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German Pages [177] Year 2019
Jürgen Kampmann / Christoph Schwöbel (Hg.)
Die Stadt Interkulturelle theologische Zugänge
Theologie Interdisziplinär
herausgegeben von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen Band 19
Jürgen Kampmann / Christoph Schwöbel (Hg.)
Die Stadt Interkulturelle theologische Zugänge
Symposion in Zusammenarbeit der Evangelisch-Theologischen Fakultät Tübingen mit der Presbyterian University and Theological Seminary, Seoul, und der Seoul Theological University. Tübingen, 4./5. Juli 2014
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2567-952X ISBN 978-3-7887-3337-7 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Umschlagabbildung: Blick auf Seoul / Foto 2008 © akg-images / Jürgen Sorges Satz: Dorothee Schönau, Wülfrath
Vorwort
Auch wenn seit dem Termin des Tübinger Symposions nun schon einige Zeit vergangen ist, verdient angesichts eines nach wie vor ungebremsten Trends zur Urbanisierung nicht nur dessen Thema als solches nach wie vor Aufmerksamkeit, sondern es ist ebenso anregend wie fruchtbar, sich der Frage nach der Bedeutung »der« Stadt unter theologischem Gesichtspunkt zu nähern: biblisch-exegetisch, (kirchen)geschichtlich, systematisch-theologisch und nicht zuletzt auch unter praktisch-theologischer Perspektive. Dabei ist es gelungen, im Rahmen der gemeinsamen koreanischen und deutschen Arbeit am Thema den Blick zu öffnen für Aspekte, die den üblichen europäischen Horizont übersteigen und präsent werden lassen, vor welchen besonderen Herausforderungen die christlichen Gemeinden und Kirchen in Korea unter den Rahmenbedingungen von Megacities leben und handeln (müssen). Frau Mirjam Haas, die die diesem Band zugehörigen Register erstellt hat, sei dafür herzlich gedankt. Tübingen, im Januar 2018
Jürgen Kampmann Christoph Schwöbel
Inhalt
Vorwort ................................................................................................. 5 Jürgen Kampmann Grußwort zur Eröffnung des Symposions .............................................. 9 Seounggyu Park Civitas Dei und die säkulare Stadt ....................................................... 11 Hyun-Jong Choi Die Megacity und das Christentum Urbane Formen christlicher Gemeinschaft in Seoul ............................ 23 Ruth Conrad »Stadt und Religion« Eine praktisch-theologische Response .................................................. 43 Jens Kamlah »Wohlauf, lasst uns eine Stadt bauen« (Gen 11,4) Städtische Lebensweise als Ressource in der Welt des Alten Testaments ........................................................................... 53 Jürgen Moltmann Ist die Stadt ein Ort der Hoffnung? ..................................................... 79 Reinhold Rieger Die Ausstrahlung der Stadt als geistliches Zentrum vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert ............................................... 93 Michael Welker Aufgaben der Religion im Prozess der Evolution der Städte .............. 145
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Inhalt
Hans Norbert Janowski Symposion »Die Stadt« – Zusammenfassung der vorgetragenen Aspekte ................................... 157 Jürgen Kampmann Wort zum Abschluss des Symposions ................................................ 165 Autorinnen und Autoren ................................................................... 167 Ortsregister ........................................................................................ 168 Personenregister ................................................................................. 174
Jürgen Kampmann
Grußwort zur Eröffnung des Symposions
Sehr verehrter Herr Präsident Yu, sehr verehrter Herr Präsident Kim, sehr geehrte, weitgereiste Gäste und Mitwirkende von unseren Partneruniversitäten aus Seoul – der Seoul Theological University und der Protestant Theological University Seoul, verehrte Mitwirkende und Teilnehmer an diesem Symposion, meine Damen und Herren! Zu diesem durch die Elisabeth- und Jürgen-Moltmann-Stiftung ermöglichten Symposion darf ich Sie alle sehr herzlich hier im Hörsaal des Theologicum im Namen der Evangelisch-Theologischen Fakultät willkommen heißen! Vor uns liegen heute und morgen, das weist das Programm aus, zwei intensive Arbeitstage zu einer Thematik, die – auf einen ersten Blick – keinen sofort sich aufdrängenden Bezug zur Theologie aufzuweisen scheint – »Die Stadt«. Ist »die Stadt« denn nicht lediglich eine bestimmte Siedlungsform von Menschen – und darauffolgend eine ökonomische Größe, ein bestimmter lokaler Raum sozialer und kultureller Begegnung und Gestaltung? Und selbst, wenn man einen pragmatischen Zugang wählt und »die Stadt« als eine nun einmal faktisch vorhandene Größe betrachtet, unter deren äußeren Gegebenheiten sich die Lebenswirklichkeit von Christen wie Kirchen nun einmal ereignet, heißt das ja noch nicht, dass dem auch theologisch und ekklesiologisch Relevanz zukommen müsste. Umso eindrücklicher ist es, dass im Kontext der biblischen Überlieferung »die Stadt« durchaus nicht nur als eine schlichte soziologische Größe begegnet, sondern dass zumindest die Stadt Jerusalem auch in eschatologischer Perspektive erscheint – im 21. Kapitel der Offenbarung des Johannes. Diese neue Stadt – sie begegnet als ein Ort besonderer, heilvoller Zukunft! Und unsere Städte? Diesen und vielen weiteren Aspekten werden wir in diesem Symposion begegnen – und umso mehr freue ich mich, dass sich Hans Norbert Janowski, über lange Jahre Chefredakteur der Evangelischen Kommentare, Direktor des Gemeinschaftswerks für Evangelische Publizistik und auch Rundfunkbeauftragter des Rates der EKD, bereiterklärt hat, uns durch die beiden vor uns liegenden Tage zu begleiten und dann am Schluss, am Sonnabendmittag, aus seiner Perspektive eine Zusammen-
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Jürgen Kampmann
schau dessen zu entwerfen, was die Vorträge und Diskussionen an besonderen Anregungen gegeben, an Fragen aufgeworfen und an Perspektiven eröffnet haben. In besonderer Weise unterstrichen zu werden verdient nun nicht zuletzt, dass das heutige Symposion auch im Zusammenhang steht mit einem für unsere Fakultät besonderen Ereignis. Denn nachdem wir bereits im Februar diesen Jahres durch die Unterzeichnung eines »Memorandum of Understanding« mit der Presbyterian University and Theological Seminary Seoul eine besondere Partnerschaft vereinbart haben, konnten wir am heutigen Vormittag ein weiteres solches Memorandum of Understanding, nun mit der Seoul Theological University, zum Abschluss bringen, und ich freue mich, dass diese beiden besonderen Partnerschaften bei diesem Symposion gleich eine doppelte Konkretisierung erfahren – einmal dadurch, dass die Herren Kollegen Sund-Gyu Park und Hyun-Jong Choi aus Seoul dankenswerterweise mit eigenen Vorträgen zu unserem Thema »die Stadt« beitragen werden, und zugleich dadurch, dass auch die Herren Präsidenten beider Universitäten, die Herren Kollegen Yu von der Seoul Theological University und Kim von der Presbyterian University and Theological Seminary, unter uns sind! Dass Sie alle den weiten Weg von Seoul nach Tübingen auf sich genommen haben, ist uns eine besondere Ehre! Ein ganz herzliches und ausdrückliches Willkommen Ihnen allen! So gewinnt Anschauung, dass die mit dem jeweiligen Memorandum of Understanding vereinbarte Partnerschaft zwischen unserer Fakultät und Ihren beiden Theologischen Universitäten in Seoul die großartige Möglichkeit eröffnet, miteinander theologisch zu arbeiten, intensiv zu forschen und – nicht zuletzt – sich auch persönlich zu begegnen.
Seounggyu Park
Civitas Dei und die säkulare Stadt
1. Einleitung Es sei mir erlaubt, meinen Vortrag mit einer von mir selbst erlebten Anekdote zu beginnen, auch wenn das wissenschaftlich nicht so hoch geschätzt wird. Trotzdem wähle ich diesen Zugang, weil er einen wichtigen Anhaltspunkt für die Diskussion unserer vorliegenden Thematik bietet. Es handelt sich um die Erfahrung, die ich mit Herrn Professor Jürgen Moltmann gemeinsam gemacht habe, als er bei uns an der Presbyterian University and Theological Seminary (PUTS) in Seoul zu Gast war, um auf dem Sondersymposium für das 50. Jubiläum der »Theologie der Hoffnung« und anschließend auf dem 15. internationalen Symposium, das jedes Jahr von der PUTS veranstaltet wird, Vorträge zu halten. Damals habe ich Professor Moltmann von einem Hotel zu einem anderen gefahren, das in der Nähe unserer Universität lag. Wir sind dem HanFluss entlanggefahren, der durch die Mega-City Seoul fließt. Unterwegs hat Professor Moltmann die südliche Seite des Han-Flusses betrachtet und mir gesagt, wenn das eine Stadt sei, dann sei Tübingen keine Stadt, und wenn Tübingen eine Stadt sei, dann sei Seoul keine Stadt. Da habe ich ihm ganz und gar zugestimmt. In der Tat schaden die Hochhäuser in der südlichen Gegend der Mega-Stadt Seoul der Schönheit des HanFlusses, und daher sah es dort eher umwelt- und menschenfeindlich aus. Nach dem Abschluss des Symposions, bei dem die Vorträge von Professor Moltmann große Resonanz gefunden hatten, habe ich ihn mit dem Präsidenten der PUTS, Myung-Yong Kim, bis zum Flughafen begleitet, um von ihm Abschied zu nehmen. Das Entscheidende geschah danach: Nachdem wir uns verabschiedet hatten, bin ich am Han-Fluss spazieren gegangen, gerade entlang der Hochhäuser, die ich zuvor mit Jürgen Moltmann zusammen betrachtet hatte. In dem Park am Han-Fluss sah ich abends sehr viele Leute, die ich drei Tage zuvor tagsüber mit Professor Moltmann nicht gesehen hatte: Leute, die spazieren gingen, die sich in Gruppen sitzend unterhielten, die gemeinsam Fahrrad fuhren oder spielten, die sich Freude, Freiheit und Liebe wünschten – all das, was man für die allgemeine Hoffnung der Menschen halten wird. Und da habe ich bemerkt, dass Seoul doch eine Stadt ist – sowohl: Tübingen ist eine Stadt, als auch: Seoul ist eine Stadt!
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Seounggyu Park
Selbstverständlich ist die Stadt Tübingen viel schöner als die Stadt Seoul. Aber im Hinblick auf die geistigen und materiellen Leistungen ist Tübingen kein Vergleich zu Seoul. Seoul ist eine Mega-City – ab etwa zehn Millionen Einwohnern spricht die UN-Statistik von Mega-Citys. Von den sechs Milliarden Menschen im Jahr 2000 lebten über 50 % in einer Großstadt. Die Urbanisierung und die dadurch sich ergebende Vergrößerung der Stadt haben nicht immer nur negative Auswirkungen. Eine Mega-Kirche, z.B. die Pfingstgemeinde Yoido Full Gospel Church mit etwa 600.000 Mitgliedern in Seoul, wäre ohne die Infrastruktur der Stadt Seoul kaum vorstellbar. Laut einer Statistik von 2001 liegen 23 der 50 größten Mega-Kirchen auf der ganzen Welt in der koreanischen MegaCity – es ist kaum zu glauben! Aber ich möchte nicht naiv auf die Größe der Stadt Seoul stolz sein oder für sie Propaganda machen. Die Stadt Tübingen ist viel schöner, umweltfreundlicher und ökologischer als Seoul. Und an dieser Stelle sollte in Erinnerung treten, dass »die Wege der Jesusbewegung […] das ländliche Milieu in Galiläa«1 waren, auch wenn sich die Situation nach Jesu Tod diesbezüglich schnell geändert hat. Mir scheint, dass solche Phänomene aber letztlich nicht zum Wesen unserer Thematik gehören, weil das Wesenswichtige für »Die Stadt« als Thema dieses Symposions meines Erachtens nicht die Stadt selbst und ihre Schönheit, ihr ökologischer Zustand und ihre Politik sind, sondern die Menschen, die in der Stadt leben. Die Menschen in der Stadt, denen Gott sich in Jesus Christus zugewendet hat und für die er sich selbst hingegeben hat, sind der Gegenstand der Hoffnung, nicht die Stadt selbst. Auch wenn eine Stadt ansprechend, gut organisiert und ordentlich eingerichtet wäre, befände sich keine Hoffnung in ihr, wenn die dort lebenden Menschen keine Gastfreundschaft zeigten, wie sie die Bibel lehrt, und wenn sie keine Bruderschaft pflegten, wie Jesus Christus sie mit den Menschen geschlossen hat. Nicht nur aus diesem biblischen Grund, sondern auch aus theologischem Grund kann diese Behauptung legitimiert werden. »[B]iblisch-exegetische Untersuchungen [zeigen], dass Städte, bis hin zu sprichwörtlicher Rezeption, qualitativ gewichtet wurden, zum Beispiel Sodom und Gomorrha, Ninive, Babylon, Rom, himmlisches Jerusalem.«2 Das gilt noch immer, wenn Sozialethik und Praktische Theologie Kriterien für eine humane Stadtentwicklung (EKD) erarbeiten und Probleme wie Bürgerbeteiligung, ökonomische Polarisierung und deren Folgen, Marginalisierung und Segregation reflektieren. Hier soll nun das Verhältnis zwischen »civitas Dei« und säkularer Stadt theologisch reflektiert werden. Noch expliziter gesagt: Es geht zunächst um die Säkularisierung. Der Grund dafür, dass das Thema des Reiches Gottes auch heute noch intensiv thematisiert und sogar problematisiert wird, ist gerade darin zu finden, dass mit Blick auf die säkulare Stadt der 1 2
Ebner, Stadt, 17. Ebd.; vgl. dazu auch Grünberg, Stadt, 1661.
Civitas Dei und die säkulare Stadt
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Aspekt ihrer »relativen Eigengesetzlichkeit« und Eigenverantwortlichkeit immer mehr positiv interpretiert wird und damit die Absolutheit des Reiches Gottes immer mehr relativiert und sogar in Frage gestellt wird. Dieses Phänomen ist nicht nur im Bereich der Soziologie oder Politik zu beobachten, sondern begegnet innerhalb der Theologie selbst, und zwar in der Theologie der Säkularisierung bei dem amerikanischen Theologen Harvey Cox, der 1965 die erste positive Würdigung der Stadt aus theologischer Perspektive vorgelegt hat.3 Es handelt sich zweitens um das Verstehen von »civitas Dei« selbst, das sowohl eine Krisis für die säkulare Stadt bedeuten als ihr auch den Existenzgrund bieten kann, wenn der Konnex zwischen beiden sachgemäß dargestellt wird. Wegen oder dank der Säkularisierung ergeben sich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten der civitas Dei. Der dritte Aspekt, der hier behandelt werden soll, hat mit der Verhältnisbestimmung von civitas Dei und säkularer Stadt zu tun. Wie kann die civitas Dei in der säkularen Stadt aufgefasst werden, genauer: Wie kann die theologische Auffassung der civitas Dei gerade in einer säkularen Stadt, in der das Vorhandensein einer himmlischen Stadt in Frage gestellt und sogar völlig verneint wird, ihre Plausibilität gewinnen? Und umgekehrt soll die Frage gestellt werden, wie die säkulare Stadt theologisch reflektiert werden kann, damit sie ein ihrem ursprünglichen Zweck entsprechendes Bild wiedergewinnen oder gewinnen kann. Diese letztgenannte Frage ist heutzutage meines Erachtens wesenswichtig für weitere theologische Diskussionen über die Stadt überhaupt. 2. Eine theologische Reflexion über die Säkularisierung oder die säkulare Stadt Was bedeutet Säkularisierung? Darüber, wie und was mit dem Begriff »Säkularisierung« gemeint ist, gibt es keine Einmütigkeit in der heutigen theologischen Reflexion, sondern es werden ausgesprochen gegensätzliche Perspektiven entfaltet. Das macht es uns gegenwärtig schwieriger, das Phänomen zu begreifen, als es früher war, als das Problem der Säkularisierung noch nicht existierte. Die theologischen Stellungnahmen sind durchweg ambivalent; die einen sind ganz positiv, die anderen ganz kritisch ihr gegenüber. Besonders extrem ist dies in der schon im Gang befindlichen Säkularisierung der Gesellschaft in Korea. Denn es liegt eine antikirchliche Tendenz in der Luft der koreanischen Gesellschaft, so dass die Säkularisierung mit dem Antichristentum identifiziert wird. Von daher ergeben sich zwei extrem polemische Reaktionen auf die Säkularisierung: Einerseits wird sie als gottlos verurteilt und heftig verflucht von der evangelikalen Seite, andererseits ist sie als eine Waffe im Kampf gegen das konservative Christentum und den Klerikalismus willkommen. Von da3
Vgl. zum Folgenden Cox, Stadt (original: Cox, The secular City).
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Seounggyu Park
her erscheint es sinnvoll, nach einem Ausgleich zu suchen, indem man ebenso die negative Seite der Säkularisierung wie zugleich auch ihren positiven Beitrag objektiv wahrzunehmen sich bemüht. Wie können die verschiedenen Bewertungen der Säkularisierung einigermaßen untereinander ausgeglichen werden? Gibt es überhaupt eine Verträglichkeits- und Kompatibilitätsmöglichkeit? Diese Frage gilt nicht bloß für die dogmatische Erklärung, sondern auch für die Plausibilität der Verkündigung des Evangeliums und ihres Wahrheitsanspruchs in der säkularen Stadt. Denn das Evangelium sollte eigentlich gerade dort, wo die Säkularisierung sich entwickelt, verkündigt werden. Das hat Harvey Cox genau gezeigt, indem er die »Heraufkunft einer urbanen Zivilisation und de[n] Zusammenbruch der traditionellen Religion« als »zwei eng miteinander verknüpfte Bewegungen« gekennzeichnet hat.4 Während die Urbanisierung nach Cox die Verwandlung der »Art, wie Menschen zusammen leben«, bedeutet, macht die Säkularisierung »den Wechsel in der Art, wie Menschen ihr Zusammenleben begreifen und verstehen«, aus.5 Aus dieser Begriffsbestimmung der Säkularisierung ergibt sich die Möglichkeit, »Dörfer und Städte [...] als Reflexion auf das Bild der himmlischen Stadt als Heimat der Götter« zu entwerfen.6 Bei diesem von Cox beschriebenen Verständnis von Säkularisierung ist es wichtig für unsere Fragestellung, dass er damit das Thema der Gemeinschaft und des gemeinsamen Lebens als ein zentrales hervorgehoben hat. »Heute steht die säkularisierte Großstadt sowohl als Muster unseres Zusammenlebens da wie als Symbol unseres Weltverständnisses.«7 Was bedeutet also bei Cox die Säkularisierung? Nach dem holländischen Theologen C.A. van Peursen, auf den sich Cox bezieht, bedeutet Säkularisierung die Befreiung des Menschen, »zunächst von einer religiösen, dann aber auch von einer metaphysischen Kontrolle über sein Denken und seine Sprache«.8 Säkularisierung geschehe also, »wenn der Mensch seine Aufmerksamkeit von der jenseitigen Welt ab- und dieser Welt und dieser Zeit zuwendet.«9 Dietrich Bonhoeffer hat das Phänomen 1944 als »Mündigwerden des Menschen« bezeichnet.10 Doch Harvey Cox versteht die Ära der säkularisierten Stadt keineswegs als durch »Antiklerikalismus« oder durch »fieberhaften antireligiösen Fanatismus« charakterisiert:11 »Antichristlicher Eifer« sei vielmehr, so Cox, schon heute ein Anachronismus, weshalb »die antireligiöse Propaganda der Kommunisten manchmal den Eindruck erweckt, als wollte sie den Glauben an einen jenseiti4 5 6 7 8 9 10 11
A.a.O., 10. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., 11. Zitiert nach ebd. Zitiert nach ebd. Ebd.
Civitas Dei und die säkulare Stadt
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gen Gott zerstören, den man ohnedies schon längst zur Ruhe gesetzt hat«.12 Wie Bonhoeffer dargestellt hat, kann man lernen, auch »von Gott säkular« (»weltlich«) zu reden und die biblischen Begriffe nichtreligiös zu interpretieren. Diese Möglichkeit ist Kirche und Theologie in Korea allerdings ganz fremd. Das Zeitalter der säkularisierten Stadt wird immer noch als ein Zeitalter der völligen »Religionslosigkeit« verstanden. Während Cox die Säkularisierung in ihrer Relation zur Religion begriffen hat, hat Eberhard Jüngel sie gerade in weltlichem Kontext bestimmt. Er charakterisiert Säkularisierung als einen »Akt von Verweltlichung, der im Schema der Welt versteht, was sich so überhaupt nicht verstehen lässt«. Säkularisierung sei »die Folge einer Entweltlichung, in der die Welt besser verstanden wird, als sie sich selber versteht«.13 Möchte man die Thematik der säkularen Stadt zu einem Abschluss bringen, muss unbedingt noch die sehr wichtige Frage beantwortet werden, ob die säkulare Stadt als eine Analogie von civitas Dei begriffen werden kann. Hier seien zwei zentrale Aspekte benannt. Zunächst muss die Antwort auf diese Frage ein klares »Nein« sein, weil die säkulare Stadt überhaupt nicht eine analogia entis zur civitas Dei sein kann. Die säkulare Stadt kann einfach nicht mit der civitas Dei identisch sein. In welchem Sinne ist sie aber doch eine Art von analogia zur civitas Dei? Hier gibt es zwei mögliche positive Antworten. Erstens: Im Sinne der Gemeinschaft kann diese Frage positiv beantwortet werden. Leben heißt eigentlich Zusammenleben, und zwar Zusammenleben mit Gott und zugleich mit den Mitmenschen, die Gott ganz und gar liebt und für die er sich selbst in Jesus Christus hingegeben hat – und die in der säkularisierten Stadt wohnen und leben. Der wesenhafte Charakter der Stadt überhaupt, sie sei säkularisiert oder noch nicht säkularisiert, besteht gerade im Zusammenleben der Einwohner. Gemeinsames Leben aber ist Gottes Wille, »wie im Himmel, so auf Erden« (vgl. Mt 6,10). Aus diesem göttlichen Grund bauen Menschen Stadt, Gesellschaft und Gemeinde, und zwar die Christengemeinde wie zugleich die Bürgergemeinde. Die Gemeinde zu bauen, ist nicht gegen Gottes Willen, sondern ist im Gegenteil gerade sein Wille und sogar seine Aufforderung. In diesem Sinne kann ausgerechnet die säkulare Stadt ein Bild der civitas Dei sein – doch sicher nur mit einer Einschränkung: Sie kann ein Bild der civitas Dei sein, aber nicht die civitas Dei selbst! Wir können eine Gemeinde bauen, aber nicht die civitas Dei selbst. Außerdem ist von Gewicht und zu berücksichtigen, dass die Stadt voller Bosheit und Sünde steckt, auch wenn sie mit gesetzlicher Ordnung, Mobilität und Ökonomie fast perfekt organisiert ist. Das Zusammenleben ohne Gott als treuem Gegenüber der Menschen ist kein Zusammenleben im wahren Sinne, weil es immer »befleckt« werden kann
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Ebd. Jüngel, Säkularisierung, 193 (Hervorhebung im Original).
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durch die Gier nach Macht, aus territorialer und ökonomischer Motivation wie auch um der Macht als solcher willen. Der zweite Grund und die zweite positive Antwort auf die Frage, warum die säkulare Stadt eine Art von analogia der civitas Dei zu sein vermag, ist, dass die Menschen, denen Gott sich zugewendet hat, gerade in der säkularen Stadt leben. Die Menschen, die Gott für das Zusammenleben im Himmel wie auf Erden zu seinen Partnern gemacht hat, diese Menschen können eine Art von analogia zur civitas Dei sein – nicht die Stadt selbst. Deshalb hat Karl Barth einmal den Menschen für das »Maß aller Dinge« in der Politik gehalten: »Die Christengemeinde lebt davon, dass Gott Mensch geworden ist. Darum ist für sie der Staat und das Recht um des Menschen willen, nicht aber der Mensch um des Staates und des Rechtes willen. Nachdem Gott Mensch geworden ist, soll politisch der Mensch das Maß aller Dinge werden.«14 Indem die Menschen vom Heiligen Geist zunächst gemeinsam vor der säkularen Stadt versammelt worden sind und dann durch Erneuerung ihres Sinnes (Röm 12,2) verändert wieder in die säkulare Stadt gesendet wurden, kann die säkulare Stadt als eine »Human-Stadt« zum Bild der civitas Dei werden. Wie lediglich im Wohnen und Leben versammelte Menschen noch keine Kirche bauen und darstellen, so kann eine lediglich durch das Zusammenleben von Menschen charakterisierte Stadt noch keine analogia der civitas Dei sein. Wenn Jesus Christus sagt, dass das Reich Gottes nicht hier und dort, sondern in euch ist, hat er damit nicht die Stadt als solche, sondern die Menschen gemeint, die auf das Reich Gottes hoffen (Lk 17,20f.). 3. Die Plausibilität der civitas Dei in der säkularisierten Stadt und die positive Interpretationsmöglichkeit der säkularen Stadt im Licht der civitas Dei Hier soll die zentrale Frage untersucht werden, wie die civitas Dei in der säkularisierten Stadt Plausibilität gewinnen kann, und welche positive Interpretationsmöglichkeit die säkulare Stadt im Licht der civitas Dei erhalten kann. Hier ist vor allem anderen an der Reihenfolge der Bearbeitung festzuhalten – der Reihenfolge von civitas Dei und dann der säkularen Stadt. Man muss sich zunächst ganz auf die civitas Dei fokussieren, um den Zustand der säkularen Stadt genau zu erkennen. Denn wenn man zunächst die säkulare Stadt betrachten und dann über die civitas Dei irgendwie spekulieren und reflektieren möchte, wird man gerade den wahren Zustand der säkularen Stadt nicht erkennen, geschweige denn den der civitas Dei.
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So nach Moltmann, Politische Theologie, 146.
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In diesem Zusammenhang hat Harvey Cox zu Recht auf die Möglichkeit eines positiven Verhältnisses von civitas Dei und säkularer Stadt hingewiesen, indem er unter Anlehnung an Überlegungen von Amos Wilder eine neue Interpretationsmöglichkeit des Reiches Gottes dargelegt hat.15 Um zu zeigen, dass »das Symbol der säkularen Stadt mit dem Symbol des Gottesreichs nicht kollidiert,16 gilt es, so Cox, drei Einwände zu widerlegen, »die bestreiten, daß in der säkularen Stadt die gleiche eschatologische Wirklichkeit wiederzuerkennen sei, die einmal durch den Gedanken des Gottesreichs ausgedrückt wurde. […]: 1. Während das Gottesreich Gottes alleinige Tat ist, ist die säkulare Stadt ein Werk des Menschen. 2. Während das Gottesreich Umkehr und Buße voraussetzt, bedarf es in der säkularen Stadt nur des Könnens und der Sachlichkeit. 3. Während das Reich Gottes über und jenseits der Geschichte steht (oder im Herzen des Gläubigen existiert), befindet sich die säkulare Stadt voll und ganz in dieser Welt.«17 Nach Wilder repräsentiert Jesus Christus das Reich Gottes in Person. Dann seien »die Elemente göttlicher Initiative und menschlicher Verantwortung im Kommen des Reichs unlösbar miteinander verbunden«,18 weil Jesus Christus wahrer Gott und zugleich wahrer Mensch ist. Jesus sei das Reich Gottes, und daher sei »das theologische Problem des Reiches ein christologisches, und die ganze Diskussion, ob es als göttlicher oder als menschlicher Akt« zu verstehen sei, müsse »im Vokabular der Person Jesu beantwortet werden. So werden die frühere menschenorientierte wie auch die spätere gottorientierte Reich-Gottes-Theologie in Frage gestellt.«19 Daher gilt nach Cox: »Das Reich Gottes, das sich auf das Leben des Jesu von Nazareth konzentriert, bleibt die klarste Darstellung der Partnerschaft von Gott und Mensch in der Geschichte.«20 Auch bezüglich des zweiten angeführten Einwandes greift Cox auf Amos Wilders Analyse des Gottesreiches zurück. Von der Kritik ausgehend, dass die Vorstellungen über die Buße heutzutage übermäßig moralisch gefärbt sind, weist Wilder darauf hin, dass Buße eigentlich »eine viel durchgreifendere und umfassendere Tat des Opfers bedeutet«.21 Die Buße bedeute also mehr als die Moral. Sie verlange etwas viel Wesentlicheres von dem Menschen. Wenn Wilders Recht habe, so Cox, dann kam das Reich in Jesus so, dass »Gott etwas völlig Neues tat und zugleich der Mensch frühere Werte und Loyalitäten ablegte und die neue Wirklichkeit
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Vgl. Cox (wie Anm. 3), 124–128. Cox bezieht sich hier auf Wilder, Eschatology. A.a.O., 124. A.a.O., 125. A.a.O., 126. Ebd. A.a.O., 127 Ebd.
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frei übernahm«.22 Nach Cox verlange das Leben in der heute entstandenen säkularen Stadt dieselbe Art der Umkehr: »Es verlangt in der Tat Buße.«23 Zuletzt geht Cox auf den dritten Einwand ein, dass das Reich Gottes jenseits oder über der Geschichte stehe, während sich die säkulare Stadt nur für die irdische Sache interessiere. Er zeigt, dass das Reich Gottes »in einem Prozess der Verwirklichung steht«.24 Daran macht er deutlich, dass die Frage, ob die Eschatologie futurisch oder präsentisch sei, falsch gestellt ist und somit der dritte Einspruch auch als ein positiv zu wertender erklärt werden kann. Freilich bleiben auch mit der Würdigung der Lösung von Harvey Cox immer einige Fragen unbeantwortet. An dieser Stelle sollten sie gestellt werden. So bleibt bezüglich Wilders Erklärung des ersten Einwandes immer noch folgende Frage ungelöst: Auch wenn das Reich Gottes die Person Jesus Christus ist und in ihm wahrer Gott und wahrer Mensch gekommen sind, verändert das nicht die Wahrheit, dass das Reich Gottes immer noch das Werk Gottes ist? Und die säkulare Stadt bleibt ebenfalls immer noch säkular – denn das Reich Gottes ist in Jesus Christus gekommen, nicht in die säkulare Stadt. Auch in Bezug auf Cox’ Erklärung des zweiten Einwands sollte eine weitere Frage gestellt werden: Cox ist zuzustimmen, dass die heutige Vorstellung von Buße ausgesprochen moralisch gefärbt ist, dass aber Buße eigentlich viel mehr als Moral bedeutet. Aber wie kann das Leben in der säkularen Stadt Buße verlangen, wie das Reich Gottes sie verlangt? Hat Cox nicht den Ernst der Sünde, die dem Leben in der säkularen Stadt immer noch innewohnt, auch wenn es etwas ganz Neues verlangt, übersehen? Buße verlangt nicht bloß ein Neues, sondern Rückkehr zu Gott. Und bezüglich Cox’ Erklärung des dritten Einspruchs sollte die Frage aufgeworfen werden, ob nicht an der dialektischen Spannung zwischen »schon jetzt« und »noch nicht« festgehalten werden muss, da diese nicht nur im Neuen Testament bezeugt ist, sondern ihr eine konstruktive Bedeutung für das Verstehen des Kommens des Reich Gottes zukommt? Denn ohne diese dialektische Spannung können alle Versuche, das Kommen des Reichs Gottes als einen »Prozess der Verwirklichung«25 zu verstehen, in eine Art von Fanatismus geraten. Wie können – dies als zutreffend unterstellt – die immer noch unbeantwortet gebliebenen Fragen theologisch richtig beantwortet werden? Antworten können meines Erachtens bei den Überlegungen von Karl Barth und Jürgen Moltmann gefunden werden. Denn das Reich Gottes ist ein Herrschaftsbegriff, wenn Jesus Christus sagt, dass das Reich Gottes nicht hier und dort, sondern in Euch ist (vgl. Lk 17,20f.). Von daher sollte nicht bloß der Begriff des Reiches Gottes, sondern dessen Wirklichkeit 22 23 24 25
Ebd. (Hervorhebung im Original). Ebd. A.a.O., 128. Ebd.
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ganz und gar unter dem Blickwinkel der Herrschaft Christi verstanden werden und somit die dialektische Spannung zwischen dem gekommenen Reich Gottes und dem kommenden Reich Gottes deutlich gewahrt bleiben. Diese Bewahrung der dialektischen Spannung hat Karl Barth in seiner Schrift »Christengemeinde und Bürgergemeinde« verdeutlicht, und zwar entsprechend der reformierten Lehre, wenn er sagt: »In der Bürgergemeinde sind Christen und Nichtchristen zusammen, jedoch regional, d.h. national begrenzt. In der Christengemeinde sind nur Glaubende zusammen, jedoch in ökumenischer Freiheit und Weite.«26 Moltmann formuliert daher folgendermaßen: Die Christengemeinde »hat also keine vom Reich Christi abstrahierte, eigengesetzlich begründete und sich auswirkende Existenz, sondern sie ist« – außerhalb der Kirche, aber nicht außerhalb des Herrschaftskreises Jesu Christi – »ein Exponent seines Reiches«.27 Mit der Würdigung der Vorstellung der Bürgergemeinde als der von Gott eingesetzten Gemeinschaft übernimmt Moltmann die dialektische Spannung zwischen der Bürgergemeinde und der Christengemeinde, und er bekräftigt sie, wenn er sagt: »Der Staat ist nicht das Reich Gottes. Er wird auch nicht zum Reich Gottes. Dennoch steht er auch unter der Verheißung des kommenden Reiches Gottes.«28 Moltmann positioniert sich also argumentativ kritisch gegen eine fehlleitende Vorstellung der Herrschaft Christi, indem er deutlich macht, dass »die Herrschaft Christi nicht derjenigen eines Königs gleicht, sondern die Herrschaft des Gekreuzigten ist, der nicht durch Übermacht, sondern durch seine Schwachheit siegt und durch sein stellvertretendes Leiden am Kreuz regiert«.29 Gerade diese von Moltmann beschriebene Bestimmung der Herrschaft Christi hat die Kraft, die Menschen tröstet, die sich (wegen der dunklen Seite oder wegen der bösen Macht der säkularen Stadt) als desorientiert und benachteiligt verstehen und sich auch um ihr Lebensrecht gebracht sehen. Sie kann eine wirkliche Hilfe für die Lösung der gerade in der säkularen Stadt begegnenden Frage nach dem Problem der Theodizee sein. Von daher stieß sie auf starke Resonanz gerade in den Städten, in denen besonders viele Arme, Verlorene, Schwache und Bedrohte wohnen, zum Beispiel in Südamerika, in den asiatischen Ländern und in Afrika. Zum Schluss soll die umgekehrte Fragehinsicht behandelt werden, wie die säkulare Stadt theologisch richtig beschrieben werden kann, damit sie ein ihrem ursprünglichen Zweck entsprechendes Bild wiedergewinnen oder gewinnen kann. Das stärkste Hindernis liegt dabei gerade in der »relativen Eigengesetzlichkeit« und Eigenverantwortlichkeit, die in der säkularen Stadt stets anzutreffen sind. Will die Stadt ihr ursprüngliches und himmlisches Bild wiedergewinnen, sollte sie vor allen Dingen lernen, gerade diese Eigengesetzlichkeit zu relativieren und bestenfalls beiseitezulegen. 26 27 28 29
So die Formulierung bei Moltmann (wie Anm. 16), 144. Ebd. A.a.O., 145. A.a.O., 150 (Hervorhebung im Original).
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Ein weiteres Hindernis bei der Wiederherstellung des himmlischen Bildes der säkularen Stadt besteht gerade im Bereich der Religion. In Deutschland gibt es die scherzhafte Formulierung, Sport sei Mord. Doch heutzutage kann man solche Scherze nicht mehr machen, denkt man an Fußballweltmeisterschaft samt Olympiade und die total von kapitalistischem Denken bestimmte Sportindustrie – die man sogar »Sportreligion« nennen könne. Denn so vielen Menschen widerfährt (wie es bei der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien zu beobachten ist) wegen des Sports die Vertreibung aus der eigenen Stadt, sogar unter Androhung von Waffengewalt. Die Fußballweltmeisterschaft ist tatsächlich eine moderne Ersatzreligion geworden. Sie ist eine spezifische Stadtreligion. Während sich sowohl Fanatiker als auch Bürger im Allgemeinen auf der ganzen Welt über die Fußballweltmeisterschaft freuen und sich dafür begeistern, sind andererseits viele arme Bürger (das ist die andere, dunkle Seite) vertrieben und sogar erschossen worden. Sie haben ihr Lebensfeld, ja ihr Lebensrecht verloren. Noch schlimmer ist, dass keiner der Beteiligten genau weiß, wie viele Menschen in diesem Zusammenhang von Polizeibeamten in Brasilien erschossen worden sind. Hätten wir uns darüber richtig informiert, dann hätte uns die Fußballweltmeisterschaft gar keine Freude gemacht. Woran liegt dieses Übersehen des Unglücks? Es liegt genau daran, dass die wahre Religion in der modernen Stadt von einer Ersatzreligion oder Scheinreligion ersetzt worden ist. Eine Ersatzreligion oder Scheinreligion ist (im Anschluss an die Theologie Barths) noch problematischer und gefährlicher als der Atheismus. Das war gerade der Hauptpunkt der Religionskritik Karl Barths, der zufolge Religion in den »Bereich der Versuche des Menschen [gehöre], sich vor einem eigensinnig und eigenmächtig entworfenen Bilde Gottes selber zu rechtfertigen und heiligen«.30 Von dort aus ist zu verstehen, warum Barth Religion schlechthin als Unglaube bestimmt hat.31 Warum hat Barth die Religion so negativ bewertet? Der Hauptgrund dafür liegt nicht darin, dass Religion selbst einen verwerflichen Charakter hätte. Man kann das daran erkennen, dass sich Barth hernach mit der wahren Religion befasst hat. Religion ist nach seiner Überzeugung insofern abzulehnen, ja böse, als sie vom Menschen »eigensinnig und eigenmächtig« entworfen ist und als Menschen versuchen, sich gerade durch diese Religion zu rechtfertigen und zu heiligen.32 4. Thesen anstelle eines Schlusswortes Aus allem Gesagten möchte ich anstelle des Schlusswortes einige Thesen zum Verhältnis von civitas Dei und säkularer Stadt formulieren: 30 31 32
Barth, Lehre, 304. Vgl. a.a.O., 324. A.a.O., 304.
Civitas Dei und die säkulare Stadt
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1. Die Reihenfolge von civitas Dei und säkularer Stadt kann theologisch niemals umgekehrt werden. Die säkulare Stadt soll im Licht der civitas Dei bewertet werden. Beide sind nicht äquivalent. Das gilt immer noch, auch wenn die säkulare Stadt heute neu interpretiert und höher bewertet wird als früher. Denn die säkulare Stadt selbst kann nie und nimmer Gottes Reich sein oder werden. 2. Die civitas Dei hat zwei Dimensionen, nämlich die himmlische und jenseitige im Unterschied zur irdischen und diesseitigen. Keine der beiden Dimensionen ist zu vernachlässigen. 3. Die beiden Dimensionen des Reiches Gottes stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern stellen eine konsequente Abfolge dar. Dies kann allerdings nur richtig verstanden werden, insofern das Reich Gottes christologisch verwirklicht und pneumatologisch praktiziert wird. Denn das Reich Gottes soll kommen »wie im Himmel, so auf Erden«, wenn es Gottes Wille ist, dass Gott mit dem Menschen gemeinsam lebt und wohnt. 4. Die civitas Dei ist die Krisis der säkularen Stadt und zugleich ihre Hoffnung oder ihr Halt. Alle Versuche, civitas Dei auf Erden geschichtlich und menschlich zu bauen, sind nicht nur gescheitert, sie können auch entgegen ihrer Intention zur Tyrannei geraten. 5. Erst unter den bisher genannten Voraussetzungen kann und soll die säkulare Stadt eine Entsprechung, ein Gleichnis oder ein Bild und eine Analogie zur civitatis Dei sein. 6. In Entsprechung zur civitas Dei soll die Christengemeinde gegenüber der Bürgergemeinde eine Zeugin der schon gekommenen civitas Dei und zugleich die Vorhut der Hoffnung auf das kommende Reich Gottes werden, indem sie Gastfreundschaft, christliche Bruderschaft und Offenheit sowohl gegenüber den Nächsten als auch gegenüber der ganzen Welt zeigt. 7. Die Christengemeinde soll sich selbst nicht als civitas Dei von der säkularen Stadt abgrenzen, sondern gegenüber derselben ein »Urbild« und »Vorbild« sein, indem sie immer an der Seite der Verlorenen steht, für die Jesus Christus gekommen ist. 8. Die säkulare Stadt soll ein Beispiel für die Realisierung der Herrschaft Christi sein können, indem sie alle Formen von Ersatzreligion oder Scheinreligion abwehrt und stattdessen wahre Religion schützt und fördert. 9. Die säkulare Stadt kann nun in Entsprechung zur civitas Dei einen Lebensraum für die Verlorenen, die zu Bürgern der civitas Dei erwählt worden sind, darstellen, indem sie fast alle Formen von Verheimlichung wie Geheimverwaltung oder Geheimpolitik beseitigt und stattdessen alle Sachverhalte der Öffentlichkeit transparent macht. 10. Das Verhältnis von civitas Dei und säkularer Stadt braucht kein exklusives zu sein, es sollte vielmehr ein inklusives sein. Allerdings nicht in der Weise, in der diese zu jener ein Äquivalent sein könnte, sondern so, dass jene immer ein Spiegel sein muss, in dem diese sich selbst betrachten und reflektieren kann. In dieser Weise kann die säkulare Stadt beispielhaft für die Herrschaft Christi sein.
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Seounggyu Park
Literatur Barth, Karl, Rechtfertigung und Recht / Christengemeinde und Bürgergemeinde / Evangelium und Gesetz, Zürich 1998 – Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, ZollikonZürich 51960. KD I/2 Bingel, Christian / Gutmann, Hans-Martin [u.a.] (Hg.), Theologie der Stadt. Zusammenleben als Fluch und Geschenk Gottes, Berlin 2010 Callahan, D. (ed.), The Secular City Debate, London 1966 Cox, Harvey, Stadt ohne Gott?, Berlin 41968 – The Secular City. Secularization and Urbanization in Theological Perspective, New York 1966 – Religion in the Secular City. Toward a Postmodern Theology, New York 1984 – The Future of Faith, New York 2009 – The Seduction of the Spirit. The Use and Misuse of People’s Religion, New York 1985 Ebner, Martin, Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen. Das Urchristentum in seiner Umwelt, Göttingen 2012 Grünberg, Wolfgang, [Art.] Stadt. III. Praktisch-theologisch, in: RGG4 7, Tübingen 2004, 1661f Jüngel, Eberhard, Säkularisierung – Theologische Anmerkungen zum Begriff einer weltlichen Welt, in: Heinz Horst Schrey (Hg.), Säkularisierung, Darmstadt 1981, 193–198 Moltmann, Jürgen, Politische Theologie – Politische Ethik, München/Mainz 1984 Wilder, Amos Niven, Eschatology an Ethics in the Teaching of Jesus, New York / London 1950
Abstract In this paper, the relationship between »civitas Dei« and the secular city, namely secularization, is to be theologically reflected. The »civitas Dei« can both mean a crisis for the secular city and its existence, if the connection between the two is properly portrayed. How can the plausibility of the theological conception of the civitas Dei be attained in a secular city in which the existence of a heavenly city is questioned and even negated? And conversely, the question is to be asked how the secular city can be theologically reflected. How can the different assessments of secularization be reasonably balanced? This question applies not only to the dogmatic explanation, but also to the plausibility of the proclamation of the gospel and its claim to truth in the secular city. From all that has been said here some theses on the relationship between civitas Dei and the secular city should be formulated.
Hyun-Jong Choi
Die Megacity und das Christentum Urbane Formen christlicher Gemeinschaft in Seoul
Das quantitative und qualitative Wachstum des Christentums in Südkorea hat die Aufmerksamkeit der Welt auf sich gezogen. Die protestantische Bevölkerung stieg von nur 1,1 % im Jahr 1914 auf 19,7 % im Jahr 2015. Der Anteil aller Christen insgesamt, das heißt unter Einschluss des Katholizismus, stieg noch deutlicher, nämlich auf 29,3 %. Zum Hintergrund dieses außerordentlichen Wachstums gehören die Industrialisierung und Urbanisierung seit den 1960er Jahren sowie der nachfolgende soziale Wandel. Allerdings bremsen Veränderungen in der Gesellschaft seit den späten 1980er Jahren das Wachstum des Protestantismus, vor allem in der Megacity Seoul. Vor diesem Hintergrund versuche ich, urbane Formen christlicher Gemeinschaft in Seoul zu analysieren. Erstens will ich die Entwicklung und die gegenwärtigen Umstände des Protestantismus in Korea vorstellen. Zweitens möchte ich die Situation von Seoul innerhalb der koreanischen Gesellschaft anhand einiger Statistiken verdeutlichen. Schließlich stelle ich zwei Formen urbaner christlicher Gemeinschaft in Seoul vor: zum einen die Megachurch, die dem Charakter von Seoul als einer Megacity entspricht und die den koreanischen Protestantismus in seiner Wachstumsphase widerspiegelt, zum anderen die small-group-Church, die eine Reaktion auf die Kultur von Megacity und Megachurch darstellt. 1. Das Christentum und die Religionen in Südkorea: der Zusammenhang mit der Urbanisierung1 In diesem Teil stelle ich die Lage des Christentums und der anderen Religionen in Südkorea im Zusammenhang mit der Urbanisierung dar, wobei ich einen Einschnitt beim Jahr 1985 mache. Die Wahl des Jahres 1985 hat einen praktischen Grund: Das ist das erste Jahr, in dem ein Zensus die Anteile der Religionen an der Bevölkerung erkundet hat. Überdies ist das Jahr 1985 auch eine bedeutende politische Zäsur: wegen der Entscheidung über die Wiedereinführung der direkten Wahl des Präsidenten (1987) sowie wegen der Ausrichtung der Olympischen Spiele in Seoul 1
Siehe Choi, Untersuchung, Kap. 1, zum näheren Verständnis der religiösen/christlichen Situation in Südkorea.
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Hyun-Jong Choi
(1988). In einem ersten Schritt skizziere ich, wie sich die Anteile der Religionen an der Bevölkerung nach 1985 verändert haben, wobei ich die offiziellen Statistiken zugrunde lege. Anschließend zeichne ich die Veränderung des christlichen Bevölkerungsanteils vor 1985 auf Grund anderer Statistiken nach. Zum Schluss stelle ich Überlegungen zur Ursache der Veränderungen vor und nach 1985 an. 1.1 Wandel der Religionszugehörigkeit der Bevölkerung seit 1985 Im Jahr 1985 wurde zum ersten Mal bei einem Zensus in Südkorea die Religionszugehörigkeit erfasst. Volkszählungen finden nun alle fünf Jahre statt, wobei aber die Religionszugehörigkeit nur alle zehn Jahre erhoben wird. Somit ist die Religionszugehörigkeit seither vier Mal erfasst worden.2 Die Ergebnisse des Zensus seit 1985 sind in Tabelle 1 dargestellt: Tabelle 1: Der Wandel der Religionszugehörigkeit zwischen 1985 und 2015 nach Angabe des Zensus Konfessionen
1985 Zahl
1995
Anteil (%)
Zahl
Buddhis8.059.624 19,9 10.321.012 ten Protes6.489.282 16,1 8.760.336 tanten Katholi1.865.397 4,6 2.950.730 ken Andere 788.993 2,0 565.746 Konf. Total 17.203.296 42,6 22.597.824
2015
2005
Anteil (%)
Zahl
Anteil (%)
23,2 10.726.463 22,9
7.619.000
15,5
19,7 8.616.438 18,3
9.676.000
19,7
6,6 5.146.147 11,0
3.890.000
7,9
369.000
0,8
50,7 24.970.766 53,3 21.554.000
43,9
1,3
Zahl
Anteil (%)
481.718
1,0
Tabelle 2: Regionale Verteilung der Konfessionen nach dem Zensus 2015 Land Seoul Incheon Gyeonggi-do Daejeon Sejong Chungcheongnam-do Chungcheongbuk-do 2
Buddhismus 10,8 8,8 10,7 14,0 13,8 13,8 16,4
Protestantismus 24,2 23,1 23,0 21,8 19,9 20,7 15,8
Katholizismus 10,7 9,5 9,0 7,4 7,9 6,2 7,4
Die beim Vortrag im Jahr 2014 vorliegenden Angaben wurden ergänzt (und entsprechend überarbeitet) aufgrund der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vorliegenden Angaben aus der Volkszählung 2015.
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Die Megacity und das Christentum Gangwon-do Daegu Gyeongsangbuk-do Busan Ulsan Gyeongsangnam-do Jeju-do Gwangju Jeollanam-do Jeollabuk-do Total
16,4 23,8 25,3 28,5 29,8 29,4 23,4 9,5 10,9 8,6 15,5
17,5 12,0 13,3 12,1 10,9 10,5 10,0 20,0 23,2 26,9 19,7
6,7 7,7 5,2 5,4 4,2 4,2 7,9 8,6 5,6 7,5 7,9
(Angaben in Prozent = Bevölkerung mit Konfessionsangehörigkeit / gesamte Bevölkerung in jeder Provinz)
Dieser Tabelle zufolge hat der Anteil der einer Religion angehörenden Menschen seit 1985 stetig zugenommen, aber in der Periode 2005–2015 abgenommen. Wenn man die einzelnen Konfessionen näher betrachtet, zeigt sich, dass es unterschiedliche Entwicklungen in den Perioden 1985– 2015 gibt. Die Zahl der Buddhisten nahm ab (-4,4 %), dagegen wiesen zwei andere Konfessionen Zuwächse auf, nämlich Protestanten (+3,6 %) und Katholiken (+3,3 %). Insbesondere ist der Anteil der Buddhisten in der Periode 2005–2015 erheblich gesunken (-7,3 %). Der Anteil der anderen Konfessionen (Konfuzianismus etc.) an der Gesamtbevölkerung ist auch rückläufig. Bei der regionalen Verteilung der drei Hauptkonfessionen sind deutliche Unterschiede zu erkennen. Nach Tabelle 2 hat der Buddhismus Schwerpunkte in Yeongnam3 und in Jeju. Vor allem die Anteile in Busan, Ulsan und Gyeongsangnam-do sind sehr hoch (rund 30 %). Im Gegensatz dazu ist der Buddhismus schwach in der Megacityregion Seoul (insbesondere Incheon)4 sowie in Honam (rund 10 %).5 Spiegelbildlich dazu ist der Protestantismus schwach in Yeongnam und Jeju, aber relativ stark in der Megacityregion Seoul (mehr als 20 %) sowie in Honam. Der Katholizismus ist im Vergleich zu den beiden anderen Hauptkonfessionen regional gleichmäßiger verteilt – mit einem Schwerpunkt in der Megacityregion Seoul und einer leichten Schwäche in Yeongnam.
3
Die Region Yeongnam liegt im Südost Südkoreas und umfasst die Provinzen bzw. Bezirke von Daegu, Busan, Ulsan, Gyeongsangbuk-do und Gyeongsangnam-do. 4 Die Megacityregion Seoul umfasst Seoul, Incheon und Gyeonggi-do. 5 Die Region Honam liegt im Südwesten Südkoreas und umfasst die Stadt Gwangju sowie die Provinzen Jeollabuk-do und Jeollanam-do.
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Hyun-Jong Choi
Tabelle 3: Wandel der Konfessionszugehörigkeit zwischen 1985 und 2005 in der Megacityregion Seoul Land
Buddhismus Protestantismus Katholizismus 1985 1995 2005 2015 1985 1995 2005 2015 1985 1995 2005 2015 18,4 18,4 16,8 10,8 23,8 26,2 22,8 24,2 6,5 8,7 14,2 10,7 13,4 14,6 13,8 8,8 21,8 25,8 22,4 23,1 7,5 9,0 13,7 9,5
Seoul Incheon Gyeonggi17,3 18,5 16,8 10,7 19,1 23,7 21,9 23,0 do Total 19,9 23,2 22,8 15,5 16,1 19,7 18,3 19,7
5,6
7,7 12,4
9,0
4,6
6,6 10,9
7,9
(Angaben in Prozent = Bevölkerung mit Konfessionsangehörigkeit / gesamte Bevölkerung in jeder Region)
Neben der regionalen Verteilung ist der Wandel in der Megacityregion Seoul bzw. in der engeren Stadt Seoul selbst bemerkenswert. Wie aus Tabelle 3 hervorgeht, liegt in der Stadt Seoul der Anteil der protestantischen (24,2 %) und katholischen (10,7 %) Bevölkerung über dem nationalen Durchschnitt, dagegen der Anteil der buddhistischen Bevölkerung (10,8 %) unter dem nationalen Durchschnitt. Die gleichen Bewegungen zeigen sich in der weiteren Megacityregion Seoul, das heißt in Incheon und Gyeonggi-do. Der Veränderung in der Megacityregion Seoul kommt allerdings ein größeres Gewicht zu, wenn man die Gesamtgröße der betroffenen Bevölkerung betrachtet (siehe Tabelle 5). 1.2 Der protestantische Bevölkerungswandel und Wachstumsfaktoren vor 1985 Um die gegenwärtigen Entwicklungen beim protestantischen Bevölkerungsanteil nach 1985 zu erklären, ist es auch notwendig, den Trend vor 1985 zu berücksichtigen. Es ist schon häufig darauf hingewiesen worden, dass der Protestantismus ein sehr dynamischer Faktor beim Religionswachstum vor 1985 war. Tabelle 4 und Abbildung 1 zeigen die Veränderungen des protestantischen Bevölkerungsanteils vor der Volkszählung.6 Die auffälligste Tatsache ist das außerordentliche Wachstum des Protestantismus in den 1960er und 1970er Jahren. Viele Studien befassen sich mit dem Wachstum des Protestantismus in Korea vor den 1960er Jahren, aber genau betrachtet war der protestantische Anteil an der Gesamtbevölkerung damals nicht besonders hoch. Vielmehr hängt das Wachstum des Protestantismus in Korea eng mit dem gesellschaftlichen Wandel seit den 1960er Jahren zusammen.7 6
Der verzeichnete Rückgang des protestantischen Bevölkerungsanteils im Jahr 1985 hat seine Ursache nicht im tatsächlichen Wachstum, sondern in der geringen Zuverlässigkeit der Quellen bis 1981. Er fußt nicht auf dem offiziellen amtlichen Bericht. 7 Daten vor 1985 haben eine geringe Verlässlichkeit. Die Abnahme zwischen 1981 und 1985 spiegelt nicht unbedingt einen tatsächlichen Rückgang des protestantischen
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Die Megacity und das Christentum
Worauf ist nun das Wachstum des südkoreanischen Protestantismus in den 1960er und 1970er Jahren zurückzuführen? Für das moderne Korea waren diese Jahre eine Zeit der Industrialisierung und des daraus folgenden raschen sozialen Wandels.8 Die Industrialisierung beschleunigte den Zusammenbruch des traditionalen Wertesystems. Aus Landflucht und Änderungen des Lebensstils resultierten soziale und psychologische Ängste. Ein neues Wertesystem und neue Netzwerke mussten aufgebaut werden, und der Protestantismus schien die Bedürfnisse der Stadtbewohner nach neuer Verwurzelung, nach neuer Gemeinschaft und nach neuer Identität zu erfüllen. Diese Entwicklung erinnert an den Aufschwung der Methodisten in England zur Zeit der englischen industriellen Revolution9 sowie an die Rolle der Pfingstbewegung im kulturellen und wirtschaftlichen Modernisierungsprozess vieler Länder, vor allem in Lateinamerika.10 Religionssoziologen wie zum Beispiel Steve Bruce bestätigen, dass in Zeiten raschen gesellschaftlichen Wandels außerordentliche religiöse Erneuerungen oder Aufschwünge auftreten können.11 Der Fall Südkoreas in den 1960er und 1970er Jahren ist auf eben solche Umstände zurückzuführen. Tabelle 4: Entwicklung des protestantischen Bevölkerungsanteils vor 1985 Jahr 1914 1919 1929 1938 1949 1957 1968 1970 1976 1981 1985
Zahl 196.000 190.000 244.000 263.000 744.000 844.000 1.873.000 3.193.000 4.659.000 7.637.000 6.489.282
Anteil (%) 1,2 1,1 1,3 1,1 3,7 3,7 6,0 10,1 13,0 19,8 16,1
Vergleich (1) 177.692 (1910) 190.668 (1920) 260.534 (1930) 360.689 (1940) 500.198 (1950) 623.072 (1960)
Vergleich (2) (%) 1,3 (1910) 1,2 (1920) 1,5 (1930) 1,6 (1940) 3,0 (1950) 5,0 (1960)
3.217.996 (1971) 5.001.491 (1977) 7.180.627 (1980)
7,0 (1970) 10,4 (1978)
* Inklusive der protestantischen Bevölkerung Nordkoreas bis 1938. * Quelle: Grayson, Buddhism, 126; Zensus: Ergebnis des Jahres 1985. Vergleich (1): Han, Wachstum, 200f (bis 1940); Lee, Verständnis, 565 (1950 und 1960); Kultur- und Presseministerium, Liste (1971, 1977, 1980). Vergleich (2): Kern, Wachstumswunder, 344. Bevölkerungsanteils wider, sondern kann auf Unterschiede zwischen den Datenquellen zurückzuführen sein. 8 Rho, Wachstum, 85–109; Rho, Situation, 11–40; Kim, Protestant. 9 Vgl. Halevy, Birth. 10 Huntington, Clash, 124–131; Martin, Tongues. 11 Bruce bezeichnet dieses Phänomen als »cultural transition« bzw. »cultural defense«, in dem Religion und nationale Identität eng zusammenhängen. Er bezeichnet diese zwei Phänomene als zwei Ausnahmen der Säkularisierung. Vgl. Bruce, God.
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Hyun-Jong Choi
Warum nahm nun in dieser Zeit des Wandels gerade der Protestantismus einen stärkeren Aufschwung als die anderen Konfessionen? Inoffiziellen Statistiken zufolge schienen auch Buddhismus und Katholizismus zu dieser Zeit zu wachsen,12 doch profitierte der Protestantismus in diesem Zeitraum mehr und deutlicher als andere Konfessionen. Zur Erklärung kann man auf viele Faktoren hinweisen. Einer davon dürfte die Vorbildfunktion der Vereinigten Staaten sein. Seit der Öffnung Koreas für Verkehr mit dem Ausland ist das moderne Bildungssystem des Landes nach dem Vorbild der USA ausgerichtet worden. Die koreanischen Eliten wuchsen in diesem Bildungssystem auf und standen insoweit unter dem Einfluss US-Amerikas und dessen Protestantismus. Die US-Militärverwaltung (1945–1948) und die Regierung Rhee Syngman (1948–1961) trugen nach der Befreiung von Japan und der Erlangung der Unabhängigkeit dazu bei, diese Einflüsse zu stärken. Für viele Koreaner in den 1960er und 1970er Jahren waren die USA mit ihrer exemplarischen protestantischen Kultur das ideale Entwicklungsziel. Der Protestantismus erschien daher als eine attraktive religiöse Alternative, besser als der traditionelle Buddhismus oder der europäische Katholizismus. Abbildung 1: Entwicklung des protestantischen Bevölkerungsanteils vor 1985
Es gibt ferner typische Eigenschaften des koreanischen Protestantismus, die sein schnelles Wachstum förderten. In der Zeit der Industrialisierung rückten wirtschaftliches Überleben und Erfolg an die Spitze der Werteskala. Der koreanische Protestantismus mit seiner Lehre vom »Bok«, was »Glück« oder »Segnung« bedeutet, bot in diesem Rahmen eine Ideologie des Überlebens und des Erfolgs an. Viele protestantische Führer lehrten die verunsicherten Koreaner, dass sie Glück und Erfolg hätten und überleben könnten, wenn sie an den Protestantismus oder das Dogma vom »Bok« glaubten. Außerdem bot der Protestantismus mit seiner typischen 12
Choi, Religiosität, 139ff.
Die Megacity und das Christentum
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Kleingruppen-Organisation (koreanisch »Guyeok«) Netzwerke für die ihrer Heimat entwurzelten Menschen an. Ein typisches Beispiel für diese Eigenschaften des koreanischen Protestantismus ist die Yoido Full Gospel Church. Zwar gibt es für den Aufschwung dieser Kirche auch noch andere Gründe, darunter das einzigartige Charisma von Dr. Cho, deren Pfarrer. Trotzdem wäre der phänomenale Aufschwung der Yoido Full Gospel Church nicht möglich gewesen, wenn es nicht die geschilderten sozioökonomischen Umstände gegeben hätte. Diese besonderen Umstände begannen sich nun seit der Mitte der 1980er Jahre zu ändern. Der mit der Industrialisierung und der Urbanisierung einhergehende gesellschaftliche Wandel verlangsamte sich, und viele Koreaner machten erstmals die Erfahrung eines Wohlstands im Kleinen. Hinzu kamen politische und sozialpolitische Faktoren. Nach einer Verfassungsänderung im Jahr 1987 war es möglich, den Präsidenten direkt zu wählen. Das trug zur politischen Stabilisierung bei. Erstmals wurden auch Maßnahmen öffentlicher Wohlfahrt umgesetzt. Nach der Änderung des sogenannten »Lebensschutzgesetzes« 1982 wurde 1986 eine staatliche Rentenversicherung beschlossen und 1988 in Kraft gesetzt. Dies sowie die Einführung einer Krankenversicherung für alle Staatsbürger 1989 schützte die Koreaner vor den gravierendsten Lebensrisiken. Zwar bot das Leben immer noch beträchtliche wirtschaftliche Unsicherheiten, doch waren sie geringer als zuvor. Damit wandelten sich auch die Bedürfnisse der Koreaner. Es ist wohl kein Zufall, dass in dieser Zeit das Wachstum des koreanischen Protestantismus nachzulassen begann. 2. Megacity Seoul Manche Leute sagen, dass die Republik Korea eigentlich die Republik Seoul sei, von solch hervorragender Bedeutung sind das Gewicht und der repräsentative Charakter von Seoul in Südkorea. Nach der Statistik von 2004 entfallen 48,9 % der Gesamtherstellung und 50,4 % der Dienstleistungen Südkoreas auf die Megacityregion Seoul. Die entsprechenden Zahlen für den engeren Stadtbereich Seoul sind 13,6 % (Produktion) und 28,8 % (Dienstleistungen).13 Im Jahr 2002 konzentrierten sich ferner 83,6 % der staatlichen Institutionen, 74,0 % der Staatsunternehmen und 72,9 % der Unternehmen mit Auslandsinvestitionen in dieser Region. Hinzu kamen noch 75,5 % der staatlich finanzierten Forschungseinrichtungen, 83,2 % der Firmenleitungen öffentlicher Unternehmen, 91,0 % der 100 größten Unternehmen und 77,1 % der Venture-Unternehmen.14 Man hat versucht, die Bedeutung Seouls mit immer neuen Metaphern zu umreißen. Es wurde gesagt, dass Seoul die »Hauptstraße« oder die »Kreu13 14
Kwon, Wandel, 132–137. Kwon, a.a.O., 364.
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Hyun-Jong Choi
zung« Südkoreas sei15 oder dass es wie ein schwarzes Loch die gesamte Energie Südkoreas aufsauge.16 Ein hoher Grad von Zentralisierung ist ein allgemeines Phänomen von Entwicklungsnationen,17 doch liegt im Fall von Seoul schon ein extremes Beispiel vor. Das führte zu Befunden, dass Seoul wegen seiner übermäßigen Ballung überhaupt keine eigene lokale Kultur habe oder dass allenfalls die Zentralität selbst der Kern der Kultur von Seoul sei.18 Die folgende Tabelle zeigt die Bevölkerungsentwicklung in der Megacityregion Seoul. Sudogwon (die Megacityregion Seoul) umfasst zwei Städte (Seoul und Incheon) sowie eine Provinz (Gyeonggi-do), zu der 28 Städte und drei Landkreise (koreanisch »Gun«) gehören. Die Megacityregion (MCR)19 bildet einen Wirtschaftsraum mit mehr als zehn Millionen Menschen, der sich als ein täglich funktional-verbundener Lebenskreis um die zentrale Stadt legt. Seoul, die zentrale Stadt von Sudogwon, ist seit 1394 die Hauptstadt Koreas und hat somit eine hauptstädtische Geschichte von über 600 Jahren. Derzeit liegt die Bevölkerung von Seoul bei 9,8 Millionen Menschen. Die Bevölkerung hat von 2004 bis 2010 noch etwas zugenommen, nimmt aber seit 2011 neuerdings ab.20 Tabelle 5: Bevölkerungsentwicklung in der Megacityregion Seoul (in Tausend Personen bzw. %) Seoul
Gyeonggi-do / Incheon Megacity Region Seoul
Jahr
Total
1949 1955
20.189 21.502
1.466 (7,2) 1.569 (7,3)
2.741 (13,6) 2.360 (11,0)
4.187 (20,7) 3.929 (18,3)
1966 1975
29.193 34.709
3.803 (13,0) 6.889 (19,8)
3.108 (10,6) 4.040 (11,6)
7.011 (24,0) 10.929 (31,5)
1985 1995 2005
40.467 44.609 47.254
9.646 (23,8) 10.231 (22,9) 9.796 (20,7)
4.794 (11,8) 7.650 (17,1) 10.419 (22,0)
14.440 (35,7) 20.189 (45,3) 22.742 (48,1)
2015
51.069
9.904 (19,4)
15.370 (30,1)
25.274 (49,5)
* Quelle: Kwon, Wandel, 73. Korean Statistical Information Service (www.kosis.kr). * Die Ausweitung der Stadt Seoul: 1949 (134,41→268,35 km2), 1963 (→613,04 km2). * 1974 Anfang der Gangnam Entwicklung. 1983–1985 Die Entwicklung von Mokdong / Sang-gye Gebiet. * 1992 Entwicklung von fünf neuen Städten: Bundang, Ilsan, Jungdong, Pyeongchon, Sanbon. 15 16 17 18 19 20
Kwon, a.a.O., 76–80. Song, Erzählung, 20. Laquian, Metropolis, 18. Song, Erzählung, 47. Dongailbo Miraejeonryak Institute, Megacity. http://stat.seoul.go.kr (Stand 23.04.2014).
Die Megacity und das Christentum
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Laut Herbert Girardet gehört Seoul zum »zweiten Rang der globalen Hierarchie der Städte« zusammen mit Hong Kong, Singapur, Taipei, Shanghai und Mumbai.21 Aprodicio A. Laquian zählt Seoul zu den technologisch fortschrittlichsten Städten in Ostasien mit folgenden Merkmalen:22 1. sehr niedriges Bevölkerungswachstum (0,02 % in Jahren 2000–2015); 2. relativ gut ausgebautes administratives und politisches System in einem stark urbanisierten Gebiet; 3. homogene, zum großen Teil in den formellen Sektor eingestellte Bevölkerung, sowie 4. Planungs- und Governance-Mechanismen, die grundlegende städtische Dienstleistungen adäquat erfüllen. Auch für Seoul gilt eine grundlegende Erfahrung anderer Megacities: Ihre Bewohner verlieren nach und nach die Erfahrungen von Gemeinsamkeit auf der Basis von Lokalität wie Religion, Regionalität, Ethnizität, Kultur etc. Stattdessen bilden sich virtuelle Gemeinden, deren Mitglieder miteinander über die Massenmedien zu »Diaspora-Netzwerken« verbunden sind.23 Die Megacity ist eine ständig sich verändernde hybride Gesellschaft, in der Identitätsmuster ständigem Wandel unterworfen sind. Traditionelle Rollen in Klasse, Geschlecht, Rasse sowie religiöse Bedürfnisse müssen im urbanen Kontext neu bestimmt werden.24 Etwas von diesen sozialen Veränderungen kommt zum Ausdruck in der Rede, dass es viele »Bewohner von Seoul« gibt, aber nur wenige »Seouler«.25 In diesem Kontext kann der Religion für Menschen eine bedeutende Rolle zufallen – als ein »neues Zentrum, das hält«.26 3. Zwei Formen urbaner christlicher Gemeinschaft in Seoul In den beiden ersten Abschnitten wurde der Wandel der konfessionellen Zugehörigkeit in Südkorea in den zurückliegenden Jahrzehnten betrachtet. Es wurden ferner einige Rahmenbedingungen vorgestellt, die diesen Wandel in Seoul bestimmt haben. Welche Formen und welche Charakteristik hat nun die christliche Gemeinschaft in der Megacity Seoul angenommen? Die Form, die am besten den Rahmenbedingungen der Megacity entspricht, ist einerseits die Megachurch. Andererseits hat sich auch 21
Girardet, Cities, 94. Nach Girardet gehören Tokyo, London und New York zum ersten Rang in der globalen Hierarchie der Städte. 22 Laquian, Metropolis, 24. 23 Girardet (2008), 94; Urban Planet: Collective Identities, Governance and Empowerment in Megacities www.irmgardconinxstiftung.de/fileadmin/user_upload/pdf/ urbanplanet/Urban_Planet_Background_Paper.pdf (Stand 24.04.2014). 24 Ebd. 25 Song, Erzählung, 43. 26 Bauman, Searching.
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eine Gegenbewegung gegen diese Hauptströmung von Megacity und Megachurch gezeigt: die Anti-Form der small-group-church. In diesem Abschnitt sollen nun diese beiden typischen Formen städtischer christlicher Gemeinschaft vorgestellt und näher betrachtet werden. 3.1 Die Megachurch Als »Megachurch« wird in der Regel eine Gemeinde bezeichnet, die mehr als 2.000 Teilnehmer am Gottesdienst hat. Im Falle Südkoreas gilt allerdings im Allgemeinen erst eine Gemeinde mit mehr als 10.000 registrierten Mitgliedern als Megachurch. Laut Hong können südkoreanische Megachurches in drei Typen unterteilt werden:27 Der erste Typ ist der traditionelle Typ, und zu diesem Typ gehören Yeongrak und Chunghyeon Church, die in den 1950er und 1960er Jahren nach dem koreanischen Bürgerkrieg ihr stärkstes Wachstum hatten. Sie repräsentieren die zwei größten Denominationen des koreanischen Protestantismus (YejangTonghap = Presbyterian Integration; Yejang-Hapdong = Presbyterian Vereinigung). Der zweite Typ ist der charismatische Typ, dazu gehören Yoido Full Gospel Church, Eunhyewa Jinri (Gnade und Wahrheit) Church, Incheon Full Gospel Church, Sungui Methodist Church, Geumran Church, Juan Presbyterian Church und Myeongseong Church. Dieser Typ hat seinen sozialen Hintergrund im starken wirtschaftlichen Wachstum Südkoreas seit den 1970er Jahren und gehört zur Pfingstbewegung oder teilt wichtige Eigenschaften mit der Pfingstbewegung. Der dritte Typ ist der Typ der Mittelklassen-Church. Hierzu gehören Somang Church, Gwangrim Church und Sarangui Church. Ihr Wachstum stand im Zusammenhang mit der Entwicklung der vergleichsweise wohlhabenden Gangnam-Region in Seoul seit den späten 1970er Jahren und kann mit der Zunahme der Mittelklasse in Seoul seit der Industrialisierung erklärt werden. Ihr stärkstes Wachstum erfolgte in den 1980er Jahren und war eher von der sogenannten »horizontalen Bewegung« geprägt, das heißt, diese Gemeinden bezogen ihre Mitglieder eher aus anderen Gemeinden als durch Bekehrung.28 Ein wichtiges Merkmal ihrer Mitglieder ist ihr sehr hohes Bildungsniveau.29 Tabelle 6 zeigt die Wachstumsperioden der wichtigsten Megachurches in Südkorea:
27 28 29
Hong, Mega-Churches, 44–75. Seo, Untersuchung. Im Fall der Somang Church beträgt der Anteil der Absolventen von High Schools mehr als 90 %; vgl. Hong, Encounter, 63.
Die Megacity und das Christentum
33
Tabelle 6: Die Wachstumszeit von Hauptmegachurches Südkoreas Zeit
Church
1950er Jahre 1960er Jahre 1970er Jahre* frühe 1980er Jahre späte 1980er Jahre frühe 1990er Jahre späte 1990er Jahre
Yeongrak Chunghyeon Yoido Full Gospel Gwangrim, Geumran, Sungui Methodist Somang, Sarangui, Juan Presbyterian, Eunhyewa Jinri Myeongseong, Incheon Full Gospel Onnuri
* Quelle: Hong, Mega-Churches, 50. * Die Quelle nennt als Zeit die 1960er Jahre, aber das scheint ein Irrtum zu sein; gemeint sind die 1970er Jahre.
Warren Bird stuft auf der Internetseite »Leadership Network«,30 die Informationen über Megachurches in der ganzen Welt gibt, die Megachurches Südkoreas aufgrund der Teilnahme am Gottesdienst an führender Stelle ein. Yoido Full Gospel Church, die die meisten Teilnehmer am Gottesdienst (480.000 Personen) hat,31 hat überwältigend mehr Besucher als die in der Liste von »Leadership Network« an zweiter Stelle stehende Deeper Christian Life Ministry in Nigeria sowie Mission Christiana Elim International in El Salvador (75.000 Personen). Danach stehen an vierter Stelle Onnuri Church (65.000 Personen), an der fünften Stelle Pyeonggang Jeil Presbyterian Church (60.000 Personen) und an der sechsten Stelle Eunhyewa Jinri Church (50.000 Personen),32 in der Stadt Anyang, ebenfalls in der Megacityregion Seoul gelegen. Insgesamt befinden sich vier koreanische Gemeinden unter den ersten zehn. Zu den genannten gibt es noch neun weitere Gemeinden mit mehr als 10.000 Mitgliedern in Seoul (Gwangrim 35.000; Sarangui 30.000; Manmin Juangang 25.000; Geumran 25.000; Myeongseong 24.000; Sungrak Baptist 23.000; Somang 22.000; Yeongrak 13.000; Chunghyeon 13.000) sowie vier Gemeinden in weiteren Städten der Megacityregion Seoul (Suwon Jungang in Suwon 30.000; Sungui Methodist in Incheon 20.000; Juan Presbyterian in Incheon 20.000; Incheon Full Gospel in Incheon 11.000). Das sind insgesamt 17 Megachurches einschließlich der vier in den »Top 10«. Von James B. Twitchell stammt die Bemerkung, dass die Religion den Ruf Gottes verkündet, aber gleichzeitig eher den Endverbraucher fokussiert. Viele protestantische Geistliche warnen in ihrer Botschaft vor Gier, Reichtum und unbegrenztem Wettbewerb, verbinden aber in Wirklich30 31
http://leadnet.org/ (Stand 23.04.2014). Die aktuelle Besucherzahl der Yoido Full Gospel Church liegt nach inoffiziellen Berichten von Insidern deutlich unter dieser Anzahl, das heißt zwischen 150.000 und 180.000 Personen. Allerdings wird mit dieser Anzahl noch die erste Position gehalten. 32 Auf der Seite erscheint der frühere Name, also: Nambu Full Gospel Church.
34
Hyun-Jong Choi
keit ihr geistliches Wirken sehr geschickt mit ihrem Vorteil in einer marktorientierten Wirtschaft. Die Megachurches sind typisch für solch eine Verbindung. Twitchell nennt die Megachurch eine seltsame Verschmelzung von Marketing, Migration, Bedürfnissen der Verbraucher, Unterhaltungswirtschaft, der alten Begierden nach Epiphanie und von Mitläufereffekten.33 Die Megachurches machen sich die Vorteile und Effizienz von Großbetrieben zunutze. Und bei der Entscheidung für eine Megachurch mag auch der Gesichtspunkt eine Rolle spielen, dass ausgedehnte Shoppingtouren im Viertel rund um die Kirche oder zumindest Schaufensterbummel möglich sind. Religiöse Angebote sowie Dienstleistungen in der modernen Gesellschaft unterscheiden sich nicht unbedingt voneinander, vor allem in der Megacity. Von daher erklärt sich die starke Konkurrenz auf dem Markt sowie die Markendifferenzierung von Gemeinden oder Denominationen. Wenn sich nämlich die inhärenten Werte von Konsumgütern an sich nicht voneinander unterscheiden, dann muss man Fiktionen aufbauen, z.B. Marken (brand).34 Die Markenbildung der südkoreanischen Megachurches folgt einer »Unterscheidungsstrategie«, die ihren Mitgliedern eine Art von Klassenzugehörigkeit gibt. Hinzu kommt die psychologische Entlastung, die der schwache Einzelmensch in der Megacity spürt, wenn er sich zu einer größeren Organisation zugehörig fühlen kann.35 Richard Cimino und Don Lattin sind der Auffassung, dass das Phänomen Megachurch eine Mischung aus Konsumerismus, Eklektizismus und Konservatismus ist.36 Ihnen zufolge leistet die Megachurch einen markt- und verbraucherorientierten Dienst; sie richtet ihr Angebot an den Bedürfnissen der Verbraucher aus und operiert nach betriebswirtschaftlichen Kriterien. Daraus folgt, dass die Bedürfnisse der potentiellen Konsumenten Priorität im Rahmen der Institution Kirche haben und dass sich die Seelsorge der Megachurch flexibel nach dem Segment der Zielgruppe in der Bevölkerung und ihrem Lebensstil richtet. Dabei reicht der Einzugsbereich der Kirchen über den Rahmen der lokalen Nachbarschaft hinaus. Sie wirkt eher regional als lokal, und dies ist möglich, weil die Megacity ihren Bewohnern ein hohes Maß an Mobilität – auch in sozialer Hinsicht – bietet. Das eigene Fahrzeug erlaubt den Gemeindegliedern, in kurzer Zeit und mit geringen Kosten in eine Kirche ihrer Wahl zu fahren. Damit ersetzt die lockere, flexible, allerdings auch unpersönliche Seelsorge der Megachurch mit ihrer großbetrieblichen Effektivität die engen, traditionellen und gemeinschaftlichen Seelsorgeformen der kleinen Stadt.
33 34 35 36
Twitchell, Nation, 80. Twitchell, a.a.O., 70–72. Jeon, Psychoanalyse, 318. Cimino/Lattin, Shopping, 56.
Die Megacity und das Christentum
35
Wenn man die moderne Religion als Dienstleistung auffasst, dann steht sie nach der Auffassung von Os Guinness vor zwei Alternativen: Entweder schlägt sie einen charismatischen Weg ein, oder sie verbessert ihr Angebot mit Hilfe wissenschaftlicher Instrumente und Erkenntnisse (von Behavior Science).37 Die Megachurches in Südkorea scheinen diese zwei Verfahren zu mischen. Hong stellt fest, dass sie einerseits nach Kriterien betriebswirtschaftlicher Effizienz operieren, bürokratisch organisiert sind und Multimediainstrumente zur Hebung der Spiritualität einsetzen. Andererseits bauen sie auf eindeutige charismatische Führung und auf die Dynamik religiöser Erfahrungen.38 Es scheint eine ambivalente Haltung für und gegen die Moderne in diesen Kirchen auf. Das ist freilich eine Ambivalenz, die nicht nur für koreanische Megachurches typisch ist, sondern allgemein im modernen Fundamentalismus erscheint. In den USA sind es christlich-konservative Gruppen und TV-Evangelisten, die Massenmedien am effektivsten nutzen, und auch fundamentalistische islamische Organisationen nutzen moderne Technologien wie z.B. den TVSender Al Jazeera. 3.2 Die small-group-church Die Megachurch mit ihrem großbetrieblichen Management ist nicht die einzig mögliche Form christlicher Gemeinschaft in der Megacity. Das Bedürfnis nach religiöser Gemeinschaft und persönlichem Ausdruck findet auch andere Formen der Erfüllung. Vor allem Personen mit höherer Ausbildung und höherem sozioökonomischem Status suchen Alternativen.39 Sie schätzen die Abhängigkeit von charismatischen Führern nicht, die ein wichtiges Merkmal koreanischer Megachurches ist. Die neue Gemeinschaft an Stelle der verlorenen traditionalen Familie, Nachbarschaft und Gemeinde finden sie eher in der small-group-church. Sie suchen einen neuen Ausgleich zwischen Spiritualität, Gemeinschaft und Individualismus. Und doch: Obwohl sie das verbraucherorientierte Modell der religiösen Dienstleistung in den Megachurches ablehnen, können auch diese small-group-churches eine Mischform von Konsumerismus, Individualismus und megastädtischer Sehnsucht nach Gemeinschaftlichkeit und Intimität sein. Es gibt, so hat Ha beobachtet, Menschen, die mit den maßgeschneiderten Programmen, der gut eingerichteten Organisation und der MultiMedia-Technologie der Megachurches nicht mehr zufrieden sind und zu den Kernmitgliedern der small-group-church werden.40 Zur Erklärung dieses Phänomens zieht er das Konzept des Tribalismus von Michel Maffesoli heran: Es geht um die »puissance« des Zusammenseins gegen den 37 38 39 40
Guinness, Dining, 13. Hong, Encounter, 242. Cimino/Lattin, Shopping, 79. Ha, Small, 88.
36
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»pouvoir« der Institutionen, um religiösen Geist und Lokalismus, um »Intension« statt »Ex-tension«.41 Diese small-group-churches haben im Allgemeinen kein eigenes Gebäude. Stattdessen finden sie sich an säkularen Orten zusammen: in Cafés, Restaurants, Hörsälen, Theatern und Gemeindezentren. Ha zufolge versuchen sie nicht, ihren eigenen Platz in der Stadt zu bauen, sondern mischen sich in (among) die städtische Umwelt.42 Sie folgen kreativ der sich rasch ändernden kulturellen Situation in der Megacity und wollen eher eine religiöse und kulturelle Bewegung sein als nur eine church. In diesem Zusammenhang bezeichnen sie sich als einen neuen »Wind«.43 Dabei bevorzugen sie horizontale Formen der Führung im Gegensatz zu den Megachurches, wo die Leiter eher als CEOs oder Vorsitzende eines großen Unternehmens auftreten. Die fortschrittliche Technologie unterstützt die Bildung solcher smallgroup-churches. Ihre Mitglieder nutzen die Telekommunikation, um die interne Kohäsion zu stärken. Sie, wie übrigens auch die Mitglieder der Megachurch, müssen sich nicht mehr unbedingt physisch an einem bestimmten Ort treffen. Die Telekommunikation erlaubt Verbindungen über Entfernungen hinweg. Auf diese Weise können die Gruppenmitglieder ein nachhaltiges Netzwerk im Raum der Megacity aufbauen. Über Facebook oder Twitter tauschen sie Informationen über ihre Kirche aus, und über Kakaotalk44 können sie sogar Echtzeit-Gebetstreffen in onlineForm durchführen. Sie sagen, dass die Gemeinde Gottes nicht auf das Kirchengebäude begrenzt sei, sondern dass sie überall sei, wo Gemeindeglieder sind. Sie nennen das »die Kirche ohne Wände«. 3.3 Die christliche Gemeinschaft und Lokalität in der Megacity Das Wachstum des Protestantismus in Südkorea im Allgemeinen und in der Megacityregion Seoul im Besonderen muss also vor dem Hintergrund der Industrialisierung, der Urbanisierung und der damit verbundenen Binnenwanderung (internal migration) gesehen werden. Und auch die zu beobachtenden Veränderungen der städtischen Religiosität hängen mit dem Fortschreiten der Industrialisierung und Urbanisierung sowie mit der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung zusammen. Was verbindet nun die zwei Formen der christlichen Gemeinschaft in Seoul, die oben in Abschnitt 1 und 2 von Kapitel 3 beschrieben wurden? Das ist ein wichtiges Thema, das am Schluss dieses Kapitels betrachtet werden soll.
41 42 43 44
Ebd., 88. Ha, a.a.O., 89. Ha, a.a.O., 92. Ein beliebter kostenloser Handy-Messaging-Dienst in Südkorea.
37
Die Megacity und das Christentum
Tabelle 7: Die regionale Verteilung und die genutzten Verkehrsmittel von Megachurch-Mitgliedern in der MCR Seoul Gemeinde
A
B
C
Ort
Seocho, Seoul
Mapo, Seoul
Jung, Seoul
Dong (Nachbarschaft) Wohnort von Mit- Gu (Bezirk) gliedern Stadt (%) andere Stadt zu Fuß Verkehrs- öffentliche Verkehrsmittel mittel (%) Auto andere
D Seongdong, Seoul
0,2
7,3
1,2
15,2
9,9
12,5
44,8
55,2
72,6
26,0
39,8
27,6
13,7
11,0
10,0
8,0
13,4
27,0
57,5
65,2
45,4
10,0
23,5
26,9
39,8
53,0
0,0
0,0
1,4
10,0
63,0
Im 2. Kapitel ist bereits die These Girardets erwähnt worden, dass in der Megacity die gemeinsamen Erfahrungen in lokalem Rahmen verlorengehen und sich stattdessen mit Hilfe von Massenmedien virtuelle Gemeinden mit »Diaspora-Netzwerken« bilden können. In diesem Abschnitt sollen die Veränderungen der lokalen Bezüge der christlichen Gemeinschaften in der Megacity anhand einiger empirischer Daten betrachtet und mit Hilfe des Konzepts vom »Raum der Ströme« (space of flows)45 von Manuel Castells interpretiert werden. Traditionell war die Kirche in einer örtlichen Gemeinde verankert, und auch die Kirchen in einer bestimmten Region hatten spezifische Lokaleigenschaften. Nun zerstört jedoch der hybride Charakter der Stadt regionale Besonderheiten, und die Kirche wird von der Region unabhängig. Das gilt für die Stadt an sich, aber mehr noch für die Megacity. In diesem Abschnitt wird anhand von empirischen Daten über die Verteilung der Wohnsitze von Gemeindegliedern der Verlust der Lokalität in der christlichen Gemeinschaft illustriert. Meine Hypothese ist, dass der Wohnsitz von Kirchenmitgliedern in der Megacity nicht dem Sitz der Kirche entspricht, und dass es diese Diskrepanz in der städtischen christlichen Gemeinschaft ist, die ihre Lokalität zerstört.
45
Castells, Rise, vor allem Kap. 6.
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Tabelle 8: Die regionale Verteilung und die genutzten Verkehrsmittel von small-group-church-Mitgliedern in der MCR Seoul Gemeinde
A Gangnam, Seoul
Ort Dong (Nachbarschaft) Wohnort Gu (Bezirk) von Mitgliedern Stadt (%) andere Stadt
Verkehrsmittel (%)
13,0
B Mapo, Seoul 3,2
C D Seongbuk, Nam, Seoul Incheon 0,0
10,3
21,7
3,2
13,0
23,1
26,1
58,1
72,0
61,5
39,1
35,5
15,0
5,1
7,4
6,5
9,5
11,7
85,2
87,1
66,6
27,3
Auto
7,4
6,5
23,8
61,0
andere
0,0
0,0
0,0
0,0
zu Fuß öffentliche Verkehrsmittel
Tabelle 7 und 8 zeigen die regionale Verteilung und die Nutzung von Verkehrsmitteln durch Mitglieder von Megachurches und small-groupchurches.46 Zur Messung der regionalen Verteilung wird der Sitz der Kirche betrachtet und danach gefragt, welcher Anteil der Gemeindeglieder im gleichen Dong (Nachbarschaft) wohnt, ebenso im gleichen Gu (Bezirk) bzw. in der gleichen Stadt wie die Kirche.47 Die Tabellen zeigen, dass der Anteil der im gleichen Dong wie die Kirche wohnenden Mitglieder, wo traditionelle lokale Bezüge hoch sind, zwischen 0,0 % und 13,0 % liegt. Das ist nicht viel. Auch der Anteil der im gleichen Bezirk wie die Kirche wohnenden Gemeindeglieder liegt unter 50 % (mit Ausnahme der Megachurch D.). Der Anteil der in anderen Städten wohnenden Mitglieder liegt in der Megachurch A und der small-group-church A bei ungefähr 40 %; auch dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass gemeinsame Lokalität kein bedeutender Faktor der christlichen Gemeinschaft in der Megacity mehr ist. Aus den Daten ist zu schließen, dass einerseits ein Umzug der Mitglieder nicht mehr unbedingt einen Kirchenwechsel nach sich zieht und andererseits die Suche nach einer geeigneten Kirche über den früher bestimmenden lokalen Rahmen hinausgeht. Die Entwicklung der Verkehrsmittel ist grundlegende Voraussetzung für diese Veränderungen in der Megacity. Dazu gehören insbesondere der Ausbau des U- und S-Bahn-Netzes und die Verbreitung der mit dem Auto einhergehenden kulturellen Veränderungen. In allen untersuchten Fäl46
Weil Kirchen in Südkorea ihre innere Verfassung nicht offenlegen wollen, erscheint der Kirchenname in der Tabelle nur anonymisiert als Buchstabe des Alphabets. 47 Im Falle der Megachurch D wird nur der Gesamtanteil von Dong und Gu angezeigt, weil das Dong nicht angegeben oder eine andere Adresse angegeben wurde, aus der das Dong nicht hervorgeht.
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39
len mit Ausnahme der Megachurch D entspricht die Nutzung des eigenen Autos nicht den Erwartungen. Der Grund dafür liegt entweder im Führungsprinzip des Pastors (Megachurch B) oder den Verkehrs- und Parkschwierigkeiten (Megachurch A, C). Bei den small-group-churches ist der Nutzungsanteil der öffentlichen Verkehrsmittel höher als bei den Megachurches. Der Grund dafür dürfte sein, dass die Kirchenmitglieder vergleichsweise jung und daher noch nicht in der Lage sind, ein eigenes Auto zu erwerben. Der Raum der Stadt wird auf neue Weise genutzt. Castells hat dazu (wie bereits erwähnt) die Diagnose aufgestellt, dass die moderne Stadt sich vom »Raum der Plätze« (space of places) zum »Raum der Ströme« verändere. Während im »Raum der Plätze« die lokale Eigenschaft des Raums bedeutend ist (wo etwas liegt), tritt im »Raum der Ströme« das Attribut der Verbindbarkeit in den Vordergrund (wie oder womit ist etwas verbunden). Damit richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Vernetzung durch Verkehrs- oder Kommunikationssysteme in der modernen Stadt, ein Attribut, das die bestehenden Lokalitäten erweitert oder im Extremfall sogar zu zerstören droht. Die oben aufgeführten empirischen Befunde scheinen das Konzept vom »Raum der Ströme« im Bereich der religiösen Gemeindebildung zu stützen, wenn auch vielleicht nicht ganz so akzentuiert, wie das in dem von Castells vorgeschlagenen Konzept in wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereichen der Fall ist. Ein Grund dafür dürfte sein, dass die Mitglieder von traditionellen Gemeinden bzw. Megachurches von den modernen Informations- und Kommunikationstechnologien noch nicht so regen Gebrauch machen. Das ist anders bei den small-group-churches, die relativ jung sind und Informations- und Kommunikationstechnologien aktiv nutzen. Sie sind tatsächlich in der Lage, die räumlichen Trennungen bei der Bildung ihrer Netzwerke zu überwinden. 4. Schluss In diesem Aufsatz werden Formen urbaner christlicher Gemeinschaft in der Megacityregion Seoul seit den 1960er Jahren und ihre religionssoziologische Bedeutung untersucht. Der Ausgangspunkt der Untersuchung war die Feststellung, dass der protestantische Bevölkerungsanteil in der Megacityregion Seoul seit 1995 stagniert, während der katholische Anteil wächst. Diese Entwicklung akzentuiert die weitere Feststellung, dass das Wachstum des Protestantismus in Südkorea seit den 1960er Jahren offenbar in engem Zusammenhang mit den Prozessen von Industrialisierung, Urbanisierung und daraus folgenden sozialen Veränderungen stand. In dieser Phase spielte die Vorbildfunktion der Vereinigten Staaten und des dortigen Protestantismus eine wichtige Rolle. In dem Maße, wie die
40
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sozialen Verhältnisse sich seit den 1990er Jahren stabilisierten, verringerte sich auch das Wachstum des Protestantismus.48 Die Megachurch ist die repräsentative Form des südkoreanischen Protestantismus in seiner Wachstumszeit, das heißt in den Jahren von 1960 bis 1990. Man kann die Megachurches anhand der Merkmale von Wachstumszeit und Mitgliederzusammensetzung in drei Typen unterteilen: 1. traditioneller, 2. charismatischer und 3. Mittelklassetyp. Allen drei Typen gemeinsam ist ihre Orientierung auf den Verbraucher und ihre marktwirtschaftliche Effizienz. Sie bedienen das Bedürfnis nach Sicherheit durch Zugehörigkeit zu einer größeren Gruppe sowie Führung durch traditionelle charismatische Persönlichkeiten. Gegen Megachurches, die immer noch die Hauptströmung des Protestantismus in der Megacityregion Seoul darstellen, tritt eine neue Form religiöser Praxis auf: kleine Gemeinschaften, deren Mitglieder aus der Mittel- oder Oberschicht stammen. Ihnen gemeinsam ist ein hoher Stand der Ausbildung und eine geringere Abhängigkeit von ihrem Pastor, als das in der Megachurch der Fall ist. Dieses Phänomen kann als »Tribalismus« im Sinne Maffesolis angesehen werden. Das soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die small-group-churches eine Distinktionsstrategie darstellen, durch die der Verbraucher sich von anderen Kirchen, vor allem Megachurches, zu unterscheiden sucht. Gemeinsam ist den Megachurches und den small-group-churches ferner das Merkmal der Zerstörung bzw. Entgrenzung von Lokalität. Die vorliegenden Daten zeigen deutlich an, dass die Kirchengemeinde nicht mehr durch gemeinsame Erfahrungen in einem lokalen Lebensraum geprägt ist. Diese Situation entspricht in gewissem Maße der Charakteristik der Megacity, wenn man sie mit Castells als »Raum der Ströme« ansieht. Die Unterschiede zwischen den Megachurches und den small-groupchurches beim Gebrauch von Informations- und Kommunikationssystemen im religiösen Bereich dürften allerdings nicht zufällig sein, zumal sie mit dem Alter der Mitglieder korrelieren. Den vergleichsweise älteren Mitgliedern der Megachurches sind Internet und Smartphone noch nicht so geläufig. Das verhindert die Netzwerkbildung über diese Technologien. Im Gegensatz dazu nutzen die aus jüngeren Mitgliedern bestehenden small-group-churches diese Kommunikationsmittel routiniert, um räumliche Grenzen zu überwinden. Wie der weitere Weg der christlichen Gemeinschaft im städtischen Raum der Megacity aussieht, ist jetzt noch nicht deutlich absehbar. Man kann jedoch sagen, dass die Ortsgebundenheit der traditionalen Kirchengemeinde an Bedeutung verlieren wird. Zwar gibt es auch im modernen urbanen Raum noch Kirchengemeinden, die in ihrem lokalen Umkreis Seelsorge entfalten. Soweit es ihnen gelingt, eine eigene Identität zu entwickeln, können sie sich der Entwicklung der Stadt zum »Raum der 48
Choi, Untersuchung, Kap. 3, in Bezug auf das Wachstum des Katholizismus seit den 1990er Jahren.
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41
Ströme« widersetzen.49 Wenn man allerdings die städtische Lebenssituation in Betracht zieht, die unter dem Einfluss ganz anderer Faktoren als der Lokalität steht, dann stellt sich die Frage, ob die Orientierung am lokalen Lebensumfeld für manche Kirchengemeinden allenfalls eine Nische bildet, während die Hauptströmung in andere Richtungen geht. Welche Folgen die Überwindung des lokalen Raumes durch den weiteren Fortschritt von Transport- und Kommunikationsmitteln für die christliche Gemeinschaft mit sich bringt, das wird ohne Zweifel ein religionssoziologisch und theologisch bedeutendes Thema bleiben.
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In diesem Sinne ist die small-group-church als Quelle »resistenter Identität« eine andere Form der »Unterscheidungsstrategie« als die Megachurch.
42
Hyun-Jong Choi
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Abstract The quantitative and qualitative growth of Christianity in South Korea has attracted the attention of the world. The Protestant population rose from just 1.1 % in 1914 to 19.7 % in 2015. In the background of this extraordinary growth has been the rapid industrialization and urbanization since the 1960s and the subsequent social change. Against this background, I will attempt to analyze urban forms of Christian community in the Megacity Seoul. I will introduce two forms of urban Christian community in Seoul: 1) the megachurch, which corresponds to the characteristic of Seoul as a megacity and Korean Protestantism in its growth phase, and 2) the small-group-church, which reflects a counter-cultural view against the Megacity and Megachurch. Furthermore, the change of locality is explored as a common feature of both Megachurches and smallgroup-churches in the modern Megacity.
Ruth Conrad
»Stadt und Religion« Eine praktisch-theologische Response
Folgende Überlegungen haben die Funktion, die Beiträge von Seounggyu Park und Hyung-Jong Choi1 in den Horizont der deutschsprachigen Praktischen Theologie einzuzeichnen und die unterschiedlichen Perspektiven miteinander ins Gespräch zu bringen. Die Beobachtungen werden in fünf Abschnitten dargestellt: In einem ersten Schritt werde ich zwei Einschränkungen skizzieren, die sich durch die Fokussierung auf die »deutschsprachige Praktische Theologie« ergeben. Zweitens werde ich den oft postulierten kausalen Zusammenhang von Urbanisierung und Säkularisierung in den inhaltlichen Horizont der Response einzeichnen. Im dritten und vierten Schritt sollen die in den beiden Beiträgen vorgestellten Überlegungen unter der doppelten Frage – »wie die Stadt Religion prägt« und wie »Religion die Stadt prägt« – diskutiert und auf den hiesigen Kontext bezogen werden. Eine zusammenfassende Beobachtung zur Aufgabe einer praktisch-theologischen Theorie der Stadt beschließt diese Response. 1. Religion und Stadt in der deutschsprachigen Praktischen Theologie – zwei einschränkende Beobachtungen Mit dem Stichwort der »deutschsprachigen Praktischen Theologie« ist die Voraussetzung der folgenden Beobachtungen und Überlegungen genannt – sie sind auf den deutschsprachigen Kontext bezogen, und sie verstehen sich ausdrücklich als praktisch-theologische. Aus diesen beiden Bezugspunkten leiten sich zunächst zwei Einschränkungen bezüglich der gestellten Aufgabe und deren Perspektivierung ab. Diese Einschränkungen markieren ein methodisches und inhaltliches Grenzbewusstsein. Erstens ist nämlich zu fragen, was die Rede von der »Stadt« eigentlich bezeichnet, und zweitens ist die in mancherlei Hinsicht doch spezifische Gestalt der religiös-kirchlichen Situation in Deutschland zumindest kurz in den Blick zu nehmen. 1
Vgl. die Beiträge in diesem Band von Seounggyu Park, Civitas Dei und die säkulare Stadt, sowie von Hyun-Jong Choi, Die Megacity und das Christentum: Urbane Formen christlicher Gemeinschaft in Seoul.
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Ruth Conrad
Zum Ersten: Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von »Stadt« sprechen? Offensichtlich ist nicht selbstredend klar, was eine »Stadt« ist, denn zu groß sind hier die globalen, aber auch die regionalen Differenzen.2 Das gilt besonders für die sogenannten Mega-Cities.3 Von solchen spricht man bei einer Einwohner*innenzahl von mehr als zehn Millionen Menschen. Eine entsprechend verdichtete Bevölkerungszahl lässt sich in Deutschland gegenwärtig ausschließlich für die sogenannte MetropolRegion Rhein-Ruhr ausmachen. Dabei findet dann auch der – nicht unumstrittene – Begriff der »Metropol-Region« Verwendung. Gelegentlich spricht man zur Vergleichbarkeit von Mega-Cities und Metropol-Regionen im Hinblick auf den gesamten Agglomerationsraum auch von »megaurbanen Räumen«. Die Metropol-Region Rhein-Ruhr weist für das Jahr 2013 knapp 10 Millionen Einwohner*innen aus, liegt also in dem interessierenden Volumen, umfasst aber als eine polyzentrische Städtelandschaft die Städte Köln, Düsseldorf, Dortmund, Essen, Duisburg, Bochum, Wuppertal, Gelsenkirchen, Mönchengladbach, Krefeld, Oberhausen, Hagen und Hamm. Zugleich weist die Metropol-Region Rhein-Ruhr als einzige in Deutschland die für mega-urbane Räume kennzeichnende hohe Bevölkerungskonzentration auf, leben hier doch 1.401 Einwohner*innen pro Quadratkilometer. Zum Vergleich – in der »Metropolregion« Stuttgart mit den Städten Stuttgart, Heilbronn, Reutlingen, Esslingen (Neckar), Tübingen und Ludwigsburg leben 338 Einwohner*innen/km2 (Stand 2013). Das bedeutet: Wenn von »Stadt«, von »Urbanität« oder von »city« die Rede ist, dann sind in globaler Hinsicht sehr unterschiedliche Dinge bezeichnet. Diese Einsicht ist alles andere als banal, hilft sie doch, manche Fragen und Entwicklungen für hiesige Verhältnisse in einen sachadäquaten Horizont einzustellen.4 Denn manche Phänomene, welche die gegenwärtig zu beobachtende Neuauslotung des Verhältnisses von »Stadt und Religion« bestimmen,5 treten in Deutschland nicht, oder wenn, dann nur in Abschattung bzw. vermittelt auf. So ist beispielsweise eine enge Verbindung von Religion, sozialer und politischer Lebenspraxis und auch Besetzung des öffentlichen Raumes, wie sie für etliche Modelle der weltweit wachsenden (neo-)pentekostalen Kirchen kennzeichnend ist, gegenwärtig in Deutschland nur vereinzelt und eher überschaubar zu evaluieren, und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch als stadtreligiöse Idee. Erinnert sei beispielsweise an die Redeemed Christian Church of God und ihre Errichtung und Ausbreitung sogenannter Prayer Camps in Lagos (Redemption-City-Projekt).6 2 3 4
Hierauf macht die Einleitung bei Seounggyu Park aufmerksam. Siehe den Beitrag von Hyun-Jong Choi. Im Rahmen des Symposions hat Christoph Schwöbel daher mehrfach zu Recht betont, dass speziell die deutschsprachige Kirche und Theologie hier von den Entwicklungen der weltweiten Christenheit lernen könnten. 5 Dies lese ich als den größeren Horizont des Themas des Symposions. 6 Vgl. hierzu unter anderem Asonzeh Ukah, Die Welt erobern, um das Himmelreich zu errichten. Pfingstkirchen, Prayer Camps und Stadtentwicklung in Lagos, in:
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Die Gründe dafür sind vielfältig und zeichnen sich durch große Heterogenität aus.7 Einen Grund aber möchte ich eigens hervorheben, nämlich die spezifische kirchliche Situation in Deutschland. Und damit ist die zweite einschränkende Beobachtung genannt: Gegenwärtig findet das religiös-christliche Leben in Deutschland noch weitgehend innerhalb und in Bezug auf die überkommenen volks- bzw. landeskirchlichen Strukturen statt. Mit Stichdatum 31.12.2015 waren 59,6 % der 81.198.000 Einwohner*innen Deutschlands christlichen Bekenntnisses.8 Der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit ihren Gliedkirchen gehören 22.272.000 Mitglieder an, zu den evangelischen Freikirchen lassen sich – mit einzurechnenden Abweichungen und möglichen Doppelmitgliedschaften – 291.000 zählen (ausschließlich Mitglieds- und Gastmitgliedskirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland), die Römisch-katholische Kirche weist 23.762.000 Mitglieder aus, die orthodoxen Kirchen 1.532.000. Dazu kommen Angehörige anderer christlicher Kirchen und anderer christlicher Gemeinschaften. Allerdings ist hier mit deutlichen Veränderungen zu rechnen. Diese sind einerseits auf den demographischen Wandel zurückzuführen, andererseits auf den Umstand, dass die Entwicklung der Einwohner*innenzahl und die Zahl der Kirchenmitglieder schon über viele Jahre hinweg sich gegenläufig entwickelt, weil speziell der Mitgliederstand der zur EKD gehörenden Landeskirchen von Migrationsbewegungen kaum profitiert. Dennoch organisiert und präsentiert sich das protestantische Christentum in Deutschland gegenwärtig noch weitgehend über die verfassten Landeskirchen.9 Zudem können die Gliedkirchen der EKD gegenwärtig noch eine weitgehende Präsenz in der Fläche aufrechterhalten. Auch für die vergleichende Analyse und Erforschung von einerseits lokalen »urbanen« Entwicklungen und andererseits globalen Prozessen gilt also der Vorbehalt von Peter Berger, dass es zu einer nuancierten Einzelfallanalyse keine Alternative gebe.10 metroZones (Hg.), Urban Prayers. Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt, Berlin 2011, 109–127. 7 Ob und wie sich dieser auf Deutschland bezogene stadtreligiöse Befund durch Migrationsbewegungen und die Globalisierung religiöser Bewegungen und Praktiken verändern wird, ist m.E. derzeit noch nicht absehbar. 8 Siehe hierzu »Evangelische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben 2016«, abzurufen unter www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/zahlen_und_fak ten_2016.pdf (zuletzt eingesehen am 25.07.2018). Bei der Gesamtbevölkerungszahl wird die Angabe mit dem Stichtag 31.12.2014 verwendet. 9 Vgl. die zugespitzte Formulierung: »Wer sich selbst als religiös bezeichnet, ist in der Regel auch kirchlich engagiert«, in: Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 14 (www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_v_kmu2014.pdf; zuletzt abgerufen am 25.07.2018). 10 Vgl. Peter Berger, The Desecularisation of the World. Resurgent Religion and World Politics, Michigan 1999, 18.
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Wie aber stellt sich vor dem Hintergrund dieser beiden einschränkenden Beobachtungen das Verhältnis von »Stadt und Religion« in Deutschland dar? Gibt es vergleichbare Trends und Entwicklungen, wie sie in den beiden Beiträgen ausgehend von und im Hinblick auf Südkorea beschrieben wurden und die sich auch hierzulande abbilden lassen? Und: Wie sind diese praktisch-theologisch einzuordnen und zu beurteilen? Bevor wir uns mit diesen Fragen ausführlicher beschäftigen, ist es allerdings hilfreich, zunächst einen Schritt zurückzutreten und uns kurz einem grundsätzlich anders gelagerten Argument zuzuwenden – dem Argument, dass Urbanisierung, Modernisierung und Säkularisierung in einem kausalen Zusammenhang stünden und dass deshalb Religion in der Stadt wenn, dann nur in rudimentären Restbeständen anzutreffen sei.11 2. Urbanisierung und Säkularisierung – ein möglicher Einwand Die religions- und stadtsoziologische Diskussion war lange Zeit von der Vorstellung der säkularisierenden Kraft der Urbanisierung dominiert – Urbanisierung und Säkularisierung wurden in einen kausalen Zusammenhang eingestellt.12 Vermutlich werden sich auch gegenwärtig Phänomene und Entwicklungen finden lassen, die diese Annahme stützen. Zwei seien kurz erwähnt: Erstens ist hier auf das Potential der Stadt, eine »institutionelle Säkularisierung« zu produzieren, zu verweisen, also beispielsweise die Tatsache, dass der biographische Übergang in die Berufstätigkeit in Verbindung mit einem Umzug in städtische und damit in zunächst anonymere Kontexte sich als geeigneter Zeitpunkt zum Kirchenaustritt erweist. Die individuelle Religion und ihre Praxis transferieren sich beim Umzug in die Stadt. »Stadtluft macht frei« – frei auch von Religion in Gestalt von Kirchenmitgliedschaft. Und auch eine zweite Beobachtung lässt sich mit dem notwendigen Mut zur strukturierenden Pauschalierung einem möglicherweise säkularisierenden Potential des Urbanen zuschreiben. Hyun-Jong Choi hat auf die für die Entwicklung des Protestantismus in Südkorea markante Beobachtung hingewiesen, dass sich dessen Wachstum in der Mitte der 1980er Jahre abgeschwächt habe und dass diese Abschwächung womöglich mitverursacht sei durch eine wachsende staatliche Wohlfahrtstätigkeit, die auf soziale Folgeprobleme des Urbanisierungsprozesses reagiert habe. Dass »die Ausbreitung der Wohlfahrt in einem engen Zusammen11
Der Beitrag von Seounggyu Park widmet sich in Auseinandersetzung mit Harvey Cox dieser Frage und legt daher die Reflexion dieses Aspektes im Rahmen dieser Response nahe. 12 Dies habe ich an anderer Stelle ausführlicher dargestellt; vgl. Ruth Conrad, »Anticipation of the future« – Faith in urban space. Opportunities and challenges of church-based action in the social and religious ambivalences of the city, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 3 (2015), 342–367.
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hang mit dem Rückgang der kirchlichen Religiosität steht«, hat Hubert Knoblauch auch für den deutschsprachigen Raum beschrieben.13 Diese Beobachtung ermöglicht es meines Erachtens, sowohl religiöse Differenzen zwischen Europa und Nordamerika als auch zwischen der nördlichen und südlichen Welthälfte zu beschreiben und zu verstehen. Im Hinblick auf das Verhältnis von »Religion und Stadt« ließe sich daher fragen, ob eine mögliche Abschwächung organisierter und kirchlich verfasster bzw. institutionalisierter Religion und eine in diesem Sinn säkularisierende Kraft des Urbanen gerade dort zu notieren ist, wo die sozialen Folgeprobleme der Urbanisierung staatlicherseits eingehegt und abgemildert werden. Freilich wurde die allzu umstandsfreie kausale Verknüpfung von Urbanisierung und Säkularisierung stets kritisch hinterfragt, und speziell in den letzten Jahren haben sich diese Rückfragen mit der These von einer »Rückkehr der Religion in die Stadt« verbunden. Dieser Perspektive soll in den beiden nächsten Abschnitten nachgegangen werden. Dabei bilden die beiden einleitend beschriebenen Einschränkungen sowie der mögliche Säkularisierungseinwand den kritischen Horizont. Im Folgenden soll also gefragt werden, wie sich das gegenwärtige Wechselverhältnis von Religion und Stadt praktisch-theologisch detaillierter beschreiben lässt. 3. Urbanisierte Religion – oder: Wie die Stadt Religion prägt Städte prägen Religion. Sie erweisen sich religionsproduktiv. »Die Stadt« setzt neue religiöse Gemeinschaftsformen und veränderte religiöse Lebensstile frei.14 Die beiden von Hyung-Jong Choi vorgestellten Modelle »urbaner christlicher Gemeinschaft« – nämlich die Mega-Church wie die Small-group-church – lassen sich in ersten Ansätzen und Vorformen bzw. Äquivalenten auch in Deutschland finden, und zwar gerade im städtischen Raum und obwohl es in Deutschland keine Mega-City gibt. Bestimmte Community-Bildungen bedürfen offensichtlich eines städtischen Umfeldes, denn nur »in der Stadt kannst du rein religiös sein. Auf dem Dorf ist Religion immer mit Gesellschaft verquickt«, so der Kulturwissenschaftler und Ethnologe Werner Schiffauer. Denn gerade die Städte bieten »einen Raum, in dem Gleichgesinnte zusammenkommen und dann ihr Weltbild entwickeln können. Und dann entsteht eine Form von Religion unter Gleichgesinnten, die eher genuine religiöse Interessen haben und nicht einer sozialen Kontrolle entsprechen wollen«.15 Das bedeutet: 13
Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt (Main) 2007, 33. 14 Die Rede von »der Stadt« greift das Thema des Symposions auf. Ich bin mir bewusst, dass speziell für die folgenden Überlegungen die Rede von »der Stadt« im Sinne eines handelnden Subjektes insofern problematisch ist, als sie die Menschen der Stadt als Akteur*innen in der Stadt zu übergehen droht. 15 Leo Penta / Werner Schiffauer, »Nur in der Stadt kannst du rein religiös sein«. Ein Gespräch über Politik und Praktiken religiöser Gemeinschaften in Berlin, in: metro-
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In der Stadt kann Religion frei gewählt und dem eigenen Lebensstil entsprechend gestaltet werden. Ich möchte dies an zwei Beispielen verdeutlichen. Als derzeit wohl markanteste »Mega-Church« in Deutschland ist das Gospel-Forum, ehemals Biblische Glaubensgemeinde (BGG), in Stuttgart zu nennen, laut Süddeutscher Zeitung die »erste deutsche Mega-Church«16 und eines der »neucharismatische[n] City-Zentren der ersten Generation«.17 Hier versammeln sich sonntags in zwei Gottesdiensten bis zu 4.000 Personen. Der Versuch dieser Gemeinde, als religiöse Gemeinschaft gesellschaftsund stadtpolitische Prägekraft zu entwickeln, zeigt sich am offensichtlichsten in der Gründung und Unterhaltung einer eigenen Kindertagesstätte und Grundschule. Das bedeutet: Auch wenn sich die neo-pentekostale Verkündigung zunächst an den Glauben des Einzelnen wendet und die Bekehrung und religiöse Erweckung der Einzelnen zum Ziel hat, wird auf der Ebene der sozialen Organisation von Religion auch eine stadtpolitische wie stadtgesellschaftliche Dimension relevant, die dann wiederum auf die gottesdienstliche Praxis zurückwirkt.18 Für diese stadtgesellschaftliche Positionierung erweist sich der Bildungssektor als ein geeigneter Bereich. Daneben treten breite Aktivitäten im Bereich Sport und Kunst sowie bei der Begleitung ausländischer Mitbewohner*innen, die sich gleichfalls im Sinne eines stadtgesellschaftlichen Engagements lesen lassen. In der simultanen Übersetzung der Gottesdienste in bis zu 18 Sprachen zeigen sich zugleich Nuancen des globalen Phänomens, »dass sich […] gerade in den postkolonialen Großstädten des Südens auch alternative Formen eines religiös-kulturellen Kosmopolitismus herausbilden können«.19 Eben diesem Phänomen könnte stadt- und kirchenpolitisch wachsende Bedeutung zukommen, wie beispielsweise erste Versuche der Etablierung der Redeemed Christian Church of God in Deutschland indizieren.20 Daneben entstehen auch in Deutschland im urbanen Kontext neue religiöse Gruppen – im Stil der von Hyun-Jong-Choi beschriebenen Smallgroup-churches –, Gemeinschaften also, die sich an säkularen Orten zum Gottesdienst treffen und deren Gottesdienstgestaltung ästhetische AffiniZones (Hg.), Urban Prayers. Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt, Berlin 2011, 249–272, 268.266. 16 Matthias Dobrinski, »Hey, der Herr ist hier, wir geben ihm mal einen richtigen Applaus«. Die erste deutsche Mega-Church, in: SZ 10. Mai 2010. Zum Profil der Gemeinde vgl. http://gospel-forum.de/ (zuletzt abgerufen am 25.07.2018). 17 Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hg. v. Matthias Pöhlmann und Christine Jahn, Gütersloh 2015, 221. 18 Vgl. zum Beispiel das »Gebetshaus für Stuttgart« (vgl. http://stuttgart.gospelforum.de/bereiche/gebetshaus-in-stuttgart/). 19 metroZones, Einleitung, in: metroZones (Hg.), Urban Prayers. Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt, Berlin 2011, 7–24, 8. 20 Vgl. z.B. www.rccgberlin.org/ (zuletzt abgerufen am 25.07.2018).
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täten zu popkulturellen Life-style-Modellen aufweist. So feiert das »Berlinprojekt« im Kino Babylon in Berlin Mitte Gottesdienst.21 Das Berlinprojekt versteht sich selbst dezidiert als »Kirche für die Stadt«, und die Gottesdienstbesucher*innen bilden – so ebenfalls die Süddeutsche Zeitung – ein spezifisches urbanes Milieu ab. Sie seien »jung, haben kleine Kinder oder noch keine Kinder, sind Intellektuelle, Künstler, Studenten, Werbefilmer, Autoren, Freiberufler«.22 Auch in anderen bundesdeutschen Städten entstehen solche christlichen Gemeinschaften und entsprechend gottesdienstliche Feiern an säkularen Orten wie in Discos oder auf Industriegeländen. So trifft sich der Stuttgarter »Jesustreff« mittlerweile im »Wizemann«, einer Konzerthalle im Industriebaustil mit angehängtem Club.23 Dabei kommt es gewissermaßen zur »Konversion« ehemals oder aktueller säkularer Konsum- und Unterhaltungsorte. Bryan D. Spinks hat diese stadtliturgische Entwicklung der Pluralisierung liturgischer Orte als »Worship Mall« bezeichnet und darin »contemporary responses to contemporary culture« erkannt.24 Flankiert wird diese gottesdienstliche Pluralisierungspraxis sowohl bei den Mega-Churches wie bei den Small-group-churches erstens durch die Bildung mobiler, semi-privater Gruppen, also beispielsweise durch die Errichtung eines Netzwerkes wohnortnaher und mobiler Hauskreise mit familienähnlichen Strukturen. Zweitens ist auffällig, dass beide Gemeinschaftsformen – Mega-Churches und Small-group-churches – den stadtöffentlichen Raum durch dort stattfindende Gottesdienste und Missionsveranstaltungen, zum Beispiel in Fußgängerzonen, umcodieren. Die Erweiterung der kirchlich etablierten und »sanktionierten« religiösen Praktiken lässt sich als spezifische Reaktion auf die Situation in der Stadt und als Auseinandersetzung mit der Stadt lesen. Aus Sicht der verfassten Landeskirchen bedürfte es meines Erachtens einer Diskussion des Umstandes, dass sich diese veränderten religiösen Vergemeinschaftungspraktiken, deren gottesdienstliche Praxis und deren expliziter Bezug auf die »Stadt« wie auch die Anpassung an urbane Bedingungen des Religiösen schwerpunktmäßig in evangelikal-pentekostalen Gemeinden außerhalb der verfassten Landeskirchen finden.25 Städte produzieren und prägen Religion und 21 22
Siehe www.berlinprojekt.com/ (zuletzt abgerufen am 25.07.2018). Renate Meinhof, Selig in Mitte. Moderne Christen: Warum das »Berlinprojekt« in den coolsten Bezirken volle Gottesdienste hat, in: SZ Nr. 289, 14./15. Dezember 2013, V2, 3. 23 Siehe http://jesustreff.de/ (zuletzt abgerufen am 25.07.2018). Auch hier findet sich der explizite Bezug auf »unsere Stadt«. 24 Bryan D. Spinks, The Worship Mall. Contemporary responses to contemporary culture (Alcuin Club Collections 85), New York 2010. 25 Als theologische Referenz gilt u.a. Timothy Keller, Center Church Deutsch, Gießen 22017 (Original: Center Church: Doing Balanced, Gospel-Centered Ministry in Your City 2012). Die deutsche Ausgabe wird von einem Vorwort des Greifswalder Praktischen Theologen Michael Herbst begleitet. Dann auch Timothy J. Keller / J.
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transformieren religiöse Praktiken – der Bezug zur volkskirchlich verfassten Religion bleibt gegenwärtig vage bzw. differiert je nach Landeskirche.26 Mit anderem Akzent aber rücken die etablierten Kirchen ins Blickfeld, wenn man die Perspektive wendet und fragt, wie Religionen ihrerseits die Stadt prägen. 4. Religiös imprägnierte Urbanität – oder: Wie Religion die Stadt prägt Die beiden Beispiele – einerseits eine »Mega-Church«, die bemüht ist, sich stadtpolitisch und -gesellschaftlich zu engagieren und die sich entsprechend zu integrieren sucht, sowie andererseits religiös-christliche Gruppierungen, die sich in säkulare Stadträume und urbane Lebensstile einpassen – zeigen verschiedene Seiten der sogenannten »Rückkehr der Religion in die Stadt«. Nicht nur prägen Städte Religionen, verändern und transformieren deren soziokulturelle Gestalt und bringen neue Gemeinschaftsformationen und religionsästhetische Modelle hervor, auch das andere gilt: Religionen prägen und verändern Städte – auch in Deutschland. Religionen werden gegenwärtig im (architektonischen) Bild der Stadt wieder deutlicher erkennbar. Hier aber wird der eben vorgestellte Befund aus theologischer Perspektive diskussionswürdig. Wir haben gesehen, dass sich neue christliche Gruppierungen in den öffentlichen Raum der Stadt gerade nicht im Modus architektonischer Differenz einfügen. Eine solche Distanz wird freilich durch architektonisch als »sakral« ausgewiesene Gebäude markiert. Neue religiöse Bewegungen agieren architektonisch stärker im Modus der Anpassung. Die gottesdienstlichen Räume sind von der ökonomisch dominierten Zweckarchitektur, die gegenwärtig die Stadtentwicklung bestimmt, programmatisch nicht unterschieden. Wenn nun die verfassten Kirchen Probleme bekommen, ihren kirchlichen Immobilienbestand als gottesdienstliche Orte zu erhalten, könnte eine markante Rückkopplung auf das Phänomen der sogenannten »europäischen Stadt« entstehen. Denn die neuen urbanen Formen des Religiösen mit ihrer Einpassung in die urban-ökonomische Zweckarchitektur könnten hierzulande zur weiteren Transformation oder Aufweichung der sogenannten »europäischen Stadt« führen, die durch die zentrierende Trias von Kirche, Markt und Rathaus bestimmt ist.27 Das würde zugleich zu nachhaltigen Veränderungen des religiös-kirchlichen Feldes führen. Allen Thompson, Handbuch zur urbanen Gemeindegründung: Redeemer Church Planter Manual, Worms 22012. 26 Zugleich ist dieser spezifisch urbane Charakter der neuen christlichen Gemeinde und Gemeinschaften und deren Praktiken in der deutschsprachigen Praktischen Theologie bislang kaum erforscht. 27 Vgl. Wolfgang Siebel, Einleitung: Die europäische Stadt, in: Wolfgang Siebel (Hg.), Die europäische Stadt, Frankfurt (Main) 2004, 11–50.
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Die theologischen Rückfragen, die sich hieraus ergeben, werden implizit in dem Beitrag von Seounggyu Park verhandelt, und zwar unter der Perspektive des Verhältnisses von »Civitas Dei und säkularer Stadt«. Es geht um die Frage, ob und wie die Kirche unterscheidbar bleibt von Stadt und Gesellschaft, wenn man davon ausgeht, dass eine solche Unterscheidbarkeit theologisch notwendig ist, weil dem Christentum immer auch ein Moment von Weltdistanz eigen sein soll. Immerhin beschreibt der Hebräerbrief diese Weltdistanz des Christentums in einer Topographie der Stadtdistanz – draußen vor dem Tor, außerhalb des Lagers, in Distanz zur gegenwärtigen Stadt, auf der Suche nach der zukünftigen Stadt (Hebr 13,12–14). Die historische Integration der Kirchengebäude in die öffentliche Prägung des Stadtbildes hielt auf eigentümlich verschränkte Weise gerade die Erinnerung an diese Einsicht wach, dass es ein einfach unproblematisches »Dazugehören« der christlichen Kirchen bzw. des Christentums zur eigenen Zeit, Kultur, Gesellschaft, kurz zur »Stadt« zuweilen wohl nur um den Preis von theologischen, aber auch ästhetischen Verkürzungen geben kann.28 Und auch wenn am Ende der Bibel der Übergang der menschlichen Geschichte in die göttliche Ewigkeit in der Metapher der »Stadt« beschrieben wird (Apk 21), am Ende also Stadt-Kultur und gerade nicht die Rückkehr in den Garten und in die Natur steht, bleibt das Verhältnis zur irdischen, zur »säkularen« Stadt, wie Seounggyu Park ausführt, theologisch ambigue. 5. Eine praktisch-theologische Theorie der Stadt – eine abschließende Überlegung Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten zeigt sich, dass in praktischtheologischer Perspektive beides zusammengehört: einerseits die religionssoziologische wie religionsethnographische Erforschung der gegenwärtig konstatierten »Rückkehr« von Religion in die Stadt und die damit verbundenen Transformationsdynamiken. Andererseits die theologische Reflexion auf das Phänomen der Stadt und die Diskussion einer »Theologie der Stadt«.29 Diesen Sachverhalt haben die beiden Vorträge, auf die sich diese Response bezieht, in ihrer Zusammenschau demonstriert, und über die angemessene Verhältnisbestimmung der beiden Perspektiven bleibt anhaltend zu diskutieren. Bezüglich des kirchlichen Handelns in Deutschland wie der praktischtheologischen Theoriebildung ergibt sich aus der hier vorgelegten Zusammenschau unterschiedlicher Perspektiven die Frage, wie die hiesigen 28
Vgl. hierzu jetzt Thomas Erne, Hybride Räume der Transzendenz. Wozu wir heute noch Kirchen brauchen. Studien zu einer postsäkularen Theorie des Kirchenbaus, Leipzig 2017. 29 Zu einer »Theologie der Stadt« siehe exemplarisch Philip Sheldrake, The Spiritual City. Theology, Spirituality and the Urban, Oxford 2014.
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verfassten Kirchen auf die skizzierten lokalen Epiphanien globaler Trends des Religiösen und Urbanen reagieren können. Zu überlegen wäre dabei, wie sich eine Reaktion gestaltet, die es einerseits vermeidet, das Thema »Gemeinschaft« komplett Freikirchen, evangelikalen und neo-pentekostalen Gruppen und Akteuren zu überlassen. Von der anderen Seite stellt sich die Herausforderung, alle diejenigen Kirchenmitglieder, denen für ihre religiöse Praxis Geselligkeit und Gemeinschaft nur nachgeordnet wichtig ist,30 nicht zu irritieren und den liberalen Modus einer individuell zu steuernden Beteiligung zwischen Mitgliedschaft, Teilnahme und Engagement nicht zugunsten »harter« Vergemeinschaftungen zu desavouieren. In der kritisch-konstruktiven Begleitung und Reflexion dieser Vermittlungsaufgabe liegt meines Erachtens die spezielle Herausforderung einer praktisch-theologischen Theorie der Stadt. Diese wiederum könnte die eingangs als Einschränkungen markierten lokalen Bezüge gerade als Chance begreifen. Denn die Spiegelung der hiesigen Rahmenbedingungen auf die beiden Vorträge zeigt, dass am Ende globale Trends lokale Aufgaben bleiben – und zwar sowohl auf der Ebene kirchlicher Praxisanforderungen wie auf der Ebene praktisch-theologischer Theorieerfordernisse.
Abstract This response connects the papers of Seounggyu Park and Hyun-Jong Choi with the German discussion about »religion and the city« in Practical Theology.
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Vgl. hierzu Tabea Spieß / Gerhard Wegner, Kirchengemeinde als Ort von Religion, Diakonie und Gemeinschaft, in: Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, hg. v. Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung, Gütersloh 2015, 50–58, besonders 56.
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»Wohlauf, lasst uns eine Stadt bauen« (Gen 11,4) Städtische Lebensweise als Ressource in der Welt des Alten Testaments
Ohne »die Stadt« wären der Jahwe-Glaube und die hebräische Bibel in ihren historischen Ausprägungen nicht entstanden. Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe, das Thema der Stadt in der Welt des Alten Testaments in einem interdisziplinären Rahmen und im Kontext theologischer, historischer und gegenwartsbezogener Forschungen zum Städtewesen zu untersuchen.1 Die biblisch-archäologische Perspektive kann dabei die Relevanz einer systematischen Verknüpfung literarischer und archäologischer Quellen zur Geltung bringen, um die Bedeutung städtischer Lebensweise in den Texten des Alten Testaments und in den israelitisch-judäischen Lebenswelten zu erfassen. 1. Die Stadt in der Urgeschichte (Gen 1–11) Ein Einstieg in die Fragestellung kann über Texte zur Stadt in der Urgeschichte (Gen 1–11) gewonnen werden. Die hier zusammengewachsenen Traditionen und Überlieferungen beziehen sich auf eine Phase der Menschheitsgeschichte, in der grundlegende Lebensbedingungen geschaffen und geordnet werden.2 Gen 4,17 enthält in der masoretischen Fassung die Überlieferung, Kain habe die erste Stadt in der Geschichte der Menschheit gegründet und nach seinem ältesten Sohn Henoch benannt.3 Die Notiz ist hinsichtlich ihres Bezuges zu Kain mit exegetischen Schwierigkeiten verbunden und nimmt mit Henoch eine fiktive Stadt in den Blick. Dennoch enthält sie eine wichtige Aussage über die Bedeutung städtischer Lebensweise, denn sie verankert das Städtewesen in der durch Gott gefügten Urgeschichte der Menschheit. 1
Dieser Beitrag ist die schriftliche Fassung eines Vortrags auf dem Symposion »Die Stadt«, das die Elisabeth und Jürgen Moltmann-Stiftung am 4. und 5. Juli 2014 in Tübingen veranstaltet hat. Ich danke den Veranstaltern für die Einladung zu dem Symposion und den Herausgebern für die Aufnahme des Beitrags in diesen Band. Weiterhin danke ich Valentina Tumolo (Tübingen) und Laura Wörner (Tübingen) für Hilfen bei der Erstellung des Manuskripts und Günter Müller (Waldbronn) für die Anfertigung der Abbildung. 2 Vgl. Witte, Urgeschichte; Blum, Urgeschichte; Schüle, Prolog. 3 Vgl. dazu z.B.: Wallis, Stadt, 133–141; Jericke, Ortsangaben, 38 (mit weiteren Literaturangaben).
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Das Thema der Stadt erscheint dann (verbunden mit dem Motiv des Turmbaus)4 erneut zum Abschluss der Urgeschichte in Gen 11,1–9:5 Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. 3 Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4 und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. 5 Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6 Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7 Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! 8 So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. 9 Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder. 1 2
Die Erzählung Gen 11,1–9 bezieht sich in ihrer literarischen Endgestalt auf die Gründung der Stadt Babel/Babylon (bbl). Nach babylonischem Selbstverständnis haben die Götter selbst die Stadt gebaut, aus Dank für Marduk, den Stadtgott der Metropole Babylon, die den Mittelpunkt der Welt bildete.6 Konträr zur babylonischen Stadttheologie mit ihrer Wertschätzung Babylons bringt die Erzählung vom »Turmbau zu Babel« Jahwes Missachtung dieser von Menschen gebauten Stadt zum Ausdruck (hᶜyr […] ᵓšr bnw bny hᵓdm; Gen 11,5). Um zu verhindern, dass die Menschen grenzenlos Zielen entgegenstreben, verstreut Jahwe sie – und das bildet den Abschluss der Urgeschichte – über die ganze Erde und verwirrt (bll) ihre Sprache. Kommt damit auch eine allgemeine und grundsätzliche Ablehnung städtischer Lebensformen zum Ausdruck? In diesem Sinn ist die Erzählung oft gedeutet worden,7 und eine Untersuchung zur Be4
Vgl. zur differenzierten Vielfalt der Motive in Gen 11,1–9 und zu einer Kritik an engführenden Textdeutungen Uehlinger, Bauen, 37–42, insbesondere 37. 5 Vgl. z.B. zum Abschluss der Urgeschichte: Gertz, Babel, 9–34. Gen 11,1–9 ist im Folgenden nach der Ausgabe der Lutherbibel 1984 wiedergegeben. 6 Vgl. entsprechende Passagen im babylonischen Weltschöpfungslied Enuma Eliš; Lambert, Mythen, 565–602. Hecker, Epen, 74–144. 7 Vgl. z.B. Wallis, Stadt, 133, der davon ausgeht, Israel habe sich »auf die Dauer eine stille Abneigung gegen die städtischen Lebensformen bewahrt«. Dem liegt die
»Wohlauf, lasst uns eine Stadt bauen« (Gen 11,4)
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deutung der Stadt in der Lebenswelt des Alten Testaments hat sich mit dieser Deutung zu befassen. Müsste man vor dem Hintergrund des Städtewesens in Israel und Juda nicht vielmehr annehmen, dass »die Stadt« eine zentrale Ressource für die Kultur und Religion Israels/Judas bildete? Wenn wir im Folgenden nach der Funktion städtischer Lebensformen als Ressource fragen, dann also nicht in der Absicht, primär wirtschaftsgeschichtliche Aspekte in den Blick zu nehmen. Denn hier ist das Ressourcenverständnis des Tübinger Sonderforschungsbereiches »RessourcenKulturen« (SFB 1070) vorausgesetzt.8 Demnach sind Ressourcen keine »natürlichen« Rohstoffe, sondern werden erst dann zu Ressourcen, wenn sie einen kulturellen Wert erhalten und auf eine kulturspezifische Weise genutzt werden. Ressourcen stehen im Zusammenhang mit der Schaffung, Bewahrung und Veränderung von sozialen Beziehungen und Identitäten. Sie werden davon bestimmt, wie sich ihre Wertzuschreibungen und Nutzungsbedingungen in unterschiedlichen Zeiten und Räumen verändern. Die Bedeutung von Ressourcen und ihre sozialen Wirkungen sind also historisch wandelbar. Unserer Untersuchung liegt also die Frage zugrunde, welche Rolle städtische Lebensformen für die Schaffung, Bewahrung und Veränderung von Identitäten in Israel und Juda spielten. Dabei stellen sich folgende Einzelfragen: Wie entwickelten sich die gesellschaftlichen und religiösen Strukturen in den Städten des antiken Palästina im Laufe der Zeit? Welchen Wert hatten städtische Lebensverhältnisse für Israelitinnen und Israeliten und für Judäerinnen und Judäer zu verschiedenen Zeiten? Welche symbolischen Bewertungen kennzeichnen ihr Verhältnis zur Stadt? Bevor wir uns solchen Fragen zuwenden, sind einige hinführende Aspekte zu behandeln. 2. Die Stadt im alten Israel als Thema der Forschung Zunächst ist der Blick auf einige ausgewählte Stationen und Bereiche der Erforschung des Städtewesens im antiken Palästina zu richten.9 Die Frage, welche Rolle urbane Lebensformen in der Lebenswelt des alten Israel spielten, wurde unter anderem in Abhandlungen zur »Welt des Alten Testaments« gestellt. Nach wie vor sehr ertragreich ist in dieser Hinsicht Annahme zugrunde, dass ganz Israel auf ein Leben als »Kleinviehnomaden oder besser Halbnomaden« zurückblicke – eine Annahme, die in der heutigen Forschungssituation nicht mehr haltbar ist; vgl. z.B. Kamlah, Entstehung, 28–33. Aber auch in neueren Publikationen zur Stadt im alten Israel hält sich die Annahme einer »Distanz zur städtischen Lebensweise«; vgl. z.B. Kessler/Omerzu, Stadt, 556–560; Zitat 558. 8 Bartelheim [u.a.], ResourceCultures, 39–50. 9 Neben den für diesen Abschnitt ausgewählten Forschungsbeiträgen werden weitere Literaturhinweise in den dann folgenden Abschnitten genannt. Vgl. auch die Überblicksdarstellungen: Weippert, Stadtanlage, 313–317; Fritz, Stadt, 676–681; Zwickel, Stadt I, 90–92. Herzog, Stadtanlagen, 1663–1665; Faust, Cities, 203–211.
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die Lektüre des Werkes von Martin Noth, der mit brillanter Schärfe die wesentlichen Merkmale von Städten in der Welt des Alten Testaments beschrieben hat.10 Er gliederte seine Darstellung zu den Siedlungen in Israel/Juda, indem er zunächst die verteidigungsstrategische Lage der Städte und dann ausführlich ihre Befestigungsmauern, ihre befestigten Tore und die eigens ummauerten »Akropolis«-Bereiche innerhalb der befestigten Städte behandelte, um danach die »gewöhnlichen Häuser« und schließlich die Wasserversorgung der Städte zu besprechen. Mit Ausnahme des Absatzes zu den »gewöhnlichen Häusern«, der aufgrund neuerer Ausgrabungsbefunde zu modifizieren wäre, können Noths Ausführungen zu allen städtischen Merkmalen Gültigkeit für sich beanspruchen, obwohl sie auf – im Vergleich zum heutigen Forschungsstand – rudimentären Erkenntnissen von Ausgrabungen eisenzeitlicher Städte basierten. Mit Ausnahme der »gewöhnlichen Häuser« betreffen alle von Martin Noth hervorgehobenen Merkmale die Funktion von Städten als Orten der Zuflucht und des Schutzes, und wir werden zu fragen haben, ob die neueren archäologischen Forschungen diese Bedeutung der Städte in der Welt des Alten Testaments bestätigen. Die von Volkmar Fritz verfasste Abhandlung über »die Stadt im alten Israel« ist im deutschsprachigen Bereich bislang der einzige monographische Versuch, »die bisherigen Ergebnisse [der archäologischen Forschung] zusammenfassend aufzuarbeiten und im Rahmen der Geschichte und Kulturgeschichte allgemein verständlich darzustellen.«11 Das Buch lebt in erster Linie von der profunden Kenntnis aller relevanten Ausgrabungen in Israel, die Volkmar Fritz sich während seiner Aufenthalte im Land als Student, als Forscher und vor allem als Ausgräber erworben hat.12 Den Kernsatz, der aus den Kenntnissen der archäologischen und der literarischen Quellen entspringt, hebt Volkmar Fritz gleich zu Beginn seiner Abhandlung hervor: »Die städtische Lebensform wird in den biblischen Schriften als selbstverständlich vorausgesetzt. Zwar werden gelegentlich auch Dörfer oder Gehöfte erwähnt, die typische Siedlung war jedoch die Stadt, die von einer Mauer umschlossen und nur über ein Tor zugänglich war.«13 Eine weitere wichtige Erkenntnis des Buches besteht darin, dass eine Untersuchung des Städtewesens in der Welt des Alten Testaments sich nicht auf die Eisenzeit (ca. 1200–586 v.Chr.) beschränken kann, sondern bei der ersten Urbanisierung Palästinas in der frühen Bronzezeit (ca. 3600–2300 v.Chr.) einsetzen muss.
10 11 12
Noth, Welt, 132–145. Fritz, Israel, 7. Vgl. auch Fritz, Stadt, 676–681. In die Zeit nach der Publikation des Stadt-Buches fällt sein Aufenthalt in Jerusalem als Direktor des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes; vgl. Hübner/Kamlah, Fritz, 84–88. 13 Fritz, Israel, 7.
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Der israelische Archäologe Ze’ev Herzog hat die von Volkmar Fritz entwickelten Ansätze systematisch ausgebaut.14 Seine Archäologie der Stadt bietet nach einer theoretischen Einleitung im Kern eine ausführliche diachrone Analyse der relevanten archäologischen Befunde zum Städtewesen in Palästina von der Frühbronzezeit bis zum Ende der Eisenzeit. Die Untersuchung endet mit einer Darstellung der zyklischen Entwicklungen von Urbanisierung und städtischem Niedergang in der vorhellenistischen Kulturgeschichte Palästinas. Ein wichtiges Thema bildet die Stadt als Lebensraum auch für die sozialgeschichtliche Forschung zum Alten Testament, spätestens seit Christa Schäfer-Lichtenbergers kritischer Auseinandersetzung mit Max Webers Studie »Das antike Judentum«.15 Anders als in dieser Studie wird die Archäologie als Quelle in Hermann Michael Niemanns Abhandlung zur soziokulturellen Entwicklung im monarchischen Israel nicht ausgeklammert.16 Das zweite Kapitel des Buches (»Königliche Funktionalorte und -bauten als Herrschaftsmittel«) verdeutlicht, wie ertragreich eine synthetische Auswertung literarischer und archäologischer Quellen für das Verständnis altisraelitischer Städte sein kann. Angesichts solcher erfolgreicher Forschungsansätze überrascht es, dass die Stadt als Lebensraum in der von Rainer Kessler verfassten Sozialgeschichte des alten Israel nur am Rande thematisiert wird.17 Auch der »Stadt«-Artikel im Sozialgeschichtlichen Wörterbuch zum Alten Testament geht nur ansatzweise auf die Struktur städtischer Gesellschaften in Israel und Juda und auf die sozioökonomischen Verhältnisse in den Städten ein.18 Dass jüngere sozialgeschichtliche Forschungen zum Alten Testament nur geringfügig von archäologischen Quellen Gebrauch machen, hängt vielleicht auch damit zusammen, dass nach dem Erscheinen des Werkes von Ze’ev Herzog19 längere Zeit keine zusammenfassende Darstellung archäologischer Befunde zum Städtewesen vorgelegt wurde. Durch zwei Bücher aus dem Jahr 2012, eines von William Dever20 und eines von Avraham Faust21, verfügen wir nun aber wieder über aktuelle Zusammenstellungen und Bewertungen der archäologischen Quellen zu Städten in Israel und Juda. Bereits zuvor – im Jahr 2003 – veröffentlichte Cornelis Hendrik Jan de Geus eine englische Übersetzung seines 1984 erschienenen Buches »De Israëlitische stad«.22 Den niederländischen Begriff »stad« übersetzt er im 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Herzog, Archaeology. Schäfer-Lichtenberger, Stadt. Niemann, Herrschaft. Kessler, Sozialgeschichte. Kessler/Omerzu, Stadt. Herzog, Archaeology. Dever, People, 47–205. Faust, Archaeology. Geus, Towns.
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Englischen nicht mit »city«, sondern mit »town«, da es seiner Meinung nach einzig Samaria und Jerusalem verdient hätten, als »Stadt« bezeichnet zu werden. Als Grund dafür führt der Autor ausschließlich die geringe Größe der anderen Orte in Israel und Juda an, ohne auf eine umfassendere Definition für Städte im Altertum einzugehen.23 Das Buch, das leider auf einen kritischen Fußnotenapparat verzichtet, bespricht umfangreich archäologische Befunde zu verschiedenen Aspekten des Städtewesens (Befestigungen, Tore, Zitadellen, öffentliche und private Häuser, Heiligtümer und Tempel, Wassersysteme, Nekropolen, Siedlungsmuster, Stadtplanung, städtische Bevölkerung), um die Frage zu stellen, ob sich eine typische israelitisch-judäische Stadt rekonstruieren lässt. Es verfolgt damit das Ziel, das Alltagsleben in Israel und Juda zu beschreiben. Die im deutschsprachigen Bereich zuletzt erschienene Publikation zum »Alltagsleben« in der Welt des Alten Testaments von Wolfgang Zwickel widmet der »Stadt in biblischen Zeiten« einen eigenen Abschnitt.24 Auffälligerweise geht sie dabei auf die Befestigungsmauern nur am Rand ein. Als urbane Merkmale werden Wohnhäuser, Grabanlagen, Paläste, Stadttore, Wasserschächte und Pfeilerhäuser besprochen. Zu Recht hebt Wolfgang Zwickel hervor, dass der Beginn der hellenistischen Zeit erhebliche Veränderungen für das Städtewesen mit sich brachte. Als Grund für diese Veränderung nennt er einen gesunkenen Bedarf an militärischer Befestigung, so dass die Städte ihr Gebiet großflächig erweitern konnten. Allerdings verfügten Städte der hellenistisch-römischen Zeit ebenfalls über komplexe Fortifikationen. Für den Wandel, der in Palästina mit Beginn der hellenistischen Zeit einsetzte, sind vor allem die übergreifenden Entwicklungen des Urbanismus im gesamten Mittelmeerraum zu beachten. Wie wichtig diese Entwicklungen für die Genese der neutestamentlichen Schriften und für die Ausbreitung des frühen Christentums sind, zeigen exemplarisch die jüngst erschienenen Bücher von Reinhard von Bendemann und Markus Tiwald sowie von Martin Ebner.25 Aus alttestamentlicher Perspektive haben sich zuletzt Jürgen van Oorschot, Christl Maier sowie Jutta Krispenz und Aaron Schart mit dem israelitisch-judäischen Städtewesen befasst und dabei zahlreiche Gesichtspunkte erfasst, auf die im Folgenden noch einzugehen ist.26 Doch zunächst muss festgelegt werden, welche Siedlungen der vorhellenistischen Zeit in Palästina als Städte verstanden werden können.
23 24 25
Geus, a.a.O., 1. Zwickel, Leben, 71–83 Vgl. von Bendemann / Tiwald, Christentum, mit der Einleitung der beiden Autoren a.a.O., 9–42 (»Das frühe Christentum und die Stadt. Eine Einleitung und Grundlegung«); Ebner, Stadt. 26 Van Oorschot, Stadt, 155–179; Maier, Daughter; Krispenz/Schart, Stadt, 1–20.
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3. Was war eine Stadt im antiken Palästina? Will man die Bedeutung städtischer Lebensformen für das alte Israel untersuchen, dann ist zunächst zu klären, was eine Stadt im antiken Palästina ausmacht. Verschiedentlich finden sich in der Forschung Positionen, die es ablehnen, den Begriff »Stadt« für Siedlungen in Palästina in vorhellenistischer Zeit zu verwenden.27 Dazu ist zu sagen, dass die Städte des Altertums in Palästina selbstverständlich nicht mit urbanen Siedlungen der Moderne zu vergleichen sind. Die Berechtigung zur Verwendung des Stadtbegriffes für das antike Palästina wird aber nicht nur durch Vergleiche mit dem Urbanismus der Moderne infrage gestellt, sondern auch durch die erheblichen Unterschiede, die zwischen den meist nur sehr kleinen Stadtsiedlungen Palästinas und den antiken Großstädten in Ägypten, Syrien, Anatolien und Mesopotamien bestanden.28 Und schließlich ist zu berücksichtigen, dass das Konzept der griechischen Polis, das mit dem Hellenismus Einzug in Palästina hielt, deutlich vom vorhellenistischen Städtewesen des Landes zu unterscheiden ist.29 Dennoch ist an dem Begriff »Stadt« zur Kennzeichnung einer bestimmten Siedlungsform, die mit bestimmten sozialen Strukturen verbunden ist, auch für die vorhellenistische Kulturgeschichte Palästinas festzuhalten. Dafür lassen sich zwei Hauptgründe benennen. Zum einen ist es notwendig, die zwei wichtigsten Siedlungsformen der Kulturgeschichte Palästinas in vorhellenistischer Zeit terminologisch unterscheiden zu können. Denn neben der nicht-sesshaften Lebensweise,30 die als dritte Größe stets präsent war, existierten im vorhellenistischen Palästina einerseits sehr kleine unbefestigte Siedlungen ohne öffentliche Gebäude und andererseits etwas größere Siedlungen mit Befestigungsmauern und anderen öffentlichen Bauwerken (vgl. zu dem Nebeneinander der drei Grundkategorien auch Abb. 1). Wenn auch der Übergang zwischen diesen beiden Siedlungsformen fließend war, so bildeten sie doch zwei klar voneinander zu unterscheidende Gruppen. Um terminologisch zwischen beiden Siedlungsformen unterscheiden zu können, ist es angebracht die eine als »Dorf«31 und die andere als »Stadt« zu bezeichnen. 27
Vgl. z.B. Geus, Towns, 1; siehe auch unten die Diskussion um die frühbronzezeitliche Urbanisierung. 28 Vergleiche zur Funktion von altorientalischen Großstädten und zur Diskrepanz zum Städtewesen im vorhellenistischen Palästina bereits Noth, Welt, 235–239. Auf das Städtewesen im Alten Orient beziehen sich auch zwei von Joan Goodnick Westenholz herausgegebene Sammelbände: Goodnick Westenholz, Royal Cities; Goodnick Westenholz, Capital Cities. Überblicksartige Kurzbeschreibungen zu Städten des Alten Orients und Palästinas aus alttestamentlicher Zeit sowie zu Städten des Mittelmeerraums aus neutestamentlicher Zeit bietet DeVries, Cities. 29 Vgl. dazu allgemein Purcell, Statics, 249–272. 30 Vgl. z.B. Staubli, Image. 31 Vgl. z.B. Zwingenberger, Dorfkultur.
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Der zweite wichtige Grund für eine Beibehaltung des Stadtbegriffes ergibt sich aus dem Sprachgebrauch der Menschen selbst, die in den Siedlungen der alttestamentlichen Zeit lebten. Denn sie haben begrifflich zwischen den beiden obengenannten Siedlungsformen unterschieden. Sehr kleine und unbefestigte Siedlungen, also Gehöfte, Weiler und Dörfer, bezeichneten sie als ḥāṣer (Lev 25,31; Jos 13,23 u.ö.) oder kāfār (Neh 6,2; 1 Chr 27,25; Cant 7,12) beziehungsweise kōfær (1 Sam 6,18)32. Im Unterschied dazu verwendeten sie für größere und befestigte Siedlungen die Bezeichnung ᶜȋr,33 die in der Septuaginta mit pólis wiedergegeben wird und sachgemäß mit »Stadt« zu übersetzen ist. Ausschlaggebend für den hebräischen Sprachgebrauch ist dabei nicht so sehr die Größe einer Siedlung,34 sondern ihre Befestigung durch eine Ummauerung. Neben ᶜȋr findet sich im Hebräischen auch der Begriff qiryāh beziehungsweise qæræt zur Bezeichnung städtischer Siedlungen (Dtn 2,36; 3,4; Jes 1,21 u.ö.). Daran, dass der Begriff an über 1.000 Stellen im Alten Testament bezeugt ist, lässt sich bereits die außerordentlich große Bedeutung städtischer Lebensweise in Israel/Juda ermessen.35 Welche Merkmale zeichnen eine israelitisch-judäische Stadt aus? Eine Definition des Begriffes »Stadt« für die Kulturgeschichte Palästinas sollte sich einerseits an übergreifenden altertumswissenschaftlichen Begriffsbestimmungen orientieren,36 aber andererseits auch die Besonderheiten Palästinas berücksichtigen. Folgende Merkmale können unter diesen Voraussetzungen als Kennzeichen für Städte im vorhellenistischen Palästina gelten:37 – Eine gewisse Mindestgröße, die mehr als 800 Personen (Wohn-)Raum bot. – Topographische und administrative Geschlossenheit. – Vorhandensein öffentlicher Bauwerke (Befestigungen, Gebäude für die öffentliche Verwaltung und Vorratshaltung, Tempel und Heiligtümer) neben den Wohnhäusern. – Ansätze zur Arbeitsteilung und soziale Differenzierung. – Städtische Lebensweise (im Unterschied zu dörflicher oder nicht-sesshafter Lebensweise). – Funktion als Zentrum für ein städtisches Hinterland (in politisch-administrativer, kultureller und kultisch-religiöser Hinsicht). 32
Hamp, ḥāṣer, 140–143; Maass, kpr, 844. Vgl. auch: Delekat, Dorf, 350; Zwickel, Dorf, 252. Es ist bezeichnend, dass die einschlägigen Bibellexika meist keine Artikel zu »Dorf« enthalten. 33 Hulst, ᶜīr, 268–272; Otto, ᶜȋr, 56–74. 34 Der Begriff ᶜȋr kann Siedlungen ganz unterschiedlicher Größe bezeichnen (2 Kön 17,9); vgl. dazu: Otto, a.a.O., 61; Zwickel, Stadt, 90. 35 Hulst, ᶜīr, 269. 36 Zu übergreifenden Definitionen von Stadt im Altertum siehe: Kolb, Stadt, 11ff.; Eder [u.a.], Stadt, 890–899; Osborne, Sprawl, 1–16. 37 Definitionen zu Stadt in Israel/Juda finden sich z.B. bei: Fritz, Israel, 15f; van Oorschot, Stadt, 159; Kessler/Omerzu, Stadt, 556; Krispenz/Schart, Stadt, 1–9; Zwickel, Leben, 71.
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4. Die Entwicklung des Städtewesens in Palästina in vorhellenistischer Zeit Die erste Stadtkultur auf dem Boden Palästinas entstand im Zuge eines lang andauernden und vielschichtigen Prozesses in der frühen Bronzezeit (vgl. Abb. 1). Dieser Prozess vollzog sich während der Frühbronzezeit I (ca. 3600–3000 v.Chr.), in der sich aus einer dörflich geprägten Kultur die ersten Stadtsiedlungen herausbildeten.38 Die überwiegend sehr kleinen Dörfer der Frühbronzezeit I bestanden aus mehreren Häusern, und diese Häuser dienten jeweils einer Familie als Wohnstätte. Deutlich geht aus den Ausgrabungen solcher Dörfer hervor, dass die hier lebenden Menschen Landwirtschaft betrieben und in der Lage waren, sich mit fast allem Notwendigen selbst zu versorgen. Während der Frühbronzezeit II–III (3000–2300 v.Chr.) war das gesamte Land dagegen von einem Netz städtischer Siedlungen überzogen, die jeweils über ein gewisses Hinterland mit dörflichen Ansiedlungen verfügten (sogenannte Stadtstaaten). Diese erste Stadtkultur auf dem Boden Palästinas wies mit Ausnahme der fehlenden Schrift bereits alle Merkmale auf, die auch die anderen urban geprägten Phasen der vorhellenistischen Kulturgeschichte Palästinas kennzeichneten. Die Stadt als Siedlungsform war also eine wesentliche Neuerung, die die Lebensweise der Menschen während der Frühbronzezeit II–III nachhaltig veränderte. Allerdings ernährten sich fast alle Einwohner der frühbronzezeitlichen Städte weiterhin von der Landwirtschaft.39 Der Handel spielte während der Frühbronzezeit II–III nur eine geringe Rolle, und Spezialisierungen im Bereich von Handwerk, Verwaltung und Kult führten nur in Ansätzen zu arbeitsteiligen Gesellschaftsformen. Neben öffentlichen Vorrats- und Verwaltungsgebäuden sowie Tempeln in zentraler Lage prägten vor allem massive Befestigungsanlagen das Erscheinungsbild aller frühbronzezeitlichen Städte. Demnach war die aus dem Dorf hervorgegangene Stadt in erster Linie ein Ort, der den Menschen und ihren landwirtschaftlichen Erzeugnissen besseren Schutz bot als die offenen dörflichen Siedlungen. Die so entstandene städtische Lebensweise hat die Identität der Menschen und ihre sozialen Beziehungen zueinander tiefgreifend beeinflusst und bildete so eine zentrale Ressource altpalästinischer Kultur.
38 39
Vgl. dazu z.B.: Greenberg, Urbanizations. Dies betonen zu Recht neuere Untersuchungen zum frühbronzezeitlichen Urbanismus. Vgl. z.B.: Chesson/Philip, Tales, 3–16; Savage/Falconer/Harrison, City States, 285–297; Wilkinson [u.a.], Urbanization, 43–109. Dass es dennoch nicht angemessen ist, auf den Stadt-Begriff zur Bezeichnung der neuen Siedlungsform zu verzichten, wurde oben bereits begründet.
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Abb. 1: Skizze zu Phasen der Urbanisierung und der Deurbanisierung im vorhellenistischen Altertum Palästinas
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Aus bislang ungeklärten Gründen kam die erste Stadtkultur Palästinas um 2300 v.Chr. an ihr Ende. Etwa drei Jahrhunderte lang gab es bis auf ganz wenige Ausnahmen keine festen Siedlungen mehr im Land, und die nicht-sesshafte Lebensweise herrschte vor. Um ca. 2000 v.Chr. setzte in Palästina mit Beginn der Mittelbronzezeit eine Re-Urbanisierung ein. Wichtige Impulse für die Re-Urbanisierung stammten aus Syrien, wo die frühbronzezeitliche Stadtkultur nicht in einer nicht-urbanen Zwischenzeit endete, sondern sich kontinuierlich bis in das 2. Jahrtausend v.Chr. fortsetzte. Die zweite urbane Landeskultur in Palästina umfasste die Mittelbronzezeit (2000–1550 v.Chr.) und die Spätbronzezeit (1550–1200 v.Chr.). Beide Epochen bildeten bezüglich des Städtewesens eine Einheit. Das System der Stadtstaaten, das sich bereits in der Frühbronzezeit etabliert hatte, war erneut dominant. Während der Spätbronzezeit (seit ca. 1550 v.Chr.) standen die palästinischen Stadtstaaten als Teil der Provinz Kanaan unter ägyptischer Oberhoheit, die bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts v.Chr. andauerte. Ein besonderes Merkmal der mittel- und spätbronzezeitlichen Stadtkultur war der überregionale Handel, der insbesondere für die Orte in Küstennähe eine wichtige Rolle spielte.40 Neben dem Handel bezeugen auch die Schreibschulen, die in den städtischen Zentralorten Palästinas während der Mittel- und Spätbronzezeit vorauszusetzen sind, ein höheres Maß an Spezialisierung, als dies in der Frühbronzezeit der Fall war. Dennoch haben auch die Menschen der zweiten urbanen Landeskultur Palästinas mehrheitlich von der Landwirtschaft gelebt. Der Niedergang der mittel- und spätbronzezeitlichen Stadtkultur setzte bereits im Verlauf der Spätbronzezeit ein und führte gegen Ende dieser Epoche zu einer weitgehenden Deurbanisierung in Palästina. Die Gründe für diesen Vorgang sind vielfältig und lassen sich keinesfalls darauf reduzieren, dass Invasoren, seien es Seevölker oder Israeliten, eine blühende Stadtkultur zerstört hätten. Der Wandel, den Palästina von ca. 1300– 1100 v.Chr. durchlief, war entscheidend durch den Rückzug der Ägypter von der syro-palästinischen Landbrücke geprägt. Durch die gewandelten Lebensbedingungen wurden die meisten der Landesbewohner dazu gebracht, ihre Lebensweise umzustellen. So ging mit der Deurbanisierung in Palästina die Gründung zahlreicher Dörfer im bergigen Hinterland der ehemaligen Stadtstaaten einher. Die neue Dorfkultur der Eisenzeit I (1200–1000 v.Chr.) zeichnete sich im Unterschied zu der arbeitsteiligen Gesellschaftsform der Spätbronzezeit durch das System der bäuerlichen Selbstversorgung aus. Zu den neu formierten Identitäten dieser Übergangszeit gehören auch Israel und Juda, die als politische Größen in der darauf folgenden Epoche der Eisenzeit II zu greifen sind. Insofern ist es angemessen, von der Entstehung Israels/Judas auf dem Boden Palästinas im Kontext der Dorfkultur der Eisenzeit I zu sprechen.41 40 41
Vgl. dazu: Kamlah, Austausch. Vgl. dazu: Finkelstein, Archaeology; Zwingenberger, Dorfkultur; Kamlah, Entstehung.
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Dass die Stadtkultur während der Eisenzeit I nicht völlig zum Erliegen kam, sondern in einigen Gegenden und an einigen Orten fortbestand, ist schon seit Längerem bekannt.42 Neuere Ausgrabungen zeigen daneben aber auch, dass einige städtische Siedlungen in der Eisenzeit I neu gegründet wurden.43 Insgesamt erweist sich die Eisenzeit I als eine vielfältige, regional und chronologisch differenzierte Übergangszeit zwischen zwei urbanen Landeskulturen. Während dieser Übergangszeit überdauerte die Stadtkultur der Spätbronzezeit zwar zum Teil, aber ihre wichtigste Kraft im Landesinneren bestand aus der Dorfkultur des Berglandes und der dort in Familien betriebenen Subsistenzwirtschaft. Gegen Ende der Eisenzeit I bildete die Dorfkultur des Berglandes die wichtigste Quelle für das Entstehen der israelitischen und judäischen Stadtkultur der Eisenzeit II (ca. 1000–586 v.Chr.). Mit Beginn des 1. Jahrtausends v.Chr. konsolidierten sich die Verhältnisse in Palästina, und es entfaltete sich eine dritte urbane Landeskultur, deren Ende mit dem Ende der Eigenstaatlichkeit Judas gleichgesetzt werden kann (586 v.Chr.). Die Städte dieser dritten urbanen Landeskultur bildeten allerdings keine Stadtstaaten mehr wie während der ersten beiden palästinischen Stadtkulturen (Frühbronzezeit II–III und Mittel- bis Spätbronzezeit),44 sondern waren in die Strukturen neu entstandener, monarchisch organisierter Territorialstaaten eingebunden. Zu den Königtümern der Eisenzeit II zählten neben Aram Damaskus, Ammon, Moab und Edom auch Israel und Juda. Das Städtewesen dieser Kleinkönigtümer wies viele Gemeinsamkeiten und einige regionale Unterschiede auf. Die Kategorie der Haupt- oder Residenzstädte gehört zu den Neuerungen der eisenzeitlichen Stadtkultur und zu den Gemeinsamkeiten, die die benachbarten Königtümer miteinander teilten. Für Juda übernahm Jerusalem von Anfang an diese Funktion, für Israel seit dem ersten Viertel des 9. Jahrhunderts v.Chr. die unter Omri gegründete Residenzstadt Samaria.45 Dem archäologischen Befund nach lassen sich verhältnismäßig große städtische Zentren (einige wenige Orte) von den üblichen Stadtsiedlungen, die etwas zahlreicher bezeugt sind, und von häufig vorkommenden kleinen dörflichen Ansiedlungen sowie von Festungen unterscheiden.46 Im Hinblick auf die Funktion von Orten innerhalb der Königtümer kann man diese Differenzierungen mit Residenzstädten, könig42 43
Vgl. Weippert, Palästina, 356–363 und 383–417. Dazu zählen Kinneret am See Genezareth und Tell Abu Haraz im Jordangraben sowie Hirbet Qeiyafa im Nordwesten des judäischen Gebietes. Vgl. Kamlah, Entstehung, 32f; zu Hirbet Qeiyafa siehe Garfinkel/Kreimerman/Zilberg, Khirbet Qeiyafa, insbesondere 205–207. 44 Das altpalästinische System der Stadtstaaten wurde während der Eisenzeit II allerdings im philistäischen und im phönizischen Gebiet fortgesetzt. 45 Die Hauptstädte der unmittelbar benachbarten Kleinkönigtümer waren Damaskus, Rabat-Bene-Ammon (das heutige Amman) und Dibon. 46 Vgl. Dever, People 48f und 72–80; vgl. auch Faust, Archeology, 39–189.
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lichen Vorratsstädten, Krongut-Komplexen und königlicher Bautätigkeit in Form von befestigten Städten, ausgebauten Grenzstädten sowie Festungen in Verbindung bringen.47 Insgesamt zeigt sich, dass das Städtewesen Israels und Judas einerseits tief verwurzelt war in der Siedlungsgeschichte Palästinas, die sich in der Langzeitperspektive als eine rhythmische Abfolge von Prozessen der Urbanisierung und der Deurbanisierung erweist. Andererseits war das israelitische und judäische Städtewesen in ein Netz benachbarter, ebenfalls städtisch geprägter Kulturen auf dem Boden Palästinas eingebunden.48 Die Stadtkultur Israels und Judas war also sowohl in diachroner als auch in synchroner Hinsicht zutiefst mit dem palästinischen Kulturland verbunden. Sie ging aus der früheisenzeitlichen Dorfkultur des Berglandes hervor, trug aber auch das Erbe der spätbronzezeitlichen, kanaanäischen Stadtkultur in sich. Dieses Erbe wurde ihr zusätzlich durch die benachbarten philistäischen und phönizischen Städte vermittelt, die auf je eigene Weise die Nachfolge des altpalästinischen Systems der Stadtstaaten angetreten hatten. 5. Wie groß waren die Städte in Israel und Juda, und wie viele Einwohner hatten sie? Die Untergrenze von ca. 800 Einwohnern, die als Kriterium für die Einstufung einer Siedlung als Stadt genannt wurde (S. 60), ist im Vergleich mit altertumswissenschaftlichen Definitionen für antike Städte niedrig angesetzt.49 Sie berücksichtigt die Tatsache, dass sich das Städtewesen im vorhellenistischen Palästina immer auf sehr viel kleinerem Raum entfaltet hat als beispielsweise in Syrien und Mesopotamien. Die sehr geringe Größe von Städten in Palästina legt es sogar nahe, diese Mindesteinwohnerzahl nicht als Ausschlusskriterium zu verwenden. Denn viele Orte der Eisenzeit weisen wesentliche städtische Merkmale auf, unterschreiten jedoch eine Einwohnerzahl von 800 Personen. Ob ein Ort als Stadt einzustufen ist, entscheidet sich nicht an einzelnen der oben genannten Kriterien, sondern an ihrer Bewertung im Gesamtzusammenhang. Aber wie lässt sich die Einwohnerzahl antiker Siedlungen in Palästina überhaupt ermitteln? Da in aller Regel keine verwertbaren literarischen Quellen dazu vorliegen, kann nur die archäologische Hinterlassenschaft der einzelnen Orte Auskunft darüber geben. Trotz zahlreicher unterschiedlicher Ansätze bleibt aber die Schätzung der Einwohnerzahl anhand 47 48
Vgl. dazu ausführlich Niemann, Herrschaft, 91–173. Gemeint sind die Stadtkulturen der unmittelbar benachbarten Königtümer Aram, Damaskus, Ammon und Moab sowie diejenigen des philistäischen und des phönizischen Gebietes. 49 Frank Kolb geht beispielsweise von einer Untergrenze aus, die bei ca. 1.000 Einwohnern liegt; siehe Kolb, Stadt (s. Anm. 36), 15.
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der Überreste archäologischer Fundstätten mit vielen Unsicherheiten verbunden.50 Um abschätzen zu können, wie viele Menschen einst in einer Stadt lebten, von der sich nur Ruinen erhalten haben, kommen drei unterschiedliche Methoden zum Einsatz.51 Erstens kann die Größe des antiken Ortes ermittelt werden und mit Hilfe einer vorgegebenen Formel über die Anzahl der Einwohner pro Hektar bebauter Siedlungsfläche die Einwohnerzahl errechnet werden. Zweitens kann man versuchen abzuschätzen, aus wie vielen Häusern eine Siedlung bestand und wie viele Menschen in einem Haus lebten.52 Und drittens kann man schließlich Vermutungen über die Anbauflächen anstellen, die den Einwohnerinnen und Einwohnern im Umfeld einer Siedlung zur Verfügung standen, um abzuschätzen, wie viele Menschen sich davon ernähren konnten.53 In Einzelfällen führt eine Kombination der Methoden zu guten Ergebnissen, aber häufig sind über die Anbauflächen des Umlandes oder über die Anzahl der Häuser im Inneren einer Siedlung nur sehr vage Schätzungen möglich. Deshalb kommt meist die erste Methode bei demographischen Untersuchungen zum Tragen. Dabei wird häufig angenommen, dass ungefähr 200 bis 250 Einwohner pro Hektar Siedlungsfläche vorauszusetzen sind (wobei es auch Schätzungen gibt, die zwischen 150 und 500 Einwohnern schwanken).54 Eine erste Schwierigkeit dieser Methode besteht darin, dass oft nicht genau zu ermitteln ist, wie groß die bebaute Fläche einer Siedlung war. Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich aus den Abweichungen der Formel zur Berechnung der Bevölkerungsdichte. Ob die Häuser in einer Siedlung dicht beieinander standen oder durch Zwischenräume voneinander getrennt waren, ob es großflächige öffentliche Gebäude gab oder hauptsächlich Wohnhäuser, ob es Freiflächen in der Siedlung gab oder ob alle Bereiche bebaut waren: Alle diese Fragen haben erhebliche Auswirkungen auf die Einwohnerdichte, lassen sich aber meist nicht sicher beantworten. Diejenigen Städte des antiken Palästina, von denen wir größere Teile des Stadtplans kennen, zeigen oft eine sehr dichte Bebauung.55 Die Häuser standen sehr eng beieinander, oft Wand an Wand, und es gab keine Plätze oder Freiflächen innerhalb der Stadt. Nicht weite 50 51
Vgl. dazu grundlegend: Zorn, Estimating, 31–48. Zu demographischen Schätzungen für Siedlungen Palästinas in vorhellenistischer Zeit vgl. z.B.: Harrison, Patterns, 1–37; Lehmann, Monarchy, 117–162; Dever, People, 48f und 71f. 52 Die Häuser innerhalb der Siedlungen Palästinas werden zu Recht meist als Familien-Häuser angesehen, in denen eine Kernfamilie mit durchschnittlich vier bis fünf Personen lebte. Vgl. Stager, Archaeology, 1–35; vgl. auch: Zorn, Estimating, 32. 53 Vgl. Zorn, a.a.O., 33. 54 Vgl. z.B. die instruktive Tabelle 1 bei: Zorn, a.a.O., 34. 55 Vgl. z.B. Hirbet ez-Zeraqon und Arad aus der frühen Bronzezeit sowie Tell enNasbe, Tell Beit Mirsim und Tell es-Seba aus der Eisenzeit. Stratum IV von Megiddo und Level III von Lachisch, bei denen weite Flächen des Stadtbereiches durch öffentliche Gebäude eingenommen werden, bilden eisenzeitliche Gegenbeispiele.
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Straßen, sondern schmale, von hohen Hofmauern gesäumte Gassen durchzogen die dichte Bebauung. Man kann also mit aller Vorsicht eine Anzahl von 200 bis 250 Einwohnern pro Hektar voraussetzen und gelangt dann zu einer ungefähren Vorstellung über die Größe und die Einwohnerzahl von Städten in Israel und Juda (Tabellen 1–2).56 Tabelle 1: Stadtsiedlungen in Israel Samaria Dan Geser Hazor Jibleam Tirza Megiddo Dotan Sichem Taanach Jokneam Beth-Schean Jericho Bethel Kinneret
Sebastiye Tell el-Qadi Tell Gazari Tell Waqqas Hirbet Belameh Tell el-Fara (Nord) Tell el-Mutesellim Tell Dotan Tell Balata Tell Taannek Tell Qemun Tell el-Husn Tell es-Sultan Betin Tell el-Oreme
Größe in Hektar Geschätzte Einwohnerzahl 40–50 8.000–12.000 20 4.000–5.000 13 2.500–3.500 6–12 1.200–3.000 9 1.800–2.200 6 1.200–1.500 6 1.200–1.500 6 1.200–1.500 5 1.000–1.500 5 1.000–1.500 4 800–1.000 4 800–1.000 4 800–1.000 1,5 300–400 1 200–250
Tabelle 2: Stadtsiedlungen in Juda Jerusalem Jerusalem Lachisch Debir Aseka Bet-Schemesch Gibeon Hebron Mizpa Makkeda Marescha Bet-Zur Beerscheba (?) 56
vor-hiskianisch nach-hiskianisch Tell ed-Duwer Hirbet Rabud Tell Zakariye Tell er-Rumele el-Gib Tell er-Rumede Tell en-Nasbe Hirbet el-Qom Tell Sandahanna Hirbet et-Tubeqa Tell es-Seba
Größe in Hektar Geschätzte Einwohnerzahl 10 2.000–2.500 50–60 10.000–15.000 7 1.400–1.800 6 1.200–1.500 4,5 900–1.100 4 800–1.000 4 800–1.000 3,5 700–900 3 600–800 2,5 500–600 2,5 500–600 1,5 300–400 1 100–250
Zur Größe der Siedlungen vgl. Dever, People, 47–88 mit Figure IV.1, und Faust, Archeology, 198–207 mit Table 12–13 (jeweils mit weiteren Literaturangaben zur Größenbestimmung der Siedlungen). Die Angaben wurden hier teilweise gerundet beziehungsweise korrigiert.
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6. Elemente eisenzeitlicher Städte in Palästina Die wichtigsten Elemente von Städten der Eisenzeit in Palästina, die als öffentliche Bauwerke errichtet wurden, bestanden aus den Befestigungen, zu denen die Stadtmauern, Türme und die Stadttore zählten.57 Sie umschlossen die Stadtsiedlungen zur Gänze und hatten primär die Aufgabe, die Stadt vor militärischer Eroberung zu schützen. Daneben definierten Stadtmauern aber auch das Gebiet der Stadt und bildeten eine Grenze zwischen dem Inneren und den Außenbereichen der Stadt. In ihrer Funktion als Übergangsbereiche zwischen der Stadt und dem offenen Land konnten Stadttore mit kultischen Nischen und Installationen ausgestattet sein.58 Die Außenansicht der Städte wurde durch ihre Befestigungen geprägt, und so konnten Befestigungen eine Stadt symbolisieren.59 Ihrer Architektur nach gehören alle ausgegrabenen Stadttore Israels und Judas zum Typ des Zwei-, Vier- oder Sechskammertors. Diese überdachten Torbauten, die mit hölzernen Doppeltüren zu verschließen waren, besaßen beiderseits des Tordurchgangs schmale Kammern. Sie waren ein wichtiges, aber kein exklusives Merkmal israelitisch-judäischer Städte, denn diese Art der Torarchitektur war auch in den Nachbarkulturen verbreitet. Das gilt auch für den einzigen fest umrissenen und häufig vorkommenden Typ von öffentlichem Gebäude, wie er in den palästinischen Stadtsiedlungen der Eisenzeit bezeugt ist: für die dreischiffige Pfeilerhalle. Diese Hallen hatten einen langgestreckten, rechteckigen Grundriss und waren durch zwei Pfeilerreihen in drei Bereiche unterteilt.60 Oft standen sie im Inneren der Stadt in der Nähe der Tore, und oft hat man mehrere solcher Pfeilerreihen nebeneinander gebaut. Sie konnten mehrere Funktionen übernehmen (z.B. zur Lagerung von Vorräten, als Markthallen und als Kasernen) und haben im öffentlichen Leben der eisenzeitlichen Städte in Palästina eine wichtige Rolle gespielt.61 Ein weiteres Element israelitischer und judäischer Städte bestand aus unterirdischen, mit großem Aufwand gegrabenen Tunnelsystemen zur Wasserversorgung.62 Archäologische Nachweise stammen aus Hazor, Megiddo und Gezer für das Nordreich Israel sowie aus Jerusalem, BetSchemesch, Lachisch und vom Tell es-Seba (Beerscheba?) in Juda. Ver57
Darin haben die zahlreichen Ausgrabungen der vergangenen fünfzig Jahre die Analyse Martin Noths (s. Anm. 10) bestätigt. Zu den Befestigungsanlagen vgl. z.B. Dever, People, 112–115, 320–326 und 361–363. Zu den Stadttoren als öffentlichen Bauwerken vgl. z.B. Faust, Archeology, 100–108 (jeweils mit weiteren Literaturangaben). 58 Vgl. dazu Bernett/Keel, Mond. 59 Vgl. dazu Müth, Functions, 183–192. 60 Vgl. dazu zuletzt: Weippert/Weippert, Pfeilerhallen, 1–42. 61 Zu diesen und anderen öffentlichen Gebäuden vgl. z.B. auch Dever, People, 117– 123, Faust, Archeology, 99f (jeweils mit weiteren Literaturangaben). 62 Zu den Wassersystemen vgl. z.B. Dever, People, 125–128 (mit weiteren Literaturangaben).
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mutlich hat es solche Wassersysteme auch in weiteren Stadtsiedlungen gegeben, aber nicht in jeder Stadt der beiden Königtümer. Die Wassersysteme hatten vor allem die Aufgabe, im Belagerungsfall den Zugang zu Trinkwasser zu gewähren.63 Sie zählten also zu den Befestigungsbauwerken, so dass insgesamt unter den öffentlichen Baumaßnahmen in Israel und Juda der Bau von Befestigungen mit sehr großem Abstand überwog. Unter den öffentlichen Bauwerken israelitisch-judäischer Städte sind schließlich die Stadttempel zu nennen.64 Stadttempel lassen sich im Vorderen Orient allgemein als monumentale städtische Hauptgebäude definieren, die innerhalb einer Stadtsiedlung einen kultischen Mittelpunkt bildeten. Sie standen deshalb oft im Zentrum der Stadt oder an einer hervorgehobenen Stelle und befanden sich häufig in der Nähe von Palästen. Archäologisch sind palästinische Stadttempel der Eisenzeit in Dan, Beth Schean, Pella, Tell el-Qasile, Ekron und Atarot bezeugt. Im Vergleich zur Mittel- und Spätbronzezeit ging die Anzahl der Stadttempel in Palästina während der Eisenzeit deutlich zurück, was mit den Zentralisierungstendenzen in den eisenzeitlichen Territorialstaaten zusammenhängen dürfte. Von herausragender Bedeutung für die Entwicklung der Jahwe-Religion war der Stadttempel von Jerusalem, der nach 1. Kön 6–7 durch Salomo gegründet wurde und der durch die gesamte judäische Königszeit hindurch das kultische Zentrum Jerusalems bildete. Die am Stadttempel von Jerusalem angesiedelte Vorstellung der Stadt bzw. des Zions als kultischen Mittelpunkts führte zum Verständnis Jerusalems als der Gottesstadt.65 7. Die Schattenseiten städtischen Lebens Wurde eine Stadt durch feindliche Truppen belagert, war die Situation für alle Einwohnerinnen und Einwohner lebensbedrohlich (vgl. Dtn 20,10–14).66 Im Zusammenhang mit assyrischen Feldzügen in SyrienPalästina liegen viele verschiedene Quellen über die Belagerung israelitisch-judäischer Städte vor, die die Konsequenzen solcher Belagerungen für die Menschen in den eingeschlossenen Städten schildern.67 Bei einer Belagerung wurden die Städte von der Außenwelt abgeschnitten, so dass weder lebensnotwendige Dinge in die Stadt hineingelangen konnten noch eine Flucht aus der Stadt möglich war. Bezeichnend dafür ist die Aussage des assyrischen Königs Sanherib im Zusammenhang mit der Belagerung Jerusalems im Jahr 701 v.Chr., er habe Hiskia »wie einen Käfig63
Daneben hatten die Wassersysteme auch die Funktion, den Zugang zum Trinkwasser in Friedenszeiten zu erleichtern (siehe unten). 64 Vgl. dazu Kamlah, Temples, 507–537, zu den Stadttempeln insbesondere 510–521. 65 Vgl. dazu Hartenstein/Rüpke/Frevel, Stadtkult, 1665–1668; vgl. zur Stadttheologie Jerusalems auch van Oorschot, Stadt, 166–169. 66 Zum Tode vieler Zivilisten bei der Eroberung belagerter Städte siehe Zorn, War, 79–97. 67 Zu den assyrischen Belagerungstechniken siehe Fuchs, Wert, 45–99.
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vogel in seiner Königsstadt« eingeschlossen.68 Neben der Bedrohung durch die bevorstehende Eroberung mit allen ihren Folgen wurden mit zunehmender Dauer der Belagerung auch die Lebensverhältnisse in den eingeschlossenen Städten immer bedrohlicher. Gingen die Lebensmittelvorräte zur Neige, mussten Wasser und Brot rationiert werden (Ez 4,9– 16).69 Unter den in der Stadt gefangenen Belagerten brachen Hungersnöte aus, und alles Essbare musste verzehrt werden (2. Kön 6,24–31; 2. Kön 25,3). Hunger, Durst und prekäre hygienische Verhältnisse führten zum Ausbruch von Seuchen (Lev 26,25–26). Zu den grausamsten Bildern über die verzweifelte Lage von belagerten Stadtbewohnern zählen die Vorstellungen, menschlichen Kot und Urin (2. Kön 18,27; Jes 36,12) oder Menschenfleisch, ja sogar die eigenen Kinder verzehren zu müssen (2. Kön 6,28–29; Jer 19,9; vgl. auch Dtn 28,52–57 in Verbindung mit der Polemik gegen das Vertrauen auf den Schutz der Stadtbefestigungen). Archäologische Befunde lassen sich nur relativ selten eindeutig mit der kriegerischen Belagerung und Eroberung einer Stadt in Verbindung bringen.70 Das bekannteste Beispiel sind die Reste der im Jahr 701 v.Chr. eroberten Stadt Lachisch.71 Auch wenn archäologische Spuren der verzweifelten Lage belagerter Stadtbewohner verhältnismäßig selten nachgewiesen sind, so waren Schreckensvisionen von Belagerung und Eroberung für die Menschen in Israel und Juda doch stets präsent. Solche Kriegserlebnisse waren Extremsituationen, aber die Vorstellung, dass das Leben in der Stadt jederzeit bedroht werden konnte, gehörte zum Alltag der Menschen in Israel und Juda. Das Alltagsleben in den Städten brachte auch andere Nachteile mit sich. Die Enge, die in den vorhellenistischen Städten Palästinas geherrscht hat, lässt ahnen, dass Überfüllung, Gestank und Hitze das Leben stark beeinträchtigten. Wenn in heißen Sommermonaten die Luft nur wenig zirkulieren konnte, muss der Gestank von Kot und Urin in den Gassen gestanden haben. Latrinen gab es nur sehr selten, und wenn, dann nur für die höchsten Mitglieder der Gesellschaft (vgl. Ri 3,24 innerhalb der Erzählung über den moabitischen König Eglon).72 Zwar könnte Dtn 23,13–15 (eine Anweisung zur Verrichtung der Notdurft außerhalb des Kriegslagers) darauf hinweisen, dass Kot und Urin nicht innerhalb von Siedlungen ausgeschieden werden sollten. Doch die Realität sah anders aus, und das nächtliche Verschließen der Stadttore machte es unmöglich, eine Stadt nachts zu verlassen, um die Notdurft zu verrichten. Neben Fä68 69
Hecker, Texte, 27–93, insbesondere 67–74 mit dem Zitat 71f. Ezechiels Schreckensvorstellung, anstelle des getrockneten Kots von Tieren, der in normalen Verhältnissen häufig als Brennmaterial genutzt wurde, menschliche Exkremente zum Brotbacken verwenden zu müssen (Ez 4,12–15), erschließt sich vor dem Hintergrund des knapper werdenden Brennmaterials innerhalb der belagerten Städte. 70 Vgl. die Beispiele bei Zorn, Effects, 83–85 (mit Literaturangaben). 71 Ussishkin, Conquest. Vgl. auch Ussishkin, Biblical Lachish. 72 Vgl. Hübner, Mord 130–140; vgl. auch den Abschnitt »von Ausscheidungen und Ekel« bei Staubli/Schroer, Menschenbilder, 264–269.
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kalien in Gassen und Straßen (Ps 18,43; Mi 7,10; Sach 9,3) sorgte auch das Urinieren an Wände für Gestank und Schmutz in den Städten (1. Sam 25,22.34; 1. Kön 14,10 u.ö.). Auch Speiseabfälle und anderer Müll wurden in den Gassen entsorgt. Diese waren in der Regel nicht gepflastert oder befestigt, so dass sie sich bei winterlichen Regengüssen in schlammige Bäche verwandelten. Die größten Beeinträchtigungen des Alltags ergaben sich aus den Befestigungen der Städte. Da die Stadtmauern der meisten Städte nur ein einziges Stadttor aufwiesen, mussten die Einwohnerinnen und Einwohner weite Wege in Kauf nehmen, um zu ihren Feldern und Tieren außerhalb der Stadt zu gelangen. Unbefestigte Dörfer waren wesentlich besser für die täglichen landwirtschaftlichen Arbeiten geeignet, denen die Mehrheit der Stadtbewohner nachging. Auch der lebensnotwendige tägliche Zugang zu Frischwasser war durch die Stadtbefestigungen eingeschränkt. Zwar gab es innerhalb der Stadtummauerungen teilweise Zisternen oder Wassersysteme in Form von Tunnelschächten, aber für die meisten Haushalte musste mühsam frisches Wasser täglich von den Quellen außerhalb der Stadtsiedlungen herangeschafft werden. Auf der Grundlage der Landwirtschaft war die städtische Lebensweise an sich nicht erstrebenswert, sondern erst der Bedarf an Schutz vor Bedrohung führte in den palästinischen Gesellschaften des Altertums, deren Grundlage immer das Kleinbauerntum blieb, zu Prozessen der Urbanisierung. Dies gilt auch für das israelitisch-judäische Städtewesen. 8. Die Stadt als Lebensraum in Israel und Juda im Verhältnis zu den Hauptstädten fremder Großreiche Dem archäologischen Befund zufolge sind Fortifikationen das wesentliche Merkmal einer Stadt in der Lebenswelt des Alten Testamentes. Dem entspricht, dass sowohl ᶜȋr (von *ᶜr »schützen«) als auch qiryāh beziehungsweise qæræt (von qȋr »Mauer«) auf die Schutzfunktion verweisen.73 Dazu fügt sich der exegetische Befund zu Texten, in denen sich israelitisch-judäische Vorstellungen über die Funktion von Städten widerspiegeln. So ist beispielsweise die Schutzfunktion ein zentraler Aspekt der »Städtetheologie«, wie sie Psalm 48 entfaltet.74 Der Schutz, der die Stadt – das ungenannte Jerusalem – vor der von außen drohenden Gefahr bewahrt (Ps 48,5–7), ist ein Schutz, den Jahwe gewährt (Ps 48,4). Die Bezeichnung Jahwes als »Großkönig« (Ps 48,2) ist in diesem Zusammenhang ein Indiz dafür, dass die Bedrohung durch das neuassyrische Reich den Hintergrund der hier greifbaren theologischen Wertschätzung der Stadt bildete.75 Aus der positiven Bewertung städtischer Schutzfunktio73 74 75
Vgl. Otto, ᶜȋr, 61; Zwickel, Stadt, 90. Vgl. dazu van Oorschot, Stadt, 166–170. Vgl. van Oorschot, a.a.O., 171.
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nen erschließen sich auch Bezeichnungen Gottes als Turm (Ps 61,4) oder Burg (Ps 46,8.12). An zwei Stellen wird das Bild von der schützenden Stadt auf eine Person übertragen, nämlich in Jer 1,18–19 und Jer 15,20.76 Die Aufzählung von Beispielen positiver Konnotationen der schützenden Stadt ließe sich leicht fortführen und um solche Beispiele ergänzen, in denen die Hoffnung auf die Befestigungen der Stadt als trügerisch eingestuft wird (vgl. z.B. Jer 5,17 und 8,14).77 Allein dieser Symbolzusammenhang widerlegt die Annahme, die Menschen in Israel und Juda hätten städtische Lebensformen negativ oder distanziert bewertet. Im Rückblick auf die Erzählung vom »Turmbau zu Babel« (Gen 11,1–9) kann festgehalten werden, dass dem Text keine grundsätzlich negative oder distanzierte Haltung zur städtischen Lebensweise zugrunde liegt. Das Eingreifen Gottes, das die Vollendung des Stadt- und Turmbaus verhindert, richtet sich nicht gegen das Städtewesen, wie es den Menschen in Israel und Juda vertraut war, und auch nicht gegen das Städtewesen im Allgemeinen. Es richtet sich vielmehr gegen eine bestimmte Kategorie von Städten, die etwas Fremdes für die israelitisch-judäische Lebenswelt waren, nämlich gegen Hauptstädte altorientalischer Großreiche.78 Die Haupt- und Residenzstädte des neuassyrischen Reiches und später des neubabylonischen Reiches waren Megacitys79 im Vergleich zu den eisenzeitlichen Städten Palästinas. Es waren fremde Welten, die durch ihre Monumentalität, Komplexität und Größendimension alles in den Schatten stellten, was die Menschen in Israel und Juda als Stadt kannten. Als Machtzentren der assyrischen und babylonischen Könige waren sie zugleich die Ausgangspunkte für die Bedrohung der städtischen Lebenswelt in Israel und Juda. Diese fremde und zugleich bedrohliche Welt altorientalischer Großstädte bildete den Hintergrund für harsche prophetische Polemik, wie sie beispielsweise gegen Ninive und gegen Babylon überliefert ist.80 Nah 3,4 bezeichnet Ninive als Hure.81 Und in ganz besonderer Weise hat Babylon Verunglimpfungen auf sich gezogen – als Sinnbild der verwerflichen Stadt schlechthin (Jes 47; Jer 50–51) und als Gegenpol zu Jerusalem, der 76
Vgl. dazu Riede, Stadt. Vgl. zuletzt Maier, Jeremiah, 640–653. Zur Personifikation der Stadt als Frau siehe Maier, Daughter, und Krispenz/Schart, Stadt, 9–12. 77 Auf die Bedeutung der Stadt als geschützten Lebensraums verweisen letztlich auch Bilder, die dies ins Gegenteil verkehren und die Stadt als einen Bereich, in dem Unheil herrscht, beschreiben (Ps 55), bzw. als Raum der Feinde, die wie Hunde durch die Stadt streifen (Ps 59,7.15); vgl. dazu van Oorschot, Stadt, 175f. 78 Zur These, der Bau einer altorientalischen Großstadt stehe hinter dem Grundtext von Gen 11,1–9, siehe Uehlinger, Weltreich; siehe auch Uehlinger, Bauen. Zuletzt wurde diese These wiederholt durch Giorgetti, Account, 1–20. 79 Das Konzept der Megacity bildete einen Rahmen für die Darstellung der Stadt Uruk als einer frühen Großstadt; vgl. Ess, Uruk, 39–45. 80 Vgl. Krispenz/Schart, Stadt, 14f. 81 Vgl. auch Jes 1,21 für Jerusalem, Jes 23,15–18 für Tyros und Mi 1,7 für Samaria.
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Stadt Gottes.82 Darin liegt auch der Zielpunkt der Erzählung von Gen 11,1–9, denn neben dem Namen »Babel« (bbl v. 9), dessen Zugehörigkeit zur ursprünglichen Form der Erzählung umstritten ist, verweist auch die Angabe, das Land Schinar (šnᶜr v. 2) sei der Ort der Handlung gewesen, in das südliche Mesopotamien.83 Aber auch unabhängig von der Frage, ob Babylon oder eine assyrische Hauptstadt den Hintergrund für die Entstehung der ursprünglichen Fassung von Gen 11,1–9 bildete, ist deutlich, dass sie die grundsätzlich positive Bedeutung der städtischen Lebensweise in Israel und Juda nicht infrage stellte. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Prozesse von Urbanisierung und Deurbanisierung den Rhythmus der Kulturgeschichte Palästinas in vorhellenistischer Zeit maßgeblich prägten. Das Verhältnis städtischer Kulturen in Palästina zu solchen in Syrien-Mesopotamien war ein Verhältnis von Peripherie zu Zentrum. Daraus erwuchs in Israel und Juda eine an vielen Stellen greifbare grundsätzliche Skepsis und Abneigung gegen Megacitys der Großmächte, die Israel und Juda in ihrer Existenz bedrohten und vernichteten. Die fremden Großstädte und deren urbane Selbstdarstellungen wurden als Verkörperungen der Bedrohung und damit als Feindinnen der eigenen Städte wahrgenommen, auf deren Schutz die Menschen hofften. Die Stadtkultur der israelitisch-judäischen Königszeit zeichnete sich einerseits durch Ansätze zu einer arbeitsteiligen Gesellschaftsform aus. Andererseits lebten die meisten Stadtbewohner in Israel und Juda von der Landwirtschaft, und die städtische Lebensform bot trotz einiger Nachteile den passenden Rahmen für ihre bäuerliche Lebensweise. Die Analyse des Städtewesens in Israel und Juda widerlegt die Annahme einer grundsätzlichen kollektiven Skepsis den Städten im eigenen Land gegenüber. Eine Untersuchung, die nach der RessourcenFunktion städtischer Lebensweise in Israel und Juda fragt, zeigt vielmehr den tragenden und zentralen Stellenwert der Städte für die israelitischjudäischen Gesellschaften. Als wesentlicher Aspekt der Stadt tritt dabei ihre Schutzfunktion in den Vordergrund. Im Verlauf der Geschichte Israels und Judas entwickelte sich die Stadt Jerusalem während der späten Königszeit zur alleinigen Trägerin dieser Schutzfunktion. Dadurch – und durch Jahwes Wohnen auf dem Zion – wurde Jerusalem zum Brennpunkt des Niedergangs der israelitisch-judäischen Stadtkultur und zum Ausgangspunkt der Hoffnung auf Erneuerung. 82 Vgl. Sals, Biographie. Zu Babylon als Gegenbild Jerusalems vgl. auch van Oorschot, Stadt, 178f. 83 Und damit nicht in das Zentrum des neuassyrischen Reichs, wie es bei Christoph Uehlingers Annahme zu erwarten wäre, dass der Bau der »Sargonsburg« Dur Scharrukin den historischen Hintergrund für die Entstehung von Gen 11,1–9 darstelle; vgl. Uehlinger, Weltreich. Zu Schinar im Buch Genesis siehe Jericke, Ortsangaben, 49. Uehlinger, Bauen, 41, vermutet, die Erzählung sei sekundär im 6. Jahrhundert v.Chr. in Babylon (re)lokalisiert worden. In hellenistischer Zeit verlieh der Versuch Alexanders, Babylon zur Hauptstadt zu erheben und den Tempelturm Etemenanki wieder zu errichten, der Erzählung eine neue Aktualität; vgl. dazu Witte, Urgeschichte, 320–323.
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– Palästina in vorhellenistischer Zeit (Handbuch der Archäologie, Vorderasien II, Band I), München 1988 – / Weippert, Manfred, Dreischiffige Pfeilerhallen in der Eisenzeit, in: ZDPV 130 (2014), 1–42 Wilkinson, Tony James [u.a.], Contextualizing Early Urbanization. Settlement Cores, Early States and Agro-pastoral Strategies in the Fertile Crescent During the Fourth and Third Millennia BC, in: Journal of World Prehistory 27 (2014), 43–109 Witte, Markus, Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,1–11,26 (BZAW 265), Berlin / New York 1998 Zorn, Jeffrey, Estimating the Population Size of Ancient Settlements. Methods, Problems, Solutions, and a Case Study, in: BASOR 295 (1994), 31–48 – War and Its Effects on Civilians in Ancient Israel and Its Neighbors, in: Nadali, Davide / Vidal, Jordi (Hg.), The Other Face of the Battle. The Impact of War on Civilians in the Ancient Near East (AOAT 413), Münster 2014, 79–97 Zwickel, Wolfgang, [Art.] Stadt I, Altes Testament, in: TRE 22, Berlin / New York 2001, 90–92 – [Art.] Dorf, in: Betz, Otto / Ego, Beate / Grimm, Werner (Hg.), Calwer Bibellexikon I, Stuttgart 2003, 252 – Leben und Arbeit in biblischer Zeit. Eine Kulturgeschichte, Stuttgart 2013 Zwingenberger, Uta, Dorfkultur der frühen Eisenzeit in Mittelpalästina (OBO 180), Fribourg 2001
Abstract The history of ancient Palestine during the Bronze and Iron Ages is characterized by processes of urbanization and de-urbanization. A first urban culture during the Early Bronze Age II–III (ca. 3000–2300 BCE) is followed by a second urban culture during the Middle and Late Bronze Age (ca. 2000–1200 BCE) and by a third urban culture during the Iron Age II (ca. 1000–586 BCE). During these urban phases the type of a fortified settlement containing private and public architecture is the most frequent settlement type in Palestine. However, even in these three urban phases the urban settlements in Palestine were much smaller than the contemporaneous cities in Egypt and Syria-Mesopotamia. Nevertheless the terms »city« and »urban settlement« hold true for these settlements in Palestine. It is clearly possible to distinguish them from smaller unfortified villages without public architecture. Such villages exist next to cities during the urban periods in Palestine, and they occur most frequently during the intermediate non-urban periods. During the time of the monarchy in Israel/Judah, i.e. during the third urban culture in Palestine, most people lived in cities. Archaeological findings and Old Testament texts testify that the aspect of protection was the most important aspect of urban settlements. The fortified cities gave shelter in situations of external threat. Cities and urban life had a positive significance in the societies of Israel and Judah and were considered as high values. This conclusion contradicts former exegetical analyses of Gen
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11,1–9, the building account of the »Tower of Babel«. Former analyses argued in favor of a general rejection of urbanism in Israel/Judah as background of the account. In contrast, a thorough investigation – including the archaeological sources – leads to the assumption that Gen 11,1–9 and other Old Testament texts express a critical attitude not against urbanism in general but only against the megacities of the great empires surrounding Israel and Judah. In the later course of the history of Israel/Judah the city of Jerusalem took over a crucial role concerning the protective character of the city. With this function, the city of Jerusalem became the focus of the fall of urbanism in Israel/Juda – as well as the gateway for the hope of renewal.
Jürgen Moltmann
Ist die Stadt ein Ort der Hoffnung?
1. Die moderne Urbanisierung der Menschheit Seit Beginn des industriellen Zeitalters hat eine allgemeine Urbanisierung das Menschengeschlecht ergriffen.1 Mehr als 50 % der Menschen lebt heute schon in Städten, und monatlich kommen Millionen hinzu. Überall auf dem Globus wachsen Dörfer zusammen zu Städten, und Städte wachsen zu riesigen Stadtgebieten zusammen. Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern gelten als »World City«. In Asien und Afrika entstehen solche Mega-Cities, deren Namen man im alten Europa kaum kennt. – Die Stadt ist zur Zeit offensichtlich die Hoffnung der Menschen auf Freiheit von der Natur und auf viele ökonomische Chancen und soziale Beziehungen. – Aber hat diese Stadt selbst eine Zukunft? Welche Zukunft stellen wir uns für unsere Stadt im Besonderen und für die Menschheit im Allgemeinen vor? Beginnt die »schöne, neue Welt« in Mexico City, Sao Paulo oder Chungging? Oder beginnt dort die ökologische Katastrophe unseres Planeten? Ist Megalopolis eine Hoffnung auf das gute Leben oder eine Apokalypse des selbstverschuldeten Untergangs der Menschheit? Im Mythos gesprochen: Arbeiten wir in »Babylon« an unserem eigenen Gefängnis, oder nehmen wir das »himmlische Jerusalem« der Freiheit vorweg, wenn wir solche modernen Großstädte bauen und in ihren Möglichkeiten leben wollen? Die Bezeichnung »Stadt« mit ihren bekannten, vorindustriell geprägten Bildern reicht nicht mehr aus. Schon eine amerikanische »City« ist etwas anderes: Statt eines Zentrums mit Marktplatz, Kirche und Rathaus hat sie oft nur eine »main street« oder einen »broadway« oder gar kein Zentrum wie Los Angeles. Die asiatische »Mega-City« wie Chungging, Shanghai oder Seoul kommt Europäern wie ein ungeordnet wucherndes Konglomerat von Hochhäusern vor. Die afrikanische Megalopolis weist riesige Slum-Gebiete auf; sind sie einmal saniert, entstehen neue. In Lateinamerika ist Sao Paulo ein sich ungeordnet ausbreitendes Stadtgebiet. Man 1
Mumford, City; Burdett/Sudjic, Living.
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muss also unterscheiden zwischen einer alten »Stadt« wie Tübingen und einer zentralen Euro-Stadt wie Berlin, Paris oder London und jener neuen globalisierten »World City« wie Seoul, Manila, Lagos oder Sao Paulo. a) Die antike Stadt Wie sind Städte entstanden und organisiert? Im Zentrum standen der Tempel der Stadtgötter und die Burg oder der Palast der Herrscher, der Markt und der Hafen für den Handel. Jeder Tempel steht nach antikem Verständnis in der »Mitte der Welten«, axis mundi.2 Er bietet die »Öffnung nach oben« und ist das »Tor zum Himmel«. Er bietet die »Öffnung nach unten« und ist das Tor zur Totenwelt der Ahnen. Er bietet in seiner Ausrichtung und seinen Maßen ein Abbild des bekannten Kosmos, imago mundi. Der Tempel steht auch in der Mitte der Zeiten. An Sommer- und Wintersonnenwenden fängt er bestimmte Strahlen der Sonne auf. Der antike Tempel steht in der Mitte der drei Welten und ist Abbild des Himmels, des Kosmos und der Ahnenwelt. Durch die Urbild-Abbild-Entsprechungen werden die Harmonie der Menschenwelt mit der Welt der Götter, der Ahnen und der kosmischen Welt zum Ausdruck gebracht. Das schafft Ordnung im Chaos der Welten und Frieden in den Katastrophen der Natur und der Geschichte und bringt die Menschenwelt in Übereinstimmung mit der Natur der Erde, mit den Ahnen der Geschichte und mit den Möglichkeiten des Himmels. Darum sind nach den Tempelmaßen die Stadtmuster angelegt. Die Nord-Süd-Achse ist in chinesischen Städten wichtig, die OstWest-Achse in europäischen Städten. Im Kult des Tempels wird die Kultur der Städte und des Landes geheiligt. Das ist die Funktion des Heiligtums für die profane Umwelt. Die biblischen Tempelvorstellungen entsprechen den antiken Mustern. Als Jakob im Traum die Himmelsleiter gesehen hatte, rief er aus: »Wie furchtbar ist diese Stätte […] Hier ist die Pforte des Himmels« (1 Mos 28,17). Gott offenbart Mose den Bauplan seines Tempels (2 Mos 25,8). David übergibt Salomo den Bauplan, und dieser baut den Tempel Jahwes auf dem Zion (1 Chron 28,19). Dadurch entsteht das biblische Bild Jerusalems mit dem Gottesberg Zion. Der Prophet Ezechiel entwirft einen ganzen Bauplan für das himmlische Jerusalem in Kapitel 40–48, den der Seher Johannes in Offenbarung 21–22 aufnimmt. Das »himmlische Jerusalem« wurde nach israelitischem Verständnis zugleich mit dem Garten Eden geschaffen. Darum verschmelzen in der Apokalypse der Gottesgarten und die Gottesstadt zu einer harmonischen Gartenstadt. Die altkirchliche Basilika, der romanische Dom und die gotische Kathedrale waren als Abbild des »himmlischen Jerusalem« gedacht. Sie sind nach Osten ausgerichtet, weil Christus im Sonnenaufgang auferstanden ist und damit 2
Eliade, Heilige, 29–39.
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das Tor zum Paradies geöffnet hat. Diese Kirchen stehen in der Mitte der Städte, ihre Türme beherrschen die Stadt, ihre Gottesdienste heiligen Stadt und Land. 1. Die politische Macht war eng mit der religiösen Macht verbunden, weil die Könige und Kaiser zugleich die Hohepriester ihrer Städte und Reiche waren. Der römische Cäsar war zugleich Pontifex maximus. Der chinesische »Himmelssohn« vollzog als Priester seines Landes die Rituale am Himmelsaltar und am Altar der Erde in Peking. Religiöse und weltliche Macht waren in der Antike ungetrennt. Der Kaiser wurde durch die Weihe des Himmels geheiligt und unantastbar; die Götter des Vaterlands sorgten für Wohlfahrt und Frieden, wenn ihnen die nötigen Opfer und Verehrungen zuteil wurden. 2. Die ersten Städte – wir rechnen Uruk in Mesopotamien und Jericho in Palästina dazu – haben auch neue Organisationsformen der Bevölkerung geschaffen. Die Dörfer wurden von Familien und Clans bewohnt. In der Stadt wurde der Bürger, citoyen, geboren. Gewiss gab es in den antiken Städten wie heute auch Familiendynastien, aber bei Gefahr von außen mussten alle Bürger zur Verteidigung organisiert werden. Aus den verschiedenen Handwerken entstanden die Gilden und Zünfte. Verschiedene Ethnien wurden in getrennten Vierteln untergebracht. Es bildeten sich Klassenunterschiede zwischen reichen Patriziern und armen Plebejern wie in Rom heraus. Es gab Stadttyrannen, aber die Städte bildeten auch die ersten politischen Demokratien wie in Athen. 3. Zugleich mit Tempel und Burg bildeten sich Märkte für den Handel mit Waren. Die Stadtbevölkerung war auf die Produkte der Landbevölkerung angewiesen. Darum wurden die Märkte zum kommerziellen Zentrum der Städte. Die Steuern unterhielten sowohl die Tempel wie die Burg. Märkte entstanden an den Kreuzungen großer Handelsrouten und an den Häfen an Flüssen oder Meeren. Diese Umschlagplätze verdienten gut am entstehenden Fernhandel, z.B. mit Zinn oder Kupfer in der Bronzezeit. Die Hafenstädte am Mittelmeer und die Städte an der Seidenstraße nach China und der Weihrauchstraße in Arabien sind auf diese Weise reich geworden. In Indien und Ostasien wird es nicht anders gewesen sein. b) Die moderne Industriestadt Dieses Muster des Tempels, der Burg, des Marktes und des Hafens ist im Kern moderner Städte auch heute noch erkennbar, besonders im alten Europa. Die von Spaniern und Portugiesen gegründeten Kolonialstädte in Lateinamerika haben am zentralen Platz außer der Kirche und dem Gouverneurspalast auch die Kasernen. In der Volksrepublik China ist der »Platz des himmlischen Friedens« immer noch das Zentrum des Reiches und die »Mitte der Welt«. Wie früher der Kaiserpalast, so stehen heute an
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ihm das Mausoleum für den großen Vorsitzenden Mao und die große Halle des Volkes. Das Zentralkomitee und das Politbüro der Kommunistischen Partei residieren im Bezirk Zhongnanhai, vom Volk abgeschirmt wie einst die »verbotene Stadt«. Wenn im Zuge der Industrialisierung aus Dörfern eine Stadt wird, entsteht in der Tat etwas Neues. Aus den Dörfern werden Stadtteile, aber diese Stadtteile tragen die alten Namen: Hamburg-Eimsbüttel, BerlinZehlendorf, Tübingen-Derendingen usw. Das sind urbanisierte Dorfgemeinschaften. Die Stadtverwaltung kann sie nicht als Stadtteile behandeln, z.B. bei der Bebauung und der Verkehrsplanung. Die amerikanischen Städte sind Einwandererstädte. In ihnen gibt es das italienische, das polnische, das karibische Viertel und natürlich »Chinatown«. Ich deute das so, dass Menschen sich immer zu vertrauten Gemeinschaften und in überschaubaren Wohnquartieren zusammenschließen. Sie mögen es nicht, zur »einsamen Masse« (Lonely Crowd) zu werden. Wie ist das in asiatischen Mega-Cities? Die Industrialisierung hat sowohl die vorhandenen Städte verändert wie eigene Industriestädte hervorgebracht. Das ist im deutschen Ruhrgebiet deutlich zu erkennen. Die Bischofsstadt Essen wurde von den Krupp-Werken in Besitz genommen und gründlich verändert. Kohle und Stahl übernahmen die Herrschaft. Arbeitssuchende Menschen strömten in die Fabriken und siedelten sich in ihrer Nähe an. Die polnische Einwanderung war beachtlich. Das ganze Ruhrgebiet wurde durch Verkehrswege vernetzt und kann als zusammenhängendes Mega-City-Gebiet begriffen werden. Ein gutes Beispiel der Ungleichzeitigkeit von feudaler Tradition und industrieller Innovation ist in Deutschland die Zwillingsstadt Mannheim/ Ludwigshafen beiderseits des Rheins: In Mannheim steht das größte Schloss und in Ludwigshafen die größte Fabrik Deutschlands: die chemische Industrie der BASF: die Residenzstadt Mannheim »heiter und freundlich«, die Industriestadt Ludwigshafen im »Fabrikschmutz«. »Ungleichzeitiges Zugleich« hatte Ernst Bloch, der in Ludwigshafen aufwuchs, über den Vergleich geschrieben.3 Die Industriestadt hat kein Zentrum. Menschen arbeiten nicht, um da zu leben, sie müssen dort leben, weil sie nur dort Arbeit finden. Der frühen Industrie im Ruhrgebiet war an einer festen Arbeiterschaft gelegen, darum bauten Krupp und die Bergwerksbesitzer Arbeitersiedlungen mit Gärten. Die Arbeiter waren selbstbewusste »Kruppianer«. Die späteren Industrieanlagen waren nur noch an Arbeit und Profit orientiert, darum wurden die Arbeiter allein gelassen und mussten für sich selbst sorgen. Die Wohnblocks und Hochhäuser in Asien sind wie »Taubenverschläge« (Pigeon Cage); die Straßen, auf denen Menschen gehen und sich begegnen können, werden durch unzugängliche Highways für den Autoverkehr ersetzt; die traditionellen Beziehungen der Menschen verschwinden. 3
Bloch, Erbschaft, 202–212.
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Nachbarschaften sind in Hochhäusern sehr schwierig. Der kleine Laden an der Ecke, in dem man mit den Nachbarn schwatzen konnte, ist der Shopping Mall gewichen, in der alle Käufer einander fremd sind. An manchen Ecken gibt es noch die »Kneipe«, aber man kennt sich nicht mehr und trinkt sein Bier allein. Es sind »Geister-Städte« entstanden. In den industrialisierten alten Städten liegt die Macht nicht mehr bei der Religion und der Regierung, sondern im commercial und im financial district, wie in London zu sehen ist. 2. Die Demokratisierung der kapitalistischen Stadt Die sozialistische Stadt, von Stalin befohlen und von Wladiwostok bis Berlin, von Riga bis Bukarest gebaut, ist gescheitert. Die Reste der öden, menschenfeindlichen Plattenbau-Vorstädte sind noch zu besichtigen. Welches Schicksal hat die kapitalistische Stadt, mit der wir es weltweit zu tun haben? Sie umfasst die neuen World-Cities ebenso wie die alten Euro-Cities wie auch die kleinen deutschen Universitätsstädte wie Heidelberg und Tübingen. Ich glaube, es geht heute überall darum, diese kapitalistische Stadt zu demokratisieren, um in ihr »Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit« durchzusetzen, damit in dieser Stadt menschenwürdig, naturgerecht und zukunftsoffen gelebt werden kann. Demokratie ist in der Stadt entstanden. Die Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte ist die urbane Lebensform. Um die kapitalistische Stadt mit ihren ungeahnten Möglichkeiten zu demokratisieren, brauchen wir Zukunftsaussichten: »Wo es keine Visionen mehr gibt, verdirbt das Volk« (Spr 29,18). Denn wenn die Hoffnungen sterben, erlahmt auch der Widerstand der Bürger gegen das Unrecht und die Gewalt. Eine dieser Visionen für die gerechte Stadt hat sich tief in das Bewusstsein der christlichen Völker eingegraben. Es ist die Vision der himmlischen Stadt Jerusalem, die auf die Erde kommt, um Himmel und Erde zu verbinden, damit Gott bei den Menschen und die Menschen bei Gott wohnen können.4 Die Gottesgeschichte der Welt – begann in dem Garten Eden, der griechisch Paradies genannt wurde, und sie endet in einer Stadt: das himmlische Jerusalem auf der Erde. – Das himmlische Jerusalem auf der Erde ist eine Gartenstadt, eine Einheit von Kultur und Natur. Die Bäume des Lebens stehen auf beiden Seiten des Flusses mit dem Wasser des Lebens, das es »umsonst« gibt (Offb 21–22). – Diese Stadt schließt nachts ihre Tore nicht, sie ist offen und gastfrei und sicher. – Diese Gottesstadt hat keinen Tempel, denn die Herrlichkeit Gottes ist ihr Licht und erleuchtet jeden Menschen, der in ihr wohnt. 4
Bauckham, Theology, 126–143; Borggrefe, Stadt.
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Das ist eine messianische Vision des Friedens, der Gott und die Menschen und die Natur in einer unermesslichen Fülle des Lebens umfasst. Die bürgerliche Revolution, die zugleich mit der industriellen Revolution begann, hat diesen Frieden mit »Brüderlichkeit« bezeichnet: »Alle Menschen werden Brüder«. Die »Schwestern« haben sich selbst dazu gesellt. Aber es geht gar nicht um ein erweitertes Familienleben, sondern um die menschliche Freundschaft in einer freundlichen Welt. Es geht konkret um die gastfreundliche Stadt und um die offene Nachbarschaft in gegenseitiger Hilfe und um den »offenen Himmel«. Anders gesagt: Es geht um die gerechte Stadt und um die solidarische Stadt. Wir wollen das jetzt an einzelnen Problemen aufzeigen, die die kapitalistische Stadt global aufwirft. Ich spreche als aufmerksamer Bürger, nicht als Fachmann. a) Dass unsere Städte kapitalistisch sind, weiß jeder, der wegen Mieterhöhung aus seiner Wohnung ausziehen muss. In den Innenstädten sind die Wohnungen so teuer geworden, dass nicht nur Arme, sondern auch die normal verdienenden Mittelschichten und Kinderreiche ausziehen müssen, weil die Mieten für sie unbezahlbar geworden sind. Das Wohnen ist zur Ware geworden und unterliegt der Logik des Marktes: der Profitmaximierung. Die Städte selbst verwandeln sich in Unternehmen mit eigenem Marketing, um ein investitionsfreundliches Klima zu schaffen. Gibt es ein Menschenrecht auf Wohnen und auf die Stadt? Gehört zur Demokratie nicht die »Gleichheit« der Menschen und die »Vergleichbarkeit ihrer Lebensverhältnisse«, wie es im deutschen Grundgesetz heißt? Es wäre inhuman, wenn die Höhe der Mieten bestimmen würde, wer mit wem in Nachbarschaft lebt. Darum müssen die Stadtverwaltungen Sozialwohnungen bauen und dürfen diese nicht bei Gelegenheit in Luxuswohnungen umwandeln, um die Mieten zu erhöhen.5 b) In kapitalistischen Städten gibt es überall ein Missverhältnis zwischen Privateigentum und Gemeineigentum. Privateigentum wird rechtlich geschützt und privat gepflegt, Gemeineigentum ist schwerer zu schützen, und es wird privat nicht besonders respektiert. Es gibt jedoch ein Gemeineigentum, das nicht privatisiert werden kann, weil es für jeden Menschen lebensnotwendig ist. Ich meine die »global commons« und nenne nur einige: – die Luft, die wir atmen – das Wasser, das wir trinken – der Boden, auf dem wir gehen 5
»Sie werden Häuser bauen und selbst darin wohnen, sie werden Reben pflanzen und selbst ihre Früchte genießen. Sie bauen nicht, damit ein anderer in ihrem Haus wohnt, und sie pflanzen nicht, damit ein anderer die Früchte genießt. In meinem Volk werden die Menschen so alt wie die Bäume. Was meine Auserwählten mit eigenen Händen erarbeitet haben, werden sie selber verbrauchen« (Jes 54,21f).
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– das Licht, das uns leuchtet – die Sicherheit, die uns leben lässt. Ich nenne zwei Beispiele negativer Art: Als Chiles Diktator Pinochet die Wasserrechte in Patagonien an den italienischen Benetton-Konzern verkaufte, kam ein findiger Bürger von Santiago auf die Idee, einen Park samt der Luft darüber zu kaufen, um nicht nur Eintrittsgeld, sondern auch Atemgeld zu verlangen. Daraus wurde zwar nichts, aber die Story zeigt die Grenzen der Privatisierung der global commons auf. »Unsere tägliche Luft gib uns heute«, seufzen Menschen nicht nur im Smog Pekings und Tokyos. Leider hat in Chile nicht mehr jeder Bürger freien Zugang zum Wasser. c) Als Ergebnisse der Privatisierung der Sicherheit sind in Amerika die »gated communities« der Reichen mit privatem Sicherheitspersonal auf der einen Seite und die Slums und Favellas der Armen mit ihren Bandenkriegen auf der anderen Seite entstanden. Die einen ersetzen die staatliche Polizei durch private Sicherheitsdienste, in die anderen traut sich kein Polizist bei Nacht mehr hinein. Die Sicherheit, die uns gemeinsam leben lässt, kann nur durch das staatliche Gewaltmonopol garantiert werden. Stadtverwaltungen dürfen das Gewaltmonopol weder an die gated communities abtreten noch in den Favellas aufgeben. d) Freiheit bedeutet auch Mobilität, aber ich habe in allen großen Städten auch gesehen, wie der moderne Individualverkehr mit Autos die Straßen verstopft und ganze Städte zeitweise unzugänglich macht. Die Ideale der »autogerechten Stadt« oder des »stadtgerechten Autos« sind gestorben. Man kann Autofahren so teuer machen, dass nur noch Reiche nach London hineinfahren können; man kann heute gerade und morgen ungerade Nummernschilder fahren lassen; man kann car-sharing und rent-a-car fördern; man kann Tübingen zur Fahrradstadt machen und die Stadtautobusse einmal kostenfrei fahren lassen – aber der »Stein der Weisen« scheint noch nicht gefunden zu sein. Vielleicht gibt es ihn auch gar nicht. Man kann tausend Menschen auf wenigen Quadratmetern Boden wohnen lassen, wenn man Hochhäuser baut, aber mit tausend Autos geht es eben nicht. 3. Die Stadt und die Ökologie Mit dem Wachstum der Städte wächst proportional auch die Umweltbelastung. Es wird immer mehr Land verbraucht, und die Betonklötze der Hochhäuser stehen in der Landschaft »wie eine Armee in Feindesland« (Ernst Bloch). Industrie und Verkehr verbreiten Feinstaub und Smog in den Städten, dass man an manchen Tagen die Sonne nicht sehen kann. Das Grundwasser unter Peking ist um 100 Meter abgesackt. Die Müllberge häufen sich nicht nur auf den Straßen von Neapel. Nicht nur die Natur draußen, auch die Natur drinnen im Menschen wird verändert. Stadtbewohner verlieren den natürlichen Zyklus von Tag
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und Nacht, von Sommer und Winter, auf den Leib und Seele bisher abgestimmt sind. Die Arbeit wird nach linearen Zeitabläufen organisiert, während die Natur nach Zeitzyklen verläuft. Das urbane Leben verspricht Freiheit von der Natur. Darum spielt Gesundheit keine Rolle mehr, »Fitsein« ist alles, was zählt, und das wird durch die Arbeit vorgegeben. Das Problem, wie Stadtkultur und die Natur draußen im Land und drinnen im Menschen auf einen lebensfähigen Nenner gebracht werden können, ist so alt wie die Stadt selbst, es existierte schon im alten Rom. Darum gibt es viele Versuche der Heilung: Die radikalste Idee ist die Dezentralisierung, also die Auflösung der Mega-City. »Small is beautiful«, hörte man einst. Diese Idee scheiterte am Landverbrauch. Vielerorts kann man die Stadt nicht mehr ausbreiten, sondern muss sie wie in Manhattan und Hongkong in die Höhe bauen. Doch damit verlieren die Stadtbewohner ihre Bodenhaftung. Kann man im 60. Stockwerk Kinder aufziehen? Kinderreichtum gibt es in den städtischen Familien nicht mehr, dazu kommt die Überalterung der Bevölkerung. Das heißt: Die Mega-City wird zur Einwandererstadt. Eine andere Idee ist es, die großen Städte mit Parks zu durchsetzen. Hyde-Park in London, Central Park in New York, Tiergarten in Berlin. Damit wird dem Stadtkörper eine »grüne Lunge« verpasst. Es ist erstaunlich, wie sehr das Volk dieses grüne Gemeineigentum gegen Privatisierung und Bebauung verteidigt hat. Selbst der Strand der Cobacabana in Rio de Janeiro ist frei. Als am Beginn des 20. Jahrhunderts die deutsche Jugendbewegung »aus grauer Städte Mauern« ins Land hinauszog, gab es schon die Idee der »Gartenstadt« in Vorortsiedlungen mit Eigenheim und Garten. Für Arbeiter gab der Leipziger Arzt Moritz Schreber die Idee des »Schrebergarten« vor. Man sieht die kleinen Gärten mit den Hütten in Deutschland entlang der Bahndämme. 2014 feiert diese Bewegung ihr 150. Jubiläum. Heute kommt aus den USA die Idee des »City-gardening« und des »Greening of the City« herüber. Das sieht in New York und Chicago auch schon beeindruckend »grün« aus. Es gilt aber nur für Bäume und Pflanzen; die City hat den Kontakt mit dem Tierreich aufgegeben. In Peking hat Mao eines Tages alle Hunde töten lassen, in Rom sieht man keine Katzen mehr auf den Ruinen liegen. Dafür gibt es in jeder großen Stadt einen Zoo. In dem kann man die Tiere in Gefangenschaft bewundern. Allerdings kommen wilde Tiere auch selbst wieder zurück: In London hausen Stadtfüchse, in Kassel Waschbären, in Berlin-Grunewald verwüsten Wildschweine die Gärten. 4. Der öffentliche Platz in der Stadt Der zentrale Platz ist der Ort für die Öffentlichkeit in der Stadt. Er ist die politische Bühne der städtischen Gesellschaft, wie der Dorfplatz der Versammlungsort für die Dorfgemeinschaft ist. Es ist der Ort für die Bürger-
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versammlungen, für die Auseinandersetzungen zwischen dem Volk und der Regierung, der Ort der Machtdemonstrationen und der Aufstände, der Huldigungen und der Hinrichtungen, der Märkte und der Volksredner. Wer den zentralen Platz beherrscht, beherrscht die Stadt. Paulus ging nicht nur in Athen auf den Marktplatz, um das Evangelium zu verkündigen, aber in Athen traf er auf die diskussionsbereiten Philosophen, Stoiker und Epikureer, die »etwas Neues« hören wollten und eine öffentliche Debatte begannen (Apg 17). Paulus hatte keinen großen Erfolg, weil er Glauben, aber keine Debatten erwecken wollte. Die antike Geschichte zeigt die öffentliche Diskussion auf dem öffentlichen Platz. Die italienischen Renaissancestädte hatten Plätze, die wir noch heute in Florenz und Siena bewundern. San Marco in Venedig gleicht einem öffentlichen Wohnzimmer, bestens geeignet für die Karnevalsfeste; der schöne Platz in Siena wird für mittelalterliche Spiele vor Touristen genutzt. Damit kommen wir zu den gegenwärtigen, tragischen Ereignissen auf den öffentlichen Plätzen: Der Pariser Place de la Concorde sah die Morde der französischen Revolution von Marie Antoinette bis Robespierre, darum trägt er jetzt diesen friedlichen Namen. Der Tian-anmen Platz in Peking sah 1989 das staatliche Massaker an der studentischen Demokratiebewegung. Seit März 1977 demonstrieren die Mütter der »Verschwundenen«, das heißt der Ermordeten unter der Militärdiktatur in Argentinien, auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires an jedem Donnerstag. Der Tahrir Platz in Kairo wurde zur öffentlichen Bühne für den »arabischen Frühling« und der Niederschlagung der »Moslembrüder« durch die ägyptische Militärdiktatur. Der Maidan Platz in Kiew wurde 2014 umkämpft von Revolutionären und Antirevolutionären, bis der Staatspräsident nach Russland floh. Demokratiebewegungen versuchen heute, den öffentlichen zentralen Platz zu besetzen, um sich auf der öffentlichen Bühne zu zeigen und das Volk gegen die herrschenden Diktaturen zu mobilisieren. Auf dem Alexanderplatz in Berlin rechnete das Volk mit den SED-Machthabern im Oktober 1989 friedlich und erfolgreich ab: »Wir sind das Volk!« 5. Globale Stadtkultur Als im 19. Jahrhundert die Eisenbahnen gebaut wurden, entstanden überall in Europa die gleichen Bahnhöfe von Victoria Station in London bis Lehrter Bahnhof in Berlin. Heute gleichen sich die Flughäfen weltweit. Man sieht gar nicht, wo man ankommt. Dann fahren einen die gleichen Taxis zu den gleichen Hotels, und man ruht weltweit in den gleichen Betten. Es sind ja auch dieselben globalen Hotelketten. Die neuen Hochhäuser sind sich sehr ähnlich, denn sie werden von denselben internationalen Stararchitekten gebaut. In den Kaufhäusern verdrängen die bekannten Weltmarken Armani, Vuitton, Boss etc. die einheimischen Pro-
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dukte. In den Discos wird überall die gleiche Musik aufgelegt. Es hat sich eine globale Einheitskultur etabliert, die die lokalen Kulturtraditionen verdrängt und zur Folklore erniedrigt. Den globalisierten Touristen werden lokale Tanzgruppen und Gesangvereine vorgeführt. Von der Kultur fremder Länder sehen und hören sie nichts. In den großen Städten muss alles jederzeit verfügbar sein, die Jahreszeiten spielen keine Rolle mehr: Erdbeeren zu Weihnachten, Äpfel zu Ostern und Spargel im Herbst. Die Freiheit des urbanen Menschen besteht darin, jederzeit alles haben zu können, wenn er es sich leisten kann. Alle Restaurants der Völker stehen ihm auf den Straßen zur Verfügung. »Alles ist möglich«, verspricht die globalisierte Stadt. Aus der grünen Bewegung ist der Slogan bekannt: »Denke global – handle lokal«. Das kann man auch auf die Ernährung anwenden: »Denke global – iss und trink saisonal und lokal«. Bleibe beim Einkauf in deiner Region. Auch in der Weltstadt kann man »der Natur entsprechend leben«. Man muss es nur wollen und sich wehren. Die globale Einheitskultur muss die lokalen Kulturtraditionen nicht verdrängen, sondern kann sie auch zur Begegnung und zum fruchtbaren Austausch bringen. Man muss es nur wollen. Dafür müssen die Traditionen zu neuem Selbstbewusstsein gegenüber der langweiligen globalen Einheitskultur erwachen. Die Städte gewinnen ihre Eigenart und geben ihren Bürgern Selbstbewusstsein durch ihre Stadtfeste:6 München durch das Oktoberfest, New York durch den Stadtmarathonlauf, Rio durch den brasilianischen Karneval. Städtische Feste sind die »Liturgie der Stadt«. Die Bürger identifizieren sich mit ihren Städten. In vielen Städten Lateinamerikas bieten die lokalen Fußballvereine Zugehörigkeitsgefühl und Heimatbewusstsein. In Deutschland veranstaltet die Evangelische Kirche alle zwei Jahre in einer Großstadt den »Evangelischen Kirchentag« für drei Tage mit 100.000 Teilnehmern. Die katholische Kirche hat seit 150 Jahren den »Katholikentag«. In Korea ist Evangelisation ein Fest für die Stadt. Damit zeigt die Christenheit öffentliche Präsenz. Das religiöse Fest kehrt in die säkulare Stadt zurück. Die Städte feiern nicht die Jahreszeiten, dafür gibt es eine urbane historische Gedenkkultur, wie die vielen Denkmale beweisen, die wir in jeder Stadt besichtigen können. Noch etwas ist mir aufgefallen: Die Stadt ist ein Konglomerat von komplexen Systemen im Verkehr und in der Kommunikation, in der Produktion und im Vertrieb von Waren und Dienstleistungen. Ein Stadtmensch muss in der Lage sein, diese Systeme rasch zu begreifen und zu erfassen, wie sie funktionieren und wie er funktionieren muss. Sie zwingen ihn, statt frei zu leben zu »funktionieren«.
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Conrad, Liturgie, 207–223.
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6. Die Mega-City als Herausforderung des Christentums Vor 40 Jahren vertrat Harvey Cox die These, dass die Säkularisierung der modernen Menschen in ihrer Urbanisierung begründet sei. »The secular City« hat keinen Tempel! Er hat sich vor 15 Jahren korrigiert und ein Buch geschrieben über »Religion in the Secular City«,7 und er hat Recht daran getan: Religion verschwindet nicht durch Urbanisierung, sie verändert sich mit den Menschen. An sich ist die Stadt keine besondere Herausforderung für das Christentum, war doch das frühe Christentum eine ausgesprochene Stadtreligion. Es ist nicht aus einer Naturreligion einer Landbevölkerung hervorgegangen, sondern in der Stadt Jerusalem entstanden und breitete sich in den Häfen und Städten des Mittelmeeres aus, wie die Briefe des Apostel Paulus zeigen. Menschen wurden aus Glauben Christen, nicht aus Ehrfurcht vor den Kräften der Natur. Die Heiden galten als pagani, das heißt Landbevölkerung. Die Reformation war zum großen Teil von den Städten Zürich, Straßburg und Genf getragen. Protestantismus galt in Deutschland als Stadtreligion. Mit der frühen Industrialisierung in England breiteten sich die Freikirchen unter den heimatlos und bindungslos gewordenen Arbeitern aus – besonders die methodistischen Kirchen. Der Aufbruch der Pentecostal Churches seit dem Azusastreet Revival in Los Angeles 1906 ist ein religiöses Großstadtphänomen. Sie feiern ihre Gottesdienste in Garagen und leeren Fabrikhallen. In den Migrationsbewegungen der Industriezentren tritt an die Stelle der familiären Zugehörigkeit zur Kirche die persönliche Glaubensentscheidung und die freiwillige Gemeinde. In den großen Städten werden Bindungen lockerer, die Wahlfreiheit nimmt zu, Menschen werden mobiler. Darauf müssen sich die Kirchen einstellen, und sie tun es am besten, wenn sie missionarisch einladende Gemeindekirchen werden.8 a) Manche fragen, ob Mega-Cities Mega-Kirchen brauchen, andere versprechen sich mehr von kleinen christlichen Gemeinschaften. Ich denke, das muss kein Gegensatz sein: Jede lebendige Gemeinde besteht aus vielen kleinen Gemeinschaften. Das waren und sind die christlichen Familien, das sind und werden immer mehr die Hauskirchen. Um solche Hauskirchen zu bilden, ist christliche Gastfreundschaft nötig. Um gastfrei zu sein, ist gute Nachbarschaft nötig. Ich habe kürzlich die Bewegung »Meet your neighbour« kennengelernt. Das war früher eine Selbstverständlichkeit: Wenn man in einen anderen Ort zog, stellte man sich den Nachbarn vor, und die Nachbarn begrüßten einen. In den modernen Hochhäusern aber kennen viele Leute ihre Nachbarn 7 8
Cox, Secular City; Cox, Religion. Faith in the City; Sievernich/Wenzel, Aufbruch; Eckholt/Silber, Glauben.
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rechts und links und oben oder unten nicht. Sie achten auch nicht aufeinander und kommen sich in Notfällen nicht zu Hilfe. Immer wieder gibt es Fälle von Toten, die erst nach Wochen in ihrer Wohnung gefunden werden. Gute Nachbarschaft ist lebensnotwendig. Aus guter Nachbarschaft entstehen Hauskirchen. Hauskirchen müssen offen und anschlussfähig für Fremde sein. Werden sie zu groß, müssen sie sich teilen. Eine offene christliche Gemeinde ist auch der Ort, an dem vor Gott alle Menschen gleich sind. Reichtum und Armut bestimmen hier nicht den Wert eines Menschen. Frauen und Männer werden in ihrer gleichen Menschenwürde geachtet. Die moderne Konkurrenzgesellschaft vereinzelt, die christliche Gemeinschaft verbindet. Wenn man zu ihr kommt, muss man es schon spüren: »Bei euch ist es nicht so …« wie im Geschäft oder in der Fabrik. Die Alternative zur Armut ist nicht Reichtum, sondern die Alternative zu Armut und Reichtum ist: Gemeinschaft. Das ist in einer Gemeinde Christi erkennbar. In vielen Städten gehören für die Kirchen Gemeindearbeit und Stadtteilarbeit zusammen. Das bedeutet auf der einen Seite die Beteiligung an Bürgerinitiativen, auf der anderen Seite die Suppenküchen, auch »Tafel« genannt, für Arme und Wärmestuben für Obdachlose im Winter, free medical care, Rechtsberatung, Lebenshilfe und Hospizbegleitung für Sterbende. Eine lebendige Gemeinde hat so viele Gaben und Energien des Heiligen Geistes! Jede Frau und jeder Mann wird gebraucht und kann sich einbringen. Die größeren kirchlichen Verbände nehmen auch an Stadtplanungen teil, um die genannten Probleme zu lösen. Dafür gibt es nicht nur kirchliche Theologie, sondern auch öffentliche Theologie, public theology, und politische Theologie. b) Den Himmel über der Stadt offen zu halten, das war früher die Aufgabe der Stadt- und der Staatsreligion. Dafür opferte der chinesische Kaiser an den Altären in Peking. Moderne Demokratien haben keine Staatsreligion mehr. An die Stelle der alle verbindenden Staatsreligion ist die Religionsfreiheit aller Menschen getreten. Ist damit der Himmel abgeschafft oder privatisiert? Religionen halten die transzendente Dimension jedes einzelnen Lebens und des gemeinsamen Lebens einer Stadt oder eines Landes offen. Die christlichen Gottesdienste sind das »Tor zum Himmel«, wie Jakob nach seinem Traum von der Himmelsleiter den Ort Bethel nannte, an dem er erwachte (1 Mos 28,19). Und mit der Auferstehung Christi hat sich der Himmel über der ganzen seufzenden Kreatur geöffnet, wie der Apostel Stephanus gesehen hat: »Siehe, ich sehe den Himmel offen« (Apg 7,56). Darum gehören das Gebet für die Stadt und der Segen »urbi et orbi«: der Stadt und dem ganzen Erdkreis, in jeden Gottesdienst, nicht nur dem Papst in Rom. »Suchet der Stadt Bestes!«
Ist die Stadt ein Ort der Hoffnung?
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In deutschen Städten kommt es immer wieder zu spontanen Gottesdiensten des Volkes. Nach dem Selbstmord eines bekannten Fußballspielers strömten viele Menschen in die Stadtkirche in Hannover. In Erfurt und Winnenden versammelten sich Menschen nach Amokläufen von Schülern mit vielen toten Kindern auf öffentlichen Plätzen, um ihre Gottesklage zum Ausdruck zu bringen. c) Die Mega-City ist zur Zeit die große Hoffnung der Menschheit. Hat die Mega-City Zukunft und hält sie ihr verlockendes Versprechen der Freiheit und der vielen Möglichkeiten des Lebens? Wir wissen es nicht, aber wir wissen, dass nur die Große Stadt im wörtlichen Sinne Zukunft hat, wenn auch eine unbekannte und sehr gefährliche Zukunft. Nur die Stadt hat Erinnerungen und Hoffnungen und lebt in der ständigen Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft. Darum wird die Große Stadt ständig umgebaut. Wenn man heute von Zukunft spricht, erregt man bei vielen Menschen nur Ängste, denn sie wünschen, dass die Gegenwart so bleibe, wie sie ist. Das hat Gründe: Die Urbanisierung der Menschheit gehört zum großen Projekt der Modernen Welt. Weil der Ausgang ungewiss ist, ist sie ein gefährliches Experiment. Geht dieses Experiment der Urbanisierung schief, werden kaum noch Menschen da sein, die aus dem Schaden klug werden. Insofern ist es ein einmaliges und vielleicht das finale Experiment der Menschheit. Es ist ein Experiment, das die Menschheit nur einmal machen kann. Wie könnte die Urbanisierung schiefgehen? Die Älteren unter uns haben noch die im Feuersturm zerstörten Städte im Zweiten Weltkrieg vor Augen, Hiroshima und Nagasaki und meine Heimatstadt Hamburg. Seoul wurde im Koreakrieg total zerstört. Aber es waren kleine Städte verglichen mit den modernen World Cities mit mehr als zehn Millionen Einwohnern. Stellen sie sich einen modernen Atomkrieg in den modernen Mega-Cities vor! Die Jüngeren unter uns haben wohl die ökologischen Katastrophen der Hafenstädte und die Hungerkatastrophen in den dürren Ländern vor Augen. Die Flüchtlingsströme werden ansteigen. Die Zukunft der Großen Städte kann gelingen, aber sie kann auch scheitern. Die Zukunft kann den Fortschritt in ein besseres Leben bringen, sie kann auch die Vernichtung des menschlichen Lebens bringen. Wir brauchen den Mut der Hoffnung, um uns für das gute und gemeinsame Leben zu entscheiden. Die Kirche Christi nimmt in den großen Städten das Gelingen vorweg, wenn sie die Gotteshoffnung verbreitet und die menschliche Zukunft in die gelingende Zukunft Gottes stellt »wie im Himmel, so auf Erden«. »Wir haben hier keine bleibende Stadt, denn wir suchen die zukünftige« (Hebr 13,14).
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Literatur Bauckham, Richard, The Theology of the Book of Revelation, Cambridge 1993 Bloch, Ernst, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt (Main) 1962 Borggrefe, Friedhelm, Gerechte Stadt. Eine protestantische Studie für Ludwigshafen am Rhein, Speyer 1988 Burdett, Ricky / Sudjic, Deyan (ed.), Living in the endless City. The Urban Age Project by the London School of Economics, London / New York 2012 Conrad, Ruth, Liturgie der Stadt. Zum Verhältnis von Religion, Macht und öffentlicher Festkultur, in EvTh 73,3 (2013), 207–223 Cox, Harvey, Religion in the Secular City. Theology and Politics in the postmodern World, New York 1984 – The secular City, Secularization and Urbanization in theological Perspective, London 1965 Eckholt, Margit / Silber, Stefan (Hg.), Glauben in Mega-Citys. Transformationsprozesse in lateinamerikanischen Großstädten und ihre Auswirkung auf die Pastorale, Mainz 22014 Eliade, Mircea, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957 Faith in the City. A Call for Action by Church and Nation. The report of the Archbishop of Canterbury’s Commission on urban priority Areas, London 1985 Mumford, Lewis, The City in History. Its origins, its transformation, and its prospects, New York 1961 Sievernich, Michael / Wenzel, Knut (Hg.), Aufbruch in die Urbanität. Theologische Reflexionen kirchlichen Handelns in der Stadt (qd 252), Freiburg 2013
Abstract The universal urbanization of humankind will change life considerably. The orientation on nature is lost. The main task today is the democratization of the capitalistic city. At the beginning Christianity was a city religion from Jerusalem to Rome. The Reformation was mainly a city reformation. Urbanization is the final experiment of humankind. There is danger, but also hope: »For here we have no continuing city, but we seek the one to come.« (Hebrews 13,14)
Reinhold Rieger
Die Ausstrahlung der Stadt als geistliches Zentrum vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert
Näherte man sich im Mittelalter und der frühen Neuzeit einer Stadt, sah man hinter den Mauern hohe Türme aufragen, die weit ins Land hinein sichtbar und durch ihre Glocken auch akustisch wahrnehmbar waren. Diese Türme gehörten zu Kirchen, die das Bild der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt entscheidend prägten.1 Die Stadtansichten auf mittelalterlichen Altartafeln, auf den Holzschnitten von Michael Wolgemut für die Schedelsche Weltchronik, auf den Kupferstichen von Matthäus Merian charakterisieren die Stadt auch durch ihre Sakralbauten. Die geistliche Ausstrahlung bestimmte ihr Bild. Die alte Stadt zeigte sich als Sakralgemeinschaft. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert aber überwucherte die Sakraltopographie der Stadt, und ihr Weichbild ist jetzt geprägt von Fabrikschloten und -hallen. Der angebliche mittelalterliche Rechtssatz »Stadtluft macht frei« wich der Klage »Stadtluft macht krank«. Was ist eine Stadt? Wie bei vielen Dingen unserer Erfahrungswelt glauben wir zu wissen, was eine Stadt ist, und können es doch meistens nicht befriedigend und vollständig erklären. Nicht nur die Stadt selbst, sondern auch die Definition des Begriffs der Stadt hat eine Geschichte. Sie beginnt spätestens im 19. Jahrhundert, als die Reflexion auf die Stadt und ihre Geschichte die Frage nach dem Begriff der Stadt aufkommen ließ. Diese Definitionsversuche gingen zumeist von einem Hauptgesichtspunkt aus und versuchten, andere Aspekte zu integrieren und so der komplexen Lebenswirklichkeit der Stadt in ihrer Geschichte und gegenwärtigen Gestalt gerecht zu werden.2 So gibt es Stadtbegriffe, die bei architektonischen Gegebenheiten ansetzen wie der Abgrenzung nach außen durch Ummauerung, der engen, kompakten Bebauung, also der Siedlungsdichte, der Konzentration öffentlicher Gebäude wie Burgen, Klöster, Kirchen, Rathaus, Markthallen, Zeughäuser, Speicher u.a. Andere Begriffe legen den Akzent auf die rechtliche Situation der Stadt, die durch ein Stadtrecht bestimmte Privilegien wie Bürgerrechte, Marktrechte und Steuerbefreiungen genoss oder eine Stadtverfassung aufwies, die die 1 2
Zahlten, Mittelalterliche Sakralbauten, 81. Vgl. Weber, Stadt, 1–17: Städte sind Ortschaften mit Güteraustausch auf einem Markt. Okzidentale Städte unterscheiden sich von asiatischen durch bruderschaftlicheidverschworene Gemeinschaftsbildung, die unabhängig von Abstammung ist. Vgl. Hirschmann, Stadt, 63.
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Selbstverwaltung regelte und die bestimmte Institutionen wie Stadträte und Gerichte hervorbrachte.3 Es trat eine soziale Nivellierung ein, weil die ständischen Unterschiede zwischen Freien und Unfreien, Bürgern und Klerikern schwanden, aber es bildete sich eine neue ständische Differenzierung der regierenden Ratsgeschlechter gegenüber den anderen Bürgern.4 Unter wirtschaftlichem Aspekt ist das Marktrecht ein entscheidendes Kriterium für eine Stadt, ebenso die Ausdifferenzierung des Wirtschaftswesens in unterschiedliche Gewerbe, die Produkte zur Selbstversorgung und zur Versorgung des Umlands erzeugten. In kultureller Hinsicht waren die Städte mit ihren Schulen und Universitäten oft Zentren der Bildung, aber auch der Kunst und Musik, die städtische, kirchliche oder private Auftraggeber hatten. Die kirchliche Bedeutung einer Stadt wird meist historisch-soziologisch unter ihre kulturelle subsumiert. In jeder dieser Hinsichten können die Städte eine zentrale Bedeutung für ihr Umland haben, in das sie ausstrahlen und auf das sie eine Anziehungskraft ausüben. Zentralität ist deshalb ein Hauptmerkmal der Städte. Systemtheoretisch könnte »Stadt« definiert werden als ein soziales System funktionaler Differenzierung in einer Vielfalt von Strukturen politischer, sozialer, ökonomischer, kultureller, religiöser Art mit interner und externer Funktionalität, die externe und interne Relationen bedingt und ermöglicht. Die Stadt ist ein soziales System, insofern sie eine soziale Binnenstruktur aufweist, die sie von der Umwelt unterscheidet und abgrenzt, aber auch auf sie bezieht. Dies bringt eine Repräsentation der Außenwelt in der Binnenstruktur (z.B. Stadthöfe von Adligen und Klöstern) ebenso wie eine Repräsentation des Systems in der Umwelt (z.B. im Verkehrssystem durch Wegweiser an den zur Stadt führenden Straßen) mit sich. Das System der Stadt ist in hohem Maße durch eine funktionale Differenzierung gekennzeichnet, die sich in der Arbeitsteilung in verschiedensten Bereichen, in der Produktion (Gewerbe), im Handel (Markt), in der Verwaltung, im Dienstleistungssektor (karitativ, kulturell, kirchlich) ausprägt und sich in pluralen Strukturen mit ihren Institutionen niederschlägt. Die differenzierte Funktionalität dieser Strukturen, die als Infrastruktur die Stadt prägt, wirkt nicht nur auf den Binnenbereich der Stadt, sondern auch darüber hinaus auf das Umland, so dass die Stadt nicht nur vielfältige innere Beziehungen zwischen den sozialen Bereichen aufweist, sondern auch in mannigfachen, zentripetalen und zentrifugalen Beziehungen zum Umland steht, das von ihr in gewisser Weise abhängt und von dem sie wiederum in bestimmter Hinsicht abhängig ist. Die Stadt entwickelt eine Ausstrahlung und eine Anziehungskraft. Diese externe funktionale Relationalität des Systems Stadt macht ihre Zentralität aus. 3
Vgl. Weber, Stadt, 18f: Durchbrechung des Herrenrechts durch die Stadtbürgerschaft im Mittelalter: »Stadtluft macht frei«. 4 Weber, a.a.O., 19.
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Was heißt Zentralität, und inwiefern ist die Stadt ein Zentrum? Systemtheoretisch betrachtet ist ein Zentrum ein System, das Steuerungsund Leistungsfunktionen hat für ein System von Subsystemen, die ebenfalls Leistungsfunktionen für das Zentrum haben können, aber der Steuerungsfunktionen für dieses entbehren. Ein Zentrum weist eine Konzentration von Funktionen auf, die es von der Peripherie unterscheidet. Meist hat das System der Stadt selbst ein Zentrum und eine Peripherie, die noch zur Stadt gehört, aber sie ist auch Zentrum für eine externe Peripherie, für ihr Umland. »Das Kern-Rand-Gefälle von der Stadtmitte bis an die Grenzen des Umlandes läßt eine Reihe von aufeinanderfolgenden Zonen entstehen, die – unterschiedlich im Erscheinungsbild und in ihrer inneren Struktur – als Ganzes das Gefüge des Stadt-Umland-Bereiches ergeben«.5 Dementsprechend gilt das Diktum Robert Gradmanns von 1916: »Hauptberuf einer Stadt ist es, Mittelpunkt ihrer Umgebung zu sein«.6 Die Mittelpunktfunktion der Stadt erstreckt sich auf ihren Einzugsbereich, der durch die Summe der Funktionsbereiche der zentralen Funktionen der Stadt bestimmt ist. Auch das Umland kann für die Stadt Funktionen haben. Insofern sind meist zentrifugale und zentripetale funktionale Relationen zwischen Stadt und Umland zu finden. Es kann eine Hierarchie oder Rangordnung von Zentren geben, die unterschiedlichen Zentralitätsstufen entsprechen, also Orte größerer oder geringerer Zentralität.7 Für den Begriff der Stadt ist die Zentralität notwendig, aber nicht hinreichend, denn sie gilt auch für »zentrale Orte«8, die nicht Städte, ja nicht einmal dauerhaft besiedelt sein müssen.9 Zentren besitzen meist durch ihre zentralen Funktionen und über sie hinaus eine Symbolkraft für ihren Einzugsbereich, die ein Zusammengehörigkeits- und Identitätsbewusstsein bewirken kann.10 Die zentralen Funktionen der Stadt müssen nicht denselben Zentralitätsgrad aufweisen, denn hier kann es große Unterschiede geben, wenn z.B. eine Stadt schwache ökonomische, aber starke kirchliche Bedeutung hat – oder umgekehrt.11 Auch Funktionsteilungen zwischen Zentren sind möglich.12 Meist dominiert eine zentrale Funktion, die der Stadt das Gepräge gibt, wie in einer Handelsstadt, Universitätsstadt, Bischofsstadt, Residenzstadt usw.13 Eine Stadt als Oberzentrum wird als »Metropole« bezeichnet, ein Wort, das im Griechischen »Mutterstadt« bedeutete, dann das politische Zentrum oder die 5 6
Klöpper, Stadt-Umland-Forschung, 255. Zitiert bei Klöpper, a.a.O., 252. Vgl. eine andere Variante des Zitats bei Mitterauer, Markt, 23. 7 Vgl. Meynen, Einführung, IX. 8 Christaller, System, 3–22. 9 Vgl. Mitterauer, Markt, 31f. 10 Mitterauer, a.a.O., 33f. 11 Vgl. Mitterauer, a.a.O., 39. 12 Vgl. Mitterauer, a.a.O., 46. 13 Vgl. Mitterauer, a.a.O., 50.
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Hauptstadt einer Provinz bezeichnete und schließlich im Lateinischen eine kirchliche Hauptstadt als Sitz eines Erzbischofs, des Metropoliten, bedeuten konnte.14 »Im Unterschied zur Großstadt, die sich vor allem über Bevölkerungszahl und Flächenmaß definieren läßt, müssen bei einer Metropole drei Hauptmerkmale von zentralen Orten hinzukommen: das politische Zentrum mit der Residenz der Könige, dem Mittelpunkt der Verwaltung, des Adels und der Kirche, das wirtschaftliche Zentrum mit Handel, Verkehr und Produktion sowie das kulturelle Zentrum mit Bildungseinrichtungen und der Kunst. […] Von allen Zentralfunktionen ist der Faktor der Kirche der stabilste, weil die Bischöfe – im Gegensatz zur fürstlichen Residenz – einer Residenzpflicht am Ort ihrer Bischofskirche unterlagen«.15 Im Laufe des Mittelalters vereinen die Städte die Zentralfunktionen auf sich: »Die Sogwirkung der Städte als zentrale Orte verdrängt zunehmend die übrigen Zentren, die großen Klöster und Burgen; es beginnt die Ausbildung eines stadtorientierten zentralörtlichen Systems. Die Städte ziehen wie die Pole eines Magnetfeldes das sie umgebende Land auf sich und ordnen es im Sinne von Umlandbeziehungen intensiver auf sich zu«.16 Was bedeutet geistliche Zentralität? Der Begriff des Geistlichen ist mehrdeutig und weist unterschiedliche Facetten auf, die sich aufeinander beziehen können, aber voneinander unterschieden werden müssen. Es lassen sich mindestens folgende Bedeutungen des Geistlichen unterscheiden: 1. Der rechtlich-institutionelle Sinn: die Kirche mit ihren Ämtern und Institutionen (Bischof/Diözese, Pfarrer/Pfarrei, Kloster/Mönch). 2. Der sakral-kultische Sinn: der kirchliche Vollzug in Kult und sakralen Handlungen (Messe, Andachten, Riten, Weihen, Prozessionen, Wallfahrten, Predigt). 3. Der poimenische Sinn: Seelsorge in Sakramenten und Sakramentalien, Predigt. 4. Der diakonisch-karitative Sinn: kirchliche Armen-, Kranken-, Bedürftigenfürsorge. 5. Der frömmigkeitsgeschichtliche Sinn: die Religiosität, die religiöse Mentalität, Spiritualität, Frömmigkeit der Kirchenmitglieder/Gläubigen (Glaubenszeugnisse wie Gebete, Gelübde, Bekenntnisse). 6. Der theologische Sinn: der nicht-wissenschaftliche Aspekt der Theologie in ihrer kerygmatischen Funktion als Verkündigung (Lehre, Schriften). 7. Der symbolisch-semiotische Sinn: religiöse Symbole und Zeichen (Kirchengebäude, Statuen, Bilder, Glocken, Orgeln, Musik, Kreuze, Gräber, Reliquien). 14 15 16
Engel/Lambrecht, Hauptstadt, 25; Oberste, Paris, 75. Engel/Lambrecht, Hauptstadt, 27. Kießling, Herrschaft, 183.
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In jeder dieser Sinndimensionen des Geistlichen kann eine Stadt zentrale Bedeutung haben. Besonders der erste Sinn ist mit wirtschaftlichen Aspekten verbunden, da Bischofssitze, Pfarreien und Klöster auch ökonomische Bedeutung hatten. Der symbolisch-semiotische Sinn des Geistlichen hat ästhetische Dimensionen und kann zum kulturellen System der Kunst und Musik gehören. War die Stadt in Europa vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert auch ein geistliches Zentrum? Sicher nicht in ein und demselben Sinn und nicht immer in demselben Maß. Die geschichtliche Entwicklung des sozialen Systems Stadt durch die Jahrhunderte hindurch veränderte auch ihre geistliche Zentralität. Stationen, die einen chronologischen Bedeutungswandel markieren, aber sich auch zeitlich überlappen, sind die Stadt 1. als Bischofssitz, 2. als Wallfahrtsort, 3. als Klosterstandort, 4. als Messestadt, 5. als Ursprungsort von Häresien, 6. als Zentrum der Reformation, 7. als Druckerort, 8. als Zufluchtsort religiöser Flüchtlinge, 9. als Universitätsstadt, 10. als Konsistorialsitz, 11. als Zentralort der Frömmigkeit und schließlich 12. als Industriestadt. 1. Die Stadt als Bischofssitz Der Bischofssitz befand sich schon in römischer Zeit meist in einer Stadt (civitas), die dadurch zu einem kirchlichen Zentrum wurde. Die Verbindung von civitas und episcopus legten die Synoden in Nizäa 325, Sardica 343 und Chalcedon 451 fest.17 Der Bischof ging eine »Ehe« mit seiner Stadt ein und war ihr »Bräutigam«.18 Stadt und Bischof bildeten eine Einheit, und der Bischof gab der Stadt Einheit.19 Dies galt auch, wenn in der Stadt Bewohner verschiedener Riten lebten.20 Die Bischöfe hatten aber meist nicht nur geistliche Funktionen, sondern waren auch in das weltliche Herrschaftsgefüge einbezogen, wenn sie in den altrömischen Städten Verwaltungsaufgaben übernahmen, im Merowingerreich die civitas als ein weitgehend autonomes politisches, militärisches und administratives Regionalzentrum regierten,21 von den Karolingern zur Unterstützung ihrer Herrschaft im Reichskirchensystem gebraucht wurden22 und vom 9. bis zum 11. Jahrhundert selbst zu Stadtherren aufstiegen,23 deren weltliche Herrschaft als patronus im 5. Jahrhundert noch für den ganzen Bezirk der civitas galt, im 10./11. Jahrhundert aber nur noch auf diese 17 18 19 20 21 22 23
Dilcher, Bischofsstadt, 14. Ebd. Sydow, Elemente, 85. Sydow, a.a.O., 86. Petri, Einführung, XV. Vgl. Kaiser, Bischofsherrschaft, 74f. Vgl. Kaiser, a.a.O., 7; Fuhrmann, Städtischer Raum, 262–269; Pitz, Stadt, 2174; Chittolini, Stadt, 2179.2181.
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selbst beschränkt war.24 In Italien bereitete sich aber seit dem 10. Jahrhundert wieder eine Oberherrschaft der Bischofsstadt über das Land vor, weil die Bischöfe Kirchenland als Lehen vergaben. Nördlich der Alpen grenzte die Immunität die Stadt stärker vom Umland ab, so dass sich hier der Gegensatz Stadt-Land verstärkte. Die antike Grundstruktur der Verwaltungseinheiten bildete in Südeuropa ein »urbanes Grundmuster des Stadt-Landverhältnisses«, während die Städte im Norden mehr »Inselcharakter« hatten.25 Allerdings dehnte sich die Bischofsherrschaft auch hier über die Stadt hinaus auf das Umland aus und wurde zur Territorialherrschaft.26 In der frühen Zeit, im 8./9. Jahrhundert, waren die Bischofsstädte die einzigen Zentren, die eine Fläche, die Diözese, bestimmten.27 Bonifatius wurde von Papst Zacharias auf seine briefliche Bitte der Bestätigung der neugegründeten Bistümer Würzburg, Büraburg und Erfurt hin daran erinnert, dass die »heiligen Kanones vorschreiben, dass wir nicht in Dörfchen oder Kleinstädten Bischöfe weihen, damit der Name des Bischofsamtes nicht beschmutzt werde«.28 Der Bischofssitz sollte an einer zentralen und bedeutenden Stadt errichtet werden. Seit der Spätantike galt der Bischof als pater et defensor urbis29 oder auch als bonus pastor gregis, wenn er das Umland militärisch beschützte,30 oder als defensor plebis,31 der den Armen und Schwachen Schutz bot. Die Festsetzung der Bischöfe in Städten gab diesen eine Zentralität, die sie allein durch die mobile weltliche Herrschaft nicht erreicht hätten. Die Abgrenzung des Bistumsgebiets machte die Bischofsstadt zu einem Zentrum für diese Peripherie. »Durch diese kirchliche Zentralität wurden die Bischofssitze die ersten zentralen Orte des Frühmittelalters«.32 Dies gilt auch für die Wirtschaft: »Die Bischofssitze boten die besten Voraussetzungen zur Entstehung von Zentralität auf wirtschaftlichem Gebiet, da ihnen von Anfang an eindeutig abgegrenzte Bereiche zugeordnet waren«.33 Der Kult an der Kathedrale zog die Landbevölkerung in die Bischofsstadt.34 Für die italienischen Diözesen galt: »Die Stadtbewohner fühlen sich als Zentrum eines Territoriums, dessen Kern die Mutterkirche und ihre hl. Patrone sind. Ebenso bringen die Landbewohner ihrer Bi24 25 26 27 28 29 30 31 32
Petri, Einführung, XV. Dilcher, Bischofsstadt, 21f. Kaiser, Bischofsherrschaft, 630. Balzer, Stadtbildung, 1. Brief von Zacharias an Bonifatius von 743, zitiert in: Schmieder, Stadt, 22. Dilcher, Bischofsstadt, 18. Vgl. Prinz, Stadtherrschaft. Ebd. Fehn, Bedeutung, 80; a.a.O., 88: »Während im politischen Bereich sich noch keine zentralörtlichen Funktionen entwickelten, wurden die Bischofssitze die ersten zentralen Orte des Frühmittelalters«. 33 Fehn, a.a.O., 81. 34 Ennen, Typologie, 186.
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schofskirche eine besondere Anhänglichkeit entgegen«.35 Nördlich der Alpen waren die Diözesen viel größer, weshalb die Verbindung mit der Bischofsstadt erheblich lockerer war als in Italien. »Kirchliche Mittelpunkte für die Landbevölkerung werden hier primär die selbständigen Landpfarreien. Das Land schafft sich seine eigenen kirchlichen Zentren«.36 Ausstrahlung erhielten die auf die Spätantike zurückgehenden rheinischen Bischofsstädte wie Köln und Mainz durch ihre Missionstätigkeit im rechtsrheinischen Germanien. Dass in den Anfängen der Christianisierung das kirchliche Zentrum einer Stadt wie bei vielen römischen civitates oft außerhalb des Mauerrings lag, fand seinen Widerhall z.B. in Metz darin, dass sich die Bischöfe des frühen Mittelalters in suburbanen Klöstern bestatten ließen. Die erste Kathedrale hatte sich außerhalb der Stadtmauer im späteren Kloster St. Arnulf befunden. »Bis ins 15. Jahrhundert pflegte ein neu gewählter Bischof von St. Arnulf aus in feierlicher Prozession in seine Domstadt einzuziehen.«37 Die Palmsonntagsprozession mit dem Bischof führte vom Kloster St. Arnulf in die Stadt zurück.38 Im 8. bis 10. Jahrhundert waren die außerhalb der Stadt gelegenen Benediktinerklöster bischöfliche Eigenklöster und unterstanden der weltlichen Herrschaft des Bischofs.39 Nach dem Übergang der Stadtherrschaft an die bürgerliche Kommune wurden auch die außerstädtischen Klöster der weltlichen Stadtherrschaft unterstellt.40 Innerhalb der Diözesen bildete sich im 12. Jahrhundert ein Netz von Pfarreien aus, die zu zentralen Orten auf unterster Ebene wurden.41 »Untere Zentren im Bistum sind die Pfarreien. Die Pfarrei ist, soweit sie mehrere Siedlungen umfasst, infolge des Pfarrzwangs zentraler Ort.«42 Die Aufsicht über die Pfarrkirchen überlassen die Bischöfe mehr und mehr ihren Archidiakonen und Dekanen. »Die Entwicklung der Mittelzentren, der Dekanate, organisatorisch zusammengefaßt in den Archidiakonaten, bedeutete eine Schwächung der Funktionenvielfalt des Oberzentrums« der Bischofsstadt.43 Eine im Mittelalter neu entstehende Stadt musste manchmal aus dem Verband einer Landpfarrei gelöst werden, um eine eigene Pfarrei zu bekommen.44 Davor war die Stadtgemeinde an eine außerhalb auf dem Land gelegene Pfarrkirche gebunden. Diese bildete insofern das geistliche Zentrum, zu dessen Einflussbereich auch die Stadt ge35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
Ennen, a.a.O., 187. Ennen, a.a.O., 188. Müller, Schnittpunkt, 77. Müller, a.a.O., 204f. Müller, a.a.O., 105. Müller, a.a.O., 105–125. Fehn, Bedeutung, 83; Ennen, Stadt-Land-Verhältnis, 188. Ennen, Stufen, 16. Vgl. Schoppmeyer, Probleme, 101f. Ennen, Stufen, 19f. Ennen, Stadt-Land-Verhältnis, 188. Sydow, Stadt, 180f; Sydow vermutet hier die Herkunft der Redensart »die Kirche im Dorf lassen«. Vgl. Sydow, Bürgerschaft, 221f.
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hörte. Die Übertragung der Pfarrkirche in die Stadt hinein war eine Umkehrung der geistlichen Zentralität zugunsten der Stadt, die schon andere Zentralfunktionen wahrnahm. Beispiele dafür sind Dinkelsbühl, wo die Pfarrkirche im benachbarten Dorf Segringen lag, Reutlingen, wo der außerhalb der Stadt liegenden Pfarrkirche Peter und Paul eine »monumentale Marienkapelle entgegengestellt wurde«, oder Ulm, dessen alte Pfarrkirche vor der Stadt mit dem Bau des Münsters 1377 abgebrochen wurde.45 Noch heute befindet sich die Pfarrkirche von Glurns im Südtiroler Vinschgau vor der Stadtmauer jenseits der Etsch. Die Tübinger Stiftskirche St. Georg stand unter dem Patronat des Klosters Bebenhausen und bekam von dort das Marienpatrozinium. Die Pfarrkirche der ursprünglich staufischen, später württembergischen Stadt Göppingen lag außerhalb der Stadt in Oberhofen, bis 1619 die Pfarrrechte an die Stadtkirche übergingen.46 Die Diözesangliederung gab dem christlichen Abendland eine strukturelle Stabilität durch ihre aus einem geistlichen Zentrum und dem von ihm bestimmten Einflussbereich bestehende Struktur.47 »Die spätantike Machtstellung des Bischofs setzt sich also in der frühmittelalterlichen Stadtherrschaft fort. Sie stellt das wesentlichste administrative Kontinuitätselement der spätrömischen und der frühmittelalterlichen Stadt dar.«48 Die Bischofsstadt hat für die Pfarreien in der Diözese geistliche Zentralfunktionen. »Die Bischofskirche leistet Dienste kultischer Art für alle Pfarreien. In seiner Kathedrale weiht der Bischof am Gründonnerstag Krankenöl, Chrisam und Katechumenenöl. Diese neugeweihten Öle müssen spätestens am Karsamstag in den Pfarreikirchen des Bistums, des Chrisambezirks sein, weil ohne sie das neue Taufwasser in den Pfarrkirchen nicht geweiht werden kann«.49 Durch die kultischen Dienstleistungen der Bischofsstadt wurde diese zu einem geistlichen Zentrum, auf das sich das Umland beziehen musste. Die Kultgegenstände, die ausgetauscht wurden, waren Medien der Kommunikation zwischen Zentrum und Peripherie. Der Gründonnerstag als der Tag der Weihe der heiligen Öle und ihrer Verteilung in die Diözese war in Köln der alte Termin der Diözesansynode.50 Kirchliche Metropolen waren die städtischen Sitze der Erzbischöfe. In Frankreich wurden im Frühmittelalter die Provinzhauptstädte zu Metropolitansitzen. In Osteuropa gaben Metropolitanstädte den Ländern nationale Identität (Polen: Krakau; Ungarn: Gran-Esztergom).51 Heilige, die in Metropolen verehrt wurden, konnten über die Stadt hinausstrahlen 45 46 47 48 49 50 51
Zu Reutlingen und Ulm vgl. Philipp, Pfarrkirchen, 45. Ziegler, Göppingen, 71. Kuchenbuch/Morsel, Sozialräume, 249. Ennen, Stadt-Land-Verhältnis, 186. Ennen, Stufen, 16. Ennen, a.a.O., 18. Dilcher, Bischofsstadt, 19.
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und Landespatrone werden, wie der heilige Wenzel in Prag.52 Reliquienbesitz und Reliquienerwerb haben »bei der Entwicklung von Landes- und Nationalbewußtsein eine hervorragende Rolle gespielt«.53 Im späteren 11. Jahrhundert und im 12. Jahrhundert weiteten sich die Konflikte zwischen Bischof und Bürgern der Stadt aus und führten durch die eidliche Schwörbruderschaft der Bürger, die conjuratio pro libertate, zur Einschränkung oder Auflösung der bischöflichen Herrschaft in der Stadt. Grundlagen dafür waren die Kultgemeinden und die Bruderschaften, in denen sich Stadtbewohner zu gemeinsamen geistlichen und weltlichen Interessen zusammenfanden.54 Es bildete sich eine städtische Gemeinde, die sich durch Räte organisierte und damit die bischöfliche Macht säkularisierte bzw. auf das rein Geistliche zurückschnitt.55 Diese bürgerliche Revolution brachte freie Städte hervor, die sich von den freien Reichsstädten unterschieden, da sie aus Bischofsherrschaften entstanden.56 Damit schwächte sich der geistliche Einfluss, soweit er vom Bischof ausging, den die Städte auf ihr Umland ausübten, ab. Die zunehmende Trennung von imperium und sacerdotium, weltlicher und geistlicher Gewalt, befreite die geistliche Gewalt von der weltlichen (Investitur), aber auch die weltliche Gewalt von der geistlichen (Autonomie der Stadtbürger gegenüber der Bischofsherrschaft: Säkularisation).57 Architektonischer Ausdruck der bürgerlichen Stadtherrschaft wurde das Rathaus. Lübeck wurde 1160 Missionsbistum für Ost-Holstein und konnte seine städtische Ausstrahlung für die Mission nutzen. So bekam die Stadt einen »Doppelstatus als Handelsmetropole und Bischofssitz«.58 Allerdings entwickelte sich eine Rivalität zwischen Stadt und Bistum, die durch Trennung der Einflussbereiche gemildert wurde. Die Stadt wurde vom Rat der Bürgerschaft beherrscht, der Bischof beschränkte sich auf sein Bistum. »Die Auseinandersetzung zwischen Bischof und Kapitel einerseits und Rat und Bürgern andererseits fand ihren sinnfälligen Ausdruck in der Konkurrenz zwischen der Bürgerkirche St. Marien und dem bischöflichen Dom.«59 Diese Konkurrenz zeigte sich auch an der Architektur. Die geistliche Ausstrahlung der Stadt wurde stärker durch die bürgerliche Religiosität der Kaufleute mit ihren Bruderschaften bestimmt als durch den Bischof.60 Der Dom lag am Rand der Stadt, die Stadtpfarrkirche in ihrem Zentrum. Der Bischof zog nach dem Streit mit der Stadt in seine Resi52 53 54 55 56
Haverkamp, Heilige Städte, 152. Heinzelmann, Translationsberichte, 34. Hirschmann, Anfänge, 1189f. Petri, Einführung, XV; Dilcher, Bischofsstadt, 24–29; Hirschmann, Anfänge, 1189. Dilcher, Bischofsstadt, 27.36; Möncke, Problematik, 84–94, stellt den Begriff im Unterschied zur Reichsstadt in Frage. 57 Vgl. Dilcher, Bischofsstadt, 35. 58 Hauschild, Zentrum, 31. 59 Hauschild, Christentum, 14. 60 Ebd.
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denz in Eutin, die Domherren waren mit der Verwaltung ihrer Güter beschäftigt. »Insofern war Lübecks ›geistliches Zentrum‹ im späten Mittelalter weithin verweltlicht«.61 Die Bischöfe entfalteten in der Frühzeit eine einflussreiche geistliche Wirkung auf die noch länger heidnisch geprägte ländliche Umgebung. Von der Bischofsstadt aus unternahmen sie Visitationen der Pfarreien ihrer Diözese. Der Diözesanklerus versammelte sich in der Bischofsstadt zu Synoden.62 Der Erzbischof von Köln hielt in jedem vierten Jahr eine Umfahrt durch das ganze Bistum zur Weihe von Kirchen und zur Ausübung des Sendgerichts und empfing den Zehnten dafür. Einer zentrifugalen Funktion entsprach eine zentripetale.63 Architektonisch wirkte die Bischofsstadt dadurch auf das Umland, dass die Bischofskirche nach dem Vorbild Roms aus Stein erbaut war und selbst Vorbild für die Kirchen in den Pfarreien der Diözese wurde.64 »Die Zentralität des Bischofssitzes erwies sich neben anderem nicht zuletzt auch darin, daß er sich durch monumentale Kultarchitektur und andere ortsgebundene, künstlerisch qualitätvolle Denkmäler auszeichnete«.65 Der ab 1215 nach westfranzösischen Vorbildern umgebaute Paderborner Dom wurde »zum Vorbild für viele westfälische Hallenkirchen vom Mindener Dom bis zur Wiesenkirche in Soest«66, aber auch für die Stiftskirche in Lippstadt und die Liebfrauenkirche in Bremen. So erhielten die geistlichen Zentren einen »Bedeutungsüberschuß«67, der sie auf das Umland ausstrahlen ließ. Visuell wurde dies sichtbar in den die Stadtmauern überragenden Kirchtürmen, die auch noch durch die Glocken akustische Signale ausstrahlten. Die Verfügung über die Glocken war ein wichtiges Machtinstrument in der Stadt, da die Glocken ein zentrales Kommunikationsmittel darstellten. Die Morgenglocke zeigte das Öffnen der Stadttore an, die Abendglocke deren Schließung. Glocken wurden eingesetzt, um zu Versammlungen der Bürgerschaft aufzurufen oder bei Gefahr zu warnen. »Der Kirchturm wird so selbst zu einem rechtlichen Symbol, das ein Herrschaftsrecht der städtischen Obrigkeit ausdrückt« und auch nach außen sichtbar und hörbar macht.68 Die geistlichen Bauprojekte waren Antriebe der Urbanisierung, da sie Fachleute von außen in die Stadt holten und sie wirtschaftlich stärkten. Zwischen den Bischofsstädten konnte so ein Ideen- und Fachkräfteaustausch, aber auch ein Konkurrenzverhältnis stattfinden.69
61 62 63 64 65 66 67 68 69
Hauschild, Zentrum, 34. Balzer, Stadtbildung, 6. Ennen, Stufen, 19. Vgl. Ennen, Typologie, 183. Schoppmeyer, Probleme, 103. Ebd. Schoppmeyer, a.a.O., 104. Philipp, Pfarrkirchen, 40. Hirschmann, Anfänge, 1204.
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Das Kirchengebäude wurde in Analogie zur Weltschöpfung verstanden und als Symbol für die Kirche.70 In der Bischofsstadt selbst entwickelte sich im Früh- und Hochmittelalter eine Sakraltopographie mit einer Kathedralgruppe manchmal aus zwei Kathedralen, einer alten und einer neuen, einem Baptisterium, einem bischöflichen Palast, der innerhalb der Domimmunität lag.71 Dazu kamen Pfarrkirchen, Votivkapellen, Hospitäler, Begräbniskirchen und Friedhöfe. Die Stadt galt durch das geistliche Zentrum der Kathedrale und ihre weiteren geistlichen Stätten als eine »civitas sancta«, »ville sacrée« oder »ville sainte«, die mit ihrem geistlichen Gewicht auf das Umland ausstrahlte.72 Diese heilige Stadt entstand oft durch »imitatio des idealtypischen römischen Stadtplanes bei den Kirchengründungen«, wie z.B. in Florenz, Aachen, Bamberg, Trier, Canterbury73, Lüttich, Utrecht, Paderborn, Hildesheim, Minden, Halberstadt, Regensburg, Trier, Köln und Konstanz74. Auch Abbild des himmlischen Jerusalems sollte die heilige Stadt sein.75 So bekam der neue Mauerring Kölns, der seit dem Ende des 12. Jahrhunderts gebaut wurde, zwölf mit Heiligenstatuen geschmückte Tore, teilweise ohne Straßen, um die Stadt auf das himmlische Jerusalem zu beziehen76 und dem Umland eine Repräsentation dieses Ideals darzustellen. Das heilige Jerusalem konnte auch für jüdische Gemeinden Vorbild für die heilige Stadt sein, in der sie lebten. In der Chronik des Salomo bar Simson wird um 1140 Mainz als heilig (kadosch) bezeichnet. Damit wurde der Stadt Mainz eine Vorrangstellung zugeschrieben.77 Die Kirchengründungen eines Bischofs in seiner Stadt sind Ausdruck seines Selbstverständnisses und seiner Vorstellungen von der Stadt, die er regierte. Beispiel ist Konstanz im 10. Jahrhundert, in der Ottonenzeit, als der welfische Bischof Konrad fünf neue Kirchen errichten ließ, angefangen mit der Nachbildung des Heiligen Grabes in Jerusalem in der Rundkirche St. Mauritius, über die Kirche St. Johann, die in Anlehnung an die Lateranbasilika in Rom sowohl Johannes dem Täufer als auch dem Evangelisten geweiht war, die St. Pauls-Kirche, die wie in Rom vor den Mauern errichtet wurde, bis zur Kirche St. Lorenz, die auch außerhalb der Mauern stand. Bischof Gebhard gründete in Analogie zur römischen Peterskirche ein Kloster, Petershausen, mit einer Gregor dem Großen geweihten Kirche.78 Auf diese Weise, vor allem durch die Romnachah70 71 72 73 74 75 76
Hirschmann, a.a.O., 1205. Hirschmann, a.a.O., 1061–1065. Leguay, Stadt, 2188–2192. Dilcher, Bischofsstadt, 25. Haverkamp, Heilige Städte, 131. Dilcher, Bischofsstadt, 25.33.35. Haverkamp, Heilige Städte, 137. Auch Aachen bekam im 13. Jahrhundert zwölf Stadttore. 77 Hirschmann, Anfänge, 1188. 78 Schmieder, Stadt, 36f.
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mung, wurde Konstanz zur Felix mater Constantia, die ihre Umgebung prägte.79 So wurden die Bischofsstädte, meist Metropolitansitze, seit dem 12. Jahrhundert als civitas sancta bezeichnet, wie z.B. Trier sancta civitas Treverica, Köln als sancta Colonia.80 Durch ihre Imitation der heiligen Stadt Rom wurde eine Stadt zur nova oder secunda Roma, wie z.B. Aachen in der Karolingerzeit.81 Auch die Baugestalt der Kirchen selbst konnte der der römischen Hauptkirchen angeglichen werden, etwa durch ein Westquerhaus.82 Die römischen Stationsgottesdienste wurden in vielen Bischofsstädten übernommen. An den Palmsonntagsprozessionen beteiligten sich nicht nur die Bewohner der Stadt, sondern auch die naheliegenden Klöster und Dörfer.83 Die Romnachahmung wurde ermöglicht durch Reliquientranslationen in Bischofsstädte aus Rom seit dem 8. Jahrhundert und aus Jerusalem seit dem 10. Jahrhundert. Die Funktion des Ursprungs von Heiltümern, wie sie den Zentralstädten Jerusalem und Rom zukam, konnte auch auf die heiligen Städte übergehen, die aus diesen Zentren Reliquien empfangen hatten. So konnten nun ihrerseits von diesen heiligen Städten Reliquientranslationen ausgehen. Trierer Reliquien gelangten nach Goslar, von wo aus sie wieder weitergeleitet werden konnten, etwa nach Bamberg. Diese Translationen vollzogen sich als feierliche Prozessionen, wobei sich 1107 der Abt von Helmarshausen beim Anblick der Stadtmauern von Trier, das eine große Zahl an Reliquien heiliger Bischöfe besaß, auf den Boden warf und die Heiligen um Vergebung seiner Sünden bat.84 Die Abgabe von Reliquien konnte ein enges Verhältnis des Empfängers zur Reliquienquelle begründen85 und war so ein Mittel zum Aufbau einer Beziehung zwischen Zentrum und Ausstrahlungsbereich. Stationskirchen konnten sich auch vor der Stadt, also außerhalb der Stadtmauern, befinden und so einerseits die Stadt mit dem Umland geistlich verbinden, andererseits geistlich schützen.86 Seit der ottonischen Zeit wurde eine symbolische Zuordnung von Stadt und Land durch die Kirchenbauten vorgenommen, z.B. durch die kreuzförmige Bezugnahme ländlicher Kirchen auf die zentrale Kirche in der Stadt.87 Bamberg wird in der Vita des Bistumsgründers Kaiser Heinrich II. beschrieben als »von Kirchen und Patrozinien der Heiligen in Form des Kreuzes überall um79 80 81 82 83 84
Maurer, Kirchengründung, 47–59. Haverkamp, Heilige Städte, 123. Haverkamp, a.a.O., 127. Haverkamp, a.a.O., 132. Haverkamp, a.a.O., 133. Haverkamp, a.a.O., 134f. Trier wird in diesem Zusammenhang bezeichnet als »illa metropolis gloriosa Treveris, urbium nobilissima, quae dignitatis praerogativa meruit appellari altera Roma«. 85 Heinzelmann, Translationsberichte, 34. 86 Vgl. Haverkamp, Heilige Städte, 137. 87 Heigl, Geschichte, 228; Jarnut, Paderborn, 115.
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geben«.88 Auch in der Stadt selbst wurden Kirchen kreuzförmig einander zugeordnet.89 Bischof Meinwerk plante in Paderborn ein Kirchenkreuz, das seine Mitte im neuen Dom hatte.90 Die Kirchen in und an der Stadtmauer, in und an den Stadttoren verstärkten sakral den Immunitätscharakter der Stadt. Die Stadttore bekamen Kapellen, die besonders oft dem wehrhaften Erzengel Michael geweiht waren.91 »Wirkungsvolle Heiltümer konnten sogar die Stadtmauern ersetzen«.92 Die sakrale Ausstattung von Städten war ein wesentlicher Gradmesser ihrer Qualität und Ausstrahlung.93 Mit ihrer Qualität als heiliger Stadt war der Anspruch verbunden, den Bewohnern Frieden zu gewähren94 und ihnen Freiheit zu gewährleisten.95 Die Stadt wurde durch Stadtheilige, die in der Weise römischer Patrone verstanden wurden, beschützt. Sie stand im Dienst des Stadtpatrons, der ihr wahrer Regent war. Das älteste Stadtpatrozinium findet sich in Rom mit den Aposteln Petrus und Paulus. »Rom wird zur Leitidee bei der Entwicklung der Doktrin vom Stadtpatrozinium.«96 Von hier aus breitete sich die Vorstellung in ganz Europa aus. »Überall erscheint der Stadtheilige als Helfer der Stadt gegen äußere und innere Feinde. […] Sein Patrozinium markiert das politische und wirtschaftliche Einflußgebiet einer Stadt, denn in den städtischen Expansionszonen Ober- und Mittelitaliens beispielsweise waren die unterworfenen Kommunen und Kastelle dem Heiligen der erfolgreichen Stadt hörig.«97 Bischöfe, die ihre Stadt stark geprägt haben, wurden später zu Stadtheiligen erhoben, blieben also über ihr Leben hinaus Patrone der Stadt.98 Das Siegel der Stadt wies in Bischofsstädten oft den Stadtheiligen auf, der ein verehrter Bischof der Stadt sein konnte, wie in Trient und Verona.99 Diese Verehrung der Stadtheiligen strahlte auch auf das Umland aus, wo ihnen ebenso Kirchen geweiht werden konnten.100 Das Patronat der Bischofskirche stand meist unter einem universellen Heiligen wie Maria, Apostel, Märtyrer der alten Kirche, aber in Lüttich und Würzburg war Diözesanpatron ein lokaler Heiliger, in Würzburg der dort gestorbene irische Märtyrer 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98
Zitiert in: Schmieder, Stadt, 35. Ebd. Balzer, Stadtbildung, 12. Haverkamp, Heilige Städte, 137f. Haverkamp, a.a.O., 137. Haverkamp, a.a.O., 136. Haverkamp, a.a.O., 151. Haverkamp, a.a.O., 149. Klug, Märtyrer, 28. Ebd. Beispielsweise in Konstanz: Konrad und Gebhard. Vgl. Maurer, Kirchengründung, 59. Für die Merowingerzeit vgl. Heinzelmann, Translationsberichte, 33. 99 Dilcher, Bischofsstadt, 33. 100 Zum Beispiel Walburgapatrozinium von Eichstätt nach Beilngries (eine Kleinstadt bei Eichstätt).
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Kilian.101 Der Würzburger Bistumsgründer Burkhard wurde zum Patron des bisherigen Klosters S. Andreas. Diese lokalen Heiligen waren viel geeigneter als allgemeine, ubiquitäre Heilige, »als gemeinschaftsstiftender Faktor für die Stadtbevölkerung zu wirken«.102 Geschützt wurde das geistliche Zentrum der Stadt, die Bischofskirche Würzburgs, durch die Errichtung von Klöstern bzw. Stiften in drei Himmelsrichtungen, die den allgemeinen Heiligen Maria, Johannes der Täufer / Johannes der Evangelist, Petrus/Paulus/Stephan geweiht waren und die die Bischofsstadt wie eine zweite geistliche Mauer umgaben. Damit erreichte im 11. Jahrhundert auch Würzburg das Ideal der imitatio Romae mit seinen Entsprechungen zu Sta. Maria Maggiore, San Giovanni in Laterano, San Pietro in Vaticano, San Paolo fuori le mura.103 Die häufigsten Patrozinien der Bischofskirchen waren Maria und Petrus, daneben Stefan, Martin, Laurentius.104 Die Patrone der römischen Patriarchalkirchen Maria, Petrus, Paulus, die beiden Johannes, Laurentius sowie das heilige Kreuz wurden auf Kirchen in den Bischofsstädten übertragen, um ihnen die Würde eines neuen Rom zu verleihen. Besonders deutlich war die Romimitation in Lüttich und Utrecht, aber auch in Konstanz.105 Die römischen Patrozinien konnten sich auch auf eine einzige Kirche konzentrieren wie den Hildesheimer Dom im 12. Jahrhundert oder die Überwasserkirche in Münster, wo die Altäre den römischen Heiligen geweiht wurden.106 Martin von Tours wurde im 6./7. Jahrhundert zum merowingischen Reichsheiligen, und sein Kult verbreitete sich im fränkischen Einflussgebiet. Das Patrozinium zum Heiligen Kreuz fand sich oft in der Kirche mit der höchsten Lage in der Stadt, etwa in Trier, Metz, Augsburg, Eichstätt, Hildesheim, oder besaß den zentralen Altar im Dom. Schutzfunktion erhielten Heiligkreuzkirchen an der Stadtmauer, z.B. in Köln oder Cambrai.107 In Paderborn wurde der importierte heilige Bischof Liborius neben Maria und Kilian Patron des Domes und drängte die letzteren in den Hintergrund. Motiv für die Translation war, dass die Stadt durch den wirkmächtigen Heiligen schutzsuchende Menschen anziehen sollte.108 Der Diözesanheilige wurde zum Stadtheiligen und trug zur Identität der Stadt bei. Prozessionen von Orten außerhalb der Stadt in diese hinein wurden zu Ehren des heiligen Liborius abgehalten. Dabei wurde der Heilige um die Stadt herumgetragen, um sie zu schützen.109 Bei Kriegsgefahr 101 102 103 104 105 106 107 108 109
Hirschmann, Wirtzburgensis, 41. Hirschmann, a.a.O., 43. Hirschmann, a.a.O., 44f. Hirschmann, Anfänge, 1102f. Hirschmann, a.a.O., 1104. Hirschmann, a.a.O., 1105. Hirschmann, a.a.O., 1108. Hirschmann, a.a.O., 1133. Schoppmeyer, Bürgerstadt, 398f.
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wurden die Heiligen und ihre Reliquien als Schutz eingesetzt.110 Der Dortmunder Stadtpatron, der heilige Reinoldus, wurde eine Symbolfigur »für die mittelalterliche Stadtgemeinde, für die Konstituierung als Bürgergemeinde und für die Fortentwicklung der Stadt mit politischer Autonomie, für die Entwicklung der Identitäten in der mittelalterlichen Stadt oder für die Repräsentation der Identität nach außen«.111 Die »Repräsentation von städtischer Freiheit durch den heiligen Stadtpatron in Gestalt eines Ritters« gehörte zu den »mittelalterlichen Formen von Selbstverständnis und Selbstdarstellung, die Vorbildfunktion auch für andere Städte hatten.«112 Die Dortmunder Reinoldusstatue war Vorbild für Rolandsstandbilder und für die Darstellung anderer Ritterheiliger in norddeutschen Städten. Das Patrozinium der Bischofskirche konnte auf geistliche Institutionen, die der Bischof in seiner Diözese gründete, übertragen werden. Alderich, Bischof von Le Mans, weihte im 9. Jahrhundert von ihm gegründete oder erneuerte Klöster außerhalb der Stadt den Patronen der Kathedrale. »Die Gleichartigkeit der Patrone bildete die herrschaftliche Unterordnung des Klosters unter den Bischof ab.«113 Die similitudo et imitatio der Patrone band das Land an die Stadt. Der Tagesheilige, der an dem Tag verehrt wurde, an dem ein für die Bischofsstadt wichtiges Ereignis stattfand, gewann besondere Bedeutung für die Stadt. So ordnete der Mailänder Erzbischof Ottone Visconti den Tag der heiligen Agnes, an dem er 1277 den Sieg über das welfische Stadtregiment errang, zum Gedenktag an.114 Damit erwarb die siegreiche Partei einen Schutzheiligen, dessen Verehrung an den Sieg erinnerte und diesen dauerhaft legitimierte. Da der heilige Ambrosius, der Hauptpatron der Stadt, schon die Verehrung der heiligen Agnes unterstützt hatte, konnte diese neue »viscontische Spezialheilige in das Zentrum der Mailänder Kulterinnerungsgemeinschaft« und ihr neuer Förderer »in die Nachfolge seines großen Amtsvorgängers« einrücken.115 Dieser betrieb den Kult der heiligen Agnes auch außerhalb der Stadt in ihrem Umland, um auch dort seinen Machtanspruch auszudrücken und zu festigen. Mindestens an fünf Orten der Diözese wurde Kirchen das Agnespatrozinium verliehen.116 Eine Bischofsstadt konnte, wenn der Bischof königstreu war, zur vorübergehenden Residenz des Königs werden. Paderborn lag am Reiseweg der Könige, dem Hellweg, und zog im 11. Jahrhundert auch wegen seiner aufwendigen Sakralbauten die Könige an, die dort die hohen Kirchenfeste 110 111 112 113 114 115 116
Hirschmann, Anfänge, 1111. Schilp/Weifenbach, Stadt, 7. Ebd. Patzold, Bischofsstadt, 117. Vgl. Hirschmann, Anfänge, 1123. Dietl, Zentralisierung, 152. Dietl, a.a.O., 157. Dietl, a.a.O., 166.
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feierten. Neben den Bischofspalast trat die Königspfalz.117 Die Baumaßnahmen zeigten die reichspolitische Bedeutung des Bischofs und zogen Zuwanderer an, so dass die Bevölkerung der Stadt zunahm.118 Nach dem Investiturstreit zogen sich die deutschen Könige aus Norddeutschland zurück, und Paderborn verlor seine Funktion als zeitweiliger Aufenthaltsort des Bischofs. Dies führte zu einer Minderung der Bedeutung der Stadt.119 Auch geistliche Spiele konnten zur Ausstrahlung der Stadt beitragen. In Halberstadt wurde ein Bußspiel, das Adamsspiel, abgehalten, das durch einen Ablassbrief Papst Bonifaz’ IX. 1401 bestätigt wurde, der den Ablass anlässlich dieses Spiels zur Unterstützung des Dombaus des Halberstädter Bischofs ausschrieb. Das Spiel hatte somit einen religiös-didaktischen und zugleich einen finanziellen Zweck und zog auch Menschen aus dem Umland der Stadt an.120 Die Bischofsstadt entfaltete oft auch Ausstrahlung auf dem Gebiet der Literatur. Die Bischofshöfe boten die kulturellen Voraussetzungen, die Bildungsvoraussetzungen, um literarisch produktiv zu werden. In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts entstand in der Bischofsstadt Mainz das Pontificale romano-germanicum, das sich bis nach Rom verbreitete und dort auch Grundlage des Pontificale Romanum wurde. Es enthielt Vorschriften für feierliche Zeremonien in der Kathedrale, Liturgien für die Pfarreien der Diözese, Riten auf den Reisen des Bischofs.121 »La diffusion rapide du PRG tient d’ailleurs moins à sa nature qu’à la renommeé du lieu où il a été composé, le siège de l’archeveché de Mayence.«122 Ebenfalls im 10. Jahrhundert entfaltete die Bischofsstadt Winchester unter Bischof Aethelwold große kulturelle und geistliche Ausstrahlung. Der Winchester-Stil der Manuskriptillumination prägte im 10./11. Jahrhundert die Buchmalerei in England, deren Erzeugnisse auch auf den Kontinent exportiert werden. Das in diesem Stil gestaltete Benedictionale verbreitete sich über die Diözese hinaus.123 Das als Konsequenz der Reformen der Priester- und Laienbildung auf dem vierten Laterankonzil von 1215 verfasste Bußbuch Manuel des Pechez, das eine moralische Unterweisung der Laien bietet, stammt von einem englischen Bischofssitz, entweder Lincoln oder York, und verbreitete sich in England stark.124 Vom Protonotar des Bischofs von Würzburg, Michael de Leone aus dem 14. Jahrhundert, stammt die Redaktion einer Sammelhandschrift, die neben weltlichen auch geistliche Texte enthält und neben lateinischen 117 118 119 120 121 122 123 124
Jarnut, Paderborn, 115.121 (Matthias Becher). Jarnut, a.a.O., 196. Jarnut, a.a.O., 195. Averkorn, Bischöfe, 61f. Palazzo, La liturgie épiscopale, 72f. Palazzo, a.a.O., 73. Busse, Bischofshöfe, 149. Busse, a.a.O., 161.
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auch deutsche. Sie lässt sich als eine Philosophia practica verstehen, die eine ethica monastica, oeconomica und politica enthält.125 2. Wallfahrtsort Eine zentripetale geistliche Ausstrahlung der mittelalterlichen Stadt war häufig die Wallfahrt. »Seitdem sich die peregrinatio ad loca sancta entwickelt hatte, bedingten Pilgerfahrt und Stadtentwicklung einander, und zwar bereits im frühen Mittelalter.«126 Die imitatio urbis, die Nachahmung der sakralen Topographie der Stadt Rom, machte die frühmittelalterlichen Städte zum Ziel von Wallfahrten, die gewissermaßen als Ersatz für eine Wallfahrt nach Rom gelten konnten, da die heiligen Städte als altera Roma galten. Diese Romnachahmung wurde ermöglicht durch Reliquientranslationen aus Rom in die neuen heiligen Städte, wo Zentren der Heiligenverehrung entstanden, die zur Entwicklung dieser Städte beitrugen.127 »Die Bemühungen, das Heilige Grab in Jerusalem oder die römischen Stationskirchen am eigenen Ort, in der eigenen Stadt nachzubilden, ist durch Pilgerfahrten unzweifelhaft mitbeeinflußt worden, zumal wenn man danach strebte, für den Besuch dieser ›Sekundärheiligtümer‹ einen gleichen oder ähnlichen Ablaß wie für den eigentlichen Gnadenort zu erwirken.«128 Die Stadtheiligen, oft bedeutende Bischöfe oder Märtyrer, zogen Pilger und Wallfahrer von außerhalb der Stadt, aus ihrem Umland, aber auch aus größerer Entfernung, an. Materielle Grundlage für diese Anziehungskraft waren die Gräber oder Reliquien der Heiligen. Nachdem in der Spätantike die Verehrung der Heiligen an ihren meist außerhalb der Stadt gelegenen Gräbern stattfand, wurden im Laufe des 5./6. Jahrhunderts immer mehr Reliquien auch in Stadtkirchen Roms und anderer Städte verbracht, um dort an der Heiligkeit der Märtyrer teilzuhaben.129 So richtete sich die Wallfahrt nicht nur auf die Gräber außerhalb der Stadt, sondern auch auf die Kirchen in ihr.130 Rom als Pilgerstadt entwickelte sich durch diese Reliquientranslationen, die Stadterweiterung um St. Peter, den pilgergerechten Kirchenbau und die Errichtung von Xenodochien zur Beherbergung der Pilger.131 Die Übertragung der Gebeine des heiligen Liborius nach Paderborn im 9. Jahrhundert sollte den Glauben der Bekehrten stärken durch die Erfahrung von Wundern und Pilger anziehen, weshalb die Bischofskirche durch ein Westquerhaus mit West125 126 127 128 129 130 131
Fürbeth, Bischofsstädte, 130–141. Herbers, Stadt, 229. Herbers, a.a.O., 205. Herbers, a.a.O., 233. Heinzelmann, Translationsberichte, 26. Herbers, Stadt, 206. Herbers, a.a.O., 204f.
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apsis und Umgangskrypta für das Reliquiengrab erweitert wurde.132 Der Zustrom von Pilgern und die Baumaßnahmen trugen zu einem Wachstum der Stadt bei. Die angebliche Wiederauffindung der Gebeine des Apostels Matthias in einem Trierer Kloster 1127 löste eine starke Wallfahrtsbewegung aus, an der sich Pilger zwischen Ypern und Konstanz beteiligten.133 Durch den Reliquienkult erhielten die Städte eine weit ausstrahlende zentrale geistliche Funktion.134 Die Reliquien des heiligen Märtyrerbischofs Kilian in Würzburg, der heiligen Bischöfe Otto von Bamberg, Willibald von Eichstätt, Burkhard von Würzburg wurden auch außerhalb der Städte verehrt und zogen Pilger aus dem ganzen Bistum und darüber hinaus an.135 Auf diese Weise konnte eine Stadt als heilige Stadt eine doppelte Anziehung ausüben, einmal durch Repräsentation der heiligen Stadt Rom und ihrer universellen Heiligen, dann aber auch durch die lokalen Heiligen, die das geistliche Spezifikum der Stadt verkörperten. Durch das erste erhob die Stadt einen allgemeinen Anspruch auf geistliche Zentralität, durch das zweite wurde sie zu einem ausschließlichen geistlichen Zentrum, das einen Heiligen aufwies, der anderswo nicht oder nicht in dieser Präsenz zu finden war. Wallfahrten machten die Stadt zu einem wichtigen geistlichen Zentrum. »Zu einem Wallfahrtsort entwickeln sich oft sehr feste Beziehungen; Bruderschaften entstehen in Orten des Wallfahrtseinzugsbereiches, deren Hauptzweck die regelmäßige Pilgerfahrt ist.«136 Andererseits beruht die Bedeutung des Wallfahrtsortes auf dem ständigen Pilgerzustrom, der mannigfaltige Leistungen nicht nur kultischer, sondern auch wirtschaftlicher Art vom Wallfahrtsort erwartet. Öfter ist ein Jahrmarkt oder gar eine Messe mit der Wallfahrt verbunden. »Hier kann man von Gütern und Diensten sprechen, die ein Oberzentrum unteren Zentren leistet oder von unteren Zentren bezieht und sammelt, hier geht es um Verteiler- und Zubringerfunktionen«.137 Die Wallfahrt konnte ein wichtiger Faktor der Stadtentwicklung werden, wie in den französischen Marienwallfahrtsorten Le Puy en Velay und Chartres, aber auch in St. Gilles mit der Verehrung des heiligen Aegidius, die Pilger aus Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, Polen und Dänemark anzog. St. Gilles hatte Handelsbeziehungen von Syrien bis zu den Niederlanden, von Katalonien bis zur Lombardei.138 Die Zuströme der Opfergaben waren eine wichtige finanzielle Einnahmequelle für die Wallfahrtsstädte und ihre Kirchenbau-
132 133 134 135 136 137 138
Balzer, Stadtbildung, 6. Haverkamp, Heilige Städte, 136; Hirschmann, Anfänge, 1125. Haverkamp, Heilige Städte, 155. Weiss, Reichsstadt, 15. Sydow, Bürgerschaft, 224f. Ennen, Stufen, 16. Ennen, Stadt, 248–251.
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ten.139 Oft wurden diese Transaktionen unterstützt durch Ablässe.140 Heiltumsweisungen, das feierliche Zeigen der Reliquien, wurden in regelmäßigen Abständen durchgeführt, z.B. im Siebenjahresrhythmus wie in Aachen, was den Zustrom der Pilger verstärkte.141 Oft war auch der Fernhandel der Städte mit den Pilgerfahrten verbunden.142 Die Bischöfe versuchten zuweilen, die Ausstrahlung der Heiligenverehrung in Städten ihres Bistums zu unterdrücken und eine Wallfahrt zu behindern. So wehrte sich der Bamberger Bischof gegen die Verehrung des heiligen Sebald in der Reichsstadt Nürnberg und die Wallfahrt dorthin.143 Der Rat der Stadt »instrumentalisierte die Sebaldusverehrung zur Demonstration der Bedeutung Nürnbergs und sorgte für ihre Verbreitung«.144 Diese strahlte bis Österreich und Venedig aus. Das Selbstverständnis der Stadt manifestierte sich in ihrem Patron.145 Das Konkurrenzverhältnis zwischen Bischofsstädten konnte dazu führen, dass die eine Stadt die andere in ihrer geistlichen Anziehungskraft übertrumpfen wollte. Erzbischof Brun von Köln holte im 10. Jahrhundert zahlreiche Reliquien in die Stadt, um neben Trier bestehen zu können.146 Im 12. Jahrhundert wurde Köln zu einem Zentrum des Reliquienexports, da es die Gebeine der elftausend Jungfrauen barg, und wurde nach der Translation der Heiligen Drei Könige in den Dom zu einem der bedeutendsten Wallfahrtszentren nördlich der Alpen.147 Auch das Ablasswesen konnte Pilger in eine Stadt ziehen, wenn dort besonders wirksame Ablässe zu gewinnen waren. So wurden Pilgern in Lübeck zeitlich begrenzte Ablässe versprochen, wenn sie »in wahrhafter Reue an den Tagen der Dompatrone Johannes und Nikolaus in der Kathedrale ihre Andacht hielten und milde Gaben für den Kirchenbau spendeten«.148 Andere Ablässe waren nicht auf bestimmte Tage beschränkt wie die mit der Verehrung von Reliquien verbundenen. Der Lübecker Dom wurde die zentrale Sammelstelle für die in ganz Nordeuropa eingesammelten Ablassgelder. Ablässe wurden an Gnadenorten erteilt, in Rom, in Assisi, am Markusdom in Venedig, in Einsiedeln, in Aachen und durch Ad-instar-Ablassbriefe europaweit verteilt.149 Ein Heiligengrab mit seiner Wallfahrt konnte den Bischofssitz an sich ziehen, der vorher in einer in anderer Hinsicht zentraleren Stadt lag. So wurde der Bischofssitz von Maastricht nach Lüttich verlegt, nachdem 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149
Herbers, Stadt, 216. Vgl. Weiss, Reichsstadt, 77; Herbers, Stadt, 223; Ikari, Wallfahrtswesen, 41. Herbers, Stadt, 226f. Herbers, a.a.O., 226. Weiss, Reichsstadt, 17. Weiss, a.a.O., 18. Weiss, a.a.O., 15. Hirschmann, Anfänge, 1127. Hirschmann, a.a.O., 1128. Hauschild, Zentrum, 35. Angenendt, Geschichte, 655.
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dort das Grab des ermordeten Bischofs Lambert verehrt wurde. »Nirgends sonst im Reich stand ein Heiligengrab so deutlich am Anfang der urbanen Entwicklung eines Bischofssitzes wie in Lüttich, das seine Existenz letztlich dem hl. Lambert verdankt.«150 Umgekehrt konnte die geistliche Ausstrahlung einer Stadt geschwächt werden, wenn ihr Heilige entzogen wurden. Utrecht verlor den Heiligen Bonifatius nach Fulda, dann auch seine Gefährten Eoban und Adalhar.151 In seltenen Fällen entwickelte sich im Mittelalter aus einem Wallfahrtsort eine Stadt. Der wohl berühmteste Fall ist Santiago de Compostela, wo Anfang des 9. Jahrhunderts angeblich die Gebeine des heiligen Jakobus aufgefunden wurden, so dass der Ort zu einem locus sanctus auch für die nähere Umgebung, später für ganz Europa wurde. Der Bischof von Iria verlegte seinen Sitz nach Compostela, und es entstanden die Strukturen einer Bischofs- und Wallfahrtsstadt mit Stadtmauer.152 Ein anderes Beispiel ist St. Nicola de Port in Lothringen, wo ein wundertätiger Finger des hl. Nikolaus verehrt wurde, der aber die neue Stadt auch ohne Mauer beschützen konnte.153 In der frühen Neuzeit hingegen entstanden vermehrt Städte aus Wallfahrtsorten, da diese in der konfessionellen Auseinandersetzung gegenreformatorische Bedeutung hatten. Beispiele sind die Marienwallfahrtsorte Kevelaer am Niederrhein und Scherpenheuvel (Montaigu) in Brabant. Um die Gnadenkapelle von Kevelaer herum, die 1646 zur Erinnerung an eine Gebetserhörung durch die Consolatrix afflictorum errichtet wurde, bildete sich eine Stadt, die zu einem geistlichen gegenreformatorischen Zentrum wurde, aber erst 1949 offiziell zur Stadt erhoben wurde.154 Scherpenheuvel hingegen war als Wallfahrtsstadt in Radialform mit siebeneckiger Mauer Anfang des 17. Jahrhunderts von den Statthaltern der Niederlande Albert und Isabella gegründet worden.155 Schon im konfessionellen Zeitalter hatten die Wallfahrten konfessionalisierende Funktion. Pilgerstraßen waren für die Stadtentwicklung von Bedeutung.156 Städte, die an wichtigen Wallfahrtswegen wie nach Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela lagen, erfuhren durch den Pilgerstrom eine Umwandlung, indem sie Wallfahrtskirchen, Pilgerkirchen errichteten, die den geistlichen Bedürfnissen der Pilger genügten, und Spitäler zur Versorgung der Pilger einrichteten.157 Zweck der Wallfahrt war oft die Heilung von einer Krankheit, weshalb Spitäler notwendig waren. Für die 150 151 152 153
Hirschmann, Anfänge, 1129. Ebd. Herbers, Stadt, 213. Ennen, Wallfahrt, 247f: »Non habet is murum, solo defenditur huius pontificis digito.« 154 Ennen, a.a.O., 253. 155 Ennen, a.a.O., 255–257. 156 Schnurrer, Rothenburg, 70. 157 Ennen, Wallfahrt, 244.
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Frömmigkeitspraxis der Pilger entstanden große Pilgerkirchen mit drei oder fünf Schiffen für die Umgangskapellen und Prozessionsstationen, vorbildlich dafür waren in Frankreich St. Foy in Conques, St. Benoit sur Loire und Cluny III.158 In der säkularisierten Moderne wurde die Wallfahrt weitgehend durch den Tourismus ersetzt, der die religiösen Denkmale nicht geistlich, sondern, wenn es gut geht, geistig, mit historischem und kunstgeschichtlichem Interesse, rezipiert.159 3. Klosterstandort Neben den Bischofsstädten stehen Städte, die sich an Klöster anschlossen oder um sie herum bildeten. Die Äbte dieser Klöster waren oft ursprünglich die Stadtherren, die als Fürstäbte ähnlich wie Bischöfe über ein Territorium herrschten. Auch die Fürstäbte mussten sich die Macht in der Stadt allmählich mit den Bürgern teilen oder sie ihnen überlassen. Im stark durch Klöster geprägten Irland wurden seit dem 7. Jahrhundert aus großen Klöstern stadtähnliche Siedlungen.160 Benediktinerklöster waren ihrem Selbstverständnis und ihrer Baugestalt nach selbst so etwas wie kleine Städte, da sie ummauert und wirtschaftlich autark waren. Aber um sie herum bildeten sich oft richtige Städte aus, in die sie entweder integriert wurden oder von denen sie getrennt blieben, aber auf die sie Einfluss hatten. Beispiele für Städte, die sich um ein Benediktinerkloster bildeten, sind Siegburg, Fulda, Echternach, Weißenburg im Elsass und Schaffhausen.161 Die Stifte und Klöster in den Städten besaßen Ländereien im Umland und waren geistliche Grundherren. Nicht nur für Köln gilt: »Die vordringlichste Aufgabe der Besitzungen bestand darin, den Lebensunterhalt der Insassen in Köln sicherzustellen und Kirche und Kloster in gutem Bau zu erhalten. Die Zentrale nahm Güter und Dienste in Anspruch und sammelte die Güter in Köln; insofern waren die Klöster und Stifter Oberzentren, die der Stadt Köln zentrale Stellung stärkten«.162 Der Überschuss ging an den städtischen Markt. »Durch seinen Markt wurde Köln auch äußerst attraktiv für viele auswärtige geistliche Institute, die dort Stadthöfe unterhielten. […] So verzahnen sich die Funktionen des Marktplatzes und des sakralen Mittelpunktes.«163 Die Konzentration geistlicher Institute in einer Stadt konnte durch wirtschaftliche Interessen bedingt sein, so dass Klöster Stadthöfe einrichteten.164 Diese »bildeten gleichsam in die Stadt inte158 159 160 161 162 163 164
Ebd. Vgl. Ennen, a.a.O., 250. Richter, Irland, 85. Hirschmann, Stadt, 49. Ennen, Zentralität, 20. Ebd. Schoppmeyer, Probleme, 104f.
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grierte Zentren, die die zentripetalen Kräfte der Kommune stärkten«.165 Sie nahmen Gäste von außen auf und dienten so den Beziehungen der Stadt mit ihrem Umland.166 Besonders Zisterzienserklöster, die im Unterschied zu Benediktinerklöstern die Einsamkeit auf dem Land suchten, richteten Stadthöfe ein.167 Beispiel ist der Pfleghof des Zisterzienserklosters Bebenhausen in Tübingen. »Von den Anfängen bis mindestens ins 11. Jahrhundert prägten die Benediktinerklöster ganz wesentlich die Geschichte der Städte. Mit der von ihnen geschaffenen Infrastruktur und ihren reichen Grundherrschaften waren sie neben den Dom- und Stiftskirchen die wichtigsten Produktions- und zugleich Konsumtionszentren. […] Die abteilichen Bibliotheken, Schulen und Skriptorien prägten das geistliche Leben der Städte erheblich, und die Rolle der Benediktiner wurde etwa bei Prozessionen augenfällig. Das Fehlen von Klöstern hat man denn auch als Mangel in Bezug auf die urbane Qualität einer Siedlung erachtet«168. In Städten, die ihre Gründung einem Kloster verdankten, musste nicht dieses Stadtherrin sein. Die Stadt Blaubeuren in Württemberg etwa entstand neben dem Kloster und unterstand wie dieses dem Klostervogt, dem Pfalzgrafen von Tübingen, der das Kloster und später die Stadt gründete. »Aus dem Dorf, das sich neben dem 1085 an den Blautopf verlegten Kloster entwickelt hatte, entstand um die Mitte des 13. Jahrhunderts aufgrund der Marktfunktion in der unmittelbaren Nachbarschaft des Klosters, das Zentrum für ein weiteres Einzugsgebiet war, und durch den Klostervogt als Stadtgründer eine Kleinstadt, die im Spätmittelalter nie über eine lokale Bedeutung hinausgewachsen ist und dem Kloster politisch nachgeordnet blieb.«169 Die Ausstrahlung der Stadt ging eigentlich vom Kloster, weniger von ihr selbst aus. Klosterstädte wie Xanten, Seligenstadt, Fulda und Hersfeld wurden durch sakrale Bauwerke als heilige Städte ausgezeichnet.170 In Fulda und Freising, die auf Bonifatius zurückgingen, waren die Bischofssitze in Klöstern.171 Um die Stadt herum bildete sich manchmal ein Kranz von Klöstern und Stiften, der oft nach den Himmelsrichtungen angeordnet war172 und dem geistlichen Schutz der Stadt dienen sollte. Besonders in Preußen gingen viele Gründungsstädte auf den Deutschen Orden zurück.173 165 166 167 168 169 170 171 172 173
Schoppmeyer, a.a.O., 106. Schiller, Bürgerschaft, 54. Hirschmann, Stadt, 50. Hirschmann, Anfänge, 1040. Eberl, Blaubeuren, 177–219. Haverkamp, Heilige Städte, 131. Köpf, Stadt, 99. Sydow, Stadt, 180. Boockmann, Städte, 281–300.
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Monastische Reformbewegungen nahmen ihren Ausgang oft von in oder bei Städten gelegenen Klöstern. St. Maximin in Trier wurde ab 934 ein Zentrum der Reform und entfaltete große Ausstrahlungskraft auf S. Mauritius in Magdeburg, St. Pantaleon in Köln, St. Emmeran in Regensburg. Dieses wiederum strahlte nach Salzburg, Würzburg, Weihenstephan bei Freising, Münsterschwarzach und Bamberg aus.174 Die Städte übten für die neuen Orden des 13. Jahrhunderts, die Bettelorden, eine große Anziehungskraft aus, da diese ganz auf die Seelsorge in Predigt und Beichte in den Ballungszentren ausgerichtet waren. Während die alten Mönchsgemeinschaften vom Adel und Klerus gegründet wurden, unterstützten die Bürger der Städte die Bettelorden und machten sie sich für ihre Verselbständigungsbestrebungen gegenüber Adel und Klerus zunutze.175 Die Stadtregierungen förderten oft die Ansiedlung der Orden. »Damit löste sich die Stadt ein Stück weit aus der geistlichen Abhängigkeit von den alten Stiften – mit ein Ausdruck ihres neuen Selbstbewusstseins und ihrer wachsenden Autonomie.«176 »Insofern stellt die Unterstützung der Bettelorden durch Bürgerschaft und Rat zugleich einen bewußten Akt kommunaler Selbständigkeit dar«.177 Der Volksprediger der Minoriten, Berthold von Regensburg, zog die Stadt dem Land für Gottesdienst und christliche Lebensführung vor, da Bildung und Zivilisation höher stünden und die Anfälligkeit für Ketzereien geringer sei.178 Der dominikanische Generalmagister Humbert von Romans nannte die Städte Zentren der Kultur mit großer Ausstrahlung, so dass die Seelsorge in den Städten beginnen und von ihnen aufs Umland ausstrahlen solle.179 Der Generalprior der Augustiner-Eremiten Jordan von Quedlinburg rechtfertigte die Übersiedlung seines Ordens aus den Eremitorien in die Städte.180 So kamen im 13. Jahrhundert alle vier großen Bettelorden nach Würzburg, die Franziskaner zuerst, die Dominikaner wenig später, die Augustinereremiten und die Karmeliter, und errichteten ihre Konventsgebäude mit Kirchen an den Stadtmauern, über die die Türme dieser Kirchen von der Stadt ins Umland hinauswiesen, auch akustisch durch ihre Glocken. Damit stand Würzburg neben Köln und Metz im Deutschen Reich – Städten, zu denen später im 13. Jahrhundert noch Trier, Mainz, Worms, Speyer, Nürnberg und Esslingen hinzukamen. In Straßburg gab es im Spätmittelalter fünf Klöster der Bettelorden: Franziskaner, Dominikaner, Augustiner-Eremiten, Sackbrüder und Karmeliter.181 Die Zahl der Bet174 175 176 177 178 179 180 181
Hirschmann, Anfänge, 1054. Rüther, Bettelorden, 9f. Helbling / Bless-Grabher / Buhofer, Bettelorden, 16. Wehrli-Johns, Stellung, 78. Rüther, a.a.O., 11f. Rüther, a.a.O., 12. Ebd. Rüther, a.a.O., 18.
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telordensniederlassungen gilt häufig als Anzeichen für die Bedeutung einer Stadt im 13. Jahrhundert und spiegelt die Dynamik der Städte wider.182 Dennoch war ihre Wirkung auf das Umland begrenzt: »Innerhalb der Städte entstanden die ersten Klöster der städtischen Orden, die aber wegen ihrer starken Ausrichtung auf die Stadtbevölkerung fast gar keine Beziehungen zum Umland hatten«.183 Manchmal übten sie aber auch Seelsorge an der Landbevölkerung.184 Dabei begaben sie sich in die Landpfarreien, wo manchmal die Pfarrer sie mit Gewalt daran hinderten, in ihren Pfarrkirchen zu predigen oder Beichte zu hören.185 Die älteren Klöster und die Pfarreien in der Stadt setzten ihnen manchmal Widerstand entgegen. Nur durch päpstliche Privilegien und Schutzbriefe war es den Mendikanten möglich, in den Städten Seelsorge zu betreiben.186 Die Abtei von Saint-Germain in Paris gab nur auf Druck des Königs ein Grundstück an die Minoriten ab, versagte ihnen aber dennoch den Anspruch auf Kirchenbau, Friedhof und Glocken, um keine Einbußen an den eigenen Seelsorgerechten zu erleiden.187 Auch die Weltgeistlichen an den Pfarrkirchen empfanden die Bettelorden oft als Konkurrenz.188 Die Stadtbevölkerung hingegen schätzte die Bettelordensniederlassungen auch als Schutz gegen Gefahren von außen, da sie an der Stadtmauer siedelten.189 Diese ringförmige Verteilung an der Stadtmauer versprach einen geistlichen Schutz der Stadt.190 Andererseits konnte die Lage der Klöster an der Stadtmauer auch eine Gefährdung für die Stadt bedeuten, wenn sich die Klöster nicht loyal verhielten. Auch die Aufnahme von Fremden und Durchreisenden in den Gästehäusern der Klöster konnte die städtische Sicherheit gefährden.191 Anziehend waren die Bettelorden für die Bevölkerung vor allem durch ihre Predigt, wobei die Dominikaner wohl eher die Gebildeten, die Franziskaner eher die Ungebildeten ansprachen192 und deshalb auch über die Stadtgrenzen hinaus wirkten. Die Mendikanten konnten vom Rat der Stadt, von dem sie auch finanziell abhängig waren, mit Botengängen nach anderen Orten beauftragt werden.193 Ihre Kirchen wurden oft für städtische Zwecke benutzt. Das Wirken in der Stadt prägte das Selbstver182 183 184 185 186
Vgl. Hirschmann, Stadt, 50.82. Le Goff, Ordres, 924–946. Fehn, Bedeutung, 87. Köpf, Stadt, 108. Kordwittenborg, Wirken, 269. Ebd. Vgl. Helbling / Bless-Grabher / Buhofer, Bettelorden, 18: Die Bulle Papst Bonifaz’ VIII. Super cathedram von 1300 regelte das Verhältnis zwischen Bettelorden und Pfarrklerus. 187 Stüdeli, Minoriten-Niederlassungen, 243. 188 Köpf, Reichsstadt, 249; Müller, Bettelorden, 11. 189 Köpf, Reichsstadt, 250. 190 Helbling / Bless-Grabher / Buhofer, Bettelorden, 16. 191 Schiller, Bürgerschaft, 47. 192 Schiller, a.a.O., 18. 193 Müller, Bettelorden, 262f.
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ständnis der Bettelorden und bestimmte auch den Orden im Ganzen.194 In Straßburg waren ihre Konvente Sitz der Provinzialoberen, Ort von Ordenskapiteln und von Generalstudien.195 Dadurch wirkten sie über die Stadt hinaus. Wenn die Bettelorden ein Ordensstudium in der Stadt unterhielten, dann hatte dieses eine Anziehungskraft auch auf Konvente anderer Städte. 1248 errichtete Albertus Magnus in Köln das Studium generale der deutschen Ordensprovinz der Dominikaner und unterrichtete selbst dort. Thomas von Aquin und Ulrich von Straßburg waren seine Schüler.196 Durch die Termineien auf dem Land, wo die Klöster ihren Unterhalt erwarben, nahmen sie auch Einfluss auf die Landseelsorge. Auch so hatten sie eine Ausstrahlung auf das Land.197 Die Terminarier konnten junge Menschen unterrichten und für das Ordensleben in der Stadt gewinnen.198 Auch hier entsprach einer zentrifugalen Funktion eine zentripetale. Aus den Bettelorden stammende Weihbischöfe übten auf dem Land Pontificalia aus, bischöfliche Weihehandlungen.199 »Zwar blieb die urbane Lebenswelt der nächstliegende Bewegungsraum der Brüder, doch das Umland wurde schon durch die mit Bettel und Predigt verbundene Mobilität gleichgewichtiges Tätigkeitsfeld der neuen Orden.«200 Neben die Orientierung auf die Stadt trat die Hinwendung zum Land: Die Bettelorden übten auch Katechese auf dem Land. »Nicht nur eine ökonomische, sondern die breite seelsorgerliche Präsenz von Mendikanten auf dem Land läßt […] eine gewichtige Beachtung des ländlichen Gebietes vermuten.«201 Damit verstärkten die Bettelorden die zentralörtliche Funktion der Städte in religiöser und wirtschaftlicher Hinsicht, und zwar einerseits durch zentripetale Bewegungen, indem sie der Stadt Anziehungskraft verliehen, andererseits durch zentrifugale Funktionen in der Wirkung auf das Umland.202 Die Städte übten Anziehungskraft auf charismatische Prediger aus den Bettelorden aus, wie auf den Franziskaner Johannes Capistran, der sich im 15. Jahrhundert auf Einladung von Stadträten in Nürnberg, Erfurt und Breslau aufhielt und dort gegen Luxus, aber auch gegen die Juden hetzte und Wunderheilungen vollbracht haben soll.203 Die Wirkung der Bettelorden auf die Stadtbevölkerung und darüber hinaus wird deutlich an der Entstehung von Drittorden, Terziaren, in 194 195 196 197
Müller, a.a.O., 14. Rüther, Bettelorden, 18. Rieger, Albertus Magnus, 269. Rüther, Bettelorden, 18.38; Hecker, Bettelorden, 180. Wehrli-Johns, Stellung, 80, Anm. 12, beurteilt die Einrichtung von Termineien nicht als Ausdruck der Hinwendung zur Landbevölkerung. 198 Elm, Mendikantenstudium, 609f.617. 199 Elm, a.a.O., 611. 200 Rüther, Bettelorden, 327. 201 Rüther, a.a.O., 329. 202 Hecker, Bettelorden, 180. 203 Isenmann, Stadt, 639.
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denen sich Laien zusammenfanden, die nach den Idealen der Bettelorden und ihrer Gründer leben wollten. Schon die Humiliaten hatten durch Anschluss an städtische Klöster einen Schutz vor der Sündhaftigkeit in der Stadt gesucht. Jakob von Vitry berichtet, die Humiliaten hätten einerseits in der Welt gelebt mit Frauen und Kindern, andererseits sich aus der Welt zurückgezogen und sie nach dem Rat des Apostels Paulus benutzt, als besäßen sie sie nicht. Die Drittorden sind »als Ausdruck einer städtischen Spiritualität und Religiosität zu verstehen, näherhin als ein Bedürfnis nach Partizipation an religiosen und heiligmäßigen Lebensformen, ohne dafür in einer vollständigen Conversio Welt und Familie verlassen zu müssen. Es zeichnete sich die Möglichkeit einer Heiligung des bürgerlich-städtischen Lebenswandels ab, der von Theologen und Kanonisten bis in das 13. Jahrhundert massiv inkriminiert wurde.«204 Im karitativen Bereich entstanden Orden, die sich der Krankenpflege widmeten wie der Heiliggeistorden und die Antoniter; auch Ritterorden wie die Johanniter kümmerten sich um Kranke. Das Patronat des Heiligen Geistes, nach dem der Heiliggeistorden benannt ist, wurde oft auch den Spitälern verliehen, weil der Heilige Geist als der Tröster galt.205 Das Spital diente ursprünglich den Fremden als Versorgungsstelle, wurde dann Krankenhaus für die Stadtbewohner und schließlich Altenheim.206 In der frühen Neuzeit zogen die Residenzen katholischer Fürsten Niederlassungen von Orden an sich, besonders der Jesuiten und Kapuziner, aber auch Klöster älterer strengerer Orden.207 Dies hatte auch einen gegenreformatorischen Hintergrund. Aber »selbst evangelische Landesherren haben die volkstümlichen Kapuziner bisweilen geduldet, wenn deren Wirken im Interesse ihrer Peuplierungspolitik lag« wie in Heidelberg oder Karlsruhe.208 In den katholischen Residenzen verstärkte sich das sakrale Element durch die bewusste Integration und Indienstnahme der Orden. »Die Verdichtung von Klöstern und mancherlei Niederlassungen vor allem neuer, zur Zeit der Gegenreformation entstandener Orden hat hier überdies die Möglichkeit geboten, eine auf die Residenz bezogene Sakralkultur zu entwickeln, die bei allen Unterschieden doch in vielem an ähnliche Bestrebungen während des Mittelalters erinnert und für das 19. Jahrhundert wohl auch als bewußter Rückgriff auf Elemente sakraler Herrschaftslegitimation im Mittelalter gedeutet werden darf.«209 Der Jesuitenorden verstand sich in der Tradition der Bettelorden als ein Stadtorden, da er sich die Verwirklichung seines Programms der Predigt und Bildung in den Städten versprach. Es entstanden »Jesuitenstädte«, »die in zentralen Sektoren ihres kulturellen Lebens, vornehmlich dem 204 205 206 207 208 209
Oberste, Heiligkeit 1, 20. Sydow, Stadt, 186. Sydow, a.a.O., 187. Andermann, Kirche, 171. Andermann, a.a.O., 172. Andermann, a.a.O., 186.
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Gymnasial- und dem Predigtwesen«, von den Jesuiten betreut wurden, die dafür ihre großen Kollegien errichteten.210 Ihre Theateraufführungen zogen auch Leute von außerhalb der Städte an. Allerdings konzentrierte sich die jesuitische Bildung auf das städtische Milieu und war für die Landjugend oft zu elitär.211 4. Messestadt Schon seit der Spätantike wurden Märkte, eine wirtschaftliche Zentralfunktion der Städte, an Heiligenfesten abgehalten. Mit Jahrmärkten verbundenen Heiligenfesten verdankten viele »Städte des hohen Mittelalters, meist im Zusammenhang mit den großen Wallfahrten der Zeit, eine bedeutende Blüte«.212 Denn die Anziehungskraft der Ortsheiligen, ihrer Reliquien, zog nicht nur Pilger, sondern auch Kaufleute an, die mit dem Pilgerstrom gute Geschäfte machten.213 Aus der Bedeutung des lateinischen »missa« für Heiligenfest entwickelte sich die Bezeichnung »Messe« für einen Jahrmarkt.214 »Häufig lagen diese Markttage am oder um den Festtag des Kloster- oder Kirchenpatrons, der vielfach auch Zinszahlungstermin war und damit den Markterfolg für den Marktherrn sicherte«.215 Beispiel ist der Georgimarkt in Tübingen, der bis heute trotz Reformation zum Fest des Stiftskirchenpatrons, des heiligen Georg, stattfindet. Schon in den ersten Jahren der Eucharistiewallfahrt zum Heiligen Blut in Rothenburg ob der Tauber bewilligte König Rudolf I. der Stadt 1282 eine achttägige Messe, die an Fronleichnam beginnen sollte.216 Die Magdeburger Messe, die »Herrenmesse«, die zum Fest des heiligen Mauritius stattfand, wurde durch den Einzug einer Mauritius-Reliquie 1220 in die Stadt aufgewertet und ausgebaut.217 Als periodischer Jahrmarkt geht die »Herrenmesse« auf das Fest der Wahl und Einsetzung des Erzbischofs von Magdeburg durch König Heinrich II. am Mauritiustag 1012 zurück.218 Seit dem 15. Jahrhundert wurde der Jahrmarkt, der von Erzbischof und Domkapitel veranstaltet wurde, erst nach den Heiltumsweisungen und den Messen eröffnet und fand in der Domfreiheit statt.219 Ein päpstliches Privileg erlaubte 1401 dem Erzbischof, die Heiltumsweisung finanziell zu nutzen, indem für Geldopfer Ablass von Sündenstrafen versprochen wur210 211 212 213 214 215 216 217 218 219
Müller, Jesuitenstudium, 109. Müller, a.a.O., 120.125. Heinzelmann, Translationsberichte, 39f. Ennen, Stadt, 241. Vgl. Kluge, Wörterbuch, 475. Irsigler, Messen, 6. Weiss, Reichsstadt, 78. Wittek, Messe, 7. Wittek, a.a.O., 11. Wittek, a.a.O., 34–36.
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de.220 Während des Jahrmarkts konnte die Stadtkirche als Kaufmannskirche dienen, wo die Händler ihre Waren stapeln konnten.221 Die Kaufleute hatten wie andere Berufszweige ihre eigenen Schutzpatrone, etwa Maria, Katharina, Nikolaus oder Jakobus. In ihrer Spiritualität war der wirtschaftliche Erfolg verknüpft mit geistlichen Rahmenbedingungen, die die Verehrung von Heiligen einschlossen.222 Der Jahrmarkt ist im Mittelalter allerdings nicht stadtbildend, da er keine Dauersiedlung voraussetzt, und er ist auch nicht an eine Stadt gebunden.223 Nicht nur weltliche, sondern auch geistliche Grundherren, wie Bischöfe oder Klöster, hatten ein Interesse an der Einrichtung von Jahrmärkten, um die Überschussproduktion abzusetzen. Vor 1200/1250 waren 70 % bis 95 % der Inhaber von Jahrmarktsprivilegien geistliche Institutionen.224 Im Laufe der Zeit wurden die Termine der Messen vom jeweils begründenden Heiligenfest gelöst, und die Kommunen übernahmen die Abhaltung der Jahrmärkte.225 Manche Städte waren so stark von den Messen geprägt, dass sie als Messestädte bezeichnet werden können – wie Frankfurt am Main, Leipzig und Medina del Campo in Kastilien.226 So kann man von einem »Beitrag der Messen und Märkte zur mittelalterlichen Integration Europas« sprechen.227 5. Ursprungsort von Häresien In Städten des Mittelalters entstanden immer wieder religiöse Bewegungen, die von der Papstkirche als Häresien verurteilt wurden, aber eine große Ausstrahlung auf das Umland und auf andere Städte hatten. Die Bettelorden des 13. Jahrhunderts reagierten auf diese heterodoxen Bewegungen durch Predigten und ein kirchlich anerkanntes Armutsideal. Besonders die Dominikaner widmeten sich der Ketzerbekämpfung und siedelten sich deshalb gerade in den Städten an. Die häretische Ausstrahlung der Städte wurde zur Anziehungskraft für Orden, die ihr entgegenwirken wollten. Ähnlich versuchten später die Jesuiten in den Städten, der Reformation zu wehren. Häretische Bewegungen größeren Ausmaßes begannen sich im frühen 11. Jahrhundert in Städten zu entfalten. Ein frühes Zentrum war das südfranzösische Orléans, wo 1022 eine radikale gnostische Gruppe aufgedeckt wurde, die die Menschheit Christi leugnete.228 In Mailand entstand 220 221 222 223 224 225 226 227 228
Wittek, a.a.O., 39. Sydow, Stadt, 182. Sydow, Bürgerschaft, 226f. Ennen, Wallfahrt, 243f. Irsigler, Messen, 6. Irsigler, a.a.O., 7. Irsigler, a.a.O., 24. Pauly, Beitrag, 285–314. Lambert, Häresie, 9f.
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im 12. Jahrhundert die Pataria, die vor allem von Laien getragen war und von Mailand aus auf andere Städte übergegriffen hatte. Ihr Anliegen war eine Reform der Kirche durch Abschaffung von Missständen wie Simonie und unwürdigem Lebenswandel. Die Katharer bildeten im 12. Jahrhundert eine Gegenkirche mit eigenen Bischöfen und vertraten das Ideal eines evangeliumsgemäßen Lebens.229 Das III. Laterankonzil von 1179 sah in Toulouse ein Zentrum und einen Ursprungsort der Häresie.230 Von dort wurden die Katharer im 13. Jahrhundert in den Albigenserkriegen vertrieben und flohen in die Pyrenäen und nach Oberitalien.231 Davor lebten Katholiken und Katharer friedlich in der Stadt nebeneinander, oder beide Glaubensrichtungen konnten miteinander verbunden werden.232 Das »Nebeneinander orthodoxer und heterodoxer Patrizier in Toulouse« und das »Vorhandensein einer ernstzunehmenden religiösen Alternative« waren Motive für die kirchliche Öffnung gegenüber den städtischen Eliten.233 Während die Katharer Armut von der Kirche forderten, aber den Laien durchaus Reichtum erlaubten, vertraten die Waldenser, eine in Lyon entstandene Reformbewegung, die »Armen von Lyon«, ein strenges allgemeines Armutsideal. Sie hielten im Unterschied zu den Katharern an der römischen Glaubenslehre fest, lehnten aber zunehmend bestimmte Bräuche wie Heiligenverehrung, Sakramentsfrömmigkeit, Fegfeuervorstellungen ab. Die Waldenser strahlten durch Wanderprediger aus. Die »Lombardischen Armen« hatten Zentren in Mailand und Verona.234 Die Waldenser in Straßburg pflegten im 14. Jahrhundert auf dem Weg über Handelsbeziehungen auch Kontakte zu Glaubensbrüdern in anderen Städten.235 Die Stadt schien auf die Waldenser anziehend gewirkt zu haben, da sie häufig aus anderen Gegenden eingewandert waren. Vermutlich war der Hauptanziehungspunkt eine schon bestehende Waldensergemeinde in der Stadt.236 Der Brauch der Endogamie führte dazu, dass Menschen von außerhalb der Stadt in diese einwanderten.237 Zur Bekämpfung von Katharern und Waldensern wurde von Papst Innozenz III. die Inquisition als Rechtsverfahren eingerichtet.238 Neben den Häresien gab es Reformbestrebungen, die nicht von der kirchlichen Lehre abwichen, aber an der kirchlichen Praxis – z.B. am Reichtum des Klerus – Kritik übten. Dazu gehörte der Augustinerchor229 230 231 232 233 234 235 236 237 238
Müller, Katharer, 876. Oberste, Heiligkeit 2, 57. Oberste, a.a.O., 58. Oberste, a.a.O., 258. Oberste, Heiligkeit 1, 25. Köpf, Waldenser, 1272. Modestin, Ketzer, 82. Modestin, a.a.O., 83–87. Modestin, a.a.O., 85.91. Angenendt, Geschichte, 196f.
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herr Arnold von Brescia, der sich in dieser Stadt gegen die Verweltlichung der Kirche und für Armut einsetzte. Er hatte auch Kontakt mit Katharern und Waldensern und unterstützte die Reformbewegung der Pataria.239 Die Beginen und Begharden, semireligiose Gruppen in den Städten, die keine Ordensgelübde ablegten, aber eine mönchsähnliche Lebensweise pflegten, kamen oft in den Verdacht der Häresie.240 Antitrinitarier trafen sich seit 1546 in Städten des Veneto wie Vicenza, um das trinitarische Dogma zu diskutieren, und zweifelten schließlich die Gottheit Christi an.241 Faustus Sozzini lernte in Florenz den Antitrinitarismus kennen und verbreitete und modifizierte diesen in Polen und Siebenbürgen.242 Dort entstand die unitarische Kirche der Sozinianer.243 6. Zentren der Reformation Die Reformation ging von Städten – Wittenberg, Zürich, Genf – aus und verbreitete sich von dort in anderen Städten und auf dem Land. »Die Städte waren der wichtigste Umschlagplatz für den Transport der reformatorischen Ideen auf das weite Land, zur breiten Masse der Bevölkerung, vor allem zu den Bauern hin, diese waren auf die Übersetzung dieser Ideen durch in der Stadt gebildete Zwischenträger, und wären es ihre Pfarrer, angewiesen«.244 Zu Beginn der Reformation lag die Führungsrolle bei den süddeutschen Reichsstädten.245 »Die Reichsstädte haben deshalb in Süd- und teilweise auch in Westdeutschland die konfessionelle Entwicklung in den Territorien wesentlich mitbestimmt«.246 Ein neues reformatorisches Zentrum wie Nürnberg, das 1525 beraten von Andreas Osiander die Reformation einführte, wurde mit seiner von diesem entworfener Kirchenordnung von 1533 Vorbild für andere Städte wie Dinkelsbühl, Rothenburg und Weißenburg.247 Auch Straßburg wurde mit seinem reformatorischen Prozess Vorbild für andere Städte.248 »Im Bauernkriegsjahr 1525 gab es an verschiedenen Orten in den Zentren des Aufstandes, in Heilbronn, Schweinfurt, Regensburg, Nordhausen, Verbindungen zwischen Städtern und Bauern, und in Rothenburg o.d.T. und, unter Führung Müntzers, in Mühlhausen in Thüringen kam es zu regelrechten Verbrüderungen zwischen den evangelisch gesinnten Stadt239 240 241 242 243 244 245 246 247 248
Rieger, Arnold von Brescia, 793. Isenmann, Stadt, 662. Stella, Antitrinitarier, 574f. Hauptmann, Sozzini, 1533. Hauptmann, Sozinianer/Sozinianismus, 1519–1521. Moeller, Stadt, 117. Brecht, Luthertum, 1. Press, Stadt, 295. Vgl. Köpf, Reichsstadt, 254. Fitschen, Stadt, 98.
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gemeinden und den Bauernhaufen und zur Unterstützung des Bauernaufstandes durch die Stadt. Allem Anschein nach stammen ja auch die 12 Bauernartikel selbst aus der Feder eines Reichsstädters.«249 Hier hatte die Stadt geistliche Wirkung auf das Land. In Nürnberg bewirkten 1525 reformatorische Maßnahmen gegen Immunität der Geistlichen, die Klöster, die Messe und das Kirchengut, dass ein Bauernkrieg im Umland verhindert wurde.250 Einige Jahre später hatte sich durch Neubesetzung von Pfarreien und Predigerstellen sowie durch Predigthilfen die Reformation auf dem Land durchgesetzt.251 Während Andreas Osiander eine auf der christlichen Freiheit aufbauende Kirchenordnung entwerfen wollte, beabsichtigte Lazarus Spengler im Blick auf die Landgeistlichen, die Lehre von der christlichen Freiheit zu beschränken und die Predigt des Gesetzes zu verstärken.252 Die geistliche Ausstrahlung der Stadt sollte also eingeschränkt oder zumindest in eine bestimmte Richtung gebracht werden. »Nach dem Bauernkrieg (der auch manche Städte schädigte) zeigte sich, daß Räte, Bürger und Städte ihre zentrale Rolle im reformatorischen Geschehen an die Fürsten abgeben mußten.«253 Die Reichsstädte wurden in ihrer Bedeutung von den Residenzstädten abgelöst. In Zürich strahlte die reformatorische Entwicklung aus der Stadt auf die Landschaft aus. Die Bauern hörten, dass der Leutpriester Zwingli mit dem lauteren Evangelium gegen die alte Ordnung der Mönche und Kleriker kämpfte, und identifizierten die Gegner Zwinglis mit den Instanzen, die von ihnen den Zehnt forderten. Die Rezeption der Reformation auf dem Land brachte tiefgreifende Diskrepanzen zwischen den Interessen der Stadt und der Landschaft zutage. Diese sah ihre Erwartungen enttäuscht.254 »Auf der Zweiten Zürcher Disputation, zu der sich auf Befehl der Obrigkeit auch die gesamte Geistlichkeit der Landschaft einzufinden hatte, wurde der reformatorische Kurs für Stadt und Land verbindlich erklärt. […] Jene Kreise, die sich von der freien Predigt des Evangeliums eine wesentliche Verbesserung ihrer ökonomischen Lage erhofft hatten und durch die Aussagen mancher Pfarrer in dieser Richtung bestärkt worden waren, mußten nun erkennen, daß das Evangelium in der Stadt etwas anderes bedeutete als in den Köpfen der Bauern.«255 Diese Diskrepanz führte zu einer Schwächung der Reformation in Zürich. Dennoch: »Im Fall Zürich war Reformation ein städtisches Ereignis, das von der Landschaft entscheidend mitbestimmt wurde.«256
249 250 251 252 253 254 255 256
Moeller, Reichsstadt, 59. Seebaß, Stadt, 75. Seebaß, a.a.O., 82. Seebaß, a.a.O., 83. Fitschen, Stadt, 98. Mader, Bedeutung, 92. Mader, a.a.O., 94. Mader, a.a.O., 98.
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Die Hansestadt Lübeck, deren Reformation weder auf den Rat noch auf bedeutende Theologen zurückging, sondern auf die Bürgerschaft, wurde im 16. Jahrhundert »der Hort eines konservativen, orthodoxen Luthertums« und strahlte so auf Norddeutschland aus. Durch die politische Vorrangstellung konnte das Lübecker Geistliche Ministerium großen Einfluss in den innerprotestantischen Streitigkeiten und zu ihrer Schlichtung, die zum Konkordienbuch führte, nehmen. Lübeck wurde für 200 Jahre zu einer »Hochburg der Orthodoxie«, die sich gegen den aufkommenden Pietismus wehrte.257 Den zentrifugalen Funktionen der Städte stehen also zentripetale zur Seite, so auch, wenn eine Stadt eine andere darum bat, ihr einen Reformator zu überlassen, um den Rat bei der Reformation zu unterstützen. Rothenburg ob der Tauber holte 1558 Jakob Andreä aus Göppingen in Württemberg.258 »Viele der lutherischen Reformatoren haben nacheinander in Städten und Territorien gewirkt: Bugenhagen, Jonas, Brenz, Alber, Spangenberg, Osiander, Rhegius, […] Bucer, Calvin, Melanchthon und auch Luther selbst haben Städte wie Fürsten beraten«.259 Dies geschah auch durch Flugschriften, die Städte als Adressaten hatten.260 Von Luther gibt es über 20 Sendschreiben an einzelne Städte,261 z.B. an Esslingen und Reutlingen. Vertriebene Prediger schrieben an ihre Heimatstädte, die als Kollektivindividuen angesprochen und an die Predigt des Vertriebenen erinnert wurden.262 In paritätischen Reichsstädten wie in Augsburg nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 konnten protestantische Betriebe katholische, aus dem Umland angeworbene Mitarbeiter beschäftigen.263 Die paritätischen Städte, in denen die Konfessionen gleichgestellt waren, hatten eine geistliche Ausstrahlung, die die Toleranz auch in den Territorien förderte. »In diesem Sinne gewann das Miteinander der Konfessionen in diesen Reichsstädten durchaus Modellcharakter für die Ordnung des Zusammenlebens der Konfessionen auch auf Reichsebene.«264 So entfalteten die Städte eine reformatorische Ausstrahlung auf die Territorien. Die neue geistliche Zentralfunktion der Städte war Folge der Dezentralisierung der Kirche in Deutschland gegenüber dem alten Zentrum Rom. Dieser Prozess der Dezentralisierung und Neuzentrierung vollzog sich in Thüringen im Konflikt zwischen Luther und Karlstadt. Während dieser eine größtmögliche Autonomie der Städte anstrebte, versuchte Luther durch Visitationen die Städte in der Peripherie des geistli257 258 259 260 261 262 263 264
Hauschild, Christentum, 25. Köpf, Reichsstadt, 257. Brecht, Luthertum, 3. Moeller, Stadt, 120. Brecht, Luthertum, 4. Moeller, Stadt, 120f. Warmbrunn, Konfessionen, 402. Warmbrunn, a.a.O., 405.
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chen Zentrums Wittenberg unter Kontrolle zu behalten.265 Die landsässigen Städte wurden in geistlicher Hinsicht in die Landesverwaltung integriert und von den Konsistorien des Landesherrn in der Hauptstadt regiert.266 Die Ausstrahlung reformatorischer Städte wurde durch den Buchdruck begünstigt und erstreckte sich zuweilen trotz Bilderstürmen auch auf die bildende Kunst. Wittenberg hatte mit der Werkstatt des sächsischen Hofmalers Lukas Cranachs d. Ä. ein Zentrum reformatorischer Kunstwerke, besonders der Holzschnitte und Tafelmalerei. Von hier gingen viele Porträts Luthers aus, die mit der zunehmenden Lutherverehrung breiten Absatz fanden. Die Cranachs stellten neue Altartafeln her, die den reformatorischen Glauben ins Bild setzen. Ein Hauptmotiv war das von Gesetz und Gnade.267 7. Druckerort Geistliche Ausstrahlung konnte Städten auch durch Kommunikationsmedien zukommen wie den Buchdruck, durch den geistliche Texte verbreitet wurden. »Am Ende des Mittelalters waren Bücher Erzeugnisse der Stadt für die Stadt. Stadt und Buch gehörten mit einer gewissen Exklusivität zusammen. Die Druckereien waren so gut wie ausschließlich, die Autoren, soweit sie Zeitgenossen waren, in der Regel in Städten beheimatet. Nicht zuletzt gilt dies aber auch für die Konsumenten, die Leser«.268 Schon vor der Reformation hat der Buchdruck zur Verbreitung religiösen Gedankengutes beigetragen. Flugblätter erschienen seit 1480 und enthielten Ablassbriefe, Gebete, erbauliche Texte. Flugschriften verbreiteten Erbauungsliteratur wie Traktate, Sermone, Predigten, aber auch zunehmend in der Reformationszeit polemisch-agitatorische Texte aller Konfessionen. Die meisten Flugschriften der Reformation gingen auf Luther zurück, aber auch Johannes Eck produzierte eifrig gegenreformatorische Traktate. Die wichtigsten Druckerstädte auf reformatorisch-lutherischer Seite waren neben Wittenberg Basel, Straßburg, Erfurt, Augsburg und Nürnberg, auf gegenreformatorischer Seite Köln und Ingolstadt.269 Augsburg war mit seiner Vielzahl an Druckereien, die von von der Geistlichkeit angeworbenen Druckern betrieben wurden, ein frühes Zentrum des Buchdrucks. Hier wurden liturgische Werke für fast alle Diözesen Süddeutschlands und des Alpenraums gedruckt. Neun der vierzehn vorlutherischen oberdeutschen Bibelausgaben in der Volkssprache entstanden seit 1475 in Augsburg. Die Drucker nutzten die Zentralität 265 266 267 268 269
Leppin, Gottes Heil, 14f. Leppin, a.a.O., 18. Ohly, Gesetz. Moeller, Stadt, 116. Vgl. Schilling, Flugblätter, 169f.
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Augsburgs und verstärkten sie durch ihre Produktion, die auf Handelswegen verbreitet wurde.270 Die erste Druckerei in Alt-Württemberg entstand auf Initiative des Abtes des Klosters Blaubeuren Heinrich III. Fabri 1475 in dieser Stadt. Zu den hier hergestellten Drucken zählt die Stiftungsurkunde der Universität Tübingen. Dieser Buchdruckerei folgten weitere Druckereien in Urach, Stuttgart und Tübingen.271 Die Druckereien in Tübingen und Urach förderten die Ausbreitung der Reformation bei den slawischen Völkern durch Drucke von Katechismen und Bibelübersetzungen. Der slowenische Reformator Primus Truber musste 1548 nach Württemberg fliehen und schuf dort für das Slowenische eine Schriftsprache, die er in Drucken zuerst in Tübingen, dann in der Bibelanstalt von Hans Ungnad, einem ebenfalls aus Glaubensgründen geflohenen österreichischen Adligen, dem ehemaligen Landeshauptmann der Steiermark, in Urach. Dort entstanden auch kroatische Übersetzungen und reformatorische Schriften in glagolithischer und kyrillischer Schrift. Die Druckerei in Urach brachte in den vier Jahren ihres Bestehens 25 Schriften mit einer Gesamtauflage von 25.000 Exemplaren, fast die gesamte protestantische Literatur in kroatischer Sprache des 16. Jahrhunderts, heraus.272 Im 18. Jahrhundert übten kirchliche Zensurbehörden in katholischen Städten wie Köln, Aachen und Münster in Zusammenarbeit mit der städtischen Obrigkeit Bücherzensur aus, da ihrer Meinung nach auch von geistlichen Büchern, sogar von der Bibel, Gefahren für den katholischen Glauben ausgehen konnten, wenn sie nicht unter Anleitung von Geistlichen gelesen würden. Das Glaubensgeheimnis werde intellektuell untergraben, im Wissen finde keine Unterwerfung unter die kirchliche Autorität statt, das Wissensstreben sei asozial.273 Diese städtischen Zensurbestrebungen, die das Lesen überhaupt inkriminierten, wirkten auch über die Städte hinaus und führten zu einer katholischen Reserve gegenüber der Bildung. 8. Zufluchtsort religiöser Flüchtlinge Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung des Christentums in Konfessionen und der noch herrschenden Intoleranz Andersdenkenden gegenüber entstanden Flüchtlingsströme, die meist in Städte führten. Während Melanchthon und Brenz die Aufnahme nichtlutherischer Exulanten in Wesel und Frankfurt (Main) ablehnten, da sie Unruhen fürchteten,274 wurden lutherische Glaubensflüchtlinge in lutherisch geprägten Städten gern aufgenommen. 270 271 272 273 274
Kießling, Bürgertum, 579–581. Zeller, Blaubeuren, 873. Brecht/Ehmer, Reformationsgeschichte, 417–419. Schlögl, Glaube, 72–80. Brecht, Luthertum, 17.
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Die Stadt Tübingen nahm in der Reformationszeit mehrere Glaubensflüchtlinge auf. Dazu gehörten Primus Truber, der slowenische Reformator, der 1548 vertrieben wurde, aber später zeitweise in seine Heimat zurückkehren konnte, und Pier Paolo Vergerio, der Bischof in Slowenien gewesen war, 1553 von Herzog Christoph aufgenommen und mit kirchenpolitischen Diensten betraut wurde. Der jesuitisch ausgebildete katholische Kontroverstheologe Jakob Reihing bekehrte sich zum evangelischen Glauben, floh von Neuburg über Ulm nach Stuttgart, trat in Tübingen zur evangelischen Kirche über und wurde dort 1622 Professor für Kontroverstheologie.275 Die Städte, die Glaubensflüchtlinge aufnahmen, konnten eine beträchtliche Erweiterung ihrer Bevölkerung erfahren, Frankfurt (Main) und Aachen zirka 20 %, Emden und Wesel gar 40 %–50 %.276 Diese Einwanderer belebten die Städte wirtschaftlich durch »ökonomische Urbanisierungsimpulse«277, so z.B. in Hamburg die jüdischen und calvinistischen Flüchtlinge aus Spanien, Portugal und den Niederlanden.278 In religiöser, geistlicher Hinsicht bedeutete die Einwanderung oft eine Pluralisierung. Die Bedeutung und zentrale Ausstrahlung dieser Städte wurde verstärkt. »Am Oberrhein gewann das als Festungs- und Flüchtlingsstadt (vor allem für Hugenotten) gegründete Mannheim bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als pfälzische Residenzstadt überregionale kulturelle Bedeutung.«279 Die Privilegien für die Neusiedler (wie die Garantie der Ausübung des reformierten Bekenntnisses) wurden 1607 in lateinischer, deutscher, niederländischer und französischer Sprache veröffentlicht und verbreitet, um die Flüchtlinge anzuziehen.280 Eine »Eintrachtskirche« sollte allen drei christlichen Konfessionen dienen.281 Österreichische Protestanten besiedelten das Ende des 16. Jahrhunderts neu geplante und gebaute Freudenstadt.282 Städte, die Andersgläubige aufnahmen, bewiesen Aufnahmebereitschaft und Toleranz und entfalteten eine große Anziehungskraft. Die Aufnahme oder Anwerbung von Flüchtlingen geschah meist auf Veranlassung von Fürsten, die Städte ihres Einflussbereichs für die Flüchtlinge öffneten oder eigens Flüchtlingsstädte anlegen ließen.283 Graf Zinzendorf gewährte Glaubensflüchtlingen der Böhmisch-Mährischen Brüderunität auf seinem Gut Wohnrecht, wo sie 1722 die Siedlung Herrnhut, die später eine Stadt wurde, gründeten. Die Herrnhuter Brü275 276 277 278 279 280 281 282 283
Vgl. Rieger, Reihing, 237. Schilling, Stadt, 10. Schilling, a.a.O., 68. Schilling, a.a.O., 25. Ebd. Stubenvoll, Hugenottenstädte, 67. Stubenvoll, a.a.O., 69. Stubenvoll, a.a.O., 27.57–63. Stubenvoll, a.a.O., 28.
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dergemeine war offen für eine Vielfalt von Konfessionen und umfasste einen mährischen, lutherischen und reformierten Tropus. Die Herrnhuter Mission entfaltete eine weltweite Tätigkeit.284 9. Universitätsstadt Seit ihren Anfängen gehörten Universitäten und Städte zusammen. »Die Stadt ist die notwendige Rahmenbedingung der Universität, und das bezieht sich nicht nur auf die Unterbringung und die sonstige Infrastruktur, sondern auch auf städtisch-bürgerliche Mentalitäten, die den Wissenschaften offenbar aufgeschlossener gegenüberstehen als ländlich-agrarische Mentalitäten. […] Städte können zwar […] gut, mit Erfolg und mit Anspruch ohne Universitäten leben, aber Universitäten niemals ohne Städte.«285 Die Universitäten entstanden oft, als sich die Städte von ihren bischöflichen oder adligen Stadtherren emanzipierten und eine Selbstverwaltung erhielten.286 Ähnlich wie die Städte waren die Universitäten Schwurgemeinschaften und bewahrten gegenüber der Stadt eine eigene Immunität mit eigener Gerichtsbarkeit. Deshalb war ihr Verhältnis auch nicht konfliktfrei. Mittelalterliche Universitäten verschafften den Städten, in denen sie ansässig waren, eine geistliche Ausstrahlung, weil sie selbst geistliche Institutionen waren. Geistlich waren sie, wenn sie eine päpstliche Privilegierung besaßen, die ihnen das Recht auf Verleihung akademischer Grade, eine eigene, von der städtischen unterschiedene Gerichtsbarkeit, Selbstverwaltung und Steuerbefreiung zusicherte. Die meisten Lehrenden waren Geistliche. Kirchliche Lehraufsicht übten oft der Bischof oder sein Kanzler aus. Geistliche Stiftungen sorgten für den Unterhalt der Universitäten.287 Die Universität Tübingen erhielt z.B. Chorherrenpfründen des Säkularkanonikerstifts Sindelfingen.288 Die Autonomie der Universitäten trennte diese von der städtischen Bürgerschaft, so dass ein gewisser Gegensatz entstand, der aber durch die Anziehungskraft, die die Universitäten ausübten, ausgeglichen wurde.289 Da die Bettelorden Lehrkräfte kostenlos zur Verfügung stellten, könnte es einen Zusammenhang zwischen Universitätsgründungen und der Förderung von Bettelorden durch die Städte gegeben haben.290 Deshalb konnten Universitätsstädte in noch höherem Maße die Bettelorden anziehen. Der Einzugsbereich der ersten Universitäten war meist ganz Europa, im Spätmittelalter verengte er sich stärker auf das Territorium, zu dem 284 285 286 287 288 289 290
Wallmann, Kirchengeschichte, 143–146. Duchhardt, Vorwort, XI. Sydow, Elemente, 81. Hirschmann, Stadt, 53. Köpf, Tübingen, 646. Koller, Stadt, 9f; Duchhardt, Vorwort, XII. Koller, Stadt, 15.
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die Stadt gehörte, die die Universität beherbergte; sie wurde zur Landesuniversität. Diese Verengung stand auch im Zusammenhang mit dem Verlust der Autonomie der Universitäten und ihrer Einbeziehung in die Landesverwaltung. Durch die Reformation wurde die Universität konfessionell gebunden und zog Studenten nur derjenigen Konfession an, der sie angehörte. Trotzdem besuchten die Universitäten nach wie vor Studenten auch aus anderen Ländern.291 Im konfessionellen Zeitalter waren Städte mit konfessionell geprägten Universitäten Anziehungspunkte für Studenten dieser konfessionellen Ausrichtung.292 Die Lehraufsicht lag in den reformatorischen Universitäten nicht mehr beim Bischof, sondern beim fürstlichen Konsistorium. Alle Lehrenden, nicht nur die Theologen, mussten einen Eid auf die konfessionelle Grundlage ablegen, z.B. in Tübingen von 1580 bis 1806 auf das Konkordienbuch. Universitäten in katholischen Ländern verlangten den Eid der Professoren auf das Tridentinische Glaubensbekenntnis.293 Städte mit Universitäten entfalteten oft eine geistliche Ausstrahlung, die auch von ihrer Theologie herrührte. Theologie hatte nicht nur eine wissenschaftliche Dimension, sondern war stets auch etwas Geistliches, da sie konfessionell gebunden und auf Verkündigung bezogen war. Dies galt auch für die scholastische Theologie des Mittelalters, die, obwohl sie die Methoden der zeitgenössischen Wissenschaft anwandte, kerygmatischen Charakter hatte, auch wenn sie anders als die monastische oder mystische Theologie nicht auf so etwas wie angebliche religiöse Erfahrung rekurrierte. Erst recht war dann die reformatorische Theologie, die bei Luther aus der monastischen Theologie erwuchs, nicht nur Wissenschaft, sondern wie Luther sagte, oratio, tentatio, meditatio. Die Universitäten trugen mit ihrer Theologie dazu bei, dass die Pfarrseelsorge auf ein höheres Niveau gehoben wurde. Dies gilt schon für das Mittelalter, aber erst recht für die Reformationszeit, in der die Theologie nach humanistischen Grundsätzen mit den biblischen Originalsprachen betrieben wurde und ein Theologiestudium zur Voraussetzung für eine Pfarrstelle wurde. Aus den Universitäten ging im 16. Jahrhundert ein neuer Stand hervor, der bürgerliche Beamtenstand, der auch Träger der reformatorischen Bekenntnisse war.294 Die Universitätsstädte waren somit geistige und geistliche Zentren, die ihr Umland prägten. In der Reformationszeit verhielten sich die Universitäten ambivalent: »Während die 1502 vom Landesherrn gestiftete Universität Wittenberg mit ihrer modernen Verfassung und jungen Dozenten zur Keimzelle der Reformation wurde, bildete die schon 1389 vom Rat und von Bürgern gegründete Universität zu Köln im 16. Jahrhundert einen Hort des Al291 292 293 294
Andermann, Bildung, 17f. Vgl. Menk, Hochschulen, 83–106. Andermann, Bildung, 20. Press, Stadt, 295.
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ten«.295 Während die Universität Tübingen nach der Reformation in Württemberg 1534 ein Zentrum des Luthertums wurde, von dem Einigungsbestrebungen einerseits innerhalb des Luthertums, andererseits im Gespräch mit dem orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel ausgingen, wurde die bayerische Landesuniversität Ingolstadt zum Gegenpol von Wittenberg und betrieb eine konsequente katholische Konfessionalisierung. Die Errichtung einer Universität konnte einer Stadt geistliche Ausstrahlung verschaffen. Beispiel dafür ist Gießen, das um 1600 eine Ackerbürgerstadt mit zirka 1.000 Einwohnern war, aber mit der Gründung einer lutherischen Universität 1607 einen Urbanisierungsschub erhielt, der die Stadt in ein Kommunikationsnetz einfügte, durch das sie geistlichen Einfluss über ihr Umland hinaus gewann.296 Im konfessionell-katholischen Bereich bemühten sich besonders die Jesuiten um die Gründung höherer Lehranstalten und errichteten eigene Universitäten in den Städten Dillingen, Graz, Paderborn, Breslau, Molsheim, Osnabrück, Bamberg, Olmütz.297 Die Auflösung zahlreicher Universitäten zwischen 1798 und 1818 wie in Köln, Bonn, Mainz, Trier, Ingolstadt, Dillingen, Bamberg, Wittenberg, Paderborn, Rinteln, Münster, Salzburg, Innsbruck und Fulda brachte den betroffenen Städten einen erheblichen Verlust an Ausstrahlung und an überregionaler Bedeutung.298 10. Konsistorialstadt Nach Reformation und Konfessionalisierung kamen den Residenzstädten geistliche Aufgaben zu. »Durch den Summepiskopat des Landesherrn war damit für die Residenzen der protestantischen Territorien jetzt auch eine unmittelbare kirchliche Zentralität gegeben, eine Zentralität, die – obgleich auch hier dem Landesherrn keine sakralen Kompetenzen (iura in sacra) zugebilligt waren – im Grunde noch jene alten Bistümer übertraf, weil sie nicht mehr nur von einer Zwischeninstanz, sondern von der höchsten Stufe der kirchlichen Hierarchie repräsentiert wurde. Aus zunächst noch ad hoc bestellten Visitationskommissionen, Superintendenten und Ehegerichten haben sich bald Konsistorien entwickelt, die als ständige Behörden der weltlichen Landesverwaltung zur Seite gestellt wurden und nach deren Vorbild als kollegiale Ratsgremien organisiert waren.«299 Ihre Aufgabe war neben der Verwaltung des Kirchenvermögens die Überwachung der kirchlichen Lehre, der Sakramentenspendung, 295 296 297 298 299
Köpf, Stadt, 106. Schilling, Stadt, 70. Müller, Jesuitenstudium, 143–156. Duchhardt, Städte, 125. Andermann, Kirche, 163.
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der Liturgie und des Schulwesens. Vorbild für die Konsistorien in den lutherischen Territorien war der Kirchenrat nach der Großen Kirchenordnung von 1559 in Württemberg.300 Das Konsistorium, das in der Residenzstadt ansässig war, war eine landesherrliche Zentralbehörde und regierte von der Stadt aus die kirchlichen Verhältnisse im Land. Trotzdem »entbehrte die neue kirchliche Zentralität in Gestalt schlichter Verwaltungsbehörden doch andererseits der sakralen Aura, die für die Residenzen der Vorreformationszeit mit prägend war«.301 Dem stand aber der funktionale Vorteil eines »Maximums an kirchlicher Zentralität« gegenüber, das die Landesherren in ihrer Residenzstadt begründeten.302 11. Zentralort der Frömmigkeit Spezifisch städtische Formen der Frömmigkeit strahlten auf andere Städte und das Umland aus. Die Stadt war im Mittelalter Zentrum der Bildfrömmigkeit. Hier waren die Werkstätten, die Altäre und Heiligenbilder herstellten und in die Kirchen der Stadt, aber auch auf dem Land lieferten. Ulm besaß mit den Werkstätten von Hans Multscher, Jörg Syrlin und Michel Erhart bedeutende Ausstrahlung auf Süddeutschland bis nach Tirol. Das Kunstzentrum Freising strahlte über die Diözese hinaus in den Süden des Reiches aus. Die besten Bildhauer und Maler aus Wien, Augsburg und München wurden im 15. Jahrhundert nach Freising berufen.303 Der erste gotische Schreinaltar Altbayerns von 1443 wurde Vorbild für viele Altäre zwischen Donau und Alpen. Sakrale Goldschmiedearbeiten verbreiteten sich im gesamten Gebiet des Hochstifts. »Vom Hochaltarbild des Rubens ging die Altarbildmalerei des Barock in Bayern aus.«304 Die Heiligenbilder dienten der Heiligenverehrung und gaben den Heiligen über ihre Gegenwart in den Reliquien hinaus eine spirituelle Präsenz. Die biblischen Szenen sollten die Heilige Schrift durch das Bild ergänzen und zeitgemäß kommentieren. Die Darstellungen des Jüngsten Gerichts führten dem Betrachter die Konsequenzen nicht normgerechten Verhaltens vor Augen. Durch Stifterfiguren konnten Bürger in die Sphäre der Heiligen und ihrer Geschichte integriert werden. Im Spätmittelalter schlug sich die Passionsfrömmigkeit in Darstellungen des leidenden Christus nieder.305 Die Devotio moderna war eine Frömmigkeitsbewegung, die im Spätmittelalter, im 14. Jahrhundert, in niederländischen Städten entstanden war und sich in Europa weit verbreitete. Die Bewegung geht zurück auf 300 301 302 303 304 305
Andermann, a.a.O., 164. Andermann, a.a.O., 165. Andermann, a.a.O., 185. Steiner, Kulturgeschichte, 13. Steiner, a.a.O., 14. Vgl. Isenmann, Stadt, 660f.
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Geert Groote, der ein Patriziersohn in der niederländischen Stadt Deventer war und der sich nach einem umfassenden Studium in Paris 1374 in ein Kloster zurückzog, in dem er durch mystische Texte von der Scholastik abgebracht wurde und zu einer christlichen Lebenspraxis fand. In seinem Haus in Deventer richtete Groote eine semireligiose Frauengemeinschaft ein. Der Deventer Vikar Florentinus Radewijns schloss sich Groote an und gründete wie dieser eine Bruderschaft. Aus diesen Vereinigungen entwickelten sich die Gemeinschaften der Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben und die Windesheimer Kongregation, die ersten als semireligiose Vereinigung von Laien und Klerikern, die zweite im monastischen Rahmen der Augustiner-Chorherren. Wichtige geistliche Autoren waren Thomas von Kempen, dessen ihm zugeschriebene Imitatio Christi weltweite Verbreitung fand, und Johannes Busch.306 Geert Groote selbst zog als Prediger durch die Städte Hollands und des Bistums Utrecht.307 Diese Frömmigkeitsbewegung entstand und entwickelte sich in einer Stadt, die in den Niederlanden im Spätmittelalter zentrale Bedeutung hatte und auch durch die Devotio moderna zu einem geistlichen Zentrum wurde, das eine europäische Ausstrahlung hatte.308 Die Frömmigkeit der Devotio moderna war auf Christus zentriert, besonders auf sein Leiden, und Ziel war die Nachahmung Christi (imitatio Christi).309 Die Verehrung der Gründer und Gründerinnen devoter Gemeinschaften ließ diese zu »überregionalen Vorbildern für alle zukünftigen Devoten« werden.310 Im Zuge der Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert bildete sich eine konfessionelle Frömmigkeit aus, die oft von Städten ihren Ausgang nahm und auf das Umland ausstrahlte. Protestantisch-lutherische Formen der Frömmigkeit waren Bibelfrömmigkeit, die Lektüre und Meditation der Heiligen Schrift sowie Abendmahlsfrömmigkeit bis hin zu Abendmahlszwang. Die katholische Konfessionalisierung verstärkte die Marienfrömmigkeit, die Heiligenverehrung mit Wallfahrten und eine Sakramentsfrömmigkeit, die sich in betonten Zurschaustellungen des »Allerheiligsten« in Elevation, Tabernakel und Prozessionen artikulierte. Der Pietismus entstand in Städten wie Frankfurt (Main) und Halle (Saale). In mystisch-spiritualistischen Kreisen des mittleren und gehobenen Stadtbürgertums wurde er vorbereitet, bevor dann der Frankfurter Pfarrer Philipp Jakob Spener außerkirchliche Konventikel, collegia pietatis, gründete und mit den Pia desideria von 1675 die Programmschrift des Pietismus als Laienbewegung lieferte. Die anfangs eher großbürgerliche städtische Bewegung wurde seit dem Ende des 18. Jahrhunderts allerdings eine eher kleinbürgerliche Gruppierung. In Halle gründete der Orientalist und Theologieprofessor August Hermann Francke ein Waisen306 307 308 309 310
Janowski, Groote, 10–17. Krauß, Devotio moderna, 42. Krauß, a.a.O., 1. Krauß, a.a.O., 329f. Krauß, a.a.O., 434.
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haus mit Schulen, das eine weltweit ausstrahlende pietistische Missionsbewegung hervorbrachte.311 Ein separatistischer Radikalpietismus äußerte sich im 17. Jahrhundert in Städten durch Propheten und wirkte darüber hinaus: »In Heilbronn predigte ein Sporergeselle Joh. Georg Rosenbach, in Nürnberg der Perückenmacher Tennhardt, der sich der Kanzlist Gottes nannte, in Frankfurt der Schustergeselle Dauth, der den Untergang des Deutschen Reiches prophezeite, in Stuttgart hatte der Hirschwirt Trautwein Offenbarungen vom neuen Jerusalem«.312 Tennhards Einfluss reichte bis nach Genf.313 Auch die Aufklärung, die anfangs viele Motive mit dem Pietismus teilte wie die Entfaltung einer praktischen Frömmigkeit, entstand in Städten und wirkte über sie hinaus. In den Städten bildeten sich Sozietäten, Lesegesellschaften und Akademien, die ein von den kirchlichen Institutionen unabhängiges individuelles Denken förderten.314 Zentren waren Berlin und Halle. In Berlin residierte der aufgeklärte preußische König Friedrich der Große, der Voltaire an seinen Hof holte. In Halle betrieb der Schüler von Leibniz Christian Wolff eine aufklärerische Philosophie, bis er 1723 aus Halle vertrieben wurde, wohin er aber 1740 von Friedrich dem Großen zurückgeholt wurde. Theologische Ausstrahlung erhielt Halle im Sinne der Aufklärung vor allem durch Johann Salomo Semler, der aus dem halleschen Pietismus stammte, aber sich der Aufklärung und ihrer Bibelkritik, die auch eine neue Art der Frömmigkeit hervorbrachte, anschloss.315 Die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts hatte ihren Ursprung in Halle im 18. Jahrhundert unter den dortigen Pietisten. Die Erweckungsprediger bemühten sich, die neuen benachteiligten Gruppen vor allem in den Städten, Arbeiter und Kleinbürger, zu erreichen, indem sie neue Formen der Seelsorge ausbildeten wie Zeltmissionen, Gebetsgemeinschaften, Hauskreise. In Basel ging die Erweckungsbewegung auf die Christentumsgesellschaft von 1780 zurück. Auch in Deutschland hatte diese Einfluss. In Stuttgart ging daraus 1812 die Württembergische Bibelanstalt hervor, die weltweite Ausstrahlung entfaltete.316 12. Industriestadt Während im Mittelalter und noch in der frühen Neuzeit die Städte Orte der Freiheit waren (»Stadtluft macht frei«) und die Bürger (nicht alle Bewohner) ihre Belange großenteils selbst gestalten oder mitgestalten konn311 312 313 314 315 316
Greyerz, Religion, 127–134. Wilhelm Hadorn, zitiert nach Greyerz, a.a.O., 277. Greyerz, a.a.O., 279. Greyerz, a.a.O., 288f. Wallmann, Kirchengeschichte, 157. Graf, Erweckung/Erweckungsbewegungen, 1490–1495.
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ten, wandelte sich die Situation der Stadt und ihrer Bewohner mit der Industrialisierung und dem Entstehen der Großstädte im 19. Jahrhundert grundlegend bis hin zu sozialem Elend der Arbeiterschaft. Die Stadt wurde aus einer Stätte der Mündigkeit, Bildung und Toleranz zu einem Bereich der Gefährdung, der Verelendung, der Entfremdung, der Unfreiheit. Die Kirchen reagierten darauf zuerst hilflos und verhielten sich abwehrend gegenüber politisch-sozialen Bewegungen wie dem Sozialismus, die sich gegen die Verelendung weiter Bevölkerungsteile zur Wehr setzen wollten. Private Initiativen wuchsen aus den christlichen Kirchen heraus und nahmen eine aktive Rolle in den gesellschaftlichen Entwicklungen ein. Diese Initiativen entstanden in Städten und wirkten über sie hinaus. Der Hamburger Johann Heinrich Wichern, beeinflusst von der Erweckungsbewegung, weckte 1849 das kirchliche und bürgerliche Christentum auf mit seiner »Denkschrift an die deutsche Nation«: »Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche«, und verbreitete das Anliegen der Inneren Mission durch seine »Fliegenden Blätter«. Schon 1834 gründete Wichern das Rauhe Haus als »Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder«, nachdem er in der Hamburger Vorstadt St. Georg das Elend der proletarischen Bevölkerung wahrgenommen hatte. Das Rauhe Haus erwarb sich bald als richtungsweisende pädagogische Einrichtung internationalen Ruf.317 Die geistliche Ausstrahlung der Stadt war auch eine ethische und soziale geworden. Die Maßnahmen beschränkten sich aber nicht auf äußere soziale, sondern versuchten neben dem materiellen Pauperismus auch den inneren zu bekämpfen, nämlich den moralischen Verfall, der oft Folge der Verelendung war, aber auch die wohlhabende Bevölkerung betraf, die sich sozial verantwortungslos verhielt.318 Der inneren Armut sollte durch Evangelisierung begegnet werden.319 Erst allmählich eigneten sich die Kirchen diesen sozialen Impuls an und entwickelten selbst Konzepte der Diakonie. Vorbild für die von Wichern ins Leben gerufene Stadtmission in Hamburg 1848 war die 1835 gegründete London City Mission.320 Für die Vorgeschichte der Diakonie kann an die Drittordensgemeinschaften des Spätmittelalters, die sich karitativ betätigten, und an den Pietismus, der z.B. in Halle mit den Franckeschen Stiftungen eine Schulstadt für arme und verwahrloste Kinder hervorbrachte, erinnert werden. Die Zentralitätsfunktion der Pfarrkirchen wurde im 19. Jahrhundert verstärkt durch Bauwerke, die den sozialen Charakter der Kirche unterstützten, wie Gemeindehäuser, Schulen, Kindergärten, Pfarrbibliotheken, Krankenhäuser. »Demzufolge stellten die Pfarren und Gemeindezentren in den Urbanisierungsschüben des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Institutionen dar, welche den wachsenden Dienstleistungs-, Industrie- und 317 318 319 320
Green, Kirche, 86f. Green, a.a.O., 96f. Green, a.a.O., 98. Green, a.a.O., 127f.
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Hauptstädten zusätzliche Funktionalitätsgewinne ermöglichten« und ihre Zentralität verstärkten.321 Auch die äußere Mission nahm von Städten ihren Ausgang. Die Basler Mission wurde 1815 gegründet, und ihr Seminar zog viele Bereitwillige auch vom Land, auch aus dem Ausland, besonders aus Württemberg, an.322 Hier vollzog sich ein zentripetaler Zug in die Stadt, der eine zentrifugale Bewegung in weite Fernen nach sich zog. Das geistliche Zentrum war die Stadt, die Missionskandidaten anzog und in die Welt entsandte. Dort gründeten sie z.B. in Indien »Missionsindustrien«, Fabriken, die den Christen gewordenen Einwohnern Arbeit geben konnten, nachdem sie ihre Kastenzugehörigkeit verloren hatten.323 Der Ausstrahlung Basels als Handelsstadt entsprach eine geistliche Ausstrahlung in der Mission. »Pietismus und Handel waren an der Gründung der Basler Mission beteiligt.«324 Die Energie zur Gründung von Handelsgesellschaften wurde auch für die Gründung und Organisation einer Missionsgesellschaft fruchtbar gemacht. Während in der Mitte des 20. Jahrhunderts im Gefolge von Max Webers Begriff einer »Entzauberung der Welt« die Urbanisierung im 19. Jahrhundert als Prozess der Säkularisierung verstanden wurde, der eine »Stadt ohne Gott«325 hervorbrachte, wird seit dem Ende des 20. Jahrhunderts das Verhältnis von Religion und Stadt differenzierter gesehen, und es werden neue Formen der Religiosität in den Städten wahrgenommen, die von ihnen ausstrahlten.326 Während die protestantische Abendmahlsteilnahme in den Städten seit 1800 kontinuierlich zurückging und die Entkirchlichung im Bereich des Protestantismus fortschritt, war die Abnahme der Kirchenbindung der Katholiken in Deutschland, die um 1800 einsetzte, nicht allgemein und nicht von Dauer, da um 1830 in vielen katholischen Gebieten ein religiöser Aufschwung einsetzte, der durch Marien- und Herz-Jesu-Frömmigkeit an voraufklärerische Religiosität anknüpfte. »Verstärkt durch den Kulturkampf, entfaltete sich in vielen katholischen Regionen eine eigene katholische Sondergesellschaft, ein spezifisch katholisches Milieu«, das in den Städten zur Gründung katholischer Vereine und Organisationen, wie auch der Zentrumspartei, führte.327 Katholisch geprägte Städte wie Münster und Bochum, in denen die Katholiken aktiv am religiösen Leben teilnahmen, strahlten auf andere Städte und Gebiete aus. »Insgesamt betrachtet blieb eine massive, der protestantischen Entwicklung vergleichbare Entkirchlichung im Katholi-
321 322 323 324 325 326 327
Freitag, Einleitung, XVI. Jenkins, Geschichte, 11. Jenkins, a.a.O., 6. Jenkins, a.a.O., 10. Cox, Stadt. Vgl. Liedhegener, Religion, 176–179. Liedhegener, Grossstadt, 27.
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zismus also aus.«328 Eine neue Rechtslage ermöglichte es gegen Ende des 19. Jahrhunderts neuen religiösen Gruppen (»Sekten«) wie den Mennoniten, Baptisten, Neuapostolischen, Adventisten, in den Großstädten Gemeinden zu bilden.329 Aber auch im Bereich des intellektuellen protestantischen Bürgertums gab es einen religiösen Aufschwung: »So ist der Kulturprotestantismus über weite Strecken ein Phänomen einer bürgerlichintellektuellen, städtischen ›Lesegemeinde‹, die sich um Zeitschriften wie ›Die Christliche Welt‹ oder liberale Theologen wie Albrecht Ritschl, Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch scharte.«330 Die Frage nach der Säkularisierung in der Industriestadt des 19. Jahrhunderts muss also differenziert beantwortet werden: »Versteht man Säkularisierung als das langfristige Absterben von Religion schlechthin zugunsten einer zunehmend rein rational-wissenschaftlichen Weltdeutung, dann hat eine solche Säkularisierung selbst in den Grossstädten nicht oder nur in sehr geringem Umfang stattgefunden. Festzustellen ist vielmehr gerade für die Grossstadt eine historisch neue Vielfalt des Religiösen, eine erste Pluralisierung und Individualisierung von Sinnangeboten im Zuge der Urbanisierung. Bindet man den Begriff aber stärker an die christliche Tradition und ihre Glaubens- und Vergemeinschaftungsformen zurück und versteht unter Säkularisierung etwa die zunehmende Autonomie der Welt gegenüber ihren christlichen Sinn- und Traditionsvorgaben im Verlauf des Modernisierungsprozesses westlicher Gesellschaften, dann ist eine wenn auch nicht lineare, so doch langfristige Säkularisierung ein sehr realer Vorgang. Er verlief in den Grossstädten schneller als im Gesamt der deutschen Gesellschaft.«331 Inzwischen hat Harvey Cox seine Vorstellung der modernen säkularen Stadt revidiert, und ein Buch wie »The Spiritual City« von Philip Sheldrake erschien 2014.332 Schluss: Die Stadt als Symbol Die Stadt hat nicht nur als konkrete historische Erscheinung, sondern auch als Vorstellung und Bild symbolische geistliche Bedeutung. Sie kann im Mittelalter das himmlische Jerusalem verkörpern, aber auch als Mikrokosmos die himmlische Ordnung oder die Welt schlechthin. Biblische Bezüge geben der Stadt geistliche Bedeutung, wie an Hebr 11,10; 12,22; 13,14 und Offenbarung 21,2 ersichtlich wird. Die Stadt kann als Metapher für die weltliche Existenz des Menschen, auch seine Sündhaftigkeit (Babylon), wie für die Seligkeit und Ewigkeit gebraucht werden. Bethle328 329 330 331 332
Liedhegener, a.a.O., 28. Liedhegener, a.a.O., 30. Liedhegener, a.a.O., 32. Liedhegener, a.a.O., 32f. Sheldrake, City. (Freundlicher Hinweis von Christoph Schwöbel).
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hem und Jerusalem können Symbol für die Heiden- und Judenkirche in der civitas Dei sein.333 Die Stadt ist für Hrabanus Maurus im 9. Jahrhundert ein Bild der Kirche und der Gemeinschaft der Heiligen.334 Auch Maria kann durch eine Stadt symbolisiert werden.335 Die Stadt als Symbol tritt bildhaft in Erscheinung als Attribut von Heiligen (z.B. bei Augustinus als Symbol der civitas Dei; bei Stadtpatronen), als Hintergrund auf Altarbildern im Spätmittelalter (Jerusalem, Bethlehem, Rom, … oder als universeller Typ), als Landschaftsstaffage auf Gemälden der Renaissance, als Ausformung von Sakralgegenständen wie Reliquiaren, Tabernakeln, Radleuchtern (z.B. aus dem 12. Jahrhundert im Kloster GroßComburg bei Schwäbisch Hall: Bild des himmlischen Jerusalem mit zwölf Stadttoren nach Apk 21,12.21, oder in der Pfalzkapelle zu Aachen). Die Radleuchter versinnlichen die Ausstrahlung des himmlischen Jerusalem in die Welt. Das irdische Jerusalem galt dem Mittelalter als Zentrum, als Nabel der Welt. Auf Karten wurde es häufig durch einen viergeteilten Kreis symbolisiert. Dieses Schema bestimmte auch gotische Idealstadtpläne, die Stadtgründungen zugrunde lagen. Es entstanden Städte mit Stadtvierteln oder Quartieren.336 Die Stadt als Symbol hatte auch Einfluss auf die Konstruktion und das Verständnis historischer Städte. In der späten Neuzeit wurde die Stadt zur Chiffre der Heimat- und Orientierungslosigkeit und erhielt so eine negative geistliche Konnotation. Die Stadt entfaltete als historisches Sozialgebilde, aber auch als Symbol seit dem frühen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert in unterschiedlichster Weise eine geistliche Ausstrahlungskraft, die Zeugnis ihrer Zentralität war. Ob ihr diese geistliche Zentralität und Ausstrahlung auch heute noch zukommen kann oder sollte, ist zumindest fraglich.
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Vgl. Schneider, Städte, 205f. Sydow, Elemente, 84. Vgl. die auf das 12. Jahrhundert zurückgehende Lauretanische Litanei, in der Maria als »turris Davidica, turris eburna, domus aurea« bezeichnet wird (freundlicher Hinweis von Theresia Maier). 336 Müller, Stadt, 53–61.
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Abstract The European City as a special kind of social community has in its manifold history exercised a spiritual vibrancy which was based on the centrality of the city in relation to its environs. From the Middle Ages to 19th Century, the stages and aspects of this spiritual radiation result from the role of the city as the seat of a bishop, as the destination of pilgrimages, as the place of monasteries, as space of fairs, as the origin of heresies, as the centre of Reformation, as the location of printing presses, as a sanctuary for religious refugees, as the city of universities, as seat of church government, as a centre of piety, and as a location of industries. Finally, the spiritual vibrancy of the city is manifested in its symbolic significance.
Michael Welker
Aufgaben der Religion im Prozess der Evolution der Städte
In den Jahren 1993/1994 wurde Kowloon Walled City, ein ganzer Stadtteil Hongkongs auf der Kowloon Halbinsel, abgerissen. Dieses Stadtviertel hatte den Weltrekord aufgestellt, was dichte Besiedlung betraf, und zwar war es 46 Mal dichter besiedelt als Manhattan. Das hatte zu einem nicht mehr steuerbaren urbanen Desaster geführt. Die Bevölkerung wurde umgesiedelt, und an der Stelle der Walled City wurde ein Park geschaffen. Kowloon Walled City steht heute für das bedrängende Problem, dass zahllose Städte dieser Erde bei ständig zunehmender Bevölkerungsdichte immer weniger regier- und steuerbar sind. Doch das scheinbar erreichte Happy End, das in der Verwandlung einer Stätte monströser sozialer und ökologischer Entwicklungen in einen Park gesehen werden kann, lässt sich nicht beliebig wiederholen. Hilflos stehen Regierungen und Stadtverwaltungen vor sich immer schneller vollziehenden Entwicklungen, in denen sich immer mehr Menschen in immer größeren und immer dichter besiedelten Städten zusammendrängen. Im Jahr 1975 waren 38 Prozent aller Menschen Stadtbewohner; seit 2008 lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten; und für das Jahr 2030 wird vorausgesagt, dass zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben werden.1 1. Megaprobleme der Megacitys Für die Außenbeobachter aus dünner besiedelten Weltgegenden sprengen diese Entwicklungen das Vorstellungsvermögen. In Europa unterscheidet man noch immer Kleinstädte mit 5.000 bis 20.000 Einwohnern und Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern voneinander. Zwischen der Kleinstadt und der Großstadt liegen die sogenannten Mittelstädte. Jenseits der Großstädte lagen bis vor kurzem die wenigen sogenannten Millionenstädte mit mehr als einer Million Einwohnern. Heute sind viele geneigt, von Kleinstädten mit bis zu 50.000 Einwohnern zu sprechen, und im Kontrast zu den sogenannten Megacitys wirken die alten Großstädte und die kleinen Millionenstädte geradezu über1
Forschungsschwerpunkt Future Megacities.
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Michael Welker
schaubar. Für das Jahr 2014 sind weltweit 24 Megacitys bzw. megaurbane Regionen mit jeweils mehr als 20 Millionen Einwohnern statistisch erfasst. An der Spitze liegen Tokio mit 38.000.000 bis 43.000.000 Einwohnern, Jakarta, Shanghai, Seoul, Mexico City, New York und Delhi. Nicht alle der gigantisch großen Städte bzw. mega-urbanen Siedlungsregionen werden auch Global Cities genannt. Dieser tatsächliche oder vermeintliche Ehrenname, der die internationale ökonomische Bedeutung und eine damit verbundene kulturelle und politische Ausstrahlungskraft von Städten markieren soll, kommt vielmehr auch so kleinen Städten wie Frankfurt und München in Deutschland zu. Nur einige der Megacitys gelten also auch als Global Cities. Andere hingegen könnten eher Mega-Problem-Citys genannt werden. Verkehrssysteme, Wohnraum-, Wasser- und Nahrungsversorgung halten nicht Schritt mit der rasanten Bevölkerungszunahme. Auf jeden Fall ist das Thema Stadt nicht nur heute, sondern auf Dauer ein politisches, wirtschaftliches, organisatorisches und wissenschaftliches Thema erster Größenordnung.2 Regierungen, Ministerien und andere politische Führungsgremien investieren ebenso wie nationale und internationale Forschungseinrichtungen und Wirtschaftsunternehmen in langfristige Programme, um Urbanisierungsentwicklungen zu erfassen, zu steuern und zu gestalten, Programme, die mit Recht verbunden werden mit Programmen einer »global nachhaltigen Entwicklung«. Die Programmtitel können verhalten positiv klingen (zum Beispiel im DFG-Projekt »Megastädte: Informelle Dynamik globalen Wandels«) oder eher besorgniserregend (»Risikolebensraum, risk habitat, Mega City« – ein Projekt der Helmholtz-Gemeinschaft). Tatsächlich vermitteln sich simple Alarmismen und pauschal negative Beurteilungen leicht, aber sie sind nicht sachgerecht. Die Probleme und die Risiken springen einfach schneller ins Auge als die Chancen und Vorteile der Entwicklung. Besorgnis erregen die urbane Flächenausdehnung, die Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung sowie andere Umweltprobleme, die Flächenversiegelung, die Abwasserprobleme, die Abfallentsorgung und eine gesteigerte Anfälligkeit für Naturkatastrophen. Dem aber werden Chancen entgegengestellt wie der abnehmende Pro-Kopf-Verbrauch an Flächen zum Beispiel durch Hochhausbebauung, effizientere Landnutzungsplanung, effizienterer Ressourcenverbrauch und effizientere Gefahrenprävention. Stellungnahmen zur Entwicklung der Megacitys betonen die Problematik, die in einer unzureichenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Infrastrukturentwicklung liegt, zum Beispiel Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, die Ausbeutung von Arbeitskräften, soziale Ungerechtigkeit und Missbrauch sozialer Macht, Korruption und Nepotismus, Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen, Entwicklung mafioser 2
Siehe dazu den Band: Burdett/Sudjic (Hg.), The Endless City, darin besonders: Soja/Kanai, The Urbanization, 54–69.
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Strukturen und vielfältiger Formen von Kriminalität. Dagegen werden Hoffnungen gesetzt auf ein besseres Monitoring und Management von Interaktionen zwischen Mensch und Natur, auf die zunehmende Abstimmung verschiedener ökonomischer Sektoren, auf kürzere Transportwege und – im Vergleich zur Lage einer weit verstreuten Landbevölkerung in vielen Ländern – Produktionswachstum, Kreativitätszunahme, wissenschaftliche und technische Innovationen, Verbesserung der Bildung und der Gesundheits- und Wohlfahrtssysteme sowie der Kriminalitätsbekämpfung.3 Gewarnt wird im Zusammenhang mit der rasanten Entwicklung der Megacitys vor unkontrollierbaren Migrationsbewegungen und dem zunehmenden Verlust sozialen Zusammenhalts, vor Polarisierung und Fragmentierung. Dem stehen Chancen auf wachsende Kohärenz von Gemeinwesen und Nachbarschaften, auf steigende Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen und auf Gleichstellung der Geschlechter sowie Chancen auf interkulturelle Interaktion gegenüber. In mega-urbanen Umgebungen sei es leichter, Kontrollmechanismen gegen Korruption und Bestechung zu entwickeln, gebe es eine größere Breite und Verfügbarkeit von Informationsflüssen und Kommunikationswegen sowie Potenziale zur Entwicklung und Stärkung zivilgesellschaftlicher Institutionen.4 Es ist bequem, die jeweils hoffnungsgestützten und positiven Perspektiven als illusionär, als »wishful thinking« abzutun. Natürlich müssen die vielen politischen, rechtlichen, ökonomischen, bildungsinstitutionellen und zivilgesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie die praktischen Umsetzungsmöglichkeiten nüchtern in den Blick genommen werden, die jeweils erforderlich sind, um in oftmals einfach hoffnungslos erscheinenden Problemlagen Entwicklungschancen zu eröffnen und zu nutzen. Es ist für eine angemessene Beurteilung der Lage unerlässlich, in großer Nüchternheit die reale Not und das massive Leiden zu erkennen und zu würdigen, die dazu führen, dass Millionen von Menschen heute in die Megacitys und die mega-urbanen Ballungsräume dieser Welt gedrängt werden. Zu fragen ist, in welchen Weltgegenden sind diese Not und dieses Leiden letztlich durch vermeidbare politische, kulturelle, weltanschauliche und auch religiöse Konflikte und Gewaltanwendung ausgelöst? In welchen Weltgegenden sind anhaltende Naturkatastrophen, Knappheit an Wasser und Nahrungsmitteln und explosive Bevölkerungsentwicklungen die Auslöser? Welche – wenn auch sicher oft nur sehr begrenzten – Möglichkeiten der Einflussnahme ergeben sich durch politische, rechtliche, bildungsmäßige, zivilgesellschaftliche und auch religiöse Kommunikationsprozesse im Blick auf das erste Problemspektrum? Diese langfristig relevante Fragestellung kann aber nicht die akuten Herausforderungen verdrängen, die beide Notlagen in aller Welt mit sich bringen. 3 4
Vgl. konkret Travers, Understanding, 308–321. Krass/Nitschke, Megastädte, 18–28.
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Eine zweite Nüchternheit muss in der selbstkritischen Einsicht liegen, dass religiös-moralische Appelle angesichts der globalen Problemlagen zwar nicht völlig sinnlos sind, dass sie aber doch oft eher als Rituale der Beschwichtigung und Selbstbeschwichtigung angesehen werden müssen. Gefragt sind vielmehr belastbare Erfahrungen im Umgang mit Notlagen und Krisenbewältigung in der Evolution der Städte und natürlich die selbstkritische kontextbezogene Prüfung, inwieweit diese Erfahrungen in veränderten Kontexten prophetisch und praktisch hilfreich sein können. Im Kontext dieses Publikationsprojekts soll es im nächsten Teil um die Frage gehen: Welche Aufgaben übernahm und welche verlor die Religion in der Evolution der Städte, und welche Aufgaben sollte sie heute übernehmen? Im dritten Teil soll diese Frage auf die christliche Theologie, auf diakonisches Handeln, gemeindliches Leben und kirchliche Organisation zugespitzt werden. 2. Religion und Stadtkultur Es gibt Sonderformen kleiner baulicher Komplexe, die die Bezeichnung »Stadt« erhalten haben und weiterhin führen. Die »kleinste Stadt der Welt«, Hum in Istrien (Kroatien) zählt derzeit zirka 20 Einwohner. Von solchen in der Substanz dörflichen Sonderformen abgesehen, verstehen wir unter Stadt einen zumindest partiell geplanten, baulich differenziert und auf Dauer gestalteten und organisierten Lebensraum von großen Menschengruppen. In der Bevölkerung einer Stadt gehen die Kräfte des Vertrauens und der wechselseitigen Verpflichtung über die Netzwerke von Person-zu-Person-Kommunikationen hinaus. In der Stadt kennen sich nicht mehr alle Leute. In einer Stadt kommunizieren nicht mehr alle mit allen direkt. Die Stadt sprengt familiale, großfamiliale und auch tribale, stammesförmige Beziehungsgeflechte. Abstraktere Muster und Formen sozialer Identifikation und Kooperation treten neben die interpersonal-konkreten. Die enge Verflochtenheit der Religionen mit familialen Lebensverhältnissen, die Tatsache, dass religiöse Rituale und Gottesdienste und auch religiöse Bildung in Person-zu-Person-Kommunikationen eingebettet sind, scheint auf den ersten Blick hin religiöses Leben und städtisches Leben voneinander zu entfernen oder gar einander entgegenzusetzen. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man mit rein personalistischen Strukturen von Seiten der Theologie an die Problematik herangeht. Doch in der Substanz ist das Gegenteil der Fall. So wichtig die familialen und konkret-interpersonalen Beziehungen im religiösen Leben sind – schon mit Kultstätten und Friedhöfen signalisiert die Religion bereits in frühen Stadtentwicklungen ihre prägende Präsenz über diese Kommunikationsformen hinaus. Die städtische Gemeinschaft von miteinander Vertrauten und miteinander Unvertrauten ist dem religiösen Denken und
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Handeln keineswegs strukturell fremd. Religionen beziehen sich beständig auf die Anwesenheit des nicht in trivialer Sinnfälligkeit anwesenden Gottes bzw. mehrerer Götter oder numinoser Wesen, und sie bewegen sich in unterschiedlicher Ausdrücklichkeit in der Gemeinschaft der Lebenden und der Toten. Die Zentrierung der Städte nicht nur auf den Marktplatz, nicht nur auf eine Bastion oder mehrere Bastionen politischer und militärischer Macht, sondern auch auf ein religiöses Zentrum oder mehrere religiöse Zentren und entsprechende bauliche Errungenschaften ist schon für frühe Entwicklungen von Städten charakteristisch. Dabei ist die Präsenz der Religion nicht auf Kultstätten und Friedhöfe beschränkt. Sie wird im familialen Umfeld praktiziert, und sie wird in der Regel auch von den Machthabenden gepflegt und instrumentalisiert. Schließlich ist sie in nicht zu unterschätzender Weise auch auf dem Markt präsent. Der Markt einer Stadt ist nicht nur Austauschplatz von Gütern, er ist auch Kommunikationsraum. Proselyten werden nicht nur durch neue Familienverbindungen und im Zuge militärischer Unterwerfungen, sie werden auch, vielleicht sogar vor allem, werbend auf den Märkten gewonnen. Die in Europa vertrauten Stadtbilder zeigen neben Markt, Schloss bzw. Rathaus und Kirchen weitere Monumente gesellschaftlicher Ausdifferenzierung. In Form von Schulen, Universitäten, Bibliotheken und Museen wird das Bildungssystem auch städtebaulich präsent. Und im facettenreichen Bildungssystem spielt die Religion trotz mancher Verdrängungsprozesse eine bis heute prägende Rolle. Bildung und Unterhaltung verbinden sich in Theatern, Opernhäusern und Konzertsälen, in zoologischen und botanischen Gärten. Diese Mischung von weicher Bildung und Unterhaltung tritt häufig in Konkurrenz zur Religion. 1799 schreibt der norwegische Dichter und Philosoph Henrik Steffens aus Berlin, dem Zentrum der deutschen Aufklärung: »Die Kirchen waren leer, und verdienten es zu sein; die Theater waren gedrängt voll, und mit Recht.« Der preußische Hof konstatiert 1802 den vollständigen Verfall der Religiosität, der sich vor allem in mittleren und größeren Städten auswirke. Eine Berliner Zeitung prophezeit, »in 20 Jahren werde der christliche Glaube in Deutschland völlig erloschen sein«.5 Zur Konkurrenz von Religion und Kunst einerseits, von Religion und öffentlichem Interesse an Phänomenen der Natur und fremden Kulturen andererseits tritt die Konkurrenz von Religion und einer sich ausbreitenden öffentlichen Konsum- und Amüsierkultur. Der Markt wird ausdifferenziert in Boulevards, Einkaufsstraßen und Freizeitparks. Neben die familial und religiös bestimmte Festkultur tritt in den Städten eine kommerzialisierte Festkultur und ein breit ausdifferenzierter Restaurantbetrieb. Mit zunehmender medialer Entwicklung, mit der Entstehung von Verlagshäusern und Standorten von Tages-, Wochenzeitungen und Ma5
Belege bei Wallmann, Kirchengeschichte Deutschlands II, 184.
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gazinen, Presseagenturen und im 20. Jahrhundert dann Radio-, Filmund Fernsehzentren treten neue Machtzentren öffentlicher Bildung, öffentlicher Unterhaltung und öffentlicher Emotionalisierung auf, die nur partiell von der Religion mitbesetzt werden. Die Ausdifferenzierung der Städte spiegelt das Entstehen pluralistischer Gesellschaften, in denen die Mächte des Marktes und der Medien oft und bis heute die Einflussmöglichkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten von Politik und Religion ganz erheblich beeinflussen und einschränken. Doch auch die Verselbständigung des Rechtssystems, des Medizinsystems und der Bürokratien spiegelt sich im Stadtbild der Moderne wider. Gerichtshäuser und Krankenhäuser, eine Vielzahl von Heimstätten und zahllose Verwaltungsgebäude, von prächtigen Ministerien bis hin zu unscheinbaren Ämtern, prägen das Stadtbild. Zu den Bahnhöfen in den Zentren der Städte und gegebenenfalls zu Häfen und Werften an ihren Rändern treten im 20. Jahrhundert die ausgelagerten Flughäfen. Die optische Konzentration auf Kirchen, politische, museale und bildungsaffine Prachtbauten wird, besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, durch imposante Bankgebäude und gewaltige Firmensitze verdrängt, wenn denn noch strukturbildende Stadtplanung möglich und erkennbar ist. Während die Religion zur Familie und zur Bildung, auch zur Politik, zur moralischen Stützung des Rechts und zur Krisenbegleitung im Medizinsystem, auch zu Teilbereichen der Kunst und der Medien gestaltende Beziehungen aufbaut, ist das Verhältnis zum monetisierten, von Warenproduktion und Konsum bestimmten Markt zumindest tief gebrochen. Die großen Einkaufsmalls, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in vielen Städten entstehen, ersetzen religiöse Andacht durch konsumeristische Aufmerksamkeit und Begeisterung. Ein wichtiges, auch religiös relevantes Beobachtungsfeld bieten die großen Stadien und Arenen, in denen der durch die elektronischen Massenmedien resonanzverstärkte Leistungssport und die elektronisierte Unterhaltungsmusik große Menschenmassen anziehen und enthusiasmieren. Warum sind ausgerechnet diese Formen so öffentlichkeitswirksam, so aufmerksamkeitsträchtig und so hoch bezahlt? Warum langweilen sich Menschen nicht unendlich bei sich lange hinziehenden Tennisspielen, bei der Dauerberieselung durch Fußballspiele, Football, Basketball, Hockey und Baseball? Warum werden die ewigen Schwimm- und Sportwettkämpfe nicht schal? Warum müssen hochkarätige Opern-, Konzert- und Theateraufführungen massiv staatlich unterstützt werden, während ein einziges Konzert der Rolling Stones 2014 sechs Millionen Euro einspielte? Es ist wohl die faszinierende Verbindung von emotional ansprechender Einzigartigkeit leiblich vermittelter Leistung und prinzipieller allgemeiner Mit- und Nachvollziehbarkeit, die den Spitzen der Unterhaltungsmusik und des Leistungssports eine so große weltweite Ausstrahlung beschert. Niemand singt wie Aretha Franklin, Bob Dylan, Paul McCartney oder Tina Turner. Und doch können wir bei »You make me feel like a natural
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woman«, »Like a rolling stone«, »Yesterday« oder »You’re simply the best« mitsingen oder mitsummen. Niemand spielte Basketball wie Michael Jordan, schwamm wie Mark Spitz, schlug den Tennisball wie Steffi Graf, rannte wie Usain Bolt die 100 Meter. Und doch können wir alle Bälle werfen und schlagen, mehr oder weniger gut rennen und meistens auch schwimmen. Diese Faszination der einmaligen leiblichen und zu weltweit beeindruckenden Spitzenleistungen fähigen menschlichen Existenz und die direkte allgemeine Identifizierbarkeit mit der erbrachten Leistung tritt an die Stelle des so wirksamen politisch-moralischen Zaubers, der vom modernen Ichbewusstsein ausging und in die Ideale der Menschenrechte und der Menschenwürde Eingang gefunden hat. Ein jeder von Menschen geborene Mensch ist ein Ich – und zugleich bin nur ich, diese, nur ich, dieser hier und jetzt, mit diesem Wort angesprochen und gemeint. Wer sich über Gestaltungskräfte der Religion in der Evolution der Städte fruchtbar Gedanken machen will, der sollte diese Prozesse der Ausdifferenzierung kultureller Machtformen und tief greifende anthropologische Anziehungs- und Ausstrahlungskräfte im Blick behalten und ihre Entwicklungsdynamiken zu verstehen suchen. Vor allem aber müssen die konkreten Inhalte und Formen der bestimmten in den jeweiligen Städten präsenten Religionen aus der jeweiligen Kompetenzperspektive ins Auge gefasst werden, wenn wir über Bekundung von Betroffenheit und Klagen, über die Artikulation von Wunschvorstellungen und matten oder aufgeregten moralischen Appellen hinauskommen wollen. 3. Gestaltungskräfte christlicher Theologie und Kirchen in Städten des 21. Jahrhunderts Im Folgenden sollen die Perspektiven nicht nur auf Megacitys fixiert werden, so bedrängend ihre Entwicklung ist. Das liegt nicht nur an mangelnder direkter Erfahrung mit ihnen. Die geschätzte Weltbevölkerung Anfang 2014 betrug 7,2 Milliarden Menschen. Allenfalls ein Zehntel von ihnen lebt in den Megacitys mit über 20 Millionen Einwohnern. Sowohl im Blick auf die Dringlichkeit von Entwicklungsprogrammen als auch im Blick auf realistische Erfahrungspotenziale müssen also die Perspektiven weiter gefasst werden. Sie müssen vor allem aus inhaltlich-theologischen Grundlagen heraus entwickelt werden, wenn sie theologisch über reine Zuschauerhaltungen hinausgehen sollen. Ein wichtiger Grundgedanke, der für alle christlichen Kirchen und auch für alle anderen religiösen Gemeinschaften und Organisationen gilt, die dem Wort Jeremia 29,7 »Suchet der Stadt Bestes« folgen wollen, lautet: Die Kirche Jesu Christi, aber auch andere religiöse Gemeinschaften dienen dem Land und dienen der Stadt, in dem bzw. in der sie verortet sind, indem sie die Freiheit ihres gottesdienstlichen Lebens und ihrer
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geistlichen Unterweisung beanspruchen und friedlich wahrnehmen. Dieser Grundgedanke und die damit verbundene politisch-moralische Erwartung richten sich nicht nur gegen eine ideologische und unterdrückerische Politik. Sie schließen auch die Aufforderung und die Bereitschaft zur Toleranz gegenüber anderen religiösen Lebensformen und Organisationen und zur Solidarität mit ihnen ein. Sie schließen ferner ein die prinzipielle Bejahung freier und friedlicher Assoziationsbildung im öffentlichen Raum. Und sie wenden sich gegen die Ideologie, die die Religion zu einer »reinen Privatsache«, zu bloß subjektiver Meinung erklärt und ihr jeden Wahrheitsanspruch abspricht. Während dieser Grundgedanke in relativ einfacher und in – jedenfalls in friedlichen Umgebungen – unstrittiger Weise die äußere Rahmenbedingung gottesdienstlichen Lebens und geistlicher Bildung anspricht, ist der zweite Grundgedanke schwieriger. Er ist auch innerkirchlich oft umstritten, muss aber entfaltet werden. Es geht dabei um nicht weniger als um die Frage, welche Theologie bzw. welche Theologien das Leben der christlichen Kirche in der Stadt und ihren Beitrag zur konstruktiven Entwicklung der Stadt bestimmen sollten. Hier sollte die Antwort lauten, dass bei aller scharfen Inblicknahme der konkreten Lebenskontexte nicht diese Lebenskontexte und auch nicht ihre prekärsten Entwicklungsprobleme, sondern die geistlichen Inhalte des christlichen Glaubens und der christlichen Kirche bzw. die grundlegenden Inhalte anderer Religionsgemeinschaften in erster Linie orientierend und bestimmend sein müssen. Zur Entfaltung dieser Antwort greife ich auf einen sehr hilfreichen Vorschlag zurück, der kürzlich von Myung Yong Kim unter dem Titel »Ohn Theology (Holistic Theology)« unterbreitet worden ist.6 Diese Theologie ist an der reformatorischen Theologie orientiert und in Auseinandersetzung mit den weltweiten theologischen Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert erwachsen. Sie ist in der Presbyterian Church of Korea in der Megacity Seoul ausgebildet worden. Diese ganzheitliche Theologie ist eine kirchliche Theologie, die aber zugleich den Zeiten und Weltregionen übergreifenden Orientierungsraum des kommenden Reiches Gottes zu respektieren sucht. Sie will den Orientierungsraum des kommenden Reiches Gottes trinitätstheologisch erschließen. Sie bejaht die christologische Grundorientierung neutestamentlicher und reformatorischer Theologie, und zugleich öffnet sie sich für die pneumatologische Ausrichtung, wie sie für die starken Pfingstkirchen und charismatischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts charakteristisch sind.7 »Ohn Theology has as its foundation the ultimate authority of the revelation of Jesus Christ but is open to the amazing works of freedom and life being shown in every part of the world by the Holy Spirit«.8 Gegenüber der starken Konzentration auf die Rettung der individuellen Seele in Teilen des re6 7 8
Kim, Ohn Theology. Vgl. dazu Lee, The Holy Spirit Movement. Kim, Ohn Theology, 15.
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formierten Fundamentalismus in Südkorea, aber auch in Teilen der Pfingsttheologie entwickelt sie eine christologisch und neuschöpfungstheologisch begründete Reich-Gottes-Perspektive, die den Geist Gottes als Kraft am Werk sieht, die auf Gerechtigkeit und Frieden und auf den Schutz der Schwachen ausgerichtet ist. Mit einer sogenannten »komplementären Eschatologie« – ein Konzept und ein Terminus, zu dem ein langer Austausch mit Naturwissenschaftlern über Fragen der Eschatologie geführt hat –9 kann sich die holistische Theologie in ein konstruktives und kritisches Verhältnis zu vielen Entwicklungen der ökumenischen Theologie, der Befreiungstheologie und der innerkoreanischen MinjungTheologie setzen. Eindrücklich bringt Myung Yong Kim die mehrperspektivische trinitätstheologische und die christologisch-pneumatologische Orientierung im Anschluss an Calvin, Barth, Moltmann und dem früheren Präsidenten seiner Hochschule, Jong Sung Rhee, zur Geltung. Das schöpferische und neuschöpferische Wirken des dreieinigen Gottes ist nicht nur ein Wirken an individuellen Seelen, und es zielt auch nicht nur auf eine transgeschichtliche eschatologische Wirklichkeit. Wohl will Myung Yong Kim keineswegs Offenbarung und Geschichte identifiziert sehen, er sieht aber im kommenden Reich Gottes eine zugleich präsentische und futurische innergeschichtliche eschatologische Bewegung am Werk, die in komplementärer Beziehung steht zu dem ewigen Reich Gottes, dessen vollkommene Offenbarung der christliche Glaube erwartet. Das von Jesus Christus bestimmte und in der Macht des Heiligen Geistes schöpferisch und neuschöpferisch gestaltete Leben vollzieht sich einerseits im Gottesdienst und im Gebet, andererseits in einer prophetischen und diakonischen Nachfolge, in der Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi und in einer Ethik der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens. Die holistische Theologie befähigt durch ihre pneumatologische Orientierung dazu, die klassische Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi (Jesus Christus als wahrer König, wahrer Priester und wahrer Prophet) zu einer Lehre von der »dreifachen Gestalt des Reiches Gottes« weiterzuentwickeln.10 Sie befähigt zur Erkenntnis, dass wir Menschen in weit ausgreifenden Wirkungszusammenhängen des dreieinigen Gottes stehen, die uns die diakonischen Taten der Liebe und Vergebung, der aufbauenden Lehre, der Annahme und der Heilung um uns herum und zu unseren Gunsten erkennen lassen und die uns zu diesen Taten auch unter schwierigsten Bedingungen befähigen (die königliche Gestalt des Reiches Gottes). Die Sorge um die leibliche und seelische Gesundheit der Mitmenschen innerhalb und außerhalb der Gemeinden kann sich dabei nicht nur auf den individuell-therapeutischen, gar nur auf einen an das Medizinsystem zu 9 10
Peters/Russell/Welker (Hg.), Resurrection, besonders 31ff und 43ff. Welker, Gottes Offenbarung.
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delegierenden Dienst beschränken. Die Gesundheit der in den Städten lebenden Menschen ist ein entscheidendes Maß, an dem die Evolution der Städte auch von kirchlicher Seite aus zu messen ist. Die holistische Theologie befähigt dazu, uns und unsere Mitmenschen in geistlichen und gottesdienstlichen Zusammenhängen zu sehen, die wohl in der gottesdienstlichen Feier der versammelten Gemeinde, in Gebet und Doxologie die angemessene Gestalt und einen Höhepunkt des Erlebens erfahren, die aber zugleich in der Kirche aller Zeiten und Weltgegenden beheimatet sind (die priesterliche Dimension des Reiches Gottes). Die Kirche Jesu Christi und sein kommendes Reich sind so viel weiter als die oft erschreckend weiten und unübersichtlichen irdischen Lebensverhältnisse. Die hohe Bedeutung des gemeinsamen Gesangs und die Unverzichtbarkeit der Beteiligung auch ungeübter Stimmen daran sollte im geistlichen Leben der Kirche und auch in ihrer Bildungsarbeit gewürdigt werden. Neben der biblischen, historischen und liturgischen Bildung sollte die musikalische und musische Bildung einen hohen Stellenwert erhalten. Nicht nur die Suche nach Wahrheit und das Bemühen um Gerechtigkeit, sondern auch der Sinn für Schönheit, selbst in bescheidensten Formen, sollte in der Evolution der Städte auch von gemeindlicher und kirchlicher Seite aus engagiert gepflegt werden. Unbedingt muss die Kirche Jesu Christi die Scheu vor der Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Zusammenschlüssen verlieren. Sie muss erkennen, dass der schöpferische Gott und der Heilige Geist Wahrheit und Gerechtigkeit suchende Gemeinschaften in aller Welt wecken wollen. Dies fällt besonders schwer in ethnisch und religiös relativ gut integrierten und homogenen Gemeinschaften. Die meisten Megacitys auf dieser Erde weisen aber eine solche Homogenität nicht auf. Ohne die eigene Verkündigung und das eigene geistliche Leben aufzugeben und ohne die besonderen diakonischen Profile preiszugeben, muss sich die Kirche des dreieinigen Gottes und sollten sich andere Religionsgemeinschaften von Gewicht auch auf säkulare Institutionen und auf multikulturelle Konstellationen kooperativ und konstruktiv einlassen. Europäische Stadtentwickler haben als größtes Problem neben einer »regenerativen Energiestrategie, einer sozial und ökologisch vorausschauenden Bodenvorratshaltung und einer intelligenten Mobilitätssteuerung« den »Trend der Desintegration« in unseren Städten und Gesellschaften angesehen. Sie haben die hohe Bedeutung von Gärten und Parks als Orten der interkulturellen Begegnung hervorgehoben.11 Für multikulturelle Begegnungsstätten – im Idealfall multikulturelle Parks mit zivilgesellschaftlichen Anlaufstellen –, für diese mit hohem Pflegeaufwand und sicher auch mit hohen Sicherheitsrisiken verbundenen Orte sollten sich kirchli11 Müller, Zur Bedeutung von Interkulturellen Gärten, 119–134; dies. (Hg.), Urban Gardening. Christiane Welker danke ich für Hinweise auf diese wichtige Entwicklungsdimension.
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che Gemeinschaften in Städten aller Größenordnungen einsetzen. Etliche Global Cities bieten dafür bereits (auch geschichtlich) bewährte Modelle. An der politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und medialen Bereitschaft, solche Stätten und ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher Assoziationen nicht nur zu dulden, sondern zu pflegen, zu fördern und auszubauen, können die konstruktiven und die destruktiven Kräfte und Geister in der Evolution der Städte erkannt und unterschieden werden. Literatur Burdett, Ricky / Sudjic, Deyan (Hg.), The Endless City, London / New York 2007 Forschungsschwerpunkt: Future Megacities, Bundesministerium für Bildung und Forschung 2014 Kim, Myung Yong, Ohn Theology, Holistic Theology, Seoul 2014 Krass, Frauke / Nitschke, Ulrich, Megastädte als Motoren globalen Wandels. Neue Herausforderungen weltweiter Urbanisierung, in: Internationale Politik 61 (2006), 18–28 Lee, Young-hoon, The Holy Spirit Movement in Korea. Its Historical and Theological Development, Oxford 2009 Müller, Christa (Hg.), Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt, München 2011 Müller, Christa, Zur Bedeutung von Interkulturellen Gärten für eine nachhaltige Stadtentwicklung, in: Gstach, Doris / Hubenthal, Heidrun / Spitthöver, Maria (Hg.), Gärten als Alltagskultur im internationalen Vergleich (Arbeitsberichte des Fachbereichs Architektur Stadtplanung und Landschaftsplanung, Heft 169), Kassel 2009, 119–134 Peters, Ted / Russell, Robert John / Welker, Michael (Hg.), Resurrection. Theological and Scientific Assessments, Grand Rapids / Cambridge 2002 Soja, Edward / Kanai, Miguel, The Urbanization of the World, in: Burdett, Ricky / Sudjic, Deyan (Hg.), The Endless City, London / New York 2007, 54–69 Travers, Tony, Understanding What People Think, in: Burdett, Ricky / Sudjic, Deyan (Hg.), London / New York 2011, 308–321 Wallmann, Johannes, Kirchengeschichte Deutschlands II. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt 1973 Welker, Michael, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 32016
Abstract The article states some highly problematic developments as well as inherent potentials in the evolution of megacities and mega-urban regions. (In 2014, there were 24 cities and urban regions with more than 20 million inhabitants.) What causes are responsible for the fact that more than half of mankind now populates cities and megacities? The article reflects the tasks religions took over and capacities they lost in the evolution of big cities. It finally asks: What are the creative powers Christian theology and churches can offer in cities and megacities of the 21st century?
Hans Norbert Janowski
Symposion »Die Stadt« – Zusammenfassung der vorgetragenen Aspekte
Mir obliegt die Aufgabe, ein höchst komplexes Symposion zusammenzufassen und zu akzentuieren. Dabei werden Vereinfachungen, Verkürzungen und Wiederholungen zwangsläufig nicht ausbleiben. 1. Am Anfang der Garten – am Ende die Stadt. Das himmlische Jerusalem und dessen irdische Vision der Stadt auf dem Berge, die sich nur via negationis vom heutigen Zustand Jerusalems aus einstellen wird – die slawischen Sprachen bauen eine Brücke zwischen Garten und Stadt: Gorod (vgl. Novgorod) – das umzäunte, umgürtete, gehegte und schutzgewährende Gelände, Stadt wie Garten. Im lateinischen hortus (conclusus), auch im deutschen Gurt/Gürtel steckt die Wurzel »grt/d« (im Lateinischen aspiriert; vgl. ital. giardino, frz. jardin, engl. garden, poln. Ogrod). 2. Im Mittelpunkt dieses Symposions stand die Evolution der Stadt als menschlicher Lebensraum und kulturelles Zentrum. Dessen Entwicklung und Funktion wurde durchweg betrachtet unter der Perspektive, welche Rolle und welcher Ort der Religion als persönlichem Glauben und als organisierter Gemeinschaft dabei zukommt, insbesondere welchen Ort und welche Aufgaben die Religion in der säkularisierten Metropolis wahrnehmen kann: Das Verhältnis von civitas Dei und säkularer Stadt hat als roter Faden die theologischen Analysen und Reflexionen durchzogen. In diesem Zusammenhang hat sich eine Gegenüberstellung der Entwicklungen in Mitteleuropa/Deutschland und Südostasien/Republik Korea als besonders aufschlussreich erwiesen. 3. Bei der Diagnose des kritischen Zustandes der »Stadt«, in der in Kürze die Hälfte der Menschheit leben wird, war man sich weitgehend einig:
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Die großen Probleme der riesigen Stadtagglomerationen weltweit springen unmittelbar ins Auge: die technisch-administrativen und ökologischen Probleme der Versorgung und Entsorgung, der Verkehrsinfrastruktur, die sozialen Folgen der Verdichtung: Segregation, Ghettoisierung, Kriminalität. In dürren Stichworten: Flächenausdehnung, Luft-, Wasser- und Bodenverseuchung. Dazu bei unterentwickelter ökonomischer, politischer und sozialer Infrastruktur Massenarbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung, Korruption und Gewaltkriminalität. Dem stehen, je stärker die Städte wachsen, freilich auch größere Chancen und Vorteile gegenüber: Abnahme des Pro-Kopfverbrauchs an Fläche, bessere Landnutzung und Ressourcenverbrauch, kurze Transportwege, auch bessere Gefahrenprävention, Zunahme an Produktivität, Bildung, Kreativität und Innovationskraft, damit bessere Bildungs-, Gesundheits- und Wohlfahrtssysteme. Der unkontrollierten Migration und sozialen Fragmentierung in den Megacities werden mehr Partizipation an politischen Entscheidungen und Chancen für eine interkulturelle Kommunikation entgegengestellt. Überhaupt stärkt die vielfältige öffentliche und kulturelle Kommunikation das Bürgerbewusstsein und die Initiativkraft der Zivilgesellschaft. Die Globalisierung von Kommunikation, Geld- und Warenströmen, von Verkehr und Transport steigert die Entwicklungschancen wie auch die Risiken z.B. des Terrorismus, der Pandemien, der ökologischen und sozialen Balance, ja des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Hinweis, den Michael Welker gegeben hat: Je größer die Megalopolis, desto nötiger, aber auch prekärer die Integration: Identitätsbildung erfolgt hier oftmals durch emotionale, leiborientierte, leicht nachvollziehbare Masseninteraktion im Sport, bei Versammlungen, Demonstrationen und musikalischen Festivals, aber auch bei Gewaltexzessen. Alle diese Partizipationsformen verlangen nach geregelten, fairen, demokratisch legitimierten Verfahren, auch auf Seiten der politischen und polizeilichen Steuerung. Nicht zuletzt die Aufstände auf den großen Plätzen der Megacities (Tian’anmen, Tahir, Taxim, Majdan etc.) machen das handgreiflich deutlich. Kurz: Die beschleunigte Urbanisierung ist eine Schicksalsfrage der Menschheit, ein gefährliches, vielleicht finales Experiment, wie Jürgen Moltmann eingeschärft hat. 4. Die Stadt ist historisch kein heimliches Säkularisierungsaggregat, sie war und ist – worauf Jürgen Moltmann und Michael Welker hingewiesen haben – vielmehr eine Pflanzstätte des religiösen Glaubens und des Kultus: als religiöses und kulturelles Zentrum mit Tempel, Opferstätte und Priesterschaft, mit der Nähe von staatlichen und religiösen Institutionen.
Symposion »Die Stadt« – Zusammenfassung der vorgetragenen Aspekte
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Jens Kamlahs Aufriss der geschichtlichen Entwicklung des alten Israel hat eindringlich einen Prozess des Wechsels von Phasen der Urbanisierung und De-Urbanisierung aufgezeigt – ein Vorgang von etwa zweieinhalbtausend Jahren. Dieser Wechsel wirft die Frage auf, ob solche Phasen von zivilisatorischen Innovationen ausgelöst wurden und wie sie sich auf die Wahrnehmung der Bevölkerung auswirkten, ob z.B. nomadische und agrarische Schübe oder politische Einwirkungen von außen ursächlich dafür waren. Die Skepsis Israels gegenüber der Stadtkultur als Ort der Hybris und der Sünde zeigt jedenfalls, dass sich das alte Israel mit dem Phänomen kritisch auseinandergesetzt hat. Andererseits haben Israel und Juda selbst Kultzentren in einer Stadt mit Königsherrschaft, Tempel und Priesterschaft gehabt und Glaubensform und -praxis darauf ausgerichtet. Reinhold Rieger sieht den Begriff der Stadt gekennzeichnet durch Zentralität mit Ausstrahlung und Anziehungskraft, als ein soziales System funktionaler Differenzierung mit internen und externen Relationen. Vor diesem Hintergrund hat Rieger eine farbige und ausdrucksstarke Tapisserie entworfen, die die Ausstrahlung des städtischen Raums illustriert – Funktionen, die alle auf lokal und regional wirkende Stabilisierung und sozialen Schutz ausgerichtet sind, mit der starken Symbolkraft der Embleme der civitas Dei. Dieses Ensemble blieb bis in die Leistungen der Diakonie und der Inneren Mission des 17. bis 19. Jahrhunderts erhalten – ich habe als Zögling der Franckeschen Stiftungen in Halle dessen Wirkungen noch selbst erfahren. Heute treten in der Megalopolis andere Symbole an die Stelle dieser Stabilisierungskräfte; Michael Welker hat sie benannt: die Bauten und Funktionen von Banken und Versicherungen, Firmenzentralen und Administrationen; sie lösen die traditionellen Schutz-, Ausstrahlungs- und Stabilisierungsfunktionen auf. Und es muss gefragt werden, ob und in welcher Weise die fluktuierenden christlichen Gemeinschaftsformen in der Lage sind, die institutionell und sakral gesicherten Schutzfunktionen auszuüben. 5. Religionssoziologisch ist der Vergleich zwischen der Situation in Mitteleuropa/Deutschland und der Megacity Seoul von großem Interesse. HyunJong Chois eindrucksvolle Darstellung der urbanen Formen von christlichen Gemeinschaften zeichnete markant andere Strukturen, als sie die in den Volkskirchen hierzulande gewachsenen lokalen Gemeinden und deren konfessionelle Topographie zeigen: nicht an lokale Milieus gebundene Gruppen und gleichwohl feste Gemeinschaften, die Beheimatung gewähren und z.B. für weibliche Mitglieder auch emanzipative Chancen bieten, die (wie bei den Hauskirchen in China) auch politische Aktivitäten und durch ihre schwer zu greifende Struktur eine große Flexibilität im Handeln zulassen.
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Hans Norbert Janowski
Die Megachurches und Small Groups in der Megalopolis weisen darauf hin, dass die urbane Entwicklung Einfluss auf die religiösen Lebensformen ausübt, umgekehrt aber auch die religiöse Praxis sich auf die Lage in den Städten einstellt. Ruth Conrads Hinweis darauf, dass auch in Deutschland die Religion, wo sie aus der Stadtkultur auszuwandern schien, wieder in neuen Formen freier Gruppenbildung in die Stadt zurückkehrt, zeigt, dass es unter sehr verschiedenen Bedingungen durchaus analoge, vielleicht global wirksame Trends gibt, auch wenn in Deutschland (mit Ausnahme der Rhein-Ruhr-Region) noch keine übergroßen Stadtagglomerationen existieren. Wir kennen die Hauskirchen aus der pietistischen Tradition der ecclesiola in ecclesia, machen aber die Erfahrung, dass sie im volkskirchlichen Ambiente eine deutliche Tendenz zur Abschottung zeigen. Gleichwohl lässt sich auch auf dem Boden der verfassten lokalen und regionalen Kirchen die Bildung und Zunahme von aktiven Gemeinschaften registrieren, die – auch elektronisch vernetzt – praxis pietatis mit sozialer Aktivität verbinden und dabei den institutionellen Rahmen der Landeskirchen als freien, stützenden Aktionsraum wahrnehmen. 6. Die machtgeschützten ethischen und politisch-gesellschaftlichen Gestaltungskräfte haben Glaube und Kirchen seit der Kirchenspaltung und der bürgerlichen wie der proletarischen Revolution von 1789 und 1917 zwar Schritt für Schritt eingebüßt, das stadtgeborene Christentum hat aber nach wie vor auch und zumal in den großen Städten sein Lebenszentrum und hier seine gesellschaftlichen und kulturellen, auch seine politischen Aufgaben. Michael Welker sieht den Status der Kirchen verwurzelt in der Freiheit des Gottesdienstes und der geistlichen Unterweisung, in dem entsprechenden Widerstand gegen jede ideologische und unterdrückerische Bevormundung sowie positiv in der geforderten und gelebten Toleranz gegenüber Andersdenkenden und der Solidarität mit den Schwachen – kurz: im Eintreten für freie und friedliche Assoziation im öffentlichen Raum: »Suchet der Stadt Bestes« (Jer 29,7) ist nach wie vor der Leitfaden. Dem wird seiner Meinung nach die von Myung-Jong Kim entworfene »Holistic Theology« gerecht, eine christologisch-pneumatologisch orientierte theologische Perspektive. Das universale Wirken des Heiligen Geistes richtet sich auf das von Jesus von Nazareth verkündete Reich Gottes und eine neue Schöpfung. Dem entspricht eine »komplementäre Eschatologie« – wie Welker formuliert –, in der die Hoffnung auf Gottes zukünftige Herrschaft in einer Lebenswelt, in der soziale Gerechtigkeit, Frieden und der Schutz der Schwachen sowie der ausgebeuteten Natur verwirklicht werden, eine realistische Kontur gewinnt.
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Seonggyu Park hat diesen theologischen Ansatz ergänzt und in Auseinandersetzung mit Harvey Cox sowie im Anschluss an Karl Barths »Christengemeinde und Bürgergemeinde« vertieft. Die säkulare Gesellschaft ist durchaus religiös geprägt, aber nicht auf das Reich Gottes ausgerichtet. In der säkularisierten Megalopolis kann die Orientierung auf die civitas Dei ihre Plausibilität entfalten, wenn die christlichen Gemeinschaften sich von der Verkündigung Jesu Christi bestimmen lassen, ihre Hoffnung auf das Reich Gottes als Krisis der säkularen Stadt erfahren und ihre Praxis darauf fokussieren. Michael Welker hat diese Praxis im Blick auf die drei Ämter Christi, das königliche, priesterliche und prophetische Amt, entfaltet und klargemacht, mit welcher Geistesgegenwart und gesellschaftlichen Verantwortung die christliche Gemeinde als Kirche, Sakramentsgemeinschaft und in der Gestalt von Initiativgruppen in der städtischen Gesellschaft wirksam werden und soziale Veränderungen erreichen kann. Er führt die Wahrnehmung dieser Aufgaben durch den Hinweis auf die politische Verantwortung, die gottesdienstlich-sakramentale Feier sowie die diakonische Nachfolge aus. Hier kommt er auch auf die Garten-Metapher zurück und schlägt die Einrichtung von multikulturellen Parks vor. 7. Jürgen Moltmann argumentiert vor diesem Hintergrund in einer analogen Perspektive und entwirft im Vorschein des Neuen Jerusalem das Bild einer Stadtkultur, die Natur und Kultur zu einer Lebenseinheit verbindet: eine Stadt ohne Mauern, von der Impulse für eine demokratische, solidarische Umgestaltung der Stadtkultur ausgehen: eine offene und gastfreundliche urbane Gesellschaft, in der Konflikte friedlich gelöst werden und die Fülle des Lebens nicht konsumiert wird, sondern genossen werden kann. Die Demokratisierung der kapitalistischen Stadt stellt Moltmann unter fünf Gesichtspunkten dar, die ich hier nur in Stichworten in Erinnerung rufe: – keine Privatisierung von Gemeineigentum. Dem entsprechen die global commons: Luft, Wasser, Boden, Licht, Sicherheit; – Stadtökologie als zentrales Thema: Parks, Gartenstadt, auch Friedhöfe als Lebenszellen in der Betonwüste; – Humanisierung der globalen Kultur des urbanisierten Menschen: »Denke global – iss saisonal – handle lokal!«, auch im interkulturellen Dialog gegen die Einheitskultur. – Der Glaube ist in der globalen Stadt nicht aus Milieuverwurzelung und Tradition entstanden, sondern durch Überzeugung. Unter den heutigen Bedingungen der Bindungsschwäche hat der persönliche Glaube ein größeres Gewicht als die Zugehörigkeit: Die Quantität der Mitglieder nimmt ab, die Qualität des gelebten Glaubens nimmt zu.
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Hans Norbert Janowski
– Die christliche Gemeinde in der Stadt (besonders als freiwillig zusammengeschlossene Hausgemeinde) profiliert sich als eine Kontrastgemeinschaft gegenüber der Konkurrenzgesellschaft: Sie lebt in offenen Gemeinschaften, übt Gastfreundschaft, führt den interreligiösen Dialog, lebt in verlässlicher Gemeinschaft gegen die Vereinzelung und partizipatorisch in der Bürgergesellschaft und tritt für das Gemeinwohl gegen den Eigennutz ein. Die Alternative zum Kontrast von Arm und Reich stellt sich in der verlässlichen Gemeinschaft dar: Sie ist gegenüber Fremden, Migranten und Angehörigen anderer Religionen nicht auf Verdrängung oder Vernichtung aus, sondern auf die Respektierung des Andersseins. Moltmann stellt die Maximen der Französischen Revolution in der Reihenfolge um: Gleichheit – Freiheit – Brüderlichkeit. Die Ökumene sagt in analoger Umstellung seit Vancouver 1983: Gerechtigkeit – Frieden – und Bewahrung der Schöpfung. Jürgen Moltmann traut den christlichen Hausgemeinden und Aktionsgruppen in der Megalopolis zu, diese großen Aufgaben anzupacken und als geistliche Lebenszellen eine Sauerteigwirkung im Prozess der sozialen Veränderungen in der Großstadtkultur hervorzubringen – eine Wirkung, die nicht nur katalysatorischen, sondern transformierenden Charakter hat. Hier wurde die kritische Frage gestellt, ob das nicht einer Privatisierung der Hoffnung den Weg bahnt, welche die institutionell gesicherte Freiheit der Kirche abzuschreiben riskiert. 8. Fazit Die Stadt als Zukunftsgestalt der global kommunizierenden Menschheit ist ein zentrales Thema unserer Tage. Jahraus-jahrein tagen Kongresse, werden Stadtplaner zu Heroen oder Scheusalen der urbanen Zivilisation – zur Zeit findet die Architektur-Biennale in Venedig unter Rem Koolhaas’ massiver Verurteilung der Stadtarchitektur des letzten halben Jahrhunderts statt; und in der Nähe tagte in dieser Zeit (24.–25. Juni 2014), veranstaltet von der »Stuttgarter Zeitung«, ein anspruchsvoller Fachkongress für Städtebau. Der Umbruch der Stadtkultur wirft Probleme von einer Größenordnung auf, deren Prozesssteuerung den politischen Planern und Administratoren aus den Händen gleitet. Die Partizipation der Kräfte der Zivilgesellschaft, die Entwicklung von angemessenen demokratischen, gewaltfreien und geregelten Verfahren der bürgerlichen Teilnahme sind hier vonnöten, um der Priorität des Gemeinwohls vor dem Eigennutz wirtschaftlicher Interessen Geltung und Gewicht zu verschaffen. Die christlichen Gemeinden und Kirchen sowie die anderen religiösen Gemeinschaften sind ein nicht zu übersehender Faktor an der Basis der Zivilgesellschaft. Sie müssen dazu freilich die Beweggründe der gesell-
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schaftspolitischen Verantwortung ihres Glaubens so konkret, sachgerecht, allgemein verständlich und belastbar zum Ausdruck bringen und öffentlich kommunizieren, dass sie in den Prozess eingreifen und sich beteiligen können. Wie sollte es sonst möglich sein, auf die Lösung eines Problems wie dieses Einfluss zu nehmen: Was kann getan werden, um den politischen Institutionen die Planungs- und Steuerungshoheit im Städtebau zu erhalten oder zurückzugewinnen, die sie gegen die wirtschaftlichen Interessen der global agierenden Investoren verloren haben oder durch Korruption zu verlieren drohen? Die kirchlichen Gemeinschaften im Herzen der Städte sind hier mit anderen Bürgerinitiativen gefragt – besonders nach Lebenswerten und Zielen für eine gelingende Zukunft der urbanen Kultur. Sie bedürfen dazu einer substanziellen theologischen Fundierung und ethischer Normen, aus denen sich pragmatische Handlungsziele gewinnen lassen. Dafür wollte das Symposium »Die Stadt« den Weg ebnen.
Abstract Particularly in megacities, the transformation of urban culture creates new challenges for modes of conviviality and for the infrastructure that cannot be met by the administration alone. Rather, the development of democratic, non-violent and orderly procedures for participation in the civil society is required to strengthen the priority of public welfare over economic interests. Christian Churches and other religious communities are an important cultural and social factor of the civil society. The symposium »The City« has explored historical realities and actual potentials with regard to how they assume the social responsibility of faith in megacities and how they are able to intervene in segregating political and social processes in urban culture. In this context, European churches that undergo a process of decline with regard to their numbers can profit from the experience young churches, especially in Korea.
Jürgen Kampmann
Wort zum Abschluss des Symposions
Sehr verehrter Herr Präsident Yu, sehr verehrter Herr Präsident Kim, sehr geehrte, Gäste und Mitwirkende von unseren Partneruniversitäten aus Seoul, verehrte Mitwirkende und Teilnehmende an diesem Symposion, meine Damen und Herren! Wir stehen am Schluss unseres Symposions »Die Stadt«. Mein herzlicher Dank gilt allen Mitwirkenden für ihre Beiträge, besonders Herrn Janowski für die heute geleistete Zusammenschau dessen, was in den beiden zurückliegenden Tagen zur Sprache gebracht worden ist. Längst nicht alle zum Themenfeld in Erwägung zu ziehenden Aspekte haben wir durchmustert – ich nenne als Stichworte nur: – die Stadt in der Raumplanung der Gegenwart, städtisches Wohnen und Leben aus Sicht der Architektur, – neutestamentliche Gesichtspunkte und – die Frage nach der Bedeutung der Stadt, insbesondere der Stadt Gottes, Jerusalems, in der Hymnologie als Ort der Hoffnung. Um nur für Letzteres ein Beispiel zu nennen: Johann Matthäus Meyfart hat 1626 gedichtet – sein Lied findet sich auch heute noch deutschlandweit im Evangelischen Gesangbuch –: Jerusalem, du hochgebaute Stadt, / wollt Gott, ich wär in dir! / Mein sehnend Herz so groß Verlangen hat / und ist nicht mehr bei mir / Weit über Berg und Tale, / weit über blaches Feld / schwingt es sich über alle / und eilt aus dieser Welt. Es gibt also weiter Anlass, dem Themenfeld »Stadt« nachzugehen und die Arbeit mit unseren Partnern in Seoul fortzusetzen. Eine terminliche Perspektive dazu für das Jahr 2015 haben wir schon – und angesichts dessen ist es wohl möglich, zum Abschied heute zu formulieren: Über’s Jahr – wenn nicht in Jerusalem – so aber doch in Seoul!
Autorinnen und Autoren
Hyun-Jong Choi, Dr. theol., Professor für Religionssoziologie an der Seoul Theological University, Seoul. Ruth Conrad, Dr. theol., Professorin für Praktische Theologie (mit Schwerpunkt Homiletik/Liturgik und Kybernetik) an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Hans Norbert Janowski, Pfarrer i.R., bis 2002 Direktor des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik, Frankfurt/Main. Jens Kamlah, Dr. theol., Professor am und Direktor des BiblischArchäologischen Instituts der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen, Vorsitzender des Deutschen Palästina-Vereins (DPV). Jürgen Moltmann, Dr. theol. Dr. h.c. mult., em. Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Seounggyu Park, Dr. theol., Assistant Professor für Systematische Theologie am Institut für das christliche Denken und die christliche Kultur der Presbyterian University and Theological Seminary, Seoul. Reinhold Rieger, Dr. phil., apl. Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Michael Welker, Dr. theol. Dr. phil. Dres. h.c., Seniorprofessor für Systematische Theologie und Direktor des Forschungszentrums Internationale und Interdisziplinäre Theologie (FIIT) an der Universität Heidelberg, Honorarprofessor an der Seoul Theological University und Mitglied der Heidelberger und der Finnischen Akademie der Wissenschaften.
Ortsregister
Aachen 103f., 111, 122, 127 Pfalzkapelle 137 Ägypten 59 Alpenraum [Region] 125 Amerika [Kontinent] 85 Amman 64 Ammon [Königtum] 64f. Anatolien [Region] 59 Anyang 33 Arabien 81 Arad 66 Aram [Königtum] 64f. Argentinien 87 Aseka s. Tell Zakariye Assisi 111 Atarot 69 Athen 81, 87 Marktplatz 87 Augsburg 106, 124–126, 131 Babel 54, 72f., 78 Babylon 2, 54, 72f., 79, 136 Bad Hersfeld 114 Bamberg 103f., 110f. 115, 130 Basel 125, 133, 135 Bebenhausen [Kloster] 100, 114 Beerscheba s. Tell es-Seba Beilngries 105 Berlin 80, 83, 133, 149 Alexanderplatz 83 Kino Babylon 49 Lehrter Bahnhof 87 Tiergarten 86 Berlin-Grunewald 86 Berlin Mitte 49 Berlin-Zehlendorf 82 Bet-Schemesch s. Tell er-Rumele Bet-Zur s. Hirbet et-Tubeqa
Bethel s. Betin Bethlehem 137 Beth-Schean / Beth Schean s. Tell el-Husn Betin 67, 90 Blaubeuren 114 Kloster 126 Blautopf [Gewässer] 114 Bochum 44, 135 Brabant 112 Brasilien 20 Bremen Liebfrauenkirche 102 Breslau 117, 130 Buenos Aires Plaza de Mayo 87 Büraburg 98 Bukarest 83 Bundang 30 Busan 25 Cambrai Heiligkreuzkirche 106 Canterbury 103 Chalcedon 97 Chartres 110 China 81, 159 Chungging 79 Cluny Cluny III [Kirche] 113 Conques St. Foy [Kirche] 113 Daegu 25 Daejeon 24 Dänemark 110 Damaskus [Königtum] 64f. Damaskus [Stadt] 64 Dan s. Tell el-Qadi
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Ortsregister Debir s. Hirbet Rabud Delhi 146 Deutsches Reich 115, 133 Deutschland 20, 43–48, 50f., 82, 86, 88f., 108, 110, 124, 133, 135, 146, 149, 157, 159f., 165 Deventer 132 Dibon 64 Dillingen 130 Dinkelsbühl 100, 122 Pfarrkirche 100 Dortmund 44, 107 Dotan s. Tell Dotan Düsseldorf 44 Duisburg 44 Echternach 113 Eden [Garten] 80, 83 Edom [Königreich] 64 Eichstätt 105f., 110 Einsiedeln 111 Ekron 69 El Salvador 33 el-Gib 67 Emden 127 England 27, 89, 108 Erfurt 91, 98, 117, 125 Essen 44, 82 Esslingen (Neckar) 44, 115, 124 Etsch [Fluss] 100 Europa [Kontinent] 47, 79, 81, 87, 97, 105, 112, 120, 128, 131, 145, 149 Eutin 102 Florenz 87, 103, 122 Frankfurt (Main) 120, 126f., 132f., 146 Frankreich 100, 110, 113 Freising 114f., 131 Freudenstadt 127 Fulda 112–114, 130 Galiläa 12 Gelsenkirchen 44 Genezareth [See] 64 Genf 89, 122, 133 Germanien 99 Geser/Gezer s. Tell Gazari Gibeon s. el-Gib
Gießen 130 Glurns Pfarrkirche 100 Göppingen 100, 124 Pfarrkirche 100 Gomorrha 12 Goslar 104 Gran-Esztergom 100 Graz 130 Groß Comburg [Kloster] 137 Gwangju 25 Gyeonggi-do 24–26, 30 Hagen 44 Halberstadt 103, 108 Halle (Saale) 132–134, 159 Franckesche Stiftungen 134 Hamburg 91, 127 Rauhes Haus 134 St. Georg 134 Hamburg-Eimsbüttel 82 Hamm (Westfalen) 44 Han [Fluss] 11 Hannover Stadtkirche 91 Hazor s. Tell Waqqas Hebron s. Tell er-Rumede Heidelberg 83, 118 Heilbronn 44, 122, 133 Hellweg [Reiseweg] 107 Herrnhut 127 Hersfeld s. Bad Hersfeld Hildesheim 103, 106 Dom 106 Hirbet Belameh 67 Hirbet el-Qom 67 Hirbet et-Tubeqa 67 Hirbet ez-Zeraqon 66 Hirbet Qeiyafa 64 Hirbet Rabud 67 Hiroshima 91 Holland s. Niederlande Hongkong / Hong Kong [Stadtstaat] 31, 86 Kowloon [Halbinsel] 145 Kowloon Walled City 145 Hum 148
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Ortsregister
Ilsan 30 Incheon 24–26, 30, 32f. Incheon-Nam 38 Indien 81, 135 Ingolstadt 125, 130 Iria 112 Irland 113 Israel 54–60, 63–65, 67–73, 77f., 159 Istanbul Taxim [Platz] 158 Istrien [Halbinsel] 148 Italien 98f., 110
Konstanz 103–106, 110 St. Johann [Kirche] 103 St. Lorenz [Kirche] 103 St. Mauritius [Kirche] 103 St. Pauls-Kirche 103 Konstanz-Petershausen Kloster 103 Korea s. Südkorea Krakau 100 Krefeld 44 Kroatien 148
Jakarta 146 Japan 28 Jericho s. Tell es-Sultan Jerusalem 9, 56, 58, 64, 67–69, 71– 73, 78, 80, 89, 92, 103f., 109, 112, 137, 157 Jerusalem [himmlische Stadt] 9, 12, 79, 83, 103, 133, 136f., 157, 161, 165 Jerusalem [neues] s. Jerusalem [himmlische Stadt] Jibleam s. Hirbet Belameh Jokneam s. Tell Qemun Jordangraben 64 Juda(h) [Königreich] 55–58, 60, 63– 65, 67–73, 77f., 159 Jungdong 30
Lachisch s. Tell ed-Duwer Lagos 44, 80 Lateinamerika [Kontinent] 19, 27, 79, 81, 88 Le Mans 107 Le Puy en Velay 110 Leipzig 86, 120 Lincoln [England] 108 Lippstadt Stiftskirche 102 Loire [Fluss] 113 Lombardei 110 London 31, 80, 83, 85f., 134 Hyde-Park 86 Victoria Station [Bahnhof] 87 Los Angeles 79, 89 Azusastreet 89 Lothringen 112 Ludwigsburg 44 Ludwigshafen 82 Lübeck 102, 111, 124 Dom 111 St. Marien [Kirche] 111 Lüttich 103, 105f., 111f. Lyon 121
Kairo Tah(r)ir [Platz] 87, 158 Kanaan 63 Karlsruhe 118 Kassel 86 Kastilien [Region] 120 Katalonien [Region] 110 Kevelaer 112 Kiew Maidan/Majdan [Platz] 87, 158 Kinneret s. Tell el-Oreme Köln 44, 99f., 102–104, 111, 113, 115, 117, 125f., 129f. Heiligkreuzkirche 106 Marktplatz 113 Mauerring 103 St. Pantaleon [Kloster] 115
Maastricht 111 Magdeburg 119 S. Mauritius [Kloster] 115 Mailand 107, 120f. Mainz 99, 103, 108, 115, 130 Makkeda s. Hirbet el-Qom Manila 80 Mannheim 82, 127 Eintrachtskirche 127 Marescha s. Tell Sandahanna
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Ortsregister Mayence s. Mainz Medina del Campo 120 Megiddo s. Tell el-Mutesellim Merowingerreich 97 Mesopotamien 59, 65, 73, 81 Metz 99, 106, 115 St. Arnulf [Kloster] 99 Mexico City 79, 146 Minden 103 Dom 102 Mitteleuropa 157, 159 Mittelitalien 105 Mizpa s. Tell en-Nasbe Moab [Königreich] 64f. Mönchengladbach 44 Molsheim 130 Mühlhausen 118 Münster (Westfalen) 126, 130, 135 Überwasserkirche 106 Münsterschwarzach [Kloster] 115 Mumbai 31 Nagasaki 91 Neapel 85 Neuassyrisches Reich 71–73 Neubabylonisches Reich 72 Neuburg (Donau) 127 New York (City) 31, 86, 88, 146 Central Park 86 New York-Manhattan 86, 145 Nizäa 97 Niederlande 110, 112, 127, 132 Nigeria 33 Ninive 12, 72 Nordamerika 47 Norddeutschland 124 Nordeuropa 111 Nordhausen 122 Nordkorea 27 Nürnberg 111, 115, 117, 122f., 125, 133 Oberhausen 44 Oberhofen 100 Oberitalien 105, 121 Österreich 111 Olmütz 130 Orléans 120 Osnabrück 130
Ostasien 31, 81 Osteuropa 100 Ost-Holstein 111 Paderborn 103, 105–109, 126, 130 Dom 102, 105f. Palästina 55–66, 68–70, 72f., 81 Paris 80, 132 Place de la Concorde [Platz] 83 Paris-Saint Germain [Abtei/Stadtteil] 116 Patagonien 85 Peking 85f. Altar der Erde 81, 90 Halle des Volkes 82 Himmelsaltar 81, 90 Mausoleum 82 Platz des himmlischen Friedens s. Tian’anmen/Tian-anmen [Platz] Tian’anmen/Tian-anmen [Platz] 81, 87, 158 Pella 69 Philistäa 64f. Phönizien 64f. Polen 100, 110, 122 Portugal 127 Prag 101 Preußen 114 Pyeongchon 30 Pyrenäen [Gebirge] 121 Rabat-Bene-Ammon s. Amman Regensburg 103, 122 St. Emmeran [Kloster] 115 Republik Korea s. Südkorea Reutlingen 44, 100, 124 Peter und Paul [Pfarrkirche] 100 Rhein [Fluss] 82 Niederrhein 112 Oberrhein 127 Rhein-Ruhr [Metropol-Region] 44, 82, 160 Riga 83 Rio de Janeiro Cobacabana [Strand] 86 Rom(a/e) 12, 81, 86, 90, 92, 102–106, 108–112, 124, 137 Lateranbasilika 103, 106 Peterskirche s. St. Peter
172 San Giovanni in Laterano s. Lateranbasilika San Paolo fuori le mura s. St. Pauls-Kirche San Pietro in Vaticano s. St. Peter Sta. Maria Maggiore 106 St. Pauls-Kirche 103, 106 St. Peter 103, 106 Rothenburg (ob der Tauber) 119, 122, 124 Ruhrgebiet s. Rhein-Ruhr [Metropolregion] Russland 87 Salzburg 115, 130 Samaria [Stadt] s. Sebastiye Sanbon 30 Santiago (de Chile) 85 Santiago de Compostela 112 Sao Paulo 79f. Sardica 97 Schaffhausen 113 Scherpenheuvel (Montaigu) [Wallfahrtsort] 112 Schinar 54, 73 Schwäbisch Hall 137 Schweinfurt 122 Sebastiye 58, 64, 67, 72 See Genezareth s. Genezareth [See] Segringen 100 Seidenstraße [Handelsstraße] 81 Seligenstadt 114 Seoul [Megacityregion] 25f., 29f., 33, 36–40 Anyang 33 Gangnam 30, 32, 38 Incheon 24–26, 30, 32f., 38 Incheon-Nam 38 Jung 37 Mapo 37f. Mokdong 30 Sang-gye 30 Seocho 37 Seongbuk 38 Seongdong 37 Suwon 33 Seoul [Stadt] 9–12, 23–26, 29–33, 36–38, 42f., 79f., 91, 146, 152, 159, 165
Ortsregister Shanghai 31, 79, 146 Sichem s. Tell Balata Siebenbürgen [Region] 122 Siegburg 113 Siena 87 Sindelfingen 128 Singapur 31 Slowenien 127 Sodom 12 Soest Wiesenkirche 102 Spanien 110, 127 Speyer 115 St. Arnulf [Kloster] 99 St. Benoit sur Loire [Kloster] 113 St. Gilles 110 St. Nicola de Port 112 Straßburg 89, 115, 117, 121f., 125 Augustinerkloster 115 Dominikanerkloster 115 Franziskanerkloster 115 Karmeliterkloster 115 Sackbrüderkloster 115 Stuttgart [Metropolregion] 44 Stuttgart [Stadt] 44, 48f., 126f., 133 Wizemann [Konzerthalle] 49 Sudogwon s. Seoul [Megacityregion] Südamerika s. Lateinamerika Süddeutschland 122 Südeuropa 98 Südkorea 5, 13, 15, 23–33, 35–36, 38f., 42, 46, 88, 153, 157, 163 Chungcheongbuk-do [Provinz] 24 Chungcheongnam-do [Provinz] 24 Gangwon-do [Provinz] 25 Gyeonggi-do [Provinz] 24–26, 30 Gyeongsangbuk-do [Provinz] 25 Gyeongsangnam-do [Provinz] 25 Jeju/Jeju-do [Provinz] 25 Jeollabuk-do [Provinz] 25 Jeollanam-do [Provinz] 25 Südostasien 157 Südtirol 100 Suwon 33 Syrien 59, 63, 65, 110 Syrien-Mesopotamien 73 Syrien-Palästina 69
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Ortsregister Taanach s. Tell Taanek Taipei 31 Tell Abu Haraz 64 Tell Balata 67 Tell Beit Mirsim 66 Tell Dotan 67 Tell ed-Duwer 66–68, 70 Tell el-Fara (Nord) 67 Tell el-Husn 67, 69 Tell el-Mutesellim 66–68 Tell el-Oreme 64, 67 Tell el-Qadi 67, 69 Tell el-Qasile 69 Tell en-Nasbe 66f. Tell er-Rumede 67 Tell er-Rumele 67f. Tell es-Seba 66–68 Tell es-Sultan 67, 81 Tell Gazari 67f. Tell Qemun 67 Tell Sandahanna 67 Tell Taanek 67 Tell Waqqas 67f. Tell Zakariye 67 Thüringen [Bundesland] 122, 124 Tirol [Region] 131 Tirza s. Tell el-Fara (Nord) Tokio/Tokyo 31, 85, 146 Toulouse 121 Treveris s. Trier Trient 105 Trier 103f., 106, 111, 115, 130 St. Matthias [Kloster] 110 St. Maximin [Kloster] 115 Tübingen 10–12, 44, 53, 80, 83, 85, 114, 126–130 Pfleghof 114 St. Georg [Stiftskirche] 100 Tübingen-Derendingen 82 Tyros 72
Uruk 72, 81 USA 28, 35, 39, 86 US-Amerika s. USA Utrecht 103, 106, 112, 132
Ulm 100, 127, 131, Münster [Kirche] 100 Pfarrkirche 100 Ulsan 25 Ungarn 100
Zhongnanhai [Bezirk] 82 Zion [Berg] 69, 73, 80 Zürich 89, 122f.
Vatican 104 Venedig 111, 162 Markusdom 111 San Marco [Platz] 87 Veneto [Region] 122 Vereinigte Staaten s. USA Verona 105, 121 Vicenza 122 Vinschgau [Region] 100 Waldbronn 53 Weihenstephan 115 Weihrauchstraße [Handelsstraße] 81 Weißenburg (Bayern) 122 Weißenburg (Elsass) 113 Wesel [Stadt] 126f. Westdeutschland 122 Wien 131 Winchester 108 Windesheim 132 Winnenden 91 Wittenberg 122, 125, 129f. Wladiwostok 83 Worms 115 Württemberg 114, 124, 126, 130f., 135 Alt-Württemberg 126 Würzburg 98, 105f., 108, 110, 115 Bischofskirche (Neumünster) 106 S. Andreas [Kloster] 106 Wuppertal 44 Xanten 114 York 108 Ypern 110
Personenregister
Adalhar [Heiliger] 112 Aethelwold [Bischof von Winchester] 108 Albert VII. [Erzherzog von Österreich, Statthalter der Niederlande] 112 Alderich [Bischof von Le Mans] 107 Alexander (der Große) 73 Andreä, Jakob 124 Aquin, Thomas von 117 Arnold von Brescia 122 Augustinus 137 Barth, Karl 16, 18–20, 153, 161 Becher, Matthias 108 Bendemann, Reinhard von 58 Berger, Peter 45 Berthold von Regensburg 115 Bird, Warren 33 Bloch, Ernst 82, 85 Bodenstein, Andreas (genannt Karlstadt) 124 Bolt, Usain 151 Bonhoeffer, Dietrich 14f. Bonifatius [Erzbischof] 98, 112, 114 Bonifaz VIII. [Papst] 116 Bonifaz IX. [Papst] 108 Brenz, Johannes 124, 126 Bruce, Steve 27 Brun von Köln [Erzbischof] 111 Bucer, Martin 124 Bugenhagen, Johannes 124 Burkhard von Würzburg [Bischof] 106, 108, 110 Busch, Johannes 132 Calvin, Johannes 124, 153 Capistran, Johannes 117 Castells, Manuel 37, 39f. Cho, David Yonggi 29 Choi, Hyun-Jong 10, 43f., 46–48, 52, 159
Christoph [Herzog von Württemberg] 127 Cimino, Richard 34 Cox, Harvey 13–15, 17f., 46, 89, 136, 161 Cranach, Lukas der Ältere 125 Cranach (Gebrüder) 125 Dauth, Maximilian 133 David [König] 80, 137 Dever, William 57 Dylan, Bob 150 Ebner, Martin 58 Eck, Johannes 125 Eglon [König] 70 Eoban [Bischof] 112 Erhart, Michel 131 Ezechiel [Prophet] 70, 80 Faust, Avraham 57 Francke, August Hermann 132 Franklin, Aretha 150 Friedrich II. (der Große) [König von Preußen] 133 Fritz, Volkmar 56f. Gebhard [Bischof] 103, 105 Georg [Heiliger] 119 Geus, Cornelis Hendrik Jan de 57 Girardet, Herbert 31, 37 Goodnick Westenholz, Joan 59 Gradmann, Robert 95 Graf, Steffi 151 Groote, Geert 132 Guinness, Os 35 Ha, Hong-Kyu 35f. Harnack, Adolf von 136 Heinrich II. [Kaiser] 104 Heinrich II. [König] 119 Heinrich III. Fabri [Abt] 126
175
Personenregister Henoch 53 Herbst, Michael 49 Herzog, Ze’ev 57 Hiskia [König] 69 Hong, Yeonggi 32, 35 Hrabanus Maurus 137 Humbert von Romans 115 Innozenz III. [Papst] 121 Isabella [Clara Eugenia, Statthalterin der Niederlande] 112 Jahwe [Gott Israels] 53f., 69, 71, 73, 80 Jakob [Erzvater] 80, 90 Jakob von Vitry 118 Jakobus [Apostel] 112, 120 Jesus Christ(us) 12, 15–18, 21, 152f., 160 Jesus von Nazareth s. Jesus Christus Johannes [Evangelist] 103, 106 Johannes [Seher] 9, 80 Johannes [Täufer] 103, 106, 111 Jonas, Justus (der Ältere) 124 Jordan, Michael 151 Jordan von Quedlinburg 115 Jüngel, Eberhard 15 Kain 53 Karlstadt s. Bodenstein, Andreas (genannt Karlstadt) Katharina [Heilige] 120 Kessler, Rainer 57 Kilian [Märtyrer] 106 Kim, Myung-Yong 9–11, 152f., 160, 165 Kim, Myung Yong s. Kim, Myung-Yong Knoblauch, Hubert 47 Konrad [Bischof] 103, 105 Koolhaas, Rem 162 Krispenz, Jutta 58 Lambert [Bischof] 112 Laquian, Aprodicio A[…] 31 Lattin, Don 34 Laurentius 106 Leibniz, Gottfried Wilhelm 133 Leone, Michael de 108 Liborius [Bischof] 106, 109 Luther, Martin 124f., 129
Maffesoli, Michel 35, 40 Magnus, Albertus 117 Maier, Christl 58 Maier, Theresia 137 Mao Tse-tung/Zedong 82, 86 Marduk [Stadtgott Babels] 54 Maria 105f., 120, 137 Marie Antoinette 87 Martin von Tours 106 Matthias [Apostel] 110 Mauritius [Märtyrer] 119 McCartney, Paul 150 Meinwerk [Bischof von Paderborn] 105 Melanchthon, Philipp 124, 126 Merian, Matthäus 93 Meyfart, Johann Matthäus 165 Michael [Erzengel] 105 Moltmann, Elisabeth 9, 53 Moltmann, Jürgen 9, 11, 18f., 53, 153, 158, 161f. Mose 80 Müller, Günter 53 Multscher, Hans 131 Nikolaus [Bischof] 111f., 120 Niemann, Hermann Michael 57 Noth, Martin 56, 68 Omri [König] 64 Oorschot, Jürgen van 58 Osiander, Andreas 122–124 Otto von Bamberg [Bischof] 110 Park, Seounggyu 10, 43f., 46, 51f., 161 Park, Seonggyu s. Park, Seounggyu Park, Sund-Gyu s. Park, Seounggyu Paulus [Apostel] 87, 89, 105f., 118 Petrus [Apostel] 105f. Peursen, Cornelis Anthonie van 14 Pinochet Ugarte, Augusto José Ramón 85 Radewijns, Florentinus 132 Reihing, Jakob 127 Reinoldus [Heiliger] 107 Rhee, Jong Sung 153 Rhegius, Urbanus 124 Ritschl, Albrecht 136 Robespierre, Maximilien de 87
176 Rosenbach, Johann Georg 133 Rubens, Peter Paul 131 Rudolf I. [König und Herzog von Österreich und der Steiermark] 119 Salomo 69, 80 Salomo bar Simson 103 Sanherib [König] 69 Schäfer-Lichtenberger, Christa 57 Schart, Aaron 58 Schreber, Moritz 86 Schwöbel, Christoph 44, 136 Sebald von Nürnberg 111 Semler, Johann Salomo 133 Sheldrake, Philip 136 Sozzini, Faustus 122 Spangenberg, Johann 124 Spener, Philipp Jakob 132 Spengler, Lazarus 123 Spinks, Bryan Douglas 49 Spitz, Mark 151 Stalin, Josef Wissarionowitsch 83 Stefan s. Stephanus [Diakon] Stephan s. Stephanus [Diakon] Stephanus [Diakon] 70, 106 Sydow, Jürgen 99 Syngman, Rhee 28 Syrlin, Jörg 131 Tennhardt, Johann 133 Theodomir [Bischof von Iria] 112 Thomas von Kempen 132 Tiwald, Markus 58
Personenregister Trautwein [Gastwirt in Stuttgart, Radikalpietist] 133 Troeltsch, Ernst 136 Truber, Primus 126f. Tumolo, Valentina 53 Turner, Tina 150 Twitchell, James B[…] 33 Uehlinger, Christoph 73 Ulrich von Straßburg 117 Ungnad, Hans 126 Vergerio, Pietro Paolo [Bischof] 127 Visconti, Ottone [Erzbischof] 107 Voltaire 133 Weber, Max 57, 135 Welker, Christiane 154 Welker, Michael 158–161 Wenzel von Böhmen 101 Wichern, Johann Heinrich 134 Wilder, Amos 17f. Willibald von Eichstätt [Bischof] 110 Wörner, Laura 53 Wolff, Christian 133 Wolgemut, Michael 93 Yu, Seok-Seong 9f., 165 Zacharias [Papst] 98 Zinzendorf, Nikolaus August Graf von 127 Zwickel, Wolfgang 58 Zwingli, Huldrych/Ulrich 123