige, der zweifelt, eine gespaltene Meinung beziehungsweise zwei Auffassungen zu einem Sachverhalt besitzt. Auch das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm bezeichnet den Zweifel als einen Gesinnungszustand, der 1 2
Heidemann, Dietmar H., Zweifel, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 3, Freiburg 2011, S. 2676. Vgl. Seebold, Elmar, Zweifel, in: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache25, Berlin 2011, S. 1019.
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2 Der Akt des Zweifelns
von einer Unfähigkeit, eine Entscheidung zu fällen, geprägt sei. Dem Zweifelnden gebricht es an der Fähigkeit zum Entschluss, oder er sieht sich außer Stande, ein sicheres Urteil über die Wahrheit der zu beurteilenden Gegebenheit zu fällen. Bei einer Urteilsbildung könne eine solche Unentschiedenheit entstehen, wenn etwa sowohl die Position der Bejahung als auch die der Verneinung für möglicherweise wahr gehalten wird. Dass es verschiedene Formen des Zweifelns, auch speziell des Glaubenszweifels geben kann, lassen bereits die Ausführungen des Grimmschen Wörterbuches zum Glaubenszweifel deutlicher vermuten: Hier wird er zum einen als Unsicherheit charakterisiert, die durch die entgegengesetzten Haltungen von unbedingtem Gottvertrauen und Unglauben hervorgerufen werden könne. Zum anderen könne Glaubenszweifel jedoch auch auf eine rein verstandesmäßige Einstellung zu religiösen Fragen zurückzuführen sein.3 Dass die Rede vom Zweifel noch viel breiter gefächert ist, soll im Folgenden gezeigt werden.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie 2.2.1 Begriffsbestimmung des Zweifels über seine Abgrenzung von der Skepsis Beckmann definiert den philosophischen Zweifel als Infragestellen beziehungsweise Zögern angesichts fehlender Gewissheit bezüglich Fragen, deren Beantwortung zum Zeitpunkt des Zweifelns nicht hinreichend begründet werden kann.4 Laut Heidemann wird der Zweifel erst dann zum philosophischen Problem, wenn er eine Form annimmt, die sich nicht mehr gegen singuläre Wahrheitsansprüche richtet, sondern Behauptungen systematisch angreift.5 Der systematische Angriff auf epistemische Ansprüche mit der Intention, aufzuzeigen, dass wir nicht wissen können, ob unsere Meinungen wahr sind, stellt eine Methode des Skeptizismus dar. Der Unterschied zwischen Skepsis und Zweifel besteht somit darin, dass erstere die rationale Klärung von Ungewissheiten für unmöglich halte, während letztere gerade die Erlangung derselben intendiere. Eine derartige Abgrenzung zieht Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: „Das Geschäft des Skeptizismus ist unrecht als eine Lehre vom Zweifel ausgedrückt. Zweifeln ist nur die Ungewissheit, ein entgegengesetzter Gedanke gegen etwas Geltendes, – Unentschlossenheit, Unentschiedenheit. Zweifel enthält leicht Zerrissenheit des Gemüts und Geis3 4 5
Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm, „Zweifel“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 32 (1961), S. 996–1007, hier: 997 ff. Vgl. Beckmann, Jan P., Zweifel, Philosophisch, in: LThK3 10, Freiburg im Breisgau 2009, 512–513, hier: 512. Vgl. Heidemann 2011, S. 2676.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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tes, er macht unruhig […]. Heutzutage ist der Skeptizismus ins Leben getreten, – diese allgemeine Negativität. […] [S]ein Zweifel ist ihm Gewissheit, hat nicht die Absicht, zur Wahrheit zu gelangen, läßt nicht unentschieden, sondern ist schlechthin Entschiedenheit, vollkommen fertig […]. Er ist Ruhe, Festigkeit des Geistes in sich, – nicht mit einer Trauer.“6
Obwohl Zweifel und Skepsis also nicht einfach miteinander identifiziert werden dürfen, so ist doch der Zweifel insofern ein Moment der Skepsis, als dass die Skepsis sich des Zweifels in methodischer Hinsicht bedient, um die „Situation der argumentativen ‚Ausweglosigkeit‘“7 zwischen einander widerstreitenden Überzeugungen aufzuzeigen. Dass Zweifel und Skepsis oft in Zusammenhang gebracht werden, liegt nahe, weil sie gewisse Charakteristika teilen, wie es im Folgenden noch deutlich werden soll. Aufgrund einiger Überschneidungen von Zweifel und Skepsis ist es also nicht verwunderlich, dass beide im Alltag häufig synonym gebraucht werden. Der erste Teil der Charakterisierung der Skepsis nach Grundmann kann für den Anfang verdeutlichen, inwiefern die Skepsis zunächst für das gehalten werden kann, was Hegel gerade von der Skepsis abgegrenzt wissen will. Grundmann unterscheidet zunächst zwischen der skeptischen Haltung und der skeptischen These. Unter einer skeptischen Haltung werde im alltäglichen Sinne eine kritische beziehungsweise auch selbstkritische Einstellung verstanden, entsprechend der das skeptische Subjekt mit der Möglichkeit eigener Fehler und Irrtümer rechnet. Insofern ist es auch offen für Revidierungen der eigenen Position und beansprucht mit ihr lediglich eine vorläufige, korrigierbare Wahrheit. In diesem Sinne stehe die skeptische Haltung dem ursprünglichen griechischen Wortsinn von „skopein“ sehr nahe, was „umherschauen“ bedeute. Darüber hinaus werde der Skeptiker ebenfalls als zetetike, also als „suchend“ bezeichnet.8 Wie passt die Beschreibung der skeptischen Person als einer die Wahrheit suchenden nun zu Hegels Definition des Skeptikers, dessen Ziel es nicht sei, zur Wahrheit zu gelangen und der weder unentschlossen, noch unentschieden, sondern schlechthin entschieden und vollkommen fertig sei? Liest man Grundmanns Ausführungen weiter, ist festzustellen, dass er mit dieser beschriebenen skeptischen Haltung, deren Charakterisierung ebenfalls auf den Zweifel zutrifft, lediglich auf ein alltägliches Verständnis von Skepsis zurückgreift. An diese Ausführungen schließt er nämlich sogleich Ausführungen in Bezug auf eine philosophische Form der skeptischen Haltung an, nämlich die des Pyrrhonismus, dessen Vertreter tatsächlich nicht mehr auf der Suche nach einer Korrektur ihrer vorläufigen Wahrheitsansprüche sind, sondern „den subjektiven Eindruck [zu] erwecken [anstreben], dass es keine gerechtfertigten Thesen gibt.“9 Eine ähnliche Dif6 7 8 9
VGPh, S. 331. Lorenz, Stefan, Zweifel, in: HWPh 12, Darmstadt 2004, 1520. Vgl. Grundmann, Thomas, Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, Berlin 22017, S. 255. Grundmann 22017, S. 256.
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2 Der Akt des Zweifelns
ferenzierung zwischen alltäglicher und philosophischer Skepsis lässt sich beispielsweise auch bei Michael Williams finden: „The everyday ‚sceptical‘ view is that most people’s epistemic standards are too low or too laxly applied, not that the very idea of justification is fatally flawed. Ordinary scepticism is demanding and selective. Philosophical scepticism, as radical and general, undermines the very epistemological distinctions on which everyday scepticism depends.“10
Auf eben diese philosophische Form der Skepsis, deren Vertreter, wie Grundmann und Williams schreiben, nicht mehr nach einer Begründung von Thesen suchen, sondern meinen, dass es keine Möglichkeit epistemischer Rechtfertigung von Überzeugungen gibt, geht auch Hegel im Kontext der genannten Stelle ein. Er beschreibt den Zweifler als Suchenden in Abgrenzung vom Skeptiker, den er als in sich Ruhenden charakterisiert. Von dieser skeptischen Haltung grenzt Grundmann die These des Skeptizismus ab, die sich in Bezug auf Wissen oder auf Rechtfertigung bezieht. Sie kann entweder partielle oder universelle Skepsis zum Ausdruck bringen. Die skeptische These kann nur als eine solche gelten, wenn für sie Gründe hervorgebracht werden können – ansonsten handle es sich bei diesem vermeintlichen Skeptizismus um bloßen Pessimismus.11 Bei dem Typus der skeptischen These beziehungsweise Position ist jedoch wiederum zu unterscheiden zwischen einer so von ihm bezeichneten „bloßen[n] (und damit unphilosophische[n]) Position“12 einerseits, die eher einer Form des Pessimismus und Irrationalismus gleichkomme, wenn das Subjekt keine Gründe für seine skeptische Position hat sowie andererseits einer „selektiven rationalen Skepsis“13 beziehungsweise einem „erkenntnistheoretischen Skeptizismus“ 14. Die letzteren beiden Positionen würden im Gegensatz zur ersten aus rationalen Gründen gegen die Wahrheit beziehungsweise Erkennbarkeit von Wahrheitsansprüchen eingenommen werden.15 Mit dieser These, dass aus bestimmten Gründen spezifische Gegenstände, Gegenstandsbereiche oder gar alles in den Bereich des Unerkennbaren fallen, wird von Grundmann dasjenige Moment des Skeptikers beschrieben, das Hegel im oben genannten Zitat ins Zentrum der Unterscheidung zwischen Skepsis und Zweifel stellt: Der Zweifel des Skeptikers „ist ihm Gewissheit, hat nicht die Absicht, zur Wahrheit 10 Williams, Michael, Problems of Knowledge. A Critical Introduction to Epistemology, New York 2001, S. 60. 11 Vgl. Grundmann 22017, S. 257. Merkmale zur Abgrenzung des Skeptizismus von Pessimismus und Nihilismus nennt Grundmann in ebendiesem Werk auf den S. 257–259. 12 Vgl. Grundmann, Thomas, Der Wahrheit auf der Spur. Eine Verteidigung des erkenntnistheoretischen Externalismus, Paderborn 2003, S. 54. An dieser Stelle ist ein bewusster Bezug auf die erste Auflage deshalb sinnvoll, weil die Formulierung hier treffender ist. 13 Grundmann 2003, S. 55. 14 Ebd. 15 Vgl. Grundmann 2003, S. 54 f. Merkmale der selektiven rationalen Skepsis sowie des erkenntnistheoretischen Skeptizismus fasst Grundmann auf den Seiten 55–57 zusammen.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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zu gelangen, läßt nicht unentschieden, sondern ist schlechthin Entschiedenheit, vollkommen fertig […].“16 Für meine Fragestellung nach der Legitimität des Zweifels ist es grundlegend, den Begriff des Zweifels von diesem Verständnis der Skepsis, wie Hegel und Grundmann es verwenden, unterschieden zu wissen. Um diese begriffliche Differenz klarer verständlich zu machen, ist zunächst eingehender auf skeptische Positionen sowie an späterer Stelle beispielhaft auf die antike Pyrrhonische Skepsis einzugehen. Hinsichtlich skeptischer Positionen muss grundsätzlich zwischen Wissens- und Rechtfertigungsskeptizismus differenziert werden. Mit Wissensskeptizismus wird bestritten, dass es Wissen gebe. Angesichts des heute weit verbreiteten fallibilistischen Wissensbegriffs, mit dem präsupponiert wird, dass vermeintliches Wissen sich immer wieder durch neuere Erkenntnisse im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts als falsch herausstellen kann, handelt es sich beim Wissensskeptizismus um eine „wenig spektakuläre Einsicht in die Fehlbarkeit der kognitiven Kapazitäten des Menschen.“17 Zudem gerät er notwendigerweise in einen Selbstwiderspruch, indem er behauptet zu wissen, dass es kein Wissen gebe. Dagegen wiegt die These des Rechtfertigungsskeptizismus schwerer: Sie beinhaltet, dass unsere Meinungen nicht gerechtfertigt werden könnten.18 Im Gegensatz zum Wissensskeptizismus, dessen Vertreter behaupten zu wissen, dass wir nichts wissen können, stellen Rechtfertigungsskeptiker die Behauptung auf, dass wir gar nicht wissen können, ob es Wissen gibt oder nicht. Damit wird prinzipiell nicht ausgeschlossen, dass sich unsere Überzeugungen als wahr erweisen können, sondern nur, dass wir um ihre Wahrheit wissen können. Konsequenterweise muss für die Rechtfertigungsskeptiker auch offen bleiben, ob sich ihre These von der Unmöglichkeit der Rechtfertigung unserer Meinungen bewahrheitet. Indem sie also nicht behaupten, ihren Standpunkt rechtfertigen zu können oder wahres Wissen zu besitzen, entgehen sie der Gefahr der Selbstwiderlegung.19 Über die soeben vollzogene Differenzierung hinaus kann man Formen des Zweifels danach unterscheiden, ob sie sich auf alle (universelle Skepsis) oder nur auf eini16 17 18 19
VGPh, S. 331. Heidemann 2011, S. 2677. Vgl. Heidemann 2011, S. 2678. Vgl. Heidemann 2007, S. 2. Eine dem widersprechende Auslegung vertritt Grundmann, der behauptet, dass die Pyrrhoneer einem Selbstwiderspruch entgehen wollten, indem sie „ihre eigene These nicht mehr als erkenntnistheoretisch gerechtfertigt, sondern sie nur psychologisch plausibel aufgefasst [hätten]. Damit [hätten] sie jedoch eine der notwendigen […] Bedingungen des erkenntnistheoretischen Skeptizismus aufgegeben. Dieser Skeptizismus tritt nämlich mit dem Anspruch auf, eine gerechtfertigte These zu vertreten“ (Grundmann 2017, S. 261). Jedoch ist dagegen zu halten, dass Sextus Empiricus betont, die Pyrrhonische Skepsis vertrete ihre eigene These gerade nicht mit einem Wahrheitsanspruch. Insofern ist zumindest der Vorwurf der Inkonsistenz in Bezug auf den pyrrhonischen Selbstanspruch sowie den Anspruch darauf, dass es insgesamt keine gerechtfertigten Meinungen geben könne, nicht haltbar.
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ge Meinungen (partielle Skepsis) erstrecken. Mit der universellen Skepsis wird behauptet, dass keine Meinung für wahr gehalten werden könne und somit jede Überzeugung in Zweifel gezogen werden müsse. Vertreter der universellen Skepsis operieren häufig mit Gedankenexperimenten globaler Täuschung (wie z. B. dem des cartesischen Traumarguments, seiner Vorstellung eines täuschenden Dämons20 oder Putnams „Gehirn-im-Tank“-Gedankenexperiment), um aufzuzeigen, dass wir nicht sicher wissen könnten, ob unsere Überzeugungen über uns beziehungsweise unsere Außenwelt wahr sind.21 Dagegen beschränkt sich die partielle Skepsis selektiv auf Wahrheitsansprüche bestimmter Bereiche – beispielsweise wäre es denkbar, dass nicht-empirischen mathematischen Aussagen ein Wahrheitsgehalt zu- und empirischen Außenweltmeinungen die Rechtfertigungsfähigkeit abgesprochen wird.22 Des Weiteren könnten naturwissenschaftliche Aussagen im Gegensatz zu moralischen Urteilen für begründet gehalten werden. Der partiellen Skepsis wird in der Philosophie in Bezug auf die Verteidigung epistemischer Ansprüche ein größerer Stellenwert innerhalb der Erkenntnistheorie eingeräumt, weil sie im Gegensatz zur universellen Skepsis keine Konsistenzprobleme aufweist.23
2.2.2 Die Pyrrhonische Skepsis Als bedeutendstes Beispiel der Antike für eine philosophische Form des Zweifels dient die Pyrrhonische Skepsis, die unter den historischen Lehren als die am weitesten durchdachte bezeichnet wird.24 Diese Bewertung hängt damit zusammen, dass der Pyrrhonismus eine organisierte Struktur reflektierter Argumente aufweist, aufgrund derer seine Vertreter nicht Gefahr laufen, sich selbst zu widersprechen. Es handelt sich dabei nämlich nicht um eine Form des Wissens-, sondern des Rechtfertigungsskeptizismus, der wie bereits ausgeführt offenlässt, ob die in Zweifel gezogene Meinung tatsächlich falsch ist, weil sich auch sein Standpunkt nicht rechtfertigen ließe. Die Pyrrhonische Skepsis geht auf Pyrrhon von Elis (ca. 365–275 v. Chr.) zurück, auf den sich diese philosophische Denkschule bezog. Er selbst hat keine Schriften 20 Vgl. die erste Meditation von Descartes in Meditationen, S. 31 f. 21 Vgl. Brendel, Elke, Wissen, Berlin 2013, S. 81 ff. und Putnam, Hilary, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt am Main 1990, S. 21. 22 Eine Analyse skeptischer Argumente beziehungsweise Argumentationstypen lässt sich finden bei Grundmann 2017, S. 266–294. 23 Vgl. Grundmann 2017, S. 262. 24 So schreibt beispielsweise Malte Hossenfelder in Grundriß: „Einmal scheint der Pyrrhonismus von den historischen Formen der Skepsis die am weitesten durchdachte zu sein“ (ebd. S. 9). Auch Dietmar H. Heidemann schätzt ihn ähnlich ein, wenn er in Heidemann 2007 schreibt, dass sich an ihm „These und Argumente des Skeptizismus mustergültig analysieren“ (S. 8) lassen und dass es sich bei der pyrrhonischen Skepsis um die „argumentativ stärkste Form“ (S. 9) handele.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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zur philosophischen Skepsis verfasst; es ist naheliegend, dass die Bezeichnung der Pyrrhonischen Skepsis eingeführt wurde, damit sich ihre Anhänger von der Akademischen Skepsis abgrenzen konnten. Vertreter der letzteren gingen einen Selbstwiderspruch ein, indem sie die Ansicht vertraten, dass die Wahrheit unerkennbar sei. Hauptquelle der Pyrrhonischen Skepsis sind die Werke des Sextus Empiricus aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert.25 Obwohl der Zweifel bereits bei der vorherigen Annäherung an eine Begriffsbeschreibung mit dem Verweis auf Hegel von der Skepsis abgegrenzt wurde, findet die Pyrrhonische Skepsis auch in diesem Kapitel Beachtung, weil ihre Vertreter den Zweifel systematisch als Mittel nutzen, um ihre Position zu plausibilisieren. Dabei sehen Pyrrhonische Skeptiker ihre Aufgabe nicht darin, jeglichen Anspruch auf Meinungen zu destruieren, sondern auf die Glaubwürdigkeit sowie Unglaubwürdigkeit derselben aufmerksam zu machen. Jedem epistemischen Postulat komme nur eine relative, aber keine objektive Geltung zu. Dogmen, also Wissensansprüche beziehungsweise für wahr gehaltene Meinungen, die den phänomenalen Erlebnischarakter überschreiten, werden als Krankheit des Geistes diagnostiziert, die durch die Pyrrhonische Skepsis geheilt werden solle. Insofern ist die Pyrrhonische Skepsis abzugrenzen von der mit ihr zeitgleich in der Antike konkurrierenden dogmatischen Schule, die Wahrheitsfindung für möglich hielt. Daneben steht sie mit ihrer Gutheißung von Meinungen, die eben nicht gerechtfertigt werden können, dennoch im Konflikt mit der akademischen Schule, gemäß der das Wahre unerkennbar sei, womit ausgeschlossen wird, dass nicht rechtfertigbare Ansprüche vielleicht dennoch der Wahrheit entsprächen. Der Aufweis, dass jeder These eine in epistemischer Hinsicht gleichwertige Antithese gegenübersteht, soll zu einer Zurückhaltung führen, die schließlich in der sogenannten Seelenruhe als Ziel der Pyrrhonischen Skepsis mündet. Dieses soll durch vier Etappen erreicht werden: Ausgegangen wird von der Entgegensetzung (diaphonía) „erscheinende[r] und gedachte[r] Dinge“26, wobei mit ersteren Sinnesgegenstände und mit letzteren geistige Gegenstände gemeint sind. Dabei werden nicht nur (1) Erscheinungen anderen Erscheinungen (z. B. ein Turm, der aus der Ferne rund und von Nahem viereckig erscheint), sondern auch (2) Gedanken entgegengesetzten Gedanken (z. B. die Auffassung, es gebe eine Vorsehung aus der Ordnung der Himmelskörper gegen die Auffassung, es gebe keine Vorsehung, weil es häufig guten Menschen schlecht erginge) sowie (3) Erscheinungen Gedanken (z. B. die Beobachtung, dass Schnee weiß ist gegen den Gedanken, dass Schnee gefrorenes Wasser, das selbst nicht weiß sei) entgegengesetzt.27 Die Gleichwertigkeit entgegenstehender Aussagen, die aus der diaphonía resultieren, wird als isosthenía bezeichnet. Sie ist da25 Vgl. zur historischen Einordnung der Pyrrhonischen Skepsis Hossenfelder, Malte/Schröder, Winfried, Pyrrhonismus, in: HWPh 7, Darmstadt 1989, 1719–1724, hier: 1719 und Albrecht, Michael, Skepsis; Skeptizismus, in: HWPh 9, Darmstadt 1995, 938–974, hier: 939. 26 Grundriß, S. 94. 27 Vgl. Grundriß, S. 101.
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durch ausgezeichnet, dass die vorgebrachten Thesen und Antithesen gleichermaßen „Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit“ aufweisen, sodass „keines der unverträglichen Argumente das andere als glaubwürdiger überragt.“28 Insofern könne also keine der entgegengesetzten Thesen gerechtfertigt vertreten werden. Dem Pyrrhoneer bleibt somit nichts anderes übrig, als sich in Zurückhaltung (epoché) zu üben. Mit dieser Inaktivität des Verstandes sei nach Heidemann nicht eine bloße Verstandespassivität gemeint, sondern ein Zustand, in dem weder bejaht, noch verneint werden könne. Die epoché werde jedoch nicht aktiv im Sinne einer Verweigerungshaltung hervorgebracht; vielmehr sehe sich der Pyrrhoneer aufgrund des Widerstreits der Thesen von seinem Verstand dazu genötigt, keiner von ihnen aufgrund von Setzung oder Aufhebung zuzustimmen.29 In Folge der epoché stelle sich nach der Pyrrhonischen Skepsis die Seelenruhe (ataraxía) – ein Zustand des Glücks – ein, in der die Skepsis ihre Vollendung finde. Dieser Zustand sei dadurch gekennzeichnet, dass man von skeptischer Beunruhigung befreit sei und eine seelische Gelassenheit finde, die als unerschütterlich erscheine.30 Zur Herstellung der isosthenía werden in der Pyrrhonischen Skepsis sogenannte Tropen als Hilfsmittel genutzt. Sextus führt in seinem Grundriß der pyrrhonischen Skepsis vier Listen von Tropen verschiedener Art auf.31 Anhand von Beispielen warnen sie „vor der Annahme […], man könne das Wesen irgendeiner Sache unabhängig von den kontingenten Umständen ihrer Wahrnehmungen erfassen.“32 Erkenntnis stünde immer in Relation zu Subjekt, Objekt oder beiden, wodurch es unmöglich sei, einen unabhängigen Standpunkt zu erreichen.33 Am bekanntesten sind wohl die zehn Tropen des Änesidem und die fünf Tropen des Agrippa. Des Weiteren führt Sextus Empiricus noch die zwei Tropen und die Tropen der Widerlegung der Ursachenforscher auf.34 Die verschieden eingeteilten Tropen stellen nicht einfach Alternativen dar, die zusammenhanglos nebeneinanderstehen. So sollen etwa die zehn Tropen dazu dienen, unter Rekurs auf die Relativität der Wahrnehmung einen Widerstreit über jeden beliebigen Wissensanspruch herbei zu führen. Die fünf Tropen dagegen sollen logische Mittel bereitstellen, um die Unentscheidbarkeit im Falle eines solchen Widerspruchs nahe legen zu können. Schließlich sollen die zwei Tropen sowie die der Widerlegung der Ursachenforscher die Listen ergänzen beziehungsweise ihre Vollständigkeit erweisen.35
28 29 30 31 32 33 34 35
Grundriß, S. 95. Vgl. Heidemann 2007, S. 25 f. Vgl. Heidemann 2007, S. 29. Vgl. Ricken, Friedo, Antike Skeptiker, München 1994, S. 70. Albrecht 1995, S. 947. Vgl. ebd. Vgl. Grundriß, S. 101–135. Vgl. Hossenfelder/Schröder 1989, 1720.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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Um eine Vorstellung dessen zu ermöglichen, was die verschieden zusammengestellten Tropen beinhalten, soll hier in Anlehnung Friedo Ricken36 beispielhaft in die fünf Tropen des Agrippa eingeführt werden. Mit dem ersten Tropus soll der Dissens (diaphonía) zu einer Urteilsenthaltung führen. Was als sicher angenommen wird, wird aufgrund von Meinungsverschiedenheit in seiner Unsicherheit erkannt: „Der Tropus aus dem Widerstreit besagt, daß wir über den vorgelegten Gegenstand einen unentscheidbaren Zwiespalt sowohl im Leben als auch unter den Philosophen vorfinden, dessentwegen wir unfähig sind, etwas zu wählen oder abzulehnen, und daher in die Zurückhaltung münden.“37
Als Beispiel zur Verdeutlichung sei die Frage nach einem Wahrheitskriterium angeführt, das wir immer dann benötigen, wenn wir einen Wahrheitsanspruch erheben. Wer eine skeptische Position in Bezug auf Wahrheitskriterien einnimmt, der muss konsequenterweise in Bezug auf alle Aussagen skeptisch sein. Der Streit beispielsweise zwischen denjenigen, die sich in erster Linie auf den Verstand und denjenigen, die sich ausschließlich auf die Wahrnehmung als Wahrheitskriterium berufen wollen, könnte nur durch ein Metakriterium entschieden werden, das eine eindeutige Position ermöglichen würde. Verstehen wir Wahrheitsfindung als intersubjektiven Prozess, darf es sich nicht wiederum um ein kontroverses Metakriterium handeln. „Die Entscheidbarkeit eines faktischen Dissenses, so läßt der erste Tropus sich rekonstruieren, setzt also eine faktische Übereinstimmung auf einer Metaebene voraus. Der erste Tropus will zeigen, daß diese Voraussetzung nicht erfüllt ist.“38 Mit dem zweiten Tropus soll der drohende unendliche Regress bei der Begründung von Wahrheitsansprüchen aufgezeigt werden: „Mit dem Tropus des unendlichen Regresses sagen wir, daß das zur Bestätigung des fraglichen Gegenstandes Angeführte wieder einer anderen Bestätigung bedürfe und diese wiederum einer anderen und so ins Unendliche, so daß die Zurückhaltung folge, da wir nicht wissen, wo wir mit der Begründung beginnen sollen.“39
Sofern angenommen wird, dass Wissen ausschließlich deduktiv und mit Begründung der ersten Prämissen bewiesen werden könne, so ergibt sich nach diesem Tropus das Problem, dass wir zwangsläufig in den unendlichen Regress geraten müssten. Wenn wir allerdings andererseits auf eine derartige Begründung der obersten Prämissen verzichteten, um dem unendlichen Regress zu entgehen, so hätten wir von ihnen und den durch sie begründeten Aussagen kein Wissen. Dieses Regressargument würde nach Ricken hinfällig werden, wenn es gelänge, Formen des Wissens aufzuzeigen, deren Grundlage nicht auf Beweisen beruhten. In solch einem Fall könnte Agrippa den Wahrheitsanspruch jedoch wieder mit dem ersten Tropus an36 37 38 39
Vgl. Ricken 1994, S. 86–94. Grundriß, S. 130. Ricken 1994, S. 87. Grundriß, S. 130.
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2 Der Akt des Zweifelns
greifen, indem er aufzeigte, dass in der Frage nach einem Kriterium ein unaufhebbarer Dissens vorläge.40 Mit dem dritten Tropus soll gezeigt werden, dass wir uns eines Urteils darüber, wie die Dinge absolut und ihrer Natur nach seien, enthalten müssten, weil alles in Beziehung zueinanderstehe: „Beim Tropus der Relativität erscheint zwar der Gegenstand, wie oben schon gesagt, so oder so, bezogen auf die urteilende Instanz und das Mitangeschaute, wie er aber seiner Natur nach beschaffen ist, darüber halten wir uns zurück.“41
Wie Ricken schreibt, nimmt dieser Tropus eine zweifache Beziehung an: Einerseits steht alles Angeschaute in einer Beziehung zu Anderem, das wir damit zugleich anschauen, andererseits steht es auch in Beziehung zu uns als urteilenden Subjekten. Mit dem Tropus der Relativität wird also ausgesagt, dass Propositionen mit einstelligen Prädikaten, mit denen gesagt werden soll, wie etwas an sich ist, nicht haltbar seien, wohingegen ausschließlich solche mit zwei- und mehrstelligen Prädikaten möglich seien. Sextus präzisiert diesen Tropus, indem er sagt, dass selbst Sätze mit mehrstelligen Prädikaten nicht als Wahrheitsansprüche gelten dürften. Stattdessen könnten wir mit ihnen lediglich zum Ausdruck bringen, wie uns etwas erscheint: „Wir fragen aber nicht nach dem Erscheinenden, sondern nach dem, was über das Erscheinende ausgesagt wird, und das unterscheidet sich von der Frage nach dem Erscheinenden selbst.“42 Wie Ricken feststellt, zeigt diese Präzisierung, dass Sextus die in den skeptischen Tropen aufgezeigte Notwendigkeit der Urteilsenthaltung bereits voraussetzt.43 Darüber hinaus merkt Ricken an, dass wir bei der Beziehung zum urteilenden Subjekt zwischen Wahrnehmung und Urteil unterscheiden müssten: Sextus und Agrippa übersähen die Unterscheidung zwischen Urteilsakt und -inhalt, also dem Aussageinhalt, wenn sie behaupten, dass jedes Urteil relativ zu den Urteilenden sei. Auch wenn jeder Urteilsakt von einem urteilenden Subjekt vollzogen werde, ginge ebendieses nicht in den Urteilsinhalt ein, sodass dieser dabei relativiert würde: „Ich urteile nicht ‚Dies ist für mich eine Giraffe‘, sondern ich urteile ‚Dies ist eine Giraffe‘.“44 Mit dem vierten Tropus wird eine Strategie kritisiert, die dem Dogmatiker zugeschrieben wird: „Um den Tropus aus der Voraussetzung handelt es sich, wenn die Dogmatiker, in den unendlichen Regreß geraten, mit irgend etwas beginnen, das sie nicht begründen, sondern einfach und unbewiesen durch Zugeständnis anzunehmen fordern.“45
40 41 42 43 44 45
Vgl. Ricken 1994, S. 87. Grundriß, S. 130. Grundriß, S. 98. Vgl. Ricken 1994, S. 88. Ricken 1994, S. 89. Grundriß, S. 130 f.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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Eine bloße Voraussetzung gelte es also zu vermeiden; sie verdiene keinen Glauben, nur allein deshalb, weil sie als Hypothese angenommen werde. Wäre das doch der Fall, so müsste auch ihr kontradiktorisches Gegenteil genauso glaubhaft sein, das dann mit demselben Recht gesetzt werden könne wie erstere Hypothese. Dies würde eine Entscheidung jedoch unmöglich machen, wenn zwei entgegengesetzte Behauptungen nebeneinanderstünden.46 Der fünfte Tropus soll einen Zirkelschluss aufzeigen: „Der Tropus der Diallele schließlich entsteht, wenn dasjenige, das den fraglichen Gegenstand stützen soll, selbst der Bestätigung durch den fraglichen Gegenstand bedarf. Da wir hier keines zur Begründung des anderen verwenden können, halten wir uns über beide zurück.“47
Der Tropus der Diallele kann sich auf verschiedene Anwendungsbereiche beziehen. Erstens kann damit gezeigt werden, dass Kausalaussagen ungerechtfertigt seien, weil uns die Wirkung bereits bekannt sein müsste, wenn wir etwas als seine Ursache anerkennen wollen; andererseits müssten wir bereits die Ursache kennen, um etwas als ihre Wirkung bezeichnen zu können. Die Zuschreibung der Ursache und die der Wirkung bedürfe demnach jeweils der Bestätigung durch das jeweils andere. Mit dem Argument der Diallele soll somit gezeigt werden, dass die verschiedenen Erkenntnisse von Ursache und Wirkung einander gegenseitig voraussetzten. Obwohl zugestanden werden kann, dass Ursache und Wirkung nicht ohne einander erkannt werden können, enthält die Annahme jedoch einen Fehler, wie Ricken aufdeckt: „Der Fehler liegt darin, daß es sich hier nicht um zwei verschiedene, sondern um ein und denselben Erkenntnisakt handelt. ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ sind, wie ‚größer‘ und ‚kleiner‘, korrelative Begriffe.“48 Wenn wir also aussagen, dass entweder a die Ursache von b ist, oder dass b die Wirkung von a ist, dann haben beide Sätze denselben Wahrheitswert und drücken denselben Inhalt aus verschiedenen Perspektiven aus. Ein zweiter Anwendungsbereich des Tropus der Diallele ist das Verhältnis von Kriterium und Beweis. Kriterien, die zur Beurteilung einer Vorstellung herangezogen werden, können wahr oder falsch sein. Behauptet man, ein Kriterium x sei wahr, ohne dass man einen Beweis dafür erbringen kann, sei die Behauptung nicht haltbar. Beweise man dagegen die Wahrheit dieses Kriteriums x, so müsse der Beweis wahr sein. Um aber über die Wahrheit ebendieses Kriteriums urteilen zu können, werde wiederum ein Wahrheitskriterium benötigt, dessen Wahrheit wiederum einen Beweis fordere. In eine Diallele gerieten wir beispielsweise nach Sextus in Bezug auf die Frage danach, ob der Verstand oder die Sinne als Kriterium für Wahrheitsansprüche dienen könnten:
46 Vgl. Ricken 1994, S. 90 f. 47 Grundriß, S. 131. 48 Ricken 1994, S. 92.
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2 Der Akt des Zweifelns „Dasselbe gilt auch für jeden Verstand. Wenn sie [diejenigen, die sich darum streiten, ob der Verstand oder die Sinne als Kriterium für Wissen dienen können] aber mit den Sinnen jeden Verstand beurteilen wollen und mit dem Verstand die Sinne, dann ergibt sich die Diallele, in der, um über die Sinne zu entscheiden, jeder Verstand vorher beurteilt sein muß, und um jeden Verstand zu prüfen, die Sinne vorher begutachtet werden müssten.“49
Die fünf Tropen des Agrippa sollen also einerseits die Ausweglosigkeit derjenigen aufzeigen, die Wahrheitsansprüche erheben und andererseits den Skeptikern dadurch als Mittel dienen, ihre Position der Unentschiedenheit zu begründen. Insofern verfügte die Pyrrhonische Skepsis über ein ausgeklügeltes System, um aufzuzeigen, warum Zurückhaltung geboten sei. Streng genommen darf der Pyrrhoneer das Ziel der Glückseligkeit, dessen Verfolgung die Tropen dienlich sein sollen, jedoch nicht anstreben, weil erstens die Verabsolutierung eines Ziels immer mit einem Anspruch auf Wahrheit einhergeht. In diesem Fall würde dieser Wahrheitsanspruch zum einen in dem Wissen darum, worin das Glück bestehe und zum anderen in der Kenntnis um die Erreichung der Seelenruhe durch Skepsis bestehen. Damit würde es jedoch zu einem inhärenten skeptischen Widerspruch kommen. Zweitens sei eine durchgängige Ataraxie auch deshalb nicht aufrecht zu erhalten und ein unerreichbares Ziel, weil beispielsweise aufgezwungene Affekte wie Lust und Unlust nicht gänzlich neutralisierbar seien. Die Schwierigkeit der Pyrrhonischen ataraxía besteht also darin, dass sie einerseits als höchster Wert angesehen werden muss und andererseits nicht als erstrebenswert gelten darf. Dennoch stellt die „Hoffnung auf Seelenruhe“50 das „motivierende Prinzip der Skepsis“51 dar, die als kontingentes Resultat des Zweifels über die diaphonía, die isosthenía und die epoché zufällig zur Seelenruhe führen soll.52 Die Ausgangssituation der Pyrrhoneer scheint von einem nicht gewollten Hinund Hergerissen sein zwischen Erkenntnisansprüchen charakterisiert zu sein. Den Zustand des Zweifels, in dem sie sich ungewollt wiederfinden, suchen sie zu überwinden, indem sie methodisch Meinungen in Frage stellen. Dass es sich beim intendierten Einsatz des Zweifels, der mit seinem Aufweis der gleichen Gewichtung einander entgegengesetzter Argumente zur Skepsis führen soll, tatsächlich um Zweifel handelt, scheint nicht mehr offensichtlich zu sein: Die Situation echten Zweifels ist schließlich der Grund innerer Zerrissenheit, die die Pyrrhoneer aus ihrer Seelenruhe bringt. Zu behaupten, dass mit dem Zweifel der Zweifel selbst ausgeräumt werden und zur Skepsis führen könne, wäre somit ein Fehlschluss. Der willentlich herbeigeführte Zweifel an Wahrheitsansprüchen der Pyrrhoneer kann also allenfalls hypothetischen Charakter haben: Sie verfahren so, als sei alles in Zweifel zu ziehen, um aufzuzeigen, warum sie sich einer Meinung enthalten. Schon das Beispiel der 49 50 51 52
Grundriß, S. 170. Grundriß, S. 95. Ebd. Vgl. Heidemann 2007, S. 30 f.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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Pyrrhonischen Skepsis lässt also eine Unterscheidung zwischen tatsächlichem und hypothetischem Zweifel vermuten, der im Folgenden weiter nachzugehen sein wird.
2.2.3 Zweifel bei Augustinus Nicht mit der Pyrrhonischen, sondern mit der Akademischen Skepsis setzte sich im vierten Jahrhundert Aurelius Augustinus auseinander. Zu seiner Zeit wurden die skeptischen Thesen zwar nicht mehr in der Akademie vertreten, aber im Hinblick auf die eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit des Menschen und das für die Skeptiker daraus resultierende Gebot der Urteilsenthaltung weiterhin diskutiert. Grundlage für diese Auseinandersetzung waren die Abhandlungen Ciceros in den Academici libri.53 Die Pyrrhonische Skepsis war Augustinus wahrscheinlich nicht bekannt. Das könnte einerseits damit zusammenhängen, dass er die griechische Sprache, in der sie überliefert war, nicht ausreichend beherrschte. Andererseits sahen die Akademische Skepsis und Cicero den Pyrrhonismus als Konkurrenz an und versuchten wahrscheinlich, ihn durch Nichterwähnung zu bekämpfen.54 Dennoch lässt sich sein antiskeptischer Angriff nicht nur gegen die Akademische Skepsis wenden. Die Akademischen Skeptiker behaupten, dass der Weise, der keinem Irrtum erliegen möchte, sein Urteil zurückhalten müsse (Sapiens nulli rei assentitur/Der Weise stimmt keiner Sache zu), weil nichts erfasst/gewusst werden könne (Nihil percipi/ sciri potest). Man könne lediglich Vermutungen anstellen, die für wahrscheinlich oder annehmbar (probabilia) beziehungsweise dem Wahren ähnlich (veri similia) gehalten werden, um handlungsfähig zu bleiben.55 Diese Annahme resultiert aus ihrer Auseinandersetzung mit der Stoa, die einen empirischen Wahrheitsbegriff zugrunde legt.56 Weil sinnliche Wahrnehmung als Kriterium für Wahrheit jedoch täuschen könne, lassen sich aus ihr keine allgemeinen Wahrheiten ableiten. Unter dieser Voraussetzung liegt die Wahrheitserkenntnis außerhalb des Bereiches des Möglichen. Augustinus, der sich mit den erkenntnistheoretischen Lehren verschiedener philosophischer Schulen auseinandersetzte57, fand sich zunächst aufgrund seiner Zweifel ebenfalls in der Position der Akademischen Skepsis wieder: Seine nach Gewissheit suchende Phase vergleicht er in den Confessiones mit der skeptisch-akademischen Haltung: „Academicorum more dubitans de omnibus (nach Art der Akademiker an al53 Vgl. Drecoll, Volker H. (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2014, S. 60. 54 Vgl. Schäfer, Rainer, Gründe des Zweifels und antiskeptische Strategien bei Augustinus und René Descartes (1596–1650), in: Norbert Fischer (Hg.), Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens. Band 2. Von Descartes bis in die Gegenwart, Hamburg 2009, S. 28. 55 Vgl. Drecoll 2014, S. 61, der hier auf Acad. verweist. 56 Vgl. Drecoll 2014, S. 62. 57 Vgl. dazu auch Göbel, Christian, Fides und ratio bei Anselm (1033–1109) und Augustinus, in: Norbert Fischer (Hg.), Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens, Band I, Hamburg 2009, S. 37–69, hier: S. 42 f.
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lem zweifelnd; conf. 5,25)“58 Gegen die Hoffnungslosigkeit bei der Wahrheitssuche („inueniendae desperatio veritatis“ 59), zu der die skeptischen Thesen schließlich bei ihm geführt haben, suchte er mit seiner Widerlegung derselben anzukämpfen. Sein Ziel war es in Contra Academicos60 nicht nur nachzuweisen, dass Erkenntnis möglich sei; Augustinus wollte ein theoretisch abgesichertes Fundament schaffen, von dem ausgehend es möglich sei, zuversichtlich die Wahrheit zu suchen. Dazu untersuchte er in der ersten Meditation zunächst die Annahmen der Akademischen Skepsis.61 Er stellte fest, dass der Anspruch, Erkenntnisse zu rechtfertigen, nicht eingehalten werden könne, weil mit der Skepsis am Transzendenzcharakter der Wahrheit festgehalten werde: Sie ziehe eine scharfe Trennlinie zwischen der Welt des Vermeinten, also des in sich Wandelbaren sowie sinnlich Wahrgenommenen und der Welt des „schlechthin Ansichseienden und Unveränderlichen oder der Ideen“62. Wahrheit sei nicht nur unwandelbar, sondern auch denkunabhängig – Ergebnisse des Denkvollzuges blieben dagegen der Zeit verhaftet und es könne nicht ausgeschlossen werden, dass sie berichtigt werden müssen. Somit werden sie an einem Maßstab der Erkenntnis gemessen, der vom Denkvollzug selbst unabhängig ist. Vor diesem Hintergrund kann es grundsätzlich kein sicheres Wissen, sondern nur wahrscheinliche Annahmen geben.63 Dass die Sinne des Menschen tatsächlich täuschen, hielt Augustinus nicht für offensichtlich – sie vermitteln seiner Ansicht nach doch vielmehr lediglich einen Eindruck. Der Wahrnehmende könne möglicherweise ein falsches Wahrnehmungsurteil fällen, wenn er den Reiz, auf den ein Sinnesorgan reagiert, mit dem Auslöser der Empfindung verwechselt. Zudem könne davon ausgegangen werden, dass die Sinnesorgane im gesunden Zustand und unter solchen Umständen, unter denen es keine den Sinneseindruck verfälschenden Reize gibt, einen Eindruck wiedergeben, der dem Reiz entspricht. Das Haben spezifischer Sinneseindrücke ist immer an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Dagegen liefern Sinneseindrücke nach Augustinus keinen Aufschluss darüber, wie die wahrgenommenen Objekte unabhängig vom Wahrnehmenden seien. Hierin und nicht in einer vermeintlichen Sinnestäuschung liege also der Grund dafür, dass durch Erfahrung nichts Verbindliches über Gegebenes auszusagen ist. Augustinus begreift die Sinneswahrnehmung lediglich als eine Vorstufe zur wahren Erkenntnis.64 58 Aurelius Augustinus, Confessiones, 5,25. Übersetzung zitiert nach: Drecoll 2014, S. 63. Abgeglichen mit: Aurelius Augustinus, Confessiones, zitiert nach: Jörg Ulrich/Bernhart Joseph (Hg.), Bekenntnisse, Frankfurt am Main 2007. 59 Drecoll 2014, S. 63. 60 Acad. 2. Buch, I.1. 61 Zur Zurückweisung der Akademischen Skepsis bei Augustinus vgl. auch Curley, Augustine J., Augustine’s Critique of Skepticism. A Study of Contra Academicos, New York 1996, S. 105–137. 62 Wienbruch, Ulrich, Erleuchtete Einsicht. Zur Erkenntnislehre Augustinus, Bonn 1989, S. 26. 63 Vgl. Wienbruch 1989, S. 26 f. 64 Vgl. Wienbruch 1989, S. 30 f.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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Im Bereich des Denkens dagegen ließen sich verbindliche Erkenntnisse, wie z. B. logisch-mathematische Beziehungen der Zahlen zueinander, logische Grundsätze vom ausgeschlossenen Widerspruch oder die Gesetzlichkeit geometrischer Gebilde finden. Mit dem Verweis auf diese greift Augustinus neuplatonisches Gedankengut auf, um die Akademische Skepsis widerlegen zu können.65 Allerdings seien solche Einsichten im zeitlich verfassten und irrtumsanfälligen Denkvollzug zu finden. Ob der Mensch dennoch zeitlose unwiderlegbare Wahrheiten erfassen könne, versucht er zu zeigen, indem er die Verfasstheit des Denkens untersucht.66 Kann der Mensch etwas denkend als schlechthin gültig aufzeigen? Selbst, wenn man dies bezweifelt, kann man zumindest nicht folgende Grundvoraussetzungen des Zweifelns bestreiten: Diejenigen, die zweifeln, enthalten sich eines Urteils, weil sie sich dessen bewusst sind, dass sie um eine gerechtfertigte Antwort nicht wissen. Sie lassen offen, ob die eigene Annahme auch unabhängig von ihnen Gültigkeit aufweist. Dabei beziehen sie sich stets auf sich selbst, indem sie sich nicht dazu in der Lage sehen, die von ihnen selbst unabhängig gültige Wahrheit zu erkennen. Was sie also bei allem Zweifeln nicht bestreiten können, ist die Tatsache, dass sie erstens um ihre Existenz als denkende Wesen wissen, dass sie zweitens das Gedachte einsehen, aber nicht letztgültig als gerechtfertigtes Wissen ausweisen können sowie dass sie drittens einen Willen haben, die Ungewissheit aufzulösen. Anders gesagt: Ohne die Gewissheit, sich an etwas zu erinnern, die eigene Fehlbarkeit einzusehen, sie überwinden zu wollen und sich damit seiner selbst bewusst zu sein, ist zweifeln nicht möglich.67 Trotz allen Zweifelns kann also die Selbsterkenntnis nicht bestritten werden. Aus der Untersuchung des Vollzuges des Zweifelns selbst ergibt sich bei Augustinus somit der Aufweis, dass mit der unbezweifelbaren Selbsterkenntnis nicht an allem gezweifelt werden kann – nämlich zumindest nicht an der Existenz des Zweifelnden selbst. Wörtlich konstatiert Augustinus zur Widerlegung des universalen Zweifelns: „Wenn ich mich nämlich täusche, dann bin ich. Denn wer nicht ist, kann sich natürlich auch nicht täuschen; und demnach bin ich, wenn ich mich täusche. Weil ich also bin, wenn ich mich täusche, wie sollte ich mich über mein Sein irren, da es doch gewiß ist, gerade wenn ich mich irre. Also selbst wenn ich mich irrte, so müßte ich doch eben sein, um mich irren zu können, und demnach irre ich mich ohne Zweifel nicht in dem Bewußtsein, daß ich bin. Folglich täusche ich mich auch darin nicht, daß ich um dieses mein Bewußtsein weiß. Denn so gut ich weiß, daß ich bin, weiß ich eben auch, daß ich weiß.“68
65 66 67 68
Vgl. Wienbruch 1989, S. 31. Vgl. Wienbruch 1989, S. 32. Vgl. Wienbruch 1989, S. 33. Aurelius Augustinus, De civitate Dei, XI, 26, zitiert nach: Alfred Schröder, Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, München 1911–16.
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Damit ist seine Aussage, dass er existiert, wenn er sich täuscht [si enim fallor, sum69], bereits ein Vorläufer zum cartesischen cogito, ergo sum, das im nächsten Kapitel analysiert wird.70 Auch, wenn die Zweifel des Augustinus die Züge einer skeptischen Untersuchung annehmen, kommt seine Suche doch der eines zweifelnden Subjektes gleich: Sein Ziel besteht nicht darin, die Unmöglichkeit einer gerechtfertigten Überzeugung aufzuzeigen, sondern nach Gründen zu suchen, die ihn dazu bewegen sollen, seine Unentschiedenheit zu überwinden. Insofern liegt hier im Hinblick auf die oben ausgeführte Differenzierung zwischen Skepsis und Zweifel eine Situation beziehungsweise Reaktion des Zweifelns vor, was am Ende dieses Kapitels klar werden soll.
2.2.4 Zweifel bei Descartes Anders als Augustinus, der sich explizit gegen die Akademische Skepsis wendet, setzte sich René Descartes laut seinen Meditationes mit dem Problem des Zweifels auseinander. Er musste nämlich feststellen, dass er seit seiner Jugend irrtümlicherweise Vieles für wahr hielt, worauf er später sein Wissen glaubte, aufbauen zu können. Seinem Wunsch folgend, dennoch etwas Gesichertes, Unzweifelhaftes in den Wissenschaften zu errichten, wollte er nun in seinen Meditationes alles in Zweifel ziehen, was aus irgendeinem Grund nicht als völlig sicher gelten könne. Dazu wäre es nicht erforderlich aufzuzeigen, dass die in Frage gestellten Aussagen notwendig falsch seien – der Aufweis auch nur eines begründeten Zweifels wäre ausreichend, um ihnen nicht zuzustimmen. Dieses Ziel verfolgend nimmt er sich nicht etwa die endlose Aufgabe vor, alle Wahrheitsansprüche einzeln zu überprüfen, sondern er greift die zugrundeliegenden Prinzipien der Erkenntnis selbst an: Geraten die Fundamente einmal ins Wanken, fällt das auf ihnen Errichtete zusammen.71 In einem ersten Schritt stellt Descartes das Wissen, das er sich durch seine Sinne vermittelt angeeignet hat, in Frage. Er stellt fest, dass eigentlich alles, was er bisher für wahr hielt, auf ihnen aufbaut. Zwar seien sie trügerisch, wenn es um winzige oder weit entfernte Gegenstände ginge – dennoch nimmt er zunächst an, dass es auch durch die Sinne Vermitteltes gibt, woran nicht gezweifelt werden könne. So kann beispielsweise nicht bezweifelt werden, dass er gerade beim Schreiben am Feuer mit einem Wintermantel sitze, mit seinen Händen das Papier berühre usw. Nur ein Geisteskranker könne das bezweifeln. Obwohl Descartes sich offensichtlich auf seine Sinne ohnehin nur zu einem gewissen Ausmaß verlässt, stellt er zusätzlich die Hypothese auf, dass er möglicherweise gerade träume. Immerhin könnte ihm im Traum das 69 De civitate Dei, XI, 26. 70 Vgl. zur Problematisierung der Parallelen zwischen der Rolle des cogito bei Augustinus und Descartes vgl. Schäfer, Rainer, Zweifel und Sein. Der Ursprung des modernen Selbstbewusstseins in Descartes’ cogito, Würzburg 2006, S. 74–90. 71 Vgl. Meditationen, S. 19 f.
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gleiche widerfahren wie dem Geisteskranken, sodass er sich gerade täusche; und ein solcher Traum könne anhand sicherer Kriterien nicht vom Wachzustand unterschieden werden.72 Das empirisch vermittelte Wissen soll also hier nach Descartes nicht nur aufgrund der Fehlerhaftigkeit sinnlicher Wahrnehmung, sondern auch aufgrund der Traumhypothese in Zweifel gezogen werden. Dagegen müssten zumindest einfache, universelle Wahrheiten, wie etwa Gesetze und Regeln der Arithmetik und der Geometrie, unbezweifelbar sein. Sie enthalten immerhin Sicheres unabhängig von ihrem Vorkommen in der Natur – selbst im Traum behielten sie ihre Geltung. Nach einem Grund suchend, auch sie bezweifeln zu dürfen, stellt Descartes die Überlegung an, dass er von Gott, der alles vermag, permanent getäuscht und glauben gemacht werden könne, dass universelle Allgemeinheiten der eben genannten Disziplinen immer gültig seien. Diese Vermutung zieht er jedoch schnell zurück, weil Gott aufgrund seiner Allgütigkeit keinen Betrug an ihm verüben wollen könne.73 Dagegen stellt er die Hypothese auf, dass es einem genius malignus, einem boshaften Genius, daran gelegen sein könne, ihn hartnäckig darin zu täuschen. Obwohl Descartes zugesteht, dass er es sich niemals abgewöhnen werde, seinen „Meinungen zuzustimmen und [sich] blind auf sie zu verlassen, solange [er] einfach [voraussetze], dass sie so beschaffen sind, wie sie es tatsächlich sind, nämlich als zwar irgendwie zweifelhafte, […] aber nichtsdestoweniger sehr glaubhafte Ansichten, die zu glauben sehr viel besser der Vernunft entspricht als sie zu bestreiten.“74
Um in seinem Urteil nicht länger von der wahren Erfassung der Dinge abgehalten zu werden, nimmt er sich also vor, seinen Willen in das Gegenteil zu verkehren und sich vorzustellen und glauben zu machen, dass all seine Ansichten, auch die allgemeinen mathematischen Wahrheiten, falsch vorgestellt seien, indem er einen boshaften Genius voraussetzt.75 In der zweiten Meditiation sieht Descartes sich aufgrund seiner konstruierten, hypothetischen Zweifel mit dem Problem konfrontiert, dass er in allem getäuscht werden könne und somit nichts sicher sei. Dieses Problem wird jedoch gelöst, indem er zu dem Schluss kommt, dass, wann immer er getäuscht wird, niemals von einem noch so mächtigen Betrüger bewirkt werden könne, dass er nicht sei – denn um getäuscht zu werden, müsse es jemanden geben, der als Getäuschter existiere. Damit hat Descartes eine unbezweifelbare, notwendige Wahrheit gefunden: Solange er denkt, dass er getäuscht wird, existiert er.76 Auch aus dem Akt des Denkens, der die Existenz eines denkenden Wesens voraussetzt, kann demgemäß ohne Zweifel gefol72 73 74 75 76
Vgl. Meditationen, S. 20 f. Vgl. Meditationen, S. 21. Meditationen, S. 23. Vgl. Meditationen, S. 23 f. Vgl. Augustinus in Kapitel 2.2.3, der mit seinem si fallor, sum schon die gleiche Schlussfolgerung gezogen hat.
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gert werden, dass man existiert. Die Erkenntnis der Wahrheit des Satzes cogito, ergo sum stellt für Descartes ein unbezweifelbares Fundament dar, von dem aus er infallibles Wissen zu generieren sucht.77 Der Zweifel des Descartes ist insofern mit dem der Pyrrhonischen Skepsis verwandt, als dass er methodisch eingesetzt wird, um etwas, das er eigentlich nicht bezweifelt, als wahr zu erweisen sucht. Descartes gesteht darüber hinaus zu, dass er eigentlich nicht an den fraglichen Dingen zweifeln könne und seine Vernunft es ihm gebiete, an seinen Meinungen festzuhalten. Dennoch beabsichtigt er alles in Zweifel zu ziehen, auch wenn es ihm schwerfällt, um mittels der Methode des Zweifels ein sicheres Fundament des Wissens generieren zu können.
2.2.5 Zweifel und Skepsis bei Hume David Hume problematisiert den Zweifel im Kontext der Skepsis, die er in Übereinstimmung mit den bisherigen Ergebnissen dieser Arbeit als „eine vollständige Enthaltung des Urteils“78 versteht. Skepsis stellt bei ihm einen aus dem Zweifel resultierenden Zustand dar, der nicht vollständig aufrechterhalten werden kann, wie sich im Verlauf dieses Abschnittes zeigen wird. Humes Zweifel lassen sich in verschiedenen Kontexten finden, die ihn letztlich zur Position des Skeptikers verleiten. In Ein Traktat über die menschliche Natur äußert er eine universelle Skepsis.79 Hume konstatiert, dass die Regeln aller demonstrativen Wissenschaften zwar untrüglich seien, aber die geringe Zuverlässigkeit unseres geistigen Vermögens uns in Irrtümer verfallen lasse, sodass wir nicht von Wissen, sondern allenfalls von Wahrscheinlichkeiten reden könnten. Es gebe „also im Grunde gar keine unbedingte Gewißheit.“80 Neben dieser universell geäußerten Skepsis zeigt Hume punktuell auf, welche Bereiche menschlichen Selbst- und Weltverständnisses konkret zweifelhaft sind. In Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand 81 äußert er sogenannte „skeptische Zweifel“82 an den Verstandestätigkeiten. Nach Hume gründet unser empirisches Wissen auf Beobachtungen und Kausalschlüssen. Letztere wiesen jedoch lediglich hypothetischen Charakter auf, denn eine eindeutige Verifikation von Kausalschlüssen durch Beobachtung sei nicht möglich. Schlüsse aus der Erfahrung wurzelten nach Hume allein im Prinzip der „Gewohnheit (custom) oder [der] herkömmliche[n] Lebenspraxis (habit)“83, die dafür verantwortlich sei, dass wir für die Zukunft ähn77 78 79 80 81 82 83
Vgl. Meditationen, S. 28. Dialoge, S. 84. Traktat, Buch I, Vierter Teil, Erster Abschnitt. Traktat, S. 229. Untersuchung. Untersuchung, S. 41. Untersuchung, S. 62.
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liche Geschehensabläufe erwarten, wie wir sie in der Vergangenheit bereits erlebt haben. Unser empirisches Wissen ließe sich jedoch nicht rechtfertigen, weshalb es keine definitive Erkenntnis aus der Erfahrung gebe.84 Hume thematisiert auch Zweifel an Religionen beziehungsweise theistischen Systemen, die für den Gegenstand dieser Arbeit von besonderem Interesse sind. Seine Dialoge über natürliche Religion offenbaren nicht explizit seine Position, weil es sich dabei um eine fiktive Diskussion in Dialogform handelt. Es erscheint als durchaus legitim, die Position von Hume in der des Religionskritikers Philo gespiegelt zu sehen.85 Die dargestellte skeptische Position ist von Interesse, weil sie die philosophische Begründung einer Skepsis in Bezug auf theologische Annahmen aufzeigt. In einer vorangeschobenen Rede des Erzählers klingt bereits die von ihm empfundene Aussichtslosigkeit theologischer Überlegungen an: „Wenn wir uns aber mit dieser offenkundigen und wichtigen Wahrheit näher beschäftigen, was für dunkle Fragen erheben sich dann in bezug auf die Natur jenes göttlichen Wesens: seine Eigenschaften, seine Ratschlüsse, seine Vorsehung! Diese Fragen sind unter den Menschen immer umstritten gewesen; die menschliche Vernunft hat sie nie in definitiver Weise lösen können. Und doch sind sie von derartigem Interesse, daß wir gar nicht anders können, als sie stets von neuem zu untersuchen – wenn auch bei unseren noch so sorgfältigen Untersuchungen bislang nichts als Zweifel, Ungewißheit und logische Widersprüche herausgekommen sind.“86
Trotz der scheinbaren Unlösbarkeit der Klärung der Gottesfrage drängt sich diese doch immer wieder auf. Auch Philo weist auf die Ungewissheit theologischer und philosophischer Lehren hin.87 Seine Skepsis resultiert aus seinen Zweifeln angesichts der „Schwäche, Blindheit und Beschränktheit der menschlichen Vernunft“88. Aus seiner Sicht ist es unverständlich, dass man dem schwachen Vernunftvermögen gerade in „so erhabenen, schwer verständlichen und der Alltagserfahrung so entrückten Fragen irgendwelche Beachtung“89 schenken kann. In Anbetracht der Fehleranfälligkeit der Vernunft müsse bemerkt werden, dass der Bereich menschlicher Fähigkeiten überschritten sei, wenn es um Fragen nach der Schöpfung und Gestaltung der Welt sowie nach dem Wesen, Vermögen und Wirken eines allumfassenden, ewigen Geistes geht. Gerade bei Überlegungen theologischer Art fehlt uns die Mög84 Vgl. Untersuchung, Abschnitt IV. und V. sowie die Ausführungen in Franz von Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, Berlin 1982, S. 54 f. 85 Vgl. das Nachwort von Norbert Hoerster in Dialoge, S. 147 ff. Zudem verweist Hoerster in seinem Beitrag „D. Hume. Existenz und Eigenschaften Gottes“ (erscheinen in Josef Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen, Göttingen 31997, S. 240–275) auf Kemp Smiths, der unter Rückgriff auf Humes biografisches Material definitiv gezeigt haben soll, dass der Religionsskeptiker Philo Humes Verhältnis zur Religion ausdrückt (vgl. hierzu laut Hoerster: Kemp Smiths, Norman: Introduction, in: ders., David Hume. Dialogues concerning Natural Religion. Edinburgh 21947, 1–75.). 86 Dialoge, S. 4 f. 87 Vgl. Dialoge, S. 7. 88 Dialoge, S. 8. 89 Ebd.
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lichkeit, unsere Schlüsse durch Erfahrungen des Alltags zu bestätigen. Weil aber z. B. etliche Aussagen über die Entstehung der Welt, die in klarer Form vorgestellt werden, nicht logisch unmöglich sein können, „hätte jedes Gebilde [der] Phantasie die gleiche Wahrscheinlichkeit für sich“90 und es gäbe keinen guten Grund, warum man sich auf eine der Alternativen – z. B. einen monotheistischen oder polytheistischen Glauben beziehungsweise ein geistiges oder ein materielles Entstehungsprinzip des Universums – festlegen sollte. Seine vorgeblich skeptische Position bestärkend weist Philo beispielsweise zunächst das Argument zurück, dass sich aus Ordnung, Einfügung und Anpassung von Zweckursachen in der Welt auf eine bewusste Planung bei der Entstehung der Welt schließen lasse. Zwar schätzt er an diesem teleologischen Argument für die Existenz Gottes, dass es ohne apriorische Prämissen auskomme. Obwohl Gott kein Gegenstand empirischer Wissenschaften ist, wurzele die Argumentation dennoch auf erfahrungsbasierter Erkenntnis: Ähnlich wie im alltäglichen Kausalitätsdenken von einer Wirkung auf eine möglicherweise nicht unmittelbar gegenwärtige beziehungsweise aktuell erfahrbare Ursache geschlossen wird (der vorgefundene gedeckte Tisch lässt beispielsweise darauf schließen, dass ihn jemand gedeckt hat), werde auch beim sogenannten teleologischen Gottesbeweis auf dem Wege der Analogie aus der erkennbaren Ordnung in der Welt auf Gott als ihren Urheber geschlossen, weil sie auf einen planenden, intelligenten Konstrukteur verweise. Dennoch ist dieser Analogieschluss als tatsächlicher Beweis nicht gültig. Einerseits seien Kausalschlüsse dann zulässig, wenn eine ständige, sich wiederholende Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen gleicher Art beobachtbar sind. Das ist jedoch bei der Entstehung der Welt nicht der Fall.91 Andererseits merkt Philo an, dass ebenso wie der Geist auch vernunftfreie Materie das Entstehungsprinzip von Ordnung schon immer in sich enthalten könne: Ordnung und Struktur enthalte auch ein Baum, der wiederum aus einem anderen Baum hervorgehe – ohne, dass letzterer wisse, dass er eine solche Ordnung verleihe.92 Weil es keine Möglichkeit einer empirischen Verifikation gebe, müssten demnach beide Hypothesen als gleichermaßen wahrscheinlich gelten. Es gäbe so viele verschiedene Prinzipien wie Vernunft, Instinkt, Zeugung und Wachstum, dass es Philo als Voreingenommenheit erscheint, wenn wir unseren Blick ausschließlich auf die Funktionsweise unseres Verstandes beschränkten.93 Trotz aller skeptischen Vorbehalte lässt Hume die Figur des Philo zugestehen, dass vor dem Hintergrund instinktiven Kausalitätsdenkens ein Minimalkonzept Gottes, das als Ordnungsprinzip der Welt begriffen wird, einen nachvollziehbaren Schluss darstellt. Zweck, Absicht und Planung der Welt fielen nämlich „überall auch 90 Dialoge, S. 28. 91 Vgl. die ergänzenden Ausführungen von Norbert Hoerster in: Speck, Josef (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen, Göttingen 31997, S. 254 ff. 92 Vgl. Dialoge, S. 73. 93 Vgl. Dialoge, S. 28 ff. und 72.
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dem unachtsamsten und stupidesten Denker ins Auge; und niemand kann sich dermaßen in absurde Denksysteme eingemauert haben, daß er diese Erfahrung ständig von sich weisen kann.“94 Und weiter heißt es: „Daß die Werke der Natur eine große Ähnlichkeit mit den Erzeugnissen menschlicher Erfindung aufweisen, liegt auf der Hand. Nach allen Regeln soliden Denkens sollten wir, falls wir über ihre Ursachen überhaupt Erörterungen anstellen, deshalb folgern, daß diese Ursachen ebenfalls eine entsprechende Ähnlichkeit aufweisen. Da jedoch auch erhebliche Unterschiede vorhanden sind, haben wir andererseits Grund, einen entsprechenden Unterschied in den Ursachen anzunehmen. Insbesondere sollten wir der höchsten Ursache ein viel größeres Maß an Macht und Wirksamkeit zuschreiben, als wir es beim Menschen je wahrgenommen haben. Hiermit ist also die Existenz einer Gottheit durch die Vernunft eindeutig festgestellt.“95
Trotz der Vernünftigkeit der Annahme Gottes als Urheber der Welt könne man dennoch nicht auf seine persönlichen oder moralischen Eigenschaften schließen. Am Ende der Untersuchung stehe man vor „Zweifel, Ungewißheit und Unentschiedenheit des Urteils“96. Insgesamt kommt dem Zweifel beziehungsweise der aus ihr resultierenden Skepsis in der Philosophie Humes also eine zentrale Bedeutung zu. Mehrfach kennzeichnet er sie als destruktiv, wenngleich er im Abschnitt „Skeptische Zweifel an den Verstandestätigkeiten“ in Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand zunächst eine konstruktive Charakterisierung vornimmt: Zweifel und Irrtümer können sich durch das Wecken der Wissbegierde als nützlich erweisen, indem sie ein grenzenloses Vertrauen zerstören, das den Verstand an freier Forschung hindert.97 Dennoch problematisiert er häufig den destruktiven Charakter der Skepsis. Die Skepsis bediene sich der Gesetze und Grundsätze der Vernunft, um die Trüglichkeit und Beschränktheit derselben geltend zu machen. Indem die Skepsis sich dabei vernünftiger Argumente bedient, habe sie ein Ansehen, das dem der Vernunft selbst entspricht. So vermindere die Skepsis allmählich die Stärke der herrschenden Vernunft „und damit zugleich seine eigene, bis sich zuletzt beide, regel- und ordnungsgemäß dahin schwindend, in nichts auflösen.“98 Raubt die Skepsis also der Vernunft ihre Stärke, so vermindert sie in gleichem Maße auch ihre eigene. So müsse sich der Verstand gegen sich selbst wenden und schließlich jede Gewissheit sowohl der Philosophie als auch des gewöhnlichen Lebens zerstören. Durch Zweifel an der eigenen Verstandestätigkeit komme es durch eine Destruktion des Wissens zu bloßer Wahrscheinlichkeitserkenntnis, die wieder und wieder Abschwächungen erfahren müsse, „bis am Ende nichts mehr von der ursprünglichen Wahrscheinlichkeit übrig bliebe. […] Das höchste Maß der Gewissheit, dessen menschli94 95 96 97 98
Dialoge, S. 122 f. Dialoge, S. 126. NR, S. 71. Vgl. Untersuchung, S. 42. Traktat, S. 235.
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che Vernunft fähig ist, muss […] schließlich auf nichts reduziert werden.“99 Unser ursprünglicher Glaube gehe also nach Hume unfehlbar zugrunde, wenn er durch Zweifel ginge. Er kommt zu dem Schluss, dass das Ergebnis aller Philosophie aufgrund des Zweifels so „die Enthüllung menschlicher Blindheit und Schwäche“100 sei, die uns trotz unserer Bemühungen, ihr auszuweichen, begegnete. Die aus den Zweifeln resultierende Skepsis hält Hume dennoch nicht für eine Position, die durchgehalten werden könne oder solle. Das Misstrauen gegenüber dem eigenen Verstand aufgrund fein ausgesponnener Überlegungen zu seiner Fehleranfälligkeit werde schnell vergessen und hinterlasse keinen stark bleibenden Eindruck.101 Selbst wenn Skeptiker sich ständig vor Augen führten, dass ihre Erkenntnis nicht mit Vernunftgründen zu verteidigen sei, könnten sie nicht anders, als weiterhin anzunehmen, dass Körper existieren.102 Trotz aller Gewissheitsdestruktion hätten sie zu ihren alltäglichen Erwägungen so viel Vertrauen, wie es zum Philosophieren sowie für das Realisieren des gewöhnlichen Lebens notwendig ist. Den Grund dafür sieht Hume darin, dass die komplexe, abstrakte Tätigkeit unseres Geistes eine erzwungene und unnatürliche sei, bei der unsere Vorstellungen schwächer und verwischter würden und die Aufmerksamkeit überangespannt sei. Der alltägliche Glaube (z. B. an die Existenz von Körpern oder daran, dass eine bestimmte Handlung zu einem bestimmten Ergebnis führt) beruhe dagegen auf einem lebhaften Erfassen und einer leichten Gedankenfolge, die sich ganz natürlich und bequem vollziehe.103 Zudem drängten sich Gegenstände auf und Emotionen bewegten uns, was skeptische Grübeleien verflüchtigen ließe.104 Ebenso wie die Natur uns mit absoluter Notwendigkeit nötigt zu atmen, zwinge sie uns dazu, Urteile zu fällen.105 Somit liege es in der Natur des Menschen, seinen Urteilen zu vertrauen, auch wenn sie nicht vollständig gerechtfertigt werden könnten, weshalb es unmöglich sei, die skeptische Position in allen Lebensbereichen konsequent durchzuhalten. Im Einklang mit diesen Überlegungen lässt Hume den Skeptiker Philo in seinen fiktiven Dialogen zu dem Schluss kommen, dass der geistige Zustand eines Skeptikers in sich unbefriedigend sei, weil er sich nie auf Dauer behaupten lassen könne. Das theistische Prinzip beispielsweise habe im Gegensatz dazu den Vorzug, dass es „das einzige System der Weltentstehung [sei], das sich verständlich und geschlossen darstellen läßt und das doch in hohem Maße mit dem übereinstimmt, was wir jeden Tag in der Welt sehen und erfahren.“106 Skeptiker müssten sich damit zufriedengeben, allenfalls Zweifel und Probleme geltend zu machen – sie dürften sich aber nicht 99 100 101 102 103 104 105 106
Traktat, S. 230. Untersuchung, S. 48. Vgl. Traktat, S. 327. Vgl. Traktat, S. 235 f. Vgl. Traktat, S. 233 ff. Vgl. Dialoge, S. 10. Vgl. Traktat, S. 231. Dialoge, S. 125.
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einbilden, an die Stelle einer theistischen Theorie eine präzise Alternative setzen zu können. Der unbefriedigende Zustand der Urteilsenthaltung sei das Äußerste, was ein Skeptiker hier erreichen könne.107 Um nicht dem Aberglauben zu verfallen – so legt Hume Philo die Behauptung in den Mund –, sei „der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg zu einem echten, gläubigen Christen“108, die Position der philosophischen Skeptiker einzunehmen. Der skeptische Zweifel wird hier als ein normatives Durchgangsstadium begriffen. Nicht nur im fiktiven Dialog, sondern auch in seinem Traktat über die menschliche Natur empfiehlt Hume, dass trotz aller Destruktivität, die die Natur des Menschen letztlich ja doch nicht zu brechen vermag, ein gewisser Skeptizismus in allen Vorkommnissen des Lebens zu bewahren sei. „Wo die Vernunft lebhaft Gehör fordert und eine [natürliche] Neigung [des Geistes] hinzukommt, da sollten wir der Vernunft recht geben. Wo das letztere nicht der Fall ist, sollte ihr kein Recht, auf uns zu wirken, zugestanden werden.“109 Auch, wenn die Skepsis nach Hume nicht das letzte Wort haben kann, weil Menschen durch ihre Natur immer wieder zu Annahmen gelangen, die sich ihnen aufgrund von Wahrnehmungen aufdrängen, ist zu konstatieren, dass es sich im Falle Humes um keine reine Skepsis handelt. Wie auch Vieweg bemerkt, geht Hume im Gegensatz zu seinen antiken Vorgängern nicht skeptisch, sondern dogmatisch vor, indem er sich nicht bloß an Erscheinungen hält, sondern die Position vertritt, dass wir Menschen generell nicht dazu in der Lage wären, zu wahren Erkenntnissen zu gelangen. Die Lehre der prinzipiellen Unerkennbarkeit von Wahrheit ist dagegen beispielsweise den Pyrrhonischen Skeptikern fremd gewesen, weil wir gemäß der Rechtfertigungsskepsis selbst die Annahme, dass wir Wahres nicht erkennen, nicht rechtfertigen könnten.110 Insofern ist bei Hume im Grunde nicht nur kein tatsächlicher Zweifel, sondern nicht einmal eine skeptische Position im strengen Sinne vorzufinden. Dennoch bringt er hypothetische Zweifel ins Spiel, um seine vermeintlich skeptische Position, in der Menschen sich nach eigenem Zugeständnis nicht halten könnten, zu plausibilisieren.
2.2.6 Zweifel bei Hegel Hegel wendet sich insbesondere in seiner Phänomenologie des Geistes dem Zweifel zu. Er betrachtet Zweifel als unausweichlich für den Erkenntnisprozess. Obwohl der Zweifel in den Skeptizismus führen müsse, hält Hegel damit das Philosophieren nicht für ein sinnloses Unterfangen. Der Zweifel führe vielmehr zu höheren Erkenntnisstufen, wie die Ausführungen in diesem Kapitel zeigen sollen. 107 108 109 110
Vgl. ebd. Dialoge, S. 142. Traktat, S. 329. Vgl. Vieweg, Klaus, Die Philosophie des Remis. Der junge Hegel und das „Gespenst des Skepticismus“, München 1999, S. 209.
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Hegel betrachtet in seiner Phänomenologie des Geistes den erkenntnistheoretischen Skeptizismus, zu dem man ausschließlich auf dem Weg des Zweifelns kommt, als unausweichlich aufgrund des Problems des Wahrheitskriteriums: Meinungen, die den Status gerechtfertigten Wissens einnehmen sollen, müssen gemäß eines Kriteriums begründet werden. Ein solches Kriterium muss jedoch wiederum selbst gemäß eines anderen Maßstabes gerechtfertigt sein. Das Generieren von Erkenntnis und Wissen scheint somit unmöglich zu sein, weil die Rechtfertigung von Wahrheitsansprüchen aufgrund der Aporie des Kriteriums unmöglich wird.111 Dieses Problem wird bereits in Sextus Empiricus’ Grundriß der pyrrhonischen Skepsis thematisiert. Sextus richtet sich gegen diejenigen, die meinen, das Wahrheitskriterium erkannt zu haben. Er weist darauf hin, dass die Begründung eines Kriteriums notwendig auf ein Trilemma hinauslaufe, weil sie zur dogmatischen Voraussetzung, in den unendlichen Regress oder in den Zirkel führe: „So gerät die Erörterung in die Diallele, und die Auffindung des Kriteriums wird aussichtslos, da wir es einerseits nicht zulassen, daß sie ein Kriterium durch Voraussetzung annehmen, und wir sie andererseits, wenn sie das Kriterium durch ein Kriterium verurteilen wollen, in einen unendlichen Regreß treiben. Aber auch, weil der Beweis eines bewiesenen Kriteriums bedarf und das Kriterium eines mit einem Kriterium beurteilten Beweises, geraten sie in die Diallele.“112
Das hier beschriebene Trilemma entnimmt Sextus offensichtlich den fünf Tropen des Agrippa, mittels derer die Pyrrhonische Skepsis die Entgegensetzung von Argumenten aufzeigen will, aus der aufgrund ihrer Unentscheidbarkeit Zurückhaltung und Seelenruhe folgen sollen.113 So bezieht sich der zweite der fünf Tropen auf den in der soeben zitierten Stelle genannten unendlichen Regress, der zur Skepsis führe, weil jede Bestätigung eines fraglichen Gegenstandes jeweils einer erneuten Bestätigung bis ins Unendliche bedürfe, sodass der Anfang des Begründens unerreichbar scheine. Mit dem vierten Tropus der Voraussetzung wird an der Rechtfertigungsfähigkeit eines Maßstabes gezweifelt, weil der unendliche Regress dazu führen könne, ein Wahrheitskriterium vorauszusetzen, das jedoch nicht als begründetes erwiesen worden sei. Schließlich soll mit dem fünften Tropus der Diallele gezeigt werden, dass ein Zirkel entsteht, wenn der Maßstab, der etwas begründen soll, selbst durch dasjenige, was er zu rechtfertigen versucht, begründet wird.114 Die skeptische Aporie des Kriteriums scheint also Erkenntnis unmöglich zu machen. Auch Hegel sieht in der skeptischen Aporie des Kriteriums die Unausweichlichkeit des Skeptizismus begründet: Überprüft die Wissenschaft, ob das „erscheinende Wissen“115 gerechtfertigt und somit wahres Wissen sei, scheint ein Maßstab vorausgesetzt werden zu müssen, mittels dessen das erscheinende Wissen beurteilt werden 111 112 113 114 115
Vgl. Heidemann 2007, S. 201. Grundriß, S. 158. Vgl. Grundriß, S. 101 f. Vgl. Grundriß, S. 130 f. PhG, S. 63.
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soll. Durch das Anlegen eines angenommenen Maßstabes werde aufgrund der Gleichheit oder Ungleichheit mit dem geprüften Gegenstand ein Urteil darüber gefällt, ob dasjenige, was als Wissen angenommen wird, richtig sei. Dabei werde der Maßstab und auch die Wissenschaft, wenn sie der Maßstab ist, als das Wesen angenommen, das Hegel auch als „das Ansich“116 bezeichnet. Hier sieht Hegel das Problem, dass sich die auftretende Wissenschaft nicht „als das Wesen oder als das Ansich gerechtfertigt [habe]; und ohne ein solches scheint keine Prüfung stattfinden zu können.“117 Somit sind nach Hegel auch Zweifel an Erkenntnisansprüchen unausweichlich, weil die Untersuchung der Erkenntnis ein Kriterium voraussetzen muss, das jedoch noch nicht als wahr erwiesen worden sein kann. Dennoch betrachtet Hegel die Unausweichlichkeit des Skeptizismus in Folge erkenntnistheoretischen Zweifelns nicht als Anlass, um das Philosophieren zu beenden. Er zweifelt vielmehr daran, dass die skeptische Position letzte Gültigkeit hat. Das Problem der skeptischen Aporie beansprucht Hegel mittels des sich vollbringenden Skeptizismus zu lösen, um so die Rechtfertigungsfähigkeit von Erkenntnis aufzuzeigen. Auf diese Form des Zweifels kann an dieser Stelle nur kurz und nur unter Rückgriff auf Hegels Ausführungen in seiner Einleitung in die Phänomenologie des Geistes eingegangen werden. Dort nimmt er vorweg, dass er das „natürliche Bewusstsein“118 untersucht, das zunächst vom „erscheinende[n] Wissen“119 ausgeht und erst auf dem Wege des „sich vollbringenden Skeptizismus“120 zum wahren Wissen vordringt, das Skeptikern keine Angriffsfläche mehr bieten könne. Der sich vollbringende Skeptizismus hat also nach Hegel die Funktion, das „erscheinende Wissen“ über den „Weg des Zweifels […] oder eigentlicher [den] Weg der Verzweiflung“121 zur wahren Erkenntnis zu führen. Der Weg der Selbsterkenntnis des natürlichen Bewusstseins wird als der des Zweifels beziehungsweise der Verzweiflung bezeichnet, weil sich auf diesem herausstellt, dass sich das erscheinende Wissen nur fälschlicherweise „für das reale Wissen hält“122. Dringt das natürliche Bewusstsein zum wahren Wissen vor, hat diese Entwicklung für es eine negative Bedeutung, weil es nicht etwa an seiner vermeintlichen Wahrheit zweifele, um schließlich zu ihr zurückzukehren, sondern „bewusste Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens“123 gewinne, indem es dem sich vollbringenden Skeptizismus zum Opfer falle. Der prozessuale Skeptizismus der Phänomenologie des Geistes ist jedoch kein zufälliges Zweifeln an irgendwelchen Ge-
116 117 118 119 120 121 122 123
Vgl. ebd. PhG, S. 71 f. PhG, S. 68. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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genständen. Stattdessen führt die Prüfung einer Theorie notwendigerweise zur nächsten bis das natürliche Bewusstsein vollständig zerstört wird.124 Jedoch wird in der Einleitung der Phänomenologie darauf hingewiesen, dass der Stufengang des natürlichen Bewusstseins nicht ausschließlich als negativ aufgefasst wird, wie es sich wohl im weiteren Verlauf der Phänomenologie zeigen soll. Vorgreifend wird erklärt, dass lediglich das unvollendete Bewusstsein eine solche einseitige negative Sichtweise einnimmt, die Hegel mit dem Skeptizismus identifiziert, der sich nicht vollbringt, sondern „in dem Resultate nur immer das reine Nichts sieht, und davon abstrahiert, daß dies Nichts bestimmt das nichts dessen ist, woraus es resultiert.“125 Somit wird eine klare Grenze gegenüber derjenigen skeptischen Position gezogen, die zwangsläufig auf das Nichts beziehungsweise auf eine Leerheit hinausläuft, weil sie jede mögliche Erkenntnis, die sich ihr darbietet, für nichtig erklärt und deshalb nicht dazu in der Lage ist, fortzuschreiten. Dagegen wird geltend gemacht, dass das Nichts, indem es aus etwas resultiere, das es durch seine Negation in eine neue Form bringe, immer ein bestimmtes Nichts sei und damit Inhalt habe. Der Ausdruck „Nichts“ soll demnach nicht darauf hinweisen, dass es keinen inhaltlichen Bezugsgegenstand habe. Als ein solches, das aus etwas resultiert, negiert es vielmehr etwas Bestimmtes, woraus wiederum eine höhere Erkenntnis entsteht, die diese bestimmte Negation enthält. Somit ist es die bestimmte Negation, die das Bewusstsein weiter zu neuen Formen bis zur höchsten Erkenntnisstufe vorantreibt. Es ist also zusammenfassend festzuhalten, dass der Vollzug des sich vollbringenden Skeptizismus darin besteht, das Bewusstsein mittels der bestimmten Negation vom erscheinenden Wissen zur absoluten Erkenntnis zu führen. Indem er dabei bestimmte Weisen des Fürwahrhaltens des natürlichen Bewusstseins zerstört und zugleich neue Wissensformen und schließlich das absolute Wissen hervorbringt, ist er sowohl destruktiver als auch konstruktiver Natur. Der sich vollbringende Skeptizismus hat insofern auch die Funktion der Rechtfertigung des Maßstabes, als dass er das erscheinende Wissen destruiert und zu wahrem Wissen vorantreiben soll.
2.2.7 Zweifel bei Wittgenstein Viele der Ausführungen Ludwig Wittgensteins zum Zweifel finden sich in seiner Spätschrift Über Gewissheit. Dabei handelt es sich um ein Werk, das kurz vor seinem Tod entstand. Es besteht deshalb aus ersten Aufzeichnungen, die er nicht noch einmal durchsehen und überarbeiten konnte.126 124 Vgl. Siep, Ludwig, Der Weg der „Phänomenologie des Geistes“. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und zur „Phänomenologie des Geistes“, Frankfurt am Main 2000, S. 75. 125 PhG, S. 62. 126 Vgl. Fay, Siegfried C.A., Zweifel und Gewissheit beim späten Wittgenstein. Eine Einführung, Frankfurt am Main 1992, S. 9.
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Den Hintergrund dieser Schrift bildet die Stellung, die dem Zweifel insbesondere seit Descartes beigemessen wird. Danach sind Zweifel per se gerechtfertigt, wohingegen Gewissheit begründungsbedürftig ist. Wie bereits in Kapitel 2.2.4 ausgeführt, nutzt Descartes den Zweifel als Methode, um Gewissheit erst begründen zu können. Die Berechtigung seiner Zweifel stand dabei nicht zur Diskussion; vielmehr zieht er in seinen Meditationen alles in Zweifel, was aus irgendeinem Grund nicht als völlig sicher gelten könne. Dabei haben ein denkbarer und ein tatsächlicher Zweifel denselben Status, sodass jeder Zweifel, der auch nur vorstellbar ist, widerlegt werden muss. Gegen dieses Verständnis will Wittgenstein geltend machen, dass nicht die Berechtigung der Gewissheit, sondern die des philosophischen Zweifels nachgewiesen werden müsse.127 Dabei liegt die Schwierigkeit jedoch darin, dass es dem philosophischen, insbesondere dem metaphysischen Zweifler nicht um den praktischen Zweifel geht, der prinzipiell zu beseitigen ist, sondern um einen, der dahinter liegt128: So bedeute der Zweifel an der Existenz der Außenwelt nicht, dass die Existenz eines Planeten in Frage gestellt werde, die später erwiesen wird. Der metaphysische Zweifel stellt in Frage, ob die Außenwelt überhaupt existiert, oder ob sie nicht doch bloß eine Vorstellung des Bewusstseins ist. Wittgenstein selbst formuliert gleich im zweiten Paragraphen die skeptische Hypothese: „Daß es mir – oder Allen – so scheint, daraus folgt nicht, dass es so ist.“129 Sogleich schließt er jedoch die Frage an, ob diese skeptische Hypothese überhaupt sinnvoll formuliert werden könne, denn zum Zweifel daran fehlten ihm die Gründe. Der ihm überlieferte Wissenskörper, der den Hintergrund seines Handelns bildet, werde alltäglich auf viele Weisen bestätigt und es dränge sich ihm kein Grund auf, daran zu zweifeln.130 Philosophische Zweifel erscheinen Wittgenstein nicht nur als grundlos, sondern auch als unvernünftig131, unverständlich und deshalb auch nicht sinnvoll. Selbst ein beispielsweise nicht metaphysischer Zweifel daran, ob die Erde tatsächlich vor 100 Jahren bereits existierte, sei nicht verstehbar – denn was ließe solch ein zweifelndes Subjekt als Evidenz gelten?132 Einen Zweifel, der keine Antwort ermöglicht, hält Wittgenstein ohnehin für „offenbar unsinnig, wenn er bezweifeln will, wo nicht gefragt werden kann. Denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.“133 Einen absoluten Zweifel, der alles in Frage stellt, hält Wittgenstein somit für unmöglich. Es gäbe Sätze, an denen man nicht zweifeln könne, „ohne alles Urteilen 127 128 129 130 131 132 133
Vgl. ebd., S. 47, f. Vgl. ÜG § 19. ÜG § 2. Vgl. ÜG § 288. Vgl. ÜG § 220. Vgl. ÜG § 231. Tractatus 6.51.
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aufzugeben.“134 Wenn fundamentale Aussagen falsch sein sollen „was ist noch ‚wahr‘ und ‚falsch‘?!“135 Vielmehr „gäbe es gewiß auch etwas, was die Gründe solcher Zweifel selbst zweifelhaft erscheinen ließe“.136 Wird eine Aussage aufgrund von Zweifeln überprüft, setzt der beziehungsweise die Prüfende zumindest „damit immer schon etwas voraus, was nicht geprüft wird.“137 So ist für die Prüfung eines Satzes durch ein Experiment notwendig, dass der Satz, dass tatsächlich der dazu benötigte Apparat hier steht, für wahr gehalten wird. Zum Zweifeln sind nach Wittgenstein also nicht nur Gründe notwendig; auch die Gewissheit begreift er als Grundlage allen Urteilens und Zweifelns.138 Gewissheit wird nach Wittgenstein nicht durch rationale Operationen oder Evidenz generiert. Besonders deutlich wird das an seiner Auseinandersetzung mit Moore, der gewissen Sätzen Wahrheit unterstellt, die zwar nicht zu beweisen sind, aber dennoch als unangefochtenes Fundament gelten. Darunter fällt beispielsweise der Satz, dass Moore wisse, dass die Erde bereits lange vor seiner Geburt existiert hat. Wittgenstein kritisiert zurecht, dass in diesem Fall nicht von Wissen gesprochen werden kann, weil der Begriff des Wissens impliziert, dass Moore den richtigen Grund für seine Überzeugung angeben kann.139 Dennoch handele es sich bei diesem Satz um eine Gewissheit, die fest im Bewusstsein verankert sei und nach der Menschen handelten. Selbstverständlichkeiten wie diese gründeten nicht auf ihrer Verstehbarkeit, sondern sie ermöglichten erst Verstehbarkeit von anderen Zusammenhängen und bildeten unser Weltbild. Dieses Weltbild strukturiere Überzeugungen und Lebensweisen, die uns selbstverständlich seien und Wissen erst ermöglichten.140 Gewissheit sei also nicht durch Formulierungen explizierbar, sondern vielmehr die Grundlage unseres Denkens und Handelns, die sich im Denken und Handeln auch zeige.141 Der Vorrang der Gewissheit vor dem Zweifel zeige sich bereits beim Lernen des Kindes: „Das Kind lernt, indem es dem Erwachsenen glaubt. Der Zweifel kommt nach dem Glauben.“142 Würde das Kind gleich an dem zweifeln, was seine Eltern ihm beibringen wollen, könnte es gewisse Sprachspiele gar nicht erst erlernen.143 Unter dem für sein Denken zentralen Begriff „Sprachspiel“ versteht Wittgenstein das Ganze der Sprache und der Handlungen, die mit ihr zusammenhängen. Der Ausdruck soll „hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, 134 135 136 137 138 139 140 141
ÜG § 494. ÜG § 514. ÜG § 516. ÜG § 163. Vgl. ÜG §§ 613, 614. Vgl. ÜG § 91 f. Vgl. ÜG § 94. Vgl. Nientied, Mariele, Kierkegaard und Wittgenstein. „Hineintäuschen in das Wahre“, Berlin 2003, S. 263 ff. 142 ÜG § 160. 143 Vgl. ÜG § 283.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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oder einer Lebensform.“144 Er verweist darauf, dass Sprechen und andere Tätigkeiten eine Funktionseinheit bildeten: „Unsre Rede erhält durch unsre übrigen Handlungen ihren Sinn.“145 Sprachspiele benötigen einen Fixpunkt, auf den sich die Partizipierenden verlassen und beruhen also darauf, dass gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind.146 Das Wiedererkennen von Wörtern bildet eine Voraussetzung der Kommunikation. „D. h. [man müsse] irgendwo mit dem Nichtzweifeln anfangen; und das ist nicht, sozusagen, vorschnell aber verzeihlich, sondern es gehört zum Urteilen.“147 Allein innerhalb des Sprachspiels, das bereits Gewissheit voraussetzt, habe der Zweifel einen Sinn. Außerhalb desselben könne er nicht sinnvoll geäußert werden, weil nicht klar wäre, auf welche Art von Antwort er zielen sollte, wenn er die sprachspielinternen Evidenzen nicht gelten ließe (siehe oben). Zum Sprachspiel gehöre jedoch die Möglichkeit, dass man sich von der Wahrheit eines Satzes und damit der Widerlegung des Zweifels überzeugen könne148, weil jede Wahrheit in einen Kontext eingebettet ist. Was wir glauben, sind keine einzelnen Sätze, sondern ein ganzes System von Sätzen. „Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.“149 Ziehen wir also eine Aussage in Zweifel, so tun wir dies nicht isoliert von anderen Aussagen, sondern wir sind dabei immer schon auf ein System beziehungsweise Substrat angewiesen, das uns innerhalb unseres Sprachspiels als gewiss gilt. Daraus folgt für Wittgenstein, dass die Zweifellosigkeit zum Wesen der Sprachspiele gehört150 – während Zweifel außerhalb des Sprachspiels nicht sinnvoll sind, sind Zweifel innerhalb des Sprachspiels somit immerhin zu begründen. Zweifel hängen also immer mit einem System zusammen, das mit der Praxis der Sprachspiele korreliert. Deshalb steht und fällt der Sinn eines ausgedrückten Zweifels für Wittgenstein damit, ob er praxisrelevant ist. Haben Zweifel keine praktischen Folgen oder liefern sie keine Erklärungen, ändert es auch nichts an der Praxis. Ein solcher Zweifel würde keinen Unterschied im Leben machen und lediglich in einer Anhäufung von Worten resultieren.151 Insofern jedoch „unsre Rede […] durch unsre übrigen Handlungen ihren Sinn“152 erhält, macht die ausbleibende Auswirkungen des Zweifels auf die Praxis der Sprachspiele für Wittgenstein noch einmal
144 145 146 147 148 149
PU § 23, H.i.T. ÜG § 229. Vgl. ÜG § 341. ÜG § 150. Vgl. ÜG § 3. ÜG § 142. Vgl. auch ÜG § 225: „Das, woran ich festhalte, ist nicht ein Satz, sondern ein Nest von Sätzen.“ 150 Vgl. ÜG § 370. 151 Vgl. ÜG §§ 117, 338. 152 ÜG § 229.
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mehr deutlich, dass es sich beim philosophischen Zweifel um einen solchen handelt, der nicht sinnvoll ist. Für Wittgenstein hat der philosophische Zweifel also weder einen Sinn, noch ist er verstehbar. Er bedarf einer Begründung, weil die Gewissheit in unseren Sprachspielen den logischen Vorrang vor dem Zweifel hat und die Grundlage unseres Denkens, Handelns und damit auch des Zweifels selbst darstellt. Zudem hat der philosophische Zweifel keine Auswirkungen auf die Praxis, weshalb er nach Wittgenstein nicht sinnvoll sein und keine Wirkung haben kann.
2.2.8 Zweifel bei Hermes Im 19. Jahrhundert zog Georg Hermes, für den Zweifel zum Ausganspunkt seiner theologischen Erkenntnisse wurden, große Aufmerksamkeit auf sich. Er beschreibt in einem autobiographischen Rückblick, wie sich seine Fragen und Zweifel ausbreiteten. Diese biographisch beunruhigende Situation des Zweifelns wurde ihm zur Triebfeder seiner theologischen Bemühungen. Eine Auseinandersetzung mit seiner Weise des Zweifelns soll zur Begriffsklärung des Zweifels beitragen. Aus seinen einleitenden Ausführungen in seinem Hauptwerk Einleitung in die christkatholische Theologie. Erster Theil. Philosophische Einleitung, das im Jahre 1819 erschienen ist, geht hervor, dass die Zweifel des Hermes zunächst keine intendierte Methode darstellten, sondern dass sie aus seiner biografischen und theologischen Entwicklung resultierten: „Es entstand in mir eine Menge Fragen und Zweifel […], die mich Tag und Nacht beschäftigten; die ich zwar alle zu beantworten wußte, worüber ich mir aber bey näherer Erwägung gestehen mußte, daß ich in der That keine einzige von ihnen beantworten konnte. Und noch hatte ich mir den Grundzweifel: ob denn auch wohl wirklich ein Gott sey’, selbst nicht gestanden, bis endlich mein Gewissen […] mir die Unredlichkeit, womit ich über den Grund von Allem mich täuschen wollte, so wiederholt und so laut vorrückte, daß ich mich entschloß auch zu dieser Frage offen überzugehen und sie unter allen oben an zu stellen. Nun war die Reihe meiner Fragen vollendet, und zugleich das Geständnis mir unwiderruflich abgenöthigt, daß ich auf keine derselben eine genügende Antwort wüßte.“153
Trotz der Enge, in die er sich dadurch getrieben fand, war er dennoch der festen Überzeugung, dass es sinnvoll sei, weiterhin zu zweifeln und Antworten auf seine Fragen zu suchen, die er in theologischen Büchern oder bei anderen Theologen zu finden hoffte. Seine Enttäuschung war groß, als er dabei feststellen musste, dass seine Fragen innerhalb der Literatur nicht thematisiert wurden. Das, woran er zweifelte, wurde als gewiss vorausgesetzt. Auch im Dialog mit Anderen kam er zu keinem erfreulichen, sondern oft zu einem „noch niederschlagendere[n] Resultat“154. Mit seinem niederschlagenden Resultat bezieht er sich wahrscheinlich auf seine Bestür153 Hermes 1819, S. IVf. 154 Hermes 1819, S. Vf.
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zung angesichts der Reaktion seines Lehrers, der die Frage nach einem Grund für die Annahme der Existenz Gottes selbst für verdammlich erklärte.155 Trotz dieser grundlegenden Zweifel und angesichts der Unmöglichkeit, durch sein Studium Antworten zu finden, die keinen Vorläufigkeitscharakter besitzen, „kehrte [er] nun in [sich] selbst zurück, stets entschlossen zu studiren und nicht zu ruhen, bis [er] eine Antwort auf [seine] Fragen gefunden, die [ihn] überzeugte, und wenn auch [sein] ganzes Leben darüber vergehen sollte; denn die Auskunft über diese Gegenstände war [ihm] mehr, als das Leben selbst, werth.“156
Seine Bemühungen beschließt er letztlich mit dem „Vorsatze, alles, was [er] wußte, nur in so fern als [sein] Wissen gelten zu lassen, als [er] es von nun an selbst finden würde; und setzte, um sicher zu gehen, später noch hinzu: nichts als gefunden gelten zu lassen, als was [er] nicht leugnen könnte.“157 Auch das Selbststudium ließ ihn unbefriedigt zurück. Hermes berichtet von seiner Auseinandersetzung mit Kant und anderen Systemen der Metaphysik. Obwohl er dabei Vieles lernte, gewann er bald die Überzeugung, dass seine Fragen „gar nicht zu beantworten seyen – freylich auch eine Antwort, womit [er] auch zufrieden seyn wollte, falls keine andere zu erreichen wäre“158. Dennoch war ihm auch dieses Ergebnis seiner Mühen kein Hindernis, weiterhin zu zweifeln und diejenigen Werke zu kritisieren, die ihn während seines Selbststudiums dazu befähigten, selbst zu philosophieren: „Ich kehrte jetzt zum zweyten Mal in mich selbst zurück, mit dem Entschluß, von nun an selbst zu philosophiren; aber nichts als wirklich und wahr oder als nicht wirklich und nicht wahr anzunehmen, so lange ich noch zweifeln könnte“159.
Diese Passagen lassen erkennen, dass Hermes den Zweifel nicht willkürlich als Methode setzt, sondern dass die Zweifel, die sich aus seiner biografischen Situation heraus entwickeln, sein theologisches Forschen nach gesicherten Erkenntnissen motivieren und befeuern. Mit seinem Entschluss, von nun an so lange zu zweifeln, bis alle Unsicherheiten ausgeschlossen werden können, zielt er also nicht auf eine Destruktion von Erkenntnissen, sondern auf die Sicherstellung ihres Wahrheitscharakters. Der Vorsatz, selbst zu denken, ist dabei die Konsequenz der unzureichenden Antworten der übrigen Theologen und Philosophen auf seine Fragen.160 155 Vgl. Kopp, Clemens, Die Philosophie des Hermes besonders in ihren Beziehungen zu Kant und Fichte, Köln 1912, S. 13 f. 156 Hermes 1819, S. Vf. 157 Ebd. 158 Hermes 1819, S. VI. 159 Hermes 1819, S. VIII. 160 Insbesondere von zeitgenössischen Denkern wie Kant und Fichte, die Hermes sehr schätzte, grenzt er sich ab, um sein eigenständiges Denken klarer darzustellen. Vgl. hierzu Müller, Klaus, In der Endlosschleife von Vernunft und Glaube. Einmal mehr Athen versus Jerusalem (via Jena und Oxford), Berlin 2012, S. 127 ff.
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Um sich nicht zu zweifelhaften beziehungsweise vorläufigen Ergebnissen hinreißen zu lassen, sondern den Wissenschaftscharakter der Theologie wahren zu können, möchte Hermes nicht nur eigenständig denken, sondern sich dabei von dem Vorsatz leiten lassen „überall so lange als möglich zu zweifeln, und da erst definitiv zu entscheiden, wo [er] eine absolute Nöthigung der Vernunft zu solcher Entscheidung vorweisen konnte.“161 Damit wirkt er also zugleich fundamentalistischen Ansätzen entgegen und kommt dennoch zu einem positiven Ergebnis, mit dem er beansprucht, „den Grund gelegt [zu haben] zum Beweise des Christenthums als einer von Gott gegebenen Offenbarung […]; – dann habe [er] auch das Christenthum als göttliche Offenbarung und den Katholizismus als das wahre Christenthum in derselben Weise erwiesen […]; – und endlich habe [er] auch die christkatholische Dogmatik selbst über jener Grundlage aufgebauet.“162
Indem Hermes Zweifel durchlaufen hat und der Auffassung ist, sie zugunsten unzweifelhafter Erkenntnisse überwunden zu haben, wird einmal mehr ausgedrückt, dass er darauf abzielt, den Wissenschaftscharakter theologischer Aussagen sicherzustellen, anstatt Gewissheit zu destruieren. Allein auf dem Weg des Zweifels könne die innere Wahrheit des Christentums aufgezeigt werden, weil „in jedem weniger strengen Wege alles wonach [er] suchte mit gleichem Grunde verworfen als angenommen werden könnte.“163 Religiöser Glaube ist demnach kein blindes Vertrauen, sondern Entschiedenheit als Resultat vernünftigen Denkens. Für Hermes muss er „in einem festen philosophischen Fundament gründen, in eine[m] Unterbau, der sich rein der Vernunft verdankt als dem zuständigen, unparteiischen und objektiven Wahrheitsorgan – auch gegenüber dem Christentum.“164 Infolge dessen, dass seine Ergebnisse den Zweifeln letztlich standhalten und aufgrund seines Verständnisses vom Glauben, der Vernunftgebrauch sowie Zweifel seinem Wesen nach impliziert, kommt er zu dem Schluss, dass der Weg des Zweifels während des Theologiestudiums verpflichtend sei – zumindest für künftige Religionslehrer. Ein Religionslehrer nämlich solle dadurch darauf aufmerksam werden, was er nicht weiß, „um die Erkenntnis, die ihm fehlt, mit Eifer zu suchen; er muß das Labyrinth des Zweifels in allen Gängen durchirren, um einst den Zweifler auf allen seinen Wegen begleiten zu können“165. Darüber hinaus müsse er ebenfalls dazu in der Lage sein, Widersacher in ihre Schranken zu weisen. Schließlich müsse er
161 162 163 164
Hermes 1819, S. X. Ebd. Ebd. Böttigheimer, Christoph, Immanuel Kant in den deutschsprachigen Schulen des 19. Jahrhunderts, in: Norbert Fischer (Hg.), Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte, Freiburg im Breisgau 2005, S. 327. 165 Hermes 1819, S. XV.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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„alle Beweise mit Zweifelsucht wägen, und alles absondern, dem nicht jeder sich ergeben muß, sofern er nur Vernunft hat, damit er nicht einst mit seinem Beweise zum Spotte werde; ja er muß selbst von der Heiligkeit der Wahrheit durchdrungen werden, und keine größere Sünde kennen, als mit dem Munde zu bekennen, was sein Herz nicht glaubt.“166
Die empfohlene Zweifelsucht soll also einerseits die Rechtfertigung nach außen ermöglichen und andererseits den eigenen Glauben aufklären. Das stellt wiederum eine Voraussetzung für das Heranführen anderer an den Glauben dar. Der künftige Religionslehrer dürfe vor keinem Zweifel fliehen, sondern er müsse sie aufsuchen und würdigen, damit aus der Auseinandersetzung mit ihm eine unumstößliche Überzeugung erwachse. Erst dadurch wäre er dazu fähig, „einst Andere zur Gewißheit zu führen. Wenn einer dieses nicht kann, oder nicht will: so sehe er ab von seinem Vorhaben, damit er sich nicht in ein Amt eindringe, wozu er nicht berufen ist, und worin er in unserer Zeit unausbleiblich schaden wird.“167
Andernfalls würden Geistliche das ihnen entgegengebrachte Zutrauen der Menschen täuschen, die selbst nicht in der Lage dazu sind, den Glauben einer philosophischen Prüfung zu unterziehen und deswegen darauf vertrauen müssen, „daß ein so religiöser Mann [ihnen] nichts als ungezweifelt wahr betheuern würde, als wovon er selbst vollkommen gewiß geworden“168 war. Wie Klaus Müller anmerkt, wird mit dieser Aufforderung ebenfalls zum Respekt vor dem Einzelnen ermahnt, demgemäß niemand, der nach dem Grund des Lebens fragt, mit etwas abgefertigt werden dürfe, wovon der beziehungsweise die Antwortende selbst nicht überzeugt wäre.169 Bei all der Betonung der Dringlichkeit vernünftiger Untersuchungen kommt es Hermes beim Theologen jedoch nicht nur auf seinen Erkenntnisakt an. Auch sein Herz müsse gemäß der erkannten Lehre gebildet werden – andernfalls seien „Beweise, Lehren und Ermahnungen nur ein leerer Schall, der in der Luft verfliegt.“170 Dass solch eine starke Aufwertung einer vor keinem Zweifel Halt machenden Prüfung des Glaubens durch die Vernunft für Aufsehen sorgen musste, war Hermes durchaus bewusst. Er nahm bereits im Vorwort seines Werkes die Kritik seiner Gegner vorweg und bezog Stellung zu möglicherweise aufkommenden Einwänden. So seien einige der Meinung, ein frommer Glaube sei besser als das zweifelsüchtige Beweisenwollen: Wissenschaft blähe nämlich auf und lasse das Herz erkalten, wohingegen demütiger Glaube die Wurzel aller Tugend und Aufopferung für einen glaubenden Lebenswandel sei. Zudem wären nach Ansicht seiner Kritiker philosophische Beweise unnötig, weil niemand den Worten eines Geistlichen, der die Lehre nicht nur erklärt, sondern auch in seinem Lebenswandel ausdrücke, widerstehen könne.171 166 167 168 169 170 171
Ebd. Hermes 1819, S. XXVIIf. Hermes 1819, S. XXII. Vgl. Müller 2012, S. 133. Hermes 1819, S. XXVIII. Vgl. Hermes 1819, S. XVI.
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Laut Müller bezieht sich Hermes mit den vorausgegriffenen Einwänden insbesondere auf Jacobi, der verneinte, dass „eine philosophische Theologie nötig und überhaupt nur möglich ist“172 und der der intellektuellen Evidenz die sensuelle entgegensetze. Hermes weist diese Einwände keineswegs grundlegend ab, sondern spricht allen möglichen Gegeneinwänden viel Wahres und Falsches zugleich zu: Erstens sei es wahr, dass die Wurzel aller Tugend der demütige Glaube sei, falsch jedoch, dass ein Gegensatz zwischen demütigem Glauben und dem zweifelsüchtigen Beweisen bestehe. Vielmehr begreift Hermes das zweifelsüchtige Beweisen als Bedingung des frommen und demütigen Glaubens, der wiederum die Wurzel der Tugend sei: „Oder wolltet ihr wohl behaupten, daß man alles glauben solle, was nur irgend zu glauben vorgegeben wird; und wenn einer es thäte, daß sein Glaube noch ein frommer Glaube genannt werden könnte?“173
Die Demut des Glaubens bestehe nämlich nicht bloß in der Annahme dessen, was nicht geschaut wird, sondern dessen, wozu die Vernunft uns auffordert, obwohl es nicht geschaut werden kann. Wie Müller analysiert, wird für Hermes durch die Akzeptanz „einer Leitung durch die Vernunft […] die Kraft zum Widerstand gegen die Ansprüche des von den Sinnen Nahegelegten freigesetzt, ohne den es [den] gläubigen Geist, der sich per definitionem über das Schaubare erhebt, nicht geben könnte.“174 So verstanden ist Wissen auch nicht etwas, das aufbläht; es dient einem höheren Zweck, nämlich der Begründung des Glaubens. Aufgebläht statt demütig ist nach diesem Verständnis vielmehr derjenige Glaube, der Ansprüche erhebt, ohne sie vorher einer Untersuchung unterzogen zu haben. Der konkrete Inhalt des Glaubens werde nämlich erst durch zweifelsüchtiges Beweisen ausgelotet. Zweitens attestiert Hermes der Aussage, dass die Untersuchung von Wahrheitsansprüchen im Vergleich zur ungeprüften Vorstellung keine intensive Rührung evoziere, Wahres. Deswegen seien jedoch philosophische Beweise nicht entbehrlich, weil durch sie erst offenbar werde, was glaubhaft ist. Insofern müsse irgendeine Form der Prüfung dem Glauben vorangehen, die nur eine philosophische sein könne: „ist doch alle Erkenntniß, wozu dem Menschen durch seine Natur allein der Weg geöffnet ist, eine philosophische“175. Darüber hinaus sei dies der einzige Weg, Zweiflern zu begegnen, deren Infragestellung der Offenbarung nicht mit der Offenbarung selbst zurückgewiesen werden könne. Hermes ergänzt, dass selbst im Falle einer Forderung nach der Heranziehung von Autoritäten der Stellenwert philosophischer Begründung nicht geleugnet werden könne:
172 173 174 175
Müller 2012, ebd., S. 124. Hermes 1819, XVII. Müller 2012, S. 131. Hermes 1819, XX.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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„so denket nur an die vielen gelehrten, von der ganzen Kirche verehrten Theologen unter den Scholastikern, denket insbesondere an die beyden großen Geister, an den h. Thomas von Aquin und an Duns Scotus: finden sich in ihren theologischen Werken nicht philosophische Beweise und Vertheidigungen in großer Menge?“176
Hinsichtlich der Annahme, dass philosophische Untersuchungen abzulehnen seien, weil sie das Herz erkalten ließen, weist Hermes auf ein doppeltes Erkalten hin: „eines aus Gleichgültigkeit gegen die Sache und eines aus Verdeutlichung ihrer Erkenntniß.“177 Der ersten Art des Erkaltens, so Hermes, könne man nicht denjenigen beschuldigen, der „über den Beweis ihrer Wahrheit und über die Erforschung ihres Inhaltes der Vergnügen des Tages vergißt und der Ruhe der Nacht nicht gedenkt. Wer entbehrt und aufopfert, um seinen Gott mit Gewißheit zu erkennen, und den rechten Steig zu finden, der sicher zu ihm hinauf führt, der muß wohl Gott mehr lieben, als das, was es um ihn gibt.“178
Insofern liege es fern, von einer Erkaltung aufgrund einer Gleichgültigkeit während solcher philosophischer Untersuchungen auszugehen. Vielmehr deutet er die Besessenheit mit philosophischen Untersuchungen des Glaubens als Ausdruck gefühlsmäßiger Ergriffenheit.179 Die zweite Weise des Erkaltens, die aus der Verdeutlichung der Erkenntnis resultieren soll, streitet Hermes dagegen nicht völlig ab. Solange unsere Vorstellungen unbestimmt seien, habe die Einbildungskraft genügend Spielraum „und entflammet da nicht selten zu sehr lebendigen aber oft wenig wahren Gefühlen“180, die jedoch genauso schnell wieder vergehen könnten, wie sie entstanden sind. Die deutlich erkannte Wahrheit dagegen erhebe zwar allmählich zur Ergreifung vom Glaubensinhalt, kräftige und stärke das Individuum jedoch „auch außer der Stunde der Andacht“ und begleite es „in die Gefahren und Stürme der Welt“181. Drittens geht Hermes auf die Annahme ein, dass zwar Frömmigkeit, nicht aber die Erkenntnis dazu führe, dass wir Opfer für Wahrheit und Gerechtigkeit erbringen. Obwohl er dies einerseits zugesteht, erwidert er dennoch, dass aus dieser Tatsache nicht die Entbehrlichkeit der Erkenntnis des Glaubens gefolgert werden könne. Frömmigkeit sei auf ein Objekt gerichtet, das sie von der Erkenntnis her empfange. Die Erkenntnis einer Wahrheit sei die Bedingung der Bereitwilligkeit, für sie Opfer zu erbringen. Angelehnt an Kants Formel, dass Gedanken ohne Inhalt leer seien und Anschauungen ohne Begriffe blind182, kommt Hermes zu dem Schluss: 176 177 178 179 180 181 182
Hermes 1819, XXII. Hermes 1819, XXIV. Ebd. Vgl. hierzu auch Müller 2012, S. 134 f. Hermes 1819, XXV. Ebd. Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann, Hamburg 1998; ursprünglich: 21787, S. 130. Im Folgenden abgekürzt mit KrV.
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2 Der Akt des Zweifelns „Erkenntniß ohne Frömmigkeit ist ohnmächtig; und Frömmigkeit ohne Erkenntniß ist blind. Jene allein vermag es nicht, ein Gut mit Aufopferung zu schützen, wenn sie es auch als das heiligste erkennet und aller Opfer werth findet; und diese allein weiß nicht, ob sie für Heiliges oder Unheiliges, für Wahrheit oder Falschheit sich aufopfert: aber beyde vereinigt bringen hundertfältige Frucht“183.
Hermes vereint also Glaube und Vernunft und verschränkt dabei unauflöslich die rationale Überprüfung von Glaubensinhalten mit der Demut und Frömmigkeit des Glaubens ineinander. Aber auch seine Rechtfertigung vor dem Hintergrund der vorweggenommenen Einwände konnte Hermes nicht davor bewahren, dass er vom kirchlichen Lehramt verurteilt wurde. Im Breve „Dum acerbissimas“ wurde er in Rom als Rationalist angeklagt. Unter der Überschrift „Irrtümer des Georg Hermes“184 heißt es wörtlich: „[Manche Theologen] vergiften durch fremde … und verwerfliche Lehren die heiligen Studien und tragen keine Bedenken, auch das öffentliche Lehramt, das sie etwa an Schulen und Akademien innehaben, zu entweihen und selbst die geheiligste Hinterlassenschaft des Glaubens, die zu schützen sie sich brüsten, zu verfälschen.“
Nach seiner namentlichen Nennung im nächsten Satz wird ihm weiterhin vorgeworfen, er habe den Königspfad der Glaubenswahrheiten, die durch die heiligen Väter ausgelegt wurden, nicht nur verlassen, sondern ihn hochmütig verachtet und verworfen. Des Weiteren habe er „den finsteren Weg zu jedweder Art Irrtum“ gebahnt, indem er den „positiven Zweifel“ als die „Grundlage jeder theologischen Forschung“ sah und das Prinzip aufstellte, „daß die Vernunft die Hauptnorm und das einzige Mittel sei, mit dessen Hilfe der Mensch die Erkenntnis der übernatürlichen Wahrheiten erlangen könne“185. Seine Bücher wurden von der römischen Inquisition indiziert, „weil sie Lehren und Sätze enthalten, die – je nachdem – falsch, leichtfertig, trügerisch, zum Skeptizismus und Indifferentismus hinführend, irrig, anstößig, gegenüber den katholischen Schulen ungerecht, den göttlichen Glauben umstürzend, nach Häresie schmeckend und anderwertig von der Kirche verurteilt sind“186.
Daneben spricht sich das erste vatikanische Konzil in der dogmatischen Konstitution „Dei Filius“ klar gegen Hermes’ Forderung aus, einer Glaubensüberzeugung ausschließlich im Falle einer Nötigung durch die Vernunft zuzustimmen: „Wer sagt, die Zustimmung zum christlichen Glauben sei nicht frei, sondern werde durch Beweise der menschlichen Vernunft notwendig hervorgebracht […]: der sei mit dem Ana-
183 Hermes 1819, XXVII. 184 Denzinger, Heinrich/Hünermann, Peter (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchliche Lehrentscheidungen, Freiburg im Breisgau 452017, 2783–2740; im Folgenden abgekürzt mit DH. 185 DH, 2738. 186 DH, 2740.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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thema belegt.“187 Auch sein Gebot zu zweifeln wird eindeutig zurückgewiesen. Ebenfalls mit dem Anathema belegt werden diejenigen, die meinen, „einen triftigen Grund haben [zu] können, den Glauben, den sie unter dem Lehramt der Kirche schon angenommen haben, nach Aufhebung der Zustimmung in Zweifel zu ziehen, bis sie einen wissenschaftlichen Beweis für die Glaubwürdigkeit und Wahrheit ihres Glaubens erbracht haben“188.
Diese Bezugnahme auf Hermes noch 35 Jahre nach dem oben genannten Breve lässt die immense Auswirkung seiner Methode auf die Theologie erahnen. Nicht unerheblichen Einfluss nahmen dabei die Ausführungen des Neuscholastikers Joseph Kleutgen über den Zweifel des Hermes. In seinem Werk „Die Philosophie der Vorzeit“189 erklärt er mit Blick auf Hermes die Verwerflichkeit des wirklichen Zweifels, den er vom methodischen, bloß fiktiven Zweifel abgrenzte.190 Wer qua Taufe und Bekenntnis zur christlichen Gemeinschaft gehört, dem seien niemals ernstliche Zweifel an der Göttlichkeit einer Lehre des Christentums gestattet. Bestimmte Wahrheiten, wie die des höchsten Urhebers aller Dinge und die durch ihn gestiftete sittliche Weltordnung seien „dem Menschen in seiner vernünftigen Natur selber auf solche Weise geoffenbart, dass er sündigt, wenn er daran zweifelt.“191 Wer dennoch zweifelt, tue dies aus eigener, schwerer Schuld beziehungsweise in Folge eines Verstandesverlustes oder aufgrund seiner Verdorbenheit durch Laster der Natur.192 Schließlich habe Gott „in unsere vernünftige Natur alles gelegt, was nothwendig ist, nicht nur um ihn zu erkennen, sondern auch um ihn mit Leichtigkeit zu erkennen.“193 Aus diesem Grund hält Kleutgen wirkliche Zweifel offenbar für umgehbar. Es erwache nämlich mit der Vernunft ebenfalls das Gewissen in uns, das uns ganz intuitiv zwischen Gut und Böse unterscheiden lasse und unsere Zweifel als unsittlich verdamme. Somit stellt er schlussfolgernd die rhetorische Frage: „Aber wenn der Mensch auf solche Weise unter der Herrschaft der Wahrheit steht […]; so wäre ja der Zweifel nicht bloß unerlaubt, sondern auch unmöglich?“194 Die habituale Gewissheit hindere den Menschen daran, ernstlich an gewissen Dingen, wie z. B. der Existenz der Außenwelt, zu zweifeln.195 „Trotz dieser Nöthigung zweifeln wollen, heißt nichts anderes, als unser Verhältnis zur Wahrheit, d.i. unsere Unterordnung unter dieselbe nicht anerkennen wollen.“196 – Das ist es, was er auch Hermes unterstellt. Legitim sei zwar das Nachforschen über die Gründe unserer Erkenntnisse, aber nicht das Fäl187 188 189 190 191 192 193 194 195 196
DH, 3035. DH, 3036. Kleutgen 21878. Vgl. Kleutgen 21878, S. 344. Kleutgen 21878, S. 345. Vgl. Kleutgen 21878, S. 346 f. Kleutgen 21878, S. 348. Kleutgen 21878, S. 350 f. Vgl. Kleutgen 21878, S. 351. Kleutgen 21878, S. 352.
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2 Der Akt des Zweifelns
len eines letztgültigen Urteils über alles Erkennen und Wissen. Ergebnisse von Forschungen im Bereich der Offenbarung müssten durch diese geprüft werden.197 Im Streit um die Legitimität des dubium hermesianum wurden jedoch auch Stimmen laut, die Hermes verteidigten. So versteht Clemens Kopp ihn nicht etwa als zynischen Skeptiker, sondern als „eine tiefgläubige Natur, die mit Liebe und Zähigkeit ihrem Glauben anhing.“198 Trotz zeitweiliger Zweifel sei es sonst sein Glaube gewesen, von dem aus Hermes zu begreifen sei. Seine Argumentation läuft auf die folgende Konklusion hinaus: „Theoretisch hat Hermes den praktischen Zweifel aufgestellt; praktisch hat er aber nur theoretisch gezweifelt.“199 Auch Elvenich ergreift in seiner Vertheidigungsschrift II200 Partei für Hermes, indem sich er gegen eine rationalistische oder gar atheistische Auslegung wendet. Seine Methode habe einen legitimen Fragecharakter, weil sie Gründe und Gegengründe in der Untersuchung gegeneinander abwäge und sorgfältig prüfe mit dem Ziel, eine entschiedene Antwort zu finden. Elvenich geht sogar so weit zu sagen, Hermes könne „keineswegs ein Zweifler heißen, wenigsten nicht in dem Sinne, worin hier das Wort genommen werden müsste.“201 In welchem Sinne der Ausdruck des Zweifels denn genommen werden müsste, erklärt er jedoch nicht. Statt als Zweifler bezeichnet Elvenich Hermes als „kritischen Kopf“202, dessen Vorgehensweise im Prinzip nicht abgewichen sei von orthodoxen und scholastischen Theologen, die in der Regel ihre quaestiones beziehungsweise Untersuchungen nicht selten mit dem Ausdruck dubia einleiteten. Insofern, als dass ihnen kein Skeptizismus oder Atheismus vorgeworfen worden sei, sei auch Hermes nicht mit einem solchen Urteil zu belasten.203 Schließlich habe er auch seine Schüler nicht zu Skeptikern oder Rationalisten gemacht, sondern das Resultat seiner Methode sei eine Befestigung des Glaubens gewesen, der nun gegen Angriffe auf denselben tauglich war.204 Dies sei auch die Absicht des Hermes gewesen, wie es J. I. Ritter schreibt: „Hermes will nur den guten Glauben gegen allen Zweifel und gegen Schiffbruch sicher stellen, oder wo er schon Schiffbruch gelitten hat, noch retten“205. Es liegt nahe, dass diejenigen Aussagen, mit denen Hermes der wirkliche Zweifel abgesprochen werden sollte, auf seine Verteidigung abzielten.206 Hermes selbst wid197 198 199 200 201 202 203 204 205
Vgl. Kleutgen 21878, S. 357. Kopp 1992, S. 17. Ebd. Elvenich, Peter Josef, Vertheidigungsschrift II, Breslau 1839. Elvenich 1839, S. 32. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Elvenich 1839, S. 30. Ritter, J. I., Über drei Aufsätze der katholischen Kirchenzeitung, in: Breslauer Zeitschrift für katholische Theologie 2 (1832), S. 97–101, hier: S. 100 f. 206 Weitere Einschätzungen finden sich z. B. in Werner, Franz, Ein Leben für Wahrheit in Freiheit. Ein Beitrag zur Geistes- und Theologiegeschichte Österreichs im 19. Jahrhundert, Freiburg 1957, in: Myletor/Franz Xaver Werner, Der Hermesianismus vorzugsweise von seiner dogmatischen Seite dargestellt, Regensburg 1845.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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mete dem Begriff des Zweifels keine expliziten Passagen – es lässt sich lediglich aus den Beschreibungen seiner Erfahrung mit Zweifeln herauslesen, dass er ursprünglich tatsächlich im Zweifel über Gott, die Offenbarung und das ewige Leben207 war. Diese Zweifel haben ihn dazu motiviert, zunächst bei seinen Lehrern und in Büchern, später durch eigenes Denken genauer nachzuforschen, was er als wahr erkennen und wissenschaftlich untermauern könnte. Mit dem Vorsatz, nur das als sicher gelten zu lassen, was gegen seine Zweifel standhalten kann und wozu ihn seine Vernunft nötigt, sei er letztlich zu folgendem Ergebnis gekommen, wie er selbst schreibt: „Und so bin ich denn nun zu der Ueberzegung – Dank sey es meinem Gott, den ich gefunden habe! – gelangt, die ich so sehr wünschte und suchte ich bin gewiß geworden, daß ein Gott sey; ich bin gewiß geworden, daß ich ewig seyn und leben werde; ich bin gewiß geworden, daß das Christentum göttliche Offenbarung, und daß der Katholizismus das wahre Christentum sey.“208
Vor dem Hintergrund seiner eigenen Ausführungen ist Hermes also ein tatsächlicher Zweifel zuzuschreiben, der den Ausgang seiner Untersuchungen darstellt. Er war von dem Wunsch, diese tatsächlichen Zweifel zu überwinden, motiviert und es gelang ihm schließlich, sie aufzulösen. Der Ausdruck positiver Zweifel, der einen wissentlich und willentlich gesetzten meint, findet in keinem seiner Werke Verwendung und wurde erst durch das oben genannte Breve mit Hermes in Verbindung gebracht.209 Dennoch ist nicht zu leugnen, dass Hermes positives Zweifeln nach seiner eigenen Erfahrung mit dem Zweifel empfiehlt. Nur auf diese Weise könne die Wahrheit des Christentums mit Sicherheit erkannt und gegen Angriffe verteidigt werden und nur dadurch könne eigenen Zweifeln beziehungsweise denen von Schülern angemessen begegnet werden. Folglich ist der Vorwurf, dass er die christlichen Glaubenswahrheiten verworfen habe, falsch, weil er beabsichtigte, Andere durch seine empfohlenen methodischen Zweifel zur Rechtfertigung des Glaubens vor sich selbst und anderen zu befähigen.
2.2.9 Zweifel bei Kleutgen Joseph Kleutgen wurde bereits im Zusammenhang mit Hermes erwähnt, weil er auf dessen Verurteilung durch das Erste Vatikanische Konzil maßgeblich Einfluss nahm. Im 19. Jahrhundert, in dem sich Theologen auf das Mittelalter zurückbesannen, machte er der deutschen Theologie die scholastische Philosophie zugänglich und galt somit als „entscheidende[r] Bahnbrecher der neuscholastischen Bewegung in
207 Vgl. Hermes 1819, S. IV. 208 Hermes 1819, S. XI. 209 Schwedt, Herman H., Das römische Urteil über Georg Hermes (1775–1831). Ein Beitrag zur Geschichte der Inquisition im 19. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau 1980.
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2 Der Akt des Zweifelns
Deutschland“210 sowie „als der wichtigste Neuscholastiker“211. Kleutgen verstand es als seine Aufgabe, aufzuzeigen, dass die Lossagung von der Theologie vergangener Jahrhunderte zur Verteidigung der katholischen Wahrheit nicht zweckdienlich sei. Indem er eine Bearbeitung der Bedürfnisse seiner Gegenwart nach den Grundsätzen der Vergangenheit anstieß, suchte er die Verbindung mit den Theologen vor seiner Zeit wieder zu etablieren.212 Trotz seiner Vorstellung im Zusammenhang mit Hermes wird Kleutgen an dieser Stelle noch einmal aufgegriffen, weil die Betrachtung seiner Abhandlung über Zweifel über die bloße Auseinandersetzung mit dem hermesischen Zweifel hinausgeht und ertragreich sein wird für die Systematisierung verschiedener Formen des Zweifels. In seinem Werk Die Philosophie der Vorzeit 213 aus dem Jahre 1878 geht Kleutgen in der dritten Abhandlung „Von der Gewissheit“ der Frage nach, „ob und wiefern der philosophischen Erkenntnis der Zweifel vorhergehen könne oder müsse“214. Zu ihrer Beantwortung unterscheidet er zunächst zwischen zwei Formen des Zweifels: der wirklichen und der methodischen. Diese Differenzierung ist bereits bei anderen Autoren anzutreffen, die sich mit den Zweifeln des Hermes auseinandersetzten: Eine Verteidigung derselben ging meistens mit der Einschätzung seiner Zweifel als bloß methodischen einher. Kleutgen greift diese Unterscheidung auf und widmet seinen beiden Hauptstücken dieser Abhandlung die Titel „Vom wirklichen Zweifel“215 und „Von dem methodischen Zweifel.“216 Weiterhin war im Zusammenhang mit Hermes immer wieder vom positiven Zweifel die Rede. Auch diesen bestimmt Kleutgen genauer, was ebenfalls hier aufgegriffen werden soll. Das Hauptstück über den wirklichen Zweifel leitet Kleutgen ein mit den Worten: „Wer zweifelt, ist unentschieden, ob er das, woran er zweifelt, für wahr halten soll oder nicht.“217 Diese Unentschiedenheit könne zweierlei Ursachen haben, die in positivem oder negativem Zweifel ihren Ausdruck finde: Entweder mangele es an Beweggründen zum Fürwahrhalten des fraglichen Gegenstandes (negativer Zweifel), oder aber Gegengründe hielten das zweifelnde Subjekt von der Zustimmung ab (positiver Zweifel). Den positiven Zweifel identifiziert Kleutgen im nächsten Schritt mit dem wirklichen und setzt ihm den methodischen Zweifel gegenüber. Mit dem methodischen Zweifel bezieht er sich auf einen solchen Zweifel, der künstlich und bloß angenommen ist; bei ihm „ist der Geist über die Wahrheit der Sache nicht unent210 Schäfer, Theo, Die erkenntnistheoretische Kontroverse Kleutgen – Günther, Paderborn 1961, S. 78. 211 Walter, Peter, „Deutschland – Österreich. Die neuscholastische Philosophie im deutschsprachigen Raum“, in: Emerich Coreth et al. (Hg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. Und 20. Jahrhunderts 2, Graz-Wien-Köln 1988, S. 131–194, hier: S. 133. 212 Vgl. Deufel, Konrad, Kirche und Tradition, Paderborn 1976, S. 113 f. 213 Kleutgen, Joseph, Die Philosophie der Vorzeit, Innsbruck 21878. 214 Kleutgen 21878, S. 341. 215 Ebd. 216 Kleutgen 21878, S. 358. 217 Kleutgen 21878, S. 341.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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schieden, sondern verfährt nur so, als wäre er unentschieden, um die Wahrheit, für die er entschieden ist, wissenschaftlich zu begründen.“218 Angesichts dieser differenzierten Betrachtung verschiedener Formen des Zweifels ist zu erahnen, dass Kleutgen nicht pauschal gegen jede dieser Typen des Zweifelns argumentiert, wie er es im Zusammenhang mit Hermes tat. Er gesteht Zweiflern wie Hermes zu, dass es in Philosophie und Theologie Fragen gäbe, die ohne eine wissenschaftliche Beweisführung nicht entschieden werden könnten. Dennoch sei es falsch, anzunehmen, „daß es dem Menschen erlaubt oder gar geboten sei, an aller und jeder Wahrheit, die er nicht philosophisch erkannt hat, zu zweifeln.“219 Welche Zweifel sind nach Kleutgen legitim und wie begründet er seine Bewertung? Zunächst behandelt er den wirklichen Zweifel, wofür er das Beispiel von Hermes heranzieht. Mit der Begründung, Hermes habe vorerst die Irrgänge des Zweifels tatsächlich durchwandelt, bevor er durch philosophische Untersuchung zur Gewissheit gelangt ist, stuft Kleutgen den Zweifel des Hermes als wirklichen ein. Ein solcher dürfe nicht auf alle Gegenstände ausgedehnt werden: „Der wirkliche Zweifel an aller Wahrheit ist als unsittlich zu verwerfen.“220 Zwar müsse dem Glauben an die christliche Offenbarung eine „Einsicht in die Beweggründe zu glauben vorhergehen“221; dennoch könne es auch für Christen, die sich wissenschaftlich mit der Theologie auseinandersetzen, weder zur Pflicht gemacht werden, noch als zulässig gelten, alles in wirklichen Zweifel zu ziehen, wie Hermes es fordert. Für seine Position führt Kleutgen hauptsächlich zwei Gründe an: Erstens sei es niemandem, der durch die Taufe und das Glaubensbekenntnis Mitglied der Kirche sei, jemals gestattet, ernstlich an der Wahrheit des Christentums zu zweifeln. Neben der christlichen Glaubenspflicht führt er zweitens an, dass nicht erst durch die christliche, sondern auch durch die natürliche Offenbarung innerhalb der Schöpfung für den vernünftigen Menschen ersichtlich sei, dass es einen „höchsten Urheber aller Dinge und durch ihn eine sittliche Weltordnung gebe“222. Wer dennoch daran zweifelt, der sündige. Anstatt diese Annahme mit vernünftigen Argumenten zu begründen, beruft sich Kleutgen auf Autoritäten. Zunächst zieht er die Heilige Schrift heran, aus der wir bereits wüssten, dass Gott Schöpfer und Herr sei. Auch ohne die Offenbarung durch Jesus und die Propheten seien Gottes Gesetze durch seine Werke sowie das Innere des Menschen selbst erkennbar. Über diejenigen, die auch auf diesem Wege Gott nicht wahrnehmen können, sagt Kleutgen unter Bezug auf Psalm 14,1, sie seien „Thoren, Unglückselige“ und „daß sie des Zornes und aller Strafen Gottes würdig“223 seien. Nur „aus eigner und schwerer Schuld“ könne ein Mensch „Gott nicht mit 218 219 220 221 222 223
Kleutgen 21878, S. 342. Ebd. Kleutgen 21878, S. 344. Ebd. Kleutgen 21878, S. 345. Kleutgen 21878, S. 345 f.
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2 Der Akt des Zweifelns
Gewißheit“224 erkennen. Kleutgen will mit diesen Zeilen über die Torheit der Zweifler nicht aussagen, dass jeder, der durch die Irrgänge des Zweifels gehe, schließlich doch zur Erkenntnis Gottes gelange. „Denn einer solchen Untersuchung sind nur wenige fähig“225. Die Bibelstellen, so Kleutgen, beziehen sich auf die Heiden, die Gott letztlich nicht erkennen. Über sie schreibt Kleutgen mit Verweis auf das Buch der Weisheit, sie seien eitel und es könne ihnen nicht verziehen werden; denn leichter „ist es, Gott den Herrn der Welt, als die Natur nur in soweit zu erkennen, um ihre Kräfte und Schönheit zu bewundern.“226 Vor diesem Hintergrund bleiben für Kleutgen keine Zweifel, dass es also eine so leicht fassliche Erkenntnis Gottes geben müsse, sodass „Unwissenheit und Zweifel nur in strafbarem Leichtsinn oder stolzer Verhärtung ihren Grund haben können.“227 Neben der Bibel zieht Kleutgen auch die Väterliteratur heran, deren Verfasser sich darin einig gewesen seien, dass die Erkenntnis Gottes allen Menschen eingepflanzt und damit gewiss sei. Deshalb bedürfte sie keiner Belehrung. Wer keine Kenntnis des Schöpfers in sich vorfinde, habe entweder den Verstand verloren oder sei durch Laster der Natur zu verdorben. So habe Gott nach Thomas von Aquin „in unsere vernünftige Natur alles gelegt, was nothwendig ist, nicht nur um ihn zu erkennen, sondern auch um ihn mit Leichtigkeit zu erkennen.“228 Mit der Berufung auf Autoritäten versucht Kleutgen also seine These zu unterstützen, dass Zweifel unsittlich seien, weil sie auf einen mangelnden Verstand beziehungsweise die eigene Verdorbenheit zurückzuführen seien. Kleutgen greift sogleich eine ihm widerstreitende Position auf: Gemäß Hermes walte Gewissheit jedoch nur so lange, bis die Reflexion einsetze und das Bedürfnis wachse, die eigene Erkenntnis durch Forschung zu begründen. Den Anspruch, Gewissheiten rechtfertigen zu wollen, billigt Kleutgen jedoch nicht. Anstatt seine Ablehnung mit rationalen Argumenten geltend zu machen, greift er zu rhetorischen Mitteln und fragt, was aus dem Menschen werden würde, wenn „mit dem erwachten Bewußtsein dieses Mangels einer philosophischen Erkenntniß auch die Ueberzeugung von der Wahrheit jener Erkenntnisse wankte“.229 Immerhin sei es Hermes selbst erst nach zwanzig Jahren gelungen, sich aus dem Labyrinth der Zweifel zu befreien; andere dagegen fänden möglicherweise niemals einen Ausweg. Das Gewissen, das mit der Vernunft in uns erwache, ließe uns nicht nur den Unterschied zwischen Gut und Böse erkennen, sondern nötige uns auch dazu, die Außenwelt für wirklich und die Existenz eines höchsten Urhebers für wahr zu halten. Jeder Versuch zu zweifeln, käme uns dank des sittlichen Bewusstseins als eine Täuschung vor und müsse demnach als unsittlich verdammt werden: „Nämlich der Geist des Menschen steht 224 225 226 227 228 229
Kleutgen 21878, S. 346. Ebd. Ebd. Ebd. Kleutgen 21878, S. 348. Kleutgen 21878, S. 349.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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unter der Wahrheit; sie beherrscht ihn, und macht ihn gewiß auch gegen seinen Willen.“230 Aufgrund dieser Gewissheit sei auch kein absoluter Zweifel an allen Wahrheitsansprüchen möglich. Dem Problem, dass die Unmöglichkeit des Zweifels mit der Freiheit des Glaubens konfligiert, geht Kleutgen jedoch aus dem Weg, weil er erstens ausschließlich den absoluten Zweifel – damit bezieht er sich offenbar auf einen universalen Zweifel – für unmöglich hält und zweitens zwischen Gewissheit und Evidenz unterscheidet: Während Evidenz vom Gegenstand aussagbar ist und den Verstand zu einer Zustimmung nötigt, bezieht sich Gewissheit auf das erkennende Subjekt, dass sich auch ohne gegenwärtige Evidenz einer Sache gewiss sein kann. Die Freiheit des Glaubens werde also gewahrt, weil es trotz der Gewissheit dem Menschen möglich ist, in Situationen des Zweifelns zu geraten.231 Um zu erklären, wie punktuelle Unentschiedenheit trotz der das Subjekt bestimmenden Wahrheit möglich ist, unterscheidet Kleutgen zwischen „dem habitualen und actualen Zweifel“232. Ersterer bezeichnet eine dauerhafte Unentschiedenheit trotz der Wahrheitserkenntnis, die „vor unsre Seele tritt“233. Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, wieso Kleutgen folgert, dass ein solcher Zweifel gar nicht möglich sei. Habituales Zweifeln würde nämlich voraussetzen, dass der Mensch nicht dazu in der Lage wäre, einen solchen Erkenntnisprozess überhaupt zu vollziehen, worin einzig der Grund für einen habitualen Zweifel liegen könne. Actualer Zweifel dagegen könne mit habitualer Gewissheit koexistieren, weil habituale Gewissheit nicht immer eine actuale einschließe: Führe man sich nicht gerade eine Gewissheit vor Augen, ist sie gegenwärtig nicht actual. In actuale Zweifel gerate demnach, wer „alle seine Aufmerksamkeit der Forschung zuwendet“234 oder sich durch „Grübelei“235 in wirkliche Zweifel hineinarbeitet. Diese könnten jedoch nie von Dauer sein, weil sich die Gewissheit ständig aufdränge, sodass Zweifel „als unerlaubte Thorheit erscheinen.“236 Für den Fall, dass Kleutgen von der Unsittlichkeit des Zweifels nicht mit seinem Appell an Gewissen und Gewissheit der Einzelnen überzeugen konnte, versucht er, mit dem „Urtheil der ganzen Menschheit“237 zu überzeugen. Weil die Menschheit das Bewusstsein in sich trage, im Besitze der Wahrheiten zu sein, die allen Erkenntnissen zugrunde liegen, habe sie ein Urteil, das sie in Frage stellte, niemals akzeptiert. 230 Kleutgen 21878, S. 350. 231 Vgl. Petri, Heinrich, Glaube und Gotteserkenntnis. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Freiburg im Breisgau 1985, S. 165 f. 232 Kleutgen 21878, S. 351. 233 Ebd. Dieser Vorstellung von Erkenntnis, die „vor unsere Seele tritt“, liegt offenbar das thomistische Erkenntnismodell zugrunde, demzufolge sich der Intellekt des erkennenden Subjekts dem Erkannten angleicht. Vgl. hierzu Ver. 1,1. 234 Kleutgen 21878, S. 353. 235 Ebd. 236 Ebd. 237 Ebd.
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2 Der Akt des Zweifelns
Diese nicht zu belegenden Ausführungen nehmen schließlich in Kleutgens Frage ihren Höhepunkt: „Giebt es ein Volk, dem Gottlosigkeit nicht als Verbrechen gälte? Ebendadurch aber, daß man eine Schuld darin findet, diese Wahrheiten zu läugnen, erklärt man auch, daß dieselben keinem, der guten Willens ist, verborgen sein können.“238 Die mangelnde Nachvollziehbarkeit Kleutgens abwertenden Urteils über den wirklichen Zweifel lässt vermuten, dass sich keine vernünftigen Gründe anführen lassen, um seine Position zu rechtfertigen. Seine Begründungsversuche bleiben in einem Zirkelschluss gefangen: Die Wahrheit ist dem Menschen eine Gewissheit und kann nicht ernstlich in Zweifel gezogen werden, weil der Mensch von eben dieser Wahrheit bestimmt werde – das zu Beweisende wird als gegeben vorausgesetzt. Zusätzlich werden diejenigen, die an dieser Wahrheit zweifeln, als unsittliche Toren aus dem inner circle derjenigen, die an der Wahrheit partizipieren, ausgeschlossen. Zur Thematisierung des methodischen Zweifels greift Kleutgen zu Beginn die Sorge von Theologen239 auf, dass methodischer Zweifel die Gefahr in sich berge, sich zu einem wirklichen zu entwickeln. Mit dem Verweis auf die Skepsis in England, die Empirie in Frankreich und den kritischen Idealismus in Deutschland gesteht er ihr einige Berechtigung zu.240 Den Vorsatz, mit Zweifel zu beginnen und zur Erkenntnis fortzuschreiten, erklärt er für nicht realisierbar, denn „aus nichts aber wird nichts, es sei denn durch Schöpfung“241. Die Annahme, der methodische Zweifel impliziere diesen Anspruch, weist er jedoch als falsch zurück: Zwar wird Descartes vorgeworfen, genau dies beabsichtigt zu haben. Dabei handele es sich jedoch um ein Missverständnis, denn er ging nicht vom Nichts des absoluten Zweifels aus. Vielmehr solle man „versuchen, an allem zu zweifeln, d.i. den Zweifel so weit als möglich auszudehnen. Aber er sagt nicht, daß man an allem zweifeln könne.“242 Das Fundament, auf dem Descartes bauen will, ist das cogito, das vom Zweifel ausgeschlossen ist – nicht das Zweifelhafte selbst. Auf dieser Linie argumentierend will Kleutgen den methodischen im Gegensatz zu wirklichem Zweifel verteidigen – allerdings nur, insofern mit diesem beabsichtigt wird, etwas zu ergründen und beweisen, das bereits als bekannt vorausgesetzt wird. Dabei geht es um eine Rechtfertigung im Bereich der philosophischen Disziplin, die er jedoch über den Aufweis der Legitimität des methodischen Zweifels innerhalb der 238 Kleutgen 21878, S. 354. 239 Auf welche Theologen er sich im Detail bezieht, führt Kleutgen an dieser Stelle nicht aus. Zu Beginn des zweiten Hauptstücks „Von dem methodischen Zweifel“ ist ganz unspezifisch die Rede von „manchen[n] Mitglieder[n] der Universität von Paris“ und „andern Gelehrten“ (Ebd., S. 358). An späterer Stelle des Kapitels wird Bentura häufiger als Kritiker des methodischen beziehungsweise cartesischen Zweifels genannt (vgl. Kleutgen 21878, S 361f ). 240 Vgl. Kleutgen 21878, S. 359. 241 Kleutgen 21878, S. 363. 242 Kleutgen 21878, S 373.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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Theologie begründet: Aufgabe der Theologie sei es, die durch die Offenbarung empfangene Wahrheit zu erörtern und weitere Erkenntnisse aus derselben abzuleiten. Wer dabei die Methode des Zweifels anwendet, verfährt so, als wäre er unentschieden, um Wahrheitsansprüche zu erklären und damit zu zeigen, dass die angezweifelten Wahrheitsansprüche eigentlich keines Beweises bedürfen. Für die katholische Theologie spezifisch sei dabei, dass der Glaube an die christliche Offenbarung anerkannt werde. Das sei notwendig, weil es unmöglich sei, ausschließlich durch Vernunftbeweise die Wahrheit als etwas Unbekanntes zu finden.243 Auch die von der Theologie unabhängige Philosophie habe nicht allein mit dem Zweifel beginnen und darauf ein Erkenntnisgerüst aufbauen können. Die grundlegenden Überzeugungen der Völker – sozusagen der common sense – seien ihren Untersuchungen immer vorausgegangen und wären zum Gegenstand philosophischer Forschung geworden; sie hätten nicht erst gerechtfertigt werden müssen, um handlungsleitend zu sein, sondern seien bereits unabhängig von aller Philosophie vom Menschen erkannt worden.244 Ebenso gelte auch für die Theologie die Norm, den Glauben an die Offenbarung vorauszusetzen. Diese sei ohnehin nach Kleutgens Verständnis als Wohltat zu begreifen, weil dem Menschen dadurch Spekulationen, die irrtumsanfällig und schwer zugänglich sind, erspart blieben. Trotz der Akzeptanz dieser Wahrheit beweise man „in der Theologie nicht bloß die einzelnen Glaubenslehren aus den Quellen der Offenbarung, sondern man beweis[e] auch diese Quellen selber.“245 Dies sei zwar nicht notwendig, um glauben zu können, jedoch bei einer wissenschaftlichen Rechtfertigung unabdingbar. Die Anwendung des methodischen Zweifels sei dabei nach Kleutgen legitim, wenn sie das Ziel verfolge, die Offenbarung sowie die aus ihr abzuleitenden Erkenntnisse zu durchdringen. Der Geltungsstatus der Offenbarung dürfe dagegen nicht vom zweifelnden Forschen abhängig gemacht werden.
2.2.10 Zweifel bei Kierkegaard Einer der großen Vertreter des existentiellen Zweifels ist Søren Kierkegaard. Seine biographisch erlebten Zweifel, die ihn von Beginn seines Theologiestudiums an plagten und von nachhaltiger Wirkung bleiben sollten, können als Triebfeder dieser Auseinandersetzungen begriffen werden.246 Insbesondere untersuchte der evangelische Theologe und Philosoph den Zweifel in vielen seiner Werke im Kontext des Phänomens der Verzweiflung. Dabei lässt sich jedoch keine einheitliche Deutung des Problems des Zweifels herauslesen, sondern es ist eine Entwicklung zu verzeichnen, die 243 244 245 246
Vgl. Kleutgen 21878, S. 359 f. Vgl. Kleutgen 21878, S. 366 f. Kleutgen 21878, S. 369. Vgl. Kaufmann 2002, S. 12.
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2 Der Akt des Zweifelns
bereits von anderen Autoren untersucht wurde.247 Hier sollen nun Erkenntnisse aus Kierkegaards teilweise wandelndem Verständnis von Wesen, Deutung, Grund und Auswirkung des Zweifels gewonnen werden. Den Akt des Zweifelns begreift Kierkegaard in Übereinstimmung mit den bisherigen Begriffsbestimmungen als ein „Zweideuten, Zwei-meinen (dis-putare)“248, was aufgrund der Relativität alternativer Wahrheitsansprüche zustande kommt249. Er unterscheidet zwischen methodischem und sogenanntem echtem Zweifel, wie es dem Zitat aus Spinozas „De intellectus emendatione“, das er seiner Schrift Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est voranstellt, zu entnehmen ist: „Ich spreche von dem echten Zweifel im Gemüte und nicht von jenem, den wir so häufig sich ereignen sehn, da nämlich, wo einer, obwohl sein Sinn nicht zweifelt, mit Worten versichert, daß er zweifle: denn dergleichen läßt sich nicht durch eine Methode berichtigen, sondern gehört eher in die Erforschung und Berichtigung des Eigensinns.“250
Eine instrumentalisierte Form des Zweifels lässt Kierkegaard in Stadien auf des Lebens Weg251 die Figur Wilhelm durchlaufen, der im Gegensatz zum echten Zweifel einen Wahrheitsanspruch als gewiss voraussetzt, der letztlich durch das Bestehen der zweifelnden Prüfungen gefestigt wird. Kierkegaard macht also ebenfalls tatsächliche Unentschiedenheit zum Kriterium des Zweifels.252 In Kierkegaards Erstlingsschriften finden sich die „Briefe eines jungen faustischen Zweiflers“253, in denen der Akt des Zweifels als eine Suche bezeichnet wird: Angesichts der Relativität möglicher Alternativen, die gleichwertig nebeneinander stehen, strebt Kierkegaards Faust danach, sich kritisch vom Vorfindlichen abzukehren und die absolute Wahrheit zu finden. Der faustische Zweifel ist durch die Negation gekennzeichnet, die vom Kierkegaardschen Faust instrumentalisiert wird, um sich von seinen Zeitgenossen abzugrenzen, die sich auf relative Ergebnisse festlegen.254 Er fürchtet immerzu, dass das, was die Höchstbegabten seiner Zeit für wahr halten, eben doch „lediglich das [sei], was eben diese Männer zu begreifen und zu erfassen vermögen.“255 Darin kommt sein Verlangen nach der Erkenntnis einer objektiv gültigen Wahrheit zum Ausdruck – m. a. W. sein Verlangen „nach einer Anschauung, 247 Als Beispiel ist die Dissertation von Kristin Kaufmann (vgl. vorige Fußnote) zu nennen, auf die ich mich im Folgenden beziehen werde. 248 PB, S. 83. 249 Vgl. Kaufmann 2002, S. 16: In Kierkegaards Erstlingsschriften ist Fausts Zweifel Ausdruck von möglichen Alternativen, die gleichwertig nebeneinanderstehen und von ihm ausgehalten werden. 250 PB, S. 109. 251 SW. 252 Vgl. Kaufmann 2002, S. 91. 253 Kierkegaard, Søren, „Bruchstücke eines ersten literarischen Entwurfs (Briefe eines jungen faustischen Zweiflers 1837)“, in: ders., Erstlingsschriften, übersetzt und herausgegeben von Emmanuel Hirsch, Regensburg 1960. Im Folgenden abgekürzt mit Erstlingsschriften. 254 Vgl. Erstlingsschriften, S. 134. 255 Ebd.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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welche alle Relativität aufhebt und ihm den absoluten Wert sogar des Allerbedeutendsten zeigt“256. Seine Zweifel resultieren schließlich in einer skepsisähnlichen Erkenntnis- und Entscheidungsunfähigkeit, die in die Verzweiflung führt.257 Im Gegensatz zu Hegel begreift Kierkegaard die autonomen Erkenntnisversuche des zweifelnden Menschen als einen Fehler und bezeichnet dieses Streben als „fromme[n] Versuch, Gott gleichen zu wollen.“258 Dieses Verlangen komme einer Krankheit gleich, die nur dadurch überwunden werden könne, dass der Mensch sich seine Nichtigkeit im Vergleich zu Gott eingestehe.259 Grund des Zweifels sei eben dieses Autonomiestreben des Menschen, das zu einem Paradoxon führe: Der Mensch strebt danach, etwas zu entdecken, das er „selbst nicht denken kann“260. Dies sei sein Untergang. Gegenstand dieser „paradoxen Leidenschaft“261 sei „das Unbekannte“262, das Kierkegaard „den Gott“263 nennt. Zu beweisen, dass das Unbekannte, also Gott, da wäre, sei unmöglich. Denn: „Wofern nämlich der Gott nicht da ist so ist es ja eine Unmöglichkeit es beweisen zu wollen, aber ist er da, so ist es ja eine Torheit es beweisen zu wollen; denn eben in dem Augenblick, wo der Beweis beginnt, habe ich es vorausgesetzt, nicht als zweifelhaft […], sondern als ausgemacht, dieweil ich sonst nicht beginnen würde, leicht einsehend, daß das Ganze eine Unmöglichkeit werden würde, wenn Er nicht da wäre.“264
Aufgrund seiner paradoxen Leidenschaft konfrontiere sich der Mensch also ständig mit dem Unbekannten, das einerseits da ist, andererseits aber eben unbekannt bleibt und damit nicht da ist. Obwohl er nicht weiterkommt, könne es der Verstand nicht lassen, sich dennoch damit auseinanderzusetzen; dass dieses Unbekannte nicht da sei, könne er deshalb nicht akzeptieren, weil eben diese Aussage bereits ein Verhältnis zu ihm einschließe.265 Insofern Gott als das schlechthin Verschiedene bestimmt wird, erscheine es zunächst als möglich, ihn zumindest durch die Abgrenzung zu begreifen. Jedoch sei gerade dies nicht möglich, „denn die schlechthinnige Verschiedenheit kann der Verstand nicht einmal denken; denn schlechthin kann er sich selbst nicht verneinen, sondern er benützt sich selber dabei und denkt mithin die Verschiedenheit an sich selbst, die er mit sich selbst denkt“266.
256 257 258 259 260 261 262 263 264 265 266
Ebd. Vgl. Erstlingsschriften, S. 133 f. UN II, S. 201. Vgl. ebd. PB, S. 41. PB, S. 43. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. PB, S. 47. PB, S. 48.
70
2 Der Akt des Zweifelns
Das schlechthinnige Hinausgehen über sich selbst ist dem Menschen nicht möglich, weil er sich dabei immer schon selbst mitdenkt. Hierin besteht das Paradox, durch das der Mensch sich eigentlich dazu aufgefordert fühlen sollte, sein autonomes Erkenntnisstreben aufzugeben. Mit der Frage nach Gott wird die menschliche Erkenntnisfähigkeit somit an ihre Grenzen geführt. Durch dieses Paradoxon werde der Verstand Gott so nahe wie möglich gebracht, wobei er doch in der Ferne bleibe.267 Der Versuch, über diese Grenze hinauszugehen, stelle einen Selbstbetrug dar, der fruchtlos sei, weil der Mensch es eben nicht leisten könne, das von ihm schlechthin Verschiedene zu erfassen. Nach der ideellen Möglichkeit des Zweifels fragt Kierkegaard in seinen Philosophischen Brocken und beginnt seine Untersuchung mit der Betrachtung des Kindes, dessen Bewusstsein noch frei von Zweifeln sei. Es sei durch Unmittelbarkeit und Unbestimmtheit charakterisiert. Sobald eine Beziehung hergestellt wird, hebt sich diese Unmittelbarkeit auf. Deswegen sei alles wahr, was unmittelbar ist; „aber diese Wahrheit ist im nächsten Augenblick Unwahrheit; denn unmittelbar ist alles unwahr.“268 Solange das Bewusstsein in der Unmittelbarkeit bleibt, sei also jede Frage nach Wahrheit aufgehoben. Vor diesem Hintergrund fragt Kierkegaard, wie die Frage nach der Wahrheit überhaupt in Erscheinung trete. Er sieht die Ursache in der Unwahrheit: „denn in dem Augenblick, da ich nach der Wahrheit frage, habe ich schon nach der Unwahrheit gefragt.“269 Wer nach der Wahrheit fragt, setzt sein Bewusstsein zu etwas anderem in ein Verhältnis. Weil die Unmittelbarkeit jedoch Wahrheit impliziere, stelle das Ins-Verhältnis-Setzen die Unwahrheit dar. Es liegt im Wesen des Bewusstseins, das immer Bewusstsein von etwas ist, dass es niemals in einer Unmittelbarkeit bestehen kann. Die Unmittelbarkeit identifiziert Kierkegaard deshalb mit der Realität selbst. Dahingegen komme die Mittelbarkeit im Wort zum Ausdruck. „Die Unmittelbarkeit ist die Realität, die Sprache ist die Idealität, das Bewußtsein ist der Widerspruch. In dem Augenblick, da ich die Realität aussage, ist der Widerspruch da; denn was ich sage, ist die Idealität.“270 Demzufolge liegt die Möglichkeit des Zweifels im widersprüchlichen Wesen des Bewusstseins, dessen Widersprüchlichkeit einerseits durch eine Zwiefältigkeit erzeugt werde und andererseits selbst eine solche erzeuge. Diese Zwiefältigkeit wiederum bestehe in den beiden Polen Realität und Idealität, deren Verhältnis das Bewusstsein sei. Während in der Realität alleine kein Potential zum Zweifel vorhanden sei, entstehe der Widerspruch, sobald sie in Worten ausgedrückt werde, weil dabei eigentlich nicht die Realität selbst, „sondern etwas ganz anderes“271, nämlich etwas allgemein beziehungsweise ideell Aussagbares, erzeugt werde. Durch die Aussage, bei der das Gesagte eigentlich die Realität ausdrücken 267 268 269 270 271
Vgl. PB, S. 49. PB, S. 151 f. PB, S. 152. Ebd. PB, S. 153.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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soll, würden Idealität und Realität zueinander in ein Verhältnis gesetzt. „Solange dieser Austausch ohne gegenseitige Berührung vor sich geht, ist das Bewußtsein nur nach seiner Möglichkeit da. In der Idealität ist alles ebenso gefüllt wie in der Realität alles wahr ist.“272 Unmittelbar sei demnach alles wahr und wirklich, wohingegen die Möglichkeit erst durch das Verhältnis von Idealität und Realität in Erscheinung trete. Das, was bisher als Bewusstsein beschrieben wurde, wird in den Philosophischen Brocken in einem nächsten Schritt mit der Reflexion identifiziert. Sie sei „die Möglichkeit des Verhältnisses“273 und sei zweiteilig (dichotomisch) bestimmt, wie es gerade am Beispiel von Idealität und Realität gezeigt wurde, die sich in der Reflexion berührten, sodass ein Verhältnis möglich werde. Beim Bewusstsein hingegen liege eine dreiteilige (trichotomische) Bestimmung vor, was sich auch im Sprachgebrauch zeige: „Denn wenn ich sage: ich werde mir dieses Sinneseindrucks bewußt, so sage ich eine Dreiheit.“274 Das Bewusstsein wird demnach hier mit dem Geist identifiziert, der die Reflexion voraussetze. Kierkegaard merkt an, dass der Ausdruck „Zweifel“ in etymologischer Hinsicht mit „zwei“ in Verbindung gebracht werde. Dabei handele es sich jedoch lediglich um die Voraussetzung, dass zwei Dinge zueinander in Beziehung gesetzt würden, während der Akt des Zweifelns aber nur durch das Dritte möglich wird, dass diese beiden Dinge zueinander in ein Verhältnis setze. Da die Reflexion lediglich die Möglichkeit des Verhältnisses darstellt, bezeichnet Kierkegaard sie als uninteressant im Sinne von uninteressiert, was sich in Abgrenzung vom Bewusstsein verstehen lässt: Das Bewusstsein ist das Verhältnis zweier Gegenstände, also „eine Doppelheit, welche vollständig und mit prägnantem Doppelsinn ausgedrückt ist in dem Worte Interesse (interesse).“275 Somit sei das uninteressierte Wissen als solches die Voraussetzung des Zweifels, des Dazwischenseins. Eine Aufhebung des Interesses bedeutete demnach keine Überwindung, sondern vielmehr eine Neutralisierung des Zweifels durch den Rückgang zum Wissen. Aus diesem Grund sehe Kierkegaard beziehungsweise die fiktive Figur Johannes Climacus auch die Überwindung durch objektives Denken für unmöglich, weil der Zweifel eine höhere Form als alles objektive Denken selbst sei, „denn er setzt das voraus, hat aber ein Mehr, ein Drittes, welches das Interesse oder das Bewußtsein ist.“276 Die griechische Skepsis habe demnach richtig eingesehen, dass der Zweifel mit dem Interesse zusammenhänge, welches deshalb ausgelöscht werden solle. Denn: „Selbst wenn das System schlechthin vollendet wäre, selbst wenn die Wirklichkeit die Verheißung überböte, der Zweifel wäre dennoch nicht überwunden, er fängt erst an; denn der Zweifel liegt im Interesse, und jedes systematische Erkennen ist uninteressiert. Man ersieht daraus, 272 273 274 275 276
Ebd. Ebd. PB, S. 153, f. PB, S. 154. Ebd.
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2 Der Akt des Zweifelns daß der Zweifel der Anfang ist zur höchsten Form des Daseins, denn er vermag alles andre zu seiner Voraussetzung zu haben.“277
Ein weiteres Erklärungsmodell für die Ursache des Zweifels besteht für Kierkegaard in der Synthesestruktur des Menschen, die er in „Der Begriff Angst“ beschreibt. Dort charakterisiert er den Menschen als „eine Synthesis des Seelischen und des Leiblichen. Aber eine Synthesis ist nicht denkbar, wenn die Zwei nicht in einem Dritten vereinigt werden. Dieses Dritte ist der Geist.“278 Weil diese metaphysischen Überlegungen für die ansonsten hier untersuchten epistemischen Erklärungen nicht weiterführend sind, findet die menschliche Synthesestruktur als Grund des Zweifels hier nur der Vollständigkeit halber kurz Erwähnung. Als seelisch-leibliche Synthese weise der Mensch ein autonomes, selbstbezogenes Moment auf, das ihn dazu befähige, sich zu sich selbst oder zur setzenden Instanz zu verhalten. Indem sich der Mensch auf seine eigenen Möglichkeiten einlässt, wende er den Blick von der setzenden Instanz ab. Jedes Autonomiestreben vollziehe er also in Kenntnis dieser Alternative, was eine Angst angesichts der menschlichen Möglichkeiten zu scheitern, aufkommen lasse.279 Daraus resultierten Zweifel an der Richtigkeit seiner Setzung, die schließlich auch zur Verzweiflung führten. Somit ist jede Selbstsetzung innerhalb dieser widersprüchlichen Synthese stets von Zweifeln aufgrund alternativer Möglichkeiten und dem Fehlen eines eindeutigen Maßstabes begleitet. Deshalb versteht Kierkegaard die menschliche Freiheit auch als Fluch: Sie könne nie aus sich heraus zu einem eindeutigen Ergebnis kommen. Sie habe immer die anderen Möglichkeiten im Blick und sei deshalb nie zu einer eindeutigen Entscheidung fähig, so lange sich der Mensch selbst zum Maßstab macht.280 Andererseits werden Zweifel von Kierkegaard auch als Warnung begriffen, die auf die Alternative hinweist und damit „auch das erste Moment im Glauben ist.“281 Aus diesen Ausführungen lässt sich bereits schließen, dass dem Zweifel bei Kierkegaard sowohl ein destruktives als auch konstruktives Moment zukommt. In Entweder/Oder wird er beispielsweise als „giftig“ bezeichnet, weil er den Glauben beziehungsweise eine Sinnfindung verunmögliche, indem er alles verzehre.282 Im Gegensatz zu Hegel betrachtet Kierkegaard hier den Zweifel also als rein destruktiv: Er führe gerade nicht zur positiven Gewissheit, sondern zersetze dagegen alles, bis er schließlich das zweifelnde Subjekt selbst angreife. Das Resultat sei nicht Erkenntnis, sondern die Einsicht in die Erkenntnisunfähigkeit, womit eine existentielle Form der 277 278 279 280 281
PB, S. 155. BA, S. 41. Vgl. BA, S. 161 ff. Vgl. Kaufmann 2002, S. 127. Kierkegaard, Søren, Die Krankheit zum Tode, übersetzt und herausgegeben von Lieselotte Richter, Hamburg 31966; ursprünglich: 1849, S. 117 (Anm.). Im Folgenden: KzT. 282 Vgl. Kierkegaard, Søren, Entweder-Oder, herausgegeben von Hermann Diem et al., Köln 1960; ursprünglich: 1843, S. 48.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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Verzweiflung283 erreicht sei.284 Insofern verwundert auch nicht die folgende Verhältnisbestimmung von Glauben und Zweifeln: „Der Glaube ist das Gegenteil des Zweifels. Glaube und Zweifel sind nicht zwei Arten der Erkenntnis, die sich im Zusammenhang miteinander bestimmen lassen, denn sie sind beide keine Erkenntnisakte, sie sind einander entgegengesetzte Leidenschaften.“285 Auf der anderen Seite sei es nach dem Verständnis Kierkegaards der Zweifel, der den Menschen erst zum Glauben befähigt. Zweifel und Verzweiflung seien notwendig, damit der Mensch einsieht, dass er sich in Unwahrheit befinde und auf diesem Wege scheitern müsse. Allein durch die Erfahrung der Beschränkung des eigenen Verstandes könne der Mensch zur Wahrheit finden.286 Wie Kaufmann zusammenfasst, betrachtet Kierkegaard Zweifel und Verzweiflung für unabdingbar für die „Menschwerdung: erst wenn der Mensch Zweifel und Verzweiflung durchlaufen hat, steht er am Anfang des wirklichen Menschseins, das nun ausdrücklich als nur im Glauben zu Erreichendes, festgelegt ist.“287 So seien Zweifel und Verzweiflung notwendig zur Einsicht in die Unwahrheit des Menschen. Das Scheitern der autonomen Wahrheitssuche ermögliche erst die Wendung zur tatsächlichen Wahrheit, die im vertrauenden Glauben liege.288 So verstanden ist die aus dem Zweifel resultierende Verzweiflung eine Mahnung, den Weg der autonomen Erkenntnis aufzugeben, nachdem er zur Einsicht in die Ohnmacht des Menschen im Hinblick auf eine eigenständige Wahrheitserkenntnis geführt hat.289 Ein Beispiel für solch einen Weg führt Kierkegaard in „Johannes Climacus“ an, bei dem die zweifelnde Wahrheitssuche zur Einsicht in die eigene Erkenntnisunfähigkeit führt. Der Mensch wird im Akt des Zweifelns damit konfrontiert, dass er nie eine eindeutige Wahrheit einsehen könne. Insofern resultiere jeder konsequent durchgezogene Zweifel in einer existentiellen Verzweiflung an sich selbst, weil er nicht aus sich heraus überwunden werden könne.290 Auch der faustische, suchende Zweifel lässt den Menschen an seine Verstandesgrenze stoßen, woraus sich nach Kierkegaard zwei Möglichkeiten ergeben: Entweder verbleibt das faustisch zweifelnde Subjekt in der Ungewissheit, oder es überwindet sie im 283 In „Krankheit zum Tode“ beschreibt Kierkegaard drei Formen der Verzweiflung, in denen der Akt des Zweifels resultieren könne: „Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann somit ein Dreifaches sein: verzweifelt sich nicht bewußt sein ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen.“ (KzT, S. 8.) Weil der Gegenstand dieser Arbeit jedoch nicht die Verzweiflung, sondern der Zweifel selbst ist, würde eine eingehendere Analyse dieser Verzweiflungsformen zu weit führen. 284 Vgl. Kaufmann 2002, S. 46 und 48. 285 PB, S. 83. 286 Vgl. Kaufmann 2002, S. 71. 287 Ebd. 288 Vgl. ebd. 289 Vgl. Kaufmann 2002, S. 32 und 67. 290 Vgl. Kaufmann 2002, S. 48 f.
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2 Der Akt des Zweifelns
Glauben. Eine Fortsetzung des Zweifels dagegen sei begleitet von der Sinnlosigkeit dieses Unterfangens und drücke somit einen Zustand der Verzweiflung aus.291 Diese Erfahrung des Zweifels begreift Kierkegaard jedoch als Voraussetzung des Glaubens und als ersten Schritt der Menschwerdung, die nämlich nur im Glauben zu erreichen sei. Erst das Durchlaufen von Zweifeln und Verzweiflung mache dem Menschen also bewusst, dass er sich mit seinem Autonomiestreben in Unwahrheit befinde. Ohne an der eigenständigen Suche nach der Wahrheit zu scheitern, könne der Mensch nicht zur tatsächlichen Wahrheit gelangen, die darin bestehe, sich selbst vor Gott aufzugeben.292 Es ist also das Streben nach autonomer Wahrheitserkenntnis, das den Menschen im zweifelnden Zustand lasse. Dieses Autonomiestreben sei jedoch mit einer Abkehr von Gott gleichzusetzen und ohnehin ein sinnloses Unterfangen, weil der Mensch damit ständig auf der Suche nach einem Telos sei, das „fort und fort vor ihm flieht.“293 Jede mögliche Erscheinung werde vernichtet, da das Wesen wiederum dahinter liegen müsse. Es müsse also eingesehen werden, dass der Mensch den göttlichen Standpunkt nicht einnehmen könne und stattdessen lernen solle, den menschlichen anzustreben, indem er sein Autonomiestreben aufgebe.294 Der einzige Zugang zur Wahrheit sei nämlich der Glaube.295 Eine solche Überwindung des Zweifels durch die Annahme des Glaubens hält Kierkegaard selbst für schwierig. Denn eine dogmatische Position scheint zumindest für den faustischen Zweifler nicht annehmbar zu sein. Wie Kristin Kaufmann in ihrer Dissertation analysiert, sucht der faustische Zweifler eine Gewissheit, die er selbst versteht und die er aus sich heraus gefunden hat. Deshalb könne ein Zugang zur Wahrheit, der im Aufgeben der selbstständigen Wahrheitssuche besteht, keine Lösung für den faustischen Zweifler sein.296 Jedoch stelle ein solches menschliches Autonomiestreben einen Irrweg dar, das im Streben nach dem göttlichen Standpunkt bestehe.297 Aus dem Zweifeln selbst heraus zur Wahrheit zu gelangen, wie es Hegel dem sich vollbringenden Skeptizismus zuschreibt, hält Kierkegaard für unmöglich. Nur unter der „Kreuzigung des Verstandes“298, mit der das autonome Streben nach Erkenntnis aufgegeben wird, seien Zweifel und Verzweiflung aufzuheben. Dafür sei jedoch der Wille des Menschen unabdingbar: „Der Zweifel kann nie in sich selbst zum Stehen gebracht werden. […] [D]er Wille muß hinzutreten“299, ebenso wie zum Zweifeln selbst der Wille nötig sei. 291 Vgl. Kaufmann 2002, S. 71. 292 Vgl. ebd. 293 Kierkegaard, Søren, Über den Begriff der Ironie, übersetzt und herausgegeben von Emmanuel Hirsch, Frankfurt am Main 1976; ursprünglich: 1841, S. 253. 294 Vgl. PB, S. 45. 295 Vgl. Kaufmann 2002, S. 106. 296 Vgl. Kaufmann 2002, S. 105. 297 Vgl. Kaufmann 2002, S. 106. 298 Ebd. 299 PB, S. 159.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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Aufgrund des Scheiterns des objektiven Denkens sowie der Unmöglichkeit, durch das Denken selbst zur Erkenntnis Gottes zu kommen, wird dem Subjekt aufgetragen, sich für eine Wahrheit zu entscheiden: „Auf diese Weise wird Gott freilich ein Postulat, aber nicht in der unfruchtbaren Bedeutung, worin man dieses Wort sonst nimmt. Vielmehr wird deutlich, daß die einzige Art, wie ein Existierender in ein Verhältnis zu Gott kommt, die ist, daß der dialektische Widerspruch die Leidenschaft zu Verzweiflung bringt und mithilft, mit der ‚Kategorie der Verzweiflung‘ (Glauben) Gott zu erfassen; so daß das Postulat weit davon entfernt ist, das Willkürliche zu sein, sondern gerade Notwehr ist; so daß Gott nicht ein Postulat ist, sondern das, daß der Existierende Gott postuliert – eine Notwendigkeit ist.“300
Eine solche Überwindung des Zweifels ist jedoch unbeständig: Eine wie in „Furcht und Zittern“ als „Liebe zu Gott“ bezeichnete „innere Gewißheit“, die vom Menschen selbst erzeugt ist, sei permanent aufrecht zu erhalten und anfällig für Zweifel.301 Ein Beispiel für das Scheitern einer solchen Überwindung des Zweifels findet sich nach Kaufmann bei der Figur Quidam aus Stadien auf des Lebens Weg, die einen Zweifler darstellt. Sie scheitere an dem Punkt, an dem sie die entscheidende Bewegung zum Glauben hin vollziehen soll. Quidam sei nicht dazu in der Lage, sich vertrauensvoll an Gott zu wenden. Zwar habe er das tiefe Bedürfnis danach, mit Gott in ein Verhältnis zu treten und religiös zu werden, könne es jedoch nicht aufgrund seines ebenso stark ausgeprägten Bedürfnisses nach autonomem Verstehen: „Worauf es ankommt, ist der Moment der Aneignung. Als ein in der religiösen Katastrophe Disponierter will ich nach dem Paradigma greifen, aber siehe, ich kann das Paradigma überhaupt nicht verstehen, obwohl ich es verehre mit einer aus der Kindheit stammenden Pietät, die es nicht fahren lassen will.“302
Kaufmann bringt es auf den Punkt, wenn sie die Diagnose stellt, dass der Zweifler keinen Zugang zur Wahrheit akzeptieren könne, der im Aufgeben des selbstständigen Erkenntnisstrebens besteht. Solange Glaube als Postulat begriffen wird, kann er keine Erlösungsmöglichkeit vom Zweifel darstellen. Bei Kierkegaard lässt sich jedoch ebenfalls ein alternativer Glaubensbegriff finden. In seinen Stadien auf des Lebens Weg werde nach Kaufmann nämlich ein solcher vertreten, der kein vorgegebenes Telos beinhaltet, sondern in einer andauernden Anstrengung bestehe, die dadurch gekennzeichnet sei, dass der Glaubende trotz seiner Ungewissheit zuversichtlich sei. Demnach sei Glaube nicht als erreichbarer Punkt zu verstehen, der als Abschluss einer Suche begriffen werden solle, sondern „eine zeitlebens bestehende unabschließbare Religiosität in Form einer Lebenshaltung. Glaube ist keine Gewißheit, in dem die menschlichen Bemühungen zur Ruhe kommen, 300 Kierkegaard, Søren, Abschliessende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, erster Teil, übersetzt und herausgegeben von Hans Martin Junghans, Düsseldorf 1957; ursprünglich: 1846, S. 191. 301 Vgl. Kaufmann 2002, S. 81. 302 SW, S. 272.
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sondern eine permanente Anstrengung in Ungewißheit.“303 Ein so verstandener Glaube verdrängt den Zweifel nicht, sondern integriert ihn vielmehr. Auch in seiner Unwissenschaftlichen Nachschrift lässt sich ein ähnlicher Glaubensbegriff finden. Angesichts unüberbrückbarer Widersprüche befinde sich die Wahrheit des Menschen in einem ständigen „Im-Werden-Sein“, weshalb es keine objektive Wahrheit gäbe, in der er zur Ruhe kommen könne. Dennoch werde der Mensch erst in der Vernichtung des autonomen Wahrheitsstrebens für die Wahrheit disponiert, nämlich für den christlichen Glauben.304 In seinem Werk Die Krankheit zum Tode spitzt Kierkegaard seine These weiter zu, dass der Mensch im christlichen Glauben die einzige Wahrheit finden könne. Zweifel und Verzweiflung resultierten aus dem Autonomiestreben des Menschen, das er hier mit der Abkehr von Gott und damit der Sünde gleichsetzt. Die in diesem Werk analysierte Verzweiflung komme dadurch zustande, dass der Mensch trotz seines Wissens um die Unmöglichkeit autonomer Erkenntnis dennoch versucht, selbstständig die Wahrheit einzusehen. Durch das Durchlaufen verschiedener Stufen der Bewusstwerdung des Problems erreiche das verzweifelte Individuum schließlich doch einen Punkt, an dem ein qualitativer Neuanfang nach Aufgabe selbstständigen Denkens möglich sei.305 Vor dem Hintergrund der hier dargestellten Untersuchungen Kierkegaards zum Zweifel lässt sich die Verhältnisbestimmung von Glauben und Zweifeln bei Kierkegaard mit seinen folgenden Worten aus den Philosophischen Brocken zusammenfassen: „Des Glaubens Schluß ist nicht Schluß sondern Entschluß, und daher ist der Zweifel ausgeschlossen. […] [I]m gleichen Augenblick ist das Gleichgewicht und die Gleichgiltigkeit des Zweifels behoben nicht vermöge Erkenntnis, sondern vermöge Willens.“306
Der Zweifel, der nach Kierkegaard einen Widerspruch zum Glauben darstellt, ist insofern vom Glaubenden willentlich zu überwinden.
2.2.11 Zweifel bei Tillich Paul Tillich hat das Phänomen des Zweifelns und ebenfalls explizit sein Verhältnis zum Glauben in verschiedenen seiner Werke untersucht, wie z. B. in Der Mut zum Sein, Wesen und Wandel des Glaubens, Systematische Theologie oder dem Aufsatz „The God above God“ aus seinem Sammelband Ausgewählte Texte. Zweifel gehen für ihn zunächst mit der Bedrohung geistigen Lebens einher, wie aus Der Mut zum Sein zu entnehmen ist: 303 304 305 306
Kaufmann 2002, S. 92. Vgl. Kaufmann 2002, S. 135. Vgl. Kaufmann 2002, S. 135 f. PB, S. 83.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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„Diese Drohung ist potentiell mit der Endlichkeit des Menschen gegeben […]. Sie kann als Zweifel beschrieben werden – Zweifel sowohl in seiner schöpferischen wie in seiner zerstörerischen Funktion. Der Mensch kann fragen, weil er von dem getrennt ist, nach dem er fragt, und zugleich an ihm partizipiert. In jeder Frage ist ein Element des Zweifels enthalten, nämlich das Bewußtsein eines Nichthabens. Im systematischen Fragen drückt sich ein systematischer Zweifel aus (z. B. der Zweifel des cartesianischen Typs). Diese Art des Zweifels ist eine Voraussetzung alles geistigen Lebens. Dieses ist nicht durch den Zweifel, der ein Element in ihm ist, bedroht, sondern durch den radikalen Zweifel. Wenn das Bewusstsein des Nichthabens das Bewusstsein des Habens völlig verschlingt, hört der Zweifel auf, methodisches Fragen zu sein und wird existentielle Verzweiflung.“307
Aus diesen Zeilen geht erstens hervor, dass der Zweifel zwar nicht unbedingt eine Unausweichlichkeit menschlichen Daseins darstellt, aber potentiell jeden Menschen bedroht, indem dieser endlich ist. Diese Annahme wird vor allem dann deutlicher zu verstehen, wenn man den Kontext betrachtet, in dem der Zweifel thematisiert wird: Tillich identifiziert zuvor „drei Typen der Angst“308, die im Folgenden kurz eingeführt werden. Ihre Einteilung fußt auf der Annahme der Spannung zwischen Sein und Nichtsein, was die Negation allen Seins bedeute.309 Das Seiende kann nur sein, indem es sich als solches bejahe, und zwar auf drei Weisen der Bejahung: erstens die ontische Selbstbejahung, die bedroht wird durch das Nichtsein in Form von Schicksal und Tod, zweitens die geistige Selbstbejahung, bedroht vom Nichtsein durch Leere und Sinnlosigkeit, sowie drittens die moralische Selbstbejahung, die durch Schuld und Verdammung vom Nichtsein bedroht werden. Relativ zu diesen Formen des Nichtseins, die die Selbstbejahung und damit das Sein bedrohen, können drei Typen der Angst entstehen, nämlich die Angst vor Schicksal und Tod, die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit sowie die Angst vor Schuld und Verdammung.310 Die Bedrohung geistigen Seins und der entsprechenden Selbstbejahung beschreibt Tillich also im oben zitierten Abschnitt als Zweifel, weil dieser angesichts der Angst von Leere und Sinnlosigkeit aufkommen könne. Wie aber ist die Aussage zu verstehen, dass der Mensch vom Zweifel aufgrund seiner eigenen Endlichkeit bedroht werde? Wie Tillich im zweiten Band seines Werkes Systematische Theologie aus dem Jahr 1958 schreibt, berge Endlichkeit zwingend Zweifel in sich, weil die absolute, unendliche Wahrheit das Ganze umschließe. Weil der Mensch als endliches Wesen jedoch nicht die Unendlichkeit umfassen und damit auch nicht die ganze Wahrheit begreifen könne, ist er von Momenten des Zweifelns bedroht. Der Zweifel gehöre folglich zum Wesen des Menschen und sei Ausdruck der allgemeinen Unsicherheit menschlichen Seins.311 307 308 309 310 311
Tillich 1969, S. 43 f. Tillich 1969, S. 38. Vgl. Tillich 1969, S. 33, ff. Vgl. Tillich 1969, S. 38, ff. Vgl. Tillich, Paul, Systematische Theologie, Bd. 2, Stuttgart 31958, S. 82 f. Tillich führt an, dass die Unsicherheit, die sich im Zweifel ausdrücke, an vielen Stellen des Lebens sichtbar werde, so z. B. bei der Wahl menschlicher Beziehungen und im Wagnis jeder Entscheidung. Sie komme darüber hinaus auch am Zweifel an sich selbst zum Vorschein. „Alle diese For-
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2 Der Akt des Zweifelns
Zweitens ist dem Zitat zu entnehmen, dass Tillich den Zweifel trotz seiner Charakterisierung als Bedrohung des geistigen Seins nicht ausschließlich als zerstörerisch betrachtet. Er gesteht ihm vielmehr zu, dass er auch schöpferisch sein könne und sogar die Voraussetzung allen geistigen Seins, weil in jeder Frage, die eben Ausdruck geistiger Tätigkeit ist, ein Element des Zweifels enthalten sei. Dieses sei zu verstehen als Spannung zwischen einem Haben und einem Nichthaben: Ohne ein Haben, d. h. den Besitz von Wissen, kann es keinen Ausgangspunkt für eine Frage geben und ohne das Nichthaben, d. h. den Mangel an demselben, wäre sie überflüssig.312 Jedoch kann man eine Frage nur formulieren, wenn man sich dieses Mangels bewusst ist. Der Mensch kann nur nach etwas, z. B. nach Gott, fragen, wenn er sich von dem, wonach er fragt, als getrennt erfährt. Gleichzeitig partizipiert er schon daran, indem er danach sucht. Tillich bezeichnet das Bewusstsein des Nichthabens als Element des Zweifels, weil auch dieser angesichts des Besitzes anfanghafter und gleichzeitiger Abwesenheit vollständiger Erkenntnis aufkommt. So kann der Zweifel als Element jeder Frage verstanden werden. Da der Mensch also ausschließlich als bereits am geistigen Sein Teilhabender Fragen stellen und zweifeln könne, ist seine Teilhabe Voraussetzung für sein Zweifeln. Sein Zweifeln ist wiederum geistiges Sein, weil er nach diesem fragt und damit an ihm partizipiert. Vom schöpferischen, das geistige Sein konstituierenden Zweifel grenzt Tillich den radikalen Zweifel mit seiner zerstörerischen Funktion ab, der das Subjekt in die Verzweiflung313 führe. Dagegen ankämpfend versuche das zweifelnde Subjekt sein geistiges Sein z. B. durch das Festhalten an Überzeugungen, Traditionen oder Gefühlen zu behaupten. Ist der Zweifel unüberwindbar, so nehme es das Wagnis des möglichen Irrweges und die darin liegende Angst auf sich, um die Verzweiflung zu vermeiden.314 Dabei verweile es im Zweifel, weil es weiterhin nach der Wahrheit fragen will. Habe es jedoch keinen Ausweg gefunden, versuche es mit seiner Situation fertig zu werden, indem es die Freiheit zu fragen und Antworten zu suchen aufgebe, und sich stattdessen die Lösung seiner Probleme durch Autorität aufzwingen ließe. Aus Angst vor Leere und Sinnverlust gebe das verzweifelnde Subjekt „das Recht zu fragen und zu zweifeln auf. [Es gebe] sich selbst auf, um sein geistiges Leben zu retten.“315 Bei
312 313
314 315
men von Unsicherheit und Ungewißheit gehören zur essentiellen Endlichkeit des Menschen und zum Wesen des Geschaffenen, sofern es geschaffen ist“ (S. 83). Vgl. Tillich 31958, S. 82. Zum Begriff „Verzweiflung“ vgl. das Kapitel „Der Sinn der Verzweiflung und ihre Symbole“, in: Tillich 31958, S. 84–87, in dem Tillich die Verzweiflung als „Zustand unausweichlichen Konflikts [beschreibt]. Sie ist der Konflikt zwischen dem, was der Mensch potentiell ist und darum sein sollte, und dem, was der Mensch aktuell ist. Die Qual der Verzweiflung ist das Gefühl, daß man für den Verlust des Sinnes der eigenen Existenz selbst verantwortlich ist und doch unfähig, ihn wiederzugewinnen. Man ist gebunden an sich selbst und muß den Konflikt mit sich selbst tragen. Man kann nicht entrinnen, weil man dem Selbst nicht entrinnen kann“ (S. 84). Vgl. Tillich 1969, S. 44. Ebd.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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dieser Rettung des Sinns habe es jedoch sein Selbst geopfert, was zu einer fanatischen Selbstbehauptung führe. An auferlegten Inhalten partizipierend vermöge es schließlich, zeitweise von seiner Verzweiflung befreit zu sein. Eine solche Verabsolutierung vermeintlicher endlicher Sicherheiten sei jedoch vom Zusammenbruch bedroht, weil es „in der Endlichkeit weder Sicherheit noch Gewißheit“316 gebe. Der destruktive Charakter des Zweifels drücke sich vor allem in der fanatischen Selbstbehauptung aus, die eine selbstverteidigende Reaktion auf den drohenden Zerfall der aufgebauten falschen Sicherheit sei.317 Dabei behalte die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit ihre Macht über das Subjekt, indem sie es dazu veranlasst, die sich aus ihm ergebenden Fragen und zweifelhaften Elemente nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei anderen zu unterdrücken. So fühlt sich das Subjekt ständig dazu genötigt, Andersdenkende zu verfolgen, womit schließlich nicht nur die Angst, die es zu der Verfolgung antreibt, über das Subjekt herrscht, sondern auch diejenigen, die es bekämpft, Macht über es haben.318 So muss es dazu kommen, dass das zweifelnde Subjekt unfähig wird, der Wirklichkeit zu begegnen, weil es in selbst erbaute Gewissheiten fliehen will, statt mit der Wahrheit konfrontiert zu werden, die immer die Gefahr in sich birgt, es in die Verzweiflung zu stürzen. Tillich führt an, dass Ideen und Werte nicht nur durch persönliche Zweifel in Frage gestellt werden könnten, sondern dass auch der Fall eintreten könne, dass sie angesichts veränderter Bedingungen der gegenwärtigen Zeit nicht mehr verstanden würden oder ihren Sinn verloren hätten. Gerade für einige Symbole und Dogmen des Christentums nimmt er an, dass sie „ihre ursprüngliche Macht verloren haben, die menschliche Situation auszudrücken und existentielle menschliche Fragen zu beantworten.“319 Solche geistigen Abnutzungsprozesse würden zunächst nicht bemerkt werden, bis sie einem schlagartig bewusst werden könnten und sowohl zur individuellen, als auch zur allgemeinen Angst vor der Sinnlosigkeit und Leere führen könnten. Die Sinnlosigkeit, die durch fehlende Antworten auf letztgültige Fragen entsteht, kann also sowohl durch innere Prozesse als auch durch äußere Erfahrungen hervorgerufen werden. Generell ist den hier analysierten Stellen aus Tillichs Mut zum Sein also zu entnehmen, dass der Zweifel, der zum Wesen des Menschen gehöre und deshalb potentiell jeden bedrohe, sowohl konstruktiv als auch destruktiv sein und in individuellen sowie in allgemeinen Formen auftreten könne. Auch wenn Tillich es nicht ausdrücklich formuliert, folgt aus seinen bisherigen Ausführungen dennoch, dass Zweifel als unausweichlich zu verstehen ist: Er wird als zum Wesen des Menschen gehörend verstanden. Die Endlichkeit des Menschen schließt den Zweifel ein. 316 Tillich 31958, S. 83. 317 Vgl. ebd.: „Der drohende Zusammenbruch führt zu Verteidigungsmaßnahmen, die teils brutal, teils fanatisch, teils unsauber sind, auf jeden Fall aber ungenügend und zerstörerisch […]. Krieg und Verfolgung sind teilweise von hier aus zu verstehen.“ 318 Vgl. Tillich 1969, S. 45. 319 Tillich 1969, S. 45.
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Einen tieferen Einblick in seinen Begriff des Zweifels bekommt man, wenn man in seinem Werk Biblische Religion und die Frage nach dem Sein das Kapitel „IV.4 Glaube, Zweifel und die ontologische Frage“ liest, in dem er das Verhältnis von Glaube und Zweifel analysiert. Hier hält er zunächst fest, dass der Glaube die ontologische Frage enthalte, deren kräftigste Ausdrucksform der Zweifel sei. Das ist nicht so zu verstehen, als beschäftigten sich alle Glaubenden mit ontologischer Forschung; es soll vielmehr heißen, dass der Glaube implizit die Frage nach der letzten Wirklichkeit stellt. Befasst sich der Glaubende mit dem absoluten Gott, so schließt das bereits die Frage nach dem Grund des Seins mit ein.320 Wird die ontologische Frage ausdrücklich gestellt, so führe sie nach Tillich zum Zweifel, weshalb die Ontologie zunächst einem Fremdkörper im Glauben zu gleichen scheine. Jedoch widersprächen sich Glaube und Zweifel wesensmäßig nicht; Glaube sei vielmehr „die beständige Spannung zwischen sich selbst und dem Zweifel an sich selbst.“321 Diese beiden Pole der Erfahrung von etwas Unbedingtem sowie des Mutes, trotz der Unsicherheit und der Angst vor der Leere das Wagnis des Glaubens auf sich zu nehmen, machten den Glauben aus. Sie unterschieden ihn von „logischer Evidenz, wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit, traditionsgebundener Selbstgewißheit und fragloser Unterwerfung unter die Autorität.“322 Im Gegensatz zur neurotischen Form des Glaubens, die sich ein Gerüst zweifelsfreier Sicherheit aufzubauen versucht, eliminiere der starke Glaube nach Tillich nicht den Zweifel, sondern er nehme ihn sowie die Angst vor ihm auf sich. „Solch ein Glaube braucht das freie Suchen nach letzter Wirklichkeit nicht zu fürchten“323, weil er sich immer schon auf die letzte Wirklichkeit richtet und mit ihr in Beziehung bleibt, wenn er nach ihr fragt und an ihr zweifelt. Ähnlich, wie bereits im Mut zum Sein deutlich wurde, dass Tillich den Zweifel als Voraussetzung allen geistigen Lebens versteht, ist seinem Werk Biblische Religion und die Frage nach dem Sein also zu entnehmen, dass der Zweifel auch speziell für den Glauben konstitutiv sei, weil dieser in Abgrenzung zur Evidenz, Wissenschaftlichkeit oder Unterwürfigkeit von der dynamischen Spannung zwischen Glaube und Zweifel bestimmt sei.324 Für ihn macht den Akt des Glaubens nicht etwa das Fürwahrhalten des Unglaubhaften325 oder das Festhalten an bestimmten Glaubenssätzen aus, was seinem Werk Wesen und Wandel des Glaubens zu entnehmen ist.326 Er versteht unter Glauben vielmehr das Ergriffensein des endlichen Wesens vom Unendlichen. Glaube ist sowohl von Gewissheit geprägt, wenn das Individuum eine Erfahrung des Heiligen mache, als auch von Ungewissheit: Das endliche Bewusstsein, das das Unendliche aufnimmt, ist begrenzt und deshalb in Bezug darauf fehlbar. Es 320 321 322 323 324 325 326
Vgl. Tillich, Paul, Biblische Religion und die Frage nach dem Sein, Stuttgart 1956, S. 53 f. Tillich 1956, S. 55. Ebd. Ebd. Tillich 1956, S. 55. Vgl. Tillich 1969, S. 127. Vgl. Tillich 1961, S. 28.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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kann die Ganzheit des Unendlichen somit nicht erfassen. Das glaubende Individuum spricht sein „Ja“ aus, trotz der Angst vor dem möglichen „Nein.“327 Aufgrund dieser Dynamik zwischen Gewissheit und Ungewissheit ist der Mut, mit dem die Ungewissheit ausgehalten wird, für Tillich ein tragender Bestandteil des Glaubens.328 Im dritten Band seiner Systematischen Theologie aus dem Jahr 1966 schreibt er, Glaube sei „ein Sprung, ein Akt des Mutes, ein Wagnis, das Glaube und Zweifel einschließt“.329 Das Wagnis des Glaubens dürfe jedoch nicht verwechselt werden mit dem Risiko, unerwiesene Annahmen über historische Tatsachen als wahr anzunehmen.330 Das Aufbringen des Mutes zum Glauben ist deshalb ein Wagnis, weil aufgrund der Ungewissheit immer die Möglichkeit zum Scheitern bestehen bleibe: Nimmt man mutig etwas Bestimmtes als letztes unbedingtes Anliegen an, obwohl man von Ungewissheit begleitet ist, so kann man in die Verzweiflung stürzen, sollte sich dasjenige, worauf man alles gesetzt hat, als vorläufig und vergänglich erweisen. Stellt sich der Glaube an etwas als grundlos heraus, so zerbreche der Lebenssinn eines Menschen. Das endliche Wesen, das von der Unendlichkeit ergriffen sei, müsse jedoch im Akt des Glaubens dieses Risiko eingehen und Ungewissheit und Zweifel mutig in seine Beziehung zum Absoluten einschließen.331 Tillich versteht also unter dem Begriff des Glaubens kein Fürwahrhalten von Glaubenssätzen, die von Zweifeln begleitet werden, sondern den Akt des Endlichen. Mit diesem Akt bezieht sich das glaubende Individuum über seine Grenzen hinaus – und damit in die Ungewissheit und in mögliche Zweifel hinein – auf das Unendliche. Für dieses Glaubensverständnis, bei dem der Zweifel konstitutiv ist, ist Tillichs Einteilung des Zweifels in drei verschiedene Formen wichtig: den methodischen, skeptischen und existentiellen. Der methodische Zweifel stelle Tatsachen, Schlussfolgerungen und Theorien in Frage. Er sei eine beständige Vorgehensweise, die die Wissenschaft vorantreiben könne.332 Tillich bezeichnet ihn auch als essentiellen Zweifel, der die Grundlage jeden Wissens und sogar der Wissenschaft sei: „Essential doubt is the condition of all knowledge. The methodological doubt of Descartes was the entering door for the modern scientific consciousness.“333 Für den Glauben sei diese Form des Zweifels dagegen nicht konstitutiv. Der skeptische Zweifel wird von Tillich beschrieben als „eine Haltung, die der Mensch gegenüber allen Erfahrungen einnehmen kann, von den Sinneserfahrungen bis hin zu den religiösen Glaubensbekenntnissen“334. Mit dieser Haltung zweifle ein 327 Vgl. Tillich, Paul, Biblical Religion and the Search for Ultimate Reality (1955), in: Christian Danz et al. (Hg.), Paul Tillich. Ausgewählte Texte, Berlin 2008, S. 335. 328 Vgl. Tillich 1961, S. 25 f. 329 Tillich, Paul, Systematische Theologie, Band 3, Stuttgart 1966, S. 172. 330 Vgl. Tillich 31958, S. 127. 331 Vgl. Tillich 1961, S. 27 f. 332 Vgl. Tillich 1961, S. 28 f. 333 Tillich 2008, S. 374. 334 Tillich 1961, S. 29.
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Subjekt nicht an bestimmten Wahrheitsansprüchen, sondern es lehne jede konkrete Wahrheit ab. Ähnlich wie bereits in den vorangehenden Kapiteln dieser Arbeit aufgezeigt wurde, dass die These des Wissensskeptizismus unhaltbar ist335, stellt Tillich fest, dass die skeptische Position selbstwidersprüchlich sein müsse und dass es sich deshalb bei der Skepsis eher um eine Haltung als um eine Aussage handele. Sie halte gar keine Meinung für gewiss, weshalb sie notwendig zur Verzweiflung oder zum Zynismus und schließlich zur Gleichgültigkeit führen müsse. Diese Indifferenz sei jedoch nicht die Endstation, weil die Dynamik skeptischen Zweifelns den Menschen aus dieser Situation herausreiße. Seine Verzweiflung an der Wahrheit beweise, dass sie „noch immer seine unendliche Leidenschaft“336 sei. Wäre dem Skeptiker die unbedingte Wahrheit gleichgültig, hätte er kein Interesse daran, ihr mit seinem Zynismus überlegen zu sein. So zieht Tillich den Schluss, dass kein Skeptiker ohne Glauben sein könne, wenn dieser auch ohne einen konkreten Inhalt sei, aber zumindest am Begriff der Wahrheit festhalte. Dennoch gehöre auch diese Form des Zweifels nicht implizit zum Akt des Glaubens. Es ist der existentielle Zweifel, der von Tillich als Bestandteil des Glaubens verstanden wird. Im Gegensatz zu den soeben beschriebenen Formen stelle er nicht bestimmte Sätze oder Theorien in Frage und wende sich auch nicht gegen jeden konkreten Wahrheitsanspruch. Wer existentiell zweifelt, „weiß um das Element der Ungewißheit in jeder existentiellen Wahrheit und nimmt diese Ungewißheit in einem Akt des Mutes auf sich. Glaube schließt Mut ein und darum auch den Zweifel an sich selbst.“337 Es handelt sich hierbei also weder um eine Position, die jeglicher Gewissheit skeptisch gegenübersteht, noch um eine theoretische Infragestellung unbewiesener Aussagen, die sich eventuell in der Zukunft als wahr oder falsch herausstellen könnten.338 Solch eine Position ist keine absonderliche angesichts ständig neu aufkommender wissenschaftlicher Erkenntnisse. Existentieller Zweifel bezieht sich vielmehr auf den Sinn des Lebens und das Sein als solches. Er drückt sich in dem Bewusstsein aus, dass sich in jedem existentiellen Wahrheitsanspruch, der sich auf das unendliche Absolute bezieht, aufgrund der Endlichkeit menschlichen Daseins ein Element der Ungewissheit birgt. Deshalb muss er überhaupt den Mut aufbringen, trotz des Zweifels zu glauben. Der Zweifel gehört zum Glauben. Deshalb plädiert Tillich dafür, dass „die Theologie […] die Notwendigkeit des Zweifels aufzeigen [müsse], die aus der Endlichkeit des Menschen unter den Bedingungen seiner existentiellen Entfremdung [folge].“339 Weil der Mensch als endliches Wesen niemals die Vollkommenheit Gottes erfassen könne, bleibe immer eine letzte Ungewissheit in jeder Antwort auf die Frage nach einem Letztgültigen und Unbedingten. Deshalb, so folgert Tillich, sei der Glaube 335 336 337 338 339
Vgl. Kapitel 2.2.1. Tillich 1961, S. 30. Tillich 1961, S. 30. Vgl. Tillich 2008, S. 299. Tillich 1966, S. 275.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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immer ein Wagnis, und mit dem Wagnis beinhalte er das Element des Zweifels. Weder die Unterwerfung unter Lehrmeinungen, noch mystische Erfahrungen des Ergriffenseins vom Göttlichen wie in der Braut-Mystik könnten den Zweifel beseitigen. Es bestünde keine Möglichkeit, die unendliche Trennung zu überwinden, solange die Struktur von Subjekt und Objekt existiere. „In den Schwankungen des Gefühls offenbart sich dieser Abstand und wirft oft den, der auf dem Wege der Heiligung fortgeschritten ist, in tieferen Zweifel als Menschen mit weniger intensiver religiöser Erfahrung.“340 Für Tillich scheint der Zweifel also unausweichlich und auf keinem Wege überwindbar zu sein, weil er ein festes Element des Glaubens sei. Dennoch bedeutet das nicht, dass sich jeder Glaubende im ständigen Kampf zwischen Gewissheit und Ungewissheit befindet. Es sind lediglich gewisse individuelle oder soziale Umstände, die den Zweifel, der konstitutiv zum Glauben gehört, zum Vorschein bringen. Aufkommenden Zweifel soll man also nicht als Widerspruch zum Glauben verurteilen, sondern als immanenten Bestandteil jedes Glaubensaktes auffassen. Nach Tillich sei er sogar eine Bestätigung des Glaubens, weil er die Ernsthaftigkeit, mit der der Wahrheit begegnet wird, bezeuge.341 Glaube und damit das Ergriffensein des Menschen vom Unbedingten drücken sich also nicht nur im Glauben aus, sondern gerade auch im Zweifel. In der bisherigen Darlegung sollte deutlich geworden sein, dass nach Tillichs Verständnis der Glaube keine Annahme bestimmter Lehrmeinungen bedeutet, sondern den Zustand des Ergriffenseins vom letztgültigen Absoluten. Angesichts der oben beschriebenen dreifachen Drohung des Nichtseins durch Schicksal und Tod, Leere und Sinnlosigkeit sowie Schuld und Verdammung kommt beim Menschen einerseits Angst auf, weshalb es Mut erfordert, sich trotz der drohenden Negation anzunehmen und die Welt als sinnvoll zu deuten. Andererseits ist es sein begrenztes endliches Wesen, das seinen Mut angesichts der Ungewissheit bezüglich des Letztgültigen herausfordert. Deshalb stellt der Zweifel ein unausweichliches Problem für den Menschen dar. Neben der Angst vor Schicksal und Tod herrsche in Tillichs Zeitalter vor allem auch die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit und damit auch der Zweifel am Sinn der Existenz des Menschen. Angesichts dessen muss die Frage gestellt werden, ob es einen Glauben gibt, der es vermag, waltenden Zweifel und Sinnlosigkeit, die ein Mensch in seinem Leben erfährt, zu umschließen und somit trotzdem zu bestehen: „Wenn das Leben so sinnlos wie der Tod ist und die Vollkommenheit so fragwürdig wie die Schuld, wenn das Sein nicht sinnvoller als das Nichtsein ist, worauf kann sich dann der Mut zum Sein gründen?“342 Die Antwort kann nicht lauten, dass man in dogmatische Gewissheit fliehen soll. Sie kann das Problem radikalen Zweifelns nämlich nicht lösen, weil sie den bereits Bekehrten zwar Mut verleihen kann, aber 340 Ebd. 341 Tillich 1961, S. 31 f. 342 Tillich 1969, S. 129.
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2 Der Akt des Zweifelns
den Fragenden nicht erklären kann, wie das Aufbringen eines solchen Mutes möglich sein soll. In der Situation des Überwältigtseins von radikalem Zweifel und Sinnlosigkeit ist der Verweis auf den alliebenden Gott und seine letzte Gültigkeit für das zweifelnde Subjekt bedeutungslos, weil der Begriff „Gott“ in dieser Situation seine Bedeutung verloren hat.343 Es sucht nach einem Fundament, das innerhalb dieser Mauern gültig ist. Tillich meint, die Antwort auf die Frage sei, dass der Mut, Zweifel und Sinnlosigkeit auf sich zu nehmen, selbst Glaube sei, und zwar „Glaube an seiner äußersten Grenze“344. Dabei sei der Sinn der Existenz zwar auf den Zweifel am Lebenssinn reduziert; weil selbst dieser Zweifel ein Akt des Lebens ist, sei er trotz seines negativen Inhalts dennoch positiv. Selbst radikale Verneinung des Lebenssinnes ist nicht möglich, ohne sich selbst als lebendigen Akt zu bejahen. Zudem drückt sich im Zweifel das Ergriffensein vom letztgültigen Sinn aus und die Ernsthaftigkeit des Anliegens, der Wahrheit nahe zu kommen. Somit wird durch den Zweifel der Glaube bezeugt, der den Mut ermöglicht, Sinnlosigkeit auf sich zu nehmen. Dieser Glaube „hat keinen besonderen Inhalt. Er ist einfach Glaube – ohne auf etwas Bestimmtes gerichtet zu sein, absoluter Glaube.“345 Jegliche Zuschreibung von Inhalten sei zwecklos, weil sie dem Zweifel zum Opfer fiele. Dennoch handele es sich dabei nicht um eine Stimmung beziehungsweise um Gefühle ohne objektives Fundament – Tillich macht Elemente aus, die er zum Wesen objektiven Glaubens zählt. Erstens beinhalte er die Erfahrung von der Macht des Seins, von der er ergriffen ist und auf die sich sein Zweifel zugleich richtet. Ein zweites Element des absoluten Glaubens ist die Erfahrung der Abhängigkeit des Nichtseins vom Sein. Zweifel am Sein ist nicht möglich ohne etwas Seiendes, das zweifelt. Die Infragestellung eines Sinnes ist undenkbar ohne einen zuvor vorausgesetzten Sinn als solchen. Drittens behauptet Tillich, dass die möglicherweise nicht als solche erkannte Erfahrung des Bejahtseins durch den Zustand der Leere hindurch schwinge.346 Schließlich betont er, der absolute Glaube transzendiere auch die Beziehung zwischen Gott und Mensch, in der die Subjekt-Objekt-Struktur herrsche, weil der Zweifel dieses Schema, in dem der Mensch als Subjekt Gott als Objekt anbetet beziehungsweise das Subjekt Gott dem Objekt Mensch gegenübertritt, untergrabe.347
343 344 345 346
Vgl. Tillich 1966, S. 262. Tillich 1969, S. 130. Ebd. Die Behauptung, dass sich das zweifelnde Subjekt trotz aller Sinnlosigkeit als bejaht erfährt, begründet Tillich nicht weiter. Er verweist lediglich darauf, dass es „der Sinn der religiösen Antwort [sei], dieses Element des Bejahtseins ausdrücklich zum Gegenstand zu machen. Wo das geschieht, ist der absolute Glaube seiner selbst bewußt geworden. Er weiß um sich als einen Glauben, der durch den Zweifel jeden konkreten Inhalt verloren hat, aber trotzdem Glaube ist und die Quelle der höchst paradoxen Manifestation des Mutes zum Sein.“ (Tillich 1969, S. 131.) 347 Vgl. Tillich 1969, S. 131 f.
2.2 Zweifel und Zweifeln innerhalb der Philosophie und Theologie
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Dieser absolute Glaube habe nach Tillich den „Gott über Gott“348 zum Inhalt, womit er ausdrücken will, dass der Gott des Theismus transzendiert werde. Um das zu verdeutlichen, nimmt er eine Einteilung in drei mögliche Bedeutungen des Theismus vor. Einerseits kann dieser Ausdruck sich auf eine unspezifische Bejahung Gottes beziehen, die keinen bestimmten Gottesbegriff hat, aber vielleicht eine ehrfürchtige Stimmung beinhaltet. Das träfe beispielsweise auf Menschen ohne religiöse Bindung zu, die den Gedanken einer gottlosen Welt nicht ertragen könnten. Diese Art Theismus bezeichnet Tillich als belanglos.349 Andererseits kann Theismus auch die göttlich-menschliche Beziehung bezeichnen. Damit wird auf ein personalistisches Gottesbild verwiesen, das ebenso verworfen wird, weil es einseitig sei.350 Als dritte Bedeutung des Theismus spezifiziert Tillich die theologische, die die Notwendigkeit des Gottesbezuges aufzeigen wolle und versuche, eine Lehre der Ich-Du-Begegnung von Gott und Mensch nahe zu bringen. Diese beurteilt er als falsch, weil der theologische Theismus das Absolute zu einem Teil der gesamten Wirklichkeit mache und diesen – auch wenn er ihn als wichtigsten Teil darstelle – an eine Subjekt-Objekt-Struktur binden wolle. Er stufe das Absolute und das Sein somit selbst als ein Sein neben anderen herunter.351 All diese Formen des theistischen Gottesbildes würden durch den absoluten Glauben an den Gott über dem Gott des Theismus überstiegen werden. Er könne nicht näher beschrieben werden. Absoluter Glaube sei das Bejahen des Seins selbst, das uns den Mut zum Sein verleihe. Er sei verborgen in jeder göttlich-menschlichen Beziehung gegenwärtig und werde von der biblischen Religion bezeugt. Sie wisse, dass Gott über dem Subjekt-Objekt-Schema stehe, wenn er dem Menschen begegne. Das werde auch im Gebet deutlich, das paradoxerweise zu jemandem gesprochen wird, obwohl man mit diesem jemand nicht sprechen könne, weil es kein jemand sei und obwohl man von ihm nichts erbitten könne, weil er gibt, bevor man bittet. „Jedes von diesen Paradoxen treibt das religiöse Bewußtsein zu einem Gott, der über dem Gott des Theismus ist.“352 Ohne ihre Symbole zu opfern verkünde die Kirche diesen Gott und vermittele einen Mut, der trotz Zweifel und Sinnlosigkeit bestehen könne. Besonders deutlich werde das an ihrer Predigt des Gekreuzigten, der Gott anrief, nachdem ihn sein Gott des Vertrauens in Verzweiflung und Sinnlosigkeit zurückließ.353 Im absoluten Glauben erscheint Gott ohne als solcher benannt zu werden in der Erfahrung des Unbedingten und im Ernst existentiellen Zweifelns. Der absolute Glaube besteht in dem Mut, diesen letzten Sinn inmitten der Leere und Sinnlosig348 349 350 351 352 353
Tillich 1969, S. 134. Vgl. Tillich 1969, S. 134 f. Vgl. Tillich 1969, S. 135 f. Vgl. ebd. Tillich 1969, S. 138. Vgl. ebd.
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keit anzunehmen.354 Tillich wurde damals und wird auch heute noch der Einwand entgegen gebracht, dass damit die Konkretheit und personale Dimension des Rechtfertigungsgeschehens übergangen werde.355 Bereits 1961 ging er in seiner Schrift The God above God356 darauf ein und betonte, dass es falsch sei, von Gott als Person zu sprechen. Eine Person ist eine neben anderen, Gott ist aber der Grund unseres Seins und ist uns näher als es jede Person oder gar wir selbst es vermögen. „Das Sein Gottes ist überpersönlich. Aber ‚überpersönlich‘ ist nicht ‚unpersönlich‘“357. Daher ist es gerechtfertigt, wenn wir ihn als persönlich verstehen, weil er als der Schöpfer alles Personalen nicht weniger sein kann. Uns als Personen begegnet er persönlich und wir können ihn persönlich ansprechen, wie es die biblische Religion lehrt. Gott ist aber nicht nur der Gott derjenigen, die dazu in der Lage sind, ihn anzusprechen oder überhaupt über ihn zu sprechen. Er ist nicht nur präsent im Heiligen, sondern auch im Profanen und bei denjenigen, die religiöse Bilder von Gott anzweifeln, aber nicht aufgeben, nach der Wahrheit zu fragen.358 Der Begriff des Gottes über dem Gott des Theismus sei auch „im Sinne einer pantheistischen oder mystischen Aussage mißverstanden worden“359, wie Tillich selber anmerkt, obwohl er damit keine dogmatische, sondern eine apologetische Aussage habe treffen wollen. Im Zustand des radikalen Zweifels, in der der durch die Kirche vermittelte Gott in Frage gestellt werde, bleibe allein der Zweifel, der mit seiner Ernsthaftigkeit noch inmitten der Sinnlosigkeit einen Sinn bejaht – nämlich den Sinn des Zweifelns und der Suche nach dem Absoluten. Dieses Absolute sei in dieser Situation nicht der traditionelle Gott des Theismus, sondern der diesen transzendierende Gott. „Das ist eine Antwort für die Menschen, die nach einer Botschaft inmitten ihrer Erfahrung des Nichts und im Zusammenbruch ihres Mutes zum Sein verlangen.“360 Tillich kennzeichnet diese Erfahrung jedoch als „extreme Situation“361, in der man nicht dauerhaft leben könne. Die Aussagen, die sie hervorriefen, seien keine Basis, auf der die Wahrheit als Ganze aufgebaut werden könne. Mit diesen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass Tillich gerade nicht beansprucht, dass der Glaube an den traditionell von der Kirche verkündeten Gott transzendiert werden soll. Er will vielmehr diejenigen, die im Zweifel und der Sinnlosigkeit versinken und keinen Ausweg sehen, Mut verschaffen, wenn er ihnen zuschreibt, dass sie bereits einen Sinn bejahten, indem sie um das Absolute ringen und somit einen Glauben hätten, der absolut sei. 354 Vgl. Tillich 1966, S. 262 f. 355 Vgl. Tietz, Christiane, Freiheit zu sich selbst. Entfaltung eines christlichen Begriffs von Selbstannahme, Göttingen 2005, S. 22. 356 Vgl. Tillich 2008, S. 404. 357 Tillich 31958, S. 18. 358 Vgl. Tillich 2008, S. 402 ff. 359 Tillich 31958, S. 18 f. 360 Tillich 31958, S. 19. 361 Ebd.
2.3 Typologie des Zweifelns
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Angesichts dessen, dass Tillich nicht die Möglichkeit sieht, sich vom Zweifel durch den Sprung in den dogmatischen Glauben befreien zu können, weil dieser in dem Falle fanatisch wäre und nicht auf Gewissheit, Vertrauen oder Mut basieren würde, scheint auch eine Rechtfertigung durch Gott als deren Träger nicht denkbar zu sein. Wie es bereits deutlich wurde, liegt dem Begriff des Glaubens an Gott über dem Gott des Theismus jedoch ein apologetischer Gedanke zugrunde. Tillich versteht die Rechtfertigung des Zweiflers im Sinne des simul iustus et peccator. Er sieht in der Situation des radikalen Zweifels nicht den Sünder, sondern den Zweifelnden als gerechtfertigt, weil darin die Bejahung des Prinzips der Wahrheit mit aller Ernsthaftigkeit bezeugt werde. Die Erfahrung des Getrenntseins vom Absoluten setzt bereits die Bejahung des Absoluten voraus. Auch die Frage nach einem letzten Sinn inmitten der Sinnlosigkeit ist nur möglich, sofern dieser schon angenommen wird. Beide Fälle verdeutlichten nach Tillich das Paradox der Rechtfertigung: Gott erscheine dem zweifelnden Subjekt in der Erfahrung des Absoluten, weil es im Zweifel vom letzten Sinn ergriffen sei. „Im Ernst der existentiellen Verzweiflung ist Gott ihnen gegenwärtig. Der Mut, dieses anzunehmen, ist ihr Glaube.“362 So versteht Tillich auch denjenigen, der sich im Zweifel befindet, als vor Gott Gerechten. Diese vielschichtigen Ausführungen zum Zweifel und dessen Verhältnis zum Glauben, der von Tillich primär als Ergriffensein vom Absoluten verstanden wird, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Zweifel bedroht potentiell jeden Menschen, der sich als endliches Subjekt auf das Unendliche, das Absolute, also Gott bezieht. Insofern sind Zweifel unausweichlich, womit keine methodisch eingesetzten Zweifel gemeint sind, sondern solche, die das Individuum ungewollt erfährt. Sie werden jedoch nicht ausschließlich als zerstörerisch begriffen, sondern ermöglichen eine ernsthafte Auseinandersetzung und sind darüber hinaus konstitutives Moment des Glaubens, in dem der Mut zum Ausdruck kommt, sich trotz dieser Zweifel auf das Absolute zu beziehen.
2.3 Typologie des Zweifelns In diesem Kapitel wurden bisher verschiedene Formen des Zweifelns thematisiert, die beispielsweise das Moment der Gewissheit oder der Unentschiedenheit auf verschiedene Weise einbeziehen. So ist etwa das distinktive Merkmal der Pyrrhonischen Skeptiker, dass ihre Position durch Entschiedenheit gekennzeichnet ist, in ihrer Unentschiedenheit zu ruhen. Zweifel dagegen wurde von Hegel durch seine Zerrissenheit charakterisiert, die deshalb besteht, weil das zweifelnde Subjekt den Zustand der Unentschiedenheit überwinden will. Gewissheit ist einerseits ein Zustand, der der 362 Tillich 1966, S. 263.
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Unentschiedenheit des Zweifelns zu widersprechen scheint, wobei Wittgenstein sie gerade als Bedingung der Möglichkeit des Zweifelns bezeichnet hat. Um diese unübersichtlichen Zuschreibungen des Zweifels ordnen zu können, wird hier eine Typologie des Zweifelns vorgestellt. Schließlich wird die Form des iterativen Zweifelns vorgeschlagen. Diese wurde als solche noch nicht in der theologischen und philosophischen Literatur erfasst, auch wenn sie implizit dort vorzufinden ist. Die Rechtfertigung dieser Form steht im Zentrum der Frage nach der theologischen Legitimität des Zweifelns.
2.3.1 Einführende Bemerkungen zur Unterscheidung zwischen hypothetischem und tatsächlichem Zweifel Zunächst ist an der Unterscheidung zwischen zwei Formen des Zweifels festzuhalten: dem hypothetischen und dem tatsächlichen. Diese grundsätzliche Unterscheidung lässt sich bereits in der Literatur finden und wurde auch von einigen in diesem Kapitel untersuchten Autoren gebraucht. Dabei verwenden sie jedoch unterschiedliche Ausdrücke. Während auf das, was in dieser Arbeit als hypothetischer Zweifel bezeichnet werden soll, häufiger mit dem Ausdruck „methodischer Zweifel“ referiert wurde, lassen sich für den Typ des Zweifelns, der hier „tatsächlicher“ genannt werden soll, diverse Ausdrücke finden. So differenziert beispielsweise Joseph Kleutgen im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Hermes zwischen wirklichem und methodischem Zweifel. Methodischen Zweifel beschreibt er als künstlichen, bloß angenommenen Zweifel. Wer in diesem Sinne methodisch zweifelt, sei also in Bezug auf „die Wahrheit der Sache nicht unentschieden, sondern verfährt nur so, als wäre er unentschieden, um die Wahrheit, für die er entschieden ist, wissenschaftlich zu begründen.“363 Wirklicher Zweifel dagegen impliziere Unentschiedenheit. Sie sei nach Kleutgen entweder das Resultat mangelnder Beweggründe zu der Akzeptanz eines Wahrheitsanspruches oder aber das Ergebnis von Gründen, die gegen diese fragliche Annahme sprechen. Diese Unterscheidung nimmt Kleutgen mit Blick auf Hermes vor. Georg Hermes empfiehlt aus drei Gründen allen angehenden Religionslehrern, das Labyrinth der Zweifel zu durchlaufen. Erstens sollen sie nach Überwindung dieser methodischen Zweifel selbst mit Überzeugung glauben können, wovon sie Zeugnis ablegen. Zweitens sollen sie ihre Schüler, die ebenfalls Zweifel durchlaufen werden, aus eigener Erfahrung gut lenken können. Drittens sollen sie durch den Weg des Zweifels dafür gerüstet sein, auch ihren Widersachern Rede und Antwort stehen zu können. Diese methodisch eingesetzte Form des Zweifelns, mit der zunächst Argumente gegen den Glauben aufgezeigt werden sollten, bezeichnet Kleutgen auch als positiven Zweifel. Während dieser Typ also durch positive Beweggründe gegen eine Überzeugung moti363 Kleutgen 21878, S. 342.
2.3 Typologie des Zweifelns
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viert ist, sind negative Zweifel nach Kleutgen dagegen dadurch gekennzeichnet, dass eine Abwesenheit von Gründen für eine Glaubensüberzeugung besteht. Kierkegaard nimmt eine ähnliche Unterscheidung vor und bezeichnet die voneinander abgegrenzten Formen des Zweifels als echten und methodischen. Mit echtem Zweifel bezieht er sich auf den Zustand des „Zwei-meinen[s]“, womit er das Haben zweier Meinungen in Bezug auf einen Sachverhalt zum Ausdruck bringen möchte. Um keinen wirklichen Zweifel dagegen handele es sich, wenn jemand, der eigentlich nicht im Zweifel ist, mit Worten versichert, dass er zweifele. Für Kierkegaard ist also wie für Kleutgen die tatsächliche Unentschiedenheit ein Kriterium für wirklichen beziehungsweise echten Zweifel. Auch Tillich sieht das spezifische Charaktermerkmal des methodischen Zweifels in der gezielten Infragestellung von Tatsachen und Schlussfolgerungen, die einer beständigen Vorgehensweise gleichkomme. Insofern sei methodischer Zweifel essentiell für die Wissenschaft, weil er sie in ihren Forschungen vorantreibt. Den skeptischen Zweifel setzt Tillich nicht einfach mit dem methodischen gleich, sondern betrachtet ihn als eine spezifische Ausformung, mit der nicht nur an bestimmten Wahrheitsansprüchen gezweifelt werde, sondern mit der konkret jede Wahrheit abgelehnt werde. Tillich sieht in dieser Zurückweisung jeglichen Wahrheitsanspruches jedoch gerade keine Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, sondern versteht den Skeptizismus, dem er eine zynische Position zuschreibt, aufgrund seines Zynismus als an der Wahrheit interessiert. Wenn die Wahrheit die Skeptiker kalt ließe, würden sie nicht zynisch auf die Tatsache reagieren, dass ihnen die Erkenntnis von Wahrheit unmöglich erscheint. Es ist zwar zuzugestehen, dass in der ständigen Zurückweisung jeglichen Wahrheitsanspruches ein deutliches Interesse an ebendieser zum Ausdruck kommt. Trotz der gemeinsamen Hinwendung von Zweifel und Skepsis zur Wahrheit besteht dennoch ein starker Unterschied zwischen dem skeptischen und dem zweifelnden Individuum: Wer zweifelt, bekundet sein Interesse an der Wahrheit durch die noch offene Suche nach ihr. Wer dagegen skeptisch ist, bringt die Bedeutsamkeit der Wahrheit zum Ausdruck, indem er oder sie immer wieder verkündet, dass das Einlassen auf die Wahrheit nicht zielführend und daher nicht lohnenswert sei. Es ist darüber hinaus zu beachten, dass Tillichs Beschreibung der zynischen Skeptiker zwar auf methodische und systematisierende, wie z. B. die Pyrrhonischen Skeptiker zutrifft, nicht aber zwingend auf diejenigen, für die die skeptische Position einen Diskursabbruch impliziert, weil sie aufhören, sich mit der Wahrheitsfrage auseinanderzusetzen. In solch einem Fall wäre die Beschreibung eines eigentlich bekundeten Interesses zumindest fragwürdig. Eine Unterscheidung zwischen hypothetischem und tatsächlichem Zweifel ist also vor dem Hintergrund der bereits in der Literatur bestehenden Einteilung in zwei grundlegende Typen des Zweifelns sinnvoll und nachvollziehbar. Sie beinhaltet zusammengefasst die Unterscheidung zwischen der Situation der Unentschiedenheit hinsichtlich verschiedener Wahrheitsansprüche (tatsächlicher Zweifel) und der fiktiv angenommenen Situation der Unentschiedenheit (hypothetischer Zweifel), wobei mit
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letzterer die eigentliche Unbegründetheit von Zweifeln an bestimmten Wahrheitsansprüchen aufgezeigt werden soll. Dass bei dieser Differenzierung jedoch nicht die bereits verwendeten Begriffe „wirklich“, „echt“ oder „methodisch“ benutzt werden, ist nicht auf eine zufällige Wahl zurückzuführen, sondern hat Gründe, die insbesondere mit der Konnotation der eben aufgeführten Ausdrücke zusammenhängt. Der Begriff der Wirklichkeit z. B. kann aufgrund seiner Mehrdeutigkeit364 Assoziationen wecken, die hier nicht intendiert sind. Dagegen soll mit der Verwendung von tatsächlich deutlicher zum Ausdruck gebracht werden, dass das Subjekt hier tat-sächlich, also in der Tat zweifelt. Der Gebrauch von „hypothetischem“ statt „methodischem“ Zweifel ist deshalb vorzuziehen, weil er allgemeiner ist. Er kann beispielsweise auch auf solche alltäglichen Situationen angewendet werden, in denen ein Individuum zwar keine bestimmte Methode verfolgt, aber dennoch lediglich dem Scheine nach zweifelt, während es jedoch eigentlich einen festen Standpunkt vertritt (z. B. um sein Gegenüber herauszufordern). In solch einem Fall würde es sich noch nicht um eine derart ausgefeilte Methode handeln, wie es z. B. bei den Pyrrhonischen Skeptikern der Fall war, die Tropen systematisch gebrauchten, um ihre skeptische Position zum Ausdruck zu bringen. Mit dem Ausdruck des hypothetischen Zweifelns wären also beide Fälle abgedeckt. Im Hinblick auf die Verteidigung der theologischen Legitimität des Zweifelns soll der Akt tatsächlichen Zweifelns Gegenstand dieser Arbeit sein. Die Legitimität des hypothetischen Zweifelns ist weniger kontrovers: Mit hypothetischem Zweifeln kann beispielsweise die Absicht verfolgt werden, den religiösen Glauben durch die Auseinandersetzung mit Ungewissheiten zu bestätigen. Ein derartiges hypothetisches Zweifeln würde nicht in Konflikt mit dem Begriff des Glaubens geraten, sofern rationaler Nachvollzug als Bestandteil des Glaubens begriffen wird. Ein hypothetischer Zweifel dagegen, der methodisch eingesetzt wird, um in Frage stehende Glaubensüberzeugungen zu widerlegen, ist offensichtlich mit der bejahenden Position des Glaubens als einer ihm widersprechenden nicht zu vereinen. In Frage steht dagegen, ob das tatsächliche Zweifeln dagegen als theologisch legitim im Sinne einer begrifflichen Vereinbarkeit von Glauben und Zweifeln gedacht werden kann.
364 Vgl. Trappe, Tobias, Wirklichkeit, in: HWPh 12, Darmstadt 2004, 829–846, hier: 829: „Spätestens seit der zweiten Hälfte des 17. Jh. Meint ‚wirklich‘ umgangssprachliche vor allem ‚tatsächlich bestehend‘, und zwar regelmäßig im engeren Sinne handgreiflicher (körperlicher) Vorhandenheit, kann aber darüber hinaus auch die Bedeutung von ‚wahr(haftig)‘, ‚eigentlich‘ (‚wesenhaft‘), ‚berechtigt‘ oder ‚echt‘ annehmen.“ Vgl. auch Brugger, Walter, Philosophisches Wörterbuch, Freiburg im Breisgau 111963, S. 389: „Das Wort W, von Meister Eckhart als Übersetzung des lat actus (actualitas) geprägt, benennt wie dieses das Seiende vom à Wirken her u deutet so darauf hin, daß sich das Sein im Wirken kundtut u vollendet. Im heutigen phil Sprachgebrauch bezeichnet wirklich (w) meist das Seiende, Daseiende, u zwar sowohl im Ggs zum bloß Scheinbaren wie im Ggs zum nur möglichen.“
2.3 Typologie des Zweifelns
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2.3.2 Zur Differenzierung verschiedener Aspekte des Zweifelns Um den hier zu rechtfertigenden Akt tatsächlichen Zweifelns eingehender zu erfassen, werden im Folgenden beispielhaft Auseinandersetzungen mit Zweifeln aus diesem Kapitel einbezogen. Dabei erfolgt eine erneute Abgrenzung vom hypothetischen Zweifeln sowie eine Aufgliederung in verschiedene Aspekte, die den Akt des Zweifelns konstituieren. Sie sind nicht zwingend als chronologisch aufeinanderfolgende Momente zu begreifen, die dem zweifelnden Subjekt als solche bewusst werden, sondern vielmehr als Bedingungen des Aktes des Zweifelns. Sie sind immer erfüllt, wenn der Akt des Zweifelns in der entsprechenden Form vollzogen wird. Diese künstliche Aufspaltung der verschiedenen Aspekte des Zweifelns auf theoretischer Ebene soll einem besseren Verständnis des Aktes des Zweifelns dienen, um die Verteidigung seiner Legitimität nachvollziehbar zu machen. 2.3.2.1 Der Aspekt der Voraussetzung des Zweifelns Dazu ist erstens der Aspekt der Voraussetzung des Zweifelns zu nennen. Er besteht in der Gewissheit des zweifelnden Subjekts hinsichtlich eines bestehenden Fragehorizontes und eines Glaubenssystems, ohne dessen Hintergrund das Aufkommen von Zweifeln unmöglich wäre. Ohne einen bestimmten Kontext vorauszusetzen, können Zweifel nicht zum Ausdruck gebracht werden oder gar entstehen. Nach Wittgenstein hängt das damit zusammen, dass wir bestimmte Sätze nicht isoliert voneinander für wahr hielten, sondern ein ganzes System von Sätzen. Ein derartiges Fundament liegt notwendigerweise zugrunde, wenn Zweifel entstehen. Zweifel an solchen grundlegenden Gewissheiten seien nach Wittgenstein nicht haltbar, weil diese Zweifel selbst wiederum Gegenstand von vernünftigen Zweifeln werden könnten. Die Absolutsetzung von Zweifeln am Fundament der Formulierung von Überzeugungen und Zweifeln wäre nämlich selbstwidersprüchlich und nicht rational begründbar. Wer zweifelt, setzt wie bereits erwähnt gewisse Maßstäbe voraus, anhand derer eine fragliche Aussage bezweifelt wird. Ähnlich, wie für den Beweis einer These durch ein Experiment das Vertrauen in einen dafür benötigten Apparat notwendig ist, sind bestimmte Gewissheiten notwendig, um Zweifel in einem Kontext überhaupt gelten zu lassen. Gewissheit bildet somit nach Wittgenstein die Grundlage allen Urteilens und Zweifelns. Ausschließlich vor dem Hintergrund von Annahmen, die dem Subjekt gewiss sind, sind Zweifel also vernünftig denkbar, weil jeder einzelne Wahrheitsanspruch, der in Zweifel gezogen werden kann, eingebettet ist in einen unangezweifelten Gesamtkontext. Ohne einen solchen ist der Akt des Zweifelns erst gar nicht verstehbar beziehungsweise sinnvoll zum Ausdruck zu bringen. Daraus folgt wiederum, dass ein allumfassender Zweifel nicht möglich ist, weil er sich selbst unterminieren würde. Es kommt hinzu, dass es sich nur dann um eine Situation des Zweifelns handeln würde, wenn das Subjekt den in Frage stehenden Sachverhalt zuvor für wahr gehal-
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ten hätte. Die hier aufgeführten Autoren thematisieren den Akt des Zweifelns lediglich in Bezug auf Propositionen, bei denen es sich um bereits bestehende Wahrheitsansprüche handelt. Dabei ist es der Form nach unerheblich, ob sie also – etwa wie im Falle des Augustinus oder Hermes – den Fall eines Zweifels an einer Glaubensüberzeugung, die sie selbst zuvor vertreten haben, thematisieren, oder aber eine von Anderen beanspruchte Wahrheit bezweifeln – wie es z. B. bei Hume der Fall ist, dessen Untersuchungsgegenstand religiöser Glaube ist. Insofern ist es das Merkmal der Gewissheit, das erfüllt sein muss, um einen Akt des Zweifelns von einer bloß offenen Frage unterscheiden zu können. Eine bloße Frage dagegen wird offen in den Raum hineingestellt, ohne vorher eine mehr oder weniger gewisse Meinung zum fraglichen Sachverhalt gebildet zu haben. Hinsichtlich des Aspektes der Voraussetzung des Zweifelns ist also der Zustand der Gewissheit in doppelter Weise zu erfassen. Einerseits ist es nicht möglich, zu zweifeln, wenn nicht wenigstens der Kontext sowie die Mittel beziehungsweise die vorauszusetzenden Aussagen, derer sich ein Subjekt zum Zwecke der Infragestellung bedient, gewiss sind. Andererseits muss das bezweifelte Objekt zuvor Gegenstand der Gewissheit gewesen sein, um es von einer bloßen Frage unterscheiden zu können. Gewissheit stellt insofern eine notwendige Bedingung des Aktes des Zweifelns dar. 2.3.2.2 Der Aspekt der Situation des Zweifelns Der zweite Aspekt des Aktes des Zweifelns ist der der Situation des Zweifelns. Dieses Moment ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn es gilt herauszufinden, ob es sich um eine hypothetische oder tatsächliche Form des Zweifelns handelt. Hierbei wird erstens überprüft, ob die Situation, in der sich das zweifelnde Subjekt befindet, intendiert ist oder ob sich das Subjekt unbeabsichtigt mit Zweifeln konfrontiert sieht. Zweitens wird danach gefragt, ob das Subjekt des Zweifelns in dieser Situation bereits auf eine bestimmte Position festgelegt ist, oder sich nicht zwischen zwei Wahrheitsansprüchen entscheiden kann. Liegt eine intendierte Infragestellung von einem bestimmten Wahrheitsanspruch vor, die mit einer bereits festgelegten Position einhergeht, handelt es sich um eine Form des hypothetischen, z. B. des methodischen Zweifelns. Auf der anderen Seite handelt es sich um tatsächlichen Zweifel, wenn das Subjekt sich nicht intendiert in der Situation des Zweifelns wiederfindet und sich nicht zwischen einander widerstreitenden Propositionen entscheiden kann. Diese These wurde erstens bereits in Anbetracht von Hegels Differenzierung in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie zwischen Zweifel und Skepsis gefolgert365. Dieser Unterscheidung entsprechend stellt der Zweifel eine Situation der Zerrissenheit des Gemüts dar, die das Subjekt überwinden, statt herbeiführen will. Im Gegensatz zur Position der Skepsis sei der Akt des Zweifelns demnach dadurch gekennzeichnet, dass mit ihm die Klärung von Ungewissheiten angestrebt werde. 365 Vgl. Kapitel 2.2.6 zu Hegel.
2.3 Typologie des Zweifelns
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Wenn dieser Akt also wesensgemäß darin besteht, die Zerrissenheit zwischen zwei Meinungen zugunsten von Gewissheit zu überwinden, dann ist nicht verständlich, wieso eine Situation der Zerrissenheit vom zweifelnden Subjekt selbst intendiert sein sollte. Der mit dem Zweifel einhergehende negative mentale Zustand, der von Hegel betont wird, ist nur damit zu erklären, dass das Hin- und Hergerissensein zwischen zwei Meinungen keine Situation sein kann, die das Subjekt selbst beabsichtigt. Somit sind in Anlehnung an Hegels kurze Auseinandersetzung mit Zweifeln und Skepsis für die Situation tatsächlichen Zweifelns sowohl die Abwesenheit der Absicht zu zweifeln als auch der Zustand des Hin- und Hergerissenseins zwischen zwei Meinungen kennzeichnend. Im Umkehrschluss lässt sich daraus in Anlehnung an die in Kapitel 2.2.6 dargestellte Thematisierung Hegels Skeptizismus folgern, dass es sich lediglich um hypothetischen Zweifel handelt, wenn die Situation des Zweifelns intendiert ist und das zweifelnde Subjekt eigentlich eine fertige Position bezogen hat. Zweitens kann die Einführung dieser Merkmale der Situation des Zweifelns zur Unterscheidung zwischen hypothetischem und tatsächlichem Zweifel durch weitere Beispiele fernab von Hegel gestützt werden. So wie etwa Descartes seine Zweifel in seinen Meditationen darstellt, können sie aufgegriffen werden zur Verdeutlichung eines methodischen, also hypothetischen Zweifels. Wie er selbst formuliert, kann er an all denjenigen Dingen, die er dort in Frage stellt, gar nicht zweifeln, weil sie allenfalls für nicht ernst zu nehmende Personen Gegenstand von Zweifeln sein könnten. Die Situation des Descartes ist also nicht durch Offenheit hinsichtlich des Ergebnisses seiner Infragestellungen gekennzeichnet, sondern von Anfang an festgelegt. Lediglich auf hypothetische Weise zieht er also Wahrheitsansprüche in Frage um aufzuzeigen, dass sie begründet für wahr gehalten werden können. Er gesteht somit zu, dass er selbst gar nicht zweifelt. Seine Situation des Zweifelns, die er absichtlich herbeigeführt hat, ist also keine tatsächliche, sondern lediglich eine hypothetische Situation des Zweifelns. Auch Hume kann als Beispiel zur Beleuchtung der These, dass das Subjekt im Falle einer intendierten Situation des Zweifelns nicht im tatsächlichen, sondern hypothetischen Sinne zweifelt, aufgegriffen werden. Er beschreibt in seinen Ausarbeitungen keine unbeabsichtigte, noch zu lösende Situation des Zweifelns, sondern er bringt seine Zweifel intendiert ins Spiel, um die „Schwäche, Blindheit und Beschränktheit der menschlichen Vernunft“366 aufzuzeigen. Statt tatsächlich an der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis zu zweifeln, bestärkt er in seinen oben367 thematisierten Passagen seine Position, dass Menschen nicht von Wissen und Erkenntnis, sondern allenfalls von Wahrscheinlichkeiten reden könnten. Dies wird besonders deutlich, wenn er schreibt, dass es „also im Grunde gar keine Gewißheit“368 gebe. Deshalb hält er auch theologische Untersuchungen für aussichtslos, zumal sie in der Vergangen366 Dialoge, S. 4f, S. 8. 367 Vgl. Kapitel 2.2.5. 368 Traktat, S. 299.
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2 Der Akt des Zweifelns
heit „nichts als Zweifel, Ungewißheit und logische Widersprüche“369 gebracht hätten. Insofern strebt Hume es gar nicht erst an, seine skeptischen Zweifel zu überwinden – nicht etwa deshalb, weil er eine derartige Überwindung ohnehin für unmöglich hält, sondern vielmehr, weil er gar nicht zweifelt: Er ist von der Unmöglichkeit menschlicher Erkenntnis fest überzeugt. Damit wird deutlich, dass seine Situation des Zweifelns nicht tatsächlich besteht, sondern hypothetisch eingeführt wird, um diejenige Position in Frage zu stellen, die Erkenntnis für möglich hält. Drittens lässt sich die These, dass die Situation tatsächlichen Zweifels nicht intendiert und unentschieden ist mit zuvor bereits aufgeführten Autoren stützen, die eine tatsächliche Form des Zweifelns thematisieren. Augustinus beispielsweise findet sich in einer Situation des Zweifelns wieder, die ebenfalls den Ausgangspunkt der Akademischen Skepsis darstellt, weil keine philosophische Schule seine Fragen überzeugend beantworten kann. In seinen Confessiones vergleicht er seine Haltung zwar mit der skeptisch-akademischen. Jedoch ist sein Ziel nicht wie ihre der Aufweis der Unmöglichkeit von Erkenntnis, sondern er verbleibt im Prozess des Zweifelns, um ein gesichertes Fundament zu schaffen, von dem aus er die Wahrheit erkennen kann. Hier liegt also das Beispiel eines Falles tatsächlichen Zweifelns vor, dessen Situation nicht intendiert ist. Sein Ergebnis ist offen und hat nicht – wie etwa im Falle von Descartes und Hume – ein vorgegebenes Ziel durch Überwindung hypothetischer Zweifel vor Augen. Die Absicht des Augustinus besteht lediglich in der Überwindung seiner tatsächlichen, nicht intendierten Unentschiedenheit. Auch Hegel beschreibt eine Situation tatsächlichen Zweifelns, in der zum Ausdruck kommt, dass sie nicht intendiert ist: Ihm zufolge geraten wir unweigerlich in die Situation des Zweifelns, weil wir bei unseren erkenntnistheoretischen Untersuchungen mit dem Problem des Wahrheitskriteriums konfrontiert werden würden, wie es bereits in Kapitel 2.2.6 gezeigt wurde. Diese Situation des Zweifelns betrachtet er als unausweichlich. Sie sei wiederum der Nährboden für skeptische Positionen, wie z. B. die pyrrhonische. Hegel selbst bleibt jedoch nicht in einer fertigen, skeptischen Position stehen, sondern nimmt diese tatsächliche Situation der Unentschiedenheit zum Anlass, nach ihrer Überwindung zu streben. Es liegt insofern eine Situation tatsächlichen Zweifelns vor, weil Hegel die Unentschiedenheit, der er aufgrund erkenntnistheoretischer Untersuchungen unbeabsichtigt ausgesetzt ist, mit weiteren Untersuchungen überwinden will, ohne dabei schon von vornherein das Ergebnis zu kennen. Im Hinblick auf die Situation des Zweifelns können also die beiden Kennzeichen der Beabsichtigung beziehungsweise fehlenden Beabsichtigung und der Unentschiedenheit hinsichtlich eines Wahrheitsanspruches festgehalten werden, um tatsächlichen von hypothetischem Zweifel zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund ist also die These nachvollziehbar, dass es sich um einen hypothetischen Typ des Zweifelns handelt, wenn die Situation des Zweifelns aufgrund der beabsichtigen Herbeiführung derselben durch das Individuum entstanden ist, 369 Dialoge, S. 4 f.
2.3 Typologie des Zweifelns
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um seine eigene, bereits festgelegte Position zu begründen. Wer hypothetisch zweifelt, ist nicht ungewiss und hat nicht das Ziel, eine noch ausstehende Überzeugung zu gewinnen. Dagegen besteht tatsächlicher Zweifel genau dann, wenn das Subjekt sich in der Situation des Zweifelns nicht intendiert widerfindet beziehungsweise sich als in die Situation des Zweifelns geworfen erfährt, weil es unentschieden hinsichtlich verschiedener Wahrheitsansprüche ist. 2.3.2.3 Der Aspekt der Reaktion auf die Situation des Zweifelns Neben dem Aspekt der Voraussetzung sowie der Situation des Zweifelns ist ein dritter zu untersuchen, nämlich der Aspekt der Reaktion auf die (tatsächliche) Situation des Zweifelns. Die Reaktionsmöglichkeiten auf die intendierte Situation des Zweifelns müssen nicht analysiert werden, weil sie nur hypothetisch besteht und somit vom Subjekt selbst wieder aufgelöst werden kann beziehungsweise einer Auflösung gar nicht bedarf. Zunächst können zumindest drei Möglichkeiten in Betracht gezogen werden, wie der Situation des Zweifelns begegnet werden könnte, wenn sich die Unentschiedenheit nicht ohne Weiteres aufheben lässt: Erstens ist es denkbar, dass das zweifelnde Subjekt eine Auflösung der Infragestellung, mit der es in der Situation des Zweifelns konfrontiert wurde, grundsätzlich nicht für möglich hält und sich deshalb einer Meinungsbildung enthält. Es könnte also die skeptische Position beziehen. Im Kontext von Glaubenszweifeln wird dagegen zweitens behauptet, ein Weg zur Überwindung des Zweifelns bestehe nur in einer Entscheidung für den Glauben, also in einem dezisionistischen Verfahren. Analog dazu müsste es denkbar sein, dass sich eine Person gegen das Fürwahrhalten der in Zweifel gezogenen Behauptung entscheidet, weil die Entscheidung für p auch die grundsätzliche Möglichkeit einer Entscheidung gegen p in sich bergen muss. Ob eine derartige Entscheidung für oder gegen den Glauben beziehungsweise das Fürwahrhalten eines Wahrheitsanspruches möglich ist, soll in Kapitel 3 untersucht werden. Hier soll neben dem skeptischen und dezisionistischen Verfahren eine dritte Reaktionsmöglichkeit auf die Situation des Zweifelns aufgezeigt werden, nämlich die des iterativen Zweifelns. Um diese besser verständlich werden zu lassen, wird zunächst anhand der bereits behandelten Pyrrhonischen Skepsis verdeutlicht, was unter dem Aspekt der Reaktion auf die Situation des Zweifelns zu begreifen ist. Aus dem Grundriß der Pyrrhonischen Skepsis von Sextus Empiricus ging hervor, dass sich die Vertreter der Pyrrhonischen Skepsis in einer Situation des Zweifelns wiederfanden, weil sie sich mit einander widerstreitenden Behauptungen konfrontiert sahen. Eine Auflösung dieser Zweifel, die in allen Lebensbereichen aufkamen, hielten sie für unmöglich. Den einzigen Ausweg aus dieser Situation der Zerrissenheit sahen sie in der Reaktion, zumindest die Unmöglichkeit der Entscheidung für oder gegen eine Behauptung aufzuzeigen, um eine skeptische Enthaltung zu begründen. Es stellte sich für die Vertreter der Pyrrhonischen Skepsis heraus, dass sie zu ei-
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2 Der Akt des Zweifelns
ner sogenannten Seelenruhe, also zur Überwindung der Zerrissenheit des Gemüts gelangen konnten, indem sie sich jeglicher Meinung enthielten. So glaubten sie, sicher gehen zu können, dass sie nicht mehr durch ihnen widersprechende Meinungen verunsichert werden könnten. Mit diesem Beispiel wird also die Differenzierung zwischen der Situation und der Reaktion auf die Situation des Zweifelns deutlich: Die nicht intendierte Situation der Unentschiedenheit fordert eine Reaktion heraus, die beispielsweise Vertreter der Pyrrhonischen Skepsis dadurch realisieren, dass sie sich jeglicher Wahrheitsansprüche enthalten. Eine andere Option, der Situation des Zweifelns zu entgegnen, besteht in der Reaktion des iterativen, also weghaften Zweifelns. Das Subjekt, das sich mit verschiedenen einander widerstreitenden Wahrheitsansprüchen konfrontiert sieht, kann – statt skeptisch zu verfahren und sich einer Positionierung zu entziehen – nämlich entschieden sein, die Situation der Unentschiedenheit beziehungsweise des tatsächlichen Zweifelns zu überwinden, indem es offen bleibt für überzeugende Gründe, die für oder gegen eine der fraglichen Überzeugungen sprechen. Es kann etwa die Frage unabgeschlossen stehen lassen in der Hoffnung, dass es auf gute Argumente stoßen wird, oder aber sich aktiv mit seinen Zweifeln auseinandersetzen, um sie zu beseitigen. Iteratives Zweifeln ist also im Gegensatz zum skeptischen Verfahren erstens durch eine Entschiedenheit, weiterhin zu zweifeln und nach einer Antwort zu suchen, gekennzeichnet. Zweitens ist er durch eine Offenheit für mögliche Lösungsansätze zur Überwindung der Unentschiedenheit charakterisiert, indem, wer iterativ zweifelt, weder den Diskurs abbricht und ein ruhiges Gemüt in der Meinungsenthaltung sucht, noch eine dogmatische Position einnimmt. Stattdessen streben iterative Zweifler danach, überzeugende Begründungen für oder gegen die fraglichen Wahrheitsansprüche zu finden. Das folgende Modell soll der Veranschaulichung der verschiedenen Aspekte und Typen des Zweifelns, insbesondere des iterativen Zweifelns, dienen:
Voraussetzung des Zweifelns
Gewissheit
Situation des Zweifelns
intendiert und entschieden hypothetisch
nicht intendiert und unentschieden tatsächlich
Akt des Zweifelns als Reaktion auf die Situation des Zweifelns entschieden, die Situation tatsächlichen Zweifelns zu überwinden iteratives Zweifeln
2.3 Typologie des Zweifelns
97
2.3.3 Der Akt iterativen Zweifelns Die eben skizzierte Form iterativen Zweifelns lässt sich insbesondere mit Hermes exemplifizieren. Er fand sich wie bereits gezeigt in einer Situation wieder, in der er mit einer Menge an Fragen und Zweifeln konfrontiert wurde, die ihn Tag und Nacht beschäftigten. Darunter sei selbst derjenige Grundzweifel gewesen, ob denn überhaupt ein Gott sei. Seine Situation war also durch Unentschiedenheit gekennzeichnet und wurde nicht absichtlich von ihm herbeigeführt. Insofern ist sie hinsichtlich der Situation als tatsächlicher Zweifel zu identifizieren. Seine Reaktion auf diese Situation bestand nicht in einer skeptischen Haltung in Bezug auf diese Problematik, sondern in einem Akt eines sich fortsetzenden Zweifelns: Indem er zwar – wie er schreibt – traurig, aber nicht verzweifelnd zu seinen Untersuchungen zurückkehrte, war er entschieden, zum Zwecke der Erkenntnis weiterhin zu zweifeln. Er reagierte auf die situative Unentschiedenheit, indem er sich explizit seinen Zweifeln erneut zuwandte und so lange selbst denken und zweifeln wollte, bis er eine Antwort auf seine Infragestellungen finden würde. Seine theologischen Untersuchungen brach er dabei nicht ab; er bemühte sich vielmehr, die fraglichen theologischen Überzeugungen selbst zu durchdenken, bis seine Zweifel in sichere Annahmen überführt werden konnten. Dieses Beispiel illustriert die Form des iterativen Zweifelns, die Umwege und Abwege enthalten kann, ohne dass dadurch das zweifelnde Individuum davon abgebracht wird, auf diesem Weg des Zweifelns weiterhin nach einer Aushebelung der Situation der Unentschiedenheit zu suchen. So ließ sich Hermes selbst dann nicht in die Position des Skeptizismus drängen, als sein Selbststudium der Metaphysik ihn zu dem Schluss kommen ließ, dass seine Fragen nicht zu beantworten wären. Stattdessen „kehrte [er] jetzt zum zweyten Mal“370 zu seinen Untersuchungen zurück, die er nicht ruhen lassen wollte, bis er all seine Unentschiedenheit hinsichtlich dieser Fragen überwunden hätte. Seine Reaktion auf die Situation des Zweifelns ist insofern als ein iterativer Prozess des Zweifelns zu begreifen. Weitere Beispiele iterativen Zweifelns lassen sich auch bei anderen Autoren finden. So reagiert Augustinus auf seine Situation tatsächlichen Zweifelns mit einer Suche, die er zwar mit der Suche der akademischen Skeptiker vergleicht. Sie gleicht jedoch in ihrer Handlungsweise insofern eher dem iterativen Zweifel, als dass Augustinus nicht die Unmöglichkeit der Erkenntnis aufzeigen möchte, wie es die Skeptiker tun. Stattdessen sucht er nach Gründen, die ihn zu einer positiven Annahme bewegen und seine tatsächlichen Zweifel somit überwinden. Auch Hegel beschreibt mit seinem bereits untersuchten371 sich vollbringenden Skeptizismus eine Realisierung des iterativen Zweifelns: Wer den Weg des sich vollbringenden Skeptizismus durchläuft, finde sich zunächst in einer Situation der Un370 Hermes 1819, S. VIII. 371 Vgl. Kapitel 2.2.6.
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2 Der Akt des Zweifelns
entschiedenheit wieder, die in fortgesetzten, iterativen Zweifeln resultiert. Hegel selbst beschreibt diesen Prozess auch als „Weg des Zweifels […] oder eigentlicher [den] Weg der Verzweiflung“372, weil dabei bestehende Meinungen aufgebrochen und destruiert werden, um in einem Prozess des Zweifelns zu neuen Erkenntnissen zu kommen und die durch die nicht intendierten aufkommenden Zweifel entstandene Unentschiedenheit zu überwinden. Mit Kierkegaards faustischem Zweifler ist ebenfalls ein Beispiel des iterativen Zweifelns gegeben: Dieser ist nämlich dadurch charakterisiert, dass sich sein Subjekt, das mit verschiedenen gleichwertigen Wahrheitsansprüchen konfrontiert wird und daher ins Zweifeln gerät (Situation tatsächlichen Zweifelns). Es wendet sich vom bisher Geglaubten ab, um sich mit seinen Zweifeln auseinanderzusetzen und nach der Wahrheit zu suchen (iterative Reaktion auf die Situation des Zweifelns). Zwar führt der von Kierkegaard beschriebene Fall zu einer pathetischen Haltung der allumfassenden Verneinung jeglicher Wahrheitsansprüche: Sein faustischer Zweifler negiert allein aus dem Willen der Abgrenzung heraus die Auffassungen seiner Zeitgenossen, die sich auf allgemein vertretene Meinungen verlassen. Dennoch gleicht die dabei zunächst beschriebene Reaktion auf die Situation tatsächlichen Zweifelns der des iterativen Zweifelns. Er resultiert in diesem Beispiel in einer verzweifelten Negation fraglicher Wahrheitsansprüche. Schließlich lässt sich bei Tillich ebenfalls ein Beispiel für den iterativen Zweifel finden. Wie oben373 ausgeführt begreift er das Element der Ungewissheit als konstitutives Moment jeder existentiellen Wahrheit, die sich auf das Absolute, also auf Gott, bezieht. Wer in diesem Bewusstsein dennoch an Gott glauben kann, der tue dies nach Tillich befähigt durch seinen Mut, die Zweifel im Glauben aufzunehmen. Die Situation des Zweifelns hält er somit im Zusammenhang mit religiösem Glauben für unausweichlich. Diese Situation resultiert bei Tillich jedoch nicht in einer Verneinung des Glaubens oder einer Form des Skeptizismus. Stattdessen ruft er dazu auf, dieser Situation der Ungewissheit mit Mut zu begegnen und diese Zweifel in seinen Glaubensweg iterativ zu integrieren. Diese Beispiele aus der Literatur veranschaulichen also die Form des iterativen Zweifelns. Zusammengefasst stellt er eine Reaktion auf die Situation tatsächlichen Zweifelns dar und bringt zum Ausdruck, dass das iterativ zweifelnde Subjekt sich nicht mit dem Zustand der Unentschiedenheit zufriedengibt, sondern danach strebt, ihn zu überwinden. Darüber hinaus ist iteratives Zweifeln charakterisiert durch eine Offenheit in Bezug auf das Ergebnis der Wahrheitssuche und einen Optimismus in Bezug auf ein entschiedenes Resultat – ansonsten wäre das Auf-sich-Nehmen dieser Anstrengungen nicht vernünftig nachvollziehbar.
372 PhG, S. 61. 373 Vgl. Kapitel 2.2.11.
3.1 Begriffliche Klärungen
99
3 Das dezisionistische Verfahren als fragliche Reaktion auf die Situation des Zweifelns Im vorigen Kapitel ist in den Akt iterativen Zweifelns eingeführt worden, der eine Reaktion auf die Situation des Zweifelns darstellt. Bevor die theologische Legitimität dieser Form untersucht wird, soll im folgenden Kapitel überprüft werden, ob mit einer alternativen Reaktionsweise die Situation des Zweifelns überwindbar wäre. Wie bereits gezeigt wurde, ist die skeptische Methode ein Verfahren, bei dem sich das zunächst zweifelnde Subjekt dazu entscheidet, sich von seinen Zweifeln zu distanzieren. Es betrachtet sie als Grund dafür, sich hinsichtlich der fraglichen Glaubensüberzeugungen zurückzuhalten. Durch diesen Diskursabbruch wird mit dem Glauben gebrochen. Als weitere Möglichkeit wird denjenigen, die sich im Glaubenszweifel befinden, geraten, sich zum Glauben zu entscheiden1. Ob ein derartiges dezisionistisches Verfahren – also ein Verfahren der Entscheidung – realisierbar ist, wird im Folgenden Gegenstand der Untersuchungen sein. Ist eine solche Reaktion auf die Situation des Zweifelns zu seiner Beseitigung nämlich nicht umsetzbar, dann wäre es zumindest schwer zu begründen, warum der Akt iterativen Zweifelns nicht legitim wäre. Insofern gilt es, hier näher das dezisionistische Verfahren in Augenschein zu nehmen und zu prüfen, ob es eine vernünftige Reaktion auf die Situation des Zweifelns darstellen kann. Dafür wird zunächst der Begriff des Dezisionismus zu klären sein. Darüber hinaus wird hier in die These des doxastischen Voluntarismus mit seinen beiden Hauptformen – dem direkten und indirekten doxastischen Voluntarismus – eingeführt. Verschiedene Philosophen, die diese These vertreten, werden auf ihre Überzeugungskraft hin untersucht. Vor diesem Hintergrund soll eine eigene Positionierung im Hinblick auf die Möglichkeit, sich durch das dezisionistische Verfahren zum Glauben zu entscheiden, begründet werden. Dabei werden im Folgenden vor allem William James, Bernard Williams, Carl Ginet, Markus Knappik sowie Thomas von Aquin Beachtung finden.
3.1 Begriffliche Klärungen 3.1.1 Der Begriff des Dezisionismus und die These des doxastischen Voluntarismus Nach Hoffmann wurde der Begriff des Dezisionismus ursprünglich in der deutschen Rechtssprache eingeführt, um aufzuzeigen, dass Rechtsentscheidungen nicht lü1
Wie bereits angemerkt lässt sich diese Empfehlung zur Entscheidung zum Glauben beispielsweise in Anlehnung an Kierkegaard finden. Vgl. hierzu UN II, S. 82 f.
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3 Das dezisionistische Verfahren
ckenlos aus dem vorhandenen Rechtsstoff zu deduzieren sind. Stattdessen enthalte „jede konkrete juristische Entscheidung […] ein Moment inhaltlicher Indifferenz, weil der juristische Schluß nicht bis zum letzten Rest aus seinen Prämissen ableitbar ist. […] Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren.“ 2 Nach Irrgang ist auch außerhalb des juristischen Kontextes unter Dezisionismus eine Position zu verstehen, gemäß der das Kriterium für das Fällen von Urteilen nicht in rationalen Begründungen oder Bewertungen, sondern in willkürlichen Entscheidungen besteht. Insofern können Resultate eines dezisionistischen Vorgehens nicht der rationalen Kritik unterzogen werden. An die Stelle einer Rechtfertigung durch Argumentationen tritt das bloße Verfahren3, das durch die Wahl des Subjekts bestimmt wird. Mit dem doxastischen Voluntarismus wird näherhin die These vertreten, dass wir uns durch willentliche Setzung – also dezisionistisch – dazu entscheiden könnten, etwas zu glauben. Dabei können grundsätzlich zwei Arten von Thesen unterschieden werden, nämlich die des direkten doxastischen Voluntarismus von der des indirekten doxastischen Voluntarismus.4 Mit dem direkten doxastischen Voluntarismus wird behauptet, wir könnten uns in einer Situation der Ungewissheit für oder gegen die Wahrheit einer Proposition p ohne Umwege dazu entscheiden, p zu glauben oder zu negieren.5 Die Zustimmung zu p würde in diesem Fall also nicht aufgrund der überzeugenden Sachlage erfolgen, sondern vielmehr aufgrund einer willentlichen Entscheidung, die ohne ausreichende intersubjektiv überprüfbare Gründe festlegt, dass p und nicht non-p. Mit dem indirekten doxastischen Voluntarismus dagegen wird postuliert, dass wir uns willentlich dazu entscheiden könnten, in eine bestimmte Richtung zu forschen und die Aufmerksamkeit auf ausgewählte Aspekte zu lenken, die eine Zustimmung zu p wahrscheinlicher machen. „Im Unterschied zum DDV [direkten doxastischen Voluntarismus] nimmt der IDV [indirekte doxastische Voluntarismus] nicht die Möglichkeit einer unmittelbaren Wahl hinsichtlich des Glaubens an eine Aussage oder deren Negation an.“6
Mit einer ähnlichen Differenzierung verschiedener Arten des doxastischen Voluntarismus unterscheidet beispielsweise Alston zwischen direct control und long-range-control, wie später7 noch gezeigt wird. Auch, wenn er andere Begriffe bezeichnet, referiert er damit auf dieselben Kategorien, die in der Debatte um den indirekten und direkten doxastischen Voluntarismus diskutiert werden. 2 3 4 5 6 7
Hoffmann, Hasso, Dezisionismus, in: HWPh 2, Darmstadt 1972, 159–161, hier: 159. Vgl. Irrgang, Bernhard, Dezisionismus, in: LThK3 3, Freiburg im Breisgau 2009, 176. Vgl. Schüßler, Rudolf, „Doxastischer Voluntarismus bei Thomas von Aquin: Wille, Intellekt und ihr schwieriges Verhältnis zur Zustimmung“, in: Forschungen zur Theologie und Philosophie des Mittelalters, Bd. 79 (2012), S. 75–107, hier: S. 76. Vgl. ebd. Schüßler 2012, S. 76. Vgl. Kapitel 3.2.4.
3.1 Begriffliche Klärungen
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Vorwegnehmend ist anzumerken, dass Autoren wie Knappik hinsichtlich der Behauptung einer indirekten willentlichen Kontrolle über unsere Überzeugungen einen allgemeinen Konsens behaupten: „So gibt es Handlungen wie z. B. das Sammeln und Prüfen von Evidenz, die zur Folge haben, dass wir bestimmte Überzeugungen bilden. Wir können entscheiden, ob und wann wir solche Handlungen ausführen, welche Ressourcen wir für sie investieren sollen“8 usw. Diese Behauptung wird jedoch näher zu überprüfen sein. Darüber hinaus ist zu klären, ob wir eine derartige Kontrolle haben, „die sich direkt auf unsere Überzeugungen, und zwar genauer deren Bildung bezieht.“9
3.1.2 Zur Verwendung des Begriffs der Wahl im Kontext des doxastischen Voluntarismus Bevor Argumente für und gegen die These, dass wir unsere Glaubensüberzeugungen frei wählen können, untersucht werden, gilt es zu klären, wie der Begriff der Wahl in diesem Kontext zu verstehen ist. Franz Knappik differenziert in diesem Zusammenhang zwischen zwei Begriffen von Wahl, die im dezisionistischen und deliberativen Sinn gebraucht werden können. Unter einer deliberativen Wahl versteht er einen solchen Vorgang, bei dem zwischen dem Vorliegen eines Impulses und der praktischen beziehungsweise kognitiven Reaktion des Subjekts eine Lücke besteht, die Raum für Reflexion lässt. Unter Bezugnahme auf Korsgaard beschreibt er diese Reflexion als „das Gewahrsein der Situation, das Infragestellen eines Impulses, das daraus resultierende Bewusstsein verschiedener Optionen und deren Abwägung.“10 Nicht jede Überzeugungsbildung müsse von derartigen mentalen Prozessen konkret begleitet sein, um von einer deliberativen Wahl sprechen zu können. Dennoch sei es für Rationalität unabdingbar, dass Subjekte prinzipiell dazu in der Lage sind, Überzeugungen infrage zu stellen, für Alternativen offen zu sein oder gezielt nach solchen zu suchen, was sich am konkretesten im Abwägen verschiedener Optionen äußere. Dieser freie Vernunftgebrauch grenzt Subjekte ab von instinktgeleiteten Lebewesen, die nicht über intellektuelle Flexibilität verfügen und rational unfrei sind.11 Von der deliberativen ist die dezisionistische Wahl abzugrenzen. Grob wird darunter gemeinhin die Realisation des Vermögens verstanden, Entscheidungen zu treffen, die nicht eindeutig aus greifbaren Gründen abzuleiten sind. Diese sehr ungenaue Begriffsbeschreibung wird bei Knappik präzisiert, indem er Davidsons Terminus des „all-things-considered-Urteils“ einbezieht, durch das Subjekte einschätzen würden, 8 9 10 11
Knappik 2013, S. 44. Ebd. Knappik 2013, S. 56. Vgl. ebd.
102
3 Das dezisionistische Verfahren
welche Handlungs- oder Überzeugungsoption in einer Situation unter Einbezug aller verfügbaren Gründe richtig sei.12 Eine dezisionistische Wahl sei nach Knappik dadurch gekennzeichnet, dass sich ein Subjekt bei exakt demselben all-things-considered-Urteil auch hätte anders entscheiden können. Dies impliziert, dass eine dezisionistische Wahl durch die verfügbaren Gründe nicht hinreichend gestützt werden kann und als Realisierung der Willkür verstanden werden kann: Sie „kann entweder darin bestehen, gemäß einer rational nicht erlaubten Option zu handeln (wenn man sich gegen eine gebotene Option oder gegen alle erlaubten Optionen entscheidet), oder darin, zwar gemäß einer rational erlaubten Option zu handeln, dadurch aber eine (oder mehrere) andere erlaubte Optionen zu verwerfen. (Der letzte Fall tritt auf, wenn zwei oder mehrere Optionen gleichermaßen zulässig sind und man sich für eine dieser Optionen entscheidet, ohne dass es hierfür weitere Gründe gäbe.)“13
Wenn nun also im Folgenden die These des doxastischen Voluntarismus diskutiert wird, ist der Begriff der Wahl im Sinne des dezisionistischen Verständnisses gemeint.14 Es gilt folglich der Frage nachzugehen, ob wir uns angesichts fehlender überzeugender Gründe für eine bestimmte Glaubensüberzeugung dazu entscheiden könnten, sie für wahr zu halten.
3.2 Untersuchung der Gründe für und gegen die These des doxastischen Voluntarismus 3.2.1 William James: „The Will to Believe“ William James wird bisweilen als ein Vertreter des doxastischen Voluntarismus bezeichnet.15 Dabei wird meist auf seine 1896 gehaltene Ansprache an die philosophischen Vereine der Universitäten Yale und Brown mit dem Titel „The Will to Believe“, die in seiner Essaysammlung als Aufsatz veröffentlicht wurde, Bezug genommen. Für die leitende Fragestellung dieses Kapitels erscheint es vielversprechend, seine darin aufgeführte Argumentation in den Blick zu nehmen, weil er mit ihr „eine Verteidigung unseres Rechts [anstrebt], in religiösen Fragen uns auf den Standpunkt des 12 Vgl. Knappik 2013, S. 56 f. 13 Knappik 2013, S. 57. 14 Eine Zurückweisung der Möglichkeit, sich im Sinne der dezisionistischen Wahl zu einer Glaubensüberzeugung zu entscheiden, lässt widerspruchsfrei zu, dass gleichzeitig eine deliberative Wahl von Glaubensüberzeugungen angenommen werden kann. Deshalb muss eine Ablehnung der These des doxastischen Voluntarismus nicht zwingend mit einer Ablehnung der epistemischen Freiheit von Menschen einhergehen. Dieses Problem diskutiert Knappik in ders. 2013. 15 Vgl. z. B. Hick 1957, S. 52 f. und Kathi Baier, Selbsttäuschung, Berlin 2010, S. 57.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
103
Glaubens zu stellen, auch wenn unser rein logischer Intellekt sich nicht dazu gezwungen sieht“16. Zu dieser Verteidigung nimmt er zunächst einige terminologische Bestimmungen vor, die für seine Ausführungen relevant sind. Darunter fällt erstens die Unterscheidung zwischen lebendigen und toten Hypothesen. Erstere seien solcher Art, dass ihre Darbietung als eine wirkliche Möglichkeit wahrgenommen wird. So rufe die Aufforderung, an Mahdi zu glauben, bei seinen Zuhörern wahrscheinlich keine Assoziationen hervor, die als lebendig erfahren werden. Dagegen ließe ein Araber, dem Mahdi ein Begriff ist, aber der sich nicht zu dessen Anhängern zählt, diese Hypothese als lebendige gelten. Ob eine Hypothese lebendig oder tot ist, ist also nicht als eine der Hypothese inhärierende Eigenschaft zu begreifen, sondern drückt eine Beziehung zum sie erfassenden Individuum aus. Seine Bereitschaft, in Bezug auf diese Hypothese zu handeln, dient als Maßstab zur Bestimmung ihrer Lebendigkeit, wobei das Maximum an Lebendigkeit einer Hypothese dann vorliegt, wenn die Willigkeit besteht, unwiderruflich zu handeln. James konstatiert: „Eigentlich spricht man nur in diesem Falle von ‚Glauben‘; aber eine Tendenz zum Glauben liegt doch überall vor, wo überhaupt eine Willigkeit zum Handeln zu spüren ist.“17 Zweitens unterscheidet James zwischen Optionen verschiedener Arten, die vorliegen könnten, wenn eine Entscheidung zwischen zwei Hypothesen zu fällen ist: „Eine Option kann sein: 1. lebendig oder tot; 2. unumgänglich oder vermeidlich; 3. bedeutungsvoll oder unerheblich“18. Ist eine Option unumgänglich, lebendig und bedeutungsvoll, so wird sie in diesem Aufsatz als eine echte bezeichnet. Die religiöse Hypothese wird zu den echten Optionen gezählt: Zunächst sei sie eine bedeutungsvolle Option, weil sie ausdrückt, dass durch den Glauben an sie ein wichtiges Gut gewonnen wird, das durch die Negation des Glaubens verloren werde. Sie sei unumgänglich, weil nach James’ Verständnis nur durch Zustimmung zum Glauben dieses Gut zu gewinnen sei. Bereits durch die Einnahme einer skeptischen Position werde dieses Gut aufs Spiel gesetzt. Insofern sei es unmöglich, sich dieses Streits zu entziehen. Dass sie auch lebendig sei, ist damit schon gesagt und oben bereits angemerkt worden. Die religiöse Hypothese begegne dem Menschen also als eine echte, zu der er Stellung beziehen müsse. Zur Verteidigung des Rechts, ihr gegenüber durch einen Willensakt eine bejahende Position einzunehmen trotz der Abwesenheit zwingender logischer Beweise für eine Bejahung, untersucht James die Psychologie menschlichen Meinens. Lassen sich Meinungen nach Wunsch verändern? Welche Rolle nimmt der Wille in Bezug auf die Anerkennung einer Wahrheitsbehauptung ein? Bereits in seinem Werk The Principles of Psychology von 1890 schreibt er, dass sich Menschen aufgrund ihres Entschlusses, etwas zu glauben, zusammen mit einer entsprechenden Handlungsweise diesen 16 James 2009, S. 128. 17 James 2009, S. 129. 18 Ebd.
104
3 Das dezisionistische Verfahren
Glauben zu eigen machen könnten, der schließlich so eng mit dem eigenen Habitus und den Emotionen verbunden sei, dass er letztlich real werde: „[W]e need only in cold blood act as if the thing in question were real, and keep acting as if it were real, and it will infallibly end by growing into such a connection with our life that it will become real. It will become so knit with habit and emotion that our interests in it will be those which characterize belief.“19
Der Wille habe dennoch nicht in jeder Hinsicht die Kraft, das denkende Subjekt zum Glauben zu bewegen. Indem er Humes Rede von unmittelbaren und entlegenen Tatsachen und von Beziehungen zwischen Vorstellungen aufgreift, führt er empirisch Vorfindbares als Negativbeispiele an: Allein durch unseren Willen seien wir nämlich nicht dazu in der Lage, zu glauben, dass die zwei Ein-Dollar-Scheine in unserer Tasche zusammengezählt hundert Dollar ergäben.20 Neben diesem Beispiel greift er die Wette aus Pascals Pensées21 auf, um zu zeigen, dass ein durch Willen generierter Glaube auch verächtlich sein könne. Die Art der Argumentation Pascals erwecke den Anschein, als sei die Positionierung zur Wahrheit mit der Entscheidung zu einem Einsatz bei Glücksspielen vergleichbar. Pascal fordere seine Rezipienten dazu auf, abzuwägen, worin Gewinn und Verlust des jeweiligen Einsatzes bestünden, um sich vor diesem Hintergrund für die lukrativere Alternative zu entscheiden. „Wir fühlen, dass der Glaube an Messen und Weihwasser, der vorsätzlich auf Grund einer solchen mechanischen Berechnung angenommen wäre, die innere Seele wirklichen Glaubens entbehren würde“22. James gesteht zu, dass vor diesem Hintergrund die Rede von einem Glauben, der durch den Akt des Willens zustande gekommen ist, sowohl albern, als auch verächtlich sei. Dennoch gebe es Sachverhalte, die wir glaubten, obwohl ihre rationale Rechtfertigung uns nicht vor Augen geführt wurde. Darunter falle beispielsweise der Glaube an Moleküle, an die Erhaltung der Kraft oder auch der Glaube an die Notwendigkeit des Fortschritts. Selten seien diese Einsichten klar begründet. Es sei häufig das Prestige der Ansichten, was den Glauben in uns auslöse. Haben wir keine Verwendung für Theorien, so verweigerten wir den Glauben an sie. So kommt James zu dem Schluss, dass Überzeugungen nicht durch reine Einsicht und Logik, sondern ebenfalls durch die nicht-intellektuelle Natur des Menschen, die Gefühlsstrebungen sowie Willensakte einschließt, beeinflusst würden.23 Die sich daraus für James ergebende These ist also die folgende: „Die Gefühlsseite unseres Wesens darf nicht nur, sondern muß eine Option zwischen verschiedenen Behauptungen entscheiden, wo es sich um eine echte Option handelt, welche ihrer Natur gemäß nicht aus intellektuellen Gründen entschieden werden kann; denn wenn man un19 20 21 22 23
James, William, The Principles of Psychology, Bd. 2, New York 1890, S. 321. Vgl. James 2009, S. 131 f. Pascal, Blaise, Über die Religion und einige andere Gegenstände (Pensées), Berlin 1940. James 2009, S. 133. Vgl. James 2009, S. 136 f.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
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ter solchen Umständen sagt: „Triff gar keine Entscheidung, sondern laß die Frage offen!“, so ist dies selbst eine gefühlsmäßige Entscheidung – ebenso, als wenn man sich für Ja oder Nein entschiede – und mit derselben Gefahr verknüpft, die Wahrheit zu verlieren.“24
In diesem Satz kommt zum Ausdruck, dass bei allen Menschen in gewisser Weise eine absolutistische Art, an die Wahrheit zu glauben, zu finden sei – selbst bei Empiristen, die ihre Methode entgegen ihrer Behauptung tatsächlich dogmatisieren. Weil es jedoch keine objektive Evidenz oder Wahrheit gäbe, obwohl sie Ideal und Ziel forschenden Strebens sei, müsse sich der Mensch hinsichtlich dieses Strebens bei der Wahrheitssuche auf eine der folgenden zwei Anschauungsweisen festlegen: „Wir müssen die Wahrheit erkennen; und wir müssen Irrtümer vermeiden – das sind die ersten und großen Gebote für Leute, die nach Erkenntnis streben“25. Jedoch sei die Aufforderung, sich jeden Glaubens zu enthalten, um Irrtümer zu vermeiden, vergleichbar mit einem an Soldaten gerichteten Befehl, sich von der bevorstehenden Schlacht fernzuhalten, um keine noch so kleine Wunde zu riskieren. James hält die in Kauf zu nehmenden Fehler eines Erkenntnisprozesses für weniger gewichtig als die auf diesem Wege entstehenden Errungenschaften: „In einer Welt, wo wir ihnen [den Irrtümern] trotz aller Vorsicht doch einmal nicht aus dem Wege gehen können, erscheint ein gewisses Maß sorglosen Leichtsinns gesunder als diese übertriebene nervöse Angst.“26 Die Meinungen, die trotz der Gefahr von Irrtümern gebildet werden, seien nicht nur unvermeidlich durch das menschliche Gefühlsleben beeinflusst, sondern letzteres sei auch als berechtigter Entscheidungsgrund menschlicher Positionierungen zu akzeptieren – nämlich da, wo Menschen mit unumgänglichen Optionen konfrontiert werden, sodass sie aufgefordert sind, sich trotz mangelnder Beweise zu entscheiden. Dies sei etwa der Fall, wenn sich Fragen der Moral stellten, deren Lösung nicht auf sinnfällige Beweise warten kann. Selbst diejenigen Wissenschaftler, die den Ausschluss ihrer Emotionen bei der Forschung für notwendig halten, folgten nach James ihren Herzen, wenn sie wiederholte Prüfungen zur Berichtigung falscher Ansichten als die höchsten Güter der Menschheit bezeichnen. Gerade die religiöse Hypothese enthalte eine unumgängliche, lebendige und bedeutungsvolle Option, deren Entscheidung nicht durch das Warten auf objektive Evidenzen vertagt werden könne. Der Aufruf zum Skeptizismus aus Furcht vor einem Irrtum könne selbst einen Irrtum darstellen. Deshalb sei es fraglich, wieso eine Täuschung durch Hoffnung auf Wahrheit schlimmer sei als Täuschung durch Furcht. Demgegenüber hätten wir Menschen das Recht, „auf unser eigenes Risiko hin an jede Hypothese zu glauben, welche lebendig genug ist, unseren Willen zu erregen.“27 Wie Diaz-Bone/Schubert festhalten, sei es gerade ihre Nicht-Evidenz, die die Opti24 25 26 27
James 2009, S. 138. James 2009, S. 144. James 2009, S. 146. James 2009, S. 156.
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on einer lebendigen Hypothese zur Willensfrage mache.28 Gerade in einer solchen Situation der Abwesenheit von Evidenz ist es jedoch fragwürdig, zu behaupten, dass jeder seinem Gefühl gemäß dasjenige glauben soll, was seinen Willen erregt – nicht nur der Vorwurf des Wunschdenkens29 liegt hier nahe, sondern auch die Gefahr, damit falsche Glaubensüberzeugungen nach Belieben anzunehmen. James vertritt jedoch die Ansicht, dass jeder nach seinem Ermessen handeln müsse, weil eben niemand die Irrtumsfreiheit seiner Überzeugungen gegen allen vernünftigen Zweifel sicherstellen könne – die Gefühlsseite dürfe dabei nicht ausgeschlossen werden. Obwohl er häufig als doxastischer Voluntarist ins Feld geführt wird30, geht aus der Ansprache „The Will to Believe“ von James nicht hervor, ob er tatsächlich die These des doxastischen Voluntarismus vertritt. Zwar ist dies dem oben genannten Zitat aus „The Principles of Psychology“ und seiner Rechtfertigung der Entscheidung zum Glauben einer unumgänglichen, lebendigen und bedeutungsvollen Option angesichts fehlender Evidenzen zu entnehmen. Die soeben präsentierte Ansprache jedoch scheint eher eine andere These zu rechtfertigen: James beschreibt nämlich keine Situation völliger Unentschiedenheit, aus der heraus eine Entscheidung zu glauben als eine legitime verteidigt wird. Es geht ihm stattdessen um eine solche Situation, in der sich das denkende Subjekt trotz mangelnder Evidenz und letztgültiger rationaler Begründbarkeit dazu entscheidet, seinem bereits vorhandenen Glauben, zuzustimmen. Genau genommen entscheidet sich das von James gerechtfertigte Subjekt in „The Will to Believe“ nicht dazu, die epistemische Einstellung des Glaubens zur religiösen Hypothese erst einzunehmen. Wie aus seinem Werk „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“31 hervorgeht, ist eine solche Entscheidung zum Glauben durch einen Willensakt selbst nach James zumindest nicht allen Menschen möglich: „Manche Menschen haben z. B. noch nie eine Bekehrung erlebt und möglicherweise lassen sie sich gar nicht bekehren. […] Solche Glaubensunfähigkeit kann in einigen Fällen intellektuelle Gründe haben. Die natürliche Entwicklungsfähigkeit der religiösen Neigungen kann durch hemmende weltanschauliche Überzeugungen gelähmt werden, z. B. durch pessimistische und materialistische Überzeugungen. […] In manchen Menschen werden solche Hemmungen niemals überwunden. Sie verweigern den Glauben bis zum Ende ihrer Tage […].“32
Diesen Menschen, die nicht bekehrbar sind und sich offenbar demnach auch nicht durch einen Willensakt zum Glauben entscheiden können, schreibt James zu, dass sie „auf der religiösen Seite keine Empfindungen haben“33. Hieran wird deutlich, 28 29 30 31
Vgl. Diaz-Bone, Rainer/Schubert, Klaus, William James zur Einführung, Hamburg 1996, S. 114. Vgl. Hick 1957, S. 57. Vgl. Hick 1957, S. 52 f. und Kathi Baier 2010, S. 57. James, William, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, aus dem Amerikanischen von Eilert Herms und Christian Stahlhut. Mit einem Vorwort von Peter Sloterdijk, Frankfurt am Main 1997. 32 James 1997, S. 222 f. 33 James 1997, S. 223.
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welche entscheidende Rolle für James das religiöse Empfinden spielt, ohne das nach seinem Verständnis auch ein Willensakt etwas ausrichten kann. Der Wille zum Glauben ist demnach nicht als ein solcher zu begreifen, der den Glauben selbst hervorbringt, sondern als ein Wille, der dem Gefühl beziehungsweise der Neigung, durch die sich der Mensch zur Bejahung der religiösen Hypothese hingezogen fühlt, zustimmen will: „‚Der Wille zum Glauben‘ darf nicht überspannt werden. Wir können Vertrauen entwickeln gegenüber einer Überzeugung, die wir in Ansätzen schon haben, aber wir können keine Überzeugung aus dem Boden stampfen, wenn unsere Wahrnehmung uns das genaue Gegenteil versichert.“34
Eine gewisse Tendenz zu glauben muss also selbst nach James schon vorhanden sein, damit das Subjekt durch einen Willensakt auch gegen rationale oder empirische Evidenz glauben kann. Obwohl James selbst sagt, dass Intellekt und Gefühl nicht getrennt voneinander sein können35, verteidigt er also eine Entscheidung, die rationale Bedenken und Zweifel ausschließt und sich ganz dem Glauben des Gefühls hingibt. Die Möglichkeit eines derartigen Aktes setzt er lediglich voraus, wie aus der oben zitierten Stelle aus „The Principles of Psychology“ hervorgeht. An dieser Argumentation ist jedoch selbstwidersprüchlich, dass James einerseits den untrennbaren Zusammenhang von Gefühl und Intellekt betont, weshalb also die Seite des Gefühls in Glaubensfragen nicht ausgeschlossen werden dürfe. Immerhin kritisiert er die Wissenschaften, in denen der Ausschluss der Gefühlsseite geboten ist. Zweifel auf intellektueller Ebene dürften dabei jedoch scheinbar übergangen werden. Eine Erklärung dafür, dass erstens trotz der Einheit von Intellekt und Gefühl jetzt also eine Seite ausgeschlossen werden dürfe und zweitens dabei offenbar ein Primat des Gefühls zu bestehen scheint, bleibt James seinen Rezipienten schuldig. In Bezug auf die Klärung der leitenden Frage, ob es möglich ist, dass sich der Mensch dazu entscheidet, etwas zu glauben, ist „The Will to Believe“ von James also nicht hilfreich. Dagegen argumentiert er seinem eigenen Anspruch nach ausschließlich für die „Berechtigung für den Glauben qua Entschluß“36, womit er diese Möglichkeit immerhin voraussetzt. Insofern kann James dazu dienen, eine Position zu exemplifizieren, gemäß der angenommen wird, dass wir unseren Zweifeln mit einer Entscheidung zum Glauben begegnen könnten. Was jedoch nicht missverstanden werden darf, ist, dass es sich in seinen beschriebenen Fällen nicht um eine Situation des Zweifelns handelt, aus der sich das Subjekt durch eine willentliche Entscheidung in die Entschiedenheit befreien könnte, sondern um eine Situation, in der es trotz rationaler Zweifel dazu geneigt ist, etwas zu glauben. Sich vor diesem Hintergrund dazu zu entscheiden, seinem Gefühl der An34 James 1997, S. 229. 35 Vgl. James 1997, S. 154. 36 Diaz-Bone/Schubert 1996, S. 117.
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ziehung oder seiner Neigung zu einer bestimmten Glaubensüberzeugung nachzugeben, ist konzeptuell eine völlig andere Situation als die einer tatsächlicher Unentschiedenheit beziehungsweise als die eines tatsächlichen Zweifelns. Darüber hinaus wäre es fragwürdig, warum es richtig sein sollte, im Falle einer Unentschiedenheit unserer Neigung nachzugeben, wenn nicht zumindest rationale Gründe diese Neigung rechtfertigen können. Andernfalls wäre James vorzuwerfen, dass er damit wie bereits angemerkt Wunschdenken unterstützen würde und Aberglauben beziehungsweise ein falscher Glaube ebenfalls angenommen werden sollte, sofern er nur unseren Willen anregen würde oder wir durch unsere Gefühle zu ihm hingezogen wären, wie er schreibt. Interpretiert man James dagegen so, dass sich ein Subjekt in einer Pattsituation von Wahrheitsansprüchen, die beide zwar rational nachvollziehbar sind, aber dennoch keiner von beiden überzeugender ist, auf einen der beiden einlässt, weil er ihm zumindest glaubwürdiger erscheint, wäre seine These weniger kritisch hinsichtlich eines Anspruchs auf rationale Rechtfertigung. Auch, wenn die Auseinandersetzung mit James gut in die Problematik dieses Kapitels einführt, hilft sie in der vorliegenden Fragestellung dennoch nicht weiter: Es ist nicht klar, ob James lediglich eine Situation vor Augen hat, in der das Subjekt trotz einer nicht vollständig zu verifizierenden Sachlage dennoch dem Gefühl beziehungsweise der Neigung nach einer von beiden Wahrheitsbehauptungen zustimmen würde. Was aber, wenn das Subjekt eine solche starke Neigung nicht verspürt und tatsächlich unentschieden ist, also tatsächlich zweifelt? Folgt man James’ Ausführungen, müsste sich das zweifelnde Subjekt zu einer Glaubensüberzeugung entscheiden – bestenfalls für die des religiösen Glaubens, weil es sonst riskieren würde, „die Wahrheit zu verlieren.“37 Dass eine solche Entscheidung zum Glauben möglich ist, scheint er insofern vorauszusetzen. Ob es überzeugende Gründe für eine derartige Annahme geben kann, soll im Weiteren geklärt werden.
3.2.2 Bernard Williams: „Kann man sich dazu entscheiden, zu glauben?“ In seinem Buch Probleme des Selbst behandelt Bernard Williams die Frage „Kann man sich dazu entscheiden, zu glauben?“ im gleichnamigen Kapitel38. Dabei bezieht er sich nicht auf Fälle religiösen und moralischen Glaubens, sondern auf das Phänomen faktischen Glaubens. Als Beispiel dafür führt er die Glaubensüberzeugung an, dass es sich bei der vor einem liegenden Substanz um Salz handele, oder für kompliziertere Fälle den Glauben eines Vaters daran, dass der eigene Sohn bei einem Unfall nicht ums Leben gekommen sei. Was Williams dabei interessiert, ist der Akt des Glaubens als psychologischer Zustand beziehungsweise die Art und Weise, wie et-
37 James 2009, S. 138. 38 Vgl. Williams 1978, S. 217–241.
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was geglaubt wird. Deshalb bestimmt er zunächst den Glauben näher, bevor er sich der Frage zuwendet, ob man sich zu solch einem Glauben entscheiden könne. In Bezug auf den Glauben fasst er fünf Merkmale zusammen. Das erste Merkmal beinhaltet die Gerichtetheit des Glaubens auf Wahrheit, das er wiederum in drei Unterpunkten näher erläutert. Zunächst handele es sich beim Begriffspaar Wahrheit und Falschheit um eine Dimension der Bewertung des Glaubens, wodurch sich Glauben von vielen anderen psychologischen Dispositionen abgrenze. Gewohnheiten oder Neigungen werden z. B. nicht hinsichtlich ihrer Wahrheit oder Falschheit bewertet, wogegen der Inhalt des Glaubens immer als wahr oder falsch beurteilt werden kann. Sobald jemand erkennt, dass sein Glaube falsch sei, gebe er ihn folglich auf. Darüber hinaus begreift Bernard Williams Glauben als eine starke epistemische Einstellung, die kein vages Glauben im Sinne von „vermuten“ bezeichnet, sondern eine hohe Gewissheitsstufe im Sinne von „überzeugt sein“ impliziert.39 Das bedeutet konkret: „glauben, daß p, heißt glauben, daß p wahr ist.“40 Schließlich führt Williams an, dass die Aussage „Ich glaube, dass p“ die allgemeine Behauptung, dass p wahr ist, ausdrücke. Die Aussageabsicht dieser zunächst trivial klingenden Anmerkung wird deutlich, wenn man sich eine ähnliche Aussage in dritter Person vor Augen führt. Während die Aussage „x glaubt, dass p, aber p ist falsch“ nicht selbstwidersprüchlich ist, führt die Behauptung in erster Person „Ich glaube, dass p, aber p ist falsch“ zu einem Paradox, weil damit beides zugleich behauptet wird. Daraus folgt, dass wann immer der Glaube, dass p in erster Person ausgesagt wird, gleichzeitig die Wahrheit von p behauptet wird. Nach dem zweiten Merkmal des Glaubens ist er „am direktesten, einfachsten und elementarsten durch Behauptungen zum Ausdruck“41 zu bringen. Für wichtig hält Williams, dass die Behauptung, dass p noch unmittelbarer ist als die Behauptung „Ich glaube, dass p“. So diene etwa die Aussage „Ich glaube, dass es regnet“ einem bestimmten Zweck: Sie könnte die Funktion erfüllen, die Behauptung beziehungsweise Vermutung, dass es regnet, relativierend zum Ausdruck zu bringen. Der Satz „Es regnet“ dagegen sei also die unmittelbarste Ausdrucksweise des Glaubens, dass es regnet. Obwohl sich Glaube am elementarsten in Behauptungen ausdrücken lässt, ist eine Behauptung, dass p, weder eine notwendige, noch eine hinreichende Bedingung für den Glauben eines Subjekts, dass p – worin das dritte Merkmal des Glaubens nach James bestehe. Eine notwendige Bedingung sei es deshalb nicht, weil man glauben könne, dass p, ohne es kundzutun. Für besonders wichtig hält Williams dieses Merkmal des fehlenden zwingenden Zusammenhangs zwischen Behauptung und Glauben, weil daraus andersrum gefolgert werden könne, „daß jemand behaupten 39 Vgl. zur epistemischen Einstellung des Glaubens Müller, Klaus, Glauben – Fragen – Denken, Münster 2008, S. 28. 40 Williams 1978, S. 218. 41 Williams 1978, S. 219.
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kann, daß p, und dabei herbeizuführen versucht, daß andere glauben, daß p, und denken, er glaube, daß p, obgleich er es in Wirklichkeit nicht glaubt; d. h. Behauptungen können unaufrichtig sein.“ Insofern kann „glauben“ auch nicht mit „annehmen“ oder „akzeptieren“ gleichgesetzt werden, wenn unter letzteren beiden Begriffen Handlungen verstanden werden, die offen ausführbar sind. Wer beispielsweise die Frage „Akzeptierst Du, dass p wahr ist?“ bejaht, akzeptiere sie im Sprechakt-Sinn. Diese ausgesagte Akzeptanz sei jedoch keine hinreichende Bedingung für Glauben, weil sie unaufrichtig gewesen sein könnte. Somit befinde sich die epistemische Einstellung des Glaubens nicht auf der Ebene des öffentlich aussagbaren Akzeptierens, sondern der Glaube sei es, der diese Akzeptanz aufrichtig macht. Gegen Williams könnte man ins Feld führen, dass auch der Akt des Akzeptierens – ähnlich wie die Einstellung des Glaubens – selbst auf zwei Ebenen betrachtet werden kann: Nicht der Glaube macht die ausgesprochene Akzeptanz dann zu einer aufrichtigen, sondern die tatsächlich vollzogene Akzeptanz selbst, die im Sprechakt zum Ausdruck kommt oder eben nicht. Dennoch ist mit dem Beispiel von Williams deutlich geworden, dass er mit diesem zeigen will, dass Aussagen, die nach außen hin einen scheinbaren Glauben ausdrücken, nicht zwingend den tatsächlichen ausdrücken, weil Glaube „als innerer Zustand“42 erscheine. Mit dem vierten Merkmal des Glaubens adressiert Williams die Kausalität des Glaubens und führt an, dass faktenbezogener Glaube durch Belege untermauert werden könne. In ihrer schwächsten Bedeutung meint diese Aussage, dass der Gehalt eines Glaubens durch Gründe gestützt werden kann. Wenn der Glaube von A, dass p, auf Belegen beruht, impliziert dies erstens, dass A p glaubt und dafür eintreten kann und zweitens, dass A deshalb p glaubt, weil A über Gründe für p verfügt. Daraus kann gefolgert werden, dass A unter den gleichen Rahmenbedingungen nicht mehr glauben würde, dass p, wenn A die Belege für p nicht mehr für glaubhaft hielte. Für A hinge der Glaube, dass p, davon ab, dass S die Belegaussagen für p glaubt. Anders gesagt: „‚A glaubt, daß p, weil er glaubt, daß q‘, und solche Aussagen treffen sehr häufig auf die meisten von uns zu.“43 Dennoch beruhe nicht jeder Glaube auf Belegen oder anderen Überzeugungen, die man vertritt, wie es z. B. beim Wahrnehmungsglauben der Fall ist – andernfalls könnte man nie aufhören, nach Gründen zu suchen beziehungsweise nie anfangen, eine Überzeugung zu bilden. Das fünfte Merkmal, das Williams dem Glauben zuspricht, beinhaltet, „daß Glauben in vieler Hinsicht ein Begriff zur Erklärung ist.“44 Gegenstand der Erklärung könne z. B. das Handeln einer Person sein, das dadurch verständlich gemacht wird, dass eine Person im Zusammenhang mit der Handlung sagt, was sie glaubt. Damit eine solche Erklärung des Handelns durch den Glauben gelingt, muss noch eine Vermutung darüber, was diese Person vorhat, hinzukommen. „Das Trio: Vorhaben, Glau42 Williams 1978, S. 224. 43 Williams 1978, S. 225. 44 Williams 1978, S. 229.
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ben und Handeln, gehört zusammen.“45 Sobald man zwei dieser drei Aspekte benennen kann, sei es nach Williams möglich, auf das dritte zu schließen. Als Beispiel führt er eine Situation an, in der jemand zu beobachten ist, der entschlossen und schweren Schrittes eine Brücke betritt, unter der Wasser hindurchfließt. Relativ zu dem Vorhaben, dass diese Person nicht ertrinken will, schreibt man ihr den Glauben zu, dass die Brücke sicher sei. Hätte diese Person dagegen das Vorhaben, sich dort in den Fluss zu stürzen, müsse man ihr nicht unbedingt den Glauben an die Sicherheit der Brücke zuschreiben. Insofern fasst Williams zusammen, dass das Trio aus Vorhaben, Glauben und Handeln unsere Erklärungen bezüglich einer Handlung bestimmt. Nach der Verdeutlichung des Glaubensbegriffes durch die Ausarbeitung der fünf Merkmale geht er schließlich auf die das vorliegende Kapitel leitende Frage ein, ob es möglich sei, sich dazu zu entscheiden, etwas zu glauben. Die Verbindung zwischen Glauben und Entscheiden fasst Williams dergestalt, dass man entscheiden könne, was man sagt und tut – und damit auch, ob man sagt, was man glaubt. Eine Entscheidung zum Glauben selbst dagegen sei nicht möglich.46 Erstens – und das ist das überzeugendste Argument – sei es aus begrifflichen Gründen nämlich unmöglich, willentlich kontrollierte Überzeugungen zu bilden. Der Grund dafür sei die Eigenschaft des Glaubens, intrinsisch auf Wahrheit gerichtet zu sein. Die Möglichkeit, einen Glauben nach Belieben anzunehmen, würde implizieren, dass man ihn ohne Rücksicht auf die Wahrheit des Glaubensgehaltes annehmen könnte. Zudem wüsste man darum, dass man ihn ungeachtet dessen, ob er wahr ist oder nicht, angenommen hätte. „Könnte man bei vollem Bewußtsein wollen, einen Glauben ohne Rücksicht auf seine Wahrheit anzunehmen, so ist nicht klar, wie man ihn sich vor diesem Ereignis auch nur als Glauben vorstellen könnte, d. h. als etwas, das die Wirklichkeit darstellen soll.“47 Zweitens leitet er die Unmöglichkeit einer willentlichen Kontrolle des Glaubens von seinen Überlegungen über Wahrnehmungsglauben ab, mit dem er die Gerichtetheit des Glaubens auf Wahrheit illustriert. Zum empirischen Glauben, dass p, gelange man nämlich deshalb, weil es sich so verhalte, dass p. Es liegt also die Vorstellung eines notwendigen abbildenden Zusammenhangs zwischen der affizierten Umwelt einer Person, ihren Wahrnehmungen und dem Glauben, der aus dieser Verbindung entsteht. Jemand glaubt also, dass p, weil p und damit liegt unserem Verständnis empirischen Glaubens wiederum eine Gerichtetheit auf die Wirklichkeit zugrunde. Ein Glaube, zu dem sich ein Subjekt entschieden hat, weise dagegen nicht dieses Merkmal der für Wahrnehmungsglauben typischen Verbindung zwischen der Wirklichkeit und dem Glauben auf. Diese Verbindung sei jedoch nicht nur für Glauben typisch, sondern auch seine notwendige Bedingung.48 45 46 47 48
Ebd. Vgl. Williams 1978, S. 234. Williams 1978, S. 236. Ebd.
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Die Möglichkeit indirekter willentlicher Kontrolle des Glaubens „auf Umwegen“49 gesteht Williams dagegen zu. So gebe es kausale Faktoren des Glaubens, die nichts mit Wahrheit zu tun haben, wie z. B. Drogen oder Hypnose, die den Glauben, dass p, beeinflussen könnten. Das Vorhaben, einen Glauben auf diese Art oder generell bewusst herbeiführen zu wollen, stellt Williams in Frage, wobei er zwischen zwei Bedeutungen davon, etwas glauben zu wollen, unterscheidet: Erstens nennt er das Glaubenwollen mit wahrheitsgerichteten Motiven, zweitens dasjenige mit nichtwahrheitsgerichteten Motiven. In Fällen erster Art liegt ein sehr starker Wunsch vor, p zu glauben, weil man sich wünscht, dass p wahr ist. Vorstellbar wäre ein Vater, der aufgrund von Indizien den Verdacht hat, dass sein Sohn bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Sein Wunsch danach, dass der Sohn noch am Leben sei, ist sehr groß. Die Empfehlung, dass der Vater zum Hypnotiseur gehen solle, um den Glauben an das Überleben des Sohnes herbeizuführen, wäre nicht hilfreich: Der Vater will nicht etwa um des Glaubens willen glauben, dass sein Sohn lebt. „[E]r möchte, daß sein Sohn am Leben ist – im Grunde möchte er, daß sein Glaube wahr ist.“50 Das bezeichnet Williams als wahrheitsgerichtetes Motiv. Mit diesem Motiv sei es nicht denkbar, dass sich jemand bewusst auf das Vorhaben einlässt, seinen Glauben willentlich kontrollieren zu lassen, weil dadurch nicht die Wirklichkeit beeinflusst wird, auf die sich der Wunsch eigentlich richtet. Der Vater könnte jedoch auch ein nichtwahrheitsgerichtetes Motiv in Bezug auf die willentliche Kontrolle seines Glaubens haben, das z. B. vorläge, wenn der Vater erstens um den Tod seines Sohnes wüsste, wenn ihm zweitens bewusst wäre, dass er diese Tatsache nicht ändern kann, er es aber drittens für entscheidend hielte, dass er dennoch am Überleben des Sohnes festhalten könnte, weil der Gedanke an seinen Tod unerträglich sei. Zur weiteren Illustration führt Williams jemanden an, der etwas glauben möchte, weil es „modern oder bequem oder den Anforderungen gesellschaftlicher Konformität angepaßt ist, [etwas] zu glauben, ohne daß er sich den Teufel darum schert, ob es wahr ist.“51 In solchen Fällen mit nichtwahrheitsgerichteten Motiven wäre die Absicht einer willentlichen Kontrolle des Glaubens weniger inkohärent als in Fällen mit wahrheitsgerichteten Motiven, aber dennoch nicht weniger irrational. Williams begründet das auf zweierlei Weise. Zum Ersten wirft er die Frage auf, ob nicht der Wunsch danach, etwas zu glauben, grundsätzlich verschieden ist vom gewöhnlichen Wunsch danach, etwas Unangenehmes zu vergessen oder zu verdrängen. Er bejaht diese Frage sowohl in psychologischer als auch in moralischer Hinsicht mit Verweis auf die Asymmetrie zwischen beiden Ansätzen: Er gesteht zu, „daß zwar alles, was man glaubt, im Idealfall wahr sein sollte, während nicht jede Wahrheit im Idealfall etwas sein sollte, das man glaubt. Glauben zielt auf Wahrheit
49 Williams 1978, S. 237. 50 Williams 1978, S. 238. 51 Williams 1978, S. 239.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
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ab, doch Wissen ist nicht ebenso auf Vollständigkeit gerichtet.“52 Wer also etwas verdrängt, besitzt demnach kein vollständiges Wissen beziehungsweise keine vollständige Erinnerung, was moralisch und psychologisch unbedenklich sei. Mit der epistemischen Einstellung des Wissens werde nämlich nicht beansprucht, über alle möglichen Sachverhalte wie eine Universalgelehrte im Bilde zu sein. Dagegen sei es verwerflich, seinen Glauben mit einem nichtwahrheitsgerichteten Motiv verändern zu wollen, weil Glaube eben den Anspruch auf Wahrheit erhebe. Zum Zweiten wendet Williams gegen einen solchen Versuch zu glauben ein, dass damit unendlich vieles niedergerissen werden müsste, weil sonst etliche andere Annahmen, die mit dem unerwünschten Glauben zusammenhängen, denselben wieder hervorrufen könnten. Es müsste also ein ganzes Überzeugungsnetz umstrukturiert werden, wobei nicht nur Beweise und Hinweise selbst, sondern auch das Bewusstsein dieser Hinweise zerstört werden müsste. Bei einer solchen Selbsttäuschung müsste dem sich selbst Täuschenden jedoch bewusst sein, was in Wirklichkeit wahr ist, weil er ansonsten nicht widerstreitenden Hinweisen ausweichen könnte. Ob ein solches Unterfangen überhaupt möglich ist, gehört in das Problemfeld der Selbsttäuschung, das hier nicht bearbeitet werden kann.53 Williams ist jedoch zuzustimmen, dass zumindest das „ungeschminkte Vorhaben der gewollten Herbeiführung eines Glaubens“54 mit nichtwahrheitsgerichtetem Motiv nicht nachvollziehbar ist, wenn Glaube auf Wahrheit gerichtet ist. Im Anschluss an die Überlegungen von Williams ist zu untersuchen, inwiefern seine Überlegungen zum Glauben und zur Möglichkeit seiner willentlichen Kontrolle auf den religiösen Glauben übertragbar sind. Die Merkmale, die er empirischem Glauben zuspricht, treffen zunächst einmal auch auf religiösen Glauben zu – mit der Einschränkung, dass religiöser Glaube nicht entsprechend des vierten Merkmals vollständig wie faktenbezogener Glaube durch evidente Belege untermauert werden kann. Das Faktum der Auferstehung Jesu etwa kann nicht empirisch überprüft werden. Dennoch gilt auch für religiösen Glauben in Analogie zum vierten Merkmal des empirischen Glaubens, dass er durch Gründe belegt werden kann und muss, die zumindest rational nachvollziehbar, wenn auch nicht beweisbar sind. Sie können sich beispielsweise auf Zeugenschaft oder vernünftige Operationen beziehen – in jedem Fall ist er durch Überzeugungen gestützt. Die anderen Merkmale, z. B. dasjenige der Gerichtetheit des Glaubens auf Wahrheit, treffen ebenso auf religiösen Glauben zu. Ein Einwand, dass es sich bei religiösem Glauben anders verhalten müsste, wäre nicht nachvollziehbar, wenn die Auffassung geteilt wird, dass religiöser Glaube eine kognitive Dimension beinhaltet und auf rational nachvollziehbare Inhalte gerichtet ist. Der Gegenstandsbereich der Glaubensüberzeugungen wäre somit auf einen bestimmten Bereich festgelegt, aber hinsichtlich seiner kogni52 Williams 1978, S. 240. 53 Vgl. hierzu vertiefend Baier 2010. 54 Williams 1978, S. 241.
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tiven Struktur ist religiöser Glaube nicht von anderem Glauben epistemischer Art abzugrenzen. Insofern lassen sich die Überlegungen von Williams bezüglich der Möglichkeit willentlicher Kontrolle des Glaubens auf religiösen Glauben übertragen. Sein überzeugendster Einwand gegen die Behauptung der Möglichkeit einer willentlichen Kontrolle des Glaubens besteht im Hinweis auf den begrifflichen Widerspruch, den Vertreter der These des doxastischen Voluntarismus eingehen: Weil Glaube auf Wirklichkeit gerichtet ist, die sich jedoch nicht nach Wunsch verändern lässt, ist die Annahme einer Veränderung des Glaubens auf Wunsch hin nicht denkbar. Die direkte willentliche Kontrolle von Überzeugungen ist somit nach Williams nicht möglich. Eine indirekte Beeinflussung gesteht er dagegen z. B. durch Drogen oder Hypnose zu, hält sie jedoch aus den dargestellten Gründen für normativ fragwürdig.
3.2.3 Carl Ginet: „Deciding to Believe“ Für die These des doxastischen Voluntarismus argumentiert Carl Ginet in seinem Aufsatz „Deciding to Believe“55. Dabei greift er einerseits Fallbeispiele sowie Gedankenexperimente auf und versucht andererseits durch eine Charakterisierung seines Verständnisses von Glauben seine Annahme zu verteidigen. Schließlich setzt er sich dazu mit Bernard Williams auseinander, der bereits Gegenstand des vorigen Abschnitts war. Ginet leitet seinen Aufsatz mit Überlegungen zu alltagssprachlichen Wendungen ein, mit denen wir unserem Gegenüber vorwerfen, es glaube ungerechtfertigterweise, dass p. „Du hättest nicht glauben sollen, dass er gelangweilt war, nur weil er auf seine Uhr geschaut hat!“, ist eines seiner Beispiele. Mit solchen Aussagen setzten wir nach Ginet voraus, dass eine Person unter diesen Umständen auch zu einer anderen Überzeugung hätte kommen können – und zwar, indem sie sich dazu entschieden hätte, etwas anderes zu glauben. Gegen Bestreiter der These des doxastischen Voluntarismus möchte Ginet dafür argumentieren, dass es erstens möglich sei, sich zu einem Glauben zu entscheiden und dass wir dies zweitens bisweilen täten. Den Ausgangspunkt seiner Argumentation bilden Beispiele von Fällen, in denen sich jemand vorgeblich dazu entscheidet, etwas zu glauben. Repräsentativ ist dafür das folgende: „We have started on a trip by car, and 50 miles from home my wife asks me if I locked the front door. I seem to remember that I did, but I don’t have a clear, detailed confident memory impression of locking that door (and I am aware that my unclear, unconfident memory impressions have sometimes been mistaken). But, given the great inconvenience of turning back to make sure and the undesirability of worrying about it while continuing on, I decide to continue on and believe that I did lock it.“56 55 Ginet 2001, S. 63–76. 56 Ginet 2001, S. 64.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
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In dieser Situation entscheidet sich ein Subjekt S aus praktischen Gründen trotz seiner mangelhaften epistemischen Begründung nach Ginet dazu, eine bestimmte Proposition p zu affirmieren. Dies werde nicht nur durch das Handeln von S ersichtlich, sondern auch durch diese Handlung vollzogen: „S did this [i. e. decided to believe] in deciding to act, or not to act, in a certain way.“57 Die Entscheidung, etwas, z. B. p zu glauben, wird demnach mit der Entscheidung, so zu handeln, als sei p wahr, gleichgesetzt. Deutlicher wird das bei der Betrachtung weiterer Beispielsätze aus seinem Aufsatz: „In deciding to continue on down the road without worrying about it, I decided to believe that I’d locked the door“58. Die Beschreibung „In deciding to A, S decided to believe that p“59 drücke somit nach Ginet eine Entscheidung zum Glauben auf dem Umweg der Entscheidung, einem Glauben gemäß zu handeln, aus. Das Subjekt entscheidet sich dazu, etwas zu glauben, indem es sich dazu entscheidet, dem angestrebten Glauben gemäß zu handeln. Glaube hinge dann von einer gewählten Handlung ab. Was Ginet unter Glauben versteht, wird zunächst dadurch charakterisiert, dass das glaubende Subjekt auf das Geglaubte zählt: „S staked something“60. Darauf zu setzen, dass p, sei allein noch kein Kriterium für den Glauben, dass p, was er anhand eines Beispiels illustriert: „When I bet on a coin-flip landing heads, I stake something on the coin’s landing heads; and in doing this, though I may hope that it will land heads, I need not believe that it will. What more would I need to do to believe this? I would, I think, need to count on its being the case that the coin will land heads.“61
Um von Glauben, dass p, sprechen zu können, ist über das Auf-etwas-Setzen hinaus somit auch notwendig, dass das Subjekt auch darauf zählt beziehungsweise sich darauf verlässt (count on), dass p. Somit ist glauben von hoffen abzugrenzen. Count on grenze sich von stake something also insbesondere dadurch ab, dass dabei eine Haltung gegenüber der Möglichkeit, dass p sich als falsch herausstellen könnte, eingenommen werde, die ebendiese Möglichkeit geringschätzig abtut: „To count on p is to stake something on p with this sort of dismissive or unconcerned or unready attitude toward the possibility of not-p.“62 Wer sich darauf verlässt, dass p, bereitet sich also nicht darauf vor, dass non-p. Bezogen auf das Beispiel mit dem Fahrer, dessen Frau ihn fragt, ob er die Haustür geschlossen habe, würde dies bedeuten, dass er nicht nur weiterfahren und mit der Möglichkeit rechnen würde, dass die Tür noch nicht geschlossen sei, sondern dass er fest damit rechnet, dass er sie geschlossen hat und die Möglichkeit, dass er falsch liegt, ausschließt. Darüber hinaus sei count on 57 58 59 60 61 62
Ginet 2001, S. 65. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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3 Das dezisionistische Verfahren
dadurch gekennzeichnet, dass sich beim Subjekt, das sich auf etwas verlässt, eine Überraschung einstellen würde, wenn das Gegenteil dessen einträte, auf das es sich verlassen hätte.63 Nach diesem Verständnis von count on könne man sich nach Ginet nicht nur dazu entscheiden, sich auf etwas zu verlassen, sondern damit auch, etwas zu glauben. Neben Situationen, in denen ohne eine vorangehende Entscheidung geglaubt wird – z. B. aufgrund von Sinneswahrnehmungen oder Erinnerungen – gebe es nämlich solche Fälle, in denen sich uns keine Überzeugung direkt aufdränge und so Möglichkeit zur Entscheidung zu einem Glauben ließe.64 Realisiert werde eine solche Entscheidung zu glauben auf dem Weg der Entscheidung zu einer Handlung in folgendem Sinne: Bei der Entscheidung zu einer Handlung X handelt es sich dann und nur dann um eine Entscheidung zum Glauben, dass p, wenn durch die Entscheidung, X zu tun, auch die Entscheidung gefällt wird, sich auf p zu verlassen. In den Worten Ginets selbst heißt es: „In deciding to A, S decided to believe that p if in deciding to A, S decided to count on its being the case that p.“65 Nicht nur zum count-on-Glauben, sondern auch zu einer dispositionellen Form des Glaubens könne man sich nach Ginet entscheiden, weil durch die Entscheidung, p zu glauben, die Disposition angenommen werde, in anderen ähnlichen Kontexten ebenfalls zu glauben, dass p: „What comes into being as a result of S’s deciding in a particular situation to count on p is a disposition to count on p in closely similar situations. That disposition is a dispositional belief and S decided to adopt the disposition in the very decision that first manifested it.“66
Damit wird also deutlich, dass sich das Subjekt nach Ginet also nicht nur dazu entscheidet zu glauben, dass p, sondern sich darüber hinaus ebenfalls darauf festlegt, die Disposition, p in ähnlichen Situationen zu glauben, anzunehmen. Dass es generell möglich sei, sich zu Dispositionen zu entscheiden, wird ohne eine nähere Begründung leichtfertig abgehakt: „The notion of coming to have a disposition (to act in certain ways in certain sorts of situations, perhaps with a certain sort of attitude) by deciding to have it should not be problematic. This is something we often do, in deciding to have a standing policy for action, in adopting a general conditional intention to act in such-and-such a way in such-and-such circumstances.“67
Obwohl eine Disposition gemeinhin damit assoziiert wird, dass sie gewisse Handlungs- und Glaubenstendenzen mit sich bringt, die sich situationsübergreifend auswirken68, behauptet Ginet dagegen, dass solche Dispositionen, die wir aufgrund ei63 64 65 66 67 68
Vgl. Ginet 2001, S. 66. Vgl. Ginet 2001, S. 67. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Hick 1957, S. 39.
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gener Entscheidung nach Belieben annehmen oder verwerfen könnten, auch nur von kurzer Dauer anhalten könnten – etwa dann, wenn das Subjekt durch eine andere Meinung überzeugt werden würde, oder wenn es den dispositionellen Glauben vergessen hätte: „The dispositional belief that one both manifests and decides to have, in deciding on a particular occasion to count on p, could be very short-lived; but normally it will last awhile, without having to be readopted by a new decision or brought about anew in some other way, though eventually something may happen to change S’s mind (typically by providing her with a reason to decide to change it), or S may lose the belief through forgetting it.“69
Es ist unklar, was Ginet angesichts dieser Ausführungen unter dispositionellem Glauben versteht. Er selbst scheint mit seiner Formulierung „though eventually something may happen to change S’s mind (typically by providing her with a reason to decide to change it)“70 zuzugestehen, dass ein dispositioneller Glaube nicht willentlich kontrollierbar ist, sondern dass Erfahrungen des Subjekts dafür verantwortlich seien, dass es einen neuen Glauben annimmt. Das Verständnis von Ginets These einer willentlichen Kontrolle von dispositionellem Glauben wird dadurch erschwert, dass er auch im weiteren Verlauf den Vollzug der Entscheidung, zu glauben sehr unklar beschreibt: Einerseits verknüpft er ihn mit der Entscheidung zu handeln, andererseits grenzt er Glauben von Handeln ab: Es sei möglich, dass sich ein Subjekt zum dispositionellen Glauben (im Sinne von ‚count on‘), dass p, entscheidet, indem es auf eine bestimmte Weise handelt, ohne dass es eine generelle Disposition entwickelt, sich auf p zu verlassen – obwohl dies in der Regel wiederum doch der Fall sei: „The disposition we’ve talked about so far is rather specific: to count on p in choosing a particular sort of action in a particular sort of situation. And it could be that the subject never has any more general disposition to count on p. Typically, though, a disposition acquired in certain specific circumstances will generalize at least to some extent – it will be a disposition to count on p in choosing other sorts of actions in other sorts of situations.“71
Diese Stelle legt erneut den Verdacht nahe, dass er Handlungsdispositionen mit Glaubensdispositionen verwechselt. Ginet gesteht also zu, dass diese Auffassung des dispositionellen Glaubens sehr spezifisch sei, weil sich dieser nur auf ganz bestimmte Situationen anwenden lasse. Ein Subjekt S kann sich zum Glauben, dass p, entscheiden, indem es sich in einer bestimmten Situation X zu einer Handlungsweise A entscheidet. In einer andersartigen Situation Y könnte S wiederum auf die Weise B handeln, was dann einen anderen Glauben, dass q implizieren würde. Kurz gesagt: Dispositioneller Glaube hat nach Ginet keine allgemeine beziehungsweise situati-
69 Ginet 2001, S. 67. 70 Ebd. 71 Ginet 2001, S. 68.
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onsüberdauernde Gültigkeit, sondern ist relativ beziehungsweise kontextabhängig. Man glaube also je nach Kontext, dass p und verhalte sich dementsprechend.72 Anstatt für die These der Kontextabhängigkeit des Glaubens Argumente anzubringen, möchte er sie wiederum mit einem Gedankenexperiment stützen. Eine Person namens George sei dazu geneigt, zu glauben, dass die alte, wackelige Fußgängerbrücke das Gewicht eines großen Mannes aushalten werde. Allerdings nur dann, wenn es in Frage stünde, ob er die Brücke überqueren soll oder nicht, falls er auf die andere Seite der Schlucht wollte und in Eile wäre. Im Kontext der Überlegung des Vaters, ob die Brücke dennoch erneuert werden sollte, wäre er jedoch nicht zu diesem Glauben disponiert: „George does believe the bridge will hold his weight relative to the first context and does not believe it relative to the second context.“73 Es ist einerseits fragwürdig, worin die Disposition, zu glauben, bestehen sollte, wenn sie in jedem Kontext anders bestimmt ist. Andererseits ist unverständlich, inwiefern das Beispiel der Illustration dienen kann, dass sich das Subjekt zu einem anderen dispositionellen Glauben entscheidet. Anstatt von einem (dispositionellen) Glauben zu sprechen, der sich in verschiedenen Situationen verändern lässt, ist die Rede von verschiedenen Glaubensüberzeugungen in Bezug auf unterschiedliche Fragestellungen in diesem Beispiel verständlicher: Die Frage, um die es dem Vater und seinem Sohn geht, ist jedes Mal eine andere; dementsprechend ist der Glaubensgehalt auch jeweils ein anderer. Es geht nicht generell um den Glauben, ob die Brücke das Gewicht des Mannes in verschiedenen Kontexten aushalten kann, sondern einmal lautet die Frage: Riskiere ich es, dass die Brücke mich aushält und glaube ich beim Eingehen des Risikos, dass die Brücke mein Gewicht dieses Mal aushalten wird? Und das andere Mal lautet sie: Sollte man die Brücke nicht dennoch erneuern, weil sie auf Dauer nicht mehr sicher ist und vielleicht irgendwann so marode sein wird, dass sie unter meinem Gewicht einstürzen wird? Die Rede von kontextabhängigem Glauben ist also verfehlt und es ist auch nicht klar, worin der Gewinn einer Rede von einem kontextabhängigen dispositionellen Glauben bestehen sollte. Die erwähnten Unklarheiten in Bezug auf Ginets Verständnis der willentlichen Kontrolle eines dispositionellen Glaubens, der je nach Kontext veränderbar ist, werden durch seine aufgeführten Beispiele nicht aufgeklärt. Darüber hinaus erschwert eine durchgehende Unschärfe seines Begriffs des dispositionellen Glaubens den Nachvollzug seiner Argumentation, was vor allem in Auseinandersetzung mit dem Begriff des dispositionellen Glaubens deutlich wird. Dieser ist nämlich dadurch gekennzeichnet, dass aus der Zustimmung eines Subjekts zu p und des Sich-Verlassens eines Subjekts auf p heraus die Disposition entsteht, dass sich das Subjekt auch in anderen ähnlichen Situationen auf p verlässt oder p zustimmt. Hick beispielsweise fasst die Verhältnisbestimmung von einer einmaligen Glaubenszustimmung auf der
72 Vgl. ebd. 73 Ginet 2001, S. 69.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
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einen und der damit einhergehenden Disposition auf der anderen Seite folgendermaßen zusammen: „Returning to the relation between assents and dispositions, we are led by these objections to the exclusively dispositional view to distinguish between the momentary mental act of assenting and the continuing state of having assented, which we may call belief. Assent itself is an occurrent phenomenon, while belief, as thus distinguished from it, is dispositional. In terms of this distinction we shall say that assent generates belief or (so to speak) leaves a trail of belief behind it.“74
Hicks Zitat macht deutlich, dass der hier als Disposition verstandene Glaube der Zustimmung folgt – damit ist klar, dass allenfalls über eine willentliche Kontrolle über die Zustimmung zu p diskutiert werden kann, nicht aber über die Folge, dass diese Zustimmung einen Glauben im Sinne einer Disposition bedingt. Inwiefern nach diesem Verständnis die Disposition der Zustimmung unmittelbar folgt, bringt Hick folgendermaßen zum Ausdruck: „Provided that the continuant self which assents exhibits a sufficient degree of unity, the act of assent modifies that self as a whole, spreading throughout the entire organism and taking the form of permanent or semipermanent mental and physiological dispositions. These dispositions are causal consequences of the act of assent and are the normal form of the continuing belief-situation.“75
Dass sich das Subjekt, das sich in einer Situation auf p verlässt, sich auch in anderen ähnlichen Situation auf p verlässt, scheint also vielmehr eine logische Konsequenz zu sein – alles andere wäre selbstwidersprüchlich oder irrational, wenn es nicht einen Grund dafür gäbe, dass sich das Subjekt in einer anderen ähnlichen Situation oder generell nicht mehr auf p verlassen sollte: „The original act of assenting to p can however be repeated at any time, although it is not usually repeated whenever we proceed, in thought, word, or deed, in accordance with p. In the case, however, of a purely (or merely) rational being, an occasion for acting upon a believed proposition would also presumably be an occasion for reviewing its grounds and assenting to it afresh. That we can do this makes it clear that while assent generates a persisting dispositional state, it does not itself consist in that state. Assent is related to belief somewhat as the momentary act of writing to the persisting written tokens.“76
Diesem Begriff dispositionellen Glaubens nach ist die Ausbildung einer Disposition also die Folge einer Glaubensüberzeugung – es ist somit zweierlei, ob Ginet dafür argumentiert, dass wir uns für oder gegen den Glauben, dass p entscheiden könnten, woraus eine bestimmte Disposition, dies in ähnlichen Situationen zu glauben oder demgemäß zu handeln, entsteht – oder ob Ginet dafür argumentiert, dass sich ein Subjekt bewusst dazu entscheidet, nicht nur zu glauben, dass p, sondern damit auch bewusst die Entscheidung trifft, auch in anderen Situationen p zu glauben. Unge74 Hick 1957, S. 39. 75 Ebd. 76 Ebd.
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achtet der Frage, ob eine solche Entscheidung überhaupt möglich sei, ist die Sinnhaftigkeit einer Entscheidungsgewalt hinsichtlich der Annahme dieser Disposition fragwürdig: Die Integrität des Subjekts wäre stark in Frage gestellt, wenn es sich aufgrund seiner willentlichen Kontrolle dafür entscheiden würde, in ähnlichen Kontexten mal p, mal non-p zu glauben – und diese Möglichkeit der Entscheidung gegen eine Disposition muss Ginet voraussetzen, wenn er überhaupt von der Möglichkeit, sich zu einer Disposition zu entscheiden, spricht. Auch die Untersuchung seiner Argumente für die Möglichkeit einer willentlichen Kontrolle des dispositionellen Glaubens können also Ginets These des direkten doxastischen Voluntarismus nicht bestärken. Neben der Möglichkeit einer willentlichen Kontrolle des Glaubens im Sinne von count-on sowie einer Disposition geht Ginet ebenfalls kurz auf den sogenannten Wahrnehmungsglauben ein. Glauben, der auf Sinneseindrücken basiert, sei ihm zufolge in den meisten Fällen unwillkürlich und könne nicht durch Entscheidungen beeinflusst werden: „When I see a tree or a dog before me, a car coming down the street, snow on the ground, and the like, and as a result come to believe that I see such a thing, I do not (usually) experience the coming to be of that belief as something I have a choice about and decide to make happen.“77
In atypischen Situationen, in denen wir die Befürchtung haben, dass unsere Sinne uns täuschen könnten, seien wir dagegen in der Situation, uns dazu entscheiden zu müssen, ob wir glauben wollen oder nicht, was uns die Sinne vorgeben.78 Darüber hinaus nennt Ginet selbst den Glauben, der sich aus Erinnerungen speist. Das Erfahrene oder Erlernte, an das er sich erinnert, glaube er ebenfalls nicht nach Belieben. Er entscheide sich nicht dazu, sich auf seine Erinnerung, dass er heute gefrühstückt habe, zu verlassen. Angesichts solcher Glaubensannahmen im Bereich des Wahrnehmungsglaubens und Erinnerungsglaubens, die in der Regel nicht willkürlich beeinflussbar seien, hält er selbst also fest: „It is fairly clear that in the large mass of beliefs held by any normal person at a given time, the overwhelmingly major part will have come about involuntarily and only a small portion will have been adopted voluntarily (by decision). Coming to believe by deciding to believe (or seeming to do so) is undoubtedly a rare phenomenon in that sense.“79
Vor dem Hintergrund seiner bisher skizzierten Überlegungen zum Glauben unterscheidet Ginet zwischen zwei Arten von Gründen, die einen solchen Glauben motivieren können: interested vs. disinterested. Mit interested bezieht er sich auf einen solchen Glauben, der dem Wunsch nach geformt ist beziehungsweise an dem man ein 77 Ginet 2001, S. 69 f. 78 Ein Beispiel zur Veranschaulichung einer Entscheidung zu einem Wahrnehmungsglauben bringt er an späterer Stelle, die ich weiter unten in diesem Kapitel ausführe. 79 Ginet 2001, S. 70.
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Interesse hat. „Thus I had interested reasons for believing that I locked the door“80, um das eingangs erwähnte Beispiel aufzugreifen. Ein Grund zum Glauben, der disinterested ist, bezieht sich beispielsweise auf Fälle, in denen wir ungeachtet unseres Wunsches einen Beweis oder gute Gründe haben zu glauben, dass p. Wenn sich Glaube an der Wirklichkeit orientiert, ist es fraglich, wie ein interested Glaube möglich sei. Ginet selbst gesteht zu, dass man nicht aus Gründen, die interested sind, seinen bereits vorhandenen Glauben verändern könne. In einer Situation jedoch, in der zu p weder ein bejahender, noch negierender Glaube vorliegt, könne ein Subjekt S dazu motiviert sein, auf p zu setzen, wenn S sich wünscht, dass p wahr ist. Darüber hinaus könne der Wunsch S auch dazu motivieren, sich nicht auf non-p vorzubereiten und sich somit auf p zu verlassen – also nach Ginets Verständnis auch zu glauben, dass p. Wieder folgt diesen Überlegungen ein Beispiel81 zur Veranschaulichung anstelle einer nachvollziehbaren Begründung: Eine Frau hört vom Absturz eines Flugzeuges, in dem zu dieser Zeit planmäßig ihr Mann gesessen haben sollte. Eine Stunde vor Abflug hat er sie jedoch angerufen um ihr mitzuteilen, dass er diesen Flug eventuell verpassen und mit der nächsten Maschine kommen würde. Der Wunsch der Frau ist es natürlich, dass ihr Mann nicht mit der abgestürzten Maschine geflogen ist. Nach Ginet wäre es nicht überraschend, wenn sie sich darauf verlassen und schließlich daran glauben würde, dass der Mann den abgestürzten Flug verpasst hat. Zudem wäre dieser Glaube nicht irrational. Warum dieser Glaube nicht irrational wäre, wird nicht begründet. Diesen Aspekt beiseitelassend ist jedoch in Frage zu stellen, ob die Frau einen Glauben nach ihrem Interesse annehmen kann, der die von Ginet selbst aufgestellten Kriterien erfüllt. Er würde sich darin ausdrücken, dass sie sich nicht auf die Situation vorbereitet und nicht damit rechnet, dass der Mann eventuell doch abgestürzt sein könnte und dementsprechend handelt. Nach Ginets Maßstäben, die eine Entsprechung von Glauben und Handeln nahelegen, wäre es also von Bedeutung gewesen, wie die Frau sich weiterhin verhalten würde, worauf er sich in seinem Beispiel jedoch nicht mehr bezieht. Die Frau müsste also ganz normal ohne jegliche Beunruhigung ihrem Tagesgeschäft nachgehen, darauf verzichten, z. B. telefonisch Auskunft darüber zu erhalten, in welchem Flieger ihr Mann gesessen habe usw., wenn sie sich tatsächlich darauf verlassen sollte, dass ihr Mann den geplanten Flug verpasst hat. Die Fokussierung in Gedankenexperimenten auf kontingente Handlungen von Akteuren zur Ableitung philosophischer Argumente, die bei Ginet immer wieder vorzufinden ist, ist wenig hilfreich bei der Klärung, ob ein Glaube nach Wunsch entschieden werden kann. Das vorausgesagte Verhalten von den darin auftretenden Subjekten ist zu zufällig gewählt, aber dennoch soll davon eine These ohne ausrei-
80 Ebd. 81 Vgl. Ginet 2001, S. 71.
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chende Begründung abgeleitet werden. Eine begriffliche Klärung wäre in dieser Hinsicht ertragreicher, bleibt aber aus. Auf einen Gegner der These des doxastischen Voluntarismus, der im Gegensatz zu ihm begrifflich argumentiert, bezieht sich Ginet ebenfalls in seiner Argumentation: Er zitiert Bernard Williams82, der Entscheidungen zum Glauben für konzeptuell unmöglich hält, weil Glaube auf Wahrheit zielt. Die Möglichkeit, sich zu einem Glauben zu entscheiden, schließe die Option ein, einen Glauben ungeachtet seiner Wahrheit oder Falschheit anzunehmen, was jedoch dem Charakteristikum von Glauben, auf Wahrheit zu zielen, widerspricht. Ginet vollzieht Williams Überlegungen genau nach, um sie entkräften zu können und daraus Argumente für seine These gewinnen zu können.83 Was meint Williams damit, dass Glaube auf Wahrheit zielt? Ginet zieht zwei Interpretationsmöglichkeiten in Betracht: Erstens könnte Williams damit meinen, dass wir uns wünschen, dass unsere Glaubensüberzeugungen wahr sind, woraus andersrum folgen müsse, dass wir unsere Glaubensüberzeugung nach unseren Wünschen formen könnten. Das wäre jedoch nicht vereinbar mit der Aussage Williams’, dass das Annehmen eines Glaubens ungeachtet seiner Wahrheit oder Falschheit seinem Begriff von Glauben widerspricht. Nehmen wir an, es entspräche doch dem Konzept des Glaubens, dass man nicht etwas glauben könne, ohne sich zu wünschen, dass die Proposition des Glaubens wahr sei. Dieser Gedanke wäre vereinbar damit, dass ein Grund zur Entscheidung für den Glauben, dass p, mit dem Wunsch des Subjekts S, dass p, zusammenhängt (interested reason). Beispielsweise könnte eine Frau einige Gründe dafür und einige dagegen haben zu denken, dass ihr Mann in dem Flugzeug saß, das abgestürzt ist. Anstatt skeptisch zu bleiben, würde sie sich für den Glauben entscheiden, dass er nicht im Flugzeug gesessen habe. Dieser Glaube wäre von ihrem Wunsch geleitet. Aus diesem Beispiel schlussfolgert Ginet die allgemeine These: „So it is obviously not the case that deciding to believe, for an interested reason, entails not caring whether one’s belief is true or not.“84 Damit argumentiert Ginet gegen den von Williams’ behaupteten Zusammenhang, dass „aim at truth“ des Glaubens impliziere, dass man sich nicht ungeachtet der Wahrheit oder Falschheit einer Aussage für eine Glaubensüberzeugung entscheiden könne. Er wendet also die Argumentation und kommt zu dem Schluss, dass beides – „aim at truth“ einerseits und „interested reason“ andererseits – sehr wohl miteinander vereinbar seien, wenn „aim at truth“ als Wunsch, dass der Glaube wahr sei, interpretiert werde. Dann wäre Williams’ zweite Aussage, mit der er die Unmöglichkeit eines Glaubens ohne Rücksicht auf Wahrheit oder Falschheit des Inhalts behauptet, zurückzuweisen, weil man sich dazu entscheiden könne, etwas zu glauben, 82 Vgl. Kapitel 3.2.2, in dem dieser Aufsatz bereits diskutiert wurde. 83 Vgl. Ginet 2001, S. 71–74. 84 Ginet 2001, S. 72.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
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auch wenn man noch nicht von dessen Wahrheit überzeugt ist – indem man dennoch wollte, dass es wahr ist, zielte man also in dieser Hinsicht auf Wahrheit. Zweitens rekonstruiert Ginet den Gedanken von Williams so, dass die konzeptuelle Gerichtetheit des Glaubens auf Wahrheit den Wunsch nach der Entsprechung von dem Glauben, dass p und p selbst meint, ohne dass der Wunsch, dass p dabei eine Rolle spielen würde: „One might say that one cannot believe that p unless one’s counting on p is motivated by a desire to have true beliefs (a desire to count on a proposition’s being true only when it is true) that is independent of any desire one has regarding any particular proposition that it be true“85.
Während Ginet gerade „aim at truth“ mit interested reasons in Verbindung gebracht hat, interpretiert er im zweiten Anlauf seine Aussage im Zusammenhang mit der Bildung einer Glaubensüberzeugung, die durch disinterested reasons motiviert ist. Ginet selbst stimmt zu, dass es sich bei dieser Auslegung um die Aussageabsicht Williams’ und anderer Autoren handeln müsse, die ähnlich wie dieser die These vertreten, dass Glaube auf Wahrheit zielt.86 Ginets Beispiel für einen Glauben, der auf Wahrheit zielt, ohne dem Wunschdenken nachzukommen, ist wiederum das der Frau, die aufgrund von Beweisen nun aber glaubt, dass ihr Mann in demjenigen Flugzeug gesessen hat, das abgestürzt ist – obwohl sie keine interested reasons für diese Glaubensüberzeugung habe. In Bezug auf rationalen Glauben („rational belief“87) stimmt Ginet dem Kriterium der Wahrheitsgerichtetheit des Glaubens zu. Darüber hinaus sei es psychologisch unmöglich, p zu glauben und sich damit auf p zu verlassen, wenn es dafür gar keine Gründe der Art disinterested reason gibt: „And we may grant further that it is psychologically impossible to believe a proposition, to count on its truth, without having some disinterested reason for doing so.“88 Dennoch sei aus der psychologischen Unmöglichkeit, ohne solche Gründe zu glauben, dass p, nicht zu folgern, dass es auch psychologisch unmöglich sei sich vor diesem Hintergrund dazu zu entscheiden, dass p.89 Aus der konzeptuellen beziehungsweise begrifflichen Unmöglichkeit, rational ohne disinterested reasons zu glauben, sei nicht abzuleiten, dass es konzeptuell unmöglich wäre, sich auf diese Weise dennoch dazu zu entscheiden, zu glauben. Er drückt es folgendermaßen aus: „But from its being psychologically impossible to believe without disinterested reasons, it does not follow that it is psychologically impossible to decide to believe for such reasons.“90 Nicht nachvollziehbar ist, inwiefern es möglich sein soll, trotz der eingesehenen psychologischen Unmöglichkeit von X (sich ohne disinterested reasons – also trotz des 85 86 87 88 89 90
Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ginet 2001, S. 72 f.
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3 Das dezisionistische Verfahren
Bewusstseins, dass es sich um Wunschdenken handele – dazu zu entscheiden, dass p), X durch den Akt der Entscheidung dennoch zu erreichen. Außerdem ist es fraglich, wieso die Wahrheitsgerichtetheit des Glaubens für rationalen Glauben, aber nicht für Glauben generell gilt. Ginet erklärt erstens nicht, was er unter rationalem oder nicht rationalem Glauben versteht. Zweitens macht er auch nicht kenntlich, inwiefern seine Beispiele, die eigentlich darauf abzielen, Entscheidungen zum Glauben im Sinne von „count on“ zu veranschaulichen, keinen rationalen Vollzug einschließen. Es wäre tatsächlich irrational, sich auf p zu verlassen, obwohl man wüsste, dass p ohne disinterested reasons geglaubt würde. Ist es überhaupt möglich, sich dennoch dazu zu entscheiden, sich auf p zu verlassen und nicht mit der Möglichkeit, dass non-p, zu rechnen? Ginets Beispiele reichen nicht aus, um zur Zustimmung seiner These zu überzeugen. Er gesteht selbst zu, dass er einem solchen Glauben, zu dem sich ein Subjekt S aus interested reasons entschieden hat, eine gewisse epistemische Irrationalität („epistemic irrationality“91) zuschreiben würde. Zumindest einige der Gründe für den Glauben von S erhöhten demnach nicht die Wahrscheinlichkeit, dass der Glaube von S wahr ist. Dennoch seien nicht alle Fälle, in denen sich S zu einem Glauben entscheidet, solche, in denen interested reasons eine Rolle spielen. Daraus schließt er offenbar, dass nicht alle Fälle von sogenannten Entscheidungen zum Glauben irrational seien. Nach wie vor ist damit nicht geklärt, was es heißen soll, dass man sich zu einem Glauben entscheidet. Ein Glaube aus disinterested reasons drängt sich auf, weil er glaubhaft ist oder als wahrscheinlich wahr erscheint. Ein Glaube aus interested reasons wirkt dagegen wie ein Akt der Willkür. Ein anderer Grund, den Williams neben dem der Wahrheitsgerichtetheit des Glaubens anführt für den Aufweis der Unmöglichkeit einer Entscheidung zu glauben, hängt zusammen mit dessen Überlegungen zum Wahrnehmungsglauben. Zentral für unser Verständnis von Wahrnehmungsglauben sei nach Williams ein abbildender Zusammenhang zwischen affizierter Umwelt, Wahrnehmungen und unserem Glauben, der durch diese Verbindung zustande kommt. Jemand glaubt also p, weil p, womit die Gerichtetheit des Wahrnehmungsglaubens auf Wahrheit und die empirisch erfahrbare Wirklichkeit deutlich wird. Ein Glaube dagegen, der einer Entscheidung entspringt, wird dieser Idee des abbildenden Zusammenhangs nicht gerecht, obwohl dieser eine notwendige Bedingung für einen derartigen Glauben sei. Ginets Position dagegen, dass dieser Zusammenhang zwischen Umwelt und Wahrnehmungsglauben mit der Vorstellung eines durch Entscheidung entstandenen Glauben kompatibel sei, möchte er erneut bloß durch ein fiktives Fallbeispiel nachvollziehbar machen: „Suppose that S’s eyes are directed toward a square red patch on a white wall. The light is good and S’s visual system is in good working order, so she is caused to have a visual experience as if seeing a square red patch on a white surface, and in fact she sees a square red patch on a white 91 Ginet 2001, S. 73.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
125
surface. Suppose, however, that she hesitates for a moment to believe that she sees such a thing because she has some slight reason to think that she might be hallucinating the red patch; but then she decides to cast doubt aside and trust her vision; She decides to believe that (R) there is before her a red patch on a white surface.“92
Nach Ginet ist es hier offensichtlich, dass S zunächst aufgrund seiner Wahrnehmung glaubte, dass ein roter Fleck an der Wand sei. Aber es sei falsch, dass die Tatsache, dass ein roter Fleck an der Wand ist zusammen mit der Tatsache, dass S diesen Fleck wahrnimmt, notwendigerweise die kausale Ursache dafür ist, dass S glaubt, dass ein roter Fleck an der Wand sei. Die Tatsache, dass wir bisweilen unseren Sinnen misstrauen, zeige, dass eine Entscheidung auch im Kontext des Wahrnehmungsglaubens möglich sei. Gerade mit diesem Beispiel zeigt Ginet jedoch ungewollt selbst, dass Glaube generell auf Wirklichkeit zielt. Wir glauben das, was wir als wahr oder zumindest als wahrscheinlich wahr vorfinden. Wenn wir die Befürchtung oder Gründe haben, dass wir über die Sinne möglicherweise gerade einen falschen Eindruck bekommen, halten wir inne und fragen danach, ob sie tatsächlich die unter normalen Umständen erfassbare Wirklichkeit abbilden (vgl. „she has some slight reason to think that she might be hallucinating the red patch“93). Der Glaube, der das Resultat der daraus folgenden Überlegungen ist, ist kein Glaube nach Belieben und Entscheidung, sondern ist selbst wiederum an der Wirklichkeit orientiert: Geglaubt wird dann das, was für am wahrscheinlichsten wahr gehalten wird. Dieser Glaube kommt nicht durch Entscheidungen zustande, sondern durch den Akt des Schlussfolgerns – z. B. durch das Schließen auf die Zuverlässigkeit der Sinne in vergangenen ähnlichen Situationen oder durch logisches Schließen. Zunächst ist wieder zu kritisieren, dass auch mit diesem Gedankenexperiment nicht gezeigt werden kann, dass eine Entscheidung, zu glauben, möglich ist. Nur weil Ginet sagt, dass S sich dazu entschieden habe, ist noch nicht verständlich, warum dies konzeptuell möglich sein sollte. Auf dieser Ebene können Gedankenexperimente nicht konstruktiv genutzt werden, weil die Beispiele von Gegnern auch so konstruiert werden können, dass mit ihnen das Gegenteil gezeigt werden kann. Ohne eine Verständigung darüber, was Glauben und Entscheiden begrifflich bedeuten, kann die Frage nicht geklärt werden. Konkret im letztgenannten Fall ist darüber hinaus auch fraglich, was unter dem Begriff des Wahrnehmungsglaubens verstanden wird. Abschließend hält Ginet sein Anliegen fest, das eben nicht darin bestehe zu zeigen, dass wir uns nach Belieben dazu entscheiden könnten zu glauben, was immer wir wollen. Dennoch möchte er mit seinem Aufsatz für eine schwächere These argumentieren: „namely, that it is psychologically possible, in the right circumstances, for
92 Ebd. 93 Ebd.
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a subject to come to believe something just by deciding to believe it, where the subject has it open to her also to not come to believe it.“94 Seine Position kann jedoch nicht überzeugen, weil er erstens anstelle von Kriterien z. B. für die notwendigen Umstände einer solchen Entscheidung lediglich Beispiele angibt, die seine Überlegungen veranschaulichen sollen. Diese Beispiele und Gedankenexperimente ermöglichen wie bereits ausgeführt keine generelle Schlussfolgerung auf das Verhältnis von Entscheiden und Glauben. Zudem sind sie leicht angreifbar, wie es am Beispiel des Autofahrers exemplarisch zu zeigen ist, der von seiner Frau danach gefragt wird, ob er die Haustür verschlossen habe: Der Autofahrer bildet nicht zwingend die Überzeugung, dass er die Tür geschlossen hat, sondern nimmt es vorübergehend an. Er bildet also lediglich die Hypothese, dass die Tür nun geschlossen sei. Anti-Voluntaristen argumentieren, dass in solch einem Fall eine propositionale Einstellung vorliege, durch die keine Wahrheit der Proposition behauptet werde, sondern lediglich vorübergehend so verfahren werde, als sei sie wahr.95 Zweitens sind Ginets Überlegungen nicht überzeugend, weil auch sein Verständnis von Glauben nicht mit dem, was er als Entscheidung zum Glauben beschreibt, vereinbar ist. Er betont, dass Glaube mehr sei als nur eine „betting hypothesis“ 96, was er auch mit seiner Charakterisierung des „count on something“ mehrfach zum Ausdruck bringt. Seine Gedankenexperimente legen jedoch häufig nahe, dass er vom Glauben im Sinne einer „betting hypothesis“ ausgeht, die verschiedene Gewissheitsgrade annehmen kann, wenn er selbst schreibt: „the subject believes that p only at a certain level of confidence (only to a certain degree) and not at a higher level (not to a greater degree)“97. Es ist unklar, ob Ginet tatsächlich für die Möglichkeit einer Entscheidung zum Glauben im Sinne eines starken epistemischen Begriffs argumentiert, oder vielmehr für einen Glaubensbegriff, den er versteht als „act as if “. Seine Argumente stützen allenfalls den Aufweis einer Entscheidung zum Glauben im Sinne einer betting hypothesis oder eines Handelns, als ob p der Fall wäre – also eines als-ob-Glaubens. Drittens ist der pragmatische beziehungsweise behavioristisch anmutende Ansatz von Ginet, Glauben mit Handeln so stark ineinander zu verweben, dass kaum noch eine Unterscheidung beider Akte deutlich ist, unzulässig. Nach seinem Verständnis verlässt sich ein Subjekt S auf p beziehungsweise glaubt, dass p, indem es sich dazu entscheidet, so zu handeln, als ob p wahr wäre. Die Akzeptanz einer Glaubensüberzeugung ist jedoch nicht identisch mit dem Handeln, als ob diese Überzeugung wahr wäre.98 Die Entscheidung zu einer Handlung wird bei Ginet aber mit der Ent94 95 96 97 98
Ginet 2001, S. 74. Vgl. z. B. Knappik 2013, S. 47. Ginet 2001, S. 68. Ebd. Vgl. Böttigheimer, Christoph, Glauben verstehen. Eine Theologie des Glaubensaktes, Freiburg im Breisgau 2012, S. 249: „Die Zustimmung im Glauben hat vorbehaltlos zu erfolgen; sie verträgt sich mit keinem Tun als ob.“
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
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scheidung für eine entsprechende Glaubensüberzeugung gleichgesetzt beziehungsweise letztere werde durch erstere erreicht. Unser alltägliches Verständnis des Verhältnisses von Glauben und Handeln ist jedoch gegenläufig: Wir glauben und verlassen uns auf etwas und handeln deshalb unserer Glaubensüberzeugung entsprechend. Unser Glaube ist die Grundlage unserer Entscheidung, zu handeln – nicht andersrum. Zudem sind aus Handlungen Glaubensüberzeugungen nicht eindeutig abzuleiten, was mit Williams bereits problematisiert worden ist. Das Trio aus Vorhaben, Glauben und Handeln kann verständlich machen, warum auf eine bestimmte Weise gehandelt wird.99 Dabei handelt es sich jedoch lediglich um Indikatoren, die wir dem Gegenüber zuschreiben, aber es ist nicht aus dem beobachtbaren Verhalten ableitbar, was die Person tatsächlich glaubt. Hilfreicher als das Heranziehen von Gedankenexperimenten wäre in Bezug auf die Problematisierung der Möglichkeit einer Entscheidung zum Glauben die Frage danach, ob Glaube generell als etwas, das der Entscheidung unterliegt, zu begreifen ist oder eben nicht. Wenn sie mit Williams so beantwortet werden kann, dass Glaube erstens auf Wirklichkeit gerichtet ist, was Ginets Ausführungen zur Sinneswahrnehmung und zur Erinnerung nicht widersprechen würde, wenn Glaube zweitens dadurch gekennzeichnet ist, dass das glaubende Subjekt auf das Geglaubte nicht nur im Sinne einer betting hypothesis setzt, sondern sich zudem darauf verlässt, und wenn drittens die Wirklichkeit nichts ist, was unserer Entscheidung unterliegt, dann muss es sich in den Fällen, die Ginet als auf Entscheidung basierenden Glauben begreift, um eine andere epistemische Einstellung als der des so verstandenen Glaubens handeln.
3.2.4 William P. Alston: „The Deontological Conception of Epistemic Justification“ Als Gegner des doxastischen Voluntarismus stellt sich William P. Alston in seinem Aufsatz „The Deontological Conception of Epistemic Justification“100 dar. Seine diesbezügliche Position bezieht er im Kontext der Frage nach der Angemessenheit des deontologischen epistemischen Rechtfertigungsmodells. Nach dem deontologischen Modell epistemischer Rechtfertigung sind Handlungen dann legitim, wenn bestimmte Pflichten erfüllt werden beziehungsweise nicht gegen gewisse Regeln verstoßen wird. Damit wird vorausgesetzt, dass wir für unsere Überzeugungen und Glaubenseinstellungen verantwortlich seien und sie also selbst nach Abwägung wählen könnten. In diesem Zusammenhang geht Alston der Frage nach, ob es möglich sei, sich zu einer Glaubenseinstellung zu entscheiden. 99 Vgl. Williams 1978, S. 229. 100 Alston 1988, S. 257–299.
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3 Das dezisionistische Verfahren
Alston gesteht zu, dass wir einander zumindest im alltäglichen Sprachgebrauch Verantwortung in Bezug auf unsere Glaubensüberzeugungen zuschrieben, wenn wir so reden, als müssten wir etwas glauben beziehungsweise als dürften wir etwas nicht glauben. In solchen Fällen sagen wir z. B.: „Du hast kein Recht, das anzunehmen“, oder „Du hättest ihr nicht so schnell glauben sollen“. Darüber hinaus redeten wir bisweilen so, als könnten wir uns zu einer Glaubensüberzeugung entscheiden: „Ich habe letztlich entschieden, dass er der richtige Mann für diesen Job ist.“ Alston stellt in Frage, dass Glaube in gleicher Weise entscheidbar sei wie es bei basalen Handlungen der Fall ist – womit er sich auf solche Handlungen bezieht, die wir ohne mehrere Handlungsschritte unmittelbar ausführen „just by an intention, volition, choice, or decision to do so, things we ‚just do‘, not ‚by‘ doing something else voluntarily“101. Bevor er diese These weiter untersucht, fasst er jedoch einige für seine Untersuchung wichtige Anmerkungen zusammen, die auch für die in dieser Arbeit vorliegende Fragestellung von Bedeutung sind. Laut der ersten Anmerkung müsse trotz der Frage nach der Möglichkeit einer Entscheidung zum Glauben auch eine dem Glauben entgegengesetzte Entscheidung einbezogen werden, weil nur dann eine Kontrolle von Glaubensüberzeugungen vorliege, wenn auch die Kontrolle über nicht kompatible Alternativen gegeben sei: So könne man sich nicht effektiv dazu entscheiden, p zu glauben, wenn man sich nicht gleichzeitig dazu entscheiden könnte, eine damit eine inkompatible Alternative wie non-p zu glauben. Dazu übernimmt Alston Chrisholms Trichotonomie von „believe“, „reject“ und „withhold“102. Die zweite Anmerkung betrifft die Beziehung zwischen Kontrolle von Handlungen und Zuständen. Glaube sei nämlich keine Handlung, sondern vielmehr ein die Psyche betreffender Zustand. Dieser mentale Zustand beeinflusse wiederum verschiedene Handlungen. Wenn also die Möglichkeit einer willentlichen Kontrolle des Glaubens untersucht wird, ginge es in erster Linie um die Kontrolle eines Zustandes. Alston merkt an, dass jedoch auch von der willentlichen Kontrolle von sowie Verantwortung für Handlungen gesprochen werden könne, die solche Glaubenszustände, wie z. B. das Akzeptieren oder Zurückweisen einer Proposition, erst hervorriefen: „The two loci of responsibility and control may seem strictly correlative, so that we can equally well focus on either.“103 Ein Subjekt S könne z. B. Kontrolle über einen Zustandstyp Z haben, indem es willentlich eine Handlung H ausführt, die wiederum Z hervorruft. Wenn wir also von einer Verantwortung beziehungsweise Kontrolle über den Zustand Z reden, den wir selbst handelnd hervorgerufen haben, könnten wir demnach ohne Umwege über die Kontrolle der Handlung H sprechen, die den Glauben hervorriefe.
101 Alston 1988, S. 260. 102 Vgl. Alston 1988, S. 261. 103 Ebd.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
129
Dennoch gebe es nach Alston gute Gründe, diese Vorgehensweise abzulehnen und sich dennoch dem Problem der Kontrolle von Glaubensüberzeugungen über Zustände anstatt über Handlungen zu nähern. Ein gewichtiger Grund ist die Tatsache, dass wir auch für diejenigen Glaubensüberzeugungen verantwortlich gemacht würden, die wir automatisch und ohne jegliche Absicht gebildet haben – also nicht über den Umweg einer Handlung, mit der wir auf den entsprechenden Glaubenszustand abgezielt hätten. Bei der Untersuchung der These des doxastischen Voluntarismus geht Alston so vor, dass er verschiedene Arten willentlicher Kontrolle von Glaubensüberzeugungen untersucht, die er folgendermaßen gliedert: „I. Direct control. A. Basic control. B. Non-basic immediate control. II. Long-range control. III. Indirect influence.“104
Nach der „basic control thesis“ könne man nach Belieben jede propositionale Einstellung annehmen – wörtlich heißt es, „that one can take up at will whatever propositional attitude one chooses“105. Alston bestreitet, dass dies möglich sei und fragt seine Leser rhetorisch, ob sie sich jetzt dazu entscheiden könnten, zu glauben, dass die Vereinigten Staaten immer noch eine Kolonie Großbritanniens wären. Nicht einmal für 500 000 000 Dollar sei es möglich, sich dazu zu entschließen, diese Proposition für wahr zu halten. Möglicherweise könne man Dinge tun, um diese Glaubenseinstellung wahrscheinlicher werden zu lassen, aber ausschließlich durch eine Entscheidung könne diese Überzeugung nicht gebildet werden. Die Versuchung, anzunehmen, dass wir dies könnten, gründe nach Alston in einer Verwechslung mit anderen Fähigkeiten, die wir unzweifelhaft besäßen. Sie seien jedoch klar von einer tatsächlichen Entscheidung zum Glauben, dass p, zu unterscheiden: „If I were to set out to bring myself into a state of belief that p, just by an act of will, I might assert that p with an expression of conviction, or dwell favorably on the idea that p, or imagine a sentence expressing p amblazoned in the heavens with an angelic chorus in the background intoning the Kyrie of Mozart’s Coronation Mass. All this I can do at will, but none of this amounts to taking on a belief that p. It is all show, an elaborate pretence of believing. Having gone through all this, my doxastic attitudes will remain just as they were before; or if there is some change it will be as a result of these gyrations.“106
Die vermeintliche willentliche Kontrolle über Glaubensüberzeugungen werde also mit der willentlichen Kontrolle von Behauptungen, vom Verweilen bei einer Idee oder auch von Vorstellungen verwechselt, auf die wir willentlich Einfluss nehmen können. 104 Alston 1988, S. 278. 105 Alston 1988, S. 263. 106 Alston 1988, S. 263 f.
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3 Das dezisionistische Verfahren
Die Unfähigkeit der beliebigen Einflussnahme auf den Glauben, dass p, erstrecke sich jedoch nicht nur auf falsche, sondern auch auf wahre Propositionen. Die Möglichkeit, sich zu etwas zu entscheiden, liegt nämlich nur dann vor, wenn verschiedene Alternativen zur Auswahl stehen. Wenn ein Subjekt S also keine Möglichkeit hat, sich dazu zu entscheiden, ob es A oder non-A glaubt, dann handelt es sich nicht um eine willentliche Kontrolle von Glaubensüberzeugungen. Insofern müsse die These, dass man sich willentlich dazu entscheiden könne, etwas zu glauben, gleichermaßen auf eine Entscheidung für beziehungsweise gegen gleichermaßen richtige und falsche Propositionen richten.107 Wahrnehmungsglauben z. B. sieht Alston nicht als Gegenstand willentlicher Kontrolle, denn das würde bedeuten, dass wir uns für oder gegen den Glauben entscheiden könnten, dass der Baum Blätter habe, wenn wir unter optimalen Sehbedingungen einen Baum mit Blättern vor uns sehen würden. Jedoch wäre es nicht möglich, sich bei solch einer Sinneswahrnehmung für oder gegen die Annahme, dass wir einen Baum mit Blättern sehen, zu entscheiden. Von einer Entscheidung im Bereich des Wahrnehmungsglaubens zu sprechen, wäre also insofern verfehlt, als dass wir uns nicht gegen einen Sinnesglauben entscheiden könnten, der uns als korrekt erscheint. Nach Alston würden Vertreter der These des doxastischen Voluntarismus jedoch einwenden, dass wir uns in uneindeutigen Fällen willentlich für den Glauben, dass p, entscheiden könnten.108 Insbesondere auf den Gebieten der Religion, Philosophie sowie bestimmter wissenschaftlicher Fragen aus anderen Fachgebieten sei dies der Fall, wenn die entsprechenden Argumente und Theorien nicht eindeutig für A oder non-A sprechen. Zunächst erscheine es so, als könnten wir nicht nur, sondern müssten wir uns in solchen Fällen auch für A oder non-A entscheiden und als täten wir dies auch. Ebenso verliefe es hinsichtlich praktischer Entscheidungen. Alston führt ein Beispiel an: „On a larger scale, a field commander in wartime is often faced with questions about the current disposition of enemy forces. But often the information at his disposal does not tell him just what that disposition is. In such a situation is it not clear that, weighing available indications as best as he can, he simply decides to make a certain judgement on the matter and act on that? What else can he do?“109
Der springende Punkt, den auch Alston bei einem derartigen Verständnis von einer willentlichen Kontrolle über Glauben sieht, ist, dass es sich hierbei wiederum nicht um eine Entschließung zu einer Glaubensüberzeugung handelt. Auch im Falle des militärischen Befehlshabers folge der Glaube automatisch dem, was ihm zu diesem Zeitpunkt als am wahrscheinlichsten wahr erscheint, ohne dass der Wille hierbei eine entscheidende Rolle spielte. So nehme im Falle der (subjektiven) Gewissheit von S ebendiese einen Einfluss auf die Glaubensbildung von S – ungeachtet dessen, ob 107 Vgl. Alston 1988, S. 264. 108 Vgl. z. B. Ginet in Kapitel 3.2.3., der diese These vertritt. 109 Alston 1988, S. 265.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
131
Sinneswahrnehmungen oder andere Faktoren diese (subjektive) Gewissheit beeinflusst hätten. Analog dazu verhalte es sich mit der (subjektiven) Unsicherheit, bei der Glaubensüberzeugungen dennoch entsprechend dem, was noch am wahrscheinlichsten wahr erscheint, gebildet werden, ohne dass der Wille darauf Einfluss nehmen würde. „Thus when our philosopher or religious seeker ‚decides‘ to embrace theism or the identity theory, what has happened is that at that moment this position seems more likely to be true, seems to have weighter considerations in its favor, than any envisaged alternative.“110
Das Beispiel desjenigen, der mit gleichwertigen Argumenten sowohl mit einer theistischen, als auch mit einer atheistischen Position konfrontiert wird, hat Alston zuvor in seinem Aufsatz eingeführt und grenzt mit dieser Veranschaulichung die Entscheidung zu glauben ab von der Entscheidung zu handeln: Wird S mit verschiedenen Handlungsmöglichkeiten konfrontiert, die als gleichwertig erscheinen, müsse S nicht unentschieden ausharren, sondern könne auf eine der alternativen Weisen handeln. Beispielsweise könne S sich für einen von zwei unterschiedlichen Salaten, die beide schmackhaft aussehen, entscheiden und ihn zum Verzehr kaufen, wohingegen eine Entscheidung im Hinblick auf Atheismus und Theismus nicht auf die gleiche Weise zu fällen sei: „How could I simply choose to believe one rather than the other when they seem exactly on a par with respect to the likelihood of truth, especially when that subjective probability is rather low? To do so would be to choose a belief in the face of the lack of any significant inclination to suppose it to be true. It seems clear to me that this is not within our power.“111
Der entscheidende Unterschied scheint mit „likelihood of truth“ und „inclination to suppose it to be true“ darin zu bestehen, dass Glaube – wie im Sinne Bernards – auf Wahrheit gerichtet ist, weshalb Subjekte sich nicht einfach zu einer Glaubensüberzeugung entscheiden könnten, wenn ihnen keine der Möglichkeiten als wahrscheinlicher wahr erschiene. Die subjektive Gewissheit, die p als eine von verschiedenen Alternativen in einer Situation signifikanter Ungewissheit für das Subjekt S als wahrscheinlicher wahr erscheinen lässt, hält Alston sowohl im Hinblick auf praktische, als auch auf theoretische Belange für angemessen. Anstelle vom Glauben, dass p, möchte er jedoch von einer Handlungs- beziehungsweise Arbeitshypothese, dass p, reden. Wie bereits oben angedeutet, bildet S nicht den Glauben, dass p, sondern handelt so, als sei p wahr. Das treffe einerseits auf den militärischen Befehlshaber zu, der von einer wahrscheinlichen Strategie der Feinde als Handlungshypothese ausgeht und vor diesem Hintergrund eine eigene Strategie umsetzen will. Andererseits treffe dies auch auf Philosophen zu, die beispielsweise den Materialismus als Arbeitshypothese annehmen und
110 Alston 1988, S. 266. 111 Alston 1988, S. 266 f.
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3 Das dezisionistische Verfahren
prüfen, inwiefern sie in Bezug auf verschiedene Probleme konsistent denkbar sein kann.112 Wann immer eine sogenannte „Akzeptanz“ einer Proposition p ohne signifikante subjektive Gewissheit vorliegt, die nicht als eine Arbeits- oder Handlungshypothese zu begreifen ist, müsse es sich nach Alston dennoch um etwas anderes als um Glauben handeln. Erstens könne der vermeintliche Glaube mit dem Versuch, sich dazu zu bewegen, p zu glauben, verwechselt werden. Während der Versuch zu glauben willentlich kontrolliert durchgeführt werden könne, sei das beim Glauben selbst nicht der Fall. Zweitens könne p immer wieder willentlich von S sehr glaubwürdig nach außen hin affirmiert werden, was jedoch selbst noch nicht mit Glauben zu verwechseln sei. Drittens werde die willentlich kontrollierte Solidarisierung von S mit einer Gruppe, deren Mitglieder sich verpflichten, p zu glauben, fälschlicherweise mit Glauben verwechselt. In jedem Fall sei eine Entscheidung, p zu glauben, nach Alston nicht im Sinne einer basalen Handlung möglich.113 Wo behauptet wird, dass dies doch der Fall sei, werde die propositionale Einstellung des Glaubens verwechselt mit einer der bisher genannten oder möglicherweise mit darüber hinausgehenden Alternativen. Mit der Ablehnung des doxastischen Voluntarismus in Bezug auf Glauben als basale Handlung beziehungsweise auf eine direkte willentliche Kontrolle des Glaubens ist jedoch noch nicht die Denkbarkeit einer indirekten willentlichen Kontrolle von Glaubensüberzeugungen ausgeschlossen. Der Begriff „indirect voluntary control“ werde nach Alston gemeinhin so gebraucht, dass er jede Art von Kontrolle, die sich nicht „direkt“ vollzieht, bezeichnet. Daraus resultiere eine Unschärfe, weil es verschiedene Arten von nicht-basaler Kontrolle (‚non-basic control‘) gebe.114 Im Allgemeinen hielten wir Handlungen für willentlich kontrolliert, selbst wenn sie indirekt ausgeführt werden. So schließe beispielsweise das Einschalten des Lichts im Gegensatz zum Anheben des Armes zwar mehrere körperliche Handlungsschritte ein, weil es nicht direkt dem Willen folge, sondern einiger Zwischenschritte bedürfe. Dennoch werde eine derartig non-basale Handlung als der willentlichen Kontrolle unterliegend und insofern auch als eine Art der unmittelbaren (‚immediate‘) Handlung begriffen: „Here we might say that the action, and its upshot, is under the ‚immediate voluntary control‘ of the agent (more strictly, non-basic immediate voluntary control), even though more than one act of will is required of the agent. I call this ‚immediate‘ control since the agent is able to carry out the intention ‚right away‘, in one uninterrupted intentional act, without having to return to the attempt a number of times after having been occupied with other matters.“115
112 113 114 115
Vgl. Alston 1988, S. 267. Vgl. Alston 1988, S. 268. Ebd. Alston 1988, S. 269.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
133
Alston plädiert also dafür, von direkter Kontrolle nicht nur im Falle basaler Handlungen zu reden. Auch non-basale Handlungen, die im Hinblick auf ihre Handlungsschritte und ihre zeitliche Direktheit abgeschlossen sind, versteht er als unmittelbar beziehungsweise ‚immediate‘. Deshalb zählt er sie zur Kontrolle direkter Art. Wenn Glaube – wie oben ausgeführt – nicht im Sinne einer basalen Handlung kontrollierbar ist, unterliegt er dann nicht möglicherweise wenigstens einer unmittelbaren Kontrolle wie es bei non-basalen, abgeschlossenen Handlungen (wie z. B. dem Einschalten des Lichts) der Fall ist? In Bezug auf die meisten Fälle sei dies nach Alston zu verneinen. Wenn er z. B. aus dem Fenster schaute um zu sehen, ob es regnen würde, hätte er keine unmittelbare Kontrolle darüber, ob er die Proposition, dass es regnet, akzeptiert oder nicht. Für die Debatte um den doxastischen Voluntarismus seien jedoch die Fälle von Interesse, bei denen es nicht eindeutig ist, ob eine Proposition wahr oder falsch sei. In solch einer Situation der Ungewissheit suche das Subjekt nach Hinweisen und Gründen für oder gegen die Wahrheit beziehungsweise Falschheit einer Proposition. Weil ein solches Nachforschen willentlich kontrollierbar ist, seien Propositionen laut Voluntaristen in ungewissen Fällen qua Wahl entscheidbar. Alston hält jedoch dagegen, dass die unmittelbare willentliche Kontrolle über eine Suche nach Hinweisen, mit der gerade mittelbar eine Glaubensüberzeugung willentlich kontrolliert werden soll, nicht mit einer unmittelbaren willentlichen Kontrolle propositionaler Einstellungen gleichgesetzt werden kann: „To be sure, the mere fact that one often looks for evidence to decide an unresolved issue does not show that one has immediate control, or any other sort of control, over one’s propositional attitudes. That also depends on the incidence of success in these enterprises. And sometimes one finds decisive evidence and sometimes one doesn’t.“116
Um eine unmittelbare willentliche Kontrolle würde es sich nur dann handeln, wenn man A ausführte, um E zu erzielen und man E tatsächlich durch das Ausführen von A erreichen könnte. Im Falle der Suche nach Gründen für die Wahrheit oder Falschheit einer Proposition führe man jedoch A (hier: die Suche) aus, um ein Ergebnis zu erreichen, von dem man vorher nicht wisse, worin es bestehen wird. Die einzige willentliche Kontrolle erstrecke sich also darauf, ob man überhaupt handelt, um eine Proposition zu bilden. Das Ergebnis dieser Handlung sei jedoch nicht kontrollierbar. Insofern sei hier nach Alston die Rede von einer unmittelbaren willentlichen Kontrolle auch im non-basalen Rahmen verfehlt.117 Eisen Murphy unterstützt diese Annahme Alstons mit der Aussage, dass die Glaubensüberzeugung einer Person zu verstehen sei als „a result of her overall assessment of all the evidence she has looked at, not the result of an act of will. What is a result of an act of will is her coming to believe something or other, but not her coming to believe this particular proposition.“118 Die 116 Alston 1988, S. 271. 117 Vgl. Alston 1988, S. 271 f. 118 Eisen Murphy 2000, S. 574.
134
3 Das dezisionistische Verfahren
Kontrolle der Suche nach Gründen für oder gegen p ist also abzugrenzen von der Kontrolle des Ergebnisses dieser Suche – also der Kontrolle der aus dieser Suche entstehenden Überzeugung. Am Beispiel von Wahrnehmungsglauben macht Alston besonders deutlich, dass sich ein Subjekt S zwar willentlich in eine Position versetzen könne, in der eine propositionale Einstellung des Glaubens zum Sachverhalt X entstehen müsse. Damit besteht noch keine Kontrolle darüber, was Inhalt des Glaubens sein werden würde. Falls S wissen wollte, was gerade vor ihm zu sehen sei, habe es willentlichen Einfluss darauf, die Augen zu öffnen und sich umzuschauen. Es könne sich somit in die Position versetzen, eine propositionale Einstellung des Glaubens in Bezug auf das zu Sehende zu bilden, ohne dabei jedoch kontrollieren zu können, worin dieser Glaube konkret bestehen würde beziehungsweise was es sehen würde. Im Grunde bestehe die willentliche Kontrolle von S einzig darin, eine propositionale Einstellung der Informiertheit einzunehmen. Eine unmittelbare willentliche Kontrolle von der Annahme einer Glaubensüberzeugung sei dagegen nicht möglich. Als nächstes untersucht Alston, ob sich Glaubenseinstellungen langfristig willentlich kontrollieren ließen, was er als „long range voluntary control“ 119 bezeichnet. Unter diesem Terminus versteht er konsequenterweise das Gegenteil von ‚immediate control‘, also „the capacity to bring about a state of affairs, C, by doing something (usually a number of different things) repeatedly over a considerable period of time, interrupted by activity directed to other goals.“120 Darunter fielen z. B. die mehr oder weniger starke Kontrolle über unseren Cholesterinspiegel oder unser Gewicht. Unser Gewicht könnten wir beispielsweise nicht unmittelbar signifikant kontrolliert beeinflussen (z. B. durch das Schlucken einer Pille oder das einmalige Joggen um den Block); über einen längeren Zeitraum hinweg und durch mehrere beziehungsweise wiederholte Handlungsschritte ist dies jedoch möglich. In Bezug auf zumindest einige Glaubensüberzeugungen scheint es nach Alston so, als wäre eine langfristige willentliche Kontrolle möglich – z. B. wenn sich Menschen selektiv mit gewissen Indizien beziehungsweise Argumenten auseinandersetzen, oder etwa die Gesellschaft bestimmter Gruppen suchen beziehungsweise meiden, um dann im gelingenden Fall eine bestimmte Glaubenseinstellung anzunehmen. Genau genommen liege hier jedoch keine willentliche Kontrolle von Glaubensüberzeugungen vor, weil es sich nur dann tatsächlich um eine Kontrolle handelte, wenn das Ziel Z in der Folge der langfristigen Handlung H dabei generell erfolgreich erreicht werden würde. Bisweilen sei es zwar möglich, dass es Menschen gelingt, ihren Glauben auf lange Sicht nach Wunsch zu beeinflussen. Jedoch gäbe es dabei keine substantielle Erfolgsquote, sodass die Rede auch von einer langfristigen willentlichen Kontrolle von Glaubensüberzeugungen unangemessen wäre.
119 Alston 1988, S. 274. 120 Alston 1988, S. 275.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
135
Aus diesem Grund führt Alston schließlich das Konzept der indirekten willentlichen Einflussnahme (‚indirect voluntary influence‘ oder ‚voluntary impact‘) ein.121 Es erscheine nämlich so, als hätten wir zwar keine Entscheidungsgewalt über unsere Überzeugungen (auch nicht über den Umweg von Untersuchungen, weil das Ergebnis der Untersuchung sich unserer Verfügung entzieht), aber dennoch willentliche Kontrolle über Vieles, was wiederum eine Glaubensüberzeugung beeinflussen, wenn auch nicht steuern könnte.122 Die Einflussnahme könne zweierlei Art sein. Erstens könne es sich entweder um bestimmte Aktivitäten oder um die Konfrontation mit Situationen, bestimmten Personen oder Gruppen von Personen handeln. Wir hätten nämlich willentliche Kontrolle darüber, ob und wie lange wir uns mit einem Thema auseinandersetzen, nach Gründen suchen, sie reflektieren, den Einfluss anderer Menschen suchen, unsere Erinnerung nach analogen Überlegungen beziehungsweise Erfahrungen befragen usw. Damit würden wir uns zwar über die Dauer und Intensität unserer Suche nach Hinweisen entscheiden können, aber nicht über die propositionale Einstellung, die wir letztlich im Ergebnis annehmen würden. Zweitens könnten wir Aktivitäten nach eigenem Willen ausführen, mit denen wir wiederum unsere generellen Verhaltensweisen und Tendenzen beeinflussen, die eine Glaubensüberzeugung formen können. So sei es möglich, kritisches Denken und Verhalten einzuüben, Aussagen in Bezug auf kontroverse Themen zu reflektieren, bevor sie geglaubt werden, oder auch nicht leichtfertig auf Autorität hin zu glauben. Diese genannten Vorgänge indirekter willentlicher Einflussnahme seien nach Alston kontrollierbar und wirkten sich wiederum indirekt auf die Neigung zu bestimmten propositionalen Eistellungen aus. Insofern sei es nach seiner Ansicht möglich, das Bilden von Glaubensüberzeugungen willentlich zu begünstigen und damit zu beeinflussen – aber von einer Kontrolle, mit der über das Ergebnis, also einer expliziten Glaubensüberzeugung entschieden werden könnte, grenzt er diese Einflussnahme strikt ab. Vor diesem Hintergrund lehnt Alston somit sowohl den direkten, als auch den indirekten doxastischen Voluntarismus ab, hält aber eine indirekte doxastische Einflussnahme für möglich.
3.2.5 Franz Knappiks Hegelrezeption zur doxastischen Freiheit Franz Knappik geht es in seinem Buch „Im Reich der Freiheit“ darum, unter Bezugnahme auf Hegel und Positionen der analytischen Philosophie die Grundzüge eines 121 Vgl. Alston 1988, S. 277 f. 122 Vgl. hierzu auch Karsten Lehmkühler, der analog zur Annahme eines Glaubens den Verlust des Glaubens einerseits als passives Widerfahrnis und andererseits auch als einen mehr oder weniger bewussten Entscheidungsprozess beschreibt. Unterbewusste Entscheidungsprozesse hätten demnach auf dieses biographisch erlebte Widerfahrnis immerhin einen Einfluss. Vgl. ebd., Glaubensverlust und Wahrhaftigkeit, in: Veronika Hoffmann (Hg.), Nachdenken über den Zweifel. Theologische Perspektiven, Ostfildern 2017, S. 37–54, hier: S. 47 f.
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3 Das dezisionistische Verfahren
auf Freiheit basierenden Selbst- und Weltverständnisses zu entwickeln. Dieses soll einen Lösungsansatz der von ihm anvisierten Problematik autonomer Vernunft darstellen.123 In einem Kapitel seines Werkes setzt er sich insbesondere mit epistemischer Freiheit auseinander. Eingebettet in diesen Kontext untersucht er, inwiefern epistemische Freiheit selbst unter der Zurückweisung der These des doxastischen Voluntarismus gedacht werden könne. Auch, wenn dieser Fragestellung im Rahmen meiner Ausarbeitungen nicht explizit nachgegangen werden kann, sollen hier Knappiks Ergebnisse in Bezug auf den doxastischen Voluntarismus präsentiert und diskutiert werden. Was Freiheit im epistemischen Sinne bedeutet, will Knappik über den Vergleich zum Verständnis von Freiheit im praktischen Bereich verständlich machen. Der Begriff der praktischen Freiheit beinhalte zunächst, dass wir hinsichtlich unserer Absichten und Handlungen frei seien und unsere Handlungen entsprechend wählen und ausführen könnten. Analog dazu liege die Annahme nahe, dass sich Freiheit im epistemischen Bereich auf die Bildung unserer Überzeugung in ähnlicher Weise beziehen müsse. Knappik spezifiziert diese Annahme dahingehend, dass epistemische Freiheit sich im Allgemeinen auf den epistemischen Gebrauch der Vernunft bezieht, und doxastische Freiheit spezifisch diejenige Form epistemischer Freiheit meint, die sich auf die Überzeugungsbildung bezieht.124 Aus der Analogie mit dem praktischen Bereich folgert er, dass es naheliegend sei, epistemische Freiheit primär als doxastische Freiheit zu denken. Des Weiteren ist für seine Überlegungen die verbreitete Annahme konstitutiv, dass Freiheit willentliche Kontrolle erfordere. Epistemische Freiheit setze demnach eine willentliche Kontrolle über unsere Überzeugungen voraus, woraus sich für Knappik die folgenden drei Annahmen ergeben: „(1) Wir sind im epistemischen Gebrauch unserer Vernunft frei. (= Annahme epistemischer Freiheit) (2) Epistemische Freiheit besteht primär in einer Freiheit, die wir hinsichtlich unserer Überzeugungen besitzen („doxastische“ Freiheit). (3) Die Möglichkeit willentlicher Kontrolle ist notwendig für Freiheit.“125
Aus diesen Annahmen werde nun die These des doxastischen Voluntarismus gefolgert, die Knappik für fragwürdig hält. Um sie jedoch angreifen zu können, müsse gezeigt werden, dass zumindest eine der drei genannten Thesen falsch ist. Insbesondere unter Rekurs auf Hegel möchte Knappik aufzeigen, inwiefern der doxastische Voluntarismus durch die Ablehnung des dritten Punktes zurückzuweisen sei, ohne dass die Idee epistemischer Freiheit dadurch aufgegeben werden müsse. Für die vorliegende Arbeit interessant ist zunächst die Positionierung Knappiks zum doxastischen Voluntarismus, die er unter Rückgriff auf viele derjenigen Autoren bildet, die bereits in den vorigen Kapiteln genannt wurden.126 Sie gänzlich zu refe123 124 125 126
Vgl. Knappik 2013, S. 18. Vgl. Knappik 2013, S. 42. Ebd. Vgl. z. B. Williams in Kapitel 3.2.2 und Alston in Kapitel 3.2.4.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
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rieren wäre redundant. Dennoch ist eine kurze Zusammenfassung seiner Positionierung sinnvoll, um den Hintergrund zu verstehen, vor dem er seine Anfragen an diese Problematik stellt. Zunächst verweist auch Knappik in Anlehnung an Williams auf die Phänomenologie der Überzeugungsbildung, nach der wir unwillkürlich und ohne eingehendere Reflexionen zu unseren propositionalen Einstellungen kämen. Insbesondere in Wahrnehmungssituationen bildeten wir Überzeugungen, ohne sie im Besonderen zu reflektieren. Selbst dann, wenn wir Argumente abwägen und Evidenzen prüfen, scheint ihm eine willentliche Kontrolle ausschließbar zu sein, wenn die Ergebnisse der Untersuchungen klar für eine Option zu sprechen scheinen. Das Nachvollziehen eines gültigen mathematischen Beweises falle beispielsweise darunter. Auch bereits bestehende Überzeugungen seien nicht durch willentliche Entscheidung revidierbar, wie Knappik mit dem Beispiel Alstons illustriert: „Wir können nicht einfach die Überzeugung annehmen, dass der Mond aus Käse besteht – auch dann nicht, wenn uns jemand sehr viel Geld dafür bietet.“127 Obwohl Knappik die Position von Williams würdigt und als stärkste herausstellt, hält er sie für nicht eindeutig überzeugend. Insgesamt konstatiert er, dass sowohl Befürworter als auch Gegner des doxastischen Voluntarismus Schwierigkeiten hätten, ihre jeweilige Position überzeugend zu begründen. Insbesondere scheinen die bisher diskutierten Aspekte dieses Problems grundlegende Fragen über epistemische Rationalität und Normativität nicht klären zu können. Deswegen sei aus seiner Sicht naheliegender, nach der Rolle einer solchen willentlichen Kontrolle unserer Überzeugungsbildung für unsere epistemische Rationalität überhaupt zu fragen und diejenigen Aussagen von Voluntaristen zu diskutieren, die sich darauf beziehen. Diese übergeordnete Frage nach der Funktion, die willentliche Kontrolle bei der Bildung unserer Überzeugungen einnimmt, soll hier aufgegriffen werden. Aus ihr wird ein weiterer, über Williams und Alston hinausgehender Aspekt deutlich, der dagegenspricht, dass wir uns dazu entscheiden könnten, eine Glaubensüberzeugung anzunehmen. Nach Knappik sei die These des doxastischen Voluntarismus aus der Anforderung heraus motiviert, unsere epistemische Freiheit und Verantwortung zu verteidigen. Bei dieser werde nämlich eine Wahlmöglichkeit und willentliche Kontrolle unserer Überzeugungsbildung vorausgesetzt, wie es oben bereits ausgeführt wurde. Wann liegt willentliche Kontrolle vor? Willentliche Kontrolle über eine Handlung liegt dann vor, wenn wir sie ausführen und unterlassen können, wann immer wir wollen. Insofern besteht sie in der Möglichkeit, zwischen gegebenen Alternativen zu wählen. Im epistemischen Bereich müssten Vertreter der These des deontologischen doxastischen Voluntarismus also ebenfalls annehmen, dass in Bezug auf jede mögliche epistemische Einstellung auch eine Alternative zu wählen sei – „auch in Fällen von zwingender Evidenz – etwa in Wahrnehmungssituationen und in einfa127 Vgl. Alston 1988, S. 263 f., Übersetzung zitiert aus: Knappik 2013, S. 44.
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chen, unmittelbar evidenten Überzeugungen (wie z. B. einfache Rechnungen oder Beweise)“128. Weil aber die Idee der willentlichen Kontrolle nicht so leicht auf den epistemischen Bereich der Überzeugungsbildung übertragen werden könne, hält Knappik den doxastischen Voluntarismus für eine falsche Position.129 Obwohl der doxastische Voluntarismus also auch nach Knappik zurückzuweisen ist, müsse die Idee epistemischer Freiheit nicht aufgegeben werden, was er im weiteren Verlauf seiner Arbeit insbesondere unter Rückgriff auf Hegel und Brandom zeigen möchte. Dabei sei danach zu fragen, welche Bedingungen für Freiheit notwendig sind. Hier spielt für Knappik insbesondere die Idee der Freiheit ohne Wahl sowie die der Freiheit in Form der Distanzierung von Impulsen eine tragende Rolle, was zu einer Zurückweisung der Prämisse „(3) Die Möglichkeit willentlicher Kontrolle ist notwendig für Freiheit“130 führen soll.131 Im Detail kann dieser Frage jedoch in diesem Kontext nicht nachgegangen werden, weil sie den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Interessant für die hier verhandelte Fragestellung ist dennoch, was aus Knappiks Hegelrezeption für die Diskussion über den doxastischen Voluntarismus gewonnen werden kann. Wie Knappik konstatiert, spricht sich Hegel nicht explizit zur Positionierung des doxastischen Voluntarismus aus. Jedoch könne man seinen Werken entnehmen, dass er epistemische Freiheit im Sinne einer willkürlichen beziehungsweise dezisionistischen Wahl ablehnt. Ohne hier überprüfen zu können, ob er mit dieser Vermutung Hegel gerecht wird, lohnt es sich, Knappiks Begründung für dieses Urteil näher zu betrachten. Daraus wird nämlich ersichtlich, inwiefern Denken und damit schließlich auch der Glaube, der den Akt rationalen Nachvollzugs beinhaltet, an Regeln gebunden ist und daher nicht gänzlich durch willkürliche Entscheidungen beeinflusst werden kann. Nach Hegel ist Willkür nämlich nicht Ausdruck oder das Wesen von Freiheit, sondern eine notwendige Voraussetzung der Freiheit des Willens. Freiheit, die auf einer Wahl beziehungsweise Willkür basiert, trage nämlich das Merkmal der Zufälligkeit: Willkür enthalte neben der freien, von allem abstrahierenden Reflexion ebenfalls „die Abhängigkeit von dem innerlich oder äußerlich gegebenen Inhalte und Stoffe“132. Insofern sei dieser der Willkür gegebene Inhalt damit als ein möglicher – also nicht notwendiger, sondern zufälliger – bestimmt, woraus andersherum folgt, dass willkürliche Freiheit von Hegel mit Zufälligkeit identifiziert wird.133
128 129 130 131 132
Knappik 2013, S. 49. Vgl. Knappik 2013, S. 51. Knappik 2013, S. 42. Vgl. Knappik 2013, S. 55 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 14,1, herausgegeben von Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann, Düsseldorf 2009; ursprünglich: 1820, § 15. Im Folgenden abgekürzt mit GPhR. 133 Vgl. ebd.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
139
Dabei verwendet Hegel die Begriffe „notwendig“ und „zufällig“ nicht in der Weise, dass sie determinierte oder indeterminierte Ereignisse bezeichnen. Stattdessen bezieht er sich damit auf Inhalte des Willens beziehungsweise der Freiheit, die er von der Form der Freiheit abgrenzt. Folgt man Knappik, so kann die Form des Willens „hier als diejenige Kontrolle über unsere Absichten und Handlungen gedeutet werden, die – entsprechend dem Wahl-basierten Verständnis von Freiheit – durch unsere dezisionistische Wahl gewährleistet wird.“134 Mit dem Begriff der „Form“ bezieht er sich somit auf die Konstitution des Willens und seine logische Form. Dagegen umfasse der Inhalt des Willens laut Knappik bei Hegel nicht nur diejenigen Inhalte des natürlichen, unkultivierten Willens, wie z. B. bestimmte Triebe, Begierden und Wünsche, sondern auch komplizierte voluntative Systeme, die durch instrumentelles Abwägen von Wünschen zustande kommen.135 Der zufällige Inhalt sei wiederum vor allem durch die „Form der Unmittelbarkeit“136 gekennzeichnet, weil er „als ein vorgefundener nicht in jeder Gewißheit enthalten [ist] und daher ihr von Außen [sic] kommt“137. Insofern sei er kein Resultat selbstbestimmter, freier Tätigkeit, sondern auf ähnliche Weise wie die Sinnlichkeit durch das Merkmal der „Äußerlichkeit“138 charakterisiert, wodurch der zufällige Inhalt schließlich „die Unmittelbarkeit der Natürlichkeit und die Particularität“139 aufweise. Knappik fasst zusammen: „Unmittelbarkeit, Gegebenheit, Äußerlichkeit und Partikularität sind also Kennzeichen des an Zufälligkeit krankenden Willens, der in Bezug auf seine eigenen Inhalte unfrei ist“140. Demzufolge realisiert sich Unfreiheit bei Hegel nicht in äußerem Zwang, sondern in einer Unfreiheit, die im Willen selbst liegt: Ein freier Wille, der durch Willkür und Wahl bestimmt ist, sei zwangsläufig durch Inhalte gekennzeichnet, die nicht unserer Freiheit selbst entsprängen und von denen wir daher entfremdet sein könnten. Das Wahlvermögen könne lediglich eine „schwache Form der Eignerschaft des Willens bezüglich seiner Inhalte gewährleisten.“141 Um zu verstehen, was Hegel mit Begriffen wie „Zufälligkeit“, „Unmittelbarkeit“ und „Partikularität“ genauer meint, ist unter Bezugnahme auf Knappik zunächst eine weitere Abgrenzung von einer Position, mit der Hegels Ausführungen verwechselt werden könnten, sinnvoll. Hegel wolle nämlich nicht auf den Gedanken hinaus, dass vernünftiges intellektuelles Wollen unvernünftiger sinnlicher Begierde entgegengesetzt werden soll, sodass Freiheit etwa die Beherrschung unvernünftiger Begierden implizierte. Unmittelbarkeit sei bei Hegel nicht dadurch charakterisiert, dass sie 134 135 136 137 138 139 140 141
Knappik 2013, S. 77. Vgl. Knappik 2013, S. 77 f. GPhR § 11. GPhR § 15 A, 7/66. GPhR § 21 A, 7/72. Ebd. Knappik 2013, S. 78. Ebd.
140
3 Das dezisionistische Verfahren
einem psychologischen Vermögen, wie etwa körperlicher Begierden, entspringe. Stattdessen ist es die logische Form der Willensinhalte, auf die er hinauswill: So sei z. B. für die Anschauung nach Hegel die logische Form der Einzelheit charakteristisch, weil anschauliche Inhalte isoliert voneinander auftreten. Ihre Beziehungen, wie z. B. Kausalverbindungen, seien dabei zunächst noch nicht explizit. Nach Knappik könne daneben die logische Form der Unmittelbarkeit des Willens begriffen werden als eine Konfrontation mit Gehalten und Einstellungen, „ohne dass Raum für eine Rechtfertigung dieser Einstellungen bestünde.“142 Willensinhalte seien jedoch nach Hegel hinsichtlich ihrer logischen Oberflächenform nicht nur unmittelbar, sondern auch partikular, was am einfachsten ex negativo verständlich gemacht werden kann: Nicht-partikular wäre ein Wille z. B. dann, wenn er sich nicht ausschließlich auf die momentane Handlungssituation begrenzen, sondern die Verhaltensweise des Individuums längerfristig strukturieren würde. Darüber hinaus zeichne sich das Fehlen von Partikularität in Bezug auf einen Willen dadurch aus, dass er nicht nur für das Individuum, sondern darüber hinaus auch intersubjektiv beziehungsweise objektiv vernünftig ist und neben dem Einzelinteresse also auch das Allgemeinwohl einbeziehe. Erfüllen also Wahl-basierte Entscheidungen nicht diesen objektiven Charakter, werden sie als partikular verstanden. Oder positiv ausgedrückt: Die logische Oberflächenstruktur eines Wahl-basierten Willens ist partikular beim „Fehlen universaler Geltung, Fehlen der Einbettung in Planungen, [und bei] fehlende[r] objektive[r] Vernünftigkeit“143. Insofern hätten Begründungsformen und Entscheidungen, die das Abwägen zwischen verschiedenen Vorstellungen einbezögen, selbst in dem Fall, in dem sie aus einer Deliberation resultierten, den Charakter der Partikularität, weil sie allein auf Basis aktueller und individueller Überlegungen und Wünsche fußen würden. Der Mangel an ausreichenden Rechtfertigungsbeziehungen sei es, der den Inhalten unseres Willens den Charakter von Partikularität, Unmittelbarkeit und damit auch Zufälligkeit verleihe.144 Nicht nur im Bereich von Wünschen und Begierden seien wir mit gegebenen Einstellungen konfrontiert, die wir rational transformieren müssen, sondern auch im Bereich des Epistemischen wären wir vielen zufälligen Impulsen ausgeliefert, auf deren Basis wir unsere Überzeugungen bildeten. Analog zum praktischen Bereich müssten auch rationale Aneignungsprozesse epistemischer Einstellungen für notwendig gehalten werden. Ihre logische Oberflächenstruktur der Unmittelbarkeit, Gegebenheit und Partikularität würde andernfalls ebenso unsere Freiheit einschränken. Einzelne epistemische Einstellungen müssten demnach in unser Überzeugungssystem eingebettet und explanatorisch zueinander in Beziehung gesetzt werden.145
142 143 144 145
Knappik 2013, S. 79 f. Knappik 2013, S. 81. Vgl. Knappik 2013, S. 81 f. Vgl. Knappik 2013, S. 90.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
141
Bereits diese Ausführungen legen nahe, dass Hegel die These des doxastischen Voluntarismus bestritten hätte: Gegen sie spricht in seiner Argumentationslinie zumindest, dass die Annahme einer Überzeugung allein durch willentliche Entscheidung statt durch Einordnung in einen überindividuellen, intersubjektiven Kontext partikular wäre. Damit wäre es schwierig, eine solche willkürliche Annahme in das gesamte Netz an Überzeugungen mit all seinen Rechtfertigungsbeziehungen zu integrieren. Inwiefern dieser Umstand gegen die These des doxastischen Voluntarismus vorgebracht werden kann, wird im Folgenden deutlicher. Davon auszugehen, dass Hegel die Möglichkeit doxastischer Freiheit im Sinne des doxastischen Voluntarismus angenommen hätte, erscheint nämlich aus einem weiteren, sehr eindringlichen Grund verfehlt: Er spricht nicht etwa der willentlichen Kontrolle epistemischer Einstellungen einen zentralen Stellenwert zu, sondern der Autorität der Wahrheit über unser Denken. Sie findet nicht zuletzt darin Ausdruck, dass wir uns miteinander, also intersubjektiv über unsere epistemischen Einstellungen und Wahrnehmungen verständigen können. Gelingendes Denken impliziert das Sich-Einlassen sowie das Begreifen einer Sache, wie sie ist. Darin realisiere sich auch nach Hegels Verständnis unsere epistemische Freiheit.146 Dieser Anspruch kann nicht erfüllt werden, wenn der Prozess des Verstehens untergraben wird durch eine willentliche Setzung, mit der bestimmt werden soll, wie das zu Verstehende aufzunehmen sei. Dementsprechend sei auch das philosophierende Denken als eine Form des Denkens überhaupt „dem Inhalte nach insofern nur wahrhaft […], als es in die Sache vertieft ist und der Form nach nicht ein besonderes Sein oder Tun des Subjekts, sondern eben dies ist, daß das Bewußtsein sich als abstraktes Ich, als von aller Partikularität sonstiger Eigenschaften, Zustände, usf. befreites verhält und nur das Allgemeine tut, in welchem es mit allen Individuen identisch ist.“147
Eine individuelle Entscheidung im epistemischen Bereich wäre – wie wir oben gesehen haben – nicht frei von Partikularität und würde insofern nicht der Forderung nach Allgemeinheit und der Orientierung an Wahrheit gerecht werden. Epistemische Einstellungen gehen nämlich mit einem gewissen Geltungsskopus einher: „Wenn wir p für wahr halten, beanspruchen wir damit nicht nur, dass es für uns vernünftig ist, p für wahr zu halten, sondern zugleich, dass es für jeden anderen – jedes Subjekt also, das in gleicher Weise durch intersituative und intersubjektive Identität definiert ist wie wir – ebenso vernünftig wäre, p für wahr zu halten. Wir beanspruchen mithin, dass es für alle Subjekte gleichermaßen gültige Gründe gibt, die die Überzeugung, p sei wahr, rechtfertigen; wir tun hier ‚das Allgemeine‘, in dem wir ‚mit allen Individuen identisch‘ sind.“148
146 Vgl. Knappik 2013, S. 374 f. 147 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), herausgegeben von Friedhelm Nicolin, Friedhelm und Otto Pöggeler, Hamburg 2011; ursprünglich: 1830, § 23. Im Folgenden abgekürzt mit Enz. 148 Knappik 2013, S. 380.
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3 Das dezisionistische Verfahren
Die Tatsache, dass epistemische Aktivität auf Allgemeinheit beziehungsweise auf Wahrheit ausgerichtet ist und nicht etwa auf verschiedene Urteile, die frei wählbar wären, äußert sich darüber hinaus auch darin, dass Denken i. d. R. auf ein Ergebnis mit Gründen ausgerichtet ist, das durch stärkere Gründe entkräftet werden kann.149 Auch in Bezug auf die These des doxastischen Voluntarismus, nach dem Anschauungen und Vorstellungen dem Willen entsprechend gebildet werden könnten, kann Hegel unterstützend zu ihrer Widerlegung einbezogen werden. Auch diese unterlägen nämlich den normativen Anforderungen rationaler Grundidentität, weil sie selbst begriffliche und rationale Fähigkeiten einschlössen.150 Bei der Rechtfertigung unserer Überzeugungen zögen wir Anschauungen und Vorstellungen heran, die deshalb rational verantwortet werden müssen. Insofern unterlägen sie ebenfalls der normativen Grundidentität und müssten sowohl intersubjektiv als auch intersituativ zu rechtfertigen sein. Dies wiederum ist nur realisierbar, wenn unsere Anschauungen und Vorstellungen begrifflich strukturiert sind, sodass wir dementsprechende propositionale Einstellungen überhaupt bilden können.151 Anschauungen und Vorstellungen sind also nicht lediglich individuelle mentale Prozesse, über die wir willkürlich entscheiden würden, denn: „Bereits in unseren Anschauungen und Vorstellungen unterliegen wir […] der Verpflichtung, uns der intersituativen und intersubjektiven Identität gemäß zu verhalten.“152 Ein weiterer Grund, warum propositionale Einstellungen in Bezug auf Anschauungen nicht willkürlich gebildet werden können, liegt in ihrer Form der Einzelheit. Folgt man Hegel in seiner allgemeinen logischen Differenzierung der Vermögen, so ist für das sinnliche Vermögen Einzelheit und für das intellektuelle Vermögen Allgemeinheit kennzeichnend: „Für das Sinnliche wird zunächst sein äußerlicher Ursprung, die Sinne oder Sinneswerkzeuge, zur Erklärung genommen. Allein die Nennung des Werkzeuges gibt keine Bestimmung für das, was damit erfaßt wird. Der Unterschied des Sinnlichen vom Gedanken ist darein zu setzen, daß die Bestimmung von jenem die Einzelheit ist, und indem das Einzelne (ganz abstrakt das Atom) auch im Zusammenhange steht, so ist das Sinnliche ein Außereinander, dessen nähere abstrakte Formen das Neben- und das Nacheinander sind.“153
Hegel geht es nicht um die Unterscheidung der Repräsentation von Einzelnem und Allgemeinem, sondern er „konzipiert die Inhalte epistemischer Vermögen so, dass sie allgemein sein und dennoch in der Form der Einzelheit auftreten können.“154 Er unterscheidet nämlich „zwischen der eigentlichen logischen Form eines Inhalts und 149 Vgl. Knappik 2013, S. 381. 150 McDowell hat diesen Aspekt in seiner Interpretation Kants und Hegels besonders stark gemacht. Vgl. hierzu McDowell, John, Mind and World, Cambridge (Mass.) 1996, Kapitel 1 und 2. 151 Vgl. Knappik 2013, S. 388. 152 Knappik 2013, S. 386. 153 Enz § 20 A. 154 Knappik 2013, S. 390.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
143
der logischen Oberflächenform“155. Deutlich wird dies am Beispiel der Anschauung. Sie kann Zugang zu allgemeinen Inhalten bieten, die sie jedoch in der Form der Einzelheit präsentiert, indem die Gegenstände den Sinnen zunächst isoliert voneinander gegeben seien.156 Rationale Zusammenhänge von Aspekten des Angeschauten blieben zunächst intransparent und implizit. Erst im Prozess des Denkens werde rationale Kontrolle gewonnen. Dadurch werde auch die in der Anschauung gegebene Einzelheit überwunden, weil rationale Verbindungen, die die Einheit von Gegenständen konstituierten, explizit machen würden.157 Was im Modus der Anschauung implizit vorhanden ist, komme also erst durch das Denken ausdrücklich an die Oberfläche und erhalte so die Gestalt des Allgemeinen. Das Allgemeine ist insofern im Ergebnis auch Merkmal der Anschauung beziehungsweise Wahrnehmung. Weil das Allgemeine jedoch nicht willkürlich wählbar, sondern intersubjektiv zu rechtfertigen ist, kann in Anlehnung an diese Überlegungen auch im Bereich von uneindeutiger Sinneswahrnehmungen kein doxastischer Voluntarismus vertreten werden. Dagegen ist davon auszugehen, dass das Subjekt sich an dem orientiert, was ihm am wahrscheinlichsten wahr erscheint. Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass Knappik die Überflüssigkeit der These des doxastischen Voluntarismus veranschaulichen will, indem er bestreitet, dass die Möglichkeit willentlicher Kontrolle notwendig für Freiheit sei. Dabei geht er so vor, dass er zunächst nach der Rolle willentlicher Kontrolle von Glaubensüberzeugungen für unsere epistemische Rationalität überhaupt fragt. In Anlehnung an Hegel kommt er zu dem Schluss, dass willentliche Kontrolle von Glaubensüberzeugungen kein notwendiges Kriterium für epistemische Freiheit darstellt, was hier im Detail nicht diskutiert werden kann. Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit interessant ist jedoch, was Knappik Hegel, der sich nicht explizit zum doxastischen Voluntarismus geäußert hat, abgewinnt: Erstens sei Denken an Regeln gebunden, wodurch auch über Glaubensüberzeugungen, die sich denkend erschließen, nicht fernab dieser Regelsysteme entschieden werden könnte. Zweitens seien willkürlich gebildete Glaubensüberzeugungen durch Zufälligkeit und Partikularität geprägt, d. h. sie stehen nicht im Rechtfertigungszusammenhang mit anderen Überzeugungen – weder mit Überzeugungen eines Individuums selbst, noch mit denen anderer Subjekte. Sie sind also nicht intersubjektiv rechtfertigbar und ermangeln deshalb den Charakter der objektiven Geltung. Drittens müssten selbst Glaubensüberzeugungen, die den Bereich der Anschauung betreffen, diesen Regeln folgen, weil einerseits auch mit ihnen eine intersubjektiv zu rechtfertigende Geltung beansprucht wird. Andererseits seien Glaubensüberzeugungen über Gegenstände der Anschauung selbst so konstituiert, dass sie durch begriffliche Erfassung und Kennzeichnungen in Rechtfertigungszusammenhänge einge155 Ebd. 156 Vgl. Enz § 20 A. 157 Vgl. Knappik 2013, S. 390.
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3 Das dezisionistische Verfahren
bunden sind, die nicht beliebig wählbar und somit kein Gegenstand von Entscheidungen sind. Epistemische Aktivität ziele immer auf intersubjektive Verstehbarkeit und sei damit immer auf das Allgemeine gerichtet, könne also nicht subjektiv entschieden werden.
3.2.6 Das Verhältnis von Wille und Intellekt bei Thomas von Aquin Neben den bereits diskutierten Aufsätzen, die von der Debatte um den doxastischen Voluntarismus innerhalb der Philosophie handeln, sind auch innerhalb der Theologie Auseinandersetzungen zur Frage danach, wie Wille und Intellekt beim Glauben zusammenhängen, zu finden. Insbesondere zur Zeit der Scholastik haben sich verschiedene Theologen damit auseinandergesetzt158, von denen hier Thomas von Aquin zur Untersuchung herausgegriffen werden soll. In seinen Werken lassen sich viele Ausführungen zur Verhältnisbestimmung von Wille und Intellekt in Bezug auf Glaubenszustimmung finden, die nicht nur in großem Ausmaß, sondern auch auf verschiedene Weise rezipiert wurden.159 Diese Ausführungen lassen gegensätzliche Interpretationen zu, die beim Akt der Zustimmung entweder dem Willen oder dem Intellekt mehr Gewicht beimessen. Weil Thomas dem Willen beim Akt der Zustimmung eine bedeutende Rolle zuschreibt, liegt eine Identifizierung seiner Position mit der von Vertretern des doxastischen Voluntarismus zunächst nahe. Als strittiger Punkt wird in der diesbezüglichen Thomas-Rezeption jedoch die Frage betrachtet, um welche Form des doxastischen Voluntarismus es sich bei Thomas handelt. Die ausführliche Analyse der Interpretation von Thomas’ Position zum doxastischen Voluntarismus soll eine fundierte Untersuchung dieser These im Kontext des religiösen Glaubens ermöglichen. Verschiedene Autoren haben unterschiedlich Stellung zu der Frage genommen, ob Thomas einen direkten oder indirekten doxastischen Voluntarismus vertreten habe. Schüßler schreibt ihm sogar einen doppelten doxastischen Voluntarismus zu, worauf im Folgenden160 noch eingegangen werden soll. Eine letztgültige Antwort auf die Frage danach, ob Thomas ein indirekter oder direkter doxastischer Voluntarismus zuzuschreiben sei, ist in diesem Rahmen nicht möglich. Dennoch ist eine Analyse seiner Verhältnisbestimmung von Wille und Intellekt im Akt der Zustimmung hilfreich in Bezug auf die Frage, ob wir uns dazu entscheiden können, etwas zu glauben. Deshalb soll der Auseinandersetzung mit Thomas der nötige Raum gegeben werden, wobei er zunächst selbst zu diesem Thema in seinen Werken zu Wort kommen soll. 158 Vgl. hierzu Schüßler 2012, S. 90–101: Schüßler führt beispielsweise einige späte Scholastiker wie Ignacio de Camargo, Luis Torres und Francisco Suárez zur Rolle des Willens bei der Thematisierung der Urteilsbildung an. 159 Vgl. ebd. 160 Vgl. Kapitel 3.2.6.4.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
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Daran anschließend werden insbesondere die Untersuchungen von Eisen Murphy und Niederbacher einbezogen, um fundierte Schlussfolgerungen ziehen zu können. 3.2.6.1 Die problematische Verhältnisbestimmung von Wille und Intellekt bei Thomas Zum Verhältnis von Wille und Intellekt beziehungsweise voluntas und intellectus finden sich bei Thomas einzelne Sätze und Passagen in verschiedenen seiner Werken verteilt, die teilweise einander widersprechende Interpretationen zulassen.161 Zunächst ist jedoch festzuhalten, dass dem Willen im Akt der Zustimmung insofern eine tragende Rolle zugesprochen wird, als dass die Erkenntnis durch den Willen prinzipiell in eine bestimmte Richtung geleitet wird. Dies sei aufgrund des Offenheitscharakters menschlicher Erkenntnis notwendig: „Da nämlich die erkennende Substanz auch wollend und dadurch Herrin ihres Aktes ist, steht es, nachdem sie das geistige Erkenntnisbild hat, in ihrer Macht, es zum aktuellen Erkennen zu gebrauchen, oder aber, wenn sie mehrere Erkenntnisbilder hat, eines von ihnen zu gebrauchen.“162
Der Wille entscheidet also, welches von verschiedenen Erkenntnisbildern in den Erkenntnisprozess einbezogen werden soll. Auch in Bezug auf ein und dasselbe Erkenntnisbild sei festzustellen, dass „[u]nsere Vernunft, auf Grund derselben Phantasmen denkend, […] nach verschiedenen Richtungen“163 strebt. So ist es gewöhnlich, dass „der Verstand von einer Spezies aus, die er in sich hat, zu verschiedenen Gedanken fortschreiten [kann], wie wir zum Beispiel durch die Spezies des Menschen Verschiedenes über den Menschen denken können.“164 Diese grundsätzliche Flexibilität ermöglicht es uns, verschiedene Erkenntnisbilder zu beachten, „wobei es sich um Bilder vom gleichen Objekt oder um Bilder numerisch verschiedener Objekte handeln kann.“165 Darüber hinaus können wir in Bezug auf ein und dasselbe Erkenntnisbild verschiedene Perspektiven einnehmen, woraus wiederum unterschiedliche Schlüsse gefolgert werden können. Dennoch ist diese Flexibilität „nicht vogelfrei, denn Begriffe sind an Beobachtungen gebunden, aber es ist eine Gebundenheit, die so viel Spielraum anbietet, daß man nicht voraussagen kann, wohin sie führen könnte, was etwas ganz anderes ist als das Reiz-Reaktion-Schema des Tieres“166. 161 Estanislao Arroyabe hat sie in seinem Werk Das reflektierende Subjekt. Zur Erkenntnistheorie des Thomas von Aquin, Frankfurt am Main 1988 im V. Kapitel zusammengetragen. Auch wenn sein Interesse dabei darin bestand, die Erkenntnistheorie des Thomas zu untersuchen, kann auf sie für den Kontext des doxastischen Voluntarismus zurückgegriffen werden. 162 S. G. II, 101. 163 Ver. 8,13, ad 14. 164 Ver. 8,13, ad 2. 165 Arroyabe 1988, S. 102. 166 Ebd.
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Den Grund dieser Flexibilität sehe Thomas „darin, daß zum Akt jedes Erkenntnisvermögens Anspannung (intentio) erforderlich ist“167. Weiter heißt es: „Damit nämlich der Geist (mens) etwas aktuell denke, ist eine Willensintention (intentio volentis) erforderlich, durch die der Geist sich aktuell der Spezies zuwendet, die er in sich hat“168. Arroyabe weist darauf hin, dass es von entscheidender Bedeutung sei, was Thomas in diesem Kontext mit „intendere, intentio“ zum Ausdruck bringen will. Einerseits könne damit die „Absicht“ bezeichnet werden, andererseits „das Ausgerichtetsein“. Arroyabe geht davon aus, dass an dieser Stelle jedoch beides gemeint sei: „‚ein absichtliches Ausgerichtetsein‘, also eine Richtung, die nicht blind oder instinktiv eingeschlagen wird, sondern absichtlich.“169 Unsere Erkenntnisfähigkeit ist demnach flexibel, insofern sie in verschiedene Richtungen ausgerichtet sein kann. Damit ist sie insofern zwangsläufig kontingent, „als sie Ergebnis einer eingeschlagenen Richtung ist, als also eine Wahl dahinter steht.“170 Dass diese Wahl aber noch nicht Willkür implizieren muss, wird deutlich, wenn wir in Betracht ziehen, dass Thomas bisweilen den Ausdruck „appetitus intellectivus“171 verwendet, wenn er vom Willen schreibt, womit er ein „vernunftgeleitetes Streben“ meint.172 Dabei scheint er der Vernunft eine gewisse Priorität zuzuschreiben, wie es auch den folgenden Zeilen aus Quaestiones disputatae de veritate zu entnehmen ist: „Der Verstand ist im Verhältnis zum Willen das Erste.“173 Präziser heißt es: „Die Tätigkeit des Willens fängt dort an, wo die Tätigkeit des Verstandes endet.“174 Und: „Der Wille richtet sich nach einem andern Vermögen, dem Verstand, der Verstand aber nicht.“175 Andererseits sind bei Thomas Ausführungen zu finden, die die soeben dargestellte Ordnung von Wille und Vernunft auf den Kopf stellen. Eine dieser Aussagen wurde oben bereits zitiert: „Damit nämlich der Geist (mens) etwas aktuell denke, ist eine Willensintention (intentio volentis) erforderlich, durch die der Geist sich aktuell der Spezies zuwendet, die er in sich hat.“176 Weiterhin heißt es in derselben Quaestio: „Damit wir aber zum aktuellen Denken übergehen, ist eine Willensintention erforderlich.“177 Ohne den Willen ist also nach Thomas kein Verstehen möglich. Nur der Wille habe das Ziel im Auge. „Und daher kommt es, daß der Wille alle anderen Kräfte in Bewegung setzt, weil jede Bewegung mit der Richtung auf das Ziel (ex finis 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177
Ver. 13,3,c. Ver. 8,13,c. Arroyabe 1988, S. 102. Arroyabe 1988, S. 105. Vgl. Ver. 10,1, ad 2. Arroyabe 1988, S. 109. Ver. 12,5,c. Ver. 10,11, ad 6. Ver. 14,1, ad 3. Ver. 8,13,c. Ver. 8,13, ad 5.
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intentione) anfängt.“178 Folglich wird der Wille begriffen als „Beweger aller Kräfte“179, was in den folgenden von Arroyabe180 übersetzten Stellen aus Thomas’ Werken besonders deutlich wird: „‚[D]as Erkennen wirkt keine Wirkung, es sei denn mittels des Willens, dessen Gegenstand das erkannte Gute ist, welches als Ziel den Wirkenden bewegt‘ [S. G. II, 23]. Mehr noch: ‚Das ganze Bewegen der Vernunft liegt im Willen‘ [Pot. 1,5,c.] oder, noch deutlicher gesagt: ‚Der Wille überführt jede Potenz in ihren Akt. Wir erkennen nämlich, weil wir wollen, und stellen uns vor, weil wir wollen‘[S. G. I, 72].“181
Mit diesen Aussagen schreibt Thomas dem Willen ganz klar den Vorrang im Erkenntnisprozess zu. Jedoch ist Arroyabe zuzustimmen, wenn er sagt, es wäre falsch, die zwei Textgruppen gegeneinander auszuspielen. Einerseits lenke der Wille die Aufmerksamkeit der Vernunft auf bestimmte Sachverhalte, andererseits sei das von ihm Gewollte selbst nicht per se im Willen selbst, sondern autonom-vernünftig eruiert – weshalb der Erkenntnisakt auch kein automatischer sei, sondern als frei verstanden werden dürfe. „Demzufolge kann die Alternative ‚Intellekt vor dem Willen‘ oder ‚Wille vor dem Intellekt‘ thomistisch betrachtet nur eine falsche Alternative sein; es heißt nicht ‚entweder-oder‘, sondern ‚sowohl als auch‘.“182 Dieser als thomistisch bezeichneten Position kommt Arroyabe mit Textbelegen bei, wie etwa dem folgenden: „Und so bezeichnet die freie Entscheidung keinen Habitus, sondern eine Potenz des Willens oder der Vernunft, und zwar das eine im Verhältnis zum anderen (unam … per ordinem ad alteram). So nämlich geht der Akt der Wahl vor sich, er geht von einem von beiden aus durch das Verhältnis zum anderen, gemäß dem, was der Philosoph im IV. Buch der Ethik (Kap. II, nicht weit vom Ende) sagt: Die Wahl ist ein Streben der Erkenntnis oder eine Einsicht des Strebevermögens (appetitus intellectivi vel intellectus appetitivi).“183
Dieses Ineinander von Wille und Vernunft lässt sich auch im Folgenden finden: „Das Urteil ist Sache der Vernunft, die Freiheit des Urteilens aber unmittelbar Sache des Willens“184. Noch deutlicher wird es in Quaestiones disputatae de veritate 22,13, ad 2: „Da Vernunft und Wille sich wechselseitig bewegen und unter verschiedenen Gesichtspunkten eins früher ist als das andere, ‚kann jedem mit Beziehung auf das andere ein Akt zugeschrieben werden‘“185. Auf den Punkt gebracht heißt es: „Das Denken denkt vom Willen her, und der Wille will denken.“186 Weil diese Durchdringung und gegenseitige Bedingtheit reflexiv eruiert ist, hält Thomas fest: 178 179 180 181 182 183 184 185 186
Ver. 14,2, ad 6. Ver. 19,2, ad 4. Vgl. Arroyabe 1988, S. 111. Ebd. Ebd. Ver. 24,4,c. Ver. 24,6, ad 3. Ver. 22,13, ad 2. STh. I-II, 17,1,c.
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„[D]ie Reflexion hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Kreisbewegung, in dem das, was zunächst Anfang war, das Letzte in der Bewegung ist; und so muß man bei der Reflexion sagen, was zuerst das Frühere war, werde hernach das Spätere; obwohl also der Verstand, schlechthin betrachtet, früher ist als der Wille, so wird er doch durch die Reflexion später als der Wille.“187
Die Gleichrangigkeit ist darauf zurückzuführen, dass Erkenntnisprozesse einerseits ohne Vernunft keinen Anfang finden können, aber andererseits auch gar nicht erst einsetzen können, wenn sie nicht durch den Willen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Der Wille bewegt die Vernunft zu ihrer Operation, wohingegen die Vernunft die Inhalte vorgibt, nach denen und von denen aus gestrebt werden kann188: „Sowohl dem Willen als der Vernunft steht eine Herrschaft zu, aber in verschiedener Hinsicht; dem Willen, sofern Herrschaft ein Hinlenken (inclinatio) bedeutet; der Vernunft, sofern für diese Hinwendung die Ausführung durch diesen oder jenen angeordnet und bestimmt wird.“189
Er präzisiert: „Obwohl also der Verstand, schlechthin betrachtet, höher steht als der Wille, wenigstens hinsichtlich gewisser Dinge, so erweist sich doch im Hinblick auf die Art des Bewegens (secundum rationem movendi), die dem Willen entsprechend dem eigenen Sinn des Objekts (ex ratione propria objecti) zukommt, der Wille als höher strebend.“190
Am deutlichsten kommt die Gleichrangigkeit wohl in Quaestiones disputatae de veritate 14,5, ad 5 zum Ausdruck: Es müsse demnach geschlussfolgert werden, „daß Wille und Verstand sich in verschiedener Weise wechselseitig vorangehen. Der Verstand geht dem Willen im Empfangen (in via receptionis) voraus; denn damit etwas den Willen bewegen könne, muß es erst im Verstand aufgenommen werden (Über die Seele III). Doch im Bewegen oder Tun ist der Wille früher, denn jede Tätigkeit oder Bewegung geht aus dem Streben nach dem Guten hervor.“191
Dasjenige Ziel nämlich, das der Wille nach Thomas anstrebt, ist das, was vom Verstand als Gutes erkannt wird.192 Dadurch sei der Wille jedoch nicht unfrei, wie es etwa der Verstand in Bezug auf seinen vorgefundenen Gegenstand (intelligibile) ist – „der Wille aber kann von dem Strebensziel (appetibilie) nicht gezwungen werden.“193 Trotz dieser Form der Freiheit, die sich insbesondere in der Aufmerksamkeitslenkung des Intellekts zu realisieren scheint, ist der Wille jedoch nicht dazu fähig, den Verstand zu einer Erkenntnis oder Zustimmung zu bewegen: „Die Tätigkeit des Verstandes kann im Gegensatz zur Neigung des Menschen, d.i. zum Willen, stehen; zum Beispiel, wenn jemandem eine Ansicht gefällt, wenn er aber durch die Kraft von Beweisgründen dahin geführt wird, mit dem Verstand dem Gegenteil zuzustim187 188 189 190 191 192 193
Ver. 22,12, ad 1. Vgl. Arroyabe 1988, S. 112; vgl. auch STh. I-II, 9,1, ad 3. Ver. 22,12, ad 4. Ver. 22,12, ad 5. Ver. 14,5, ad 5. Vgl. S. G. I, 74 und S. G. II, 27. Ver. 28,3, ad 6.
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men.“194 Hier scheint es so, als hätte trotz der wechselseitigen Durchdringung von Wille und Intellekt dennoch der Verstand das letzte Wort, weil eine auf Beweisgründen basierende Zustimmung nicht willentlich verändert werden könne. Zwar liege „es in der Macht des Willens […] zu wollen oder nicht zu wollen. Gleichfalls steht es in seiner Macht, daß die Vernunft etwas tatsächlich überlegt oder zu überlegen aufhört und auch, daß dieses oder jenes überlegt wird.“195 Dennoch bedeutet diese implizite Willensbedingtheit der Erkenntnis nicht, dass der Wille, p zu wissen oder zuzustimmen, ausreicht, um dieses Wissen oder diese Zustimmung zu bewirken. Wie Arroyabe schreibt, ist wohl eher gemeint, „daß es ohne Einsatz, ohne Willen zu wissen, zu keinem Wissen kommt, womit allerdings der Erfolg der jeweiligen Anstrengungen keineswegs garantiert ist.“196 Warum Thomas trotz der bis hierhin skizzierten Position bisweilen eine Form des direkten doxastischen Voluntarismus zugeschrieben wird, ist im Folgenden zu untersuchen. 3.2.6.2 Hinweise auf einen direkten doxastischen Voluntarismus bei Thomas Dass Thomas überhaupt mit dem doxastischen Voluntarismus assoziiert wird, ist nicht verwunderlich, weil er dem Willen im Erkenntnisprozess eine tragende Rolle zuschreibt, wie soeben gezeigt wurde. Jedoch scheint aus dem soeben Aufgezeigten ebenfalls hervorzugehen, dass Thomas keinen direkten doxastischen Voluntarismus hätte vertreten können, weil der Wille das Subjekt nicht zu einer Zustimmung bewegen kann, indem er den Verstand übergeht. Dennoch erachteten beispielsweise laut Schüßler Interpreten der frühen Neuzeit Thomas als direkten doxastischen Voluntaristen.197 Als Indiz für ihre Annahme, dass er eine unmittelbare Zustimmung oder Verneinung einer Aussage durch einen willentlichen Entschluss für möglich hält, werde offenbar der Artikel 6 der Quaestio 17 in Teil I-II der Summa theologiae aufgefasst: „wenn das Aufgefasste (apprehensa) also von der Art ist, dem der Intellekt in natürlicher Weise zustimmt (assentire), wie z. B. die ersten Prinzipien, dann liegt Zustimmung oder Verneinung dazu nicht in unserer Macht, sondern in der Ordnung der Natur begründet. Und so untersteht sie eigentlich dem Befehl der Natur. Es gibt aber aufgefasste Dinge, die den Intellekt nicht so sehr überzeugen, dass er nicht aus irgendeinem Grund zustimmen oder verneinen (dissentire) könnte, oder sich wenigstens der Zustimmung oder Verneinung enthalten. In solchen Dingen steht Zustimmung oder Verneinung in unserer Macht und unterliegt dem Befehl.“198
Für solche Fälle also, in denen Sachverhalte nicht eindeutig sind, unterliegen Zustimmung und Verneinung dem Befehl, heißt es hier, weswegen Thomas an dieser Stelle ein direkter doxastischer Voluntarismus zugeschrieben werden kann.199 An ei194 195 196 197 198 199
Ver, 22,5, ad 3. S. G. III, 10. Arroyabe 1988, S. 118. Vgl. Schüßler 2012, S. 77. STh. I-II, 17,6,c; Übersetzung zitiert aus Schüßler 2012, S. 79. Vgl. Schüßler 2012, S. 80.
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ner weiteren Stelle grenzt er willentliche Akte verschiedener Art voneinander ab, darunter das, was willentlich befohlen (imperare) wird von dem, was willentlich hervorgebracht (elicitur) wird. Während er den Akt des Willens mit dem vom Willen Hervorgebrachten selbst identifiziert, fasst er das vom Willen Befohlene als weniger unmittelbar auf. Für Letzteres, also das vom Willen Befohlene, nennt er Beispiele wie das Umhergehen oder Reden.200 Dennoch kann der Akt des Befehlens von Urteilen, vom Umhergehen oder vom Reden als Indiz für einen direkten doxastischen Voluntarismus verstanden werden. Alston beispielsweise kennzeichnet ähnliche Handlungen dieser Art, wie z. B. das Bewegen von Gliedmaßen, als „basic actions“: „Let’s call the kind of control we have over our states of affairs we typically bring about by basic actions, ‚basic voluntary control‘. If we do have voluntary control of beliefs, we have the same sort of reason for supposing it to be basic control that we have for supposing ourselves to have basic control over the (typical) movements of our limbs, viz., that we are hard pressed to specify any voluntary action by doing which gets the limbs moved or the beliefs engendered.“201
Darüber hinaus identifiziert Alston also solche Thesen, die den Akt des Urteilens ebenfalls als eine derartige durch einen willentlichen Befehl hervorgebrachte Basishandlung begreifen, als Ausdruck des direkten doxastischen Voluntarismus beziehungsweise als These der „basic voluntary control“ (BVCT)202. Der mögliche Einwand, dass Thomas und Alston in diesem Punkt nicht aufeinander bezogen werden könnten, weil sie die Begriffe „belief“ und Zustimmung beziehungsweise „assensus“ auf verschiedene Weisen verwenden, wäre verfehlt, weil in beiden Fällen das Fürwahrhalten von Aussagen gemeint ist. So kommt etwa Schüßler zu dem Schluss: „Demnach scheint Thomas in Summa theologiae I-II, 17.6 in der Tat die BVCT zu vertreten.“203 Dennoch fügt auch er sogleich hinzu, dass die Rede vom Befehl des Willens bei Thomas nicht als Beweis, sondern lediglich als ein Indiz für einen direkten doxastischen Voluntarismus betrachtet werden sollte. Was Thomas dagegen nach Schüßler auf keinen Fall in der zitierten Stelle behaupte, sei die Möglichkeit, beliebigen Aussagen wahlweise zuzustimmen. Er unterscheidet nämlich einerseits diejenigen Propositionen, deren Wahrheit sich uns unmittelbar aufdrängt (wie z. B. solche analytischer oder logischer Art) von andersartigen Propositionen, die zum Gegenstand vernünftiger Zweifel werden können. Allenfalls in Bezug auf letzteren Bereich könne Thomas vor dem Hintergrund des von Schüßler genannten Zitates aus der Summa theologiae ein doxastischer Voluntarismus zugeschrieben werden, was selbst von Alston anerkannt werde.204 200 Vgl. STh. I-II, 1,1, ad 2. 201 Alston 1988, S. 119. 202 Wie bereits im Kapitel zu Alston gezeigt wurde, meint Alston mit der BVCT (basic voluntary control thesis) das, was nach der Unterscheidung zwischen dem direkten und indirekten doxastischen Voluntarismus als direktem doxastischem Voluntarismus bezeichnet wird. 203 Schüßler 2012, S. 81. 204 Vgl. Schüßler 2012, S. 81 f.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
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Bei der Frage, ob Thomas tatsächlich ein direkter doxastischer Voluntarismus wie bei Alston zugeschrieben werden kann, ist jedoch nicht nur zu prüfen, ob die Begrifflichkeiten, wie sie von Thomas und Alston verwendet werden, deckungsgleich sind; es muss auch gezeigt werden, dass die Aussagen von Thomas nicht nur für religiösen Glauben gelten, weil die Debatte um den doxastischen Voluntarismus sich in erster Linie um den epistemischen Glaubensbegriff dreht. Zwar ist es nachvollziehbar, dass Thomas’ Aussagen hier zunächst auf einen möglichen willentlichen Befehl zu ausschließlich religiösem Glauben bezogen werden, weil aus scholastischer Sicht „das Individuum einen zurechenbaren Beitrag zum Akt des Glaubens leisten“205 müsse. Dies bedeutet, dass der Wille am Akt des Glaubens beteiligt sein müsse. Dennoch lasse der scholastische Begriff des Glaubens auch immer eine epistemische Lesart zu, nach der er einer der drei doxastischen Zustände des Wissens (scientia), des Glaubens (fides) und der bloßen Meinung (opinio) sei. Während das Wissen durch die volle Einsicht von Gründen der Wahrheit einer Proposition gekennzeichnet ist und in der Meinung die Befürchtung enthalten ist, dass die angenommene Wahrheit ein Irrtum sein könnte, ist für den epistemischen Zustand des Glaubens eine subjektive Gewissheit charakteristisch: Damit können zwar nicht wie im Falle des Wissens zwingende Gründe für den Glaubensgehalt dargelegt werden. Dennoch wird die Glaubensüberzeugung in Abgrenzung zur bloßen Meinung mit einem „starken Anspruch auf Gewissheit und Wahrheit“206 vertreten. Insofern dieses Verständnis von Glauben als epistemische Einstellung auch speziell auf den religiösen Glaubensbegriff anwendbar ist, kann also festgehalten werden, dass sowohl bei Alston und anderen (hier vorgestellten) Befürwortern oder Gegnern der These des doxastischen Voluntarismus als auch in scholastischen Auseinandersetzungen mit dieser Frage das gleiche Verständnis von Glauben zugrunde liegt. Weil darüber hinaus in Summa theologiae I-II, 17.6 nicht der Grad an subjektiver Gewissheit, sondern vielmehr der Aspekt der Zustimmung des Glaubens angesprochen wird, entsprechen diese Ausführungen von Thomas also tatsächlich der Fragestellung der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem doxastischen Voluntarismus und legen „einen direkten doxastischen Voluntarismus im Sinne von Alstons basic voluntary control thesis (BVCT) mindestens nahe.“207 Dass Schüßler auch nicht bei dieser Einschätzung stehen bleibt, wird gezeigt, nachdem zunächst Positionen eingeführt werden, die bei Thomas einen indirekten doxastischen Voluntarismus sehen. 3.2.6.3 Hinweise auf einen indirekten doxastischen Voluntarismus bei Thomas Im Anschluss an Schüßler sollen hier zwei neuere Untersuchgen zum doxastischen Voluntarismus bei Thomas vorgestellt werden. Claudia Eisen Murphy und Bruno 205 Schüßler 2012, S. 82. 206 Müller 2008, S. 29. Vgl. auch Schüßler 2012, S. 82. 207 Schüßler 2012, S. 83.
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3 Das dezisionistische Verfahren
Niederbacher analysieren Summa theologiae I-II, 17.6 daraufhin, ob aus dieser Stelle gefolgert werden muss, dass Thomas den doxastischen Voluntarismus in der direkten Form vertreten habe. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass dies nicht der Fall sei208, was sie durch STh I-II 9.1 ad 3 stützen. Dort verweist Thomas nämlich auf eine grundlegende scholastische Unterscheidung, ohne die sein gedachtes Verhältnis von Wille und Intellekt nicht verstanden werden kann: „Der Wille bewegt den Intellekt im Hinblick auf die Ausübung seines Aktes, da selbst das Wahre, welches eine Vollkommenheit des Intellektes darstellt, im universalen Guten als partikuläres Gut enthalten ist. Doch im Hinblick auf die Bestimmung des Aktes, die vom Objekt herrührt, bewegt der Intellekt den Willen, da das Gute unter einem speziellen Gesichtspunkt aufgefasst wird, der im universalen Gesichtspunkt der Wahrheit enthalten ist.“209
Wie bereits vorhin unter Bezugnahme auf Arroyabe herausgearbeitet worden ist, kann auch hier eine Arbeitsteilung von Wille und Intellekt festgestellt werden. Während der Wille hinsichtlich der Ausübung eines Aktes (quod exercitium) die Führung übernimmt, ist bei der näheren Bestimmung des Aktes (quoad determinationem oder quoad specificationem) der Intellekt maßgeblich. Wie Schüßler ebenso anmerkt, hängt die Frage, ob Thomas die These des direkten doxastischen Voluntarismus vertrat, vom Verständnis dieser Differenzierung ab.210 Eisen Murphy und Niederbacher sind sich darin einig, dass dem Willen die Aufgabe zukommt, einen Akt zu motivieren, der für die Wahrheitsfindung überhaupt notwendig ist. Bei Eisen Murphy kommt dies zum Ausdruck, wenn sie schreibt, dass der Wille bewirke, dass einer Sache besondere Aufmerksamkeit gewidmet und nach weiterer Evidenz gesucht wird: „[T]he will can move the intellect to particular types of acts, but it cannot move the intellect to particular acts with particular objects. In other words, an agent has direct voluntary control over the exercise of the intellect’s acts, and can determine the type of act it produces, even if it cannot determine the act’s object. […] [T]he will cannot command intellect to the specification of its act, to a specific judgement or belief with a specific object.“211
Niederbacher bringt es folgendermaßen zum Ausdruck: „Der Wille bewegt den Verstand – so hatten wir gesagt – und alle anderen Vermögen, die willentlich beeinflussbar sind, auf die Weise eines Tätigen. Es geht hier zunächst nicht um eine willentliche Beeinflussung dessen, was der Verstand erfasst, sondern darum, dass er überhaupt erfasst. […] Thomas arbeitet mit der Unterscheidung quantum ad exercitium actus – quantum ad determinationem/specificationem actus. Dass ein Vermögen eine Tätigkeit ausführt, unterliegt dem Willen. Welche Bestimmung diese Tätigkeit hat, unterliegt nicht dem Willen. Es läuft ein natürlicher Prozess ab, bei dem ein Vermögen vom objectum proprium bewegt wird. Es liegt bei mir, die Augen zu öffnen oder zu schließen. Es liegt nicht bei mir, grün oder rot zu sehen. Ich
208 209 210 211
Vgl. Eisen Murphy 2000, S. 569–597 und Niederbacher 2004. STh. I-II 9,1 ad 3. Vgl. Schüßler 2012, S. 84 f. Eisen Murphy 2000, S. 579.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
153
kann bestimmen, etwas zu erforschen oder nicht zu erforschen; ich kann nicht bestimmen, dass das Erforschte p und nicht q ergibt.“212
Dabei wird der Objektbezug von Eisen Murphy und Niederbacher in besonderer Weise in den Vordergrund gerückt: Das Objekt fließt in doppelter Weise in den Prozess der Erkenntnis ein. Der Wille ist einerseits auf den Intellekt angewiesen, um Objekte zu begreifen; ohne letzteren wäre ersterer also blind. Nur, wenn ein zu erkennender Gegenstand als ein solcher erkannt wird, kann der Wille den Intellekt dazu anleiten, in Bezug darauf weitere Forschungen anzustellen. „Wille und Intellekt wirken hierbei zusammen, indem der Wille die Ausführung einer Handlung befiehlt, deren Objekt der Intellekt vorgibt.“213 Aber nicht nur der Intellekt gibt das Handlungsobjekt vor, sondern die intellektuelle Erfassung des Gegenstandes ist wiederum von diesem Gegenstand selbst eingeschränkt. Wie bereits festgestellt soll es nun im Bereich des Möglichen liegen, eine doxastische Einstellung dann durch den Willen zu beeinflussen, wenn keine zwingende Evidenz vorliegt. Eisen Murphy differenziert in Anlehnung an Alston zwei Voraussetzungen des doxastischen Voluntarismus: Erstens handele es sich bei einer Zustimmung zu p dann um eine willensabhängige, wenn die Zustimmenden sich auch gegen p hätten entscheiden können – wenn also das Prinzip alternativer Möglichkeiten beziehungsweise das principle of alternate possibilities (PAP) erfüllt wird. Dies könne auf zwei Weisen geschehen, nämlich durch das Negieren statt einer Zustimmung (starker Weg) sowie durch eine Enthaltung anstelle einer Zustimmung (schwacher Weg). Zweitens sei eine Zustimmung zu p als nicht vom Willen abhängig zu betrachten, wenn sie aus einer vorliegenden Evidenz oder wahrheitsbezogenen Überlegungen zu einer Erkenntnis resultiert.214 Nach Eisen Murphy würde Thomas lediglich die erste Prämisse bejahen, wohingegen er die zweite zurückweisen würde, weil sich nach seinem Verständnis eine freie Willensentscheidung und eine durch Evidenz verursachte Zustimmung nicht gegenseitig ausschlössen.215 Schüßler pflichtet Eisen Murphys Interpretation bei und erläutert diese These folgendermaßen: „Eine Person kann ausreichende epistemische Gründe für das Fürwahrhalten einer Aussage haben, aber die Zustimmung zur Aussage mag dennoch von einem Akt des Willens (z. B. einem Beschluss zum Geschehenlassen) abhängen. Wenn die Person sich für Zustimmung entscheidet, sind es gleichwohl die wahrheitsbezogenen Gründe für die Aussage, die Zustimmung bewirken. Eine kausale Wirkung von Gesichtspunkten der Evidenz schließt mithin nicht aus, dass eine Person diese Gesichtspunkte willentlich zur Wirkung kommen lässt. Alston [beispielsweise] geht dagegen von einem Modell gleichsam automatischer Zustimmung zu hinreichend hoch wahrscheinlichen Aussagen aus.“216
212 213 214 215 216
Niederbacher 2004, S. 62. Schüßler 2012, S. 86. Vgl. Eisen Murphy 2000, S. 585. Vgl. ebd. Schüßler 2012, S. 87.
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3 Das dezisionistische Verfahren
Trotz der Zurückweisung dieser zweiten Voraussetzung sei Thomas nicht zwangsläufig ein direkter doxastischer Voluntarismus zuzuschreiben, aber laut Eisen Murphy sei aus Summa theologiae I-II, 17.6 die Möglichkeit zu folgern, dass wir uns selbst im Falle einer evidentiell zustimmungsfähigen Proposition p eines Urteils über p enthalten oder p sogar verneinen könnten, wenn es heißt: „Es gibt aber aufgefasste Dinge, die den Intellekt nicht so sehr überzeugen, dass er nicht aus irgendeinem Grund zustimmen oder verneinen (dissentire) könnte, oder sich wenigstens der Zustimmung oder Verneinung enthalten. In solchen Dingen steht Zustimmung oder Verneinung in unserer Macht und unterliegt dem Befehl.“217
Wird diese Stelle so verstanden, wie eben vorgeschlagen, stehen wir jedoch vor dem Problem, dass wir erklären müssen, wie eine Verneinung einer Aussage möglich sein soll, der wir aufgrund der Evidenzlage zustimmen könnten. Mit Schüßler ist festzustellen: Sollte Thomas behaupten, dass wir aufgrund einer willentlichen Entscheidung eine Zustimmung zu non-p geben könnten, selbst wenn dieses Urteil schlechter begründet wäre als sein Gegenteil, wäre die epistemische Lage des Thomas hier aussichtslos. Niederbacher sieht diese Annahme jedoch auch nicht von Thomas vertreten und schreibt: „Der Wille kann Vermögen nicht gegen ihre Ausrichtung beeinflussen. Er kann z. B. nicht dem Kopf befehlen, sich einmal um die eigene Achse zu drehen. Ebensowenig kann der Wille den Verstand gegen seine Ausrichtung erfolgreich beeinflussen. Der Verstand ist auf Wahrheit ausgerichtet. Wenn etwas offensichtlich wahr erscheint, haben wir keine Macht über die Zustimmung. Man kann sich nicht bei Wahrnehmung strahlenden Sonnenscheins dazu entscheiden, zu meinen, es schneie. Die Zustimmung zur Negation einer Proposition, die wir als sicher wahr erkannt haben, gehört nicht in den Bereich willentlichen Einflusses.“
Aber nicht nur in dem Fall, in dem wir eine Proposition p für wahrscheinlich wahr halten, ist es unmöglich, diese willentlich motiviert zu verneinen. Auch, wenn die Wahrheit von p ungewiss ist, könnten wir nach Thomas nicht die Wahrscheinlichkeit ihrer Wahrheit vergrößern, indem wir unseren Willen hinzuziehen. Sowohl Niederbacher als auch Eisen Murphy gehen davon aus, dass Thomas eine Position des direkten doxastischen Voluntarismus nicht zugeschrieben werden könne. Stattdessen sei ihm ein indirekter doxastischer Voluntarismus zuzurechnen, weil er wie bereits angemerkt lediglich die Möglichkeit einer Einflussnahme auf die Bildung bestimmter Überzeugungen, die z. B. in einer Aufmerksamkeitslenkung oder in gezieltem Nachdenken realisiert werden kann, postuliere. Durch diese indirekte Einflussnahme auf unsere Überzeugungsbildung ließe sich demnach eine vorläufige Zustimmung zu p oder non-p verändern. Schüßler meint, dass damit jedoch nicht alle Probleme in Bezug auf Thomas’ doxastischen Voluntarismus ausgeräumt seien. Erstens könne nach wie vor nicht ignoriert werden, dass der Wille über Zustimmung, Urteilsenthaltung und Verneinung befehle. Zweitens könne auch die zitierte Passage aus Summa theologiae I-II 9.1 abwei217 STh. I-II, 17,6,c; Übersetzung zitiert aus Schüßler 2012, S. 79.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
155
chend von Niederbacher und Eisen Murphy so ausgelegt werden, dass das Urteilen ebenfalls zur Ausübung des Intellekts gehöre. Demnach würden nicht nur das „Nachforschen und die Lenkung der Aufmerksamkeit dem Willen [obliegen], sondern auch die Entscheidung, nach einem Prozess der Überlegung ein abschließendes Urteil zu fällen. Lediglich das Ergebnis des Urteils bestimmt der Intellekt.“218 3.2.6.4 Die Form des doppelten doxastischen Voluntarismus nach Schüßler als Lösungsansatz? Schüßler hält fest, dass vor dem Hintergrund der starken Meinungsverschiedenheiten darüber, ob Thomas diejenige Position zugeschrieben werden könne, die heute von Vertretern des direkten respektive indirekten doxastischen Voluntarismus eingenommen wird, kein eindeutiges Urteil in Bezug auf diese Problematik gefällt werden könne. Deshalb schlussfolgert er: „Am nächsten komm[e] man Thomas’ Position, wenn ihm ein doppelter doxastischer Voluntarismus zugeschrieben wird: ein indirekter doxastischer Voluntarismus bei der Wahrheitsfindung und darüber hinaus ein unmittelbarer Voluntarismus von Urteil und Urteilsenthaltung.“219
Unter einem solchen doppelten doxastischen Voluntarismus versteht er also das Zusammenspiel von direkter und indirekter willentlicher Einflussnahme auf die Glaubenszustimmung zu p in folgenderweise: Liegt eine Unsicherheit in Bezug auf p vor, könne das Subjekt sich dem indirekten doxastischen Voluntarismus gemäß dazu entscheiden, Nachforschungen anzustellen und nach weiteren Gründen für die Zustimmung zu p zu suchen. Nach erfolgter Untersuchung sei es dann dazu in der Lage, sich gemäß dem direkten doxastischen Voluntarismus willentlich für eine Zustimmung zu p oder eine Enthaltung zu entscheiden – jedoch könne es nicht einfach zwischen einer Zustimmung und Verneinung wählen: „Bei jedem dieser Paare [assentire/assensum suspendere und dissentire/dissensum suspendere] kann der Wille unter der Bedingung, dass ausreichende aber nicht sichere Evidenz vorliegt, ‚befehlen‘ und somit unmittelbar eine der Alternativen wählen. Nicht möglich ist dagegen eine unmittelbare willkürliche Entscheidung ‚über Kreuz‘ zwischen assensus und dissensus. Wenn Thomas schreibt: ‚In solchen Dingen steht die Zustimmung oder Verneinung in unserer Macht und unterliegt dem Befehl‘, dann meint er demnach Zustimmung oder Verneinung relativ zur Zustimmungs- oder Verneinungsenthaltung. Thomas von Aquin vertrat für Aussagen, deren Wahrheit oder Falschheit sich nicht zwingend aufdrängt, folglich sowohl einen indirekten doxastischen Voluntarismus als auch einen unmittelbaren doxastischen Voluntarismus der Urteilsenthaltung.“220
Mit dieser Deutung des doppelten doxastischen Voluntarismus bliebe Thomas’ doxastischer Voluntarismus „gemäßigt und wahr[e] den Einklang mit dem Prinzip, nichts 218 Schüßler 2012, S. 89. 219 Schüßler 2012, S. 106. 220 Schüßler 2012, S. 105.
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3 Das dezisionistische Verfahren
ohne ausreichende Evidenz zu glauben.“221 Neben Schüßlers Anliegen, für Thomas einen Mittelweg zwischen direktem und indirektem doxastischen Voluntarismus zu beanspruchen, gibt er jedoch keine überzeugenden Gründe für seine Zuschreibung dieses dritten Typus an und er erläutert ihn auch nicht detaillierter. 3.2.6.5 Schlussfolgerungen und Anfragen an dieses Konzept Den diskutierten Artikel 6 der Quaestio 17 in Teil I-II der Summa theologiae deutet Schüßler so, dass Thomas sich hier auf eine Zustimmung oder Verneinung relativ zur Zustimmungs- oder Verneinungsenthaltung beziehe, wenn er schreibt, dass sie unserem Befehl unterläge. Diese Deutung ist jedoch fragwürdig, weil Schüßler damit erstens die Enthaltung zu einer wirklichen Alternative zu den epistemischen Urteilen assensus und dissensus aufwertet. Der Akt der Enthaltung verweist schon in sprachlicher Hinsicht nicht auf ein Urteil oder eine epistemische Haltung, sondern dagegen auf eine Verweigerung einer Positionierung. Zweitens verfährt er so, als gäbe es durch die alternativen Paare assentire/assensum supendere und dissentire/dissensum supsendere vier Alternativen der epistemischen Haltung. Dagegen ist zu halten, dass es allenfalls drei Haltungen zu einem epistemischen Urteil geben kann, weil sich die Enthaltung immer bereits auf die Alternativen zwischen Zustimmung und Verneinung bezieht. Eine Abgrenzung einer Enthaltung in Bezug auf Zustimmung von einer Enthaltung in Bezug auf Verneinung ist somit nicht nachvollziehbar. Darüber hinaus ist zu kritisieren, dass Schüßlers Aufsatz den Verdacht erweckt, dass er mit seinem eingeführten dritten Typus des doppelten doxastischen Voluntarismus einen Widerspruch begeht. Nach einer alternativen Ausdeutung könnte sein Modell stattdessen bereits im indirekten doxastischen Voluntarismus aufgehen. Deshalb ist hier kurz nachzuvollziehen, auf welche Weise dieser dritte Typus gedacht werden kann. Zusammenfassend ist also festzuhalten: Charakteristisch für den doppelten doxastischen Voluntarismus ist, dass er den indirekten mit dem direkten doxastischen Voluntarismus in sich vereinen soll. Eine indirekte willentliche Kontrolle hätten wir demnach über die Zustimmung zu p durch die Suche nach Gründen der Wahrheit für p, wobei wir ebenfalls eine direkte willentliche Kontrolle über Urteil und Urteilsenthaltung im Anschluss an diese Untersuchung hätten. Je nachdem, wie dieses doppelte Konzept zu verstehen ist, stellen sich zwei verschiedene Fragen an ebendieses. Eine erste Möglichkeit dieses Konzept zu verstehen, könnte beinhalten, dass wir uns nach indirekter willentlicher Einflussnahme – also nach einer willentlichen Lenkung unserer Untersuchung (Aspekt des indirekten doxastischen Voluntarismus) – noch immer in der Situation der Ungewissheit befinden. Nach dem ersten Deutungsmuster des doppelten doxastischen Voluntarismus könnte jetzt die Möglichkeit bestehen, dass wir uns plötzlich doch direkt entscheiden können, der immer noch ungewissen Proposition p zuzustimmen. 221 Ebd.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
157
Nach dieser Deutung entsteht jedoch der Verdacht, dass man mit der Behauptung eines doppelten doxastischen Voluntarismus ein widersprüchliches Konzept vertreten würde: Immerhin wird mit dem indirekten doxastischen Voluntarismus ja bereits vorausgesetzt, dass wir uns eben nicht einfach in einer ungewissen Situation entscheiden könnten, p zuzustimmen. Stattdessen wird beansprucht, dass wir Untersuchungen zur Klärung des Sachverhaltes anstellen können. Mit diesen Untersuchungen könnten wir willentlich beeinflussen, dass wir auf eine eindeutigere Sachlage in eine bestimmte Richtung hinarbeiten, die uns im glücklichsten Falle (!) eine Zustimmung zu p ermöglichen würde. Die daraus resultierende Zustimmung selbst zu p wäre nach dem indirekten doxastischen Voluntarismus dann aber keine mehr, die auf willentlicher Entscheidung basierte, sondern wir würden uns dann in einer Situation mit höherer Gewissheit wiederfinden, die wir aber immerhin aufgrund unserer willentlichen Anstrengungen erreicht hätten. Vor dem Hintergrund dieser ersten Ausdeutung des doppelten doxastischen Voluntarismus wäre eine Verschmelzung der direkten und indirekten Form also selbstwidersprüchlich. Vielleicht führt eine zweite Deutung des doppelten doxastischen Voluntarismus weiter. Mit diesem Konzept könnte ebenfalls gemeint sein, dass wir nach einer willentlich gelenkten Untersuchung, die ja der indirekte doxastische Voluntarismus als Möglichkeit zugesteht, dazu geneigt sind, p zuzustimmen. Vor diesem Hintergrund könnten wir dann also tatsächlich p zustimmen. Nach dieser Deutung wäre jedoch die Zustimmung selbst kein willentlicher Akt mehr (wie es der direkte doxastische Voluntarismus aber aussagen würde), sondern ein Resultat der willentlichen Untersuchung. Dann ist es unklar, inwiefern der doppelte doxastische Voluntarismus noch vom indirekten doxastischen Voluntarismus zu unterscheiden wäre. Weil beide Deutungsmuster nicht aussichtsreich sind, liegt es nahe, dass Schüßlers Einführung einer dritten Form des doxastischen Voluntarismus nicht zielführend ist. Je nach Deutungsversuch würde sie entweder einen Widerspruch in sich bergen, oder aber sie wäre nicht vom indirekten doxastischen Voluntarismus zu unterscheiden. Dagegen ist die Deutung Eisen Murphys und Niederbachers überzeugender, nach denen Thomas allenfalls ein indirekter doxastischer Voluntarismus zuzuschreiben sei, wobei offen ist, ob dieser nach Alstons Unterteilung tatsächlich im Sinne einer indirekten Kontrolle oder einer indirekten Einflussnahme zu begreifen ist. Für eine indirekte Einflussnahme statt Kontrolle spricht, dass die intellektuelle Erkenntnis des Subjekts sich nach Thomas am Objekt orientiert – das Subjekt könnte sich demnach wie bereits ausgeführt dazu entscheiden, Untersuchungen anzustellen und sich dem Erkenntnisgegenstand zuzuwenden. Der Wille hat dabei also eine die Aufmerksamkeit lenkende Funktion, wie es aus den oben genannten Zitaten deutlich wird. Weil das Ergebnis aber nicht vom Willen selbst abhängt, wäre streng genommen ausschließlich die Rede von einer indirekten Einflussnahme angebracht. Darüber hinaus können dennoch die diskutierten Zeilen aus Artikel 6 der Quaestio 17 in Teil I-II der Summa theologiae nicht gestrichen werden. Wie Schüßler anmerkt, ist es im Kontext zu lesen, was jedoch dadurch erschwert wird, dass der Ab-
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schnitt nach diesem Satz abbricht. Wir wissen also erstens nicht, was Thomas genau in diesem Kontext meint, wenn er schreibt, dass Zustimmung oder Verneinung in Bezug auf einen Wahrheitsanspruch unserem Befehl unterliege. Zweitens ist hieraus allein noch kein direkter doxastischer Voluntarismus abzuleiten. Drittens sprechen aber die anderen bereits aufgeführten Stellen, in denen Thomas sich mit dem Verhältnis von Wille und Intellekt im Akt der Glaubenszustimmung auseinandersetzt, gegen eine solche Zuschreibung der direkten Form willentlicher Kontrolle und lassen allenfalls eine Deutung des indirekten doxastischen Voluntarismus zu.
3.2.7 Schlussfolgernde Thesen sowie Problematisierung einer dezisionistischen Setzung religiösen Glaubens im Sinne des doxastischen Voluntarismus Nachdem einige Positionen zur Möglichkeit einer willentlichen Kontrolle unserer Glaubensüberzeugungen diskutiert wurden, sollen hier die diesbezüglichen bisherigen Ergebnisse zusammengeführt werden. Dabei soll zunächst analysiert werden, welche Begriffe von Glauben den hier analysierten Aufsätzen und Werken zugrunde liegen und ob dementsprechend das Ergebnis dieses Kapitels auf den iterativen Zweifel im Kontext des religiösen Glaubens angewendet werden kann. Darüber hinaus sollen die hier erörterten Implikationen und Probleme einer dezisionistischen Setzung des Glaubens schließlich in drei Thesen auf deskriptiver und einer These auf präskriptiver Ebene zusammengeführt werden. 3.2.7.1 Verwendung(en) des Glaubensbegriffs innerhalb der Debatte um den doxastischen Voluntarismus Das unterschiedlich ausgefallene Ergebnis innerhalb der Debatte um den doxastischen Voluntarismus lässt fragen, ob dem eine unterschiedliche Verwendung des Begriffs des Glaubens zugrunde liegt. Auch im Hinblick auf die spätere Anwendung dieser Ergebnisse auf die Frage danach, ob eine Entscheidung zum religiösen Glauben möglich beziehungsweise geboten ist, ist es sinnvoll, einen Blick darauf zu werfen, wie die in diesem Kapitel aufgeführten Autoren den Begriff des Glaubens verwenden. William James erklärt an keiner Stelle seines hier diskutierten Aufsatzes explizit, wie er den Begriff des Glaubens verwendet. In „The Will to Believe“ wird jedoch die Vermutung nahegelegt, dass er unter religiösem Glauben eine Hypothese versteht. Dieser hypothetische Glaube ist nach James offenbar durch den Akt der Entscheidung anzunehmen, weil sein Inhalt nicht als letztgültig wahr erwiesen werden kann. Dabei scheint James mit Glauben die Aspekte sowohl des rationalen Gehaltes auf der einen Seite („aus intellektuellen Gründen“222) sowie der gefühlsmäßigen Nei222 James 2009, S. 138.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
159
gung, einer Sache zuzustimmen („Gefühlsseite unseres Wesens“223) auf der anderen Seite in seinen Begriff des Glaubens zu integrieren, wenn er davon spricht, dass beide Seiten im Glauben ihre Berechtigung hätten. Bernard Williams versteht seine Auseinandersetzung mit der These des doxastischen Voluntarismus nicht speziell als eine mit dem religiösen, sondern mit faktischem Glauben. Das verdeutlicht er mit dem Beispiel, dass er glaube, dass es sich bei der vor ihm liegenden Substanz um Salz handele. Insofern geht es bei dem von ihm verwendeten Glaubensbegriff um eine epistemische Einstellung in Bezug auf einen propositionalen Gehalt. Für den Glauben, dass p, lassen sich nach Williams darüber hinaus immer auch Gründe angeben. Er ist Ausdruck des Fürwahrhaltens eines Sachverhalts. Auf eine Begriffsbeschreibung verzichtend verwendet Carl Ginet Glauben in seinem Aufsatz auf sehr unterschiedliche und unklare Weise. Einerseits verwendet er den Begriff des Glaubens im Sinne von handeln, wenn er schreibt „S did this [i. e. decided to believe] in deciding to act, or not to act, in a certain way.“224 Die Handlung wird dann nicht als Folge einer Glaubensüberzeugung begriffen, sondern gleichgesetzt mit dem Glauben selbst. Dieser besteht darin, dass ein Subjekt wie in einem Gewinnspiel auf etwas setzt („S staked something“225) und sich darauf verlässt („count on“226) beziehungsweise so verfährt, als läge es dabei richtig. Seine Ergänzung, dass eine Person, die p glaubt, überrascht wäre, wenn p nicht wahr wäre, lässt darauf schließen, dass er mit Glauben auch die Dimension einer epistemischen Einstellung, die auf Wahrheit gerichtet ist, einschließt. Jedoch besteht diese Gerichtetheit auf Wahrheit im Akt der Entscheidung zum Glauben nach Ginet im Verfahren, so zu handeln, als ob etwas wahr sei und nicht in der Annahme beziehungsweise der Überzeugung selbst, dass etwas wahr ist. Glaube wird von ihm also nicht als epistemisch starke, sondern schwache Einstellung begriffen und darüber hinaus mit der Handlung einer Person, die sich an einer vagen, unbegründeten Annahme orientiert, identifiziert. Im Gegensatz zu Ginet verwendet William P. Alston den Begriff des Glaubens nicht im Sinne einer Handlung beziehungsweise eines Verfahrens, sondern um einen mentalen Zustand, der in einer Überzeugung besteht. Diese wiederum wird durch die Akzeptanz oder Zurückweisung einer Proposition hervorgebracht. Glaube könne zwar wiederum verschiedene Handlungen beeinflussen, die jedoch lediglich als seine Folgen zu begreifen seien. Sie sind nicht wie nach dem Verständnis von Ginet mit Glauben identisch. In einer Situation objektiver Ungewissheit beschreibt Alston Glaube als subjektive Gewissheit, die in einer Arbeitshypothese beziehungsweise Handlungshypothese zum Ausdruck kommt. Der Unterschied zwischen Ginets und Alstons Glaubensbegriff des Handelns gemäß einer Hypothese besteht so223 224 225 226
Ebd. Ginet 2001, S. 65. Ebd. Ebd.
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3 Das dezisionistische Verfahren
mit darin, dass für Alston eine subjektive Gewissheit gegeben sein muss, die den Grund der (handlungsleitenden) Hypothese darstellt. Der bloße Wille oder Versuch, sich durch ein Verfahren, dem gemäß p wahr wäre, p zu glauben, dürfe nach Alston dagegen nicht mit dem Glauben, dass p, selbst verwechselt werden. Wie Williams betont auch Alston, dass der Akt des Glaubens auf Wahrheit ausgerichtet sei und dass mit Glauben darauf gezielt werde, Wahres abzubilden. Franz Knappik diskutiert in der hier aufgegriffenen Textgrundlage das Problem der doxastischen Freiheit im epistemischen Bereich. Konkret behandelt er die Frage, ob epistemische Freiheit notwendigerweise in der Möglichkeit einer willentlichen Bildung von Glaubensüberzeugungen besteht. Somit diskutiert er Glauben als eine epistemische Einstellung. Dass Glauben auch nach Knappik auf Wahrheit gerichtet ist, wird dadurch deutlich, dass er durch Gründe gestützt wird. Glaubensüberzeugungen können nicht einfach innerhalb eines Überzeugungssystems aus dem entsprechenden Begründungsnetz gerissen werden, weil dessen Geltungsskopus intersubjektive und intersituative Geltung habe. Wie bereits in Kapitel 3.2.6 festgehalten wurde, verwendet Thomas von Aquin den scholastischen Begriff des Glaubens bei der Frage nach dem Zusammenspiel von Wille und Intellekt, der immer auch eine epistemische Komponente enthält. Dieser Komponente gemäß können für die Wahrheit von Glaubensüberzeugungen zwar im Gegensatz zur epistemischen Einstellung des Wissens keine zwingenden Gründe angegeben werden. Im Gegensatz zur bloßen Meinung ist aber die epistemische Einstellung des Glaubens durch die subjektive Gewissheit der Glaubenden gekennzeichnet. Insofern verwendet auch Thomas einen Begriff des Glaubens, der kognitiv strukturiert ist und eine epistemische Einstellung bezeichnet, die auf Wahrheit gerichtet ist. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass fast alle der hier aufgegriffenen Teilnehmer der Debatte um den doxastischen Voluntarismus unter dem Begriff des Glaubens eine epistemische Einstellung verstehen, die subjektiv gewiss und auf Wahrheit gerichtet ist. Mit Ausnahme von Ginet verwendet sie den Glaubensbegriff so, dass mit geglaubten Überzeugungen Gründe einhergehen. Diese Gründe weisen zwar nicht den Charakter der Evidenz auf, aber sind zumindest intersubjektiv nachvollziehbar. Lediglich James lässt den Aspekt des Gefühls in die Diskussion um die willentliche Entscheidung zum Glauben einfließen. Dennoch ist sein Glaubensverständnis nicht dem eben genannten gegenläufig. James, Williams, Alston, Knappik und Thomas verfügen also in der Frage nach dem doxastischen Voluntarismus prinzipiell über den gleichen Begriff des Glaubens. Ginet dagegen weicht mit seiner Analyse ab, wenn er Glauben mit willkürlich gesetzten Handlungen entsprechend epistemischer Einstellungen gleichsetzt, für die es keine nachvollziehbaren Gründe gibt. Möglicherweise kommt er deshalb im Gegensatz zu den anderen soeben genannten Partizipienten der Debatte zu dem abweichenden Ergebnis, man könne sich dazu entscheiden, etwas zu glauben, indem man so verfährt, als sei das, was man zu glauben wünscht, wahr. Insgesamt ist also vor diesem Hintergrund zu konstatieren, dass der These des doxastischen Voluntarismus ein Glaubensbegriff zugrunde liegt, der
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161
eine epistemische Einstellung bezeichnet, die propositional verfasst und auf Wahrheit gerichtet ist. Dieses Ergebnis ist also in den folgenden Schlussfolgerungen sowie in der Anwendung auf den Begriff religiösen Glaubens zu beachten. 3.2.7.2 Schlussfolgerungen auf deskriptiver Ebene (1) Glaubensüberzeugungen können nicht aufgrund einer willentlichen Kontrolle angenommen werden, weil sie intrinsisch auf Wahrheit ausgerichtet sind. Dem epistemischen Glaubensbegriff entsprechend bedeutet der Glaube, dass p, ein Fürwahrhalten von p. Dabei kann dieses Fürwahrhalten entweder eine epistemisch starke oder schwache Einstellung sein, je nachdem, ob den Glauben eine größere Unsicherheit oder aber ein starkes Überzeugtsein begleitet. Dass unsere Glaubensüberzeugungen intrinsisch auf Wahrheit gerichtet sind, bedeutet also, dass wir das glauben, was wahr ist oder zumindest, was wir für wahr halten. Nehmen wir an, Teresa glaubt, vor ihr stünde eine Flasche aus Glas. Sobald sie sie in die Hand nimmt, stellt sich jedoch beim Nachgeben des Materials unter dem Druck ihrer Finger fest, dass es sich um eine Flasche aus Plastik handelt. Diese Erkenntnis hat eine Modifizierung ihrer Glaubensüberzeugung zur Folge, weil sich ihre Glaubensüberzeugung an der wahrnehmbaren und erkennbaren Wirklichkeit orientiert. Wir würden Teresa ihre Rationalität absprechen oder einen Selbsttäuschungsversuch vorwerfen, wenn sie trotz ihrer eigenen Einsicht glauben wollte, dass es sich um eine Glas- statt um eine Plastikflasche handelt, weil zwischen der affizierten Umwelt und der Person ein notwendiger Zusammenhang besteht. Glaubensüberzeugungen werden in Bezug auf die wahrgenommene Umwelt gebildet. Schließlich impliziert der epistemisch starke Glaubensbegriff das Überzeugtsein von der Wahrheit des Glaubensinhaltes beziehungsweise den Glauben, dass die Proposition p wahr ist.227 Es wäre ein Widerspruch, wenn man sagen würde, man glaube p, aber p sei nicht wahr.228 Wahres aber erkennen wir nicht etwa deshalb als wahr an, weil wir uns dazu individuell und kontingent entschieden hätten: „[D]er Grund dafür, dass wir unseren basalen Propositionen vertrauen, ist unsere Überzeugung, dass sie durch uns externe Faktoren gebildet sind, die unabhängig von unserem Willen sind.“229 Würden wir unsere Propositionen und unser Vertrauen in ebendiese bewusst nach unserem Willen kontrollieren, wüssten wir um unsere willentliche Kontrolle. Damit wäre uns auch bewusst, „dass die Tatsache, dass eine Proposition zu [unseren] basalen Propositionen gehört, nicht dadurch bestimmt oder zumindest beeinflusst wurde, dass das von der Proposition Berichtete der Fall ist.“230 Swinburne illustriert diese These mit folgendem Beispiel: 227 Vgl. Williams 1978, S. 218 und Müller 2008, S. 28. 228 Vgl. Müller, Klaus zur epistemischen Einstellung des Glaubens in: ders., Glauben – Fragen – Denken, Band II, Münster 2008, S. 29. 229 Richard Swinburne, Glaube und Vernunft, Würzburg 2009, S. 34. 230 Ebd.
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„Wenn ich nach Wunsch wählen würde, überzeugt zu sein, dass ich einen Tisch sehe, dann würde ich erkennen, dass diese Überzeugung aus meinem Willen entstanden ist und so keine Verbindung damit hat, ob da ein Tisch ist oder nicht, und damit würde ich wissen, dass ich keinen Grund habe, meiner Überzeugung zu vertrauen, und somit wäre ich nicht wirklich überzeugt.“231
Gleiches gelte nicht nur für einzelne Glaubensüberzeugungen, sondern auch für Kriterien zur Rechtfertigung derselben: „Wenn ich hier und jetzt entscheiden würde, was wofür als Beweismaterial zählt, würde ich erkennen, dass ich dies tue und dass somit meine resultierenden Überzeugungen Ergebnis meiner Entscheidung sind und nicht in irgendeiner Weise davon abhängen, ob die Dinge so sind oder nicht so sind, wie diese Überzeugungen es behaupten. Gerade weil eine Klasse von induktiven Kriterien mir intuitiv korrekt erscheint und mein Gebrauch dieser Kriterien nicht der Kontrolle meines Willens unterliegt, vertraue ich darauf, dass die resultierenden Überzeugungen anzeigen, wie die Dinge sind.“232
Das Fürwahrhalten unserer Glaubensüberzeugungen hängt also gerade nicht damit zusammen, dass wir selbst für die Wahrheit ebendieser durch unsere individuelle Entscheidung bürgen, sondern dass wir Grund zu der Annahme haben, dass die Wirklichkeit dieser Überzeugungen entspricht. Diese Wirklichkeit aber richtet sich wiederum nicht nach unseren Entscheidungen, sondern wir finden uns in dieser Wirklichkeit wieder. Unsere Wahrnehmungen und Überzeugungen richten sich nach ihr, wenn wir nach wahren Überzeugungen streben. Daraus ist im Umkehrschluss zu folgern, dass die These des doxastischen Voluntarismus nur unter der Voraussetzung angenommen werden kann, dass Glaubensüberzeugungen ungeachtet ihrer Wahrheit oder Falschheit akzeptiert werden müssten. Dies wird jedoch von Gegnern der These des doxastischen Voluntarismus – wie bereits gezeigt beispielsweise von Williams233 und Alston234 – für konzeptuell und psychologisch unmöglich gehalten.235 Wie Niederbacher schreibt, wird also von diesen Gegnern „folgendermaßen argumentiert: (1) Wenn eine Person a meint, dass p, dann hält a es für wahr, dass p. D. h. es ist unmöglich, dass a meint, dass p, und es für falsch hält, dass p. (2) Person a meint willentlich, dass p, dann und nur dann, wenn a frei ist, zu meinen, dass p oder zu meinen, dass nicht p. (3) Person a ist frei, zu meinen, dass p, nur dann, wenn a die Überzeugung, dass p, ohne Rücksicht darauf, ob p wahr oder falsch ist, erwirbt und wenn a sich bewusst ist, die Überzeugung, dass p, auf diese Weise erworben zu haben. (4) Es ist unmöglich, dass a meint, dass p, es also für wahr hält, dass p, und dass a weiß, dass a die Überzeugung, dass p, ohne Rücksicht auf Wahrheit und Falschheit erworben hat.“236 231 232 233 234 235 236
Ebd. Ebd. Vgl. Kapitel 3.2.2. Vgl. Kapitel 3.2.4. Vgl. Eisen Murphy 2000, S. 572. Niederbacher 2004, S. 61.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
163
Um noch deutlicher zu machen, wie Gegner der These des doxastischen Voluntarismus zu dem Schluss kommen, dass eine willentliche Entscheidung zur Akzeptanz einer Glaubensüberzeugung ausschließlich ungeachtet der Wahrheit oder Falschheit einer Aussage getätigt werden kann, ist ein Blick auf Eisen Murphys Analyse hilfreich. Sie fasst die zugrundeliegende Argumentation bezüglich des Zusammenhangs zwischen einer freien Entscheidung zu einer Glaubensüberzeugung und der fehlenden Bezugnahme auf ihre Wahrheit und Falschheit folgendermaßen zusammen: „1. A belief that p is directly voluntary if and only if the agent was free with respect to her coming to believe p. 2. If the agent’s coming to believe p was caused by truth considerations (the consideration of the evidence at hand), she was not free with respect to coming to believe p. 3. An agent who forms a belief on the basis of truth considerations cannot be free with respect to the formation of the belief that p. 4. A directly voluntary belief cannot be formed on the basis of truth considerations. 5. If a belief is directly voluntary, it must be formed or maintained without any reference to its truth. This conclusion is then used as a premise to show that it is impossible to form beliefs voluntarily: 6. It is contrary to the nature of beliefs (Williams), or it is not psychologically possible (Alston), to form or maintain a belief without any reference to its truth. 7. No beliefs can be directly voluntary.“237
Wer sich an der Wahrheit einer Proposition orientiert, kann sie also deshalb nicht kontrollieren, weil die Konfrontation mit Wahrem dem Subjekt keine freie Entscheidung offenlässt, ob es p oder non-p für wahr halten soll beziehungsweise kann. Es bestünde wie bereits erwähnt ein Widerspruch, wenn jemand einsähe, dass p wahr wäre, aber dennoch nicht glauben wollte, dass p. Eine freie Entscheidung über Glaubensüberzeugungen würde aber implizieren, dass sich das Subjekt für die Proposition p oder non-p entscheiden könne, wie Eisen Murphy es mit dem principle of alternative possibilities (PAP) zum Ausdruck bringt.238 Wer also aus einer willentlichen Entscheidung heraus glaubt, dass p, tut dies ungeachtet der Wahrheit oder Falschheit von p. Weil eine willentliche Kontrolle von Glaubensüberzeugungen also einerseits die Orientierung an der Wahrheit derselben ausschließt, Glaubensüberzeugungen aber andererseits gerade auf Wahrheit gerichtet sind, ist die direkte Bildung von Glaubensannahmen aufgrund eines willentlichen Entschlusses also weder psychologisch, noch konzeptionell beziehungsweise logisch möglich. Dementsprechend ist der direkte doxastische Voluntarismus zurückzuweisen.
237 Eisen Murphy 2000, S. 572. 238 Vgl. Eisen Murphy 2000, S. 585.
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3 Das dezisionistische Verfahren
(2) Glaubensüberzeugungen lassen sich nicht beliebig wählen, weil sie mit anderen Glaubensannahmen in einem Begründungszusammenhang stehen. Mit unseren Glaubensüberzeugungen streben wir also an, Wahres abzubilden. Das Fürwahrhalten von Überzeugungen impliziert, dass wir Gründe dafür haben, sie für wahr zu halten. Durch solche Begründungen werden wiederum verschiedene Glaubensüberzeugungen miteinander vernetzt. Für wahr gehaltene Propositionen bestehen also nicht isoliert voneinander, sondern sind miteinander vernetzt und auch intersubjektiv vermittelbar. Somit ist es möglich, dass sich verschiedene Individuen über ihre Überzeugungen austauschen, sich ihrer Glaubensannahmen vergewissern und sie diskutieren oder ggf. revidieren, wenn etwa im intersubjektiven Austausch die Begründung für gegenteilige Glaubensüberzeugungen stärker ist. Williams geht auf diesen Aspekt der Begründung und der damit einhergehenden Vernetzung von Glaubensüberzeugungen wie wir gesehen haben239 ebenfalls ein und veranschaulicht ihn anhand von faktenbezogenem Glauben, der durch Belege gerechtfertigt wird. Wer aufgrund von Belegen glaubt, dass p, würde beim Wegfallen dieser Belege nicht mehr glauben, dass p. Es ist mit Williams und in Anlehnung an Wittgenstein240 zuzugestehen, dass nicht jede Glaubensannahme hinterfragt und zweifellos begründet werden kann, weil es Grundlagen geben muss, die die Annahme von Glaubensüberzeugungen erst ermöglichen. Dennoch verfügen wir über unsere Glaubensüberzeugungen nicht einfach isoliert voneinander, sondern sie stehen miteinander in Begründungszusammenhängen und müssen sich intersubjektiv vermitteln lassen, wenn wir mit ihnen Wahres zum Ausdruck bringen wollen. Die Vernetzung von Glaubensüberzeugungen, die in Intersubjektivität und Allgemeinheit ihren Ausdruck findet, wird wie bereits ausgeführt auch von Hegel hervorgehoben.241 Vermeintliche Glaubensüberzeugungen, die durch Willen und in Absehung von Begründungszusammenhängen oder Zusammenhängen mit anderen Glaubensüberzeugungen zustande kommen, sind durch die logische Form der Einzelheit, Unmittelbarkeit und Partikularität geprägt. Sie genügen nicht dem Merkmal für wahr gehaltener Glaubensgehalte, die intersubjektiv verständlich gemacht werden können. Wenn wir nämlich glauben, dass p wahr ist, dann glauben wir auch, dass es prinzipiell intersubjektiv nachvollziehbar ist, dass p wahr ist. Wenn wir glauben, dass die Welt existiert, dann glauben wir nicht, dass diese Wahrheit nur für uns gilt, sondern für die Allgemeinheit. Dies wiederum hängt nach Hegel zusammen mit der Autorität der Wahrheit über unser Denken: Wenn wir uns denkend auf die Welt beziehen und in der Folge Glaubensüberzeugungen annehmen, dann tun wir dies, indem wir uns auf das Allgemeine, das Vorzufindende einlassen, um Wahres zu erkennen. Zielen wir also mit unseren Glaubensüberzeugungen auf eine intersubjektiv gültige Wahrheit ab, dann ist dieses Verständnis von Glaubensannahmen nicht 239 Vgl. Kapitel 3.2.2. 240 Vgl. Kapitel 2.2.7. 241 Vgl. Kapitel 2.2.6.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
165
vereinbar mit einem willentlichen Entschluss zu ebensolchen: Bei letzterem Verfahren hinge die Glaubensüberzeugung nicht von ihrem Inhalt ab, sondern von der partikularen Entscheidung der Einzelnen. Dafür, dass es jedoch die Wahrheit des Inhalts sei, die das Subjekt zu einer Glaubensannahme überzeugen müsse, argumentiert auch Pannenberg. Der dem Glaubensinhalt innewohnende Sinn sei entscheidend für dessen Annahme durch das Subjekt, nicht aber die selbstmächtige Entscheidung, die nach Pannenberg im Falle religiösen Glaubens den Charakter einer Selbsterlösung annehmen würde242. Eine Akzeptanz des christlichen Glaubens, der nicht durch das Verstehen des ihm innewohnenden Sinnes und der transportierten Wahrheit sowie Glaubwürdigkeit der Offenbarung Gottes motiviert ist, sondern durch eine Entscheidung, sei nicht von einem Akt der Leichtsinnigkeit zu unterscheiden.243 Pannenberg weist darauf hin, dass der Entschluss eines Subjekts zu einer Glaubensannahme in „der ruinösen Konsequenz [resultieren würde], daß der Glaube sich selbst begründet und so zerstört, was sein Wesen ausmacht, nämlich an einer Wahrheit außerhalb seiner selbst zu hängen.“244 Die Wahrheit extra me sei dann unwiderruflich verloren, sobald der Akt der Entscheidung zur Grundlage des Glaubens erhoben wird und das Subjekt damit aufgefordert wird, die Wahrheit selbst zu verbürgen. Wenn der Glaubensinhalt selbst nicht mit seiner Glaubwürdigkeit überzeugen kann und „der Glaubende selbst zum letzten Grund seines Glaubens“ 245 wird, weil „eine behauptete Autorität nicht mehr unser Verstehen von sich zu überzeugen vermag, dann kann ihre Annahme nur noch in der Weise eines sacrificium intellectus und also als ein Werk des Menschen erfolgen.“246 Pannenberg gesteht zu, dass der Entschluss, einen Glauben anzunehmen, zwar „psychologisch die Gestalt einer Vorwegnahme künftiger Einsicht haben oder einfach auf der Voraussetzung der Wahrheit des Geglaubten beruhen [könne], aber logisch […] auf mögliche Einsicht gegründet bleiben“247 müsse. Auf derselben Linie argumentierend betont Kunz, dass der Glaubensakt nicht willkürlich gesetzt werden dürfe, sondern verantwortet werden müsse vor dem Wahrheitsanspruch der Vernunft. „Zum verantworteten Vollzug des Glaubens gehöre daher eine vernunftgemäße Erkenntnis der Glaubwürdigkeit der Sache des Glaubens (iudicium credibilitatis) hinzu.“248 Diese Glaubenserkenntnis ist jedoch inter242 Vgl. Pannenberg, Wolfhart, Einsicht und Glaube, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 21971a, S. 223–236, hier: S. 229. 243 Vgl. Pannenberg 21971a, S. 230. 244 Pannenberg 21971a, S. 227. 245 Pannenberg 1971b, S. 241. 246 Ebd. 247 Pannenberg 1971a, S. 228 und Pannenberg 1971b, S. 241. 248 Kunz, Erhard, Glaubwürdigkeitserkenntnis und Glaube (analysis fidei), in: Walter Kern et al. (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. 4, Freiburg im Breisgau 22000, S. 302– 330, hier: 302.
166
3 Das dezisionistische Verfahren
subjektiv zu rechtfertigen und sei nach Neuner „nie nur der eigenen Subjektivität ausgeliefert, sondern findet [ihr] Maß und [ihre] Grenze aber auch [ihre] Quelle im Glauben der Kirche.“249 Insbesondere die theologische Erkenntnis bewahre „den persönlichen und den kirchlichen Glauben davor, in unkontrollierte Bahnen abzuweichen, die der jeweiligen Fragestellung und Erwartungshaltung vielleicht entgegenkommen mögen, den Glauben aber zu einer vagen und abergläubischen und verfügbaren ‚Gläubigkeit‘ depravieren könnten.“250
Die Vernetzung verschiedener Glaubensüberzeugungen eines Subjekts sowie die Möglichkeit einer auf Wahrheit zielenden intersubjektiven Verständigung über Glaubensinhalte ist mit einer beliebigen Entscheidung zur Annahme oder Zurückweisung von Glaubensüberzeugungen nicht vereinbar. Auch vor diesem Hintergrund ist also der direkte doxastische Voluntarismus zurückzuweisen. (3) Glaubensüberzeugungen sind weder direkt, noch indirekt willentlich kontrollierbar, aber indirekt zu beeinflussen. Mit den vorigen beiden Thesen wurde dafür argumentiert, dass die Annahme des direkten doxastischen Voluntarismus nicht haltbar ist. Wie bereits gezeigt argumentieren einige Autoren – z. B. Schüßler in Bezug auf Thomas – für die Möglichkeit einer indirekten willentlichen Entscheidung für oder gegen Glaubensüberzeugungen. Diese Position des indirekten doxastischen Voluntarismus kann mit Plantinga explizit in Bezug auf religiösen Glauben verdeutlicht werden: „Finally, while we may perhaps agree that what I believe is not directly within my control, some of my beliefs are indirectly within my control, at least in part. First, what I accept has a longterm influence upon what I believe. If I refuse to accept belief in God, and if I try to ignore or suppress my tendency to believe, then perhaps eventually I will no longer believe. […] Presumably, then, the evidentialist objector could hold that it is my prima facie duty not to accept belief in God without evidence, and to do what I can to bring it about that I no longer believe. Although it is not within my power now to cease believing now, there may be a series of actions, such that I can now take the first and, after taking the first, will be able to take the second, and so on; and after taking the whole series of actions I will no longer believe in God. Perhaps the objector thinks it is my prima facie duty to undertake whatever sort of regimen will at some time in the future result in my not believing without evidence.“251
Plantinga beschreibt also das Bilden von Glaubensüberzeugungen gemäß einer indirekten willentlichen Kontrolle („some of my beliefs are indirectly within my control“252) als bewusst unternommene Handlungen („there may be a series of ac249 Neuner, Peter, Der Glaube als subjektives Prinzip der theologischen Erkenntnis, in: Walter Kern, Hermann Josef Pottmeyer und Max Seckler (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. 4, Traktat Theologische Erkenntnislehre, Freiburg im Breisgau 22000, S. 23–36, hier: S. 33. 250 Neuner 22000, S. 35. 251 Plantinga, Alvin, „Reason and Belief in God“, in: Alvin Plantinga/Nicholas Wolterstoff (Hg.), Faith and Rationality. Reason and Belief in God, Notre Dame 1983, S. 16–93, hier: 35. 252 Ebd.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
167
tions, such that I can now take the first and, after taking the first, will be able to take the second, and so on; and after taking the whole series of actions I will no longer believe in God.“253). Diese Handlung würde durch eine längere Abfolge schließlich in einem bestimmten Glauben beziehungsweise der Zurückweisung eines Glaubens resultieren. Diese Ausführungen Plantingas weisen eine gewisse Unschärfe auf, weil sich das beschriebene Ergebnis der kontrollierten Handlungen selbst nicht noch einmal als Objekt der Kontrolle erfassen lässt. Gründe für die These, warum das Resultat der kontrollierten Handlungen selbst wiederum in der Kontrolle des Subjekts liegen sollte, nennt er nicht. Es ist fraglich, ob Plantinga mit dem hier beschriebenen Beispiel nicht vielmehr eine indirekte willentliche Einflussnahme anstelle einer indirekten willentlichen Kontrolle illustriert, wie er ja auch selbst zu Beginn der hier zitierten Stellen anmerkt: „First, what I accept has a long-term influence upon what I believe.“254 Das Ergebnis der Anstrengungen, also die sich dabei entwickelnde Glaubensüberzeugung, scheint dann weniger das Resultat einer willentlichen Kontrolle zu sein: „If I refuse to accept belief in God, and if I try to ignore or suppress my tendency to believe, then perhaps eventually I will no longer believe.“255 Das Ergebnis scheint also nach seinen eigenen Worten letztlich nicht kontrollierbar zu sein. Wer sich seine Passage zur Veranschaulichung der indirekten willentlichen Kontrolle von Glaubensüberzeugungen genauer anschaut, stellt also fest, dass es sich eher um einen Fall der indirekten Einflussnahme handelt, weil das Ergebnis dieser Anstrengungen zur Beeinflussung nicht sicher sein kann beziehungsweise offenbar nicht ausschließlich von der Absicht des Subjekts selbst abhängt. Auch Swinburnes Ausführungen zum indirekten doxastischen Voluntarismus sind in ähnlicher Weise unklar. Er schreibt: „Während ich meine Überzeugungen nicht nach Wunsch wechseln kann, kann ich mich doch daran machen, sie über eine Zeitspanne hin zu verändern. Ich kann mich daran machen, nach mehr Beweismaterial zu suchen oder die Richtigkeit meiner induktiven Kriterien zu untersuchen – im Wissen, dass dies zu einer Veränderung meiner Überzeugungen führen kann. Oder ich kann bewusst daran gehen, eine Überzeugung zu fördern – z. B. indem ich selektiv nach positivem Beweismaterial Ausschau halte und dann versuche, den selektiven Charakter meiner Untersuchung zu vergessen. Ich kann mir die Beweiskraft bestimmten Beweismaterials vor Augen führen und versuchen, die Beweiskraft anderen Beweismaterials zu vergessen. Und ich kann versuchen, mich selbst davon zu überzeugen, dass meine alten induktiven Kriterien falsch waren. All dies kann geschehen und geschieht auch tatsächlich, und in einem späteren Kapitel werde ich untersuchen, ob es jemals gut sein kann, dass so etwas geschieht. Aber hier geht es darum, dass zu jedem Zeitpunkt unsere Überzeugungen von der Auffassung abhängen, die wir über das Beweismaterial haben. Wenn wir wüssten, dass eine unserer Einstellungen von unserem Willen abhänge, wäre sie keine Überzeugung.“256
253 254 255 256
Ebd. Ebd. Ebd. Swinburne 2009, S. 35.
168
3 Das dezisionistische Verfahren
Zumindest gegen die direkte Form des doxastischen Voluntarismus hält Swinburne also zunächst fest, dass „ich meine Überzeugungen nicht nach Wunsch wechseln kann“257. Dagegen behauptet er, dass es möglich sei, „sie über eine Zeitspanne hin zu verändern“258. So könnte ich nach Beweismaterial suchen beziehungsweise die Richtigkeit meiner induktiven Kriterien untersuchen, und zwar „im Wissen, dass dies zu einer Veränderung meiner Überzeugungen führen kann.“259 Indem er jedoch ausgerechnet betont, dass die willentlich gesteuerte Untersuchung unsere resultierende Glaubensüberzeugung nicht verändern müsse, sondern lediglich könne, gesteht er implizit schon selbst zu, dass sie gerade nicht willentlich kontrollierbar ist. Ob es überhaupt gerechtfertigt sein kann, den stärkeren Versuch zu wagen, auf die Bildung einer Glaubensüberzeugung Einfluss zu nehmen – „z. B. indem ich selektiv nach positivem Beweismaterial Ausschau halte und dann versuche, den selektiven Charakter meiner Untersuchung zu vergessen“260 oder beispielsweise indem ich „mir die Beweiskraft bestimmten Beweismaterials vor Augen [führe] und [versuche], die Beweiskraft anderen Beweismaterials zu vergessen“261 – stellt er selbst in Frage. Was jedoch schwerer wiegt, ist, dass er sich selbst zu widersprechen scheint: Eingangs behauptet er, dass wir unsere Glaubensüberzeugungen über eine Zeitspanne hin verändern könnten, während er gegen Ende des Zitats betont, dass sie eben doch „von der Auffassung abhängen, die wir über das Beweismaterial haben“262 und damit eben nicht unserer Kontrolle unterlägen. Schließlich kommt er zu dem Schluss, dass das Wissen über die Abhängigkeit unserer Einstellungen von unserem Willen die Bildung einer Überzeugung unmöglich mache. Er macht jedoch nicht klar, wieso sich dieser Zusammenhang anders gestalten sollte, wenn jemand versucht, eine derartig willentlich kontrollierte Überzeugungsbildung nicht auf direktem Wege, sondern über einen bewusst gewählten Umweg zu steuern. Eine wie von Plantinga oder Swinburne behauptete indirekte Kontrolle von Glaubensüberzeugungen, die durch eine dezisionistische Wahl motiviert ist, ist also erstens nicht eindeutig als tatsächliche Kontrolle zu identifizieren. Zweitens ist sie schwer von dem Versuch einer Selbsttäuschung263 abzugrenzen. Eine Selbsttäuschung kann aber schon aufgrund ihres inhärenten Widerspruchs nicht realisierbar sein: Der Vorgang der Täuschung setzt voraus, dass die Person, die Objekt der Täuschung ist, nicht um ihre Täuschung weiß. Deshalb ist es unmöglich, dass sie zugleich das sich bewusst täuschende Subjekt und getäuschtes Objekt ist. Drittens ist unter der Zu257 258 259 260 261 262 263
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Das Problem der Selbsttäuschung untersucht Kati Baier in dies. 2010. Im Gegensatz zu der hier präsentierten Annahme argumentiert sie jedoch für die Möglichkeit von Selbsttäuschungen.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
169
rückweisung der These des direkten doxastischen Voluntarismus auch diejenige des indirekten doxastischen Voluntarismus nicht zu rechtfertigen: Die dezisionistische Wahl der Bildung einer Glaubensüberzeugung, die allenfalls ungeachtet ihrer Wahrheit oder Falschheit realisiert werden könnte, ist nach These 1 dieses Kapitels begrifflich nicht vereinbar mit der Tatsache, dass wir uns mit unseren Glaubensüberzeugungen an Wahrheit orientieren. Außerdem wäre eine indirekte doxastische Kontrolle nicht nachvollziehbar im Hinblick auf die in These 2 dieses Kapitels ausgeführte Vernetzung einer fraglichen Proposition mit anderen Glaubensüberzeugungen. Diese doppelte Unvereinbarkeit besteht auch dann, wenn beabsichtigt wird, die gewählte Überzeugung auf lange Sicht durch mehrere Handlungsschritte ungeachtet der Überzeugung von ihrer Wahrheit zu erreichen. Es wurden von den hier bereits diskutierten Vertretern des indirekten doxastischen Voluntarismus keine Gründe für die Annahme geliefert, warum dieser Widerspruch nicht mehr bestehen sollte, wenn das Subjekt anstrebt, eine Glaubensüberzeugung über Umwege anzunehmen. In Anlehnung an Alston264 ist die Rede von einer indirekten Einflussnahme auf statt Kontrolle von Glaubensüberzeugungen angemessener. Dabei ist sie jedoch strikt von dem Verständnis einer solchen Beeinflussung abzugrenzen, die der bereits genannten Selbsttäuschung gleichkommt. Sie ist vielmehr als Einflussnahme im Hinblick auf die Untersuchung und Überprüfung des Wahrheitsgehaltes einer Proposition p zu begreifen, zu deren Annahme das Subjekt z. B. wie im Falle von James geneigt ist – mit dem gravierenden Unterschied, dass es sich nicht einfach ungeachtet der Wahrheit von p entscheiden will oder kann. Dieser Neigung zur Akzeptanz von p, die beispielsweise besteht, wenn das Subjekt p für möglicherweise wahr hält oder sich in einer Situation des Zweifelns befindet, wird also nicht einfach nachgegeben. Es werden Untersuchungen angestellt oder andere Handlungen ausgeführt, um zu prüfen, ob es Gründe für den Glauben, dass p, gibt. Insofern ist bei der indirekten doxastischen Einflussnahme die Kontrolle des Subjekts darüber vorausgesetzt, ob die Position der Informiertheit eingenommen wird. Indem das Subjekt nach möglichen Gründen für p sucht, hat es insofern einen indirekten Einfluss darauf, sich überhaupt in der Glaubensüberzeugung in Bezug auf p zu bestärken. Diese willentliche Einflussnahme kann den Einstieg in religiösen Glauben erleichtern, aber nicht dauerhaft etablieren.265 In Anlehnung an Alston ist also zu schlussfolgern, dass sich die willentliche Kontrolle darauf erstreckt, ob überhaupt gehandelt wird, m. a. W. ob sich das Subjekt anstrengt, eine klare Glaubensüberzeugung im Hinblick auf die Akzeptanz oder Zurückweisung von p zu bilden. Die Kontrolle der Suche nach Gründen für die Wahrheit von p oder non-p ist aber abzugrenzen von der Kontrolle des Ergebnisses dieser 264 Vgl. Kapitel 3.2.4. 265 Vgl. Koritensky, Andreas, Zweifel und Charakter. Neue Wege in der Analytischen Erkenntnistheorie, in: Veronika Hoffmann (Hg.), Nachdenken über den Zweifel. Theologische Perspektiven, Ostfildern 2017, S. 91–108, hier: S. 103.
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3 Das dezisionistische Verfahren
Suche und damit der daraus resultierenden Glaubensüberzeugung. Denn wie ausgeführt kann das Resultat dennoch im Falle eines Ergebnisses, das nicht überzeugt, in keiner gewisseren Zustimmung zu p oder gar Ablehnung von p bestehen. Dieser Unterschied soll eben mit dem Begriff der bloßen Einflussnahme zum Ausdruck gebracht werden. 3.2.7.3 Schlussfolgerungen auf präskriptiver Ebene Zusammenfassend ist im Anschluss an die soeben dargestellten Thesen also festzuhalten, dass wir zwar indirekten Einfluss auf die Glaubensüberzeugung, dass p, ausüben können: Wir müssen nicht in der Position der Uninformiertheit stehen bleiben, sondern können unsere Aufmerksamkeit in die Richtung lenken, die eine genauere Klärung der Gründe für unserer Fürwahrhalten, dass p, ermöglichen kann. Wie in der ersten These aber dargestellt wurde, ist die willentliche Kontrolle von Glaubensüberzeugungen nicht vereinbar mit deren Gerichtetheit auf Wahrheit. Entsprechend der zweiten These ist festzuhalten, dass außerdem die Vernetzung mit unseren anderen Glaubensüberzeugungen sowie der Zusammenhang mit den Wahrheitsansprüchen anderer Subjekte im Widerspruch stünde zu einer willentlichen, beliebigen Kontrolle unserer Glaubensüberzeugungen. Mit der dritten These wurde gezeigt, dass diese Unvereinbarkeit nicht nur im Falle einer direkten, sondern auch einer indirekten doxastischen Kontrolle bestünde. Die Entscheidung zum Glauben kann somit keine Möglichkeit zur Überwindung der Situation des Zweifelns darstellen. Neben dieser Zurückweisung auf deskriptiver Ebene ist jedoch auch auf präskriptiver Ebene hervorzuheben, dass uns eine derartige willentliche Setzung einen offenen, auf Wahrheitsfindung ausgerichteten Dialog verwehren würde, für den eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit maßgeblich ist. Wer sich aus einer Situation des Zweifelns heraus zu einer Glaubensentscheidung qua willentlicher Setzung bewegt, ohne aber die Gründe, die dafürsprechen, einsehen und anderen verständlich machen zu können, droht zudem, falsche Überzeugungen anzunehmen. Er oder sie ist damit für fundamentalistische Übergriffe anfällig – sofern es sich bei einer derartigen dezisionistischen Handlung nicht selbst schon um eine Form des Fundamentalismus handelt. So verweist auch Seckler im Kontext des religiösen, speziell des katholischen Glaubens mit Bezugnahme auf 1 Petr 3,15 („Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt“266) auf die Pflicht, der „logoshaften“267 Verantwortung des Christentums zur vernünftigen Rechtfertigung nachzukommen. Das Christentum fordert „weder blinden Gehorsam[,] noch [ist es] dezisionistisch od. irrational-charismatisch zu 266 Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Freiburg 2016. 267 Seckler, Max, Apologetik, Systematisch, in: LThK3 1, Freiburg im Breisgau 2009, 839–842, hier: 840.
3.2 Die These des doxastischen Voluntarismus
171
‚begründen‘“268. In Bezug auf religiösen Glauben, auf den diese Ausarbeitungen noch zu übertragen sind, ist also festzuhalten: Der Versuch einer – sowohl direkten als auch indirekten – willentlichen Kontrolle von Glaubensüberzeugungen ungeachtet ihrer Wahrheit sowie einer intersubjektiven rationalen Rechtfertigung dieser religiösen Überzeugung ist also nicht nur logisch und psychologisch inkonsistent. Eine solche Lösung widerspräche auch der insbesondere in der katholischen Tradition gepflegten Wertschätzung des epistemischen Ranges der rationalen Argumentation als eines locus theologicus269. Die Entscheidung zum religiösen Glauben kann insofern weder eine mögliche, noch gebotene Reaktion auf die Situation des Zweifelns darstellen.
268 Ebd. 269 Seckler, Max, Loci theologici, in: LThK3 6, Freiburg im Breisgau 2009, 1014–1016.
172
3 Das dezisionistische Verfahren
4.1 Der Begriff des Glaubens
173
4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln In den vorigen beiden Kapiteln wurde der Begriff des Zweifelns geklärt und die Möglichkeit sowie die Legitimität einer dezisionistischen Reaktion auf die Situation des Zweifelns zurückgewiesen. Wenn der Zustand der Unentschiedenheit entsprechend dieses Ergebnisses nicht willentlich überwunden werden kann, liegt die Frage nahe, ob es möglich ist, trotz iterativer Zweifel zu glauben. Um dies zu klären, ist das Verhältnis von Glauben und Zweifeln sowie von Glaube und Vernunft zu untersuchen. Letzteres ist deshalb notwendig, weil die Legitimität des Zweifelns im Sinne einer Vernunfttätigkeit begründet werden soll. Zur Bestimmung der Relation von Glaube und Vernunft sollen zum einen verschiedene Bedeutungen von Glauben (wie beispielsweise Glaube als Vertrauen oder Glaube als das Fürwahrhalten von Behauptungen) analysiert werden. Zum anderen soll der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen fideistischen und rationalistischen Standpunkten besondere Beachtung geschenkt werden. Sowohl der Standpunkt des Fideismus als auch der des starken Rationalismus wird sich als problematisch erweisen, weil beide einen Anspruch auf Rationalität erheben, der der Vernunft des Glaubens nicht gerecht werden kann. Eine Lösung dieses Problems soll der kritische Rationalismus darstellen, dem ein kritizistischer Vernunftbegriff zugrunde liegt. Es soll gezeigt werden, inwiefern mit diesem Modell einerseits der Glaube als vernünftig zu begreifen ist und andererseits der Zweifel als konstitutives Moment des Glaubens gerechtfertigt ist.
4.1 Der Begriff des Glaubens 4.1.1 Erste Annäherungen über vier Ebenen des Glaubens Der Begriff des Glaubens wird im Alltag häufig in einem sehr weiten Sinne und ohne jegliche religiöse Konnotation verwendet, um anzudeuten, dass eine Annahme getätigt wird, die nicht unmittelbar evident ist. Nach Kant meint Glauben beispielsweise, dass eine Überzeugung für „subjektiv zureichend und […] zugleich für objektiv unzureichend gehalten“1 werde. So verstanden ist Glaube Bestandteil so gut wie jeder Tätigkeit beziehungsweise Handlung des Menschen, wie z. B. dem Einsteigen
1
KrV, B 850.
174
4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
in einen Zug, wobei man darauf vertraut, dass er in die richtige Richtung fährt.2 „Glauben“ wird alltäglich ebenfalls synonym mit „meinen“ verwendet, wobei dieser Gebrauch nach Klaus Müller eine gewisse Unschärfe aufweist: „Ich kann mit ‚Ich glaube, dass p‘ zum Ausdruck bringen, (1) dass ich mir sehr unsicher bin, dass p, (2) dass ich mir relativ sicher bin, dass p, (3) dass ich überzeugt bin, dass p; zumindest Letzteres geht mit ‚meinen‘ nicht.“3 Dem theologischen Gebrauch von „glauben“ ist von den eben aufgeführten die höchste Gewissheitsstufe zuzuordnen, die unter (3) zu finden ist. Innerhalb der Theologie werden generell zwei Dimensionen des Glaubens unterschieden, nämlich die kognitive (doxastische), bei der insbesondere der Aspekt inhaltlicher Überzeugungen im Zentrum steht, sowie die non-kognitive (fiduzielle) Dimension, die auf den Aspekt des Vertrauens und der Orientierung verweist. 4 Beide Formen werden weiter unten näher vorgestellt. Schmidt-Leukel unterscheidet darüber hinaus zwischen vier grundsätzlichen Bedeutungen von Glauben. Erstens betrachtet er „Glaube als Vertrauen“5, womit die Haltung des Vertrauens einer Person gegenüber ausgedrückt werde. Alltagssprachlich formulieren wir dieses Vertrauen häufig, wenn wir beispielsweise Sätze wie „Ich glaube dir“ sagen. Als Beispiel für diesen Aspekt kann das biblische Glaubensverständnis dienen, das mit Abraham assoziiert wird: Er wird als „Vater des Glaubens“ verstanden, „weil er der göttlichen Verheißung vertraute (Röm 4, Gal 3).“6 Wie Schmidt-Leukel schreibt, drücke der alttestamentliche Begriff „häämin“ für Glaube, der sich von „Amn“ (zu deutsch: fest, sicher, zuverlässig) ableite, „das Vertrauen auf die Zuverlässigkeit des göttlichen (Verheißungs-) Wortes“7 aus. Die zweite Dimension umfasst Glauben als Ausrichtung, die Schmidt-Leukel als Dimension des „Glaube[ns] als existentiell bedeutsame Orientierung“8 bezeichnet. Sie komme häufig in der Redeweise vom Glauben an eine Person, ein bestimmtes Ideal oder eine Sache zum Ausdruck. Wenn jemand sagt: „Ich glaube an X“, werde damit kein interpersonaler Akt des Vertrauens zum Ausdruck gebracht, sondern eine Orientierung an einem Leitbild oder an bestimmten Werten. Glaube kann in dieser Hinsicht also eine sinnstiftende Funktion haben, die für das Individuum von existentieller, umfassender Bedeutung ist. Drittens kann Glauben mit dem „Für-wahr-Halten von Behauptungen“9 gleichgesetzt werden. Sie könnten z. B. in der folgenden bestehen: „Ich glaube, dass die 2 3 4 5 6 7 8 9
Vgl. Hercsik, Donath, Der Glaube. Eine katholische Theologie des Glaubensaktes, Würzburg 2007, S. 235. Müller 2008, S. 28. Vgl. Schmidt-Leukel 22014, S. 72. Schmidt-Leukel 22014, S. 73. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
4.1 Der Begriff des Glaubens
175
Welt durch den Urknall entstanden ist.“ Der Inhalt der für wahr gehaltenen Behauptung kann dabei stark variieren und von belangloser Art, oder aber von höchster Relevanz hinsichtlich ethischer, weltanschaulicher oder religiöser Bedeutung sein. Darüber hinaus sei ebenfalls der Grad des Für-wahr-Haltens offen, weil er Meinungen von höchster Unsicherheit bis hin zur höchsten Festigkeit umfassen könne.10 Eine vierte Bedeutung sei schließlich „Glaube als Inhalt der für wahr gehaltenen Behauptungen“11 selbst. Damit ist also der Gegenstand dessen, was im Sinne der dritten Bedeutung geglaubt wird, gemeint. Im Falle des christlichen Glaubens bezieht sich die vierte Dimension etwa auf das, was die Kirche im „Credo“ beziehungsweise in ihren Glaubensartikeln bekennt.12 Neben Glaubensartikeln und Dogmen seien auch Begriffe und Bilder „das notwendige Wodurch des Glaubens, aber sie sind als geschöpfliche Wirklichkeiten nicht eigentlicher Glaubensgegenstand“13; eigentlicher Glaubensinhalt ist vielmehr dasjenige, was mit ihnen zum Ausdruck gebracht werden soll. Dennoch seien solche Formulierungen von Glaubenssätzen notwendig, um zur Erkenntnis der Glaubensinhalte zu gelangen.14 Christlicher Glaube sei jedoch nicht auf eine dieser vier Bedeutungen begrenzt, sondern umfasse aufgrund ihrer sachlogischen Interdependenz alle vier: Wer den Verheißungen Gottes vertraut (1), glaube ebenfalls an Gott in dem Sinne, dass er auf ihn setze und sein Leben nach ihm ausrichte (2). Wer wiederum in diesem Sinne an Gott glaubt und ihm vertraut, der halte auch die Behauptung für wahr, dass es einen Gott gibt (3), womit er ebenso den Inhalt der für wahr gehaltenen Behauptung glaubt (4). Insofern seien in der theologischen Tradition für das Verständnis des christlichen Glaubens insgesamt alle vier Bedeutungen von Glauben als konstitutiv betrachtet worden, auch wenn es innerhalb der Geschichte des Christentums immer wieder Akzentverschiebungen gegeben habe.15 Durch diese Akzentverschiebungen stand entweder das non-kognitive beziehungsweise fiduzielle Verständnis von Glauben mit seiner Dimension des Vertrauens und der existentiellen Orientierung an Gott im Vordergrund, die im Fideismus ihren Ausdruck findet, oder aber die Überbetonung der kognitiven Ebene, also des Glaubens als epistemische Einstellung, die kennzeichnend für den Rationalismus16 ist. Beide 10 11 12 13 14 15 16
Vgl. Schmidt-Leukel 22014, S. 73 f. Schmidt-Leukel 22014, S. 74. Vgl. Neuner 22000, S. 24. Seckler, Max, Art. Glaube, in: HthG Bd. 1 (1962), 528–548, hier: 543. Vgl. STh. I-II, q. 1 a. 2 ad 2. Vgl. Schmidt-Leukel 22014, S. 74. Rationalismus kann in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Bedeutungen haben. Beispielsweise kann damit gemeint sein, dass dem reinen Denken gegenüber der Erfahrung ein größerer Erkenntniswert beigemessen wird, oder dass begründbare Einsichten gegenüber Tradition und Offenbarung stärker betont werden. Für den erkenntnistheoretischen Rationalismus wie etwa bei Descartes, Leibniz und Spinoza ist die „Betonung der Ableitungs-, Begründungs-, Erklärungs- od. Systematisierungsbedürftigkeit dessen, was dem Empiristen als Erfahrungstatsache gilt“ (Busche, Hubertus, Rationalismus, Philosophisch, in: LThK3 8, Frei-
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
betonen jeweils einen der zwei grundlegenden Aspekte des Begriffs des Glaubens, für die sich im Englischen beispielsweise die Unterscheidung zwischen faith und belief finden lässt. Während sich faith auf das bezieht, was hier mit dem fiduziellen Glauben gemeint ist, bezeichnet belief die kognitive Komponente des Glaubens. Um die Unterscheidung klarer zu fassen, sollen hier beide Glaubenskonzepte näher erläutert werden.
4.1.2 Fiduzieller bzw. non-kognitiver und doxastischer bzw. kognitiver Glaubensbegriff Vertreter des fiduziellen Glaubensbegriffs behaupten, dass sich Glauben in erster Linie nicht auf das Für-wahr-Halten von Sätzen beziehe, sondern „grundlegend ein interpersonaler Akt des Vertrauens, des Zutrauens, eines Sich-Anheimgebens“17 sei, bei dem der Mensch seine ganze Existenz an Gott übereigne.18 Demnach glaubten wir nicht vordergründig, dass x, sondern einer Person P – „und seien es so wichtige Glaubenswahrheiten wie Trinität, Inkarnation, Eucharistie; ich glaube erstlich jemandem, dem personalen Gegenüber Gott.“19 Wer an Gott glaubt, übereigne sich ihm dabei, indem nicht mehr er selbst Zentrum seines eigenen Denkens und Wollens sei, sondern Gott. Insofern sei Glaube eine Art „Ich-Verlagerung, Selbst-Entäußerung, Existenz-Übergabe.“20 In dieses Glaubensverständnis eingeschlossen ist das unbedingte Vertrauen auf die Offenbarung Gottes sowie die Orientierung im eigenen Lebensvollzug an dieser Offenbarung auf Gottes Autorität hin.21 Damit wird neben dem personalen Vertrauensverhältnis gegenüber Gott dem Glauben also auch eine Handlungskomponente zugeschrieben: „Ein gläubiger Mensch ist der, der auf der Basis der Annahme, dass es einen Gott gibt, und bestimmter anderer Annahmen lebt und handelt.“22 Diese Haltung des Vertrauens im Glauben an die Offenbarung sowie die Orientierung der eigenen Handlungen an ihr umfasst jedoch auch und zuerst den kognitiv erfassten Inhalt derselben, der kontextuell in andere Glaubensüberzeugungen eingebettet ist. Denn wenn ein Subjekt glaubt, dass Gott der Schöpfer der Erde ist,
17 18 19 20 21 22
burg im Breisgau 2009, 845–846, hier: 845.), kennzeichnend. Im vorliegenden Kapitel ist mit Rationalismus die Betonung der rationalen Begründbarkeit des Glaubens gegenüber seiner Komponente des Vertrauens gemeint. Neuner 20002, S. 23. Vgl. Kern, Walter/Niemann, Franz-Josef, Theologische Erkenntnislehre, Düsseldorf 21990, S. 17. Ebd. Vgl. zur Thematisierung des personalen Glaubens auch Buber, Martin, Zwei Glaubensweisen. Mit einem Nachwort von David Flusser und mit einem editorischen Anhang von Lothar Stiehm, Gerlingen 21994, S. 9 f. Kern/Niemann 1990, S. 17. Vgl. ebd. Swinburne 2009, S. 9.
4.1 Der Begriff des Glaubens
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glaubt es auch, dass es die Erde und einen Gott gibt. Propositionaler Glaube ist in seiner kontextuellen Eingebundenheit relational und kontrastiv. Schärtl führt zur Veranschaulichung des relationalen Charakters etwa die folgenden lebensweltlichen Beispiele an: „Wenn Hans […] davon überzeugt ist, dass der FC Bayern wieder Meister wird, dann ist Hans auch davon überzeugt, dass der FC Bayern besser ist als andere Fußballvereine.“23 Oder: „Wenn Angela […] davon überzeugt ist, dass sie auch nach der nächsten Bundestagswahl noch Kanzlerin sein wird, dann ist sie auch davon überzeugt, dass sie bessere Wahlchancen hat als der Kandidat der Opposition.“24 Neben dem hier veranschaulichten komparativen Charakter von Glaubensüberzeugungen betont Swinburne den kontrastiven Charakter von Propositionen, weil Glaubensüberzeugungen immer relativ zu Alternativen angenommen werden würden: „Man ist von einer Proposition im Gegensatz zu einer oder mehreren anderen überzeugt, und worauf die Überzeugung von etwas hinausläuft, hängt von den Alternativen ab. Die gewöhnliche Alternative, der eine Überzeugung gegenübersteht, ist ihre Negation.“25
Die propositional erfasste Ebene des Glaubens, die also relational verfasst ist, wird auch als „dass-Glaube“ bezeichnet: Dem propositionalen Charakter entsprechend beinhaltet der Begriff des Glaubens die Überzeugung, dass etwas der Fall ist.26 Die Bejahung Gottes oder einer Person schließen also die Zustimmung zu den Inhalten, die unlöslich mit Gott beziehungsweise der entsprechenden Person in Verbindung stehen, ein. Plantinga drückt es folgendermaßen aus: „So believing in God is indeed more than accepting the proposition that God exists. But if it is more than that, it is also at least that. One cannot sensibly believe in God and thank him for the mountains without believing that there is such a person to be thanked and that he is in some way responsible for the mountains. Nor can one trust in God and commit oneself to him without believing that he exists“27.
Im Hinblick auf die Selbstoffenbarung Gottes beinhaltet der Glaubensbegriff neben dem Aspekt der Interpersonalität also ebenfalls auf inhaltlicher Ebene die kognitive Dimension der Zustimmung zur offenbarten Wahrheit. Auch vertrauender Glaube
23 Schärtl, Thomas, Glaubensüberzeugung. Philosophische Bemerkungen zu einer Erkenntnistheorie des christlichen Glaubens, Münster 2007, S. 188. 24 Schärtl 2007, S. 188 f. 25 Swinburne 2009, S. 10. 26 Vgl. z. B. Swinburne 2009, S. 9. 27 Plantinga 1983, S. 18. Vgl. zum logischen Vorrang des kognitiven Glaubens auch Hick, John, Faith and Knowledge. A Modern Introduction to the Problem of Religious Knowledge, New York 1957, S. xii: „When he [the religious believer] does so concern himself, it emerges that faith as trust (fiducia) presupposes faith (fides) as cognition of the object of that trust. For in order to worship God and commit ourselves to his providence we must first have faith that he exists.“
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
schließt nämlich immer die Annahme von Erkenntnisinhalten und somit die kognitive Ebene ein.28 Insofern ist Glauben auch als Akt der Erkenntnis zu verstehen, weshalb eine Veranschaulichung des erkenntnistheoretischen Glaubensbegriffs an dieser Stelle sinnvoll ist. „Glauben“ wird in diesem Kontext ebenso wie „meinen“ und „wissen“ als epistemische Einstellung verstanden und ist nach Müller dahingehend spezifiziert, dass er – wie oben bereits angeführt – mit der höchsten Gewissheitsstufe operiert, die mit „glauben“ zum Ausdruck gebracht werden kann. „Glauben“ bedeutet demnach immer „überzeugt sein, dass“.29 Somit impliziert Glaube als epistemische Einstellung seine rationale Verfasstheit ohne diejenige Dimension, die beim fiduziellen Glaubensverständnis hervorgehoben wird. Indem Glaube rational verfasst ist, lassen sich auf ihn Prinzipien einer doxastischen Logik anwenden, wie z. B. die folgende Schlussfolgerung: „Wenn jemand glaubt, dass p, und q eine logische Folge von p ist, dann glaubt er oder sie auch, dass q.“30 Ein weiteres Beispiel wäre die Regel, dass man nicht gleichzeitig p und nicht-p für wahr halten kann. Durch den starken Wahrheits- und Gewissheitsanspruch, der mit Glauben zum Ausdruck gebracht wird, drängt sich die Frage nach der Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen auf. Zu ihrer Differenzierung wird hier der Wissensbegriff in seinen Grundzügen beleuchtet. Unter Wissen wird gemeinhin das Haben wahrer, gerechtfertigter Annahmen verstanden.31 Diese begriffliche Bestimmung lässt sich bereits bei Platon in seinem Dialog Theaetet finden.32 Dass der Aspekt der Rechtfertigung von Glauben und Wissen problematisch ist, wurde bereits im Zusammenhang mit dem skeptischen Trilemma aufgezeigt.33 Wahres, begründetes Meinen, also perfektes Wissen, kann sich folglich ausschließlich auf analytische Sachverhalte (z. B. ein Dreieck weist drei Ecken auf ) sowie subjektive Überzeugungen (z. B. das Wissen um die eigene Auffassung, dass es aktuell nicht regnet) erstrecken. Dieses Wissen wird aus dem Grund als perfekt bezeichnet, weil hierbei Überzeugtsein und Wahrsein zusammenfallen, was eine Rechtfertigung des Wahrheitsanspruches überflüssig macht. Weil die Form des perfekten Wissens jedoch lediglich kleine Teilbereiche unserer Annahmen einschließt, die wir alltäglich als Wissen verstehen, „taugt [sie] nicht für einen allgemeinen Wissensbegriff.“34 Andere Überzeugungen können deshalb nicht dem An28 29 30 31
Vgl. Neuner 22000, S. 23. Vgl. Müller 2008, S. 28. Vgl. ebd. Vgl. z. B. Müller 2008, S. 20: „Wissen ist eine Überzeugung, die wahr und begründet ist.“ Vgl. auch Hick 1957, S. 3: „From the time of Plato until our own day, knowledge has generally been regarded as direct and infallible acquaintance with ‚reality‘ (in ancient philosophy) or with ‚truth‘ (in modern philosophy).“ 32 Vgl. Platon, Theaetet,187 b5 f. und auch 201 c8–d2. (Aus: Plato, Theäetet, übersetzt und herausgegeben von Otto Apelt, Hamburg 61955.) 33 Vgl. Kapitel 2.2.2. 34 Müller 2008, S. 22.
4.1 Der Begriff des Glaubens
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spruch perfekten Wissens, das in wahrer, gerechtfertigter Meinung bestehen soll, entsprechen: Die Begründung wahrer Annahmen ist nicht möglich beziehungsweise unsere Begründungen reichen nicht dazu aus, um unsere Meinungen auf ein erkenntnistheoretisch höheres Niveau zu bringen.35 Für Wissen ist also das Angebenkönnen von Gründen maßgeblich; aber auch diese Begründungen führen nicht zu perfektem Wissen, weil sie entweder in einen infiniten Regress, einen Zirkelschluss oder eine dogmatische Setzung münden. Wissen baut demnach auf Voraussetzungen auf, die ihrerseits nicht erneut begründet, sondern nur geglaubt werden können. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, den Begriff des Wissens so zu verstehen, dass er „doch nur aus Überzeugungen, die wahr sind“36, besteht beziehungsweise dass genau dann von Wissen die Rede ist, wenn wir überzeugt sind, dass p, und damit auch richtig liegen. Glauben bedeute in Abgrenzung von Wissen dagegen nach Müller, dass wir zwar – wie im Falle des Wissens – überzeugt sind, dass p, und folglich ebenso überzeugt sind, dass wir damit richtig liegen; aber ob wir damit tatsächlich richtig liegen, wissen wir nicht.37 Glaube schließt nach Gregor Maria Hoff insofern immer „ein Moment epistemischer Bezweifelbarkeit [ein], das noch in der Form entschiedenen Glaubens und Vertrauens nicht auszuräumen ist– es sei denn um den Preis, aus dem Glauben ein wahres und sicheres Wissen machen zu wollen“38.
Diese Bestimmung der Natur des Glaubensgegenstandes bezieht sich insbesondere auf religiösen Glauben, dessen Inhalte – wie z. B. der Glaube an die Existenz Gottes – prinzipiell nicht gesehen oder bewiesen werden kann. Auch die Identifikation von alltäglichen propositionalen Einstellungen als Glauben hängt damit zusammen, dass sie nicht ausreichend überprüft sind. Dieser Umstand bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass alltägliche Glaubensüberzeugungen prinzipiell unüberprüfbar sind, wie es bei religiösen Glaubensüberzeugungen der Fall ist. Zum Beispiel ließe sich meine Glaubensannahme, dass ich noch einen Kasten Wasser im Vorratsraum stehen habe, leicht überprüfen. Wer also glaubt, dass p, stimmt p zu, ohne eine unmittelbare Einsicht in die Wahrheit von p zu haben. Religiöser Glaube beinhaltet darüber hinaus, dass er prinzipiell unüberprüfbar ist. Dennoch ist der Akt der Glaubenszustimmung nicht willkürlich gesetzt, sondern er beruht auf der Glaubwürdigkeit des geglaubten Gegenstandes, der einer rationalen Untersuchung auf Nachvollziehbarkeit und Vernunftgemäßheit untersteht.39 35 Vgl. hierzu ebenso Müller 2008, S. 21, f. Zur Vertiefung der Begründungsproblematik von Wissen, z. B. auch der Gettier-Fälle, vgl. Schärtl 2007, S. 221–229. 36 Müller 2008, S. 22, 37 Vgl. Müller 2008, S. 29. 38 Hoff, Gregor Maria, „Fragwürdigstes“. Überlegungen zur epistemischen Bedeutung des religiösen Zweifels, in: Veronika Hoffman (Hg.), Nachdenken über den Zweifel. Theologische Perspektiven, Ostfildern 2017, S. 55–70, hier: S. 63. 39 Vgl. Müller 2008, S. 33 f.
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
Wenn religiöser Glaube aber auf der einen Seite rational-analytisch nachvollziehbar sein soll und andererseits aber doch nicht bis aufs Letzte überprüfbar ist und Ungewissheit einschließt, inwiefern können dann Glaube und Rationalität zusammen gedacht werden? Wie ist der Begriff der Rationalität überhaupt zu fassen? Der Fideismus und der Rationalismus geben als zwei Lager theologischer Denkrichtungen unterschiedliche Antworten auf diese Fragen.
4.2 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft 4.2.1 Zwei grundlegende Positionierungen 4.2.1.1 Fideismus Für den Fideismus ist es charakteristisch, dass religiöser Glaube nicht Gegenstand rationaler Untersuchungen sein kann. An Gott zu glauben, bedeutet ihm zu vertrauen, und zwar unabhängig von einer vernünftigen Untersuchung der damit zusammenhängenden propositionalen Überzeugungen oder der Zugewandtheit Gottes zu den Menschen, zu der sich das Subjekt im christlichen Glauben bekennt. Rationale Maßstäbe werden als etwas dem Glauben Externes begriffen, die nicht zur Untersuchung auf den Glauben angewandt werden. Das Vertrauen auf Gott wird im Glauben selbst gefunden, wie Peterson et al. schreiben: „For a sincere religious believer, the most fundamental assumptions are found in the religious belief system itself. Religious faith itself is the foundation of one’s life – it is […] one’s ‚ultimate concern‘.“40 Insofern wird die rationale Analyse des Glaubens betrachtet als „terrible mistake, which very likely reflects a lack of true faith.“41 Man glaube demnach nicht, weil man gute, rational nachvollziehbare Gründe für den Glauben hat, sondern man müsse den Sprung wagen: „You must commit yourself, you must take the ‚leap of faith,‘ believing without having any reasons or evidence to show that your belief is true.“42 Ein prominenter Vertreter des fideistischen Glaubensbegriffs ist Kierkegaard, für den echter Glaube mit einer rationalen Überprüfung desselben unvereinbar ist. Dies hängt mit seiner Auffassung zusammen, „daß das Christentum gerade das Gegenteil der Spekulation ist, daß es das Mirakulöse, das Absurde ist, mit der Forderung an den Einzelnen, darin zu existieren und nicht die Zeit damit zu vergeuden, es spekulativ zu verstehen.“43 Anstelle von vergeblichen rationalen Anstrengungen, mit denen wir unserer persönlichen existentiellen Betroffenheit nach seiner Vorstellung da40 41 42 43
Peterson et al. 52012, S. 65. Ebd. Peterson et al. 52012, S. 66. Kierkegaard 1958, S. 82 f.
4.2 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft
181
her bloß entgegenarbeiten würden, sei die Radikalität unendlicher Leidenschaft gefordert.44 Diese Radikalität zeige sich umso deutlicher, je größer sich das Risiko des Glaubens angesichts der Unmöglichkeit seiner rationalen Nachvollziehbarkeit darstellt. Mit Schmidt-Leukel ist jedoch zu fragen, worin „der Wert einer völlig beliebigen Leidenschaft liegen [sollte]? Die rational kontrollierte Frage nach der Wahrheit dient unter anderem gerade dem Zweck, eine solche Leidenschaft davor zu bewahren, daß sie blind, unkritisch und damit beliebig wird.“45 Ein anderes bekanntes Beispiel der fideistischen Denkart ist mit Blaise Pascal und seiner Wette gegeben: Weil sich die Wahrheit des religiösen (beziehungsweise in Pascals Fall, des christlichen Glaubens) nicht auf rationalem Wege klären lässt, gehe sowohl das sich atheistisch positionierende als auch das sich zum Glauben bekennende Subjekt ein Risiko wie im Falle einer Wette ein. Dabei sei es jedoch vernünftiger, trotz des damit abverlangten am Glauben ausgerichteten Leben auf die Wahrheit des christlichen Glaubens zu setzen, weil die Gewinnaussichten des Glaubenden weitaus höher seien als die des Atheisten. Im Falle der Wahrheit des christlichen Glaubens bestünde der Gewinn der Glaubenden nämlich im ewigen Leben, wohingegen Atheisten mit ewiger Verdammnis zu rechnen hätten. Dagegen sei der Verlust im Falle der Unwahrheit des christlichen Glaubens für beide gleich, weil für beide das Leben mit dem Tod aufhören würde.46 Ohne an dieser Stelle detailliert auf die Problematik der Pascalschen Wette einzugehen,47 wird durch diese kurze Skizze des Arguments aus Pascals Wette bereits deutlich, dass er Glaubensüberzeugungen für nicht rational begründbar hält. Lediglich im Sinne der praktischen (d. h. einer an pragmatischen Gründen orientierten) Rationalität könnten wir uns auf die Frage nach dem christlichen Glauben beziehen.48 Wenn Glaube aber nach fideistischem Verständnis nicht rational begründbar ist, sondern ohne Rationalität auskommen kann und muss, weil die existentielle Haltung Gott gegenüber im Vordergrund steht49 und wenn Glaube zudem nach Kierkegaard auf der Linie dieses Verständnisses einen Sprung impliziert, wie aber soll sich das vor dem Sprung stehende Subjekt entscheiden, zu welcher Seite es springen soll, wenn es verschiedene Alternativen vor sich sieht oder im Zweifel ist, welcher Sprung ins Leere führen könnte? Naheliegend ist die Ansicht, dass eine Suche nach Gründen für die eine oder andere Alternative angebracht wäre – was jedoch nach dem Fi44 45 46 47
Vgl. Schmidt-Leukel 22014, S. 88. Ebd. Pascal 1940. Wie Schmidt-Leukel schreibt, geht sein Argument der Wette beispielsweise „nur unter seinen sehr spezifischen Voraussetzungen auf, die selber alles andere als sicher sind: Vielleicht belohnt und bestraft Gott ja nicht in dieser Weise? Vielleicht erwartet Gott eine ganz andere Einstellung? Vielleicht ist Gott nicht der Gott des christlichen Glaubens, sondern der Gott eines anderen Kultes, der seinen Himmel für Christen verschlossen hält?“ Aus: ders. 22014, S. 88. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. ebd.
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
deismus nicht möglich ist.50 Das ist eine problematische Annahme, weil wir ohne eine Analyse der Vernünftigkeit eines bestimmten Glaubens leicht einem Irrglauben zum Opfer fallen können.51 Nach Kern und Niemann sei das eigene Wissen um die Begründetheit und Verantwortbarkeit des Glaubens ein konstitutiver Bestandteil des Glaubens, ohne den Glauben zu bloßer Leichtgläubigkeit und Aberglauben degenerieren würde.52 Zudem ist es fraglich, worin der Wert einer völlig beliebigen Leidenschaft beziehungsweise eines Glaubens, dessen Objekt nicht begründet ist, bestehen soll. Ein derartig aufgefasster Glaube, der ausschließlich in einer existentiellen Leidenschaft zu bestehen scheint, kann sich mit allen möglichen Überzeugungen verbinden. „Die rational kontrollierte Frage nach der Wahrheit dient unter anderem gerade dem Zweck, eine solche Leidenschaft davor zu bewahren, daß sie blind, unkritisch und damit beliebig wird.“53 Das Wissen um die Rechtfertigbarkeit des Glaubens sei also nicht nur um des Subjekts des Glaubens willen, sondern auch um des Objekts des Glaubens willen gefordert: „Das menschliche Subjekt des Glaubens kann und darf seine kritisch-prüfende ‚ratio‘ niemals verabschieden, soll der Glaube ein wirklich menschlicher Akt werden und bleiben, der sich einfügt in den Gesamthaushalt des geistigen und sittlichen Lebens des betreffenden Menschen, aus dem er ja auch erwächst. Wissender Glaube ist aber auch gerade um des ‚Objektes‘ des Glaubens willen notwendig, das Gott ist. Es geht dabei um die Unverwechselbarkeit Gottes selber. Der Glaubende muß sich dessen gewiß sein, daß er sich an Gott hält und nicht einem selbstgemachten Götzen nachläuft. Gott „muß“ um seiner Einzigkeit und Heiligkeit willen seinen Glaubensanspruch der nüchtern-unerbittlichen Prüfung des menschlichen Intellekts unterwerfen!“54
So müsse also einerseits auf der Seite des Glaubenssubjekts der Glaube eingeordnet sein in das Gesamtgefüge menschlichen Denkens und Lebens; aber auch der Glaube an Gott selbst dürfe nicht vor einer kritischen Untersuchung verschont bleiben, damit er nicht im Glaubensakt zugunsten eines Objekts des Aberglaubens verkannt wird. Nach Peterson et al. ist es nicht nachvollziehbar, wenn jemand seinen beziehungsweise ihren Glauben nicht vernünftig rechtfertigen möchte. Die Befürchtung etwa, dass eine rationale Analyse des Glaubens zwangsläufig zu einem Verlust desselben führen sollte, sei eine irrige Annahme und erwecke zudem den Verdacht, dass er für nicht stark genug gehalten werde, derartigen Untersuchungen und Infragestellungen standzuhalten: „To the charge that testing one’s faith by logic is placing logic above God, the retort might be that a really strong and sound faith involves the confidence that one’s belief can pass any properly conducted test on the basis of logic and evidence.“55 Darüber hinaus stellen Peterson et al. in Frage, ob jemand, der seinen 50 Vgl. Schmidt-Leukel 22014, S. 67. 51 Peterson et al. erwähnen als Beispiel den prominenten Fall der Sekte von Jonestown, die ihrem Anführer in einen Gruppensuizid gefolgt ist. Vgl. hierzu Peterson et al. 52012, S. 67 ff. 52 Vgl. Kern/Niemann 21990, S. 17. 53 Schmidt-Leukel 22014, S. 88. 54 Kern/Niemann 21990, S. 24. 55 Peterson et al. 52012, S. 68.
4.2 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft
183
Glauben nicht im Hinblick auf logische Konsistenz überprüfen will, von anderen vernünftigen Personen ernst genommen werden kann. „What would we make of a religious person who, calmly and deliberately, tells us that she is well aware that some of her beliefs are logically contradictory or conflict with well-known facts, yet this is no obstacle to her holding these beliefs? We would no doubt conclude that either (1) she is badly confused and doesn’t know what she is saying, or (2) she is not seriously interested in the truth of her beliefs but is determined to maintain them (perhaps for the comfort they give her) whether they are true or not.“56
Peterson et al. gestehen zu, dass eine solche Darstellung der fideistischen Position überspitzt sei, weil sie nicht intendierten, Widersprüchliches zu glauben. Logische Inkonsistenzen des Glaubens würden damit gerechtfertigt werden, dass sie von einer absoluten Perspektive aus nicht mehr inkonsistent seien. Als Menschen können wir sie jedoch nicht einnehmen. Eine verbreitete Annahme unter Fideisten sei in solchen Fragen nach Widersprüchen auch, dass die säkularen Annahmen irrig seien, wenn sie mit ihren Glaubensüberzeugungen in Konflikt geraten. Mit einer solchen Abwehr begehen sie jedoch einen performativen Widerspruch: Sie lassen sich mit ihrer Rechtfertigung der eigenen Glaubensüberzeugungen gegenüber der säkularen Vorstellungen implizit auf den Diskurs einer rationalen Rechtfertigung ein, selbst wenn sie keine guten Gründe anbringen können beziehungsweise wollen. Als Beispiel dafür führen Peterson et al. die sehr extreme und fundamentalistische fideistische Ausprägung von Kreationisten ins Feld, die beispielsweise den evolutiven Charakter der Welt bestreiten und ihm zu diesem Zweck die zwei biblischen Schöpfungsgeschichten in einander ausschließender Konkurrenz entgegenhalten.57 Als überspitzte Veranschaulichung mag diese Anführung hilfreich sein, jedoch handelt es sich hierbei wie gesagt um eine extreme Form des Fideismus. 4.2.1.2 Starker Rationalismus Die Position des Fideismus ist stark in Frage zu stellen, weil Glaube nicht ein bloßes existentielles Gefühl ist, sondern weil er ebenso einen propositionalen Gehalt aufweist, der seinen Ausdruck beispielsweise im Glaubensbekenntnis beziehungsweise in dogmatischen Formulierungen findet. Der in ihnen kategorial erfasste Inhalt bildet mit der Dimension, die im fiduziellen Glaubensbegriff betont wird, eine Einheit. Der Mensch kann im Akt des Glaubens sein Denken und Handeln nicht blind an einem leeren Begriff Gottes ausrichten. Auch die nach dem Fideismus betonte Leidenschaft muss ein propositional erfassbares Objekt haben, an dem sie sich ausrichtet und das sie bejaht.58
56 Ebd. 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. Böttigheimer 2012, S. 176.
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
Die dem Fideismus entgegengesetzte Position ist die des Rationalismus. Der Begriff des Rationalismus kann in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Bedeutungen haben – so kann er beispielsweise dem Empirismus entgegengesetzt sein, wenn er zum Ausdruck bringen soll, dass unsere Erkenntnis sich allein durch reine Vernunft in Absehung von sinnlicher Wahrnehmung vollziehe.59 In diesem Kontext stellt Rationalismus jedoch den Gegenbegriff zum Fideismus dar und meint somit die Auffassung, dass die Wahrheit religiösen Glaubens durch die Analyse seiner Vernünftigkeit aufgezeigt werden kann. Die These des starken Rationalismus impliziert nach Peterson et al. den klaren Aufweis der Wahrheit des fraglichen Glaubens durch die Vernunft, sodass jeder vernünftige Mensch ihr zustimmen müsste.60 Unter Aufweis (manche Autoren, wie Peterson et al., gebrauchen in diesem Zusammenhang sogar den epistemisch starken Ausdruck „proof “ 61) wird in diesem Kontext ein Argument verstanden, das sich aus Propositionen zusammensetzt und sich auf Prämissen stützt. Diese Prämisse sowie der daraus gefolgerte Wahrheitsanspruch müssen derart verfasst sein, dass ihr jede vernünftige Person, die sie prüft, zustimmt – oder aber dass jede vernünftige Person zumindest nachvollziehen kann, dass sie wahrscheinlich wahr sind. Darüber hinaus muss die Methode der Erkenntnisgewinnung bei diesem rationalen Aufweis eine solche sein, die jede vernünftige Person für richtig halten würde. Auch die Konklusion muss also sowohl unter der Annahme einer wahren Prämisse als auch unter Anwendung einer richtigen Methode der Erkenntnisgewinnung wahr beziehungsweise sehr wahrscheinlich wahr sein.62 Vertreter des starken Rationalismus halten es demnach für falsch, wenn jemand etwas glaubt, das nicht rational beweisbar ist. So schreibt beispielsweise Clifford: „If a man, holding a belief which he was taught in childhood or persuaded of afterwards, keeps down and pushes away any doubts which arise about it in his mind, purposely avoids the reading of books and the company of men that call into question or discuss it, and regards as impious those questions which cannot easily be asked without disturbing it – the life of that man is one long sin against mankind. […] Inquiry into the evidence of a doctrine is not to be made once for all and then taken as finally settled. It is never lawful to stifle a doubt, for either it can be honestly answered by means of the inquiry already made, or else it proves that the inquiry was not complete.“63
Ein Einwand, der Clifford häufig entgegengebracht wird, ist, dass es Menschen gibt, die nicht über die mentalen oder zeitlichen Kapazitäten verfügen, um derartige Untersuchungen durchführen zu können. Sie können ihrem religiösen Glauben nicht den Status eines in Cliffords Sinne gerechtfertigten Glaubens verleihen, weil sie z. B. 59 60 61 62 63
Vgl. Busche 2009, 845–846. Vgl. Peterson et al. 52012, S. 61. Ebd. Vgl. Peterson et al. 52012, S. 61 f. Clifford, William K., „The Ethics of Belief,“ in: George I. Mavrodes (Hg.), The Rationality of Belief in God (Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall, 1970), S. 159–160.
4.2 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft
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nicht ausreichend Bildung genossen hätten, um dazu in der Lage zu sein. Andere wiederum hätten enorm viel Zeit und Energie für ihren Lebensunterhalt aufzuwenden, sodass für Fragen der eingehenden Untersuchung ihres Glaubens kein Freiraum bliebe.64 Clifford, der diesen Einwand zur Kenntnis genommen hat, begegnet ihm folgendermaßen: „But, say one, ‚I am a busy man; I have no time for the long course of study which would be necessary to make me in any degree a competent judge of certain questions, or even able to understand the nature of the arguments.‘ Then he should have no time to believe.“65
Nach Cliffords Auffassung kann jedoch kein religiöses Denksystem diese Standards erfüllen. Folglich müsse jede vernünftige Person ihren religiösen Glauben aufgeben. Peterson et al. führen an, dass nicht alle Vertreter des starken Rationalismus wie Clifford den Aufweis der Rationalität des Glaubens für unmöglich gehalten hätten. Locke, Thomas von Aquin und Swinburne seien beispielsweise der Auffassung gewesen, dass es durch sorgfältige rationale Analyse möglich sei, überzeugende Argumente für die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens aufzuzeigen.66 Der Vorteil der These des starken Rationalismus liegt darin, dass ihre Vertreter keine unverantwortlichen Glaubensüberzeugungen zulassen und damit bereit sind, ihre Annahmen zu rechtfertigen. Sie fordern dementsprechend ebenfalls ihr anders positioniertes Gegenüber dazu heraus, seine eigenen Überzeugungen zu begründen. Dennoch hat auch die Position des starken Rationalismus ihre Grenzen. Erstens ist der These des starken Rationalismus die Frage entgegenzubringen, ob es überhaupt für den Begriff des Glaubens, der ja – wie oben angeführt – nicht ausschließlich aus dem propositionalen Gehalt des Glaubens besteht, sondern auch die personale, non-kognitive Ebene des Vertrauens impliziert, nach dem Selbstverständnis religiös glaubender Subjekte sinnvoll ist, von einem Glauben auszugehen, der bis aufs Letzte rational beweisbar ist. Diese Forderung ist zumindest für fragwürdig zu halten, weil Vertrauen nicht mit einer letzten Sicherung einhergehen kann. So sehen beispielsweise Peterson et al. die Forderung nach einer rationalen Beweisführung kritisch: Obwohl sie nicht den Sprung in den Glauben im Sinne Kierkegaards befürworten, sei dennoch nicht davon abzusehen, dass ein gewisser letzter Rest an Ungewissheit und Risiko für religiöse Menschen zum Selbstverständnis ihres religiösen Glaubens gehöre. Dieser Aspekt sollte deshalb zumindest ernst genommen werden.67 64 Vgl. Vgl. Peterson et al. 52012, S. 62. 65 Clifford 1970, S. 160. 66 Vgl. Peterson et al. 52012, S. 62 f. Eine Diskussion Lockes diesbezüglicher Auffassung findet sich in: Wolterstoff, Nicholas, „The Migration of the Theistic Arguments. From Natural Theology to Evidentialist Apologetics,“ in: Robert Audi/William J. Wainwright (Hg.), Rationality, Religious Belief, and Moral Commitment (Ithaca: Cornell University Press, 1986), S. 38–81. 67 Vgl. Peterson et al. 52012, S. 63.
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
Zweitens – und dieser Einwand wiegt am schwersten – ist es fraglich, ob die Forderung des strengen Rationalismus überhaupt erfüllt werden kann: „[I]s it actually possible to do what the strong rationalist demands, and show that a particular religious belief system is true in a way that should be convincing to any reasonable person? The strong rationalist (if she is religious) thinks that it is.“68 Dagegen spricht jedoch die nicht zu leugnende Tatsache, dass bis heute kein religiöses System auf eine derart überzeugende Weise dargestellt werden konnte, sodass ihm alle vernünftigen Subjekte hätten zustimmen müssen.69 Wer das Gegenteil behaupten will, würde damit konsequenterweise denjenigen, die dem entsprechenden religiösen Denksystem nicht zustimmen, entweder eine intellektuelle oder moralische Defizienz unterstellen.70 Ein Ausweg für Vertreter der These des starken Rationalismus aus dieser Unterstellung wäre die Behauptung, dass jedes rationale Subjekt der Argumentation für ihr religiöses System zustimmen müsste. Eine mangelnde Einsicht in die Wahrheit des religiösen Glaubens müsste dann lediglich darauf zurückzuführen sein, dass der rationale Nachvollzug an irgendeinem Punkt fehl gegangen sei. So könnte es einerseits sein, dass es die Argumentation nicht sorgfältig genug nachvollzogen oder sie an einer Stelle missverstanden hat. Andererseits sei es denkbar, dass die Person, die die Zustimmung verweigert, nicht ausreichend in rationalen Analysen geschult sei oder generell nicht die intellektuellen Kapazitäten aufweise, um einzusehen, dass der Argumentation uneingeschränkt zu folgen sei. Schließlich könne das Subjekt, das die vernünftigen Gründe für einen entsprechenden Glauben nicht für nachvollziehbar hält, von Vorurteilen geblendet sein, sodass es derart voreingenommen sei, dass eine Zustimmung nicht gewährt werden kann.71 Jedoch scheinen der vergangene Verlauf sowie der aktuelle Stand der Diskussion religiöser Argumente nicht für die These des starken Rationalismus zu sprechen. Selbst Theologen und solche Philosophen, die einem religiösen Glaubensanspruch aufgrund seiner rational-analytischen Nachvollziehbarkeit zustimmen, gestehen dennoch zu, dass die vernünftige Analyse eines religiösen Glaubens zwar mit einer rationalen Selbstvergewisserung, nicht aber mit einem für alle Menschen ersichtlichen zwingenden Beweis gleichzusetzen sei.72 Folglich muss es eine irrige Annahme sein, dass jeder vernünftige Mensch dem entsprechenden Glauben zuzustimmen hätte beziehungsweise dass ein rationaler Erweis seiner Wahrheit im Sinne des starken Rationalismus möglich wäre. Darüber hinaus wäre es sonst fraglich, wie es eine so große Diversität verschiedener, teilweise einander widersprechender Glaubens68 69 70 71 72
Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Schmidt-Leukel 22014, S. 87. Vgl. Peterson et al. 52012, S. 63 f. Den Begriff beziehungsweise Anspruch und Funktion der Gottesbeweise problematisiert beispielsweise Klaus Müller in seinem Buch Gott erkennen. Das Abenteuer der Gottesbeweise, Regensburg 2001, S. 22 ff.
4.2 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft
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überzeugungen geben kann, denn es ist bemerkenswert, „that the great diversity of beliefs that is so prominent a feature of contemporary society is by no means limited to uninformed or unreflective persons. On the contrary, it is found also among thoughtful, sincere, and knowledgeable individuals.“73 Die Unmöglichkeit eines rational zwingenden Beweises ist jedoch nicht nur ein Problem religiösen Glaubens, sondern jeder umfassenden Weltsicht, die Aussagen darüber trifft, wie die Realität bestimmt ist. Darunter fällt z. B. auch die These des Naturalismus. Auch der Naturalismus beruht auf vorausgesetzten Glaubensannahmen, die nicht lückenlos begründbar sind.74 Ein weiteres Problem des starken Rationalismus besteht in dem Anspruch, dass die Vernunft ein Vermögen des Menschen sei, das neutral gegenüber unterschiedlichen Weltanschauungen ist. Somit müsste es dem Menschen mit seinem vernünftigen Vermögen möglich sein, die Wahrheitsansprüche eines jeden Individuums unabhängig seines bereits bestehen Weltverständnisses überzeugend darzustellen. Jedoch machen wir die Erfahrung, dass unsere Glaubensüberzeugungen einschließlich unserer Sicht auf die Welt einen entscheidenden Einfluss darauf nehmen, wie wir die Welt wahrnehmen und unsere Erfahrungen interpretieren sowie welche Argumentationen wir für überzeugend halten und welche nicht. Vor dem Hintergrund des Bewusstseins über den Einfluss unseres individuellen Vorverständnisses haben Philosophen und Theologen immer wieder versucht, einen voraussetzungslosen Zugang zu philosophischen Argumentationen und Denksystemen zu entwickeln.75 Im Anschluss an Denker wie Wittgenstein76 halten es jedoch viele Philosophen und Theologen für unmöglich, einen voraussetzungslosen Standpunkt einzunehmen und sich von seiner situativen individuellen Bedingtheit zu distanzieren: „[T]here is no pure, assumption-free standpoint on which our knowledge can be based in a way that is independent of ‚where we are coming from‘.“77 Angesichts dieser Einwände scheinen weder der Fideismus noch der starke Rationalismus einen angemessenen Zugang zum Verhältnis von Glauben und Rationalität darzustellen. Vertreter des Fideismus halten eine rationale Begründung des Glaubens für unvereinbar mit dem Glauben, der einen nicht vernünftig einholbaren Akt des Vertrauens angesichts eines Risikos darstellt. Die Position des Fideismus ist damit 73 Peterson et al. 52012, S. 64. 74 Vgl. Tetens, Holm, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015. Zu der Tatsache, dass mit dem Naturalismus ebenfalls wie mit dem Theismus eine metaphysische Position vertreten wird, die auf nicht bewiesenen Annahmen beruht, vgl. S. 12–15. Zur Pattsituation zwischen der metaphysischen These des Naturalismus und der des Theismus vgl. z. B. S. 87–90. 75 Vgl. hierzu beispielsweise Descartes, der in seinen Meditationes durch das Verfahren des hypothetischen universalen Zweifels möglichst voraussetzungslos zu philosophieren beginnen möchte (vgl. Meditationen), oder auch Hegel, der Philosophie ebenfalls als voraussetzungslose Disziplin versteht. Vgl. hierzu Enz § 1. 76 Vgl. Wittgenstein, z. B. ÜG § 341. 77 Peterson et al. 52012, S. 65.
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
strikt abzulehnen, weil Glaube dann, wie Pannenberg schreibt, „leicht zur blinden Vertrauensseligkeit gegenüber dem Autoritätsanspruch der verkündeten Botschaft, zum Aberglauben wegen ihres anscheinenden Widerspruchs gegen besseres Wissen“78 verdorben wird. Folglich ist „gerade um der Reinheit des Glaubens willen die Bedeutung der vernünftigen Erkenntnis seines Grundes hervorzuheben.“79 Vor diesem Hintergrund ist der Anspruch des starken Rationalismus insofern gerechtfertigt, als dass er im Sinne Anselms von Canterburys „fides quaerens intellectum“80 den Anspruch erhebt, seinen Glauben durch eine Rechtfertigung rational einzuholen und nur das zu glauben, was vernünftig einsehbar ist. Dennoch scheint dies aufgrund der oben angeführten Schwierigkeiten ein nahezu unmögliches Unterfangen zu sein. Wie also kann das Verhältnis von Glaube und Vernunft bestimmt werden, wenn vernünftiges Denken konstitutiver Bestandteil des Glaubens sein soll, aber eine rationale Letztbegründung – nicht zuletzt aufgrund des bereits in Kapitel 2.2.2 aufgeführten skeptischen Trilemmas – unmöglich zu sein scheint?
4.2.2 Der trotz seiner Schwierigkeiten bestehende Anspruch auf Vernünftigkeit des Glaubens Warum sollte also der Anspruch der Vernünftigkeit des Glaubens angesichts der eben skizzierten Problematik nicht aufgegeben werden? Zunächst einmal wäre das ein fraglicher Versuch, weil Menschen denkende Wesen sind, die nach Wahrheit suchen. Eine Glaubensgemeinschaft würde wahrscheinlich mit dem Aufgeben ihres Anspruches, vernünftig nachvollziehbar zu sein, ihre Attraktivität verlieren: „Since humans are inherently intellectual beings who seek truth and consistency, all major religious traditions know that authentic faith should not shield itself from thoughtful inquiry.“81 Die Forderung nach Vernünftigkeit des religiösen Glaubens wird im Falle des christlichen Glaubens jedoch auch und vor allem mit dem Anspruch auf universale Geltung dieses Glaubens erhoben. Nach dem eigenen Selbstverständnis des Christentums ist es als „Religion der Wahrheit u. der Freiheit“82 zu begreifen, deren Nachfolge vernunftbegründet sein soll. Insofern diese Glaubenswahrheit also für alle gelten soll, muss sie auch „vernünftig vermittelbar und sittlich verantwortbar“83 sein, denn die Vernunft ist das Medium, über das Menschen verfügen und über das sie sich miteinander hinsichtlich ihrer Wahrheitsansprüche verständigen können. Wer also den universalen Wahrheitsgehalt seiner Überzeugung geltend machen will, 78 Pannenberg 19712a, S. 223. 79 Ebd. 80 Anselm von Canterbury, Proslogion/Anrede; Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Robert Theis, Stuttgart 2005, S. 8. 81 Peterson et al. 52012, S. 13. 82 Seckler 2009, S. 839. 83 Böttigheimer 2012, S. 220.
4.2 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft
189
dem obliegt die Verantwortung, sich dazu der die Menschen verbindende Vernunft zu bedienen. Vor diesem Hintergrund sei christlicher Glaube nach Böttigheimer „davon überzeugt, dass das, was er als wahr anerkennt, nichts anderes ist als das, was die Vernunft als wahr erkennt.“84 Dass es sich bei der Forderung nach Rationalität des Glaubens nicht um eine nachträglich hinzugefügte handelt, lässt sich daran zeigen, dass bereits im Neuen Testament der Anspruch auf Vernünftigkeit des Glaubens seinen Ausdruck findet. So betont beispielsweise Paulus, dass der Glaube vernünftig ist, wenn er schreibt: „Ich bin nicht verrückt, […] was ich sage, ist wahr und vernünftig.“ (Apg 26,25) Seinen Anspruch auf die Vernünftigkeit seines Glaubens bringt er auch im folgenden Vers zum Ausdruck: „Ich will nicht nur im Geist beten, sondern auch mit dem Verstand. Ich will nicht nur im Geist Gott preisen, sondern auch mit dem Verstand.“ (1 Kor 14,15) Dies scheint nicht nur der Anspruch des Paulus auf seinen eigenen Glauben zu sein, sondern er verkündet, dass Gott auch „an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen“ (Röm 1,20) werden könne. Auch wenn damit nicht die Möglichkeit einer rein intellektuellen Aneignung des Glaubens behauptet wird, ist die Vernunft bei Paulus nicht etwas dem Glauben Externes, sondern vielmehr Zugehöriges. Der christliche Glaube soll nach biblischem Selbstverständnis jedoch nicht nur vom Glaubenden selbst vernünftig nachvollziehbar sein, sondern auch nach außen hin, also anderen gegenüber im Dialog argumentativ plausibilisiert werden können. In 1 Petr 3,15 wird etwa eine ständige Bereitschaft zum Einsatz für den Glauben gefordert: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt“. Wäre der Grund christlicher Hoffnung nicht rational vermittelbar, so wäre sie nicht verantwortbar. Der propositionale Gehalt des Glaubens kann, indem er vernünftig verfasst sein soll, „kritisch geprüft und dem Nichtglaubenden so dargelegt werden, dass er seine Sinnhaftigkeit wenigstens zu erahnen oder hypothetisch zu erfassen vermag.“85 Das Maß des Verständnisses der nichtglaubenden Person ist z. T. auch von ihrer Offenheit abhängig. Dennoch sind es die auf den Glauben angewandten Vernunftkriterien, die es ermöglichen, von Missverständnissen zu befreien und einen Dialog zwischen glaubenden und nichtglaubenden Personen zu führen. Die Aufgabe, den „Sinngrund der christlichen Hoffnung und damit die Begründung und Motivation zum Glauben“86 unter Anwendung der Vernunft intersubjektiv aufzuweisen, ist also keine Forderung, die erst von außen an den christlichen Glauben herangetragen wird, sondern ein Anliegen, das dem christlichen Selbstverständnis entspringt. Schließlich sei der christliche Glaube nicht so zu verstehen, als
84 Ebd. 85 Böttigheimer 2012, S. 223; vgl. auch Kunz 22000, S. 328. 86 Böttigheimer 2012, S. 224.
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
verlange er eine vernunftlose, blinde Unterwerfung.87 Das glaubende Subjekt muss die „Möglichkeit einer kritischen und schöpferischen Gestaltung eines persönlichen Glaubens“88 haben, sonst würde der Glaube „zum knechthaften Glauben an die Kirche verengt“89 werden. Glaube muss als ein Thema des Denkens verstanden werden, dessen Wahrheitsanspruch vernünftig nachvollzogen werden soll: „Denn Wahrheit gibt es nur als verstandene Wahrheit. Deshalb ist auch die Wahrheit der Offenbarung nur dann Wahrheit für den Menschen, wenn sie verstehend angeeignet ist und weiterhin in ihrer Bedeutsamkeit für den Menschen verstehend angeeignet wird.“90
Nach Schärtl könne die Theologie „die Wahrheit ihrer fundamentalen Aussagen nicht aus sich selbst begründen“91, sondern lediglich Zusammenhänge einzelner Propositionen aufzeigen, wofür sie – wie jede andere Wissenschaft auch – den Mitteln und Kriterien der Logik bedürfe. Swinburne etwa hebt hervor, dass gerade in der gegenwärtigen Zeit eine nachvollziehbare Argumentation für die Glaubwürdigkeit des Theismus dringlich sei, weil zur Zeit die Existenz Gottes an den meisten Orten eine umstrittene Frage sei und wenige Menschen von sich behaupten können, „überwältigende Erfahrungen seiner [d.i. Gottes] Gegenwart“92 zu machen. Die Argumentation für die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes sowie für die Abwehr von Gegeneinwänden sei daher dringlicher als jemals in den letzten 1500 Jahren. Auch wenn an dieser Stelle eine Anmaßung hinsichtlich der Richtigkeit dieser historischen Aussage im Hinblick auf die letzten 1500 ausbleiben soll, ist zumindest nicht zu leugnen, dass auch gegenwärtig die Glaubwürdigkeit der theistischen These umstritten ist – nicht zuletzt deshalb, weil es alternative, ebenfalls überzeugende Erklärungsversuche hinsichtlich der Fragen gibt, die im Glauben beantwortet werden sollen.93 Auch Böttigheimer sieht zeitgenössische Glaubende mit grundlegend neuen Herausforderungen konfrontiert. Während der christliche Glaube bis zur Neuzeit größtenteils als selbstverständlich gegolten habe und die europäische Aufklärung mitnichten prinzipiell als religionsfeindlich zu begreifen gewesen sei, „so werden heute 87 88 89 90
Vgl. Böttigheimer 2012, S. 230. Neuner 22000, S. 34. Ebd. Striet, Magnus, Denkformgenese und -analyse in der Überlieferungsgeschichte des Glaubens. Theologisch-hermeneutische Überlegungen zum Begriff des differenzierten Konsenses, in: Harald Wagner (Hg.), Einheit – aber wie? Zur Tragfähigkeit der Formel vom „differenzierten Konsens (QD 184), Freiburg im Breisgau 2000, S. 59–80, hier 71. 91 Schärtl 2007, S. S. 145. 92 Swinburne 2009, S. 147. 93 Vgl. hierzu auch Hick 1957 S. 140: „Thus it appears that a consistent naturalistic theory, covering all the special phenomena of religious experience and history as well as the general facts of nature, is possible, at least in principle. Consequently the religious interpretation of life cannot be accepted merely in default of an alternative. This is all that a survey of evidence entitles one to say – that the observed facts are systematically ambiguous, constituting permissive evidence both for theism and for naturalism.“
4.2 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft
191
mitunter Glaube und Vernunft in einen Gegensatz gebracht und ihr Verständnis als Konkurrenz aufgefasst. Das hat zur Folge, dass den Aussagen des Glaubens jeder rationale Gehalt abgesprochen wird.“94 Im Zuge der veränderten Lebenspraxis und -form des 20. Jahrhunderts habe sich eine grundsätzliche Skepsis gegenüber allen religiösen Glaubensüberzeugungen ausgebreitet.95 Gerade vor diesem Hintergrund ist es wichtig, „unsere religiösen Überzeugungen zu untersuchen, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es sich nicht lohnt, das zu tun“96; denn wer befürchtet, dass eine Untersuchung seines Glaubens zu einer Negation desselben führt, der ist nicht ausreichend von ihm überzeugt – mit anderen Worten: der glaubt nicht.
4.2.3 Eine nachgestellte Problematisierung des Rationalitätsbegriffs Wenn also der Anspruch auf Vernünftigkeit des Glaubens verteidigt werden kann, besteht nach wie vor die Frage danach, wie das Verhältnis von Glaube und Vernunft zu bestimmen ist. Nach Pannenberg sei die Relation von beiden seit den Anfängen christlicher Theologie aus verschiedenen Gründen nie unproblematisch gewesen. Auf der einen Seite sei die Theologie beispielsweise selbst als Denkvollzug zu begreifen. Auf der anderen Seite aber könne die Vernunft dabei „schwerlich das letzte Wort behalten“97, ohne dass dadurch „die Überlegenheit der Wirklichkeit Gottes und seiner Offenbarung über alles menschliche Begreifen verletzt wird.“98 Auch die Frage, ob Glaube in erster Linie ein Akt des Vertrauens oder denkender Zustimmung ist, erschwere das Verhältnis von Glaube und Vernunft. Nicht zuletzt aber besteht eine große Schwierigkeit der Verhältnisbestimmung beider darin, dass die Vernunft keine einheitlich bestimmte Instanz ist.99 Um jedoch einer Antwort auf die Frage näher zu kommen, wie Glaube als vernünftig begriffen werden kann, ist eine Klärung des Begriffes der Rationalität angebracht. Zunächst kann Vernunft im psychologischen, praktischen oder theoretischen Sinne verstanden werden. Der Begriff der Rationalität kann im psychologischen Sinne auf ein bestimmtes psychisches Profil, wie z. B. einen intellektuellen oder überlegten Habitus, referieren. Er wird dann häufig auch synonym mit „Vernünftigkeit“ verwendet. Jemand wird in diesem Sinne beispielsweise als vernünftig oder rational bezeichnet, wenn er sich nicht von „Emotionen, Triebhaftigkeit, Phantasie, Sensibilität oder [seiner]
94 Böttigheimer 2012, S. 249 f. Vgl. hierzu auch Dawkins, Richard, Der Gotteswahn, Berlin 2007. 95 Vgl. Böttigheimer 2012, S. 249 f. 96 Swinburne 2009, S. 147. 97 Pannenberg, Wolfhart, Glaube und Vernunft, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 21971b, S. 237–251, hier: S. 237. 98 Ebd. 99 Vgl. Pannenberg 21971b, S. 244.
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
Intuition“100 leiten lässt. Alltagssprachlich wird diese Form der Rationalität häufig als „Kopflastigkeit“101 bezeichnet. In praktischer Hinsicht kann jemand als vernünftig bezeichnet werden, wenn er oder sie Verhaltensstrategien anwendet, die sehr effektiv im Sinne einer Aufwandsparsamkeit ist. Wer ein Ziel vor Augen hat, handelt also rational, wenn er oder sie mit dem geringsten Aufwand und höchstmöglicher Erfolgsaussicht sein oder ihr Ziel zu erreichen versucht. Dieses Verständnis von Rationalität wird auch als „Zweckrationalität“ bezeichnet.102 Schließlich kann sich Rationalität in ihrer theoretischen Gebrauchsweise auf den „Umgang mit unseren Überzeugungen“ 103 beziehen, also auf die Weise unserer Überzeugungsgewinnung, z. B. ob beziehungsweise wie wir sie rechtfertigen, beibehalten, modifizieren oder aufgeben. Rational können in einem abgeleiteten Sinne dann auch die Inhalte dieser Propositionen sein. Nach Schmidt-Leukel handele es sich auch im Falle der theoretischen Rationalität um die Bewertung eines Verhaltens, also einer Sonderform der praktischen Rationalität, wobei das bewertete Verhalten geistiger Art sei. Rational sei demnach der Umgang mit Überzeugungen, der einen am besten zu dem Ziel wahrer Überzeugungen beziehungsweise der Vermeidung von Irrtümern bringe.104 Für die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft ist die Rationalität im theoretischen Sinne gemeint, weil sie sich also – wie bei der hier vorliegenden Frage nach der Begründung eines religiösen Glaubens – auf den Umgang mit Überzeugungen bezieht. Die theoretische Vernunft ist primär für die kognitive Dimension des Glaubens maßgeblich. Sie kommt bei der Frage zur Anwendung, ob „die theologische Reflexion auf den Glauben den Anforderungen rationaler oder sogar wissenschaftlicher Kriterien“105 gerecht werden kann. Insofern ist der Glaube denselben Normen unterworfen, die im Hinblick auf den Umgang mit Überzeugungen aus anderen Bereichen angewendet werden. Allerdings ist auch der Gebrauch der Vernunft im theoretischen Sinne nicht eindeutig bestimmt. Hier kann lediglich eine grobe Einteilung zweier grundsätzlicher Modelle von theoretischer Vernunft vorgenommen werden, die der Orientierung des hier verwendeten Rationalitätsbegriffs dienen sollen. Dabei wird der Begriff der Rationalität entweder im klassischen Sinne oder unter Einbezug zeitgenössischer Modifizierungen gebraucht. Das „klassische Modell der Rationalität“106 ist erstens gekennzeichnet durch ein substantialistisches Vernunftverständnis. Nach diesem Verständnis der Philosophen 100 101 102 103 104 105 106
Schmidt-Leukel 22014, S. 71. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Schmidt-Leukel 22014, S. 72. Schmidt-Leukel 22014, S, 76. Schmidt-Leukel 22014, S. 77.
4.2 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft
193
der griechischen Antike wurde die Vernunft als wesenhafter Bestandteil der menschlichen Seele begriffen. Der Mensch wurde als das „animal rationale“ beziehungsweise als das Lebewesen, das mit Vernunft begabt ist, bezeichnet. Dem Seelenteil der Vernunft kam im Gegensatz zu Sensitivität, Emotionalität und Triebhaftigkeit eine besondere Stellung zu, weil sie über einen Bereich von Erkenntnisgegenständen verfüge, der nur ihr, aber z. B. nicht den Sinnen zugänglich sei. Unter richtiger Anwendung dieses Vermögens könne der Mensch „zu wahren und absolut sicheren Einsichten gelangen.“107 Mit diesem klassischen Vernunftmodell geht zweitens das „Ideal des unbezweifelbar sicheren Wissens“108 einher. Dieses Ideal sei nach Aristoteles dann erfüllt, wenn man nicht nur den Grund eines Sachverhaltes erkennt, sondern damit zugleich auch beansprucht, dass das, „wovon es schlechthin Wissen gibt, sich unmöglich anders verhalten kann“109. Vernünftig ist eine Zustimmung zu einem Wahrheitsanspruch insofern also nur dann, wenn die Wahrheit dieses Anspruches bewiesen ist. Damit galt „[s]ichere Beweisbarkeit [als] das entscheidende Kriterium für rationale Zustimmung“110. Drittens impliziert das klassische Vernunftmodell die Idee der „Voraussetzungslosigkeit der Vernunft“111, nach der eine wahre Erkenntnis nicht auf unbewiesenen Voraussetzungen aufbauen dürfe. Somit geht mit diesem Vernunftverständnis die Forderung einher, eine sichere Basis und Letztbegründung aller wahren Überzeugungen zu finden.112 Im Laufe der Zeit wurden diese drei Merkmale des klassischen Vernunftverständnisses innerhalb der Philosophie als höchst problematisch betrachtet. Wie bereits im Kapitel 2.2.2 zur Pyrrhonischen Skepsis gezeigt wurde, bot beispielsweise der Anspruch auf eine Letztbegründung unbezweifelbar sicheren Wissens eine Angriffsfläche dar. Dennoch haben Denker wie Descartes bis zur Neuzeit an diesem Modell festhalten wollen und versucht, die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten zu lösen. Inzwischen lassen sich jedoch zeitgenössische Umbrüche im Rationalitätsverständnis konstatieren.113 Infolge dieser Umbrüche wurde das substantialistische Verständnis innerhalb der Philosophie und Theologie erstens zugunsten eines „dispositionelle[n] Vernunftverständnis[ses]“ 114 abgelöst.115 Die Möglichkeit, sich willentlich gegen Maßstäbe der 107 Ebd. 108 Schmidt-Leukel 22014, S. 78. 109 Aristoteles, Zweite Analytik I, 2; 71b. (Aus: Aristoteles/Detel, Wolfgang (Hg.), Zweite Analytik, griechisch-deutsch, mit Übersetzung und Einleitung, Hamburg 2011. 110 Schmidt-Leukel 22014, S. 78. 111 Ebd. 112 Vgl. ebd. 113 Ebd. 114 Ebd. 115 Vgl. ebd.
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
Vernunft zu verhalten und sich von seinen „niederen“ Seelenteilen lenken zu lassen, sei nach Schmidt-Leukel ein Grund für die Verschiebung zum neuen Verständnis von Vernunft hin. Nach diesem werde Vernunft nicht mehr als eine „im Menschen vorhandene Substanz, also quasi ein spezifisch geistiges Erkenntnisorgan“116 verstanden, sondern als ein Verhalten in Bezug auf unsere Überzeugungen. Demnach verfüge der Mensch nicht mehr über die Vernunft, sondern lediglich über die Möglichkeit, sich vernünftig zu verhalten oder sich gegen sie aufzulehnen. Dies gelte auch hinsichtlich des kognitiven Bereiches, also beispielsweise des Nachvollzugs und der Begründung unserer für wahr gehaltenen Propositionen. Indem der Mensch danach nicht mehr wesenhaft vernünftig sei, sondern sich für oder gegen vernünftiges Verhalten entscheiden könne, sei er der Vernunft gegenüber frei. Es ist jedoch fraglich, wie eine Freiheit von Vernunft widerspruchsfrei zu denken sein soll, wenn der Mensch durch den Verstoß gegen die Regeln der Vernunft dieselben immer wieder bestätigt. Überzeugender mag der nächste Einwand gegen das klassische Vernunftmodell sein. Das Ideal unbezweifelbar sicheren Wissens, das aufgrund des skeptischen Trilemmas wohl als größte Schwachstelle des klassischen Vernunftverständnisses begriffen werden kann117, sei zweitens von der Auffassung abgelöst worden, dass „Wahrheitsansprüche als Hypothesen“118 zu betrachten seien. Dafür sind insbesondere zwei Einwände maßgeblich gewesen: Der erste Einwand besteht darin, dass das klassische Vernunftmodell einen zu hohen Maßstab für Rationalität anlege. Zahlreiche unserer Überzeugungen – sowohl im alltäglichen als auch im wissenschaftlichen Bereich – würden als wahr akzeptiert, ohne dass wir dazu in der Lage seien, den Beweis zu prüfen oder selbst anzuführen. Nach dem Vernunftmodell der Antike, nach dem eine Erkenntnis dann rational sei, wenn sie unbezweifelbar und sicher gewusst werden könne, wären unsere Erkenntnisse und demnach wir alle nicht rational. Dies legt nahe, dass dieses Modell nicht praktikabel oder zumindest nicht auf unser Vernunftverständnis applizierbar ist, weil es keine Maßstäbe zur Unterscheidung von rationalem und irrationalem Umgang mit unseren Überzeugungen bietet. Schmidt-Leukel veranschaulicht die Unpraktikabilität dieses Modells anhand eines Beispiels: „Ich suche für diesen Kurs die Lebensdaten eines erwähnten Denkers und bediene mich hierzu eines wissenschaftlich anerkannten Standardwerks. Ich halte die dort gemachten Angaben für wahr und übernehme sie. Gemessen am klassischen Ideal ist dieses Verhalten nicht rational. Vielmehr müßte ich, da die Sache nicht ganz gewiß ist, laut Descartes, ‚meine Zustimmung sorgsam zurückhalten‘. Mein Verhalten in diesem Beispiel wäre nach diesem Maßstab ebenso irrational, wie wenn ich diese Lebensdaten durch ein Würfelorakel erfragte.“119
116 117 118 119
Schmidt-Leukel 22014, S. 79. Vgl. Grundriß, S. 158. Schmidt-Leukel 2014, S. 79. Ebd.
4.2 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft
195
Neben diesem pragmatischen Einwand lässt sich jedoch noch ein zweiter, scherwiegender Kritikpunkt auf theoretischer Ebene anführen – nämlich der, dass dieses Ideal unerfüllbar ist.120 Wir verfügen über kein Beweisverfahren unbezweifelbar sicheren Wissens. Den Aspekt der Unmöglichkeit einer Letztbegründung, der hier im Zusammenhang mit dem skeptischen Trilemma bereits häufig erwähnt wurde, greift auch Popper auf. Er schreibt, dass es zu einem unendlichen Regress kommen würde, wenn Wissen und Wissenschaft beweisbar sein müssten: „Denn jeder Beweis besteht aus Prämissen und Konklusionen, aus Anfangssätzen und aus Schlußsätzen; und wenn die Anfangssätze nicht bewiesen sind, so sind es auch die Schlußsätze nicht.“121 Als logisch zwingender Beweis könne demnach nur ein deduktiver Aufweis begriffen werden, weil induktive Begründungen allenfalls zu Wahrscheinlichkeitsannahmen führen können. Die Schlussfolgerung eines deduktiven Beweises ist dann wahr, wenn die Prämissen wahr und die Ableitungen aus ihnen korrekt sind. Weil allerdings die Wahrheit der Prämissen nur durch einen deduktiven Beweis gesichert werden kann, der wiederum andere nicht bewiesene Prämissen voraussetzt, „kommt man nie zu der angestrebten zwingenden Letztbegründung.“122 Andere Weisen, dieses Begründungsproblem lösen zu wollen, resultieren in den Aspekten der dogmatischen Setzung beziehungsweise des Zirkelschlusses des skeptischen Trilemmas.123 Insofern es also keine letztbegründete Wahrheitserkenntnis des Menschen geben kann, besitzen wir auch keine Überzeugungen, die nicht prinzipiell einen Irrtum aufweisen können. Das Ideal von Rationalität muss sich insofern nach dem zeitgenössisch modifizierten Vernunftbegriff an dem Faktum orientieren, dass der Mensch prinzipiell irrtumsanfällig ist. Weil unsere Überzeugungen, die durchaus wahr sein können, nicht mit letzter Gewissheit beweisbar sind, handelt es sich bei unserem Wissen „sämtlich um Hypothesen.“124 Drittens wurde die Forderung des klassischen Vernunftmodells nach der Voraussetzungslosigkeit der Vernunft abgelöst durch die Charakterisierung der „Bedingtheit der Vernunft“125, weil wir unsere Überzeugungen nicht ohne Voraussetzungen bilden können. Mit der Ablösung des substantialistischen Vernunftmodells durch das dispositionelle Rationalitätsverständnis geht also ebenfalls das Fallenlassen der Forderung einher, dass für einen rationalen Umgang mit Überzeugungen das Kriterium der Voraussetzungslosigkeit erfüllt sein muss. Stattdessen wird von dem Subjekt, das in seinen Überzeugungsbildungen rational sein will, eine kritische Überprüfung seiner Voraussetzungen gefordert, weil menschliche Erkenntnis prinzipiell 120 121 122 123 124 125
Vgl. ebd. Popper, Karl, Logik der Forschung, Tübingen 91989. Schmidt-Leukel 22014, S. 80. Vgl. hierzu Kapitel 2.2.2. Schmidt-Leukel 22014, S. 81. Schmidt-Leukel 22014, S. 83.
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irrtumsanfällig ist.126 Demnach gilt: „Es ist nicht irrational, sich zu irren. Es ist irrational, sich gegen die Aufdeckung und Revision von Irrtümern zu verschließen.“127 Rationale Untersuchungen führen nicht zwangsläufig zu irrtumslosem, also wahrem Wissen. Es mag sein, dass sie zu wahren Überzeugungen führen, aber belegen ließe sich ebendiese Wahrheit auch nach Böttigheimer nicht, weil es eine „letzte Begründung des Wissens“128 nicht gebe. Sind propositionale Einstellungen rational gebildet, müssen sie nicht zwangsläufig wahr sein, weil Wahrheit und Rationalität nach diesem Vernunftverständnis nicht zusammenfallen: „Was für einen Menschen rational gebildete bzw. gerechtfertigte Überzeugungen sein können, hängt somit zum Teil von dem konkreten Kontext ab, in dem er/sie lebt und denkt. Unter den spezifischen Voraussetzungen dieses Kontextes kann es durchaus rational sein, eine Überzeugung zu vertreten, die sich unter veränderten Bedingungen als falsch herausstellt. Gerade für diese Möglichkeit sollte sich also Rationalität […] immer offen halten.“129
Daraus folgt jedoch gerade nicht die Position des Relativismus in Bezug auf Wahrheitsansprüche. Dieses Rationalitätsmodell betont lediglich das nicht zurückzuweisende Faktum, dass Menschen in verschiedenen Kontexten durch den Gebrauch ihrer vernünftigen Kapazitäten zu verschiedenen Ergebnissen kommen können. Diese Ergebnisse müssen sie jedoch nach dem eben skizzierten Modell in kritischer Auseinandersetzung mit anderen Wahrheitsansprüchen neu revidieren und intersubjektiv rechtfertigen. Eine Antwort auf die Frage, wie sich angesichts der Annahme des dispositionellen Vernunftverständnisses überhaupt noch Maßstäbe für einen rationalen Umgang mit Überzeugungen finden lassen, stellt der Kritizismus dar. Er macht den Geltungsanspruch von Wissen am Prüfstein der Falsifizierbarkeit fest.130 Popper und seine Schule des „kritischen Rationalismus“ begreifen Rationalität beispielsweise vor allem als Versuch, Irrtümer aufzudecken und ihnen zu entgehen: „Daß Irren menschlich ist, das bedeutet, daß wir immer wieder gegen den Irrtum kämpfen müssen, aber auch bei größter Sorgfalt nie ganz sicher sein können, daß wir nicht doch einen Fehler gemacht haben.“131 Denn: „Wenn wir einsehen, daß die menschliche Erkenntnis fehlbar ist, dann sehen wir auch ein, daß wir nie ganz sicher sein können, ob wir nicht einen Fehler gemacht haben.“132 Weil eine Beweisführung unserer Überzeugung aufgrund ihrer Unmöglichkeit also kein Ideal rationaler Annahmen sein kann, wird die 126 Vgl. Popper, Karl, Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, Wünschen 1984, S. 12. 127 Schmidt-Leukel 22014, S. 83. 128 Böttigheimer 2012, S. 228. 129 Schmidt-Leukel 22014, S. 83. 130 Neben dem Kritizismus bietet auch der Probabilismus eine Antwortmöglichkeit auf diese Frage, der jedoch an dieser Stelle nicht diskutiert werden kann. Einführend dazu ist zu empfehlen: Schmidt-Leukel 2014, S. 81–83. 131 Popper 1984, S. 12. 132 Ebd.
4.2 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft
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„kritische Überprüfung zur Norm von Rationalität“133 erhoben. Nicht die positive Begründung unserer Propositionen ist ausschlaggebend, sondern die ernsthafte Überprüfung derselben auf Fehler hin. Sätze sind dann vernünftig, wenn sie prinzipiell falsifizierbar sind. Überzeugungen für wahr zu halten ist so lange vernünftig, wie keine Gegengründe gegen sie vorliegen. Werden sie in der kritischen Untersuchung nicht widerlegt, könnten wir demnach zwar immer noch nicht mit Gewissheit wissen, dass sie wahr sind; dennoch hätten wir dann gute Gründe, von ihrer hypothetischen Wahrheit auszugehen, wenn sie sich trotz der Analyse bewährt haben. Überhaupt sei dann alle wissenschaftliche Erkenntnis nach diesem Verständnis immer als Vermutungswissen auf dem Weg der Wahrheitssuche zu begreifen: „Die wissenschaftliche Erkenntnis, das wissenschaftliche Wissen ist also immer hypothetisch. Es ist Vermutungswissen. Und die Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis ist die kritische Methode: die Methode der Fehlersuche und der Fehlerelimination im Dienste der Wahrheitssuche, im Dienste der Wahrheit.“134
Dieser Gedanke komme nach Schmidt-Leukel vor allem aus der Praxis der Naturwissenschaftler: „Formuliert man ein allgemeines Gesetz (z. B. „Alle festen Körper neigen bei Erwärmung zur Verflüssigung“), dann läßt sich dieses nie positiv beweisen, da man niemals wirklich alle Körper untersuchen kann (z. B. nicht alle Zukünftigen). Wir wissen somit nicht, ob ein solches Gesetz wahr ist. Wir können es vernünftigerweise jedoch so lange als Hypothese aufrechterhalten, bis wir einen einzigen Fall finden, in dem sich ein Körper bei Erwärmung verfestigt. Dann wäre die Hypothese widerlegt.“135
Dieses Prinzip, die Vernünftigkeit von Überzeugungen anhand der kritischen Überprüfung auszumachen, ist nicht nur für den Bereich der Naturwissenschaften praktikabel, sondern auch auf den Gegenstandsbereich der Theologie anwendbar. Wenn die Rationalität eines Wahrheitsanspruches also daran festgemacht wird, dass bei ihrer kritischen Überprüfung keine überzeugenden Einwände gegen sie vorgebracht werden können, impliziere dies beispielsweise nach Böttigheimer in Bezug auf den Gottesglauben, dass dieser nicht mit seiner positiven Aufweisbarkeit stehen und fallen darf. Stattdessen dürfe „dieser solange als rational gelten, wie keine gewichtigen Gründe gegen ihn sprechen.“136 Der religiöse Glaube ist nach Böttigheimer konsequenterweise dann rational gerechtfertigt, „[w]enn es keine gewichtigen Gründe gibt, der religiösen Erfahrung zu misstrauen“137. Auch Dominikus Kraschl hält die Annahme von Glaubensüberzeugungen für rational, so lange keine Gründe gegen sie ins Feld zu führen sind:
133 134 135 136 137
Schmidt-Leukel 22014, S. 81. Popper 1984, S. 13. Schmidt-Leukel 22014, S. 81. Böttigheimer 2012, S. 229. Ebd.
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„Eine Annahme ist genau dann als rational (gerechtfertigt) qualifizierbar, wenn es gute Gründe gibt, sie für wahr zu halten. Gründe sind genau dann gut, wenn sie durch Gegengründe nicht widerlegt oder entkräftet werden können.“138
Kriterien für die Überprüfung der Rationalität von Wahrheitsansprüchen bestünden nach kritizistischem Verständnis erstens in „[i]nnerer Widerspruchsfreiheit bzw. logischer Konsistenz“ 139 – also Widerspruchsfreiheit hinsichtlich der Vereinbarkeit theologischer Propositionen untereinander. Zweitens seien „[äußere] Widerspruchsfreiheit bzw. [logische] Vereinbarkeit mit anderen, gut bewährten Überzeugungen“ 140 maßgeblich – also Widerspruchsfreiheit zwischen theologischen und solchen Überzeugungen, die z. B. naturwissenschaftlichen Ursprunges sind. Wer den Anspruch erhebt, die Vernünftigkeit des Glaubens aufzuweisen, konzentriert sich nach dem hier verteidigten Begriff von Rationalität in erster Linie nicht auf eine positive Verteidigung durch Argumente für Glaubensaussagen, sondern auf die Widerlegung der Einwände gegen dieselben. Dennoch resultiere dies nicht in einem Fallenlassen von Geltungsansprüchen und Glaubwürdigkeitsüberlegungen; solche Ansprüche würden jedoch im Sinne von Minimalbedingungen für die Vernunfthaftigkeit des Glaubens festgehalten werden.141
4.2.4 Die Vernünftigkeit des Glaubens nach dem Verständnis des kritischen Rationalitätsbegriffs Nachdem also der hier verwendete Begriff von Rationalität im Sinne des kritizistischen Modells deutlich geworden sein sollte, ist die Frage zu beantworten, welche Rolle der so verstandenen Vernunft innerhalb des Glaubensbegriffs angesichts der Zurückweisung von Fideismus und Rationalismus zugesprochen werden kann. Eine Möglichkeit, das Verhältnis von Glauben und Rationalität unter Bezugnahme auf das kritizistische Vernunftverständnis zu denken, stellt der kritische Rationalismus dar. Die Position des kritischen Rationalismus resultiert aus der Annahme, dass Glaube einerseits – anders als gemäß der Behauptung der fideistischen These – rational analysier- und kritisierbar ist und sein muss. Im Gegensatz zur Überzeugung von Vertretern des starken Rationalismus wird nach dem kritischen Rationalismus jedoch nicht beansprucht, dass die rationale Evaluation in universal überzeugenden Beweisen resultieren könnte. Prominente Vertreter des kritischen Rationalismus beziehungsweise des Critical Rationalism wie Peterson et al. definieren ihn als folgende 138 Kraschl, Dominikus, Indirekte Gotteserfahrung. Ihre Natur und Bedeutung für die theologische Erkenntnislehre, Freiburg 2017, S. 17. 139 Schmidt-Leukel 22014, S. 82. 140 Ebd. 141 Vgl. Böttigheimer 2012, S. 229 f.
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Ansicht: „religious belief systems can and must be rationally criticized and evaluated, although conclusive proof of such a system is impossible.“ 142 Wie beim starken Rationalismus werden wir also von Vertretern des kritischen Rationalismus dazu aufgefordert, unsere Vernunft zu gebrauchen, um bestmögliche Argumente für unsere Glaubensüberzeugungen zu finden und ihn in Auseinandersetzung mit konkurrierenden Annahmen zu rechtfertigen. Eine Herangehensweise gemäß dem kritischen Rationalismus beinhaltet auch, dass wir uns mit Infragestellungen und Zweifeln am eigenen Glaubenssystem auseinandersetzen müssen. Einerseits wird also der Gebrauch der Vernunft zur Rechtfertigung eigener Glaubensannahmen in den Vordergrund gerückt. Gleichzeitig soll die These des kritischen Rationalismus jedoch vor Augen führen, dass wir nicht zu selbstbewusst oder zu optimistisch in Bezug auf unsere Resultate vernünftiger Untersuchungen sein sollten. Peterson et al. halten den kritischen Rationalismus somit für kritisch in zweierlei Hinsicht: „It emphasizes the role of reason in criticizing, or critically evaluating, religious beliefs, as opposed to conclusively establishing such beliefs are true. And the view is also „critical“ with regard to the view of reason itself; it takes a more modest and limited view of reason’s capabilities in contrast with the excessively optimistic estimate of reason incorporated in strong rationalism.“143
Hinsichtlich des kritischen Rationalismus kann jedoch noch eine weitere Differenzierung vorgenommen werden, nämlich zwischen kritischem Evidentialismus (critical evidentialism) und kritischem Anti-Evidentialismus (critical anti-evidentialism).144 Vertreter des kritischen Evidentialismus behaupten, dass eine vernünftige Untersuchung ihrer Glaubensüberzeugungen die Angabe positiver Gründe und Argumente beinhaltet. Sie gestehen zu, dass ihre Argumente nicht jeden überzeugen können – „not even all ‚rational people‘“145. Dennoch fordern sie eine positive Begründung von Glaubensüberzeugungen, um ihrem Selbstverständnis als vernünftige Glaubende gerecht zu werden. Sogenannte kritische Anti-Evidentialisten auf der anderen Seite halten es nicht für notwendig, eine positive Begründung für ihre Glaubensüberzeugungen zu geben. Dennoch sind sie keine Fideisten, weil sie sie ihren Glauben nicht für immun gegen rationale Untersuchungen halten: Werden nämlich Gründe gegen ihre Glaubensannahmen erhoben, so beziehen sie dazu rechtfertigend Stellung. Positive Gründe zur Stützung ihres Wahrheitsanspruches dagegen geben sie nicht. So verstanden ist kritischer Anti-Evidentialismus also mit der negativen Apologie verwandt.146 Die Schwierigkeit eines solchen kritischen Anti-Evidentialismus liegt darin, dass eine negative
142 143 144 145 146
Peterson et al. 52012, S. 69. Ebd. Vgl. Peterson et al. 52012, S. 69 f. Peterson et al. 52012, S. 69. Vgl. Peterson et al. 52012, S. 70.
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Verteidigung, die lediglich Abwehrargumente zu ihrer Rechtfertigung hervorbringt, nicht ausreicht, um positive Annahmen einer Glaubensüberzeugung zu motivieren. Die hier vorgestellte Unterform des kritischen Rationalismus, die Peterson et al. vertreten, ist dagegen dem kritischen Evidentialismus zuzuordnen. Sie stimmt jedoch in vielen hier aufgeführten Punkten auch mit den Forderungen des kritischen AntiEvidentialismus überein. Eine Untersuchung nach diesem Muster würde beinhalten, dass in einem ersten Schritt versucht wird, eine bestimmte Glaubensüberzeugung so akkurat wie möglich zu verstehen. Das beinhalte das Bestimmen der dieser Überzeugung zugrunde gelegten Begriffe und die Untersuchung ihrer Implikationen – einschließlich ihrer anderen darin mit geglaubten Überzeugungen sowie denjenigen Annahmen, die dabei zurückgewiesen werden. Handelt es sich um einen Wahrheitsanspruch, den wir selbst nicht vertreten, sollten wir ihn mit besonderer Aufmerksamkeit untersuchen. So soll verhindert werden, dass wir ein vorschnelles, möglicherweise auf mangelndem Verständnis oder gar auf Vorurteilen beruhendes Fehlurteil vertreten. Für den Fall, dass es sich bei der in Frage stehenden Annahme um unsere eigene Glaubensüberzeugung handelt, sollten wir nach Peterson et al. unsere Kritiker mit ihren Infragestellungen ernst nehmen. Nur so könnten wir uns der Problematik der Rechtfertigung unserer Überzeugungen bewusst werden und ihnen angemessen begegnen.147 Nach dem Modell des kritischen Rationalismus ist es also notwendig, sich Argumente für und gegen die Zustimmung zu Glaubensüberzeugungen vor Augen zu führen. Dabei kommen nicht zwangsläufig Befürworter und Gegner eines Wahrheitsanspruches überein: Dieselbe Argumentation kann für verschiedene Subjekte gleicher kognitiver Fähigkeiten unterschiedlich aufgenommen werden, sodass sie von einigen zurückgewiesen wird, während sie andere zur Zustimmung bewegt.148 Das kann beispielsweise damit zusammenhängen, dass wir unterschiedliche Vorbildungen genossen und uns verschiedene Denkweisen angeeignet haben, sodass wir dieselben Argumentationsmuster nicht auf die gleiche Weise schätzen. Darüber hinaus könnten bestimmte persönliche Erfahrungen eines Subjektes dazu führen, dass es eine Glaubensüberzeugung für wahrscheinlicher wahr hält als andere Subjekte, die derartige Erfahrungen nicht gemacht haben. Schließlich spielten unsere Vorannahmen und Vorurteile eine Rolle bei der Akzeptanz einer Argumentation für eine Glaubensüberzeugung.149 Dieser Befund der unterschiedlich aufgenommenen Überzeugungskraft einer rationalen Untersuchung bringt kritische Rationalisten wie Peterson et al. jedoch nicht von ihrer Position ab, dass es dennoch sinnvoll sei, eine vernünftige und intersubjektiv rechtfertigbare Begründung für Glaubensüberzeugungen und religiöse Glaubenssysteme insgesamt anzustreben: 147 Vgl. ebd. 148 Vgl. Mavrodes, George, Belief in God, New York 1970, S. 17–48. 149 Vgl. Peterson et al. 52012, S. 70 f.
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„None of this means that there is no such thing as the truth or that we should despair of ever being able to discover truth. The way forward is based on a healthy confidence that there is a way things are and that we can rely on our rational powers to help us search it out. Clearly, we humans are not infallible and cannot know everything. Conclusive proof of a religious belief is difficult to achieve; but we must recognize that conclusive proof of various ethical, political, and other important beliefs is also difficult to achieve. Nevertheless, under certain conditions, conclusive disproof may sometimes be possible.“150
Widerlegungen könnten z. B. in einem Aufweis einer logischen Kontradiktion oder eines Widerspruchs mit etablierten Wahrheitsansprüchen (z. B. der Tatsache, dass die Erde eine Kugel ist) bestehen. Die Aufdeckung solcher Inkonsistenzen ist eine Möglichkeit der rationalen Rechtfertigung und Annäherung intersubjektiv begründeter Glaubensüberzeugungen, weil auf diesem Wege zumindest gemeinsam Inkonsistenzen ausgeräumt werden können. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob der kritische Evidentialismus angesichts dieser Beschreibung nicht mit der anderen Form des kritischen Rationalismus, also dem Anti-Evidentialismus deckungsgleich ist. Immerhin geht es hier ebenfalls um die Zurückweisung von Inkonsistenzen und der daraus folgenden Aufgabe von Überzeugungen, nicht aber um die positive Begründung einer Glaubensüberzeugung. Dennoch sind Vertreter des kritischen Evidentialismus eben nicht nur um die Abwehr von Gegenargumenten zur Begründung des eigenen Wahrheitsanspruches bemüht. Sie revidieren ihre Überzeugungen ebenfalls und nehmen Kritik an, um neue Begründungen für ihre bestehenden oder gegebenenfalls revidierten Überzeugungen zu finden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass mit der Einsicht in die Schwierigkeit einer Übereinkunft hinsichtlich eines Wahrheitsanspruchs unter vernunftbegabten Menschen nicht die Annahme eines Relativismus einhergeht: „It is conceivable that, given unlimited time, patience, and good will, all of us could eventually overcome the differences caused by our diverse starting points and arrive at a consensus about the truth of things. But in practice such a goal is apt to prove elusive.“151 Vor diesem Hintergrund stünden wir alle nach dem Verständnis kritischer Evidentialisten vor derselben Aufgabe: „Each of us must seek the truth on the basis of the other things we know or reasonably believe to be true, using methods of reasoning that, upon careful reflection, commend themselves to us as likely to lead to the truth.“152 Damit ist auch der Standpunkt des Konstruktivismus zurückgewiesen, demgemäß wir die Wahrheit für uns schaffen würden. Wir müssen vielmehr die Wahrheit unserer Glaubensansprüche suchen. Das hier beschriebene Vorgehen des kritischen Rationalismus beziehungsweise Evidentialismus sei nicht nur auf einzelne Glaubensüberzeugungen, sondern auch auf umfassende Weltverständnisse, religiöse Weltbilder und die Bereiche der Meta150 Peterson et al. 52012, S. 71. 151 Ebd. 152 Ebd.
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physik, Epistemologie oder Ethik applizierbar. Auch in diesen Anwendungsbereichen würde dann nach der internen logischen Konsistenz oder nach der Vereinbarkeit mit anderen etablierten Überzeugungen gefragt werden. Die wichtigste Frage sei die nach der Erklärungskraft eines Glaubenssystems für unser eigenes Welt- und Selbstverständnis – wie z. B. dem des theistischen Weltbildes oder des Naturalismus.153 Peterson et al. gestehen zu, dass die Aufgabe des kritischen Rationalismus keine einfache, aber dennoch eine lohnenswerte sei. Das Ergebnis solcher Anstrengungen könne vielerlei Gestalten annehmen, z. B. eine stärkere Überzeugung des bereits antizipierten Glaubens, aber auch kleinere oder größere Modifizierungen desselben. Derartige Untersuchungen können natürlich auch in einer Zurückweisung alter sowie in einer Annahme neuer Glaubensüberzeugungen bestehen. „Whatever the specific result may be, it is to be hoped that the process will leave one with a deeper understanding of the religious worldviews that are investigated as well as a better appreciation of what is at stake in either accepting or rejecting any worldview that is considered.“154 Gegen das Modell des kritischen Rationalismus könnte mit Mitchell eingewendet werden, dass religiöser Glaube nicht den Charakter einer vorläufigen, hypothetischen Annahme aufweise, weil er nicht primär ein theoretischer Akt ist: „The typical religious believer does not arrive at his faith by a process of intellectual reflection and is not concerned with testing his beliefs as a scientist or a philosopher is. His faith is not tentative, but unconditional.“155 An einer anderen Stelle betont er das enge Ineinander von Glauben und Lebens- sowie Weltverständnis, was unmöglich im Falle eines bloß hypothetischen Glaubens denkbar sei: „And it is clear that, in this sense, the religious believer does not normally treat his faith as a hypothesis. It enters too deeply into his whole understanding of life and the world and his attitude to them.“156 Das Verständnis des Glaubens nach dem kritischen Rationalismus, gemäß dem der Glaubende seine geglaubten Propositionen immer wieder einer rationalen Prüfung unterziehen müsse, wird diesem Glaubensverständnis, wie Mitchell es hier beschreibt, nicht gerecht. Dennoch gesteht auch er selbst zu, dass religiös Glaubende ebenfalls der Forderung nachzukommen hätten, in Bezug auf ihre Wahrheitsansprüche offen für Kritik zu sein.157 Mitchell strebt an, die Vereinbarkeit der Forderung nach Zustimmung mit ganzem Herzen zum christlichen Glauben („whole-hearted assent to his [des Glaubenden] beliefs“158) einerseits sowie mit gleichzeitigem Bewusstsein des hypothetischen Charakters desselben andererseits aufzuzeigen. Eine detaillierte Analyse der Möglichkeit einer vollkommenen Zustimmung zu einem Glaubenssystem trotz des Gewahr153 154 155 156 157 158
Vgl. Peterson et al. 52012, S. 71 f. Peterson et al. 52012, S. 72. Mitchell, Basil, The Justification of Religious Belief, London 1973, S. 99. Mitchell 1973, S. 104. Vgl. Mitchell 1973, S. 105. Mitchell 1973, S. 117.
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203
seins seines hypothetischen Charakters würde an dieser Stelle zu weit führen.159 Jedoch ist es für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit hilfreich, kurz seine Überlegungen anzureißen. Zunächst verweist er darauf, dass dieses Problem nicht ausschließlich im Kontext religiösen Glaubens aufkomme. Insbesondere diskutiert er die Analogien, die zwischen religiösem und politischem Glauben bestünden. Beiden ist gemeinsam, dass sie in eine bestimmte Form des Lebens involviert wären. Ein einleuchtendes Beispiel des Ineinanders der Akzeptanz eines politischen Systems, das trotz seiner kritischen Hinterfragbarkeit auf theoretischer Ebene dennoch nicht bloß hypothetisch bejaht und gelebt wird, stellt in seinen Ausführungen die liberale Demokratie dar: „If we take, for example, liberal democracy, we find that, at the level of theory, it is enormously complex, and in practice it can work successfully only if the institutions in which it is embodied are supported by the appropriate attitudes and skills of a very wide range of types of people. The apparatus of representative government and of the courts of law in a liberal society depends for its continued effectiveness on the continuing trust of the great majority. It is reasonable to suppose that underlying all this are certain conceptions of the value of freedom, equality and justice, which in their turn are associated with certain beliefs about the nature and potentialities of men. These are rarely made articulate and the task of making them articulate is of extraordinary difficulty. Nor is full agreement reached about these matters among political theorists, even among those who would unhesitatingly call themselves liberal democrats. Yet it would be misleading to say of the ordinary Englishman, however well-educated, that he accepts liberal democracy as a hypothesis. The assumptions underlying it enter too deeply into his activities and attitudes for this way of speaking to be appropriate. The institutions under which he lives and has been brought up, and the ideas associated with them, have made the Englishman a certain sort of man. His basic political convictions are more like prejudice than hypothesis […].“160
Auch im Falle der liberalen Demokratie liege also ein Überzeugungssystem vor, das einerseits einer rationalen Rechtfertigung sowie einer kritischen Hinterfragung bedürfe. Andererseits werde diese Staatsform dennoch nicht nur hypothetisch angenommen; die an ihr partizipierenden Individuen sind in ihrem Lebenswandel so stark von ihr beeinflusst, dass sie grundlegend für ihren Lebensvollzug ist. Daraus folge nicht, dass liberale Demokratie keiner theoretischen Rechtfertigung bedürfe. Auch, wenn ihre rationale Analyse in Bezug auf einige Aspekte kontrovers sei, sei sie getragen von einer intellektuellen Struktur. Mit dieser Analogie macht Mitchell also deutlich, dass jedes komplexe Glaubenssystem, das das Leben von Menschen strukturiert, zugleich einer rationalen Rechtfertigung bedürfe und dennoch nicht bloß hypothetisch angenommen werde.161 Nach Mitchell sei es naheliegend, dass wir Glaubenssystemen mit Überzeugung zustimmen, obwohl sie nicht letztbegründet werden können, wenn sie sich in unserem Alltag bewähren. Gegenbeispiele würden – ob es um naturwissenschaftliche oder 159 Vgl. Mitchell 1973, S. 99–134. 160 Mitchell 1973, S. 117 f. 161 Vgl. Mitchell 1973, S. 122.
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andere Denksysteme ginge – dazu führen, dass das System von Überzeugungen beispielsweise modelliert werde. „It is only when such devices have repeatedly failed and there is available an alternative system which gives promise of more satisfactory results, that the scientist is prepared to abandon his original position.“162 Insofern ist trotz des hypothetischen und vorläufigen Charakters des (wissenschaftlichen) Glaubenssystems dennoch ein Prinzip der Beharrlichkeit („principle of tenacity“163) notwendig. Würden Wissenschaftler egal welchen Bereiches das Grundgerüst ihres zugrundeliegenden Überzeugungssystems nur hypothetisch annehmen und ständig hinterfragen, könnten sie keine Fortschritte hinsichtlich spezifischer Einzelfragen machen. Zudem handele es sich bei komplexen theoretischen Systemen nicht um die Errungenschaft eines einzigen Individuums, auch wenn ein solches dabei eine dominante Rolle spielen könne. Insbesondere politische, religiöse und moralische Systeme seien Produkte einer Gemeinschaft, die für ihre Vermittlung und ihren Fortbestand verantwortlich sei. Trotz des Aufkommens von Originalität kann ein neues theoretisches System nicht unter der Zurückweisung eines gesamten zuvor bestehenden Systems entstehen. Es wird notwendigerweise immer eine gewisse Kontinuität mit der Vergangenheit gewahrt. Selbst um ein bestehendes System kritisieren und verwerfen zu können, müssen grundlegende Aspekte als gemeinsame Basis der Auseinandersetzung und Kritik akzeptiert werden. Wie Mitchell schreibt, könne es beispielsweise keine rein kritische Bildung geben, ohne das, was kritisiert wird, zu vermitteln. Das sei ebenso und vor allem zutreffend im Falle der Naturwissenschaften: Niemand könne einen originellen Beitrag leisten, ohne zunächst die grundlegenden Voraussetzungen dafür studiert zu haben. „There has to be a continual tension between tradition and criticism, in which it belongs to a healthy tradition to encourage and respond to criticism, and criticism, to be effective, must recognise and respect tradition.“164 Mitchell führt ganz auf der Linie des kritischen Rationalismus an, dass Wissenschaftler ihre Überzeugungssysteme so lange gerechtfertigt für wahr halten dürften, so lange keine Alternative eine bessere Erklärungsmöglichkeit liefern könne. Dabei würden sie ihre Wahrheitsansprüche nicht blind oder unkritisch vertreten, aber dennoch nicht rein hypothetisch, weil sie sonst keine Fortschritte hinsichtlich spezieller Fragen machen könnten, wenn sie ständig bei der grundlegenden Frage, ob ihr Überzeugungssystem richtig sei, stehenblieben. Insofern hält er fest: „It follows from this that, whatever logicians may say, there is a clear sense in which the scientist’s acceptance of the main body of his science cannot be ‚tentative and provisional‘. It is a condition of the possibility of progress that it should not be. His attitude is certainly not one of ‚blind faith‘ but neither is it one of assured knowledge, if this is taken to imply that there is no chance that any of what is now accepted will later turn out to have been mistaken.“165 162 163 164 165
Ebd. Ebd. Mitchell 1973, S. 123. Mitchell 1973, S. 124.
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Dies trifft jedoch nicht nur auf beispielsweise Naturwissenschaftler und ihre Glaubenssysteme zu, sondern auch auf Religionen und ihre Glaubensüberzeugungen. Keines dieser Systeme kann letztbegründet werden oder universelle Akzeptanz gewinnen. Das Zusammenspiel von Akzeptanz und gleichzeitigem Bewusstsein des hypothetischen Charakters des Glaubenssystems stellt unter der Betrachtung der Analogien Mitchells keinen Widerspruch dar. Sie machen nachvollziehbar, warum auch religiösem Glauben auf theoretischer Ebene der kritisch zu hinterfragende, hypothetische Bestandteil nicht abgesprochen werden muss, obwohl Glaube in einer Zustimmung besteht. Insofern religiöser Glaube aber niemals nur praktischer, emotionaler Vollzug ist, sondern immer auch einen Prozess des Nachvollziehens und Verstehens einschließt und vor allem theologisch gerechtfertigt werden muss, liegt die Anwendung des kritischen Rationalitätsbegriffs auf den Glauben äußerst nahe. Dem kritischen Rationalismus werden allerdings weitere Einwände entgegengebracht. Unter anderem wird kritisiert, dass unter der Annahme seines Rationalitätsverständnisses keine positive Aussage über die eigenen Glaubensüberzeugungen getroffen werden könne, weil die rationale Verteidigung sich in einer Abwehr der Infragestellungen erschöpfe. Dem ist jedoch – wie bereits kurz angerissen – unter Rekurs auf Peterson et al. entgegenzuhalten, dass es zwei Formen des kritischen Rationalismus gibt. Die eben genannte Kritik trifft lediglich auf den Anti-Evidentialismus beziehungsweise die negative Apologie zu. Der kritische Evidentialismus dagegen verteidige seine Glaubensüberzeugungen durch positive Begründungen gegenüber Angriffen. Insofern ist mit dem Modell des kritischen Rationalismus nicht die Möglichkeit einer positiven Begründung des eigenen Wahrheitsanspruches ausgeschlossen. Ein weiteres Problem stellt sich angesichts der Aufgabe, sich mit Annahmen auseinandersetzen zu müssen, die dem eigenen Glauben widersprechen. Wie soll angesichts der Vielzahl aller Glaubensüberzeugungen und Diskurse über Wahrheitsansprüche entschieden werden, welchen Diskussionskontexten wir uns entziehen und auf welche wir uns einlassen? Generell könnte die Regel gelten, dass bestimmte Glaubensannahmen als allgemein anerkannt gelten und akzeptiert werden; diesen sollten unsere religiösen Glaubensüberzeugungen nicht widersprechen. Jedoch besteht das Problem, dass diesen Überzeugungen nach dem kritischen Rationalitätsverständnis selbst wiederum nur der Status der Hypothese zukommt – wenn auch einer sehr gut rational begründeten. Konsequenterweise müssten auch diese Annahmen unter dem kritischen Vorbehalt (also unter dem Vorbehalt, dass wir auch hinsichtlich dieser Annahme fehlbar seien) stehen und dürften nicht einer Infragestellung entzogen werden. Immerhin kann der kritische Rationalismus kein Kriterium dafür angeben, welche Hypothesen nicht mehr Gegenstand kritischer Überprüfung sein sollten. Überzeugungen in Frage zu stellen, die sich über lange Zeit bewährt haben und als sicher gelten, wie z. B. die Tatsache, dass die Erde eine Kugel ist, erschiene schlicht und ergreifend als irrsinnig. Wir schenken solchen Wahrheitsansprüchen
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den Vorrang, auch wenn der kritische Rationalismus diesen Vorrang nicht widerspruchsfrei erklären kann. Trotz dieser Problematik stellt der kritische Rationalismus das angemessenste Modell dar, weil mit ihm beansprucht wird, dass Glaubensüberzeugungen trotz der Unmöglichkeit ihrer Letztbegründung rational nachvollziehbar sind und immer wieder neu geprüft werden müssen. Die vielleicht größte Stärke dieses Ansatzes besteht darin, dass mit ihm einerseits der Fideismus zurückgewiesen wird, wobei gleichzeitig nicht die Forderung des starken Rationalismus nach einem vernünftigem Nachvollzug aufgegeben wird. Darüber hinaus wird mit dem Modell des kritischen Rationalismus ernst genommen, dass die Fülle der christlich geglaubten Offenbarung nach christlichem Selbstverständnis nicht von einem einzelnen Menschen erkannt werden kann, weil sie alle Erkenntnis übersteige (Eph 3,19). „Zum Wesen Gottes gehört seine Unermesslichkeit, Unbegreiflichkeit und Unaussprechlichkeit.“166 Insofern sei die kirchliche Lehre „stets defizient und daher prinzipiell unabgeschlossen.“167 Dementsprechend wird auch im katholischen Erwachsenen-Katechismus festgehalten, dass „[k]ein einzelner Satz, auch kein Dogma […] die Fülle des Evangeliums ausschöpfen [könne]. Jeder sagt die eine unendliche Wahrheit, das Geheimnis Gottes und seines Heils in Jesus Christus, in endlicher und damit unvollkommener, verbesserungs-, erweiterungs- und vertiefungsfähiger Weise aus.“168
In gleicher Weise kann auch von einzelnen Gläubigen keine vollkommene Glaubenserkenntnis beziehungsweise kein vollkommener Glaubensakt erwartet werden.169 Indem nach dem kritischen Rationalismus dem glaubenden Subjekt eine rationale Rechtfertigung trotz ihrer prinzipiellen Unabgeschlossenheit abverlangt wird, werden Glaube und seine Rechtfertigung als ein iterativer Prozess begriffen. Aufgrund der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis steht jede Glaubenszustimmung nämlich immer unter Vorbehalt. Sie weist somit prinzipiell den Charakter einer Hypothese auf.
166 Böttigheimer 2012, S. 177, vgl. auch DH, 800. 167 Böttigheimer 2012, S. 178. 168 Katholischer Erwachsenen-Katechismus. Das Glaubensbekenntnis der Kirche, herausgegeben von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 31985, Nr. 57. 169 Trotz des Zugeständnisses, dass die kirchliche Lehre prinzipiell unabgeschlossen ist und einzelne Gläubige von der gesamten kirchlichen Lehre nicht umfassend Kenntnis haben oder ihr gar im Ganzen zustimmen können, gibt es verbindliche Heils- und Grundwahrheiten des christlichen Glaubens („articuli fidei fundamentales“), wie z. B. die Auferstehung Jesu Christi. Vgl. Röm 10,8–10: „Wenn du mit deinem Mund bekennst: ‚Jesus ist der Herr‘ und in deinem Herzen glaubst: ‚Gott hat ihn von den Toten auferweckt‘, so wirst du gerettet werden. Wer mit dem Herzen glaubt und mit dem Mund bekennt, wird Gerechtigkeit und Heil erlangen.“ Zur übersichtlichen Auseinandersetzung mit der Gewichtung von Glaubensaussagen z. B. in und seit der Scholastik vgl. Böttigheimer 2012, S. 178–184.
4.2 Zum Verhältnis von Glaube und Vernunft
207
Ein weiterer Vorzug des Modells des kritischen Rationalismus besteht darin, dass mit ihm auf das Selbstverständnis von Glaubenden eingegangen wird, für die eine Entschlossenheit (nicht im Sinne eines willkürlichen Willens wie nach der Idee des direkten doxastischen Rationalismus) zum Vollzug des Glaubens dazu gehört, weil sie Glauben nicht ausschließlich als etwas begreifen, das rational vollständig gesichert werden kann. Mit dieser Entschlossenheit ist es trotzdem nicht undenkbar, dass Glaubensüberzeugungen rational begründet werden. Sie ist notwendig, weil eine Letztbegründung nicht einzuholen ist. Auf der Basis guter Gründe, die jedoch keinen Charakter von Beweisen haben, kann eine Entschlossenheit zum Glauben begründet werden. Insofern kommt das Modell des kritischen Rationalismus angesichts von Zweifeln einerseits dem Entschlossenheitsgedanken nach, andererseits auch der Forderung nach rationaler Rechtfertigung, die jedoch nicht in einer Letztbegründung resultieren kann. Mit dem Aspekt der Entschlossenheit ist also implizit ein Wagnismoment im Glauben mitgegeben. So argumentiert beispielsweise auch Böttigheimer, dass der Glaube „von einem philosophischen Standpunkt aus […] immer ein Wagnis und nie vor Irrtum gefeit“170 sei, weil sich die Evidenz der Offenbarung nicht beweisen lässt. Denn „[l]etztlich vertraut und baut der Glaubende auf einen Gott, dessen Existenz ebenso wie seine Nicht-Existenz nicht sicher zu beweisen ist.“171 Diese Unmöglichkeit einer Beweisführung der Gotteserkenntnis liege nach Schärtl einerseits daran, dass sich der nicht abzustreifende Modus der Kontingenz menschlicher epistemischer Subjekte den Erkenntnisinhalten aufpräge: „Als kontingentes Subjekt vermag das menschliche Subjekt das Unbedingte eben nur in bedingter Form anzusagen, auszusagen oder zur Darstellung zu bringen.“172 Andererseits sei die Erkennbarkeit Gottes auch unmöglich zu beweisen aufgrund ontologischer Gründe, „denen gemäß eine direkte (sinnenhafte und unmittelbare) Gotteserkenntnis nicht möglich ist: Gott ist per definitionem kein Gegenstand der Welt.“173 Insofern der Glaube an Gott eben nicht vollkommen rational zu beweisen ist, stelle er – indem der Glaube an Gott die gesamte Existenz des Menschen einbeziehe – das größtmögliche Wagnis dar.174 Peterson et al. führen selbst an, dass Glaube in diesem Sinne angesichts dieses Wagnischarakters Entschlossenheit impliziere: „Kierkegaard, then, was right about at least one thing: religious faith often, perhaps always, involves a commitment, a ‚stepping out‘ and entrusting ourselves to something that goes beyond what we have conclusive proof of.“175 Dabei handele es sich jedoch nicht um eine Art kalkulierte Entschlossenheit, etwa im Sinne von Pascals Wette. Vielmehr sei diese Entschlossen170 171 172 173 174 175
Böttigheimer 2012, S. 248. Ebd. Schärtl 2007, S. 202. Schärtl 2007, S. 170. Vgl. Böttigheimer 2012, S. 249. Peterson et al. 52012, S. 74.
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heit von Glaubenden zu begreifen als „total commitment, even when one does not have total proof that one’s belief in God is correct!“176 Kritischer Rationalismus spricht sich also nicht gegen diesen Wagnischarakter des Glaubens aus. Er betont dagegen unter der Berücksichtigung dieses Wagnischarakters die nicht zu hintergehende Bedeutung des rationalen Nachvollzugs, der zur Begründung der Entschlossenheit zu einem Glauben notwendig sei.177 Das Zusammenspiel von Begründung ohne letzte Sicherung bei gleichzeitig entschlossenem Vertrauen sei jedoch kein Charakteristikum, das ausschließlich auf religiösen Glauben zuträfe: „If you have a friend whom you have learned to trust, you will not find yourself continually looking for ‚absolute proof‘ that your friend is trustworthy, nor will you be easily disturbed, and your faith in your friend shaken, as soon as someone raises a question about your friend’s reliability.“178
Peterson et al. gestehen selbst zu, dass die Aufgabe der rationalen Rechtfertigung des religiösen Glaubens im Sinne der kritischen Rationalisten sehr frustrierend sein kann: Auf der einen Seite können sie im Vergleich zu Fideisten nicht ungeachtet einer vernünftigen Rechtfertigung einen Sprung in den Glauben machen. Auf der anderen Seite haben sie im Vergleich zu dem Selbstverständnis starker Rationalisten niemals die Gewissheit, beweisen zu können, dass ihre Auffassung wahr sei. „So unlike the adherents of either of the other two views, the critical rationalist is never in the position of being able to decide, finally and for good, that the discussion concerning the truth and validity of her religious beliefs has reached its ultimate conclusion.“179 Dennoch ist die Situation kritischer Rationalisten nicht entmutigend, sondern produktiv und gewinnbringend für religiöse Menschen, weil sie durch diesen kritischen Weg, der durch Zweifel gebahnt wird, reiften: „They continue to embrace their religious beliefs while always looking for deeper understanding of them and always being willing to engage in dialogue with alternative views.“180
176 Ebd. 177 Vgl. Peterson et al. 52012, S. 74: „Rather, it tells us that we should not pretend to greater rational certainty than is in fact available (and what is available typically is less than would be needed for absolute rational certainty), but neither should we fail to exercise our powers of reflection and rational thought while we are making the most important decision of our lives.“ 178 Ebd. 179 Peterson et al. 52012, S. 73. 180 Peterson et al. 52012, S. 74.
4.3 Folgen des kritischen Rationalitätsbegriffs
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4.3 Folgen des kritischen Rationalitätsbegriffs für das Verhältnis von Glauben und Zweifeln 4.3.1 Glaubensgewissheit Die Vernünftigkeit des Glaubens besteht somit nach dem Verständnis des kritischen Rationalismus in einer fortwährenden Prüfung eigener Glaubensüberzeugungen in Auseinandersetzung mit Infragestellungen durch ihnen widersprechenden Annahmen. Wenn dabei jedoch eingeräumt wird, dass nicht alle Differenzen verschiedener miteinander konfrontierter Überzeugungssysteme nivelliert werden können und die Situation des Zweifelns unausweichlich ist, wie kann dann die Gewissheit des Glaubenden verstanden werden? Kann ein Verständnis des Glaubens im Sinne des kritischen Rationalismus überhaupt dem Selbstverständnis von religiösen, z. B. christlichen, Glaubenden gerecht werden, für die ihr Glaube nicht bloß etwas hypothetisch Gedachtes ist, sondern einen Wahrheitsanspruch darstellt, dem sie mit Gewissheit zustimmen? Zunächst ist zur Beantwortung dieser Frage in zwei verschiedene Begriffe der Gewissheit einzuführen. Unter objektiver Gewissheit auf der einen Seite versteht Schmidt-Leukel „ein sicheres, jede Irrtumsmöglichkeit ausschließendes Wissen“181, das auf objektiven Gründen beruhen soll, wohingegen er als subjektive Gewissheit „psychische Zustände [bezeichnet], die mit der subjektiven Festigkeit einer Überzeugung verbunden sind.“182 Letztere seien begründet mit der Erfahrung von Evidenz oder Klarheit beziehungsweise ebenfalls bloß mit der Abwesenheit von Zweifeln. Wie bereits im Zusammenhang des klassischen Vernunftmodells mit seinem problematischen Ideal unbezweifelbar sicheren Wissens argumentiert wurde, ist der Zustand objektiver Gewissheit erkenntnistheoretisch nicht einzuholen, weil wir im Rechtfertigungsprozess dem skeptischen Trilemma nicht entgehen können. Nach Schmidt-Leukel impliziere das Erreichen von Gewissheit und dem Vertrauen in die Zuverlässigkeit unserer Erkenntnismittel immer ein willentliches Moment183 der Zustimmung, das aus pragmatischen Gründen gerechtfertigt sei. Es lässt sich keinerlei Hinweis darauf finden, dass Schmidt-Leukel damit die Antwort des direkten doxastischen Voluntarismus auf eine Situation der Ungewissheit gelten lässt. Vielmehr scheint er damit eine Zustimmung angesichts einer Situation letzten Rests an Zweifeln beziehungsweise angesichts objektiver Ungewissheit im Sinn zu haben, nicht aber eine solche, in der das Subjekt sich mit gleichwertigen Wahrheitsansprüchen konfrontiert sieht und es zu keiner der vorliegenden Antwort-
181 Schmidt-Leukel 22014, S. 161. 182 Ebd. 183 Vgl. die „Gewißheit der Zustimmung“ in: Schmidt-Leukel 22014, S. 161, ff.
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möglichkeiten tendiert. Letzteres dagegen wird mit der These des doxastischen Voluntarismus vorausgesetzt. Schmidt-Leukel gründet seine pragmatische Rechtfertigung der Zustimmung zu einer prinzipiell objektiv nicht einholbaren Proposition auf zwei Prinzipien: erstens auf demjenigen der Praktikabilität, gemäß dem eine radikale universale Skepsis im Alltag nicht durchzuhalten sei. Der andauernde Zustand der Ungewissheit erscheint vor diesem Prinzip nicht als mögliche Option. Zweitens führt er die Rechtfertigung der Zustimmung auf das Prinzip der Verlässlichkeit zurück, das besagt, dass wir unseren Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen trauen dürften, „solange nicht schwerwiegende Einwände dagegen sprechen.“184 Selbst Einwände stützten sich selbst wiederum auf Wahrnehmung und Schlussfolgerung, womit sie das Prinzip der Verlässlichkeit nur bestätigen würden. Ohne prinzipiell meiner Wahrnehmung und Fähigkeit zu Schlussfolgerungen zu vertrauen, könnte ich nicht den Irrtum aufdecken, dass ich mit der Bahn in die falsche Richtung gefahren sei. Das Prinzip der Verlässlichkeit dient somit nicht nur der Bestätigung unserer Annahmen, sondern ebenfalls ihrer Infragestellungen. Wie in Kapitel 2.3.2.1 diskutiert, stellt Gewissheit selbst für Zweifel eine Grundlage dar. „Daher ist nur das Prinzip der Verläßlichkeit, nicht aber ein ‚Prinzip des grundsätzlichen Zweifels‘ für eine Unterscheidung von Rationalität und Irrationalität geeignet.“185 Die Vorrangigkeit des Prinzips der Verlässlichkeit scheint zunächst dem hier dargestellten Anspruch des kritischen Rationalismus zu widersprechen, demgemäß Glaubensüberzeugungen nur dann als rational gelten, wenn sie sich einer kritischen Überprüfung unterziehen lassen. Dieser Widerspruch besteht jedoch nur scheinbar, weil auch dem kritischen Rationalismus das Prinzip der Verlässlichkeit zugrunde liegt. Andernfalls würden Vertreter des kritischen Rationalismus sich nicht auf die Infragestellungen Anderer einlassen, die es prinzipiell auszuräumen gilt, oder aber die zu einer Revision eigener Wahrheitsansprüche führen soll. Damit weist das Prinzip der Konfrontation mit Infragestellungen und Zweifeln also lediglich einen prozessualen Charakter auf, der überwunden wird zugunsten einer Annahme, die wiederum aufgrund des Prinzips der Verlässlichkeit selbst getroffen wird. Schmidt-Leukel selbst hält trotz seiner Verteidigung der pragmatischen Rechtfertigung von Glaubensüberzeugungen fest, dass der „Anspruch auf objektive Gewißheit im Sinne eines jede Irrtumsmöglichkeit ausschließenden Wissens […] nicht eingelöst werden“186 könne. Die Unterscheidung zwischen vernünftigen und unvernünftigen Überzeugungen ließe sich daher nicht durch den Rekurs auf objektive Gewissheit ausmachen, sondern könne nur auf das „Vertrauen in eine grundsätzliche Zuverlässigkeit von Wahrnehmung und Schlußfolgerung“187 zurückzuführen sein. 184 185 186 187
Schmidt-Leukel 22014, S. 164. Ebd. Ebd. Ebd.
4.3 Folgen des kritischen Rationalitätsbegriffs
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Unsere Gewissheit, die also als subjektive Gewissheit betrachtet werden muss, beinhaltet so verstanden ein Moment des Vertrauens sowie des willentlichen Entschlusses beziehungsweise der willentlichen Zustimmung. Dieser Aspekt des willentlichen Entschlusses ist jedoch nicht im Sinne des direkten doxastischen Voluntarismus zu verstehen, nach dem der Glaube einer willentlichen Setzung, die fast beliebig erscheint, gleicht. Er ist dagegen entsprechend dem kritischen Rationalitätsverständnis als vorläufige Akzeptanz einer Glaubensüberzeugung zu begreifen, die hypothetisch angenommen und auf ihre Praktikabilität und Erklärungskraft hin – und damit auch gemäß dem Prinzip der Verlässlichkeit – überprüft wird. So verstanden ist Glaube nie objektiv, sondern immer subjektiv gewiss. Er birgt einen letzten Rest der Ungewissheit aufgrund seines hypothetischen Charakters in sich, der intersubjektiv verantwortet werden muss. Wenn objektive Gewissheit also aufgrund der unausweichlichen Situation des Zweifelns unmöglich ist, subjektive Gewissheit aber immer ein Moment des willentlichen Vertrauens angesichts objektiver Ungewissheiten einschließt, dann müssen Glaubensüberzeugungen – wie etwa diejenigen, aber nicht nur diejenigen des Theismus – folglich „als rational berechtigte Hypothesen, als [mögliche] Wahrheit vertreten und [geglaubt]“188 werden. Das bedeutet, dass der Anspruch auf eine untrügliche, objektive Glaubensgewissheit aufgegeben werden muss. In der Folge müssen „sowohl den Aussagen der Dogmatik als auch den Behauptungen der durch sie dargestellten christlichen Lehren wissenschaftstheoretisch de[r] Status der Hypothese“189 zugeschrieben werden. Mit dem Anspruch des kritischen Rationalismus gelingt es, dem Akt des Glaubens einerseits einen hypothetischen Charakter zuzuschreiben und dennoch der Gefahr des Relativismus zu entgehen, weil mit ersterem immer die Verpflichtung zur Begründung des geglaubten Wahrheitsanspruches in Auseinandersetzung mit alternativen Positionen gegeben ist.
4.3.2 Die Pflicht zu zweifeln Im Hinblick auf individuelle zeitliche und kognitive Kapazitäten ist es nicht jedem Gläubigen in gleicher Weise möglich, seinen religiösen Glauben ständig zu hinterfragen. Wie Peterson et al. selbst anmerken, soll und kann die rationale Untersuchung nach dem Verständnis kritischer Rationalisten auch nicht per se die Glaubenszustimmung und das Glaubensvertrauen (im Sinne von faith) ersetzen oder sie bezwecken. So seien philosophisches und religiöses Interesse in Gott voneinander zu trennen und stellen verschiedene Formen menschlicher Aktivität dar. Sie schreiben:
188 Schmidt-Leukel 22014, S. 167. 189 Ebd.; zitiert nach Pannenberg, Wolfhart, Beiträge zur Systematischen Theologie, Band I, Göttingen 1999, S. 66.
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
„Philosophical understanding is not a necessary condition for faith because some persons may not have the intellectual ability or educational background to engage in a sophisticated study of religion – and thus they cannot produce any persuasive argument for, say, the existence of God. Yet they may clearly possess religious faith. Other persons may be skilled in philosophical matters and able to advance impressive arguments in favour of God’s existence, but they may not have religious faith at all. They might be intellectually convinced, for example, that theism or Christianity specifically is true – and yet they may not commit themselves to or have an intentional relationship with the God described by those perspectives.“190
Zwar ist ihnen zuzustimmen, dass eine philosophische Rechtfertigung des religiösen Glaubens nicht mit religiösem Glauben gleichzusetzen ist und also eine grundlegende Untersuchung der Glaubensannahmen keine hinreichende Bedingung von religiösem Glauben im Sinne von faith darstellt. Dennoch ist dagegen zu halten, dass Glaube auch wiederum nicht in der fiduziellen Dimension vollständig aufgeht, sondern immer auch die kognitive Ebene beinhaltet, wie Peterson et al. es an späterer Stelle auch selbst betonen.191 Religiöser Glaube komme ohne rationale Untersuchungen nicht aus. Zu glauben beinhaltet das Fürwahrhalten von Propositionen, stellt also eine epistemische Einstellung dar. Über diese propositional strukturierten Glaubensinhalte wurde immer wieder von Religionsgemeinschaften diskutiert und durch rationale Rechtfertigungen verhandelt, wie beispielsweise ein Blick in die christliche Dogmengeschichte verrät.192 Auch der oder die einzelne Gläubige muss seinen beziehungsweise ihren Glauben einer kritischen Prüfung unterziehen, wobei beispielsweise Kern und Niemann anführen, dass entsprechend individueller kognitiver und zeitlicher Kapazität verschiedene Grade legitim wären. Solch eine Untersuchung wachse und entfalte sich mit dem gesamten Dasein und den existentiellen Erfahrungen des Subjekts: „Die Glaubensentscheidung jedes Christen muß in dem Maße, als er mündig wird und ist, durch kritisch-rationales Wissen verantwortet werden. Diese Verantwortung läßt gewiß Grade zu. Sie darf auch ihre Schlagseiten haben. Sie wächst und entfaltet sich mit dem gesamten Dasein […]. Sie ist ein lebenslanger Prozeß.“193
190 Vgl. Peterson et al. 52012, S. 13 f. 191 Vgl. Peterson et al. 52012, S. 369 f. 192 Vgl. Seewald, Michael, der in seinem Werk, Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Freiburg im Breisgau 2018, darstellt, inwiefern rationaler Nachvollzug eine Auswirkung auf die Entwicklung von Dogmen hat und inwiefern sowohl Rationalität als auch Autorität maßgeblich für Dogmen sind: „Der kognitivistische Zuschnitt einer Theorie und ihr Autoritätsbezug schließen sich nicht gegenseitig aus – katholische Theorien werden wohl nicht ohne beide Momente auskommen – verhalten sich aber umgekehrt proportional zueinander. […] Der Vernunftbezug und der Autoritätsbezug des Glaubens stehen so in einer unauflösbaren Spannung, der [sic] sich auch in den Theorien der Dogmenentwicklung spiegelt.“ (Ebd., S. 280.) 193 Kern/Niemann 21990, S. 24.
4.3 Folgen des kritischen Rationalitätsbegriffs
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Die philosophische Untersuchung ist also nicht vom Vollzug des Glaubens zu trennen – und damit auch der Akt des Zweifelns nicht, der beim rationalen Nachvollzug unausweichlich ist. Vor diesem Hintergrund ist also eine rationale Rechtfertigung dieses Glaubens und damit auch der Akt des Zweifelns zur Überwindung von Widersprüchen ein notwendiger Bestandteil des Glaubens. Diese Annahme, dass der Akt des Zweifelns einen notwendigen Bestandteil des Glaubens darstellt, lässt sich wiederum mit Peterson et al. selbst stützen, die betonen, dass es aus der Perspektive kritischer Rationalisten keine vollständige Gewissheit gebe. Deshalb ist die Konfrontation mit konfligierenden Aussagen – und damit auch die Herausforderung einer Situation des Zweifelns – notwendig, um die eigene Position vor sich und anderen rechtfertigen zu können: „However, the critical rationalist has no absolute rational assurance that her own view is correct, so she needs the competing views both to assess their merits in comparison with her own and for the sake of the penetrating criticisms of her own view that aremost [sic] likely to come from those who do not share it.“194
Durch diese Feststellung eines Bedarfs von wiederholten Konfrontationen mit entgegengesetzten Glaubensannahmen zur Selbst- und Fremdvergewisserung wird implizit ausgedrückt, dass das Subjekt immer wieder seine eigenen Glaubensüberzeugungen in Zweifel ziehen müsse. Auch mit den folgenden Ausführungen von Peterson et al. wird deutlich, dass die Ergebnisse unserer Rechtfertigungen immer vorläufig und niemals vollständig sein werden: „Although there are no theoretical limits to the human rational quest, our results will always be tentative and incomplete, capable of being revised and improved, as we move ahead. Yet this process is all we have. Even if some religious revelation is true or a certain religious vision is authentic, its credentials still must be rationally evaluated – and it must stand or fall in light of the arguments and evidence. The recognition of our own fallibility, as well as the strong proclivity of some religious dogmatists to claims of infallibility, suggests to us that the hope for progress is brightest when we strive diligently for objectivity, fairness, and tolerance.“195
Wir bedürfen also im Prozess des Versuchs menschlicher Rechtfertigung unserer Glaubensannahmen immer wieder einer Revision. Vor dem Hintergrund der Einsicht unserer eigenen Fehlbarkeit („fallibility“196) müssen auch unsere religiösen Glaubensannahmen trotz ihrer Glaubhaftigkeit immer wieder rational analysiert werden: „Even if some religious revelation is true or a certain religious vision is authentic, its credentials still must be rationally evaluated“197. Wird diese Aufforderung zur Evaluation eigener Glaubensannahmen sowie die Fehlbarkeit menschlicher Versuche rationaler Rechtfertigung ernst genommen, folgt daraus wie aus dem zuvor genannten Zitat, dass das glaubende Subjekt implizit zum Zweifeln aufgefordert wird. 194 195 196 197
Peterson et al. 52012, S. 73. Peterson et al. 52012, S. 369. Ebd. Ebd.
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
Wie ist dieses vor dem Hintergrund des kritisch-rationalistischen Rechtfertigungsverständnisses des Glaubens hier geschlussfolgerte Gebot des Zweifelns zu verstehen? Soll es als Aufruf zum methodischen Zweifel begriffen werden oder vielmehr als Empfehlung zum tatsächlichen Zweifel, der aber dadurch gekennzeichnet ist, dass seine Situation nicht intendiert ist? Die Situation tatsächlichen Zweifelns kann aus begrifflichen Gründen nicht gemeint sein, weil sich ein Subjekt aus einer epistemischen Einstellung, die durch Gewissheit geprägt ist, nicht in eine solche der Unentschiedenheit durch eine Lenkung des Willens allein versetzen kann. In Kapitel 3 wurde nämlich gefolgert, dass wir uns in einer Situation des Zweifels nicht dazu entscheiden können, eine Position der Entschiedenheit anzunehmen. Umgekehrt muss aus der Zurückweisung der Annahme einer doxastischen Kontrolle abgeleitet werden, dass wir uns auch nicht in einer Situation eigentlicher Gewissheit für eine Position des Zweifels durch unseren Willen entscheiden könnten. Wenn wir nicht über unsere epistemische Einstellung des Glaubens entscheiden können, gilt das auch für dessen Negation oder Indifferenz. Eine solche Entscheidung aber wäre im Falle der Aufforderung dazu, eine Situation tatsächlicher Unentschiedenheit zu erzeugen, gefordert. Ein Gebot zum methodischen und damit bloß hypothetischen Zweifel mag vor dem Hintergrund der begrifflichen Unmöglichkeit der Alternative sowie angesichts des oben genannten Zitats naheliegender sein. Immerhin soll diese kritische Auseinandersetzung dazu dienen, sich einerseits der eigenen, bereits bestehenden Glaubensannahmen zu vergewissern, als auch anderen gegenüber mit Gründen Rede und Antwort stehen zu können. Dennoch kann mit diesem Gebot zur Auseinandersetzung nicht bloß ein Aufruf zum hypothetischen Zweifel gemeint sein, weil damit der Anspruch des kritischen Rationalismus gerade verfehlt wäre: Der bedeutende Unterschied zwischen dem bloß hypothetischen und dem hier empfohlenen, zu beabsichtigenden Zweifel ist nämlich der, dass ersterer in einer fertigen Position besteht, die generell nicht tatsächlich in Frage gestellt wird. Nach dem kritischen Rationalismus dagegen soll zwar auch nach Gründen für die eigene Position zur Verteidigung gegen andere gesucht werden, jedoch sind die Argumente der Gegner ernst zu nehmen. Es soll gerade keine Pseudoauseinandersetzung stattfinden, sondern eine ernsthafte Konfrontation, bei der Infragestellungen ernst genommen werden. Andernfalls kann der Glaube nach dem Verständnis des kritischen Rationalismus nicht als vernünftig gerechtfertigt gelten. Mit dem kritischen Rationalismus wird angenommen, dass es keine absolute Gewissheit geben kann. Nach diesem Verständnis ist die Situation des Zweifelns ohnehin unausweichlich. Die Aufforderung zum Zweifeln ist vor diesem Hintergrund so zu verstehen, dass das glaubende Subjekt dazu herausgefordert wird, auch eine aufkommende Situation tatsächlichen Zweifelns nicht zu ignorieren und sich iterativ mit den Gründen für und gegen diese Zweifel auseinanderzusetzen.
4.3 Folgen des kritischen Rationalitätsbegriffs
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4.3.3 Der Akt des Zweifelns als Moment des Glaubens Aus der bisherigen Argumentation ergibt sich folgendes Verständnis von Glauben, einschließlich des religiösen Glaubens: Der Akt des Glaubens umfasst erstens sowohl eine kognitive, als auch eine non-kognitive Dimension. Letztere besteht in einem existentiellen Ergriffensein von Gott sowie Gefühl der Verwiesenheit auf ihn. Es wird in einer persönlichen Vertrauenshaltung Gott gegenüber zum Ausdruck gebracht. Entsprechend der kognitiven Ebene ist dieses Vertrauen und Verwiesenheitsgefühl jedoch propositional nachvollziehbar und begründbar. Glaube ist somit immer auch als epistemische Einstellung zu begreifen und somit zweitens rational strukturiert. Die Zustimmung des Glaubens gründet – wie in Kapitel 4.3.1 geschlussfolgert wurde – auf subjektiver Gewissheit. Sie ist also nicht objektiv, aber intersubjektiv rechtfertigbar und damit drittens immer auch ein Wagnis sowie Moment willentlicher Zustimmung angesichts letzter Ungewissheit. Der propositionalen Einstellung des Glaubens kommt somit viertens der Status einer subjektiv als gewiss erachteten Hypothese zu, die im intersubjektiven Diskurs dennoch rational zu rechtfertigen ist. Sie muss somit den Charakter der Vorläufigkeit auf Begründungsebene haben, wenn der begründende Diskurs ernst genommen wird und auf Wahrheitsfindung finalisiert ist. Indem dem Glauben aufgrund seiner propositionalen Strukturiertheit ein Verstehens- und Begründungsprozess inhäriert, ist er nicht als statisch zu verstehen, sodass er etwa mit einer einmaligen Zustimmung zu einem Wahrheitsanspruch abgeschlossen wäre. Stattdessen ist er fünftens als sich biographisch mit dem glaubenden Subjekt entwickelnd zu denken. Er kann sich hinsichtlich seiner propositionalen Gehalte immer nur aus der Perspektive des Individuums mit seinen rationalen und emotionalen Kapazitäten sowie in Auseinandersetzung mit den Erfahrungen seiner Umwelt entfalten. Diese Erfahrungen stehen nicht nur mit der kognitiven, sondern auch mit der non-kognitiven Ebene des Glaubens in einer Wechselwirkung. Glaube ist also als ein iterativer Prozess zu begreifen. Vor dem Hintergrund dieser Charakterisierung des Glaubens lassen sich drei Thesen in Bezug auf das Verhältnis von Glauben und Zweifeln formulieren. (1) Wenn Glaube nicht als Momentaufnahme beziehungsweise statische Zustimmung begriffen wird, sondern als iterativer, biographischer Prozess, dann sind Zweifel dabei unausweichlich, weil sowohl Erfahrungen als auch die Konfrontation mit alternativen Wahrheitsansprüchen Zweifel auslösen können. Sofern Glaube eine kognitive Dimension aufweist, kann er nicht von der kognitiven Entwicklung eines Subjekts unberührt bleiben. Er wird vielmehr durch sie geprägt. Von Zweifel begleitete und möglicherweise auch motivierte Entwicklungen des Glaubens können dabei sowohl empirisch als auch epistemisch bedingt sein, wenn etwa das Subjekt Erfahrungen macht oder mit Wahrheitsansprüchen konfrontiert wird, die vor dem Hintergrund seines religiösen Glaubens unverständlich werden. Der Akt des Zweifelns, der durch den Willen zur Überwindung des Zwiespalts ge-
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4 Der Begriff des Glaubens und seine Relation zum iterativen Zweifeln
kennzeichnet ist, motiviert im Gegensatz zur Skepsis in solchen Fällen eine dialektische Überwindung desselben. Weil der Glaube eines jeden Individuums auf seinem individuellen Weg verschiedene Phasen und Entwicklungsstufen198 aufweist, wäre die Darstellung des Glaubens als ein einmaliger Akt eine starke Verkürzung. Kunz beschreibt den Glauben auch als Weg, bei dem „einzelne Elemente, welche zum Glauben gehören, auf dem Weg des Glaubens einmal besonders hervortreten können, während sie zu anderer Zeit eher im Hintergrund bleiben. Wenn sich die verschiedenen Aspekte, insbesondere Glaubenszustimmung und vernünftige Einsicht, auch ständig begleiten und wechselseitig beleuchten, so müssen sie auf dem individuellen oder gemeinschaftlichen Glaubensweg jeweils doch nicht in derselben Intensität verwirklicht sein.“199
Auch Neuner begreift den Prozess des Glaubens als weghaft, wenn er schreibt, dass jemand, der zum Glauben gekommen ist, sich erst auf diesen Sinnentwurf einlassen müsse. Dadurch werde sein Sinnhorizont erweitert, aber auch in Frage gestellt. „Gegebenenfalls wird sein Wissen um Sinn aufgesprengt, gerät in die Krisis, geraten die bisherigen Plausibilitäten ins Wanken. Am Ende dieses Prozesses steht eine neue Grundorientierung, an die Stelle des früheren Glaubens ist ein neuer Glaube getreten.“200
Ein derartiges Annehmen eines Glaubens erfolge nach Neuner nicht punktuell, sondern in einem Wachstumsprozess, wobei der Wille zum Verständnis dieser neuen Sinnantwort vorausgesetzt werde sowie der Wille dazu, sich auf ebendiese einzulassen. Dadurch bekomme das Leben in praktischer Hinsicht eine neue Ausrichtung, aber auch „die Vernunfttätigkeit des Menschen [werde] neu organisiert“201, weil fortan alle Einzelerkenntnisse zu diesem Sinnwissen in Relation stünden. Indem der Glaube das Subjekt dazu in die Lage versetze, neue Erkenntnisse aus veränderten Fragestellungen und neuen Erfahrungen zu gewinnen, erweise er sich damit als fides quaerens intellectum. Der sich so als Erkenntnisinteresse entfaltende Glaube sei – um es mit den Worten Neuners auszudrücken – „nie einfachhin abgeschlossen“202 und ist daher als iterativer, biographischer Prozess zu begreifen, bei dem die Konfrontation mit Situationen des Zweifelns unausweichlich ist. (2) Wenn Glaube als propositionale Einstellung verstanden wird, die nicht objektiv gerechtfertigt werden kann, sind Zweifel wiederum unausweichlich. Die Unmöglichkeit einer objektiven Rechtfertigung geht – wie bereits diskutiert – nicht zuletzt darauf zurück, dass unsere Vernunfterkenntnis bedingt ist durch ihre Endlichkeit, Unabgeschlossenheit und Irrtumsanfälligkeit. Darüber hinaus sind 198 199 200 201 202
Vgl. Kunz 22000, S. 329. Kunz 22000, S. 329. Neuner 22000, S. 31. Ebd. Ebd.
4.3 Folgen des kritischen Rationalitätsbegriffs
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ebendieser aufgrund der ontologischen Beschaffenheit des Glaubensobjekts „gegenüber der Sache des Glaubens spezifische Grenzen gesetzt“203. Gott als Gegenstand theistischer Überzeugungen ist transempirisch zu denken. Die Erfahrungen von Gründern oder charismatischen Führern einer Offenbarungsreligion „sind – verglichen mit den Ansprüchen eines empirisch grundierten, wissenschaftstheoretisch gebrauchten Erfahrungsbegriffes – nicht einfachhin generalisierbar oder wiederholbar.“204 Darüber hinaus ist eine objektive Rechtfertigung theistischer Überzeugungen auch deshalb nicht möglich, weil sie „auf Zukünftiges, ja sogar auf Mögliches aus[greifen], das gewissermaßen über die Bedingungen der Zeit hinausragt“205. Sie beanspruchen z. B., wahre Aussagen in Bezug auf ein postmortales Jenseits oder eine „umfassende Sinnaussage über die Sachverhalte und Ereignisse im Ablauf der Zeit und in der Welt“206 treffen zu können. Vor dem Hintergrund dieser Unmöglichkeit einer objektiven Rechtfertigung theistischer Überzeugungen sind also Zweifel ebenfalls unausweichlich. (3) Wenn Glaube im Sinne des kritischen Rationalismus vernünftig ist und sein soll, dann ist der Akt des Zweifelns nicht nur unausweichlich, sondern die Konfrontation mit Gegenthesen und dem ernsthaften Zweifel normativ geboten. Aufgrund des letzten Rests an Ungewissheit, der aufgrund der hypothetischen Verfasstheit des Glaubens sowie der mangelnden Möglichkeit objektiver Rechtfertigung bestehen bleibt, ist das glaubende Subjekt, das einen Anspruch auf Vernünftigkeit seines Glaubens im Sinne des kritischen Rationalitätsverständnisses erhebt, dazu aufgefordert, seine Glaubensüberzeugungen angesichts von externen und internen Inkonsistenzen immer wieder zu überprüfen und neu zu begründen. Damit wird auch die Begegnung mit der iterativen Reaktion auf die Situation tatsächlichen Zweifelns mit einbezogen: Denn der Akt des Zweifelns impliziert, wie in Kapitel 2 dargestellt, dass wir unsere bestehenden Wahrheitsansprüche in einer Situation der Konfrontation mit Annahmen, die unseren Überzeugungen widersprechen, kritisch hinterfragen und neu rechtfertigen.
203 204 205 206
Kunz 22000, S. 301. Schärtl 2007, S. 197. Ebd. Ebd.
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5 Abschluss: Iteratives Zweifeln als legitimes Moment des Glaubens
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5 Abschluss: Iteratives Zweifeln als legitimes Moment des Glaubens Zusammenführung der Ergebnisse Ziel dieser Arbeit ist die Rechtfertigung der These, dass der Akt des Zweifelns als ein legitimes Moment des Glaubens zu begreifen ist. Um diese These abschließend zu begründen, sollen hier die Ergebnisse der vorangegangenen drei Kapitel zusammengeführt werden. Wie im ersten Kapitel konstatiert wurde, ist es oft nicht eindeutig, über welchen Begriff von Zweifeln diskutiert wird. Deshalb habe ich im zweiten Kapitel eine Typologie mit voneinander abzugrenzenden Aspekten sowie Formen des Zweifelns vorgestellt. Diese Typologie sollte eine grundlegende Verständigung darüber ermöglichen, auf welchen Typ des Zweifelns referiert wird, wenn für die angestrebte These argumentiert wird. Um die in der Einführung skizzierten Stigmatisierungen, mit denen der Akt des Zweifelns vereinfacht und begrifflich verfälscht wird, zu entkräften, ist bereits ein Blick auf die Etymologie des Begriffs des Zweifelns hilfreich gewesen: Wer zweifelt, ist unentschieden hinsichtlich zweier Propositionen, die beide als möglicherweise wahr erscheinen. Schon diese grundlegende Begriffsbeschreibung zeigt, dass die Gleichsetzung des Zweifelns mit einer einfachen Negation des Glaubens nicht gerechtfertigt ist und eine Komplexitätsreduktion darstellt. Auch die positionelle, also abgeschlossene Unentschiedenheit, die in der Skepsis ihren Ausdruck findet, ist nicht mit dem Akt des Zweifelns zu verwechseln, weil letzterer – wie insbesondere unter Rekurs auf Hegel deutlich wurde – den Zustand des Hin- und Hergerissenseins zwischen verschiedenen Wahrheitsansprüchen im Gegensatz zur Skepsis bezeichnet. Ein tieferes Verständnis des Akts des Zweifelns ermöglichte die Auseinandersetzung mit Positionierungen zum Zweifel aus Philosophie und Theologie, die in eine Typologie integriert wurden. Dabei wurde zunächst zwischen zwei Formen des Zweifelns unterschieden, nämlich dem hypothetischen und dem tatsächlichen. Ersterer ist ein bloß künstlich angenommener, der beispielsweise methodisch eingesetzt wird, um eine bereits eingenommene Position bezüglich einer Proposition p zu bestärken. P wird in diesem Fall in Frage gestellt, um die diesbezügliche Ungewissheit zu überwinden. Damit soll aufgezeigt werden, dass tatsächliche Zweifel an p nicht begründet seien. Tatsächlicher Zweifel dagegen ist durch eine Unentschiedenheit des zweifelnden Subjekts, ob p oder non-p wahr sei, gekennzeichnet. Für diese Form ist das Streben nach der Überwindung der Ungewissheit charakteristisch. Neben der Differenzierung zwischen diesen beiden Formen wurden darüber hinaus unterschiedliche Aspekte des Akts des Zweifelns voneinander abgegrenzt. Dabei wurde erstens der Aspekt der Voraussetzung des Zweifelns aufgezeigt, bei dem das Kriterium der Gewissheit in doppelter Weise erfüllt sein muss, um von Zweifeln spre-
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chen zu können. Wer einerseits nicht zumindest den Kontext, in dem die Infragestellungen überhaupt erst zum Ausdruck gebracht werden können, für gewiss annimmt, ist gar nicht dazu in der Lage, eine Proposition in Zweifel zu ziehen, wie insbesondere unter Rekurs auf Wittgenstein deutlich wurde. Andererseits würde es sich gar nicht um eine Situation des Zweifelns, sondern vielmehr um den Ausdruck einer Frage handeln, wenn es um eine Proposition ginge, die nicht zumindest im Voraus für gewiss gehalten wurde. Als der zweite Aspekt wurde die Situation des Zweifelns aufgedeckt, die im Besonderen der Differenzierung zwischen hypothetischem und tatsächlichem Zweifel dienlich ist: Hier wird nämlich geprüft, ob die Situation des zweifelnden Subjekts absichtlich herbeigeführt wurde und damit intendiert, also hypothetisch ist, oder ob es sich ungewollt in dieser Situation wiederfindet und demnach tatsächlich zweifelt. Damit zusammenhängend wird also implizit auch danach gefragt, ob das Subjekt bereits eine fertige Position bezogen hat oder tatsächlich hinsichtlich verschiedener Wahrheitsansprüche unentschieden ist. Der dritte Aspekt des Zweifelns stellt der hier eingeführten Typologie nach den Aspekt der Reaktion auf die Situation des Zweifelns dar. Als drei prinzipiell denkbare Reaktionsmöglichkeiten wurden das skeptische Verfahren, das dezisionistische Verfahren sowie der iterative Zweifel vorgestellt. Letzterer besteht in einer weghaften zweifelnden Entgegnung eines Subjekts auf situativ bedingte und damit nicht intendierte Ungewissheiten. Iteratives Zweifeln wurde charakterisiert als tatsächlich unentschieden hinsichtlich der Situation des Zweifelns, aber gleichzeitig entschieden, sich weiterhin mit ebendieser Unentschiedenheit zu konfrontieren, um sie zu überwinden. Indem mit dem Akt iterativen Zweifelns dogmatische, unbegründete Setzungen ausgeschlossen werden, ist iteratives Zweifeln durch eine Offenheit in Bezug auf Wahrheit gekennzeichnet. Zudem bringt das Subjekt, das diese Zweifel weghaft auf sich nimmt, zum Ausdruck, dass es prinzipiell nach der Findung von Wahrheit strebt. Im Anschluss an diese Typologie verschiedener Aspekte des Zweifelns stellt sich die Frage, von welcher Form die Rede ist, wenn Zweifel als theologisch legitimes Moment des Glaubens begriffen werden soll. Zunächst steht unter Bezugnahme auf die Situation des Zweifelns die Form des hypothetischen weniger in Frage, weil sie – wie die begriffliche Einteilung verdeutlichen soll – genau genommen keine Unentschiedenheit zum Ausdruck bringt. Das hängt damit zusammen, dass, wer hypothetisch zweifelt, entweder methodische Infragestellungen z. B. deshalb vorsieht, um seinen bereits bestehenden Glauben vor sich selbst erneut zu begründen oder anderen verständlicher machen zu können. Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass hinter hypothetischem Zweifel neben dem hier skizzierten Fall auch eine Negation des Glaubens stehen kann, deren Plausibilität durch methodische Zweifel aufgezeigt werden kann. Auch dieser Fall von hypothetischem Zweifel ist jedoch nicht sonderlich kontrovers einzuschätzen im Hinblick auf die Frage danach, ob er ein Moment des Glaubens sei: Eine tatsächliche zugrundeliegende abgeschlossene (!) Po-
5 Abschluss: Iteratives Zweifeln als legitimes Moment des Glaubens
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sition, die in der Verneinung des Glaubens besteht, kann rein begrifflich kein Moment des Glaubens darstellen. Es ist also hinsichtlich der Situation des Zweifelns der tatsächliche Zweifel, der Gegenstand der vorliegenden Fragestellung ist. Vor diesem Hintergrund ist weiterhin zu spezifizieren, ob die Situation tatsächlichen Zweifelns oder aber die zweifelnde Reaktion auf diese der Gegenstand der Betrachtung sein soll. Weil die Situation tatsächlichen Zweifelns ihrem Begriff nach nicht intendiert ist, kann das Subjekt nicht für situativ bedingten Zweifel zur Verantwortung gezogen werden. Darüber hinaus hat sich sowohl im Zusammenhang mit den Ausführungen zu Hegel (Kapitel 2.2.6), als auch in der Auseinandersetzung mit der Rationalität des Glaubens (Kapitel 4) herausgestellt, dass die Situation des Zweifelns unausweichlich ist. Die iterativ zweifelnde Reaktion ist dagegen vom Subjekt selbst zu verantworten und steht deshalb im Zentrum der Frage nach der Legitimität des Zweifelns. Wer die Legitimität der Reaktion iterativen Zweifelns auf die unbeabsichtigte und unausweichliche Situation des Zweifelns in Frage stellt, muss eine Alternative aufzeigen, die legitim und realisierbar ist. Realisierbar muss sie insofern sein, als dass es dem Subjekt mit dieser Gegenmaßnahme tatsächlich gelingt, die Situation der Unentschiedenheit in Gewissheit zu überführen. Die dezisionistische Erwiderung auf die Situation des Zweifelns, die in der Entscheidung zum Glauben bestand, wurde in Kapitel 3 untersucht. Sie wurde im Zusammenhang mit dem doxastischen Voluntarismus analysiert, dessen Befürworter die These vertreten, dass wir uns in einer Situation der Unentschiedenheit dazu entscheiden könnten, etwas zu glauben. Hinsichtlich des doxastischen Voluntarismus wurde zwischen der direkten und indirekten Form unterschieden. Mit ersterer wird vertreten, dass sich ein Subjekt in einer Situation der Unentschiedenheit in Bezug auf p oder non-p ohne weitere Umwege – z. B. durch Reflexion oder Untersuchungen – dazu entscheiden könnte, die Proposition p oder non-p zu glauben. Die Bildung dieser Glaubensüberzeugung wäre also durch eine dezisionistische Wahl zustande gekommen, die ihrem Begriff nach nicht aus Gründen getroffen, sondern durch ein bloßes Verfahren willkürlich gesetzt wurde. Vertreter der These des indirekten doxastischen Voluntarismus dagegen behaupten zwar auch, dass die willentliche Entscheidung eine Rolle bei der Glaubensüberzeugungsbildung spielt. Dennoch vertreten sie nicht die Position, dass die willentliche Einflussnahme in einer willkürlichen und unmittelbaren Setzung bestehe, sondern in der willentlichen Lenkung einer Untersuchung oder Erforschung der fraglichen Proposition. Dabei kann lediglich darüber bestimmt werden, in welcher Richtung nach Ergebnissen gesucht wird. Im Zuge der Auseinandersetzungen mit verschiedenen Positionen aus Philosophie und Theologie zur sowohl indirekten als auch direkten Form des doxastischen Voluntarismus konnten drei schlussfolgernde Thesen gebildet werden: Erstens können Glaubensüberzeugungen nicht aufgrund einer willentlichen Kontrolle angenommen werden, weil sie intrinsisch auf Wahrheit ausgerichtet sind. Die Gerichtetheit auf Wahrheit geht damit einher, dass es sich beim hier zu diskutierenden Glauben um
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eine epistemische Einstellung handelt, die – je nach Verständnis des jeweilig besprochenen Autors – eine mehr oder weniger starke Gewissheitsstufe zum Ausdruck bringt. Ob Glaube nun impliziert, dass sich das Subjekt ganz sicher ist oder aber eine vage Vermutung anstellt – immer wird mit Glaubenssätzen das zum Ausdruck gebracht, was für (mehr oder weniger wahrscheinlich) wahr gehalten wird. Weil Wahres jedoch nicht beliebig ist und damit nicht vom subjektiven Willen abhängt, wäre eine Entscheidung zu einer Glaubensüberzeugung allenfalls ungeachtet der Wahrheit beziehungsweise Falschheit dieser Überzeugung möglich – was einen Selbstwiderspruch angesichts der Tatsache, dass Glaubensüberzeugungen auf Wahres gerichtet sind, darstellen würde. Insofern ist zu schlussfolgern, dass eine dezisionistische Entscheidung zur Annahme einer Glaubensüberzeugung aufgrund ihrer begrifflichen sowie psychologischen Inkonsistenz nicht möglich ist. Als zweite These wurde hergeleitet, dass Glaubensüberzeugungen sich nicht beliebig wählen lassen, weil sie mit anderen Glaubensannahmen in einem Begründungszusammenhang stehen. Wie in der ersten These festgehalten wurde, wird mit Glaubensüberzeugungen beansprucht, Wahres abzubilden. Wahres wiederum ist dadurch gekennzeichnet, dass wir Gründe dafür angeben und uns mit anderen Subjekten prinzipiell über sie austauschen können. Diese Ausrichtung auf Intersubjektivität und Kohärenz zwischen unseren eigenen verschiedenen Glaubensüberzeugungen schließt aus, dass wir uns dezisionistisch zu bestimmten Glaubensüberzeugungen entscheiden könnten. Andernfalls wäre nicht mehr der nachvollziehbare Inhalt maßgeblich, sondern der Akt der Entscheidung selbst. Aufgrund dieser doppelten Vernetzung zwischen verschiedenen Glaubensüberzeugungen eines Subjekts sowie denen verschiedener Subjekte untereinander ist es nicht nachvollziehbar, wie eine dezisionistische Wahl von Glaubensannahmen vernünftig gedacht werden soll – es sei denn, ihr Anspruch auf Wahrheit, der jedoch für Glaubensüberzeugungen wesentlich ist, würde aufgeben werden. Die dritte These zum Problem des doxastischen Voluntarismus beinhaltet, dass Glaubensüberzeugungen weder direkt noch indirekt willentlich kontrollierbar sind. Was nämlich mit den bisherigen Thesen gefolgert wurde, kann nicht nur für eine der beiden Formen des doxastischen Voluntarismus stimmen, sondern muss auch für die indirekte Form wahr sein, wenn es für die direkte Form der Fall ist. Es ist also erstens nicht rational begründbar, wieso eine direkte Entscheidung begrifflich widersprüchlich sein sollte, aber eine auf Umwegen und somit indirekt getroffene Entscheidung plötzlich widerspruchsfrei sein sollte. Zweitens drücken sich die Vertreter des indirekten doxastischen Voluntarismus nicht klar aus: Es ist nicht eindeutig, was genau sie damit meinen, dass wir indirekte willentliche Kontrolle über unseren Glauben ausüben könnten, indem wir unsere Untersuchungen in eine bestimmte Richtung lenken würden. Die Beispiele ebendieser Vertreter sind so unklar und teilweise selbstwidersprüchlich ausformuliert, dass nicht deutlich ist, ob dieser Ansatz einer versuchten Selbsttäuschung gleichkommt, deren Realisierung jedoch aufgrund des mit ihr einhergehenden performativen Widerspruchs, wie gezeigt, nicht möglich wä-
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re. Die Annahme liegt nahe, dass es sich dabei nicht um eine Form willentlicher Kontrolle handeln kann: Das Ergebnis hängt auch in den von ihnen beschriebenen Fällen nicht vom willentlichen Entschluss selbst ab, die Untersuchung in diese Richtung zu lenken, sondern einzig und allein von dem vorgefundenen Ergebnis. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen besteht der Beitrag des Willens allein darin, ob das zweifelnde Subjekt in der Situation der Unentschiedenheit stehen bleibt oder ob es eine Untersuchung beziehungsweise Klärung der in Frage stehenden Proposition anstrebt. Es kann sich also dazu entscheiden, eine Position der Informiertheit einzunehmen beziehungsweise eine Begründung für die Zustimmung beziehungsweise Zurückweisung einer Proposition zu finden. Damit liegt jedoch keine willentliche Kontrolle von bestimmten Glaubensüberzeugungen vor, sondern allenfalls eine willentliche Einflussnahme. Das Ergebnis der klärenden Untersuchung hängt letztlich vom Sachverhalt selbst ab und nicht von der willentlichen Lenkung allein. Insofern ist der Begriff der indirekten willentlichen Einflussnahme dem der indirekten willentlichen Kontrolle vorzuziehen, wenn Glaube als auf Wahrheit gerichtete epistemische Einstellung verstanden wird. Neben diesen drei Thesen in Bezug auf die Möglichkeit der Umsetzung des dezisionistischen Verfahrens wurde darüber hinaus auf präskriptiver Ebene festgehalten, dass es zumindest höchst fragwürdig wäre, sich in einer Situation epistemischer Ungewissheit willkürlich für eine Glaubensüberzeugung zu entscheiden, weil damit ein Dialog, der auf intersubjektiv vermittelbare Wahrheitsfindung ausgerichtet ist, verwehrt würde. Darüber hinaus kann ein Subjekt, das einen Glauben aufgrund einer nicht begründeten willentlichen Setzung annimmt, nicht zwischen wahren und falschen Glaubensüberzeugungen, zwischen Glauben und Aberglauben unterscheiden. Es drückt durch seine willkürliche Glaubensannahme fundamentalistische Tendenzen aus. Eine derartige dezisionistische Setzung – sei sie direkt oder indirekt vollzogen – ist nicht mit dem christlichen Anspruch, die Wahrheit des Christentums vernünftig zu verantworten, vereinbar und somit auch normativ zurückzuweisen. Dass die Debatte um die These des doxastischen Voluntarismus auch speziell auf die Frage nach einer Kontrolle von religiösen Glaubensüberzeugungen übertragbar ist, wurde in Kapitel 3.2.7.1 gezeigt. Der Glaubensbegriff, der im Kontext des doxastischen Voluntarismus gebraucht wird, ist – wie oben ausgeführt – als epistemische Einstellung zu begreifen, die über einen propositionalen Inhalt verfügt und auf Wahrheit gerichtet ist: Mit dieser epistemischen Einstellung wird nämlich zum Ausdruck gebracht, dass das Subjekt, das p glaubt, p für wahr oder zumindest für wahrscheinlich wahr hält. Religiöser Glaube ist, wie in Kapitel 4 analysiert wurde, mit diesem Aspekt zwar nicht gänzlich erfasst, sondern beinhaltet darüber hinaus das Vertrauen in das Geglaubte, eine Orientierung der Lebensausrichtung an diesem Glaubensinhalt sowie den Inhalt des für wahr Gehaltenen selbst. Obwohl also zuzugestehen ist, dass unter religiösem Glauben mehr zu verstehen ist als dasjenige, was in der Frage nach dem doxastischen Voluntarismus eine Rolle spielt, ist jedoch zumindest deutlich geworden, dass die kognitive Ebene sowie die rational-analytisch
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nachvollziehbaren Propositionen unabdingbar für den Begriff religiösen Glaubens sind. Insofern ist das Ergebnis des dritten Kapitels tatsächlich auf ihn anwendbar: In einer Situation der Unentschiedenheit bezüglich religiöser Fragen können wir uns nicht dazu entscheiden, etwas nach unserem Willen zu glauben. Was ist aus den hier skizzierten Ergebnissen des Kapitels 3 für den Umgang mit der Reaktion des Zweifelns zu folgern? Auf die Situation der Unentschiedenheit scheint das dezisionistische Verfahren keine legitime Reaktionsweise darzustellen. Auch das skeptische und das negierende Verfahren sind begrifflich nicht mit dem Akt des Glaubens zu vereinen, weil sie entweder einen Diskursabbruch oder eine Verneinung des Glaubens implizieren. Angesichts dessen stellt die Reaktion des iterativen Zweifelns ex negativo die einzig nachvollziehbare und gerechtfertigte Position dar. Die einzige Möglichkeit, die sich einem situativ bedingt zweifelnden Subjekt eröffnet, ist die der willentlichen Einflussnahme: Es kann versuchen, durch die intendierte wiederholte und weghafte Konfrontation mit seinen Zweifeln die gegebene Unentschiedenheit iterativ zu überwinden. Dabei muss das Ergebnis jedoch offenbleiben und kann nicht kontrolliert werden, auch wenn das Subjekt in einer bestimmten Richtung nach Antworten suchen kann und damit einen indirekten willentlichen Einfluss auf seinen Glauben hat. Das Verfahren der willentlichen Einflussnahme kommt jedoch ebenfalls der iterativ zweifelnden Reaktion auf die Situation der Unentschiedenheit gleich: Das iterativ zweifelnde Subjekt sieht sich mit seiner Unentschiedenheit konfrontiert und versucht durch Aufmerksamkeitslenkung und Untersuchungen eine Überwindung seiner Zweifel zu begünstigen. Mit der Untersuchung der These des dezisionistischen Verfahrens konnte also nicht nur ex negativo gezeigt werden, dass iteratives Zweifeln eine legitime Reaktion auf einen Zustand der Unentschiedenheit darstellt. Es konnte auch positiv veranschaulicht werden, dass iteratives Zweifeln eine vernünftig zu verteidigende und umsetzbare Lösung ist, mit einer derartigen Situation der Ungewissheit umzugehen. Die in Kapitel 4 vorgenommene Verhältnisbestimmung von Glauben und Zweifeln unterstützt ebenfalls die These, dass iteratives Zweifeln eine mit religiösem Glauben vereinbare Reaktionsweise auf die Situation des Zweifelns darstellt. Der Gedankengang gründet in einer begrifflichen Bestimmung des Glaubens und ist folgendermaßen zu rekonstruieren: Religiöser Glaube ist – nicht ausschließlich, aber zumindest – als epistemische Einstellung zu verstehen, die auf Wahrheit gerichtet ist und vernünftig sein soll. Der Anspruch auf Vernünftigkeit ist jedoch nicht im Sinne des starken, sondern des kritischen Rationalismus erfüllbar. Glaubensüberzeugungen sind rational-analytisch nachzuvollziehen. Angesichts der Einsicht in die Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnis sollten wir jedoch nicht so überheblich sein, sie für unbezweifelbar zu halten. Stattdessen gelten unsere Glaubensüberzeugungen nach dem Verständnis des kritischen Rationalismus als vernünftig, wenn wir sie rational rechtfertigen im Dialog mit widerstreitenden Wahrheitsansprüchen. Insofern kommt unseren Glaubensüberzeugungen der Status einer Hypothese zu.
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Dieses Verständnis von religiösem Glauben als Hypothese ist einerseits abzugrenzen von dem als-ob-Glauben, der bei Ginet zu finden ist (vgl. Kapitel 3.2.3). Die Entscheidung zum Glauben, dass p im Sinne Ginets ist mit einer Entscheidung, so zu verfahren, als ob p wahr sei, gleichzusetzen. Es wird in Ginets Fall also nicht im epistemisch starken Sinne geglaubt, dass p. Nach dem kritischen Rationalismus dagegen bedeutet Glauben, dass p für wahr gehalten wird, auch wenn es keinen objektiv zureichenden Grund dafür gibt. Wer glaubt, dass p, verfährt also nicht nur so, als sei p wahr, sondern ist auf subjektiver Ebene dennoch gewiss, dass p. Dass dieser Glaube nach dem kritischen Rationalismus dennoch den Charakter einer Hypothese hat, bedeutet, dass p immer wieder im intersubjektiven Dialog zu verteidigen, neu zu begründen und zu hinterfragen ist. Er weist somit auf der Begründungsebene den Status einer angenommenen Hypothese auf. Andererseits ist das Verständnis von Glauben als Hypothese im Sinne des kritischen Rationalismus abzugrenzen von der Position von William James (vgl. Kapitel 3.2.1). Er begreift Glauben angesichts der unüberwindbaren Pattsituation ebenfalls als Hypothese. Problematisch ist jedoch, dass nach James diese Hypothese ohne weitere Begründung angenommen werden darf, wenn es sich beim religiösen Glauben für uns um eine lebendige, unumgängliche und bedeutungsvolle Option handelt. Die Neigung dazu oder ein Gefühl stellt er als ausreichenden Beweggrund zur Annahme einer solchen Hypothese dar. Das ist mit dem kritischen Rationalismus zurückzuweisen. Eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen der Position von James und der von kritischen Rationalisten, die für die Verhältnisbestimmung von Glauben und iterativem Zweifeln grundlegend ist, besteht dennoch: Beide vertreten die Auffassung, dass es keine unerschütterliche, objektive Gewissheit geben könne, die alle alternativen Hypothesen als unbestreitbar falsch erscheinen lässt. Nach dem kritischen Rationalismus sind wir jedoch nicht gerechtfertigt, angesichts dieser Situation leichtfertig unserer Neigung, zu glauben, nachzugeben. Die Neigung kann aber ein Grund sein, einer Hypothese nachzugehen, in Auseinandersetzung mit anderen Hypothesen Gründe für sie zu suchen und zu prüfen, ob sie konsistent ist und zu unserem Selbstund Weltverständnis passt. Dieses Streben nach iterativer Begründung qualifiziert den Glauben als rational. Die Relation zwischen Glauben und Zweifeln, die aus diesem Zusammenhang zwischen kritischem Rationalitätsbegriff und dem Anspruch auf Rationalität des Glaubens folgt, wurde in Kapitel 4.3 ausgeführt: Dabei wurde zunächst festgehalten, dass nicht von einer objektiven Gewissheit des Glaubens ausgegangen werden kann, weil Glaube angesichts der Unmöglichkeit eines letztgültigen Beweises einen hypothetischen Charakter aufweise. Dennoch ist er nicht zu verwechseln mit einer relativistischen Position, weil durch den Anspruch des kritischen Rationalismus gefordert wird, dass der eigene Glaube intersubjektiv zu begründen sowie zu überprüfen ist, was der glaubenden Person subjektiv als gewiss gilt. Mit dieser Forderung von fortsetzenden Begründungen des eigenen Glaubens ist implizit auch eine Pflicht zu
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zweifeln gegeben. In Kapitel 4.3.2 wurde problematisiert, dass mit dieser Aufforderung zu zweifeln weder die Herbeiführung der Situation tatsächlichen Zweifelns gemeint sein kann, noch der Auftrag, bloß hypothetisch zu zweifeln, um die bereits fertige Position zu begründen. Das Subjekt, das seinen Glauben zwar für subjektiv gewiss hält, muss seine Überzeugung im intersubjektiven Diskurs dennoch als Hypothese verteidigen. Infragestellungen, die dabei aufkommen, sollte es nicht einfach ignorieren. Stattdessen sollte sich das Subjekt auf die Situation der Unentschiedenheit einlassen und sich iterativ mit entstehenden Zweifeln auseinandersetzen. So verstanden bezeichnet der Akt iterativen Zweifelns einen integralen Bestandteil religiösen Glaubens, der selbst, wie in Kapitel 4.3.3 gezeigt wurde, ebenfalls als iterativ zu begreifen ist. Dass der Akt des Zweifelns also konstitutiver Bestandteil des Glaubens ist, wurde in den folgenden drei Thesen festgehalten. Erstens sind Zweifel für religiösen Glauben unausweichlich, wenn auch letzterer nicht statisch, sondern als iterativer biographischer Prozess begriffen wird: Das glaubende Subjekt wird als sich kognitiv entwickelnder und an Erlebnissen wachsender Mensch im Laufe seines Lebens durch verschiedene Erfahrungen und durch die Konfrontation mit anderen Wahrheitsansprüchen in Situationen des Zweifelns geraten. Zweitens sind Zweifel unumgänglich aufgrund der Tatsache, dass der subjektiv gewisse Wahrheitsanspruch prinzipiell nicht letztgültig objektiv gerechtfertigt werden kann. Drittens sind Zweifel nicht nur unvermeidbar, sondern sogar geboten, wenn religiöser Glaube im Sinne des kritischen Rationalismus trotz der Unmöglichkeit seiner objektiven Beweisbarkeit vernünftig und gerechtfertigt sein soll. Die Frage nach der Legitimität des iterativen Zweifelns ist also aufgrund seiner hier präsentierten Vielschichtigkeit nicht zu beantworten, ohne sich erstens über die im Zentrum stehende Form beziehungsweise den fraglichen Aspekt des Aktes des Zweifelns zu verständigen, sich zweitens über die möglichen alternativen Reaktionen auf die Situation der Unentschiedenheit im Klaren zu sein sowie ohne sich drittens des Glaubensbegriffs mit dem zusammenhängenden Anspruch auf Vernünftigkeit zu vergewissern. Neben den bisher hier zusammengefassten Schlussfolgerungen ist mit einer abschließenden Charakterisierung unter Rücksichtnahme auf das zweite Kapitel zu zeigen, dass iteratives Zweifeln ein theologisch legitimes Moment des Glaubens ist. Abschließende Charakterisierung und zusammenführende Bewertung des Zweifelns Wie mit Augustinus (vgl. Kapitel 2.2.3) gezeigt wurde, wird die Situation des Zweifelns als negativer mentaler Zustand empfunden, der vom Subjekt überwunden werden will. Der Zustand der Unentschiedenheit, der sich im Falle des Augustinus durch die Auseinandersetzung mit der Akademischen Skepsis entwickelt hat, löst in ihm einen Zustand der Hoffnungslosigkeit bei der Wahrheitssuche aus. In dieser Situation bleibt er jedoch nicht stehen, sondern strebt – befeuert durch seine Zweifel an den skeptischen Thesen – danach aufzuzeigen, dass Wahrheitserkenntnis möglich ist.
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Dass diese negative Empfindung der situativen Unentschiedenheit nicht immer zu einem fortwährenden iterativen Zweifel führt, mit dem diese überwunden werden soll, sondern ebenfalls in Verzweiflung und Entscheidungsunfähigkeit resultieren kann, ist mit Kierkegaard veranschaulicht worden (vgl. Kapitel 2.2.10). Er sieht den Grund dieser Folge vor allem im Autonomiestreben des Menschen, der versucht, Gott durch selbstständiges Denken und Zweifeln zu erkennen, was ihm jedoch unmöglich ist. Das Ergebnis dieses Bemühens muss nach Kierkegaard deshalb in der Verzweiflung bestehen, weil mit diesem Versuch die Einsicht in die Erkenntnisunfähigkeit und Ohnmacht des Menschen im Hinblick auf eine eigenständige Wahrheitserkenntnis einhergehe. Dieses destruktive Moment sei jedoch auch als ein konstruktives zu verstehen, indem es erst die Möglichkeit zu wahrem Glauben eröffne. Dieser bestehe nämlich darin, dass sich der Mensch selbst aufgebe und ganz auf die geoffenbarte Wahrheit Gottes vertraue. Nach diesem Verständnis ist der Zweifel jedoch kein konstitutiver Bestandteil des Glaubens, sondern ein zu überwindender, der den Weg zum Glauben ebnet. Zweifeln wird von Kierkegaard also als Gegenteil des Glaubens begriffen. Ebenfalls als Negation des Glaubens begreift Kleutgen den Akt des Zweifelns und stuft ihn als Torheit ein (vgl. Kapitel 2.2.9). Dafür führt er hauptsächlich zwei Gründe an, nämlich einerseits die Pflicht des Christen zu glauben, womit Zweifel ausgeschlossen seien, sowie andererseits die vermeintliche Tatsache, dass es dank der natürlichen Schöpfungsordnung offensichtlich sei, dass Gott als höchster Urheber allen Daseins existiere. Wer an dieser Offensichtlichkeit zweifelt, der sei als Sünder zu verurteilen und müsse entweder seinen Verstand verloren oder ihn durch Laster der Natur verdorben haben. Aufgrund der Irrtumsanfälligkeit des Menschen sollten wir nicht zweifeln und selbst denken, sondern auf Gott, die Bibel und die Kirche vertrauen. Der Akt des Zweifelns hat jedoch innerhalb der Philosophie und Theologie nicht ausschließlich eine verurteilende Abwertung erfahren. Statt als Negation des Glaubens wurden Zweifel als Ausdruck der Partizipation am Akt des Glaubens begriffen. Im Gegensatz zur skeptischen Position auf der einen Seite, die durch ihren Dialogabbruch mit religiösem Glauben sowie dem Ausharren in positioneller Unentschiedenheit gekennzeichnet ist (vgl. Kapitel 2.2.2), sowie zu atheistischen Positionen auf der anderen Seite, wird mit dem Akt des Zweifelns gerade das ernsthafte Interesse an der Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Glauben zum Ausdruck gebracht. So wurde dieser Zusammenhang von Tillich dergestalt rekonstruiert, dass der Mensch am Glauben durch den Akt des Infragestellens desselben an ihm schon immer partizipiert: Er kann z. B. nur dann nach Gott fragen, wenn er sich einerseits als getrennt von ihm erfährt und andererseits durch diese Erfahrung der Trennung gleichzeitig an ihm teilhat (vgl. Kapitel 2.2.11). Diese Form der Partizipation wird von Tillich als Bezeugung der Ernsthaftigkeit, mit der der Wahrheit des Glaubens begegnet wird, verstanden. Zweifel ist aber nicht nur Ausdruck der Ernsthaftigkeit, sondern auch ein Hinweis auf das Zutrauen, dass der fragliche Glaube eine potenti-
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elle Antwort darstellen kann, die das Subjekt aus der Situation der Unentschiedenheit befreien kann. Andernfalls wäre es nicht verständlich, warum es weiterhin zweifeln sollte, statt skeptisch zu verfahren. So hat auch der Zweifel des Hermes als Illustration eines Ausdrucks des Zutrauens in den christlichen Glauben gedient: Durch seine Zweifelsucht angetrieben wollte er unablässig selbst denken und zweifeln, bis er eine überzeugende Antwort hinsichtlich der Frage nach der Existenz Gottes und der Wahrheit des Christentums gefunden haben würde (vgl. Kapitel 2.2.8). Ein derartiger Akt der Zweifelns, der iterativ auf sich genommen wird, zeigt nicht nur das Interesse, die Ernsthaftigkeit und das Zutrauen des Subjekts in den in Frage gestellten Glauben. Er bringt auch seine Entschiedenheit zum Ausdruck, die situative Unentschiedenheit zu überwinden, wie es auch mit Hegels Unterscheidung zwischen Skepsis und Zweifel deutlich gemacht werden konnte (vgl. Kapitel 2.2.6). Diese Entschiedenheit eines weghaften Zweifelns bezeugt wiederum den Anspruch auf Wahrheit und die Ernsthaftigkeit, mit der das Subjekt den angezweifelten Glauben ergründen will und mit welcher Bestimmtheit es sich nicht mit einer relativistischen Position zufriedengeben will. Hermes’ Beharren auf dem Akt des Selbstdenkens und Zweifelns veranschaulicht die Ernsthaftigkeit der Wahrheitssuche. Selbst der Zweifelgegner Kierkegaard gesteht zu, dass im Zweifeln das Verlangen nach der Erkenntnis einer objektiv gültigen, alle Relativität aufhebenden Wahrheit zum Ausdruck gebracht wird. Schließlich sind Zweifel nicht nur ein unausweichlicher, sondern auch konstitutiver Bestandteil des Glaubens selbst, wie nicht nur in Kapitel 4 gezeigt wurde. Mit Hegel wurde Zweifel als Negation von bestimmten Überzeugungen ausgemacht, die wiederum durch diese bestimmte Verneinung in neuen Erkenntnissen resultieren. Dieser Prozess des Zweifelns sei integrativer Bestandteil menschlicher Rationalität. Insofern Glaube eine propositional ausdrückbare und vernünftig rechtfertigbare Komponente enthält, müssen Zweifel ebenfalls integrativer Bestandteil des Glaubens sein. Dies konnte ebenfalls mit Tillich gezeigt werden, der das Element der Ungewissheit als immanenten Bestandteil des Glaubens an Gott versteht. Gott sei als unendliche und absolute Größe nicht vom endlichen Menschen in seiner Gänze zu begreifen. Aufgrund der ontischen, geistigen und moralischen Endlichkeit des Menschen sind Glaubenszweifel unausweichlich. Im Akt des Zweifelns käme dennoch beziehungsweise gerade der Mut zum Ausdruck, sich auf den Glauben einzulassen, der ein Wagnis darstelle. In Anbetracht des Anspruches auf Vernünftigkeit des Glaubens im Sinne des Verständnisses kritischer Rationalität ist dieses Sich-Einlassen auf den Glauben als verstehender, nachvollziehender und begründender Prozess zu begreifen, der den Akt des Zweifelns notwendigerweise aufgrund der Endlichkeit und Fehlbarkeit des Menschen einschließt. Schließlich ist dieser iterative, prozessuale Zweifel für das Individuum insofern ertragreich, als dass er es davor bewahrt, mit leichtfertiger Akzeptanz falsche Glaubensüberzeugungen anzunehmen. Die methodische Anwendung dieses Zweifelns hilft, den Wissenschaftscharakter der Theologie und Wahrheitscharakter des Glaubens zu
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erhalten. Somit wirkt das iterativ zweifelnde Subjekt einer dezisionistisch gesetzten Überaffirmation entgegen, die es nicht vernünftig verantworten kann. Durch den Akt iterativen Zweifelns wird das Subjekt davon abgehalten, einen im Sinne des kritischen Rationalismus nicht gerechtfertigten schwachen und nicht ernstzunehmenden Glauben zu akzeptieren. Die zweifelnde Suche nach Wahrheit erscheint in der Folge dieser Überlegungen nicht als Schwäche und Unglaube, sondern als Ausdruck der Ernsthaftigkeit, mit der das Subjekt seinen Glauben vor sich und anderen gerechtfertigt wissen will. Der in Frage stehende Glaube wird als Sinnentwurf angenommen trotz der Unmöglichkeit seiner letztgültigen Rechtfertigung. Angesichts des Absolutheitscharakters des Gegenstands religiösen Glaubens sowie der Endlichkeit und Irrtumsanfälligkeit des Menschen ist der Akt iterativen Zweifelns eine legitime Art, sich auf den Gegenstand des Glaubens zu beziehen. Iterativer Zweifel ist somit als ein legitimes Moment des Glaubens gerechtfertigt.
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PB
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