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German Pages [176] Year 2015
Georg Auernheimer
Einführung in die Interkulturelle Pädagogik 8. Auflage
Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim
Für Manuela und Anton
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Bestellnummer 15498-3 Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 8., unveränderte Auflage 2016 i 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 1990 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-26776-7 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74091-8 eBook (epub): 978-3-534-74092-5
Inhalt Vorwort zur 7. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee . . 1.1. Gesellschaftliche Anlässe . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die Leitmotive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Über korrekte Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Interkulturelle Erziehung im internationalen Vergleich 1.5. Förderliche und hinderliche Rahmenbedingungen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Interkulturelle Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Der Diskussionsverlauf seit 1970 . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Theoretische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Theoretische Grundlagen I . . . . . . . . . . . . . 3.1. Multikulturelle Gesellschaft . . . . . . . . . 3.2. Bildung und (kulturelle) Identität . . . . . . . 3.3. Kultur, kulturelle Praxen . . . . . . . . . . . 3.4. Akkulturation, Stufen interkulturellen Lernens
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4. Theoretische Grundlagen II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Vorurteile und Ethnozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Rassismustheorien und -forschung . . . . . . . . . . . . . .
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5. Theoretische Grundlagen III . . . . . 5.1. Verstehensgrenzen, Fremdheit 5.2. Interkulturelle Kommunikation 5.3. Interkulturelle Kompetenz . .
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6. Konzepte interkultureller Bildung . . . . . . . . . . . 6.1. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . 6.2. Interkulturelles Lernen als stufenweiser Prozess 6.3. Anti-Bias- und Diversity-Ansatz . . . . . . . . 6.4. Umgang mit kulturellen Differenzen . . . . . . 6.5. Befähigung zum interkulturellen Dialog . . . . 6.6. Multiperspektivische Bildung, Mehrsprachigkeit 6.7. Antirassistische Erziehung . . . . . . . . . . .
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7. Migrationspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1. Das Praxisfeld Integrationshilfen . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Die interkulturelle Öffnung der Institutionen . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis
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Register
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Vorwort zur 7. Auflage Die Interkulturelle Pädagogik hat sich in den letzten Jahrzehnten als Fachgebiet etabliert, was sich in eigenen Lehrstühlen, Instituten und einer eigenen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft manifestiert. Als die erste Auflage dieser Einführung 1990, angeregt vom Lektorat der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, erschien, war dem noch nicht so. Der damalige Titel hieß denn auch bescheiden „Einführung in die interkulturelle Erziehung“. Erst die dritte Auflage von 2003, überarbeitet und erweitert, war als „Einführung in die Interkulturelle Pädagogik“ ausgewiesen. Schon die zweite Auflage war erweitert und ergänzt worden, und auch bei der fünften waren Ergänzungen nötig, was die Lebhaftigkeit der Diskussion auf diesem Gebiet zeigt. Es erklärt sich aber auch aus der Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Entwicklungen. Die hier vorgelegte siebte Auflage hat eine umfangreiche Aktualisierung des Textes erforderlich gemacht, zum einen genötigt durch veränderte Rahmenbedingungen, speziell eine neue Migrationspolitik, zum anderen im Hinblick auf neue Themen und Konzepte in der Fachdiskussion, zum Beispiel die Diversity-Programmatik. Dem Aufgabenfeld der Integrationshilfen, für das der Staat mit dem Zuwanderungsgesetz und dem Nationalen Integrationsplan inzwischen zum Teil Verantwortung übernommen hat, habe ich ein eigenes Kapitel unter der Überschrift „Migrationspädagogik“ gewidmet. Ich hoffe, dass diese Neuauflage das Informationsbedürfnis der Leser/innen erfüllt. Bei der Überarbeitung ist mir klar geworden, dass man sich bei vielen Namen von Autor/inn/en, besonders aus anderen Disziplinen, mehr Information zur Person wünschen könnte. Das hätte aber den Rahmen gesprengt. Solche Informationen kann man sich bekanntlich rasch im Internet holen. Vielleicht trägt diese Einführung auch zum Selbstverständigungsdiskurs im Fachgebiet bei. Ich danke Lisa Rosen, ehemals Doktorandin von mir, heute Juniorprofessorin, die so nett war, den ganzen Text gegenzulesen und mir manche Anregung gegeben hat. Besonders danke ich Anna, meiner Frau, die meine Arbeit wie immer sehr unterstützt hat. Traunstein im Mai 2012
Georg Auernheimer
1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee 1.1 Gesellschaftliche Anlässe Die Interkulturelle Pädagogik, im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts als erziehungswissenschaftliche Fachrichtung etabliert, geht auf die Folgen der Arbeitsmigration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Ihre Entwicklung ist – nicht nur in Deutschland – von dieser Migrationsbewegung angestoßen worden, die eine neue Art von Multikulturalität mit sich gebracht hat. Die Arbeitsmigration innerhalb Europas hat sich als Teil weltweiter Migrationsbewegungen herausgestellt. Diese sind eine Folge der globalen wirtschaftlichen Verflechtung, die mit einer kommunikativen Vernetzung (Verkehrsmittel, Medien) einhergeht. Der einheitliche Weltmarkt schafft aufgrund der sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen neue soziale Gegensätze, was Menschen auf der Suche nach einer sicheren Existenz, nach einem besseren Leben zur Wanderschaft treibt. Die allseitige Konkurrenz verleitet auch zur Bildung neuer PseudoGemeinschaften mit vorgeblich kulturellen Grenzen. Andererseits verlieren die Nationalstaaten als Akteure an Bedeutung, weil sie ihre wirtschaftliche und soziale Steuerungsfunktion nur noch begrenzt wahrnehmen können, was unter anderem zur Bildung größerer politischer Einheiten wie der EU veranlasst, die in sich multikulturell sind. Es lassen sich also mindestens drei Anlässe oder Herausforderungen für interkulturelle Bildung und Erziehung ausmachen: erstens die innergesellschaftliche, vor allem migrationsbedingte, Multikulturalität, zweitens die Vereinigung Europas mit seinen unterschiedlichen Sprachen, Traditionen und Kollektivgeschichten, drittens die Herausbildung der Weltgesellschaft mit ihrer kulturellen Vielfalt, mit der Tendenz zu kulturellen Grenzziehungen einerseits und dem Zwang zu Kooperation und zum interkulturellen Dialog andererseits. Multikulturell sind zumindest komplexere Gesellschaften immer schon gewesen, aber die vormoderne Multikulturalität hatte einen anderen Charakter; denn die ethnischen Milieus waren – ebenso wie die Stände – klar voneinander abgegrenzt. Kulturelle Differenzen waren kein Thema, in der Regel auch kein Konfliktstoff. Denn „territoriale und funktionale Trennungen“ genügten, die Weltordnung zu sichern, und beschränkten die Begegnung mit Fremden auf Enklaven und Gelegenheitskontakte. Die Kategorie des „Fremden“ im modernen Sinn gab es noch nicht (Bauman 1996). Vormoderne Gemeinwesen kannten, so Bauman, nur Freund und Feind. Den wenigen Fremden konnte ihr sozialer Ort zugewiesen werden (S. 84). Außerdem fehlte vor der Schaffung der modernden Nationalstaaten der Zwang zur kulturellen Homogenisierung, so dass auch Differenzen nicht virulent wurden. Das Milliyet-System des Osmanischen Reiches zum Beispiel ermöglichte den christlichen Minderheiten ungehinderte Religionsausübung und bis zu einem ge-
drei Herausforderungen
vormoderne Multikulturalität
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee
fremde Welten als das ganz Andere
wissen Grad ein kulturelles Eigenleben. Wichtig für das Herrschaftssystem war nur die Tributpflicht und der Beitrag zur Rekrutierung des Heeres. Ähnliches galt für die europäischen Feudalherren, deren Territorien Gemeinwesen mit unterschiedlichen Lokalsprachen, Sitten und Bräuchen umfassten. Diese Vielfalt konnte aber vernachlässigt werden, zumal die christliche Religion und das Lateinische als Sprache des Kultus, der Gelehrsamkeit und als Verkehrssprache die damals erforderliche Einheit stifteten. Die Juden mit ihrer anderen Religion bildeten das einzig fremde Element. Aber selbst dieser Unterschied sprengte nach Bauman nicht die damalige Ordnung. Denn „… scharf unterschiedene Lebensstile … waren während der Jahrhunderte, die der Moderne vorgingen, gang und gäbe. In diesem Sinne machte die Verschiedenheit der Juden sie nur zu einem Fall unter vielen“ (1996, S. 144). Die Juden wurden in Ghettos eingeschlossen. Für die Fürsten und die gehobenen Stände in Europa hatten sonstige ethnische Unterschiede keinen politischen Stellenwert, und die Angehörigen der niederen Stände, speziell die Bauern, kamen nur in kriegerischen Zeiten und in den Grenzmarken mit Fremden in Berührung, wo es allerdings, zum Beispiel bei der deutschsprachigen Expansion nach Osten und Südosten, schon im Mittelalter zur Diskriminierung der Unterworfenen, hier der slawischsprachigen Gruppen, kommen konnte. Wenn man von den Ketzerbewegungen des Mittelalters, die von Papst und Kaiser mit allen Mitteln bekämpft und fast alle ausgelöscht wurden, absieht, dann ist mit der Reformation zum ersten Mal die Konfession zu einem Unterscheidungsmerkmal und vor allem zu einer politischen Frage gemacht worden, was zu den Glaubenskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts in Europa führte, die vor allem der territorialen Neuordnung dienten. In dem Bemühen der absolutistischen Fürsten, die Bevölkerung ihres jeweiligen Herrschaftsgebiets konfessionell gleichzuschalten, macht sich bereits die neue Tendenz zur nationalstaatlichen Homogenisierung bemerkbar. Vorausgegangen war, was nicht vergessen werden darf, die Vertreibung der Juden und Mauren aus Spanien. Im selben Zeitraum stießen die Europäer zum ersten Mal auf ihren Entdeckungsfahrten und Eroberungszügen auf ihnen völlig fremde Kulturen in der sogenannten Neuen Welt, in Afrika, im Fernen Osten und im Pazifik. Die fremde Welt konnte aber, wie vorher schon die orientalische, als das ganz Andere, als Kuriosum abgetan werden. Man übernahm selektiv einzelnes, was nützlich erschien. Während man allerdings den hoch entwickelten Kulturen der Araber und Osmanen bei aller Konfrontation immer wieder Respekt zollen musste, lösten die „Wilden“ nach kurzer Neugier und Faszination nur Befremden und Schaudern aus. Da diese Welten aber außerhalb am Rande der eigenen Welt existierten und da man über eine überlegene Macht verfügte, konnte man diese Kulturen abwerten, marginalisieren, zwangsweise assimilieren oder auch auslöschen, so dass sich die Auseinandersetzung damit erübrigte. Bestenfalls wurden die „edlen Wilden“ zu positiven Gegenbildern zum eigenen gesellschaftlichen Zustand stilisiert. Die Faszination durch das Fremde schlägt allerdings nur allzu leicht in Abscheu und Ablehnung um. So wechselten sich zum Beispiel in Europa Phasen der träumerischen Fantasie über den Orient und der begeisterten Übernahmen von dort mit Phasen der Feindschaft ab. In jedem Fall fügten sich die fremden Welten bis in die jüngste Zeit der Dichotomie von Innen und Außen.
1.1 Gesellschaftliche Anlässe
„Die Modernisierung war auch ein kultureller Kreuzzug“, so Bauman (1996, S. 145), vom „Universalisierungsehrgeiz der entstehenden Nationalstaaten“ entfacht. Mit der Schaffung der Nationalstaaten seit dem 18. Jahrhundert wurden kulturelle Unterschiede, speziell die Sprachen, zum Politikum, weil neben anderen nationalen Identifikationsobjekten oder -medien vor allem die einheitliche Nationalsprache den Zusammenhalt der neu entstehenden Nation garantieren sollte. Die Nationalliteratur förderte das nationale Bewusstsein der gebildeten Stände. Der Nationalstaat als Wirtschaftsraum drängte die Regionalsprachen und Dialekte ins Abseits, weil der wirtschaftliche Verkehr und mit der Industrialisierung auch die Binnenwanderung die sprachliche Homogenisierung erzwangen. Die – teils damit verbundene, teils zusätzlich betriebene Abwertung der Minderheitensprachen und Dialekte – führte dazu, dass diese in den bürgerlichen Schichten zunehmend weniger benutzt wurden, wobei regionale und nationale Ausnahmen von diesem Trend nicht übersehen werden dürfen. Soweit die Abwertung nicht ausreichte, wurden Dialekte und Regionalsprachen verboten. Schule und Militär waren die bevorzugten Institutionen der nationalen Vereinheitlichung. Die anfänglich meist von allen führenden Schichten unterstützte Homogenisierung stieß allerdings im 19. Jahrhundert auf Gegenbewegungen, die selbst wiederum von Intellektuellen im weitesten Sinn des Wortes, nämlich Geistlichen, Lehrern, Schriftstellern, bürgerlichen Notabeln, initiiert und getragen wurden, die nun den Wert ihrer Regionalsprachen und damit auch anderer regionalen Eigenheiten entdeckten. Damit begann der Diskurs über Ethnizität, wenn auch das Wort noch nicht in Gebrauch war. Im Deutschen sprach man vom „Volkstum“. Diese Bewegung, die im 20. Jahrhundert in Wellen wieder auflebte, war ambivalent. Viele ihrer Protagonisten suchten aufgrund ihres Unbehagens über den Prozess der kapitalistischen Industrialisierung und Urbanisierung das Heil in einer vormodernen Ordnung, so zum Beispiel der Begründer der deutschen Volkskunde, Wilhelm Heinrich Riehl (1823 – 1897). Diese konservative bis reaktionäre Ausrichtung führte zur Volksgruppenideologie des 20.Jahrhunderts und bot Anknüpfungspunkte für faschistische Bewegungen, speziell für den Nationalsozialismus. Auf der anderen Seite hat die Wertschätzung des Volkstümlichen zur Dokumentation regionaler Vielfalt angeregt. Es wurden Volkslieder, Märchen usw. aufgezeichnet, regionale Lebensformen dokumentiert. Literatur und Musik erhielten neue Impulse, wie man vor allem an den Werken vieler europäischer Komponisten sehen kann. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verbanden sich teilweise, vor allem in Frankreich, Regionalbewegungen mit der ökologischen Bewegung, weil man zu dem Schluss kam, dass die Bewahrung regionaler Eigenheiten von der Art des Wirtschaftens, speziell vom Erhalt landwirtschaftlicher Strukturen, abhinge. Autochthone Sprachminderheiten wie die Waliser in Großbritannien, die Bretonen in Frankreich oder die Sorben in Deutschland wurden im Zeitalter der europäischen Nationalstaaten zum Objekt mehr oder minder repressiver Assimilationsbemühungen, sofern man sie nicht einfach ignorierte. Letzteres war dort möglich, wo sich Minderheiten nicht artikulierten und nicht besondere Rechte forderten. Sofern man autochthonen Sprachminderheiten Sonderrechte zugestand – am ehesten für den Gottesdienst, teils für den Unterricht, selten für den amtlichen Gebrauch – waren diese auf das jeweilige
nationalstaatliche Homogenisierung
Regionalbewegungen und Ethnizität
Sprachminderheiten als Objekte der Assimilation
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee
Siedlungsgebiet beschränkt. Nichts bot Anlass, etwas wie interkulturelle Bildung zu denken. Krüger-Potratz hat die These formuliert: „Die Geschichte von Pädagogik und Schule in Deutschland kennt keine Minderheiten“ (1989, S. 226).
politische Konjunkturen
musterhafte Minderheitenpolitik
Beispiel einer einheimischen Sprachminderheit: die sorbischsprachigen Deutschen An der sorbischsprachigen Minderheit lässt sich exemplarisch der Umgang des modernen Nationalstaats mit Minderheiten aufzeigen. Beispielhaft illustrieren lässt sich hier, dass Minderheiten oft Diskriminierungserfahrungen machen und sich ihre Rechte, speziell die Repräsentation im öffentlichen Raum, politisch erkämpfen müssen. Die relativ privilegierte Situation der sorbischsprachigen Deutschen liefert aber auch ein Vorbild, das zeigt, wie eine minderheitenfreundliche Bildungs- und Kulturpolitik aussehen kann. Schließlich sollen damit Probleme der Kulturalisierung oder Ethnisierung, die uns später beschäftigen werden, in den Fragehorizont gerückt werden. Das Sorbische, das sich aufgrund der territorialen Aufteilung der Minderheit in zwei Varianten zur Schriftsprache entwickelt hat, nämlich als das Nieder- und das Obersorbische, gehört zur Gruppe der westslawischen Sprachen. Heute leben die sorbisch sprechenden Bundesbürger im Grenzgebiet von Brandenburg und Sachsen. Bis 1945 gehörten sie zu Preußen und Sachsen. Es gibt Gebiete mit katholischer und auch mit protestantischer Tradition. Im deutschen Kaiserreich wurden noch 130.000 Sorben oder Wenden gezählt. Nach 1990 wurde die Zahl der Sorbischsprachigen wie schon in den 20er Jahren auf rund 60.000 geschätzt, was noch zu hoch gegriffen sein dürfte. Eine erste rasche Abnahme bewirkte zusammen mit der Industrialisierung der Germanisierungsdruck im Kaiserreich. In der Weimarer Republik folgte eine kurze Zeit der Duldung und Unterstützung. Immerhin erhielten in Sachsen zwei Schulaufsichtsbezirke mit gemischtsprachigen Schulen per Gesetz von 1919 Schulräte „wendischer“ Herkunft. Den Lehrerinnen wurde ausdrücklich „der Gebrauch auch der wendischen Sprache“ zur Pflicht gemacht. Die Bezeichnungen „Sorben“ und „Wenden“ werden übrigens meist synonym verwendet. Im Dritten Reich dagegen wurde das Sorbische unterdrückt und aus Schulen und öffentlichen Einrichtungen verbannt. In den Schulen durfte selbst in den Pausen nicht Sorbisch gesprochen werden. Der Bund der Lausitzer Sorben, die Domowina (gegr. 1912), wurde verboten, und die sorbische Zeitung mußte ihr Erscheinen einstellen. Zur DDR-Zeit kamen die Sorben in den Genuss einer musterhaften Minderheitenpolitik, wenngleich diese nicht ohne Widersprüche war. In den Kindergärten des Sprachgebiets sollten beide Sprachen gebraucht werden. An hundert Einrichtungen der zehnklassigen Einheitsschule wurde Sorbisch als Unterrichtsfach angeboten. Darüber hinaus gab es acht sorbische Schulen mit Sorbisch als Unterrichtssprache und zwei Erweiterte Oberschulen, die zur Hochschulreife führten. Selbst in der Berufsausbildung sollte die Möglichkeit gegeben sein, die Ausbildung in Sorbisch fortzusetzen oder abzuschließen. In der Erwachsenenbildung, in der staatlichen Jugendorganisation, in den pädagogischen Ausbildungsgängen und in der Forschung wurde der Minderheitensprache Beachtung geschenkt. Allerdings machte die Verstaatlichung auch vor der kulturpolitischen Arbeit nicht Halt. Der sorbische
1.1 Gesellschaftliche Anlässe
Verlag wurde als Volkseigener Betrieb geführt. Zur Ergänzung der Printmedien wurde in den 80er Jahren der Sorbische Rundfunk aufgebaut, der drei Stunden täglich Sendungen in sorbischer Sprache ausstrahlte. Dieses staatliche Engagement hatte seine Kehrseite. Abgesehen von der Gefahr der kulturpolitischen Gängelung, ergaben sich ähnliche Probleme wie in Staaten, die den Multikulturalismus zum Programm erheben. Bedenkliche Nebeneffekte waren nämlich eine Homogenisierungstendenz, die das Konstrukt eines auf sorbisches „Kulturgut“ gestützten „reinen“ Sorbentums hervorbrachte, und die Gefahr der Selbsttäuschung über die Vitalität der Sprache bei den staatlichen Instanzen wie bei den Minderheitenvertretern. Wie lebendig die Sprache noch ist, wird von Fachleuten skeptisch eingeschätzt. Dies wurde nicht zuletzt durch wirtschaftliche Zwänge und die zwiespältige Politik der DDR verschuldet. Nach der Kollektivierung der Landwirtschaft zeitigte der großräumige Abbau der Braunkohlevorkommen in der Lausitz seine destruktive Wirkung. Dazu sah sich die DDR ohne Rücksicht auf den sorbischen Siedlungsraum wegen des Energiemangels genötigt. Viele Dörfer wurden umgesiedelt. Es kam nicht nur zur verstärkten Industrialisierung der Region, sondern zur planwirtschaftlich arrangierten Verstädterung und Auflösung gewachsener Strukturen mit den absehbaren Folgen für die Minderheitensprache und -kultur. Im kapitalistischen System wirken nun die ökonomischen Mechanismen ironischerweise wieder gegen die Regionalsprache. Mangels Rendite wurde die ganze Energiewirtschaft zurückgefahren, der Bergbau eingestellt, was die Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich steigen ließ. Solange keine Alternativen in Sicht sind, werden die Erwerbsfähigen zur Abwanderung gezwungen. In den Landesverfassungen der neuen Bundesländer Brandenburg und Sachsen hat man den Minderheitenschutz verankert. Die Schulpolitik für die Sorben orientiert sich am Standard der ehemaligen DDR. Zum Beispiel hat man die großzügige Regelung übernommen, dass ab fünf Schülern sorbischer Sprachunterricht angeboten werden kann. Es gibt nach wie vor sorbische Schulen mit besonderen Lehrplänen, darunter zwei Gymnasien. Die Sorben selbst sind initiativ geworden und haben einen Schulverein gegründet. MDR und RBB strahlen täglich sorbischsprachige Radiosendungen aus. Die Länder Brandenburg und Sachsen haben eine Stiftung für die Sorben gegründet, deren Stiftungskapital jedoch als zu gering eingeschätzt wird. Mag sein, dass mit vereinten Anstrengungen die sorbische Sprache am Leben erhalten werden kann. Unabhängig von dieser Intention aber wird es wichtig sein, in der Region das Bewusstsein verschiedener Kulturtraditionen wach zu halten. Inzwischen wurden an mehreren Orten zweisprachige Kindergärten gegründet, zu denen auch deutschsprachige Eltern ihre Kinder schicken, was nicht nur der Revitalisierung des Sorbischen dienen, sondern Mehrsprachigkeit und interkulturelles Verstehen fördern kann. Eine entscheidende Rolle fällt den Intellektuellen, besonders den Schriftstellern und Dichtern zu, deren Domäne die Sprache ist, nicht im Sinne des bloßen Bewahrens, sondern des kreativen Fortschreibens. Als Beispiel erwähnenswert sind die Texte der zeitgenössischen Dichterin Roza Domascyna (geb. 1951), die von der Sprachmischung leben. Solch bewusste Kreolisierung arbeitet dem Phantombild der reinen, authentischen sorbischen Kultur entgegen, das die Selbst- und Fremdwahrnehmung weithin bestimmt, wie eine
Widersprüche
zweisprachige Bildung
Pespektiven und Aufgaben
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee
diskursanalytische Studie von Tschernokoshewa (2000) nachweist. Die Autorin zeigt an Pressetexten, wie dort eine ursprüngliche, „echte“ Welt sorbischen Brauchtums etc. als Gegenwelt, ja geradezu als „verkehrte Welt“ (S. 60) konstruiert wird. Solche Vorstellungen drängen eine Minderheit unweigerlich in die Defensive und eröffnen paradoxerweise keine Zukunftsperspektiven. Die Ethnisierung von außen, das lässt sich an dieser Gruppe gut einsichtig machen, hat Folgen für die Identitätskonstrukte ihrer Mitglieder. Die Sorben werden vor allem außerhalb der Region nur als folkloristisches Phänomen wahrgenommen (Tschernokoshewa 2000).
die europäischen Juden – der klassische Typus des Fremden
die „Zigeuner“ als Projektionsfolie
Die Diskriminierung der Sorben war, vom NS-Regime abgesehen, sublim. Anders stellte sich in Deutschland der Umgang mit der jüdischen Minderheit und den „Zigeunern“ dar. Die einen wurden vor allem aufgrund ihrer anderen Religion, die anderen vor allem wegen ihrer abweichenden Lebensweise als fremd erfahren, als „anstößig“ fremd vielleicht auch deshalb, weil man jederzeit mit ihnen in Kontakt kommen konnte. Ihnen gegenüber funktionierten die „territorialen und funktionalen Trennungen“ (Bauman 1996) nicht mehr. Ihre Mobilität und ihr Kosmopolitismus implizierten „die praktische Inkongruenz“ ihres Daseins – Deutschland als „Heimat“ und Provisorium zugleich – was an ihrer Loyalität zweifeln ließ (vgl. Bauman 1996, S. 82). Für Georg Simmel (1858 – 1918) lieferte die Geschichte der europäischen Juden „das klassische Beispiel“ für den Typus des Fremden, der, nah und doch fern, dazu gehört und doch auch nicht dazugehört. Die Befähigung zum interkulturellen Dialog war bis zur Aufklärungsepoche außerhalb des Denkhorizonts. Auch danach blieben Ansätze dazu vereinzelt. Stattdessen setzte man die jüdische Minderheit einem starken Assimilationsdruck aus. Ein akzeptables Identitätsangebot, nämlich preußischer, württembergischer oder später reichsdeutscher Staatsbürger und zugleich Jude sein zu können, gab es nie. Im ländlichen Bereich hatte man eine Form der Koexistenz gefunden, aber gerade in den modernen, urbanen Lebensbereichen gab es nur die Alternative zwischen Assimilation und Ausgrenzung für Bürger jüdischer Herkunft. Als letzte Konsequenz der Negation des Fremden kann man das Verbrechen des Holocaust sehen. Es sollte aber auch nicht vergessen werden, dass die jüdische Minderheit im Deutschen Reich und in der Weimarer Republik eine eigene soziale Infrastruktur mit eigenen Wohlfahrtseinrichtungen, Hochschulen und teilweise auch Schulen aufgebaut hatte. Die Synagogen in Städten und Dörfern machten die jüdische Kultur im öffentlichen Raum sichtbar. Dennoch wurden die Juden anscheinend nicht als selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft gesehen. Die politischen und wissenschaftlichen Diskurse, deren Einfluss auf das Alltagsbewusstsein freilich kaum rekonstruiert werden kann, wurden spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend judenfeindlich, wie der von dem Historiker v. Treitschke ausgelöste „Antisemitismus-Streit“ zeigt. Opfer einer nicht einmal zum Thema gemachten Diskriminierung waren aufgrund ihrer fremden, teilweise nomadisierenden Lebensweise die Sinti. Diese Lebensweise ist zur Folie negativer wie positiver Projektionen geworden (Zigeunerromantik einerseits, das Bild vom diebischen, schmutzigen Zigeuner andererseits). Hieran lässt sich wiederum
1.1 Gesellschaftliche Anlässe
das Changieren zwischen Faszination und Ablehnung von Fremden demonstrieren. Die Idee einer interkulturellen Bildung ist, wie gesagt, erst im Gefolge der heutigen Migration aufgekommen. Die Einwanderungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die von der neuen Arbeitsmigration, in der Bundesrepublik also von der Anwerbung von Arbeitskräften aus den Mittelmeerländern, eingeleitet wurden, brachten die unmittelbare Nachbarschaft mit fremden Lebensweisen und Kulturen und eine mehrsprachige Zusammensetzung der Schülerschaft mit sich, was zu neuen pädagogischen Konzepten herausforderte. Wieweit der Import von Ideen aus anderen Ländern, die wie Kanada aufgrund der Einwanderung ihr Selbstverständnis neu formulieren mussten, zu der bildungsgeschichtlich neuen Sichtweise beigetragen hat, lässt sich rückblickend nicht mehr rekonstruieren. Das Motiv für interkulturelle Bildung erwächst aus einer Situation, in der das Innen-Außen-Schema, mit dem andere Lebensformen auf Distanz gehalten werden konnten, nicht mehr funktioniert, so dass Fremdheit allgegenwärtig wird. Der Fremde fügt sich nach Bauman nicht dem InnenAußen-Schema, der Freund-Feind-Opposition. Er ist der Inbegriff des Ambivalenten, des „Unentscheidbaren“ (1996, S. 76). Konnte man nach Bauman den wenigen Fremden früher ihren sozialen Ort zuweisen, so gelingt dies gegenüber den „Ausländern“ in der Einwanderungsgesellschaft endgültig nicht mehr (S. 84). Simmels Definition des „Fremden“ legt die Vermutung nahe, dass die heutige Migration und die Globalisierung uns zur Auseinandersetzung mit Fremdheit nötigen. Heutige Migranten entsprechen jener Definition: „Der Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheiten nationaler oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und uns hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden“ (1992, S. 13 f.). „Er ist uns physisch nah, während er geistig fern bleibt“ (Bauman 1996, S. 82). Vorausgegangene Prozesse der Arbeitsmigration hatten die Gesellschaft nur am Rande berührt. Meist handelte es sich um Formen der Saisonarbeit in der kapitalisierten Landwirtschaft oder der vorübergehenden Beschäftigung beim Aufbau der industriellen Infrastruktur, zum Beispiel beim Eisenbahnbau, im 19. Jahrhundert – beides Erfordernisse der Industrialisierung. Eine Ausnahme stellt die langfristige Beschäftigung polnischsprachiger Bergarbeiter im Ruhrgebiet seit dem späten 19. Jahrhundert dar, die zum Familiennachzug und damit zu einer zweisprachigen Wohnbevölkerung mit ethnischen Grenzziehungen führte; denn die sogenannten „Ruhrpolen“ gründeten ihre eigenen Gewerkschaften, Vereine und Kirchengemeinden. Dennoch betrachtete man dies im damaligen Preußen anscheinend als vorübergehende Erscheinung. Die Idee einer interkulturellen Bildung war der Zeit fremd. Exkurs zur Migrationsgeschichte: Die Feststellung: Wanderungen gibt es seit Beginn der Menschheitsgeschichte, ist so richtig wie nichtssagend. Denn damit ist nichts gesagt über die historisch unterschiedlichen Migrationsmotive, -ziele und -bedingungen. Moderne „Migrationssysteme“ (Sassen 1996) gibt es erst im Zeitalter
unmittelbare Nachbarschaft mit Fremden infolge der Migration
Definition des Fremden
vormoderne Migrationsbewegungen
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee
Arbeitsmigration – ein Spezifikum des Kapitalismus
die wirtschaftliche ,ratio‘ der Arbeitsmigration
der Nationalstaatsbildung und der kapitalistischen Industrialisierung. Bis zur industriellen Revolution sind zwei Arten von Migration dominant, nämlich Siedlungs- und Fluchtmigration. Typische Beispiele für die Siedlungsmigration der Neuzeit sind die Auswanderung in die Vereinigten Staaten und die Ansiedlung deutschsprachiger Bauern in Russland und in Ungarn. Diese von merkantilistisch orientierten Herrschern, im einen Fall von der Zarin, im anderen Fall von den Habsburgern, geförderten Migrationen dienten der Erschließung von Neuland und teilweise der Grenzsicherung. Fluchtbewegungen wurden vor allem durch die religiösen Konflikte seit dem 16. Jahrhundert ausgelöst. Zum Teil lag eine planmäßige Vertreibung, zum Beispiel der Protestanten aus dem Salzburger Land oder der Hugenotten aus Frankreich, zugrunde. Die Aufnahme dieser Flüchtlinge in Preußen und anderen deutschen Territorien, die mit wirtschaftlichen Nutzenerwartungen verbunden war – die Hugenotten waren vor allem als Handwerker geschätzt – zeigt die Mischung der Motive, in diesem Fall seitens der Landesfürsten. Auch die Auswanderung der „Pilgerväter“, die im 17. Jahrhundert England aus religiösen Gründen verließen und in Amerika ihr Glück als Siedler suchten, hatte ein doppeltes Ziel, nämlich Suche nach religiöser Freiheit und nach neuem Siedlungsraum. Die Arbeitsmigration hat das System der freien Lohnarbeit zur Voraussetzung und ist daher historisch an die kapitalistische Produktionsweise gebunden. Freie Lohnarbeit besteht im Prinzip darin, dass erwerbsfähige, aber nicht über Produktionsmittel verfügende Personen ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anbieten und dann einem Produktionsmittelbesitzer, sprich einem Unternehmen, auf der Basis arbeitsvertraglicher Regelungen zur Verfügung stellen. Diese Form der Ausbeutung der Arbeit hat neben der Konzentration der Produktionsmittel in den Händen einiger weniger vor allem die Durchsetzung der Vertragsform als allgemeiner Rechtsform zur Voraussetzung. Die Arbeitsmigration stellt ein wichtiges Kapitel der Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus dar. Diese Wirtschaftsform mit der ihr eigenen Tendenz zur universellen Ausbreitung unterhöhlt die jeweils an den Rändern noch existierenden älteren Produktionsweisen, so sehr sie zuerst von deren Existenz zehrt; denn von dort bezieht man günstig Rohstoffe, Halbfertigprodukte und, bedingt durch die einfache Lebensweise, billige und willige Arbeitskräfte. Zunehmende Marktabhängigkeit, Technisierung und Rationalisierung mit ihren Implikationen (Zwang zur Zeitökonomie, landwirtschaftliche Monokulturen etc.) zerstören jedoch schrittweise die Strukturen an der Peripherie und setzen ständig Arbeitskräfte frei, die damit potentiell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Häufig bleibt diesen aufgrund ihrer verschlechterten Lebensbedingungen keine andere Wahl, als ihr Glück in den industrialisierten Zentren zu suchen. Oft lockt auch der vergleichsweise höhere Lebensstandard. Die Peripherie hat sich übrigens schrittweise nach außen verschoben. Waren früher etwa Masuren oder der Bayerische Wald Peripherie und damit Arbeitskräftereservoir, so reicht diese heute bis zu den Philippinen. Einwanderungspolitik ist primär Arbeitsmarktpolitik. Das vorherrschende Motiv war lange Zeit die flexible Anpassung des Beschäftigungsvolumens an den von den konjunkturellen Schwankungen des Marktes und von der Technisierung abhängigen Arbeitskräftebedarf. Einen Sonderfall stellt die
1.1 Gesellschaftliche Anlässe
Landwirtschaft dar, wo jeweils nur jahreszeitlich befristet ein Heer von Arbeitskräften gebraucht wurde und z. T. noch wird. Seit der neoliberalen Reform mit Leiharbeit etc. ist nicht mehr die Flexibilität des Angebots treibendes Motiv, sondern der Bedarf an Qualifikationen, wenn das Angebot an Fachkräften im Rückstand ist. Ein drittes Motiv liefert inzwischen die demographische Entwicklung, nämlich die Abnahme der Erwerbsbevölkerung durch Überalterung. Unter dem Aspekt der gewünschten Flexibilität der Arbeitskräfte ist aufschlussreich, dass Wanderarbeiter ausländischer Herkunft am Anfang vorzugsweise dort eingesetzt wurden, wo zeitlich befristete Arbeiten anfielen, zum Beispiel beim Eisenbahnbau. So wie Osteuropa jahrzehntelang das große Arbeitskräftereservoir für die deutsche Industrie war, so Irland für die englische Industrie. Auch die Auswanderung nach den USA nahm mit dem Abschluss der Besiedlung des Wilden Westens den Charakter der Arbeitsmigration an (vgl. Heckmann 1981). Das System der Beschäftigung von „Fremd-“ und „Zwangsarbeitern“ unter dem NS-Regime gab vermutlich das Muster für die Anwerbung der „Gastarbeiter“ in der Zeit des „Wirtschaftswunders“ ab, wenngleich der grundlegende Unterschied, der in der arbeitsrechtlichen Regelung der Arbeitsverhältnisse und der tariflichen Entlohnung lag, nicht übersehen werden soll.
vom „Zwangsarbeiter“ zum „Gastarbeiter“
Die Anwerbeabkommen von 1955 bis zum Anwerbestopp 1973: – 1955 mit Italien – 1960 mit Spanien und Griechenland – 1961 mit der Türkei – 1964 mit Portugal – 1965 mit Tunesien und Marokko – 1968 mit Jugoslawien Während die Fluchtmigration bis zur Zeit der Französischen Revolution religiöse Verfolgung zum Anlass hatte, wurde von da an politische Verfolgung zum maßgeblichen Motiv für Fluchtbewegungen. Die Parteigänger des Ancien Regime flohen aus dem revolutionären Frankreich, Jahrzehnte später, vor allem nach 1848 viele Demokraten vor der Reaktion in Deutschland. Die erste große Flüchtlingswelle im 20. Jahrhundert wurde durch die Russische Revolution und den nachfolgenden Bürgerkrieg ausgelöst. In den 1920er Jahren suchten zahllose russische Emigranten, meist Angehörige der oberen Schichten, in den westeuropäischen Ländern Zuflucht. Staatliche Repression zwang in der Folgezeit permanent Dissidenten zur Flucht, und zwar nach 1945 unter stalinistischer Herrschaft aus allen Ländern des „Ostblocks“, wobei wegen des sog. Eisernen Vorhangs die Flüchtlingszahlen begrenzt blieben. Ein halbes Jahrhundert lang, vom Beginn des italienischen Faschismus (1922) bis zum Ende der Franco-Diktatur in Spanien (1975), trieben faschistische Regime in Europa Menschen in die Flucht, allen voran Nazi-Deutschland, das außerdem mit seinem Angriffskrieg ganz Europa destabilisierte. Mit dem Ende des Kolonialismus kam es – oft infolge kolonialer Grenzziehungen und Herrschaftspraktiken – in Afrika und Asien zu
Fluchtbewegungen seit 1789
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee
ethnische Verfolgung
heutige Fluchtgründe – die notwendige Aktualisierung des Asylrechtes
Aussiedler
ethnischen Konflikten und Bürgerkriegen, aus denen oft Diktaturen oder autoritäre Regime hervorgingen. Während des Kalten Krieges in Europa wurde ein heißer Krieg zwischen den damaligen Supermächten in Ländern der Dritten Welt ausgetragen. In Lateinamerika kam es durch Intervention der USA zur Unterdrückung von Volksbewegungen, so dass zum Beispiel viele Chilenen ins Exil getrieben wurden. All diese Entwicklungen produzierten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend Flüchtlinge, von denen ein Teil in Europa Zuflucht suchte. Ein Spezifikum des 20. Jahrhunderts wurde die ethnische Verfolgung und Vertreibung bis hin zum Genozid, im 19. Jahrhundert eingeleitet durch die Judenpogrome im Zarenreich. Die Auflösung des Osmanischen Reiches und der Donaumonarchie, der beiden Vielvölkerstaaten, zog eine Kette von ethnischen Konflikten und „Säuberungen“ am Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts nach sich. In Reaktion auf den aggressiven Expansionismus des NS-Regimes kam es zur fast vollständigen Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus den abgetrennten Reichsgebieten und den östlichen Nachbarstaaten. Zwischen 1945 und 1963 fanden 17 bis 18 Mio. Vertriebene und Flüchtlinge Aufnahme in Ost- und Westdeutschland. Ihre Integration verlief zwar nicht reibungslos. – Auch sie wurden als Fremde betrachtet und oft in ihrem Umfeld diskriminiert. Entscheidend für die erfolgreiche Eingliederung waren aber die massiven Integrationshilfen, auch finanzieller Art, die staatbürgerlichen Rechte, mit der sie eine starke politische Lobby bilden konnten, und die Sprachkenntnisse. Zu den historisch älteren Fluchtursachen kommen heutzutage die Zerstörung der Naturressourcen, zum Beispiel Dürrekatastrophen, und die Zerstörung sozialer Strukturen sowie die Unterdrückung von Frauen, die sich infolge der Auflösung traditioneller Normsysteme oft verschärft hat oder auch als drückender erfahren wird. Den heutigen Fluchtgründen wird unser Asylrecht, das nur auf staatliche Verfolgung abstellt, schon lange nicht mehr gerecht. Ein Vorzug des deutschen Asylrechts ist der einklagbare Anspruch auf Asyl, der gravierende Mangel aber die enge Definition der anerkennbaren Asylgründe. Die von der Bundesrepublik unterzeichnete Genfer Konvention enthält eine weiter gefasste Definition des schutzwürdigen Flüchtlings, was die deutsche Asylpraxis etwas korrigiert. Eine besondere Variante von Immigration ist die Zuwanderung der Aussiedler, die als Nachkommen deutschsprachiger Siedler in Osteuropa Aufnahme in der Bundesrepublik fanden. Rechtsgrundlage dafür sind das Grundgesetz (Art.116) und das Bundesvertriebenengesetz, die neben der Kategorie der Staatsangehörigkeit die Kategorie der „deutschen Volkszuhörigkeit“ kennen. Dies war in dem bis zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts maßgeblichen ethnischen Nationsverständnis begründet. Es entsprach aber auch dem Gerechtigkeitsprinzip, dass die Bundesrepublik diese Menschen, die – speziell als Russlanddeutsche – lange Zeit für den deutschen Angriffskrieg haftbar gemacht worden sind, in Obhut nahm. Die Europäische Union hat eine neuartige Migration innerhalb der EU mit sich gebracht, die erstens gekennzeichnet ist von stärker gemischten Wanderungsmotiven als die traditionelle Arbeitsmigration. Die Suche nach einem Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz mischt sich mit Neugier, Bedürfnis nach einem Wechsel des sozialen Umfelds, Extraqualifikation
1.2. Die Leitmotive
durch fremdsprachliche Kompetenz etc. Damit ist zweitens die soziale Zusammensetzung gemischter. Drittens ist die transnationale Mobilität höher. Jedoch ist inzwischen auch bei Frauen und Männern mit einer außereuropäischen Migrationsgeschichte die zeitweise Remigration nicht ungewöhnlich. So spannen sich transnationale soziale Räume auf. Kategorien von (Im-)Migranten: Arbeitsmigranten, nach Rechtsstatus zu unterscheiden: – EU-Angehörige, – Nicht-EU-Angehörige, – Werkvertragsarbeitnehmer, – Saisonarbeitskräfte; Aussiedler/innen bzw. Spätaussiedler/innen; Flüchtlinge, nach Rechtsstatus zu unterscheiden: – Asylbewerber/innen, – Asylberechtigte, – De-facto-Flüchtlinge, – Kontingentflüchtlinge; „Illegale“ oder Irreguläre ohne Dokumente. Die Idee interkultureller Bildung und Erziehung wird heute außer durch die Migration auch durch das Näherrücken einst weit entfernter Gesellschaften aufgrund moderner Verkehrsmittel nahegelegt. Die elektronischen Kommunikationsmedien bringen Raum und Zeit zum Verschwinden. Das zweite Motiv liegt in den weltweiten Interdependenzen, die aus der Weltbevölkerung – trotz der Spaltung in Arm und Reich – eine Schicksalsgemeinschaft machen, so dass zu Recht von einer „Weltgesellschaft“ gesprochen werden kann, die vor gemeinsamen Aufgaben wie dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen steht. Dem entspricht das Entstehen einer Weltöffentlichkeit. Es ist nur scheinbar paradox, dass zugleich kulturelle Differenzen überraschend stark artikuliert werden. Das ist nicht allein darauf zurückzuführen, dass aktuelle ökonomische Abhängigkeiten und historische Entwicklungsbehinderungen und Benachteiligungen zum Beispiel durch die Kolonialherrschaft zur Betonung von Authentizität und kultureller Andersartigkeit provozieren, sondern erklärt sich auch dadurch, dass Kontakte neben der – sei es einseitigen, sei es gegenseitigen – Akkulturation auch ein Bewusstwerden des Eigenen und Fremden mit sich bringen. Inwiefern dabei von „Bewusstwerdung“ gesprochen werden kann, und ob nicht von Konstruktion gesprochen werden muss, ob nicht auch im Prozess der Begegnung etwas Drittes entsteht, sei vorläufig dahingestellt, aber als Frage vorgemerkt.
1.2. Die Leitmotive Die leitende Perspektive der Interkulturellen Pädagogik ist die Idee einer multikulturellen Gesellschaft, basierend auf zwei Grundsätzen: dem Prinzip der Anerkennung, speziell auch von sprachlicher oder religiöser Vielfalt,
die Entwicklung zur Weltgesellschaft
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee grundlegend: Gleichheitsprinzip und Anerkennung
bei Gleichheit der Chancen oder Inklusion in die gesellschaftlichen Teilsysteme. Beide Prinzipien machen nach Nancy Fraser (2001) das politische Projekt von heute aus, und beide gelten auch für die Interkulturelle Pädagogik. Die Anerkennung gilt den von Individuen für wertvoll, weil identitätsrelevant gehaltenen kulturellen Formen und Inhalten und der jeweiligen sozialen Selbstzuordnung. Sie bezieht sich nicht auf Kulturen, als selbständige Wesenheiten gedacht, was äußerst problematische Implikationen hätte (siehe Kap. 3). Ziele von interkultureller Erziehung und Bildung sind somit zum einen Haltungen, zum anderen Wissen und Fähigkeiten, zum Beispiel das Wissen um strukturelle Benachteiligung, Sensibilität für mögliche Differenzen, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Vorrangig sind das Eintreten für gleiche Rechte und Sozialchancen ungeachtet der Herkunft und die Haltung der Akzeptanz, des Respekts für Andersheit. Diese Haltungen sind unverzichtbar für die Befähigung zum interkulturellen Dialog, der die Befähigung zum interkulturellen Verstehen voraussetzt. Verstehen und Dialogfähigkeit sind die anderen übergreifenden Ziele interkultureller Bildung. Das Verstehen wird vom Dialog dadurch unterschieden, dass hier zunächst einmal Sinn und Bedeutung erschlossen werden müssen, während es dort um strittige Geltungsansprüche geht (z. B. was ist moralisch?). Im Prozess der Kommunikation ist zugegebenermaßen beides nicht zu trennen, weil zum Beispiel differente Rollenerwartungen das Verstehen beeinträchtigen können, und einer solchen Differenz tiefere Norm- und Wertdifferenzen zugrunde liegen können (z. B. Geschlechterordnung). Die Leitmotive Interkultureller Pädagogik: – das Eintreten für die Gleichheit aller ungeachtet der Herkunft, – die Haltung des Respekts für Andersheit, Übergeordnete Ziele: – die Befähigung zum interkulturellen Verstehen, – die Befähigung zum interkulturellen Dialog.
Anerkennung versus Toleranz
Der Begriff der „Anerkennung“ wird heutzutage gegenüber dem Begriff der „Toleranz“ bevorzugt; denn „Toleranz“ enthält, ungeachtet dessen, dass sie auch neu definiert werden könnte, zu sehr den Beigeschmack der bloßen Duldung, was sich auch begriffsgeschichtlich erklären lässt. Die Toleranzforderung diente im Konfessionenstreit nach der Reformation der politischen Befriedung. Sie sollte, von der herrschenden Gruppe gewährt, der jeweiligen konfessionellen Minderheit die notwendige Sicherheit bieten. Toleranz impliziert daher immer schon eine Machtasymmetrie, was der Sprachgebrauch enthüllt. Wollten sich etwa Einwanderer als tolerant gegenüber der Majorität bezeichnen, würde dies als Arroganz gewertet. Der Begriff der „Anerkennung“ ist aus dem angelsächsischen Sprachgebrauch übernommen worden, wo verschiedene Minderheiten in den letzten Jahrzehnten in einer „politics of recognition“ einen Kampf um Anerkennung ausgetragen haben. In Deutschland hat Axel Honneth diesen Kampf unter Rückgriff auf die philosophische Tradition seit Hegel moralphilosophisch begründet. In der „moralischen Grammatik sozialer Konflikte“ unterscheidet er verschiedene Anerkennungsformen oder -verhältnisse. Menschen ha-
1.2. Die Leitmotive
ben und erheben nicht nur Anspruch auf die Anerkennung als Rechtssubjekte, sondern auch als zur jeweiligen Wertgemeinschaft Zugehörige. Daher sieht Honneth die Anlässe für soziale Kämpfe nicht nur in Interessenkonflikten. Neben der Entrechtung und Ausschließung sei die Aberkennung sozialer Wertschätzung für Gruppen ein Motiv der Empörung und damit politischen Auseinandersetzung. Volle Anerkennung in diesem Sinn verlangt eine Überprüfung des kulturellen Selbstverständnisses der Dominanzgesellschaft. Denn: „Das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft gibt die Kriterien vor, an denen sich die soziale Wertschätzung von Personen orientiert“ (Honneth 1994, S. 198). Anerkennung impliziert also weit mehr als Toleranz. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Fraser sieht die Forderung nach Anerkennung von den neuen sozialen Bewegungen auf die Agenda gesetzt, ohne dass die Forderung der alten sozialen Bewegung nach Verteilungsgerechtigkeit obsolet geworden ist. Das Eintreten für Gleichheit oder Engagement gegen Diskriminierung setzt selbstverständlich das Bewusstsein von Ungleichheit voraus. Dies ist das pädagogische Ziel, übrigens auch bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Sie sind sich über Mechanismen der institutionellen Diskriminierung oft nicht im Klaren. Schulisches Scheitern bspw. führen sie, wie Fallstudien zeigen (Rosen 2011), oft nur auf eigenes Versagen oder das ihrer Familie zurück, ganz in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung. Die Leitmotive Interkultureller Pädagogik liefern Kriterien für die Wahl von Teilzielen, Inhalten und methodischen Zugängen und implizieren Prinzipien für das Handeln der Pädagog/inn/en. Denn wenn diese nicht positive Modelle interkulturellen Umgangs abgeben, sind die Intentionen nicht einlösbar. Der Gleichheitsgrundsatz ist das treibende Motiv antirassistischer Erziehung, weil alle Arten von Rassismus diesen Grundsatz verletzen. Während antirassistische Erziehung die Sensibilität für diskriminierende Strukturen intendiert, zielen Integrationshilfen für Migrant/inn/en, vom selben Motiv getragen, auf deren Emanzipation ab. Antirassistische Erziehung muss Bestandteil einer recht verstandenen Interkulturellen Pädagogik sein. Andernfalls tendiert Letztere zu kulturalistischen Vereinfachungen, während Erstere dazu tendiert, das Prinzip der Anerkennung von Andersheit zu vernachlässigen. Die antirassistische Erziehung, speziell in Großbritannien als Gegenentwurf zur Multicultural Education entstanden, konzentriert sich auf die strukturelle Benachteiligung der Immigranten, die längst auch in Konzepten beachtet wird, die mit dem Label interkulturelle Bildung versehen sind. Dennoch sollte sich die Interkulturelle Pädagogik ernsthaft mit dem Vorwurf der Kulturalisierung auseinandersetzen. Für die erzieherische Haltung und das pädagogische Handeln lassen sich zwei grundlegende Formen der Achtung unterscheiden: die Achtung vor der allgemeinen Menschenwürde der Lernenden oder Klienten und die Anerkennung ihrer (nicht nur) kulturellen Besonderheit. Gleichheit und Anerkennung haben auch Konsequenzen für die Reform der pädagogischen Institutionen, für deren Leitbilder, Curricula, Personal, die Kooperationsformen, die soziale Öffnung etc. (dazu Kap. 7). Die Leitmotive und übergeordneten Ziele begründen die grundlagentheoretischen Themen und Forschungsfelder Interkultureller Pädagogik. Der Gleichheitsgrundsatz verlangt nach der Auseinandersetzung mit Ras-
Formen der Anerkennung nach Honneth
Leitmotive – pädagogische Ziele
Konsequenzen für die pädagogische Praxis
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee
sismus. Das Prinzip der Anerkennung verweist auf differenztheoretische Diskurse, wobei auch der Bezug auf die Gender-Forschung und generell auf die Diversity-Programmatik von Belang ist. Die Spezifika interkulturellen Verstehens sind Gegenstand der interdisziplinären Forschung über interkulturelle Kommunikation. Auch Konzepte von Fremdheit sind zu berücksichtigen. Der interkulturelle Dialog impliziert Fragen nach der Universalität und kulturellen Kontextualität von Menschenbildern, Werten und Normen.
1.3. Über korrekte Sprache
Unsicherheit im Sprachgebrauch
Im Bereich interkultureller Bildungsarbeit und Kommunikation ist man stets mit dem möglichen Vorwurf einer inkorrekten Sprachverwendung konfrontiert, entweder weil die verwendeten Begriffe nicht dem innerfachlichen Diskussionsstand entsprechen oder weil Gruppenbezeichnungen wie „Ausländer“ als diskriminierend und ausgrenzend gelten. Dadurch entsteht eine gewisse Unsicherheit im Sprachgebrauch, nicht zuletzt bei denen, die mit der sensiblen Thematik schon vertrauter sind und sich für die Sache von „Ausländern“ oder „Migranten“ engagieren. Die Schwierigkeiten der Begriffsverwendung lassen sich zum Teil auf die Migrationspolitik und damit auf die gesellschaftliche Situation zurückführen, der die Sprache ja gerecht werden soll. Die Bezeichnung „Ausländer“ wird von den Betroffenen als ausgrenzend und unangemessen empfunden. Tatsächlich ist sie absurd bei jemandem, der schon Jahrzehnte hier lebt oder gar hier aufgewachsen ist. Von den Nachkommen der Gastarbeiter aus den Hauptanwerbeländern hatten 2007 bereits 40 Prozent keine eigene Migrationserfahrung mehr. Insofern ist inzwischen selbst das Attribut „mit Migrationshintergrund“ problematisch. Andererseits charakterisiert die Bezeichnung Ausländer in vielen Fällen korrekt den Rechtsstatus und die damit verbundene Lebenslage. Der Terminus „Migranten“ spiegelt übrigens die Unentschiedenheit einer Politik wider, in der man sich lange Zeit nicht dazu durchringen konnte, die Einwanderung als Tatsache zu akzeptieren und einen entsprechenden rechtlichen Rahmen zu schaffen. Konsequent wäre es, von Immigranten zu sprechen wie in Großbritannien, wofür aber hierzulande, anders als dort, bis vor Kurzem die politischen und rechtlichen Voraussetzungen fehlten. Politisch hat man sich mancherorts – ausweichend – auf die Bezeichnung „Zuwanderer“ verständigt. Im Übrigen wird von einigen Autor/inn/en auch die Unterscheidung zwischen „erster“, „zweiter“ und „dritter (Einwanderer-)Generation in Frage gestellt, vor allem deshalb, weil die familiären Konstellationen und Migrantenschicksale oft komplexer sind. Man denke an Pendelmigration, an nachgeholte Kinder und an Ehegatten, Mütter oder Väter, die per Heirat aus dem Herkunftsland gefolgt sind. So stellt sich bei vielen Familien die Frage, ob die Kinder „Migranten“ der zweiten oder der dritten Generation sind. Terminologische Schwierigkeiten stellen sich bei einiger Nachdenklichkeit auch ein bei dem Bemühen, zwischen den Migranten und den „Einheimischen“ zu unterscheiden; denn einerseits können Erstere vielfach als einheimisch gelten, andererseits umfasst der Begriff „Deutsche“, wenn er den
1.3. Über korrekte Sprache
Rechtsstatus meint, auch viele Immigranten, namentlich die „Aussiedler“, aber nicht nur sie. Inzwischen sind von den ehemaligen „Ausländern“ über 1 Mio. eingebürgert. Ganz fragwürdig wird es, wenn man, wie häufig hierzulande, die Bezeichnung für die „ethnisch“ Deutschen reserviert, weil damit eine unaufhebbare Differenz konstruiert wird. In die Wissenschaftssprache hat man die Unterscheidung zwischen „Autochthonen“ und „Allochthonen“ eingeführt, eine Übernahme aus den Niederlanden. Der bescheidene Gewinn beim Gebrauch dieser Fremdwörter (griech. für „einheimisch, bodenständig“ und „fremdländisch“) mag darin bestehen, dass die wertenden Nebenbedeutungen nicht mitschwingen. Im Übrigen gibt es auch Versuche, die Zugehörigkeit der Bürger anderer Herkunft mit sprachlichen Neuschöpfungen wie Neu-Deutsche oder „Andere Deutsche“ (Mecheril/Theo 1994) in Anlehnung an die Bezeichnung „Schwarze Deutsche“ zum Ausdruck zu bringen bzw. im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. „Schwarze Deutsche“ gehört zu den selbst gewählten Kollektivbezeichnungen. Haben Mitglieder einer Gruppe den Eindruck, dass sie das Stigma nicht abschütteln können, so besteht eine mögliche Strategie darin, dass sie sich die diffamierende Benennung, zum Beispiel „Kanake“, stolz zu Eigen machen. Vor allem Jugendliche türkischer Herkunft haben begonnen, nach dem Vorbild der Schwarzen in den USA, unter diesem Label eine Subkultur mit subversiver Absicht zu kreieren. Im Minderheitendiskurs findet, wie in anderen Bereichen, ein Kampf um Sprache statt, was nicht verwundert, weil Sprache eine performative Funktion und Mächtigkeit hat. Das heißt, mit der Wahl von Kategorien wird soziale Wirklichkeit hergestellt (vgl. Bourdieu 1990). Der performativen Wirksamkeit der Sprache entspricht die innerhalb sozialer Bewegungen entwickelte Norm der Political Correctness (PC), über die zu spotten billig ist. Konservative verwerfen PC als „Gesinnungsterror“. Und es hat wohl auch Tendenzen zur Sprachzensur gegeben, die wenn nicht bedenklich, so doch lächerlich sind. Aber die radikalen Sprachkritiker/innen haben, so Deborah Cameron (1996) in einem Artikel über PC, erfolgreich die Wörter „politisiert“ und damit zu einem reflektierteren Sprechen beigetragen. Politisch wachsame Gruppen verwerfen auch die Bezeichnung „Illegale“ für Einwanderer ohne Aufenthaltsstatus und Dokumente (franz. „sans papiers“). Unnachsichtigkeit ist gegenüber der Alltagsbedeutung von „Integration“ angebracht, wie sie hierzulande auch im politischen Sprachgebrauch üblich ist. Denn die damit verbundene ungeduldige Aufforderung an die Zugewanderten, sich endlich zu integrieren, ist eine einseitige Schuldzuweisung und hält wissenschaftlicher Einsicht insofern nicht stand, als Integrationsbereitschaft nur bei entsprechenden Integrationsangeboten zu erwarten ist. Außerdem meint der übliche Sprachgebrauch mit „Integration“ nichts anderes als sich unauffällig zu machen, alle abweichenden kulturellen Praktiken aufzugeben. „Korrekte“ Sprache entspricht dem Prinzip der Anerkennung. Es gibt Bezeichnungen, die dem Selbstverständnis einer Gruppe total widersprechen und daher verletzend wirken. Das gilt zum Beispiel für die früher gängige Bezeichnung „Mohammedaner“, mit der verkannt wird, dass Muslime sich nicht primär als Anhänger Mohammeds verstehen. Entscheidend ist für sie vielmehr der Islam als „Ergebung in Gottes Willen“.
der Kampf um Sprache
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee kein pädagogischer Zeigefinger!
„multikulturell“ und „interkulturell“
In der pädagogischen Arbeit verlangt jedoch die Beachtung von PC eine sensible Einschätzung der jeweiligen Situation. Es gibt ritualisierte Beschimpfungen unter Jugendlichen, mit denen keine verletzende Absicht verbunden ist. Hatcher/Troyna (2000) haben in einer Schulstudie in England festgestellt, dass die rassistischen Ausdrücke bei Schulkindern keineswegs immer auf eine rassistische Einstellung schließen lassen. Alarmiert, reflexartig zu reagieren, wäre also verfehlt und kontraproduktiv. Es wird darauf ankommen, Anstöße zu einer gemeinsamen Reflexion über Sprache und ihre sozialen Effekte zu geben. Theoretische Streitfragen wirft das Attribut „multikulturell“ auf. Die Kritiker lesen es als Zeichen für eine fragwürdige Konstruktion von sozialer Wirklichkeit. Die Befürworter bestätigen damit ihrer Ansicht nach imaginäre soziale Trennlinien, selbst wenn sie in bester Absicht das friedvolle Miteinander der Kulturen propagieren. Einige ironisieren „Multikulti“ als eine politisch folgenlose Ausdrucksform der Spaßgesellschaft, als „das schick angerichtete Design“ der postmodernen Gesellschaft (Radtke 1992). Es wird weiter unten zu zeigen sein, dass das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft auch ernst zu nehmende politische Perspektiven enthalten kann. Kaum auf Einwände stößt dagegen „interkulturell“, obwohl auch mit diesem Wort Kulturen als Realitäten unterstellt werden, jedoch mit dem Gedanken der Begegnung, des Austausches. Das „inter“ (lat. zwischen) lässt sich sogar im Sinne eines Dritten, einer kulturellen Neuschöpfung, interpretieren, was der Idee des „culture-in-between“ in den Postcolonial Studies entsprechen würde.
1.4 Interkulturelle Erziehung im internationalen Vergleich
USA
Anders als man erwarten möchte, reicht auch in älteren Einwanderungsländern und in Staaten, die sich ausdrücklich als Einwanderungsland definieren, die Diskussion über interkulturelle bzw. multikulturelle Erziehung nicht weiter als bis in die 1970er Jahre zurück. Das gilt sogar für die überseeischen Einwanderungsländer Australien und Kanada. Das dominante kulturelle Selbstverständnis in Australien und Kanada war nämlich aufgrund der Zugehörigkeit zum Commonwealth lange Zeit britisch orientiert. Die Natives wurden nicht als kulturell eigenständig wahrgenommen. Erst die Einwanderung aus süd- und osteuropäischen, teilweise auch asiatischen Ländern erzwang nach dem Zweiten Weltkrieg eine Neuorientierung. In Kanada sorgte die selbstbewusste frankophone Minderheit schon früh für Beunruhigung und die Anerkennung eines kulturellen Pluralismus. Heute ist dort der Multikulturalismus staatliches Programm und Essential des nationalen Selbstverständnisses. Ähnliches scheint für Australien zu gelten. In beiden Staaten hat zuletzt auch die Rassendiskriminierung, speziell in Bezug auf die eingeborenen Ethnien, mehr Aufmerksamkeit gefunden. In den Vereinigten Staaten verhinderte bis zu den 1960er Jahren die Ideologie des melting pot, des ethnischen Schmelztiegels, dass man überhaupt
1.4 Interkulturelle Erziehung im internationalen Vergleich
auf ethnische oder kulturelle Unterschiede aufmerksam wurde, wenngleich es schon einmal in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine multikulturelle Bildungsinitiative gegeben hat (Steiner-Khamsi 1992). Erst die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre gegen die Rassentrennung im Bildungssystem und gegen jede Art von Diskriminierung gab den Anstoß, die Kulturen der Minderheiten in Schulen und Universitäten zu würdigen. Im Laufe der 1970er Jahre konnte die Pädagogik sich der Ethnic-Revival-Bewegung nicht entziehen. Viele ethnische Minderheiten folgten dem Beispiel der Schwarzen, die sich unter dem Motto „Black is beautiful“ stolz auf ihre Eigenart besannen und begannen, nach ihren „roots“, d. h. nach den Wurzeln ihrer kulturellen Herkunft, zu suchen. Die Bildungspolitik reagierte 1968 mit dem Bilingual Education Act und 1972 mit dem Ethnic Heritage Act. Die Political-Correctness-Bewegung scheint seit den 1980er Jahren die Curricula an einigen Colleges und Universitäten stark verändert zu haben. Die Korrektur galt der eurozentrischen Ausrichtung der allgemeinbildenden Studien. Die pädagogischen Ansätze zu Minderheitenfragen und kulturellen Differenzen scheinen vielfältig bis zur Unübersichtlichkeit, wobei viele nach Ansicht kritischer Autoren die politische Dimension, d. h. Fragen der strukturellen Benachteiligung, vernachlässigen. Ebenso vielfältig sind die Regelungen zum bilingualen Unterricht. Das Spektrum reicht von Maßnahmen, bei denen die Minderheitensprache nur übergangsweise zum leichteren Erwerb des Englischen berücksichtigt wird, über „Immersion“-Programme, wo beide Sprachen zur Verständigung im Unterricht dienen, bis zu Programmen, in denen die Herkunftssprache dominiert (Siebert-Ott 2001). Auch die Trägerschaft variiert. Teils ist der Unterricht von der Kommune getragen, teils von Minderheitenorganisationen. Innerhalb der west- und nordeuropäischen Staaten sind bei allen Unterschieden hinsichtlich der Geschichte und Struktur der Einwanderung Ähnlichkeiten in der Einwanderungs- bzw. Ausländerpolitik und hinsichtlich der bildungspolitischen Antworten auf die Migration festzustellen. Die Arbeitsmigration im großen Maßstab vollzog sich auch bei den früheren Kolonialmächten Belgien, England, Frankreich und den Niederlanden erst in der Nachkriegszeit, wobei die Entkolonialisierung half, den Arbeitskräftebedarf zu decken. Der Vorwurf der Kollaboration mit der Kolonialmacht, die Erwartung besserer Lebenschancen oder ethnische Konflikte wie auf dem indischen Subkontinent veranlassten Menschen zur Migration. Überall in Europa begann die Einwanderung in den 1950er Jahren, stieg in den 1960er Jahren an und wurde zu Beginn der 1970er Jahre gedrosselt bzw. beendet (Anwerbestop bzw. Einwanderungsstop). Überall ist, wenn man von den Niederlanden und Schweden absieht, in den 1960er und frühen 1970er Jahren die Verabschiedung von Gesetzen zur Steuerung der Einwanderung zu verzeichnen, in Frankreich und der Bundesrepublik auch der Versuch der Rückkehrförderung. Auch bei den bildungspolitischen Maßnahmen zur Beschulung der Einwandererkinder gibt es, zum Teil aufgrund internationaler Vereinbarungen, viele Parallelen: Neben den Vorbereitungsklassen zur Vorbereitung auf den Regelunterricht finden sich Förderkurse oder Spezialklassen sowie die bilingualen Klassen, wobei die Schwerpunkte allerdings sehr unterschiedlich gesetzt wurden. Lange Zeit verfolgten die Bildungsadministrationen in den anderen europäischen Aufnahmeländern, ebenso wie die
Europa
Parallelen in der Bildungspolitik
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee
Status des Muttersprachunterrichts
Etappen der pädagogischen Diskussion
Kultusminister in der Bundesrepublik, das Doppelziel der schulischen Integration und der Wahrung der Bindung ans Heimatland („twofold objective“), was auch in der Resolution des Europarats vom November 1970 als Richtlinie formuliert wurde. Im Zentrum – auch der internationalen Vereinbarungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft – stand der Abbau der sprachlichen Defizite. In der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaft vom Juli 1977 bekam der muttersprachliche Unterricht ein gewisses Gewicht, wurde aber nach wie vor mit der Wiedereingliederung der Migrantenkinder im Herkunftsland begründet. Nur in Schweden verband sich schon früh die Einsicht in den irreversiblen Charakter der Immigration mit weiter reichenden pädagogischen Zielsetzungen. Dort haben die Migrantenfamilien Anspruch auf Unterricht in ihrer „Heimsprache“, also in ihrer Familiensprache. Der Heimsprachunterricht wird in zahlreichen Sprachen erteilt. „Aktiver Bilingualismus“ und interkulturelle Erziehung sind Prinzipien der Pädagogik und Bildungspolitik. Die strukturelle Integration der Einwanderer verbindet sich mit dem Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt. Erst später kamen auch in anderen Ländern Begründungen zur Geltung wie die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder, die Erleichterung der Integration und die multikulturelle Situation. Der muttersprachliche Unterricht („mother tongue and native culture tuition“) war und ist in fast allen europäischen Staaten ebenso wie in der Bundesrepublik nur teilweise in den Regelunterricht integriert und in der Verantwortung der Schulbehörden des Aufnahmelandes. Häufig bleibt diese Aufgabe den Konsulaten oder wie in Großbritannien den Einwanderergemeinden überlassen. Anzumerken ist, dass das Recht auf die Unterweisung in der Muttersprache auch für die Kinder einheimischer sprachlicher Minderheiten erst in den 1970er Jahren (wieder) entdeckt worden ist, das vorher der Nationalstaatsidee zum Opfer gefallen war, wenn nicht internationale Abkommen, wie im Falle der Slowenen in Österreich, zur Berücksichtigung der Minderheitensprachen zwangen. Die sozial- und erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Lage der Einwandererminoritäten und das Bemühen um Verbesserung scheint einer allgemeinen Logik zu folgen, so dass sich in den verschiedenen Ländern ähnliche Etappen der Diskussion ausmachen lassen. Als Kontext muss dabei die von einer widersprüchlichen Politik geprägte Situation gesehen werden. Am Anfang stand die Zuversicht, durch die Behebung sprachlicher Defizite Chancengleichheit für Migrantenkinder herstellen zu können. Die Bildungsinstitutionen waren überall auf die Migration unvorbereitet und verschlossen sich zunächst einer Neuorientierung. Für die Schwierigkeiten der Integration machte man nach den Sprachdefiziten im zweiten Schritt die kulturellen Unterschiede verantwortlich, um schließlich in einem dritten Schritt, meist spät, auf die Diskriminierung der Minderheiten aufmerksam zu werden, was für die einen nahelegte, die interkulturellen Beziehungen selbst zum Gegenstand von Unterricht und Erziehung zu machen, während andere die eigentlichen Ursachen für die soziale Lage der Minderheiten in der Benachteiligung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt etc. sahen und für eine Thematisierung des „strukturellen Rassismus“ plädierten. So ähnlich scheint die Diskussion in vielen Ländern verlaufen zu sein.
1.4 Interkulturelle Erziehung im internationalen Vergleich
Die Parallelen im pädagogischen Diskussionsverlauf lassen aber allzu leicht Unterschiede verkennen, die sich aus den jeweiligen nationalen Rahmenbedingungen ergeben. Beachtung verdienen in dieser Hinsicht die unterschiedlichen Schulkulturen und Bildungssysteme, darüber hinaus aber auch die jeweilige politische Kultur, wo zum Beispiel stärkerer Staatsfixierung eine mehr zivilgesellschaftliche Orientierung gegenüber steht, einem mächtigen Zentralismus ein institutionalisierter Föderalismus und Pluralismus. Anders als die laizistische Verfassung Frankreichs impliziert die säkulare Ordnung der Bundesrepublik die wohlwollende Förderung der Religionen, allerdings bisher beschränkt auf die christlichen Konfessionen. Eine Forschergruppe um den Ethnologen Schiffauer hat in einer vergleichenden Studie die Auswirkungen solcher Unterschiede zwischen den politischen Systemen und Kulturen auf die Integration und politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern aufgezeigt. In ihren Schulfallstudien werden die Differenzen anschaulich gemacht (Schiffauer u. a. 2002). Für den Rechtsstatus von Migranten und generell für die „Zugehörigkeitsordnung“ (Mecheril) ausschlaggebend ist das jeweilige Nationsverständnis. Dieses bestimmt unter anderem das Staatsbürgerschaftsrecht und beeinflusst die jeweilige Einwanderungspolitik maßgeblich. Man unterscheidet zwischen einem republikanischen und einem ethnischen Konzept von Nation, wie es für die Bundesrepublik bis zur Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts kennzeichnend gewesen ist. In Frankreich, wo die republikanische Auffassung am prägnantesten hervortritt, stiftet die gemeinsame Verpflichtung auf republikanische Prinzipien und Werte die nationale Gemeinschaft. Dem entspricht im Staatsangehörigkeitsrecht das Territorialprinzip. Das heißt, dem Prinzip nach erwirbt die französische Staatsangehörigkeit, wer auf französischem Boden geboren wird. Die politische Kultur ist getragen von der aufklärerischen Idee der universellen Humanité. Das Beispiel Frankreich zeigt allerdings auch, dass die Berufung auf universelle Werte zu einer militanten oder missionarischen Verbreitung der einheitlichen Staats- und Kultursprache beitragen kann, da diese vielen als das Medium der Zivilisierung gilt. Auch der starke Zentralismus begünstigt die Vereinheitlichung. Kulturelle Homogenität ist jedoch nicht notwendige Bedingung für den nationalen Zusammenhalt, wie man am Beispiel der Niederlande und der Schweiz sieht. In beiden Staaten entspringt die Nation einem politischen Gründungsakt, was bei der Schweiz mit dem Namen „Eidgenossenschaft“ zum Ausdruck gebracht wird. Der nationale Zusammenhalt stützt sich auf den Befreiungsakt der Urkantone. In ähnlicher Weise liefert die Befreiung von der Herrschaft der spanischen Habsburger für die Niederlande die Gründungsurkunde des Nationalstaats. Diese haben zwar nicht mehrere Nationalsprachen wie die Schweiz, tragen aber den konfessionellen Unterschieden mit dem Prinzip der „Versäulung“ Rechnung. Das von der einstigen Stellung als Handelsmacht genährte Selbstbewusstsein erlaubt Gelassenheit und Sparsamkeit im Gebrauch nationaler Symbole. Zwar sind für jede Nation ungeachtet der Unterschiede ein „Gemeinsamkeitsglaube“ (Max Weber) und die „Erfindung“ einer Tradition konstitutiv (Anderson 1993), aber die Bezugnahme auf gemeinsame Abstammung ist dabei keineswegs notwendig, wie man sieht.
Unterschiede im Nationsverständnis
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee die Rechtslage in Deutschland
hohe Selektivität des deutschen Bildungssystems
Vorbilder Schweden und Finnland
In Deutschland ist das Verständnis der Nation als Abstammungsgemeinschaft mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 1999 durchbrochen worden, was eine Angleichung an die europäischen Standards mit sich bringt. Immer noch bestehen aber beträchtliche Unterschiede, was die politischen Partizipationsmöglichkeiten für die Mehrheit der Immigranten betrifft. Das traditionelle Verständnis bestärkt außerdem noch immer die einheimische Bevölkerung in ihrem Exklusivitätsbewusstsein. Von der jeweiligen Rechtslage wird nicht zuletzt die Zusammensetzung des pädagogischen Personals beeinflusst, ein nicht unwesentliches Element der Multikulturalität pädagogischer Institutionen. Dass man auch unterhalb der Ebene des Staatsbürgerschaftsrechts den aufenthaltsrechtlichen Status verbessern und politische Mitbestimmungsmöglichkeiten erweitern kann, zeigt das Beispiel der Niederlande, wo man das Niederlassungsrecht eingeführt und Migranten unabhängig von der Einbürgerung das Kommunalwahlrecht zugestanden hat. Auch bei der Antidiskriminierungsgesetzgebung, einer weiteren Rahmenbedingung, schnitt Deutschland bis zur Verabschiedung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) in 2006 im europäischen Vergleich schlecht ab. In den meisten europäischen Staaten hat man, zum Teil bereits in den 1970er Jahren, Gesetze verabschiedet, die direkte oder auch indirekte Diskriminierung aufgrund von „Rasse“ bzw. ethnischer Herkunft verbieten. Staatliche Kommissionen und Initiativgruppen bemühen sich um die Überwachung. In den Niederlanden hat man die gesamte Gesetzgebung in den 1980er Jahren auf diskriminierende Vorschriften hin überprüft. Gegenüber der für die Integration ungünstigen Rechtslage und unzureichenden politischen Inklusion in Deutschland verweisen einige Autoren allerdings auf die Integrationseffekte des deutschen Sozialstaats. Neben den allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind beim internationalen Vergleich die Unterschiede der Bildungssysteme in Rechnung zu stellen, wenn man die Erfolgschancen interkultureller Bildung und Erziehung vergleichen will. Für die Integration von Migrantenkindern ist es, wie internationale Vergleichsstudien zeigen, von Bedeutung, ob über die Schullaufbahn der Schüler nach dem vierten, nach dem sechsten oder gar wie in vielen Nachbarstaaten nach dem 10. Schuljahr entschieden wird. Die frühe Schullaufbahnentscheidung bedingt die hohe Selektivität des deutschen Systems, was bewirkt, dass Migrantenkinder bei uns besonders geringe Chancen haben (Dt. PISA-Konsortium 2001). Die Trennung nach Schulzweigen verstärkt die Illusion einer homogenen Schülerschaft, so dass die Lehrer/innen weniger auf den Umgang mit Heterogenität eingestellt sind. Ein zweiter Vergleichsaspekt ist, ob Halbtags- oder Ganztagsschulen üblich sind, was nicht nur die Möglichkeiten der Förderung, sondern auch die Gelegenheiten, interkulturelles Zusammenleben und Kooperation einzuüben, tangiert. Der normale, zumal der lehrerzentrierte Unterricht zwingt die Schüler kaum, sich aufeinander einzulassen. Wieweit die Offenheit von Schulsystemen für kulturelle Vielfalt von solchen strukturellen Eigenheiten abhängt, wissen wir noch nicht. In den skandinavischen Ländern Schweden und Finnland verhindert die gemeinsame Beschulung aller Kinder im Gesamtschulsystem Bildungssackgassen und verbessert deutlich die Chancen der Migrationskinder (Dt. PISA-
1.4 Interkulturelle Erziehung im internationalen Vergleich
Konsortium 2001). Es sollte freilich auch nicht verschwiegen werden, dass in Schweden wie in allen skandinavischen Ländern die Periode großzügiger Migrationspolitik von einer stark defensiven Flüchtlingspolitik abgelöst worden ist, neben der aber nach wie vor eine konsequente Politik der Integration verfolgt wird. Finnland machte bei den internationalen Leistungsvergleichen wegen der guten Ergebnisse für Migrationskinder von sich reden. Hervorgehoben werden: die Sicherung der Anschlüsse zwischen den Stufen des Bildungssystems durch Kooperation (z. B. zwischen Kindergärten und Schulen), die Individualisierung des Unterrichts und die Verantwortung aller beteiligten Fachkräfte für jedes Kind. Die beiden deutschsprachigen Nachbarländer Österreich und Schweiz weisen nicht nur hinsichtlich der Ausländerbeschäftigungspolitik, sondern auch beim Schulsystem viele Ähnlichkeiten mit der Bundesrepublik auf, soweit sich das bei der kantonalen Vielfalt für die Schweiz sagen lässt. In der Mehrzahl der Schweizer Kantone erfolgt der Übergang in die Sekundarstufe erst nach sechs Jahren. Die neuen Minderheitensprachen und -religionen findet man nach Allemann-Ghionda (1999) in den kantonalen Lehrplänen insgesamt kaum berücksichtigt. Andererseits verweist sie auf einige beachtliche Initiativen auf der Ebene von Einzelschulen zur Förderung der Chancengleicheit und des interkulturellen Verstehens. Darüber hinaus findet man bemerkenswerte Anregungen für eine interkulturelle Orientierung der Schulen von Seiten kantonaler Schulverwaltungen. Speziell die Bildungspolitik der Kantone Basel und Zürich hat über die Schweiz hinaus Aufmerksamkeit gefunden. In Österreich ist die interkulturelle Erziehung im Verlauf der 1980er Jahre, zuerst angestoßen durch den Streit um die Rechte einer autochthonen Sprachminderheit, zum Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Erörterungen geworden. In den Streit um den zweisprachigen Unterricht in überwiegend slowenischsprachigen Orten mischten sich Erziehungswissenschaftler ein, die sich sowohl gegen die Assimilationspolitik der Majorität als auch gegen eine Politik der ethnischen Separation wandten und einen Sprachunterricht mit interkultureller Zielsetzung propagierten (Gstettner/Larcher 1985). Das gab auch Anstöße für die Migrationspädagogik. Unter anderem wurden im Rahmen eines staatlich geförderten und wissenschaftlich begleiteten Aktionsprogramms Möglichkeiten des interkulturellen Lernens erprobt. Die Relevanz von Mehrsprachigkeit und interkultureller Bildung für die pädagogische Ausbildung ist weithin anerkannt, wenn auch die Diskrepanz zwischen Programmatik und Praxis nicht geringer ist als in Deutschland. Dasselbe gilt für die Bildungsbenachteiligung der Heranwachsenden mit Migrationshintergrund. Ihr Anteil an den Haupt- und Sonderschülern ist überproportional hoch. Eine besondere Stellung nimmt Österreich mit der frühen Einführung des islamischen Religionsunterrichts Anfang der 1980er Jahre ein. Die Offenheit dafür verdankt sich einer in die k. u. k. Monarchie zurückreichenden Tradition. In diesem Vielvölkerstaat war der Islam seit 1874 bzw. 1912 als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft anerkannt. Dem historischen Vorbild gemäß wurde 1979 die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGIÖ) als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt mit der Befugnis, Religionsunterricht in eigener Verantwortung zu erteilen. Ein entsprechendes Angebot gibt es an Pflichtschulen und höheren Schulen. Allerdings ließen die pädagogische und
Österreich und Schweiz
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee
theologische Ausbildung der Lehrpersonen lange Zeit zu wünschen, und auch der Lehrplan wird kritisch beurteilt (www.integrationsfonds.at/publika tionen/oeif_dossiers/der_islamische_religionsunterricht_in_oesterreich/29.0 2.2012).
1.5 Förderliche und hinderliche Rahmenbedingungen in Deutschland
Übernahme der interkulturellen Idee seitens der KMK
die KMK-Empfehlung von 1996
Verständlicherweise ist der Erfolg interkultureller Bildung, ja die Chance, dass die Programmatik überhaupt in den pädagogischen Einrichtungen ankommt, von der Förderung durch die Bildungsverwaltung abhängig. Aber auch generell stellt die Bildungspolitik einen wichtigen Rahmen dar. Denn erstens ist der Raum für interkulturelle Bildungsarbeit beschränkt, wenn Schüler/innen aufgrund starker Auslesemechanismen früh getrennte Wege gehen. Zweitens werden die Leitmotive interkultureller Bildungsarbeit konterkariert, wenn Minderheiten aufgrund mangelnder Bildungsgerechtigkeit ein hohes Risiko tragen, schulisch zu scheitern. Damit verfestigen sich Stereotypen, negative Fremd-, aber auch Selbstbilder. In dieser Hinsicht sind über die Bildungspolitik hinaus die Migrations- und Sozialpolitik und überhaupt das politische Klima im Land von Bedeutung. Im Folgenden sollen zunächst Verlautbarungen der Kultusministerkonferenz (KMK) zur Kenntnis gebracht und Reformen seit PISA 2000 in Erinnerung gerufen und kritisch gewürdigt werden. Sodann wird auf Neuerungen in der Migrations- und der Sozialpolitik sowie auf Diskursereignisse aufmerksam gemacht, von denen angenommen werden kann, dass sie auf interkulturelle Bildungsarbeit Einfluss haben. Als ein Diskursereignis kann man zum Beispiel interpretieren das öffentliche Eingeständnis des Versagens der Strafverfolgungsorgane nach der Aufdeckung der Mordserie an Migranten seitens einer rechtsradikalen Terrorgruppe in 2011, verbunden mit der Entschuldigung gegenüber den Familien der Opfer – ein Diskursereignis, das die Stimmung im Land zugunsten der Neubürger gewendet haben könnte, also ein Diskursereignis mit positivem Einfluss auf die öffentliche Meinung. Im Verlauf der zwei Jahrzehnte seit 1990 sind aus der langsam sich durchsetzenden Erkenntnis, dass die Bundesrepublik unwiderruflich zum Einwanderungsland geworden ist, bildungspolitisch Konsequenzen gezogen worden, wobei einige Bundesländer eine Vorreiterrolle übernommen haben. Aufschlussreich ist ein Vergleich der KMK-Empfehlungen: Während die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz bis 1979 noch auf eine pragmatische Lösung der im Gefolge der Migration entstandenen Systemprobleme abzielten, nahm die „Saarbrücker Erklärung der KMK zu Toleranz und Solidarität“ von 1992 den interkulturellen Gedanken auf, indem sie „eine glaubwürdige Politik der Achtung vor anderen Kulturen und der Verantwortung für die eine Welt“ anmahnte. Während in dieser Formulierung noch eine verdinglichende Vorstellung von Kulturen zum Vorschein kommt, ist die KMK-Empfehlung von 1996 über „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule“ auf der Höhe der erziehungswissenschaftlichen Diskussion. Kulturen werden als prozesshaft und Vorurteile als gesellschaftlich bedingt gekennzeichnet. Bei der
1.5 Förderliche und hinderliche Rahmenbedingungen in Deutschland
Skizzierung der „Ausgangslage“ wird nicht nur auf „die weltweite Vernetzung“ und „internationale Verflechtung“, sondern auch auf die Ungleichheit zwischen Nord und Süd, West und Ost verwiesen. „Lösungen für Schlüsselprobleme erscheinen nur noch im Bewusstsein Einer Welt tragfähig“, heißt es. Interkulturelle Bildung müsse sich „sowohl an die Angehörigen der Majorität als auch an diejenigen der Minorität“ richten. Bei den Zielformulierungen wird der Selbstreflexion angemessen Beachtung geschenkt. Unter anderem sollen die Schüler/innen – sich ihrer jeweiligen kulturellen Sozialisation und Lebenszusammenhänge bewusst werden; – Neugier, Offenheit und Verständnis für andere kulturelle Prägungen entwickeln; – anderen kulturellen Lebensformen und -orientierungen begegnen und sich mit ihnen auseinandersetzen und dabei Ängste eingestehen und Spannungen aushalten; – Vorurteile gegenüber Fremden und Fremdem wahr- und ernst nehmen; – das Anderssein der anderen respektieren; – den eigenen Standpunkt reflektieren, kritisch prüfen und Verständnis für andere Standpunkte entwickeln. Weiter heißt es: „In der Auseinandersetzung zwischen Fremdem und Vertrautem ist der Perspektivwechsel, der die eigene Wahrnehmung erweitert und den Blickwinkel der anderen einzunehmen versucht, ein Schlüssel zu Selbstvertrauen und reflektierter Fremdwahrnehmung.“ Es gehe dabei nicht um eine Erweiterung des Unterrichtsstoffs, sondern um die „interkulturelle Akzentuierung der bestehenden Inhalte“. Die KMK gibt folgende Empfehlungen an die Länder: Überprüfung und Weiterentwicklung der Lehrpläne und Rahmenrichtlinien aller Fächer unter dem Aspekt eines interkulturellen Perspektivwechsels, die Zulassung von Schulbüchern unter dem Gesichtspunkt, dass Gesellschaften und Kulturen nicht marginalisiert und abgewertet und Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund (MH) Identifikationsmöglichkeiten geboten werden. Auch institutionelle Rahmenbedingungen werden berücksichtigt. Unter anderem soll die „Beschäftigung nicht-deutscher Lehrkräfte in allen Unterrichtsfächern“ erleichtert werden. Außerdem wird die Kooperation mit Einrichtungen der Jugendarbeit angeregt. Erinnert sei auch an die Denkschrift „Zukunft der Bildung“, die 1995 im Auftrag der Landesregierung von der Bildungskommission NRW verfasst wurde, weil dort unter den „Leitvorstellungen“ die interkulturelle Erziehung als Leitidee hervorgehoben und in curriculare Empfehlungen umgesetzt wurde, was zeigt, dass ab Mitte der 1990er Jahre bildungspolitische Reformüberlegungen anscheinend kaum noch an der multikulturellen Situation vorbeigehen konnten. In den Lehrplänen der Länder taucht von da an die Idee interkultureller Bildung nicht nur in den Präambeln auf. In den meisten Lehrplänen oder Richtlinien wird interkulturelles Lernen als Aufgabenfeld oder Querschnittsaufgabe verschiedener Fächer bestimmt (Bühler-Otten/Neumann/Reuter 2000). Das Aufgabenverständnis ist allerdings noch sehr verschieden, was Bühler-Otten u. a. zum einen daran festmachen, dass bei den einen interkulturelle Bildung
die Lehrpläne
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee
individualisierende vs. sozialwissenschaftlich aufgeklärte Herangehensweise
als allgemeine Bildungsaufgabe begriffen wird, sich dagegen in anderen Bundesländern auf die Hauptschulen als „Ausländerschulen“ beschränkt. Zum anderen sehen sie einen Unterschied (a) darin, ob interkulturelle Erziehung eher paternalistisch oder als gegenseitiger Lernprozess verstanden wird, (b) ob sie nur auf individuelles Verhalten oder auch auf gesellschaftliche Praxis abzielt, und (c) ob kulturelle Bereicherung im Vordergrund steht oder eine konflikttheoretische Komponente enthalten ist (ebd.). So unterscheiden Bühler-Otten u. a. (2000) fünf, zunächst hypothetisch gemeinte, „Perspektiven“, unter denen sie Ziele und Stoffangaben prüfen. Ihre Gegenüberstellung von Alternativen (S. 284) sieht sinngemäß folgendermaßen aus: implizit vergleichende Sichtweise, Unterschiede anerkennend, Unterschiede reflektierend; Gemeinsamkeiten betonend;
explizit vergleichende Sichtweise, objektivistisch (wir – die anderen);
unter gesellschaftlichem, auf individuelles Handeln strukturellem Aspekt thematisierend; abzielend; Orientierung an einer multikulturellen Schülerschaft;
monokultureller Ausgangspunkt;
Minderheiten als „bereichernd“ darstellend;
Minderheiten als „gefährdend“ darstellend;
interkulturelle Bildung als „allgemeiner Erziehungsstandard“
kompensatorischer Ansatz (Adressaten Migrationskinder)
Diese etwas schematisierende Gegenüberstellung ermöglicht vermutlich eine gute Orientierung in den für die Praxis interkultureller Erziehung maßgeblichen „mind maps“. Wenn man die von Geiger (1997) herausgegebene Analyse von Sozialkundebüchern heranzieht, so ist zu befürchten, dass eher problematische Herangehensweisen überwiegen, zum Beispiel die häufige Markierung von Grenzen zwischen Einheimischen und Ausländern, „trennende Signale“ in der Sprachverwendung (wir – die Ausländer), eine objektivierende Sicht auf die „Ausländer“ und moralische Appelle zu „Integration“ oder „Kooperation“. Die von Geiger wegen des fragwürdigen Mitleidseffekts kritisch vermerkte Fokussierung auf die Benachteiligung der Ausländer beleuchtet, welche Gratwanderung auf diesem Feld zu leisten ist; denn das Hervorheben der Benachteiligungen entspricht auf den ersten Blick der Forderung nach antirassistischer Aufklärung. Der Mitleidseffekt ergibt sich bei unzureichender Behandlung der strukturellen Zusammenhänge, die auch gemeinsame Interessenlagen verdeutlichen kann. Zurück zu den Verlautbarungen der KMK. – Im Oktober 2001 reagierten die Kultusminister auf den Terroranschlag vom 11. September mit der Erklärung „Friedliches Zusammenleben und Erziehung zu interkultureller Toleranz“. Darin warben sie für „eine objektive Auseinandersetzung mit den komplexen und vielschichtigen Fragen, die mit der Migration verbunden sind“ (Protokoll
1.5 Förderliche und hinderliche Rahmenbedingungen in Deutschland
der Plenarsitzung). Der Bericht „Zuwanderung“ der KMK von 2002, fortgeschrieben in 2006, ist eine Antwort auf die alarmierenden Ergebnisse des internationalen Leistungsvergleichs PISA 2000, der gezeigt hatte, dass der Bildungserfolg hierzulande ungewöhnlich eng an soziale Herkunft und Familiensprache gekoppelt ist. Die Forscher hatten viele Jugendliche aus Migrantenfamilien wegen mangelnder Lesekompetenz zu einer „Risikogruppe“ gezählt. Die Kultusminister kamen zu der Einsicht: „Integration erfordert Anstrengungen nicht nur von den Migrantinnen und Migranten, sondern auch von der aufnehmenden Gesellschaft.“ Dabei werden explizit die Institutionen in die Verantwortung genommen. Quasi amtlich bestätigt wird auch: „Es muss langfristig davon ausgegangen werden, dass Kinder und Jugendliche mit MH in unterschiedlichen Ausprägungen von Mehrsprachigkeit und in unterschiedlichen kulturellen Umgebungen aufwachsen und leben.“ Die Kultusminister betonen „die Notwendigkeit systematischer Förderung vom Elementarbereich bis zu möglichst hohen Bildungsabschlüssen, die Entwicklung geeigneter Diagnoseverfahren, Einbeziehung der Eltern und die Erhöhung des Migrantenanteils in den Lehr- und Erziehungsberufen“. Der Schwerpunkt wurde auf die Sprachstandsmessung und Sprachförderung im Vorschulbereich gelegt. Auch der Entwurf von Bildungsplänen für den Elementarbereich ist eine Antwort auf das relativ schlechte Abschneiden des deutschen Bildungssystems. Die dann von der KMK und dem Bundesbildungsministerium in Auftrag gegebenen Bildungsberichte hatten 2006 und 2008 die Migration zum Schwerpunkt. Da der demographische Wandel einen wichtigen Aspekt der Berichte darstellt, war die Bildungsbe(nach)teiligung von Kindern aus Migrantenfamilien auch Gegenstand des Bildungsberichts 2010. In einer gemeinsamen Erklärung mit Migrantenverbänden bekannte sich die KMK zu ihrer Selbstverpflichtung aus dem Nationalen Integrationsplan (NIP). 2009 folgte eine gemeinsame Erklärung mit der Bundesagentur für Arbeit, in der die Verbesserung der Ausbildungsvoraussetzungen und -chancen für „Jugendliche aus Zuwanderungsfamilien“ in Aussicht gestellt wurde. Die ablehnende Haltung, der besonders Muslime begegnen (Heitmeyer u. a. 2012), stellt die interkulturelle Bildung vor eine zentrale Aufgabe. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine Erklärung der KMK von 2003 von Interesse, in der das Bildungswesen zum „Dialog mit den Muslimen“ verpflichtet wird. Vor allem ist die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in deutscher Sprache als eigenes Unterrichtsfach hervorzuheben. Auf der „Islamkonferenz“ im Frühjahr 2008 sicherte dies der damalige Innenminister gemeinsam mit der KMK den Vertretern des Islam zu. Inzwischen gibt es entsprechende Modellversuche in sieben Bundesländern. Die rechtlichen Schwierigkeiten werden darin gesehen, dass die Muslime keine Organisationsform analog den Kirchen kennen, was die Anerkennung als eine Religionsgemeinschaft erschwert, die als Vertragspartner des Staates auftreten könnte. Ungeachtet dessen hat NRW den Islamunterricht ab dem Schuljahr 2012/13 gesetzlich verankert. Vorausgegangen war ein Modellversuch, der 1999 – wieder einmal unternahm NRW die Vorreiterrolle – gestartet war. Seit dem Wintersemester 2004/05 gibt es außerdem an der Universität Münster den ersten Lehrstuhl für islamische Religion. Insgesamt sollen an sechs Hochschulen im Bundesgebiet entsprechende Institute zur Ausbildung von Lehrpersonen eingerichtet werden. Diese Entwicklung ist hoch bedeutsam; denn Jahrzehnte lang be-
neue Einsichten der KMK
Selbstverpflichtung der KMK aus dem Nationalen Integrationsplan
Einführung des islamischen Religionsunterrichts
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee
Strukturen des Bildungssystems als Bedingungsrahmen
Bildungsreformen der jüngsten Zeit
Parallelgesellschaften durch Schulflucht und sozialräumliche Disparitäten
schränkte sich das Angebot für Schüler/innen muslimischen Glaubens auf den Muttersprachunterricht. Da dies in der Regel der Türkischunterricht war, wurde Islam quasi mit Türkentum gleichgesetzt. Außerdem entsprachen Didaktik und Lebensweltbezug in seltenen Fällen heutigen Anforderungen. Wie eingangs schon betont, verdienen nicht nur die Curricula, sondern auch die Strukturen des jeweiligen Bildungssystems seitens der Interkulturellen Pädagogik Beachtung, speziell der Grad der Selektivität. Denn davon hängt die Zeit gemeinsamen Lernens ab. Aber darüber hinaus begünstigt eine scharfe Auslese Vorstellungen, die auf Begabungsideologie hinauslaufen und bei einer starken Korrelation zwischen Bildungserfolg und Gruppenmerkmalen auf Rassismus. Und bekanntlich ist in Deutschland eine enge Koppelung zwischen MH und Bildungserfolg am Ende der Pflichtschulzeit festgestellt worden. Damit steht der Überzeugung, dass wir bei aller Differenz menschliche Bedürfnisse und Fähigkeiten gemeinsam haben, eine Alltagserfahrung entgegen, die dem selektiven System geschuldet ist. Daher sind die Reformen von Interesse, die nach den alarmierenden Ergebnissen von PISA 2000 in die Wege geleitet worden sind. Erstens ist da die Aufwertung der Vorschulerziehung durch Bildungs- oder Erziehungspläne, verbunden mit gezielter Sprachförderung, zu nennen. Dazu kommt die Zusicherung, dass jedem Kind ein KiTa-Platz zur Verfügung gestellt werden soll. Tatsächlich ist die Bildungsbeteiligung im Vorschulalter gestiegen und lag 2009 auch bei Kindern mit MH im Kindergartenalter bei 85 Prozent (Bildungsbericht 2010, S. 52). Allerdings ist die Qualifikation des Personals in den Kindergärten noch unzureichend (ebd., S. 53). Unter anderem ist zweifelhaft, ob für die Sprachdiagnostik, die Teil des bildungspolitischen Programms ist, immer die Voraussetzungen gegeben sind. Hervorzuheben sind Initiativen von kommunaler Seite, vor allem solche, die eine Anknüpfung frühkindlichen Lernens an die Familiensprache ermöglichen. Dazu gehören Projekte, bei denen zweisprachige „Stadtteilmütter“ in ihrer Nachbarschaft Anregungen für die familiäre Förderung von Literacy, z. B. durch Vorlesen, geben. Inwieweit es inzwischen zu einer besseren Abstimmung zwischen Kindergärten und Grundschulen gekommen ist, wie von der KMK angestrebt, dafür liegen keine Daten vor. Was die Grundschule betrifft, so wäre eine längere gemeinsame Förderung wünschenswert. Aber nach wie vor gibt es außer in Berlin nur in zwei Bundesländern eine sechsjährige Grundstufe. In Hamburg wurde ein entsprechender Reformversuch in einem Volksentscheid abgelehnt, bei dem eine Initiative aus der Mittelschicht die Meinungshoheit errungen hatte. In diesem Zusammenhang sind „vorpolitische“ Tendenzen erwähnenswert wie die Schulflucht weg von „Problemschulen“, soweit nicht ohnehin sozialräumliche Disparitäten in Großstädten für eine klare Scheidung zwischen „Schmuddelkindern“ und Kindern aus „gutem Hause“ sorgen. Ein Beispiel: Für München wurde 2010 in einem Artikel, in dem zwei Münchner Stadtteile mit gegensätzlicher Sozialstruktur miteinander kontrastiert wurden, von einer hohen Zahl von „Gastschulanträgen“ berichtet (Süddeutsche Zeitung v. 10.1.2010, S. 3. Die Folgen der Gentrifizierung illustriert der Journalist Patrick Bauer anschaulich am Beispiel Berlin-Kreuzberg in dem Buch „Die Parallelklasse“, Luchterhand-Verlag, München 2011). Die Autor/inn/en des Bildungsberichts 2010 sehen den „Integrationsauftrag der Grundschule“ in
1.5 Förderliche und hinderliche Rahmenbedingungen in Deutschland
urbanen Gebieten durch die Stadtentwicklung und „Schulwahlprozesse“ teilweise gefährdet, wobei sie auch auf das Angebot an Privatschulen verweisen (S. 172). Diese haben zwischen 1995 und 2009 nach einem Bericht des „Spiegel“ vom Sept. 2009 um 43 Prozent zugenommen. Die Zahl der Schüler/innen ist in etwa diesem Zeitraum um über 25 Prozent gewachsen (Bildungsbericht 2010, S. 67). Wissenschaftlich unstrittig ist, dass die stark gegliederte Sekundarstufe im Vergleich mit integrierten Systemen weniger erfolgreich ist und die soziale Auslese verschärft. Vor allem ist das deutsche System für eine Einwanderungsgesellschaft mit erhöhter Disparität der Bildungsvoraussetzungen dysfunktional. Dennoch kann man sich hierzulande nicht zu einer voll integrierten Sekundarstufe durchringen. Lediglich eine Teilintegration nach dem Vorbild der „neuen“ Bundesländer ist bisher in vier westdeutschen Ländern, darunter zwei Stadtstaaten (Berlin und Bremen) durchsetzbar gewesen, und zwar nur bei Erhalt des Gymnasiums. Zusammengefasst wurden Haupt- und Realschulen, teilweise auch alle Schulen „unterhalb“ des Gymnasiums. Der Widerstand selbst gegen diese bescheidene Reform wird daran deutlich, dass man in NRW die Sekundarschule nur als optionale Schulform einführen konnte. In den großen Flächenstaaten hält man am traditionellen System fest, obwohl die demographische Entwicklung generell die Differenzierung nach Schularten in Frage stellt. Aber auch die Teilintegration und damit die Abschaffung der Hauptschule, die in den Ballungsgebieten zunehmend zur „Ausländerschule“ geworden war, mag eine kleine Verbesserung darstellen. Möglicherweise erhöhen sich für Jugendliche mit MH, die früher als Hauptschüler einen doppelten Makel gehabt hätten, die Chancen im Ausbildungssystem. Nach wie vor bleiben der Leistungs- und Konkurrenzdruck, der sich nach unten vor allem bei vier Grundschuljahren bis in die Grundstufe hinein auswirkt. Nach wie vor bleiben nach den bisherigen Erfahrungen am Gymnasium die Autochthonen weitgehend unter sich, wenn auch zunehmend Kinder aus der migrantischen Mittelschicht dorthin gelangen. Positiv aus Sicht der Interkulturellen Pädagogik ist die Zunahme des Angebots an Ganztagsschulen, eine der Antworten auf das schlechte Abschneiden im internationalen Leistungsvergleich. Fast jede zweite Schule des Primarund Sekundarbereichs I arbeitet inzwischen im Ganztagsbetrieb, allerdings meist in offener Form (Bildungsbericht 2010, S. 7). Bei aller Unzulänglichkeit des pädagogischen Angebots (z. T. Mangel an Fachkräften, häufig mangelnde Rhythmisierung zwischen Unterricht und freier Tätigkeit) sind Ganztagsschulen besonders für Kinder aus schulfernen oder bildungsarmen Familien von Vorteil, weil sie den Unterricht ergänzende Lernhilfen bieten. Kinder und Jugendliche mit anderer Familiensprache werden außerdem mehr mit der Schulsprache Deutsch vertraut. Und schließlich ergeben sich, vor allem bei musischen und sportlichen Tätigkeiten, überhaupt beim stärker informellen Lernen, mehr Situationen, in denen interkulturelle Kompetenz erworben wird. In dieser Hinsicht hat die offene, in Deutschland dominante Form den kleinen Nachteil, dass die freiwillige Teilnahme dazu führen kann, dass die Kinder aus sozial schwachen Milieus unter sich bleiben. Zumindest an Grundschulen könnte so das Ziel einer besseren Integration verfehlt werden. Auf der gesellschaftlichen Makroebene sind das neue Staatsangehörigkeitsrecht, das Zuwanderungsgesetz und der Nationale Integrationsplan (NIP) den
das Problem der gegliederten Sekundarstufe
positiv: die Zunahme von Ganztagsschulen
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1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee neues Staatsangehörigkeitsrecht und Nationaler Integrationsplan
der Einfluss der Sozialpolitik
Öffentliche Diskurse über Migranten
Zielen der Interkulturellen Pädagogik förderlich, und sei es zunächst auch nur deshalb, weil sie zeichenhaft eine neue Zugehörigkeitsordnung signalisieren. Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht hat sich die Bundesrepublik in 2000 von dem bis dahin herrschenden ethnischen Verständnis von Nation verabschiedet. Die zunehmende Zahl von Einbürgerungen korrigiert alltäglich die Vorstellung von Staatsbürgerschaft als Abstammungsgemeinschaft. Mit dem NIP von 2007 hat sich die Bundesrepublik zu ihrer Verantwortung für die Integration der Zugewanderten bekannt, bis dahin im öffentlichen Diskurs allein als deren Bringschuld gehandelt. Das ist trotz nachgewiesener Mängel der Integrationskurse (Hentges 2010) unter dem Aspekt interkultureller Bildung allein schon ein Gewinn. NRW hat in 2012 den NIP durch ein „Gesetz zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe und Integration“ ergänzt, das die interkulturelle Öffnung der Institutionen voranbringen und rechtlich absichern soll. Von größter Bedeutung auf der Ebene der Gesetzgebung ist schließlich das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006, das individuelle, aber vor allem auch institutionelle Diskriminierung von Minderheiten verhindern oder beseitigen soll, unter anderem auch „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft“. Nicht nur erhalten Betroffene damit die Möglichkeit, bei Benachteiligung vor Gericht zu klagen. Die neue Rechtslage ist auch bedeutsam für die Sensibilisierung in Bezug auf Diskriminierungen. Die positiv vermerkten Integrationsbemühungen werden durch eine geänderte Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, bis 2005 umgesetzt unter dem Namen Agenda 2010, teilweise um ihre Wirkung gebracht oder abgeschwächt. Die Agenda 2010 hat die Beschäftigungsstruktur nachhaltig verändert und für Niedrigqualifizierte, darunter viele Migrant/inn/en und ihre Familien, ein erhöhtes Armutsrisiko zur Folge. Migrant/inn/en sind überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit oder prekärer Lohnarbeit, d. h. Leiharbeit, Minijobs, geringfügiger Beschäftigung und Scheinselbständigkeit betroffen (Brinkmann u. a. 2006). Neben einer wachsenden Mittelschicht mit MH, auf die ausdrücklich verwiesen sei, bilden Migranten einen Großteil der working poor. Aufgrund der Marktmechanismen konzentrieren sie sich häufig in vernachlässigten Stadtteilen, was dann zur Rede von den „Parallelgesellschaften“ verleitet. – Keine gute Voraussetzung für interkulturelle Verständigung. Damit stoßen wir abschließend auf die öffentlichen Diskurse über Migranten. Paradigmatisch dafür ist das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin (2010) mit den davon ausgelösten Debatten. Sarrazin verknüpft ein radikales Nützlichkeitsdenken, das wirtschaftliche Verwertbarkeit – auch von Menschen – oben anstellt (Viele Migranten sind bloß eine wirtschaftliche Belastung), mit dem verbreiteten Sicherheitsdiskurs (Muslime stellen eine Bedrohung dar) und einem Nationalismus, in dem sich die Betonung des Wirtschaftsstandorts Deutschland mit Homogenitätsvorstellungen verbindet („Volkscharakter“, 13. Aufl., S. 328). – Der Mix von Motiven, der nach Heitmeyer u. a. (2012) Rassismus und andere Varianten von „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ begründet. Das Erscheinen des Buches lässt sich als „Diskursereignis“ einstufen, d. h. ein Ereignis, das den öffentlichen Diskurs maßgeblich für einige Zeit beeinflusst hat. Diskursereignisse müssen nicht – wie in diesem Fall – von Absichten getragen sein, müssen keine Autorschaft haben. Ein folgenreiches Diskursereignis war Nine Eleven. Nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 waren Muslime größtem Misstrauen und
1.5 Förderliche und hinderliche Rahmenbedingungen in Deutschland
vielfältiger Diskriminierung ausgesetzt. Regional eher begrenzte Publizität erreichte jeweils der Streit um Moscheebauten in Berlin, Köln und München. Eher ambivalenten Charakter hatten die Plenarsitzungen der Deutschen Islamkonferenz seit 2006; denn einerseits wurde damit der Wille zum Dialog signalisiert. Andererseits war Misstrauen gegenüber islamistischen Tendenzen bestimmend (Schiffauer 2008). Wie schnell in krisenhaften Situationen stereotype Fremdbilder aufgerufen werden können, hat sich an der Euro-Krise gezeigt. Selbst auf höchster Ebene wurden die Griechen dafür verantwortlich gemacht. Mit solchen gesellschaftlichen Regressionstendenzen hat die Interkulturelle Pädagogik immer wieder zu kämpfen.
Aufgabe: Überlegen Sie nach der Lektüre des Kapitels noch einmal, inwiefern nicht nur die Bildungspolitik, sondern auch Migrations- und Sozialpolitik die interkulturelle Bildungsarbeit erschweren können oder aber dafür förderlich sein können! Fertigen Sie dazu eine Gedankenlandkarte an, in der Sie die Bezüge und Wechselwirkungen visualisieren, bzw. ergänzen Sie die anschließende Mind Map!
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2. Interkulturelle Pädagogik 2.1 Der Diskussionsverlauf seit 1970
politischer Kontext
Fragen der Periodisierung des Diskussionsverlaufs
Die Rede von „interkultureller Erziehung“ begann Anfang der 80er Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts die Ausländerpädagogik der 70er Jahre abzulösen. Nach den einschlägigen Bibliographien zu urteilen, taucht der Begriff „interkulturell“ erstmals 1979 im Titel von Publikationen auf. In 1979/80 häufen sich dann Beiträge zur interkulturellen Erziehung, zunächst speziell bezogen auf die Arbeit im Kindergarten. In einer Bibliographie von 1981 (Weidacher 1981) sind bereits 21 Titel zum Stichwort interkulturelle Erziehung registriert. Mit dem Begriff verband sich anfangs eine eher noch vage Idee, eine Mischung aus philanthropischen und politischen Intentionen. Das Fehlen staatsbürgerlicher Rechte brachte es mit sich, dass die Pädagogik im Verein mit Kirchen und Verbänden in eine Anwalts- oder Fürsprecherfunktion für die Migranten gedrängt wurde. Aus der lange Zeit verwehrten politischen Partizipation erklärt sich vor allem die Zurückhaltung gegenüber der Kategorie der kulturellen Differenz in Deutschland, wo Differenzen – anders als in Großbritannien oder USA – nicht selbstbewusst von den Minderheiten reklamiert wurden, sondern das Ergebnis von problematischen Zuschreibungen sind. Man hat sich angewöhnt, in Anknüpfung an Wolfgang Nieke Phasen des Diskurses über interkulturelle Erziehung zu unterscheiden, wobei andere Autor/inn/en schon verschiedentlich darauf hingewiesen haben, dass dieselbe Periodisierung nicht unbedingt für die Praxis und für die Bildungspolitik gilt. Theorie und Praxis halten noch immer ein sehr unterschiedliches Schritttempo, zumal in den verschiedenen pädagogischen Feldern (Schule, Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Sozialarbeit). Abgesehen davon muss man sich bei jedem historischen Rückblick darüber im Klaren sein, dass es sich um einen Rekonstruktionsversuch handelt, bei dem sich je nach Perspektive unterschiedliche Einschnitte, Paradigmenwechsel identifizieren lassen. Da die Einwanderungsbewegungen ebenso wie die Ausländer- bzw. Einwanderungspolitik, mit denen man die Migration immer wieder zu steuern versucht, Einfluss auf die Problemdefinitionen und Debatten gehabt haben, ist es zunächst naheliegend, den Diskussionsverlauf entlang der Migrationsgeschichte zu gliedern, zumal die Forschungsförderung sich oft an den jeweils aktuellen politischen Themen orientiert. Aber auch allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen haben zu Neuorientierungen oder thematischen Ergänzungen innerhalb der Erziehungswissenschaft geführt, so die Marginalisierung der Arbeitsmigranten aufgrund ihrer Benachteiligung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt ab den frühen 80er Jahren und die in den späten 1980er Jahren registrierten Rechtsextremismus-Tendenzen. Schließlich haben andere Fachdisziplinen wie die Migrationssoziologie oder gesellschaftliche Diskurse, speziell der feministische, neue Denkan-
2.1 Der Diskussionsverlauf seit 1970
stöße gegeben und die Neudefinition von Problemen veranlasst, so dass sich auch hiernach Etappen unterscheiden ließen. In der ersten Zeit der Arbeitsmigration reagierte die Pädagogik überhaupt noch nicht auf das Problem. Die aus den süd- und südosteuropäischen Ländern angeworbenen Arbeiter, später auch Arbeiterinnen, kamen zunächst in der Regel allein ohne Familie in die Bundesrepublik. Der typische „Gastarbeiter“ der 1960er Jahre war jung, oft ledig und hatte, jedenfalls in der Regel, seine Familie in der Heimat zurückgelassen, weil er ebenso wie staatliche Instanzen und Betriebe von einer baldigen Rückkehr ausging, sobald seine Sparziele erreicht wären. Die Zahl der Kinder aus ausländischen Arbeiterfamilien war in der Anfangsphase noch sehr gering und fiel statistisch kaum ins Gewicht, so dass sich die Schulverwaltungen noch nicht zu besonderen Maßnahmen veranlasst sahen. Es wurde nur die Schulpflicht auf diese Gruppe ausgedehnt. Auch die Erziehungswissenschaft reflektierte bis in die 1970er Jahre hinein die Problematik zunächst nicht oder nur am Rande. Dabei ist nicht zu leugnen, dass einige der zum Beispiel im Strukturplan des Deutschen Bildungsrates anvisierten strukturellen Innovationen in Richtung von mehr Differenzierung und Individualisierung mit dem Ziel der Überwindung der starren Dreigliedrigkeit des Schulwesens auch in Bezug auf die Migrationsfolgen zukunftsweisend waren bzw. gewesen wären. Auch an die Betonung sozialen Lernens sei erinnert. Nur wurden die Reformvorschläge an keiner prominenten Stelle auf die migrationsbedingte Situationsveränderung bezogen. Die Bildungsreformdebatte der damaligen Zeit und die Ausländerpädagogik nahmen voneinander nicht Notiz. Obwohl die Anwerbung von „Gastarbeitern“ schon begann, bevor die Reformdebatte einsetzte, wurden die Folgen der Arbeitsmigration nirgends mitberücksichtigt. Das mag insofern verständlich sein, als erst der Familiennachzug allmählich deutliche Konsequenzen für die pädagogischen Institutionen zeitigte und man selbst dann noch dazu neigte, den Aufenthalt der ausländischen Familien für zeitlich befristet zu halten. Auf der anderen Seite waren der Mittelschicht-Bias der Schule, die Sprachbarrieren für Arbeiterkinder und das Ziel der sozialen Integration zentrale Themen der Reformdebatte und die Übertragung auf die Problematik der Migrantenkinder oder besser auf das Problem des schulischen Umgangs mit ihnen hätte sich eigentlich geradezu aufdrängen müssen. Manche Textpassage aus den Reformentwürfen von damals liest sich wie ein Ausschnitt aus einem Beitrag zur interkulturellen Erziehung. Als Beispiel sei aus der Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats zur Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen zitiert: „Soziale Konflikte können artikuliert und gemeinsam diskutiert werden. Die Schüler gewinnen eher die Einsicht, daß die in der Familie selbstverständlichen Lebensformen nicht naturgegeben und unveränderlich sind. Die Distanz, die so gegenüber der eigenen Herkunft und den bisher unreflektierten Lebensformen gewonnen werden kann, kann zugunsten einer Individualisierung wirken“ (Dt. Bildungsrat 1969, S. 30). Die damalige Kritik an den verfrühten Schullaufbahnentscheidungen im dreigliedrigen Schulsystem und die Argumente für innere Differenzierung und Individualisierung des Unterrichts hätten unter Verweis auf die Schüler/innen aus zugewanderten Familien gestärkt werden können. Die Realisierung der Reformforderungen,
die Zeit der „Gastarbeiter“
Ignoranz der Bildungsreformdebatte
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2. Interkulturelle Pädagogik
Fokus Sprachdefizite
Arbeitsteilung – „Doppelstrategie“
Lehreraus- und -fortbildung
die in der Konzeption eines Gesamtschulsystems gipfelten, wäre den Migrantenkindern besonders zugutegekommen. Wie die sog. PISA-Studien (Programme for International Student Assessment) gezeigt haben, ist das deutsche Bildungssystem überdurchschnittlich selektiv. Die Kopplung zwischen sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb ist ungewöhnlich straff, was besonders auch Heranwachsende aus Migrantenfamilien trifft. Die Ausländerpädagogik knüpfte jedoch nicht an die allgemeine Reformdebatte an und konzentrierte sich unter Ausblendung struktureller Probleme auf kompensatorische Hilfen für die „Gastarbeiterkinder“. Aufschlussreich ist die Einteilung des Sammelbandes „Ausländerkinder in deutschen Schulen“ von 1974, eine der ersten Buchpublikationen zum Thema. Nach einer Darstellung der neu entstandenen Situation bringt der Band in Teil II unter der Überschrift „Sozialisation in den Heimatländern, Kulturkonflikte und Vorurteile“ Beiträge dazu aus der Sicht der verschiedenen Herkunftsländer. Der dritte Teil ist überschrieben „Integration in der Schule und außerschulische Hilfe“ und der vierte Teil des Bandes ist dem Sprachunterricht gewidmet. Die Sprachschwierigkeiten der ausländischen Schüler wurden damals als dominantes, weil auffälligstes Problem wahrgenommen, was zuerst die Fremdsprachendidaktik auf den Plan rief, bis man – unter anderem auch mit zunehmender Aufenthaltsdauer der Migrantenkinder und -familien – die Notwendigkeit der Entwicklung einer eigenen Zweitsprachdidaktik erkannte. Denn der herkömmliche Fremdsprachenunterricht wurde der neuen Sprachlernsituation der Migrantenkinder nicht gerecht (vgl. Reich 1994). Die Bibliographien „Ausländische Arbeiter und ihre Familien“ (erschienen beim Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Frankfurt a. M.), die die einschlägige Literatur von 1975/76 bis 1980 erfassen, belegen recht gut den jeweiligen Diskussionsstand und seine Entwicklung. So enthält die Bibliographie für 1975/76 zum Stichwort „Sprachförderung“ 52 Titel, womit diese Kategorie hinsichtlich der Zahl der Publikationen hinter der sehr weit gefassten Kategorie „Schulsituation“ den zweiten Rang einnimmt. Dies entsprach der Zielsetzung, die Kinder ausländischer Herkunft möglichst umgehend schulisch zu integrieren, und das hieß vor allem, ihre Sprachdefizite abzubauen. Maßgebend für die erste Phase war die Orientierung an der von der Kultusministerkonferenz in ihren Empfehlungen vorgegebenen Doppelaufgabe oder „Doppelstrategie“, nämlich (schulische) Integration plus „Erhaltung der kulturellen Identität“, sprich: der Rückkehrfähigkeit. Bald nachdem sich die Schulverwaltungen über die Probleme klar geworden waren, die die Schulpflicht für fremdsprachige Kinder mit sich brachte, begann in den 1970er Jahren auch die Institutionalisierung der Ausländerpädagogik an den Hochschulen. Im ersten Schritt wurden zunächst Maßnahmen zur Fort- und Weiterbildung von Lehrerinnen eingeleitet, um möglichst rasch auf die Problematik, so wie sie seitens der Administration definiert wurde, reagieren zu können. In der KMK-Empfehlung von 1976 wurden erstmals Konsequenzen für die Lehreraus- und vor allem -fortbildung gezogen. Mit der Kritik der „Ausländer-Sonderpädagogik“ (Nieke) der ersten Phase setzte die Auseinandersetzung um eine neue Problemdefinition und pädagogische Aufgabenstellung ein. Die streckenweise heftige Auseinander-
2.1 Der Diskussionsverlauf seit 1970
setzung, die für die Beteiligten ein Stück Selbstkritik beinhaltete, setzte mit einer Jahrestagung des Verbandes der Initiativgruppen in der Ausländerarbeit (VIA) ein, die unter dem Motto stand: „Wider die Pädagogisierung der Ausländerprobleme!“ Vermutlich wurde diese Neubesinnung dadurch angestoßen, dass sich im Zeichen der wirtschaftlichen Rezession die soziale Marginalisierung der zugewanderten Arbeiterfamilien abzeichnete. Mit nachlassender Bedeutung des altindustriellen Sektors (Metall- und Textilindustrie etc.), begann die Benachteiligung der ausländischen Arbeiter und ihrer Familien auf dem Arbeitsmarkt, was bei einem Teil der Pädagogen zu einer Ernüchterung hinsichtlich der Möglichkeiten pädagogischer Hilfe führte. Im Titel eines Aufsatzes von Hamburger/Seus/Wolter aus 1981 „Über die Unmöglichkeit, Politik durch Pädagogik zu ersetzen“ kommt dies deutlich zum Ausdruck. Nach der Phase der Expansion der Ausländerbeschäftigung in den 1960er und frühen 70er Jahren und der Phase der Verfestigung des Aufenthalts seit 1973 begann in den 80er Jahren die „strukturelle Marginalität“ der ausländischen Arbeiter und ihrer Familien (Hamburger 1983). Insbesondere die Söhne und Töchter der „Gastarbeiter“ stießen auf Schwierigkeiten bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle oder einem Arbeitsplatz. Zunehmend wurden nun auch außerschulische pädagogische Arbeitsfelder wie die außerschulische Jugendarbeit und die Sozialarbeit bedeutsam, was sich in der wissenschaftlichen Diskussion niederschlug. Fragen der beruflichen Bildung nahmen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre einen erstaunlich hohen Rang ein. Bezeichnenderweise wird in der Bibliographie der Neuerscheinungen für 1980 (Vink 1981) dem Thema „Berufliche Bildung“ eine eigene neue Kategorie gewidmet, die mit 86 Neuerscheinungen sogleich den ersten Rang einnimmt. Die Bildung solcher neuer Diskussionsschwerpunkte war u. a. bedingt durch die Einrichtung entsprechender Schwerpunkte in der Forschungsförderung. Eine regierungsamtliche Kommission unter der Leitung von Heinz Kühn (ehemals Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen) empfahl 1979 in ihrem Abschlussbericht, dem sog. „Kühn-Memorandum“, verstärkte Bemühungen zur Integration der zweiten Migrantengeneration, primär verstanden als Hilfen zur Berufseinmündung, was sich zeitweise auch in der Forschungsförderung niederschlug. Ein wichtiges Faktum im Übergang zu den 1980er Jahren war die zumindest innerhalb der wissenschaftlichen Öffentlichkeit wachsende Einsicht, dass die Bundesrepublik zum Einwanderungsland geworden war. Immerhin machte bereits das Kühn-Memorandum in seinen „Leitlinien“ die „Anerkennung der faktischen Einwanderung“ zu seiner Prämisse. Beachtenswerte, leider jahrzehntelang folgenlos gebliebene Empfehlungen des Memorandums waren: das Optionsrecht auf Einbürgerung, eine größere Rechtssicherheit und das kommunale Wahlrecht für Ausländer. „Der Übergang von der ,Gastarbeiterbeschäftigung‘ zur ,Einwanderung‘ markiert den entscheidenden Problemwandel“, so Hamburger (1983, S. 276). Diese Einsicht gab auch den Anstoß dazu, sich stärker als bisher nach Ansätzen der Migrationsforschung und nach pädagogischen Konzepten in Ländern mit längerer Einwanderungstradition umzusehen. Die Publikationen von Esser (1980) und Heckmann (1981), in denen die Migrationsforschung aus den USA und anderen älteren Einwanderungsländern rezipiert wurde, belegen diesen Trend
Anstöße für eine neue Problemdefinition
zunehmende Bedeutung außerschulischer Praxis
das „KühnMemorandum“
zum Stellenwert der Migrationssoziologie
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2. Interkulturelle Pädagogik
die Kontroverse seit den 1980er Jahren
für die allgemeine sozialwissenschaftliche Diskussion. Die Veröffentlichung von Heckmann mit dem bezeichnenden Titel „Die Bundesrepublik – ein Einwanderungsland?“ gab der Pädagogik neue Anregungen und leitete insofern eine Neuorientierung ein, als darin die Migrantenkulturen in ihrem Stellenwert gewürdigt wurden. Essers handlungstheoretisches Modell der Eingliederung lenkte die Aufmerksamkeit auf individuelle, aber auch gesellschaftliche Voraussetzungen (s. Kap. 3.4). Angeregt durch die pädagogischen Konzeptionen in älteren Einwanderungsländern wurden in den frühen 80er Jahren nun auch Konzepte einer interkulturellen Erziehung entwickelt und diskutiert. Voraussetzung dafür war die Anerkennung der ethnischen Minoritäten als dauerhaftem Bestandteil einer multikulturellen Gesellschaft. Nach Reich (1994) verdanken sich wesentliche Impulse in dieser Richtung Arbeitsgruppen des Europarats, die erstmals die Anerkennung der Vielfalt und der interkulturellen Begegnung propagierten. Unter den Ideen und Projekten, die nun unter dem Namen interkulturelle Erziehung Verbreitung fanden, ließen sich damals zwei Tendenzen identifizieren: eine, die vom Motiv der interkulturellen Begegnung und „Bereicherung“ getragen war, und eine, die primär Konfliktbearbeitung intendierte (Nieke 2000). Bald sah man sich genötigt, sich auf Grundsatzfragen wie die Frage nach dem Kulturbegriff, nach dem Unterschied zwischen Herkunfts- und Migrantenkulturen, nach dem Stellenwert kultureller Differenz und Identität einzulassen. Man begann sich an den Migrantenkulturen statt an den Herkunftskulturen zu orientieren. Außerdem sah man sich mit der Kontroverse um Kulturrelativismus versus Universalismus konfrontiert. Man kann hier für Mitte der 1980er Jahre mit Nieke den Beginn einer neuen Etappe registrieren. Aus der Kritik an der Ausländerpädagogik wurden in der Folgezeit zwei unterschiedliche Konsequenzen gezogen, woraus sich eine Kontroverse entwickelte: Eine Gruppe von Wissenschaftlern sah in der rechtlichen und sozialen Diskriminierung der Ausländer das ausschlaggebende Problem und damit die Lösung vor allem, wenn nicht ausschließlich in der strukturellen und sozialen Integration, d. h. der Angleichung der Sozialchancen. Man argwöhnte, dass Schlagworte wie „Kulturkonflikt“ diese sozialen Probleme verdeckten (z. B. Hamburger 1986). Dem stand das Plädoyer für eine Erziehung zum interkulturellen Verstehen gegenüber, um damit zum Abbau von Diskriminierung beizutragen. Daneben machten sich Mitte der 1980er Jahre Minderheitenvertreter für eine stärkere Berücksichtigung der Muttersprachen und überhaupt der Minderheitenkulturen im Bildungsgang der Migrantenkinder stark. Der Leitbegriff hieß „bilinguale-bikulturelle Bildung“. Mit einer Publikation der „Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände“ (BAGIV 1985) meldeten sich erstmals ausländische Elternvereine, Lehrer, Publizisten und Wissenschaftler zu Wort. Diese Initiative musste bei den gegebenen Verhältnissen Episode bleiben. Anfang der 1990er Jahre wurden die Schulen durch den Zustrom der Spätaussiedler aus osteuropäischen Ländern von neuem mit der Aufgabe konfrontiert, Kindern und Jugendlichen aus zugewanderten Familien den Anschluss zu ermöglichen. Eine Aufgabe der interkulturellen Erziehung wurde hier zunächst nicht gesehen, da diese Einwanderer gemäß der politi-
2.1 Der Diskussionsverlauf seit 1970
schen Doktrin unter die Kategorie Deutsche subsumiert wurden, bis man auch kulturelle Unterschiede aufgrund anderer kollektiver Erfahrungen entdeckte und auf Diskriminierungserfahrungen aufmerksam wurde. In jener Zeit, ab Anfang der 1990er Jahre, beherrschte die Auseinandersetzung mit dem jugendlichen Rechtsextremismus die pädagogische Diskussion, allerdings ohne an die Debatte über interkulturelle Erziehung anzuschließen, was auch damit zusammenhängen mag, dass Konzepte interkultureller Erziehung meist für die schulische Praxis entworfen wurden, wohingegen antirassistische Erziehung die Domäne der Jugendarbeit war. Schon in den späten 1980er Jahren hatten Jugendforscher auf den Rechtsextremismus unter Jugendlichen aufmerksam gemacht (Heitmeyer 1987). Die pogromartigen Überfälle auf Flüchtlingsunterkünfte, Wohnungen und Geschäfte von Immigranten in den 90er Jahren schreckten dann die Öffentlichkeit auf und lösten eine breite Diskussion über die Motive der Jugendlichen sowie über pädagogische Handlungsmöglichkeiten aus. Es sei daran erinnert, dass allein für das Jahr 1991 vom Verfassungsschutz 2300 Straftaten gegen Ausländer registriert wurden. Rasch entwickelte sich eine Diskussion über Handlungsstrategien. Da Rassismus ein zentrales Element rechtsextremer Orientierungsmuster darstellt, lässt sich von einer Fokussierung antirassistischer Erziehung sprechen – ein Begriff, den man allerdings in der deutschsprachigen Diskussion nur zögernd aufgriff. Um 1990 begann die breitere Rezeption der Rassismustheorien und antirassistischen Konzepte aus Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich. In dieser Zeit häufen sich Übersetzungen einschlägiger Texte. Ein wichtiges Datum ist der internationale Kongress über „Migration und Rassismus in Europa“ im Herbst 1990 (dokumentiert vom Institut f. Migrationsund Rassismusforschung 1992). Damit wurde ein eigener deutschsprachiger Diskurs über Rassismus und antirassistische Arbeit eingeleitet. Zu nennen sind unter anderem Annita Kalpaka, Nora Räthzel, Birgit Rommelspacher, Rudolf Leiprecht, Siegfried Jäger und Paul Mecheril, wobei erwähnenswert ist, dass sich damit nun auch Wissenschaftler/innen mit eigenem Migrationshintergrund in die Debatte einmischten. In jüngster Zeit setzen sich Paul Mecheril und ein Kreis ihm verbundener Wissenschaftler/innen in mehreren Veröffentlichungen für eine „rassismuskritische“ Bildungsarbeit ein. Ebenfalls im letzten Jahrzehnt des zurückliegenden Jahrhunderts wurde ein weiterer entscheidender Perspektivenwechsel eingeleitet. Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit wandte sich weg von den Migranten den Defiziten der pädagogischen Institutionen zu. Einen wichtigen Schritt in dieser Hinsicht bedeutete das Programm für den Forschungsschwerpunkt FABER („Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung“), eingerichtet von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Neumann u. a. 1990). Etwa zur gleichen Zeit tauchten vermehrt Diskussionsbeiträge zur „interkulturellen Öffnung“ der sozialen Dienste auf. Die Debatte über die Neustrukturierung der Sozialdienste wurde von einem 1988 veröffentlichten Gutachten ausgelöst, das vom Arbeits- und Sozialministerium in Auftrag gegeben worden war (Nestmann/Tiedt 1988). Dieses Gutachten brachte zum Bewusstsein, dass die Sozialberatung der Wohlfahrtsverbände mit den zwischenzeitlichen Folgen der Einwanderung überfordert und die Arbeitsteilung zwischen Allgemeinem Sozialen Dienst und der Sozialberatung für „Ausländer“ über-
1990er Jahre: Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus
Rezeption der Rassismustheorien
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2. Interkulturelle Pädagogik
neues Thema: interkulturelle Kompetenz als „Schlüsselkompetenz“
der Diversity-Ansatz
holt war. Im Rahmen der Diskussion um die interkulturelle Öffnung der Institutionen wurde auch die interkulturelle Kompetenz der pädagogischen Fachkräfte zum Thema, was man als einen weiteren folgerichtigen Schritt werten kann. Zu diesem Thema entfaltete sich ab Mitte der 1990er Jahre eine eigene Debatte, eröffnet von Hinz-Rommel (1994) mit dem Buch „Interkulturelle Kompetenz. Ein neues Anforderungsprofil für die soziale Arbeit“. 2001 verabschiedete die Arbeitsgruppe „Interkulturelle Arbeit“ des Fachbereichstages Soziale Arbeit an Fachhochschulen „Sechs Thesen zur Interkulturellen Öffnung der Fachbereiche für Sozialwesen“, in der die Vermittlung interkultureller Kompetenz zu einer „Schlüsselkompetenz“ für Soziale Arbeit und zur „Querschnittsaufgabe“ aller Fächer erklärt wird. Im letzten Jahrzehnt wurde der Diversity-Ansatz, eine personalpolitische Neuerung in manchen Wirtschaftsunternehmen, aufgegriffen mit dem Ziel, damit die grundlegende Intention der interkulturellen Orientierung, nämlich Anerkennung von Vielfalt und Gleichheit der Chancen, für alle Minderheiten zur Geltung zu bringen. Die Diversity-Programmatik beinhaltet Wertschätzung und Förderung für alle Sozialkategorien, die mit Abwertung und Benachteiligung verbunden sind. Aufgeführt werden in der Regel außer ethnischer Zuordnung Geschlecht, Sozialschicht, Behinderung, in englischsprachigen Texten race, gender und class. Der Diversity-Ansatz geht auf die Affirmative Action, also die Gleichstellungspolitik in den USA, zurück, eine Reaktion auf die Civil Rights Movements der 1960er Jahre. Diese Politik wurde von einigen Unternehmen mit der Selbstverpflichtung auf Diversity beantwortet. Das diente der Profilbildung, nutzte optimal die Ressourcen eines vielfältigen Personals, half, die Leistungsbereitschaft und Kreativität zu steigern und verbesserte das Marketing. Positive Nebeneffekte konnte man im Abbau von Benachteiligungen und in der Anerkennung von Lebensformen sehen, die vorher nicht den Vorstellungen von Normalität entsprachen. Das hat Diversity auch für die Pädagogik attraktiv gemacht, zumal die Programmatik innerhalb der EU auch als politische Ergänzung zur neueren Antidiskriminierungsgesetzgebung Bedeutung erlangt hat. In den pädagogischen Feldern sollte die Vielfalt der Differenzlinien, abgewerteten Sozialkategorien und sozialen Disparitäten ins Blickfeld gerückt werden. Die Herkunft der Idee legt nahe, dass sie vor allem für den Bereich der Organisationsentwicklung von Interesse ist. Hier ist die Argumentation von Sozialplanern wie Hubertus Schröer, ehemaliger Jugendamtsleiter der Stadt München, von Interesse. Er sieht den Vorzug in der Überwindung der Zielgruppenansätze und einer „fragmentierten Ressortpolitik“ (2009, S. 205). Ähnlich äußerte sich Gari Pavkovic, Leiter der Stabsabteilung für Integrationspolitik der Stadt Stuttgart. Solche Voten legen den Schluss nahe, dass die Diversity-Perspektive für Organisationen einen Fortschritt darstellt, und zwar für kommunale Ressorts, Wohlfahrtsverbände und soziale Einrichtungen, aber auch für Bildungseinrichtungen. Die Aufnahme von Diversity in die „philosophy“ oder das Leitbild von pädagogischen und sozialen Institutionen könnte eine generell differenz- und dominanzsensible Haltung fördern und helfen, einen kategorial verengten Blick, speziell einen kulturalistischen Bias zu überwinden. Dabei sollten die im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz von 2006 genannten Kategorien Ethnie, Geschlecht, Religion, Behinderung, sexuelle Orientierung (AGG §1) übernom-
2.1 Der Diskussionsverlauf seit 1970
men werden. Die Aufmerksamkeit für verschiedene Differenzlinien und Dominanzverhältnisse und für deren Zusammenwirken kann Synergieeffekte zeitigen. Schon länger hat man festgestellt, dass zum Beispiel Einrichtungen, die sich um die Inklusion von Behinderten bemühen, auch bei der Förderung von Migrationskindern erfolgreich sind. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass Annedore Prengel schon Anfang der 1990er Jahre Fragestellungen und Perspektiven sichtbar gemacht hat, welche die interkulturelle mit der feministischen Pädagogik und auch mit der Behindertenpädagogik gemeinsam hat. Zentral geht es nach Prengel (1995) um „die Perspektive egalitärer Differenz“, d. h. um die Anerkennung der Differenz bei unangefochtener Gleichberechtigung. In dieser Hinsicht sah Prengel zumindest Analogien zwischen den drei Fachgebieten, und in der Tat sind ihnen die Leitmotive Gleichheit und Anerkennung gemeinsam. Diversity sollte nicht mit Erwartungen überfrachtet werden. Der Ansatz kann die Interkulturelle Pädagogik und andere „Sonderpädagogiken“ nicht ersetzen, die jeweils die spezifische Situation von benachteiligten Gruppen analysieren, deren rechtliche und ökonomische Lage, die Identitätsrelevanz der sozialen Zuordnungen etc. Diversity kann als eine Art Meta-Perspektive gelten, die zu einem „selbstreflexiven Umgang mit eigenen Identitätskonstruktionen, sozialen und kulturellen Einbettungen sowie deren Verschränkung mit Dominanz- und Unterordnungsstrukturen“ auffordert (Hormel/ Scherr 2004, S. 207). Fraglich ist, ob ein möglichst breites Spektrum von Differenzlinien, wie in einigen erziehungswissenschaftlichen Beiträgen entfaltet, hilfreich ist oder nicht desorientierend wirkt. Empfehlenswert erscheint die Beschränkung auf die Sozialkategorien, die im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG § 1) genannt werden. Diversity-Orientierung als Gesamtstrategie bedarf „der Ergänzung durch differenzierte und profilierte Einzelstrategien für die jeweiligen Dimensionen von Vielfalt, die einander ergänzen, aber nicht ersetzen“ (Schröer 2012, S. 12). Das kann leicht zur Überforderung und Dekontextualisierung der je spezifischen Unterordnungsverhältnisse und Diskriminierungserfahrungen führen. Resümee: Diversity empfiehlt sich für das Leitbild von Organisationen, ist dabei gegen den Missbrauch als modisches Logo ohne Konsequenzen nicht gefeit. Als Reflexionshilfe bei der unmittelbaren pädagogischen Interaktion taugt diese Perspektive vermutlich weniger. Da wäre auf das Konzept der Intersektionalität zu verweisen (siehe Kap. 5.3). Versucht man die Entwicklungsschritte von der Ausländerpädagogik bis heute zu rekonstruieren, so könnte man sagen: Zuerst richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Orientierungs- und Verhaltensmuster in Migrantenfamilien. Großes Interesse fanden Texte über die Herkunftskulturen, besonders über Anatolien. Dominant war dabei der ethnologische Blick, mit dem man das Fremde eindeutig zu machen versuchte. Mögliche Verunsicherungen wurden dadurch überwunden, dass man Kenntnisse sammelte und sich Erklärungen verfügbar machte. Ausländischen Kindern und Jugendlichen wurden teilweise verständnisvoll Kulturkonflikte attestiert. Mit der Abwendung von der Ausländerpädagogik gerieten die einheimischen Heranwachsenden und ihre Vorurteile ins Blickfeld. Deren Einstellungen und Haltungen wurden von der interkulturellen Pädagogik zum Problem gemacht. Die rechtsextremen Tendenzen unter Jugendlichen lenkten dann noch einmal
Diversity als pädagogische Meta-Perspektive
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2. Interkulturelle Pädagogik
von der eigenen Umgangsweise mit Fremdheit und auch von der strukturellen Benachteiligung der Migranten ab. Obwohl einige Autoren vor einer moralisierenden, missionarischen Haltung warnten, wurde zunächst kaum ein Fortbildungsbedarf für die Pädagog/inn/en selbst angemeldet. Mit der Debatte über die Institutionen und über interkulturelle Kompetenz wurden endlich bis dahin ausgeblendete Problemdimensionen in den Fragehorizont gerückt. Es galt nun, stärker als bisher die Selbstreflexion bei den Fachkräften zu fördern, damit sie fixe Deutungsmuster und eingespielte Routinen in Frage stellen. Mit der Forderung nach interkultureller Öffnung und schließlich dem Diversity-Ansatz erfuhr die kritische Aufmerksamkeit für die Institutionen eine positive, praktische Wendung.
2.2 Theoretische Konzepte
in den 1980er Jahren noch nicht unterscheidbare theoretische Konzepte
erste Monographien in 1988
Als die erste Auflage dieser Einführung 1990 erschien, gab es noch nicht unterscheidbare theoretische Konzepte von Interkultureller Pädagogik oder Migrationspädagogik. Die Publikation trug denn auch damals nicht den Titel „Einführung in die Interkulturelle Pädagogik“, sondern nannte sich bescheidener (wenn auch etwas paradox) „Einführung in die interkulturelle Erziehung“, weil noch kein eigenes Fachgebiet Interkulturelle Pädagogik zu erkennen war. In den 1980er Jahren wurde sehr wohl eine kritische und lebhafte Diskussion über den richtigen pädagogischen Ansatz geführt, wie im vorangegangenen Kapitel deutlich geworden sein mag. Man verständigte sich über Ziele, Handlungsprinzipien und günstige methodische Arrangements, meist im Hinblick auf die schulische Praxis. Übereinstimmend wurden genannt: Abbau von Vorurteilen, Empathiefähigkeit, Überwindung des Eurozentrismus, Solidarität. Angestrebt wurden außerdem Konfliktfähigkeit (Helmut Essinger) und Interesse an der Kultur und Sprache der anderen (Gabriele Pommerin). Für wichtig erachtet wurde ein dialogisches Lehrer-Schüler-Verhältnis; befürwortet wurde ein situatives Aufgreifen von Problemen; wiederholt wurde ein individualisierender, erfahrungsoffener, lebensnaher Unterricht gefordert. Gegenüber Kritikern an der Verwendung des Kulturbegriffs versicherte man, dass Kultur als offen, nicht geschlossen, plural, dynamisch und Alltagsrituale umfassend zu verstehen sei. Von den beiden Leitmotiven war die Idee der Anerkennung maßgebend, wenn auch dieser Begriff noch nicht auftaucht. Bei Helmut Essinger (1986) wird z. B. „interkultureller Respekt“ als Ziel genannt, was allerdings nicht vor kulturrelativistischen Missverständnissen schützt. Autoren wie Hans-H. Reich machten die Würdigung von Zwei- oder Mehrsprachigkeit zum zentralen Thema ihrer Bemühungen. Es gab auch die in der aufklärerischen Tradition begründete Position, kulturelle Einbindung müsse überwunden werden, weil sie den Denkhorizont beschränke (Borelli, Ruhloff), übrigens die einzige klar profilierte Position, inzwischen aber nur noch von historischem Interesse. Systematisch erörtert wurden solche Grundfragen und -begriffe zum ersten Mal 1988 in zwei Monographien. Auernheimer entfaltete in Anknüpfung an die marxistische Kulturtheorie und die Cultural Studies ein Kulturkonzept, mit dem einerseits die damals verbreitete Meinung über den sog.
2.2 Theoretische Konzepte
„Kulturkonflikt“ relativiert, aber andererseits auch die Bedeutung kultureller Ressourcen geklärt werden sollte. Ingrid Gogolin lieferte eine Begründung für das „Erziehungsziel Zweisprachigkeit“, wobei sie besonders für die Anerkennung der „lebensweltlichen Zweisprachigkeit“ von Migranten warb. Das Gleichheitsmotiv wurde von niemandem explizit formuliert, weil es allen auf diesem Feld Engagierten selbstverständlich war. Diskriminierungserfahrungen wurden am ehesten von Kollegen mit dem Schwerpunkt auf Jugend- und Sozialarbeit wahrgenommen und in die Diskussion eingebracht. Franz Hamburger machte früh auf die soziale Marginalisierung der Migrantenfamilien aufmerksam. „Sozialstrukturelle Aspekte der Marginalisierung von Ausländern der ersten und zweiten Generation“ waren schon 1983 Gegenstand einer Studie von Stefan Gaitanides. Das 1984 erschienene „Handwörterbuch Ausländerarbeit“ enthielt zahlreiche kritische Stichworte zur Rechtslage von Ausländern. Was Forschung in dieser Phase betrifft, so handelte es sich meist um Untersuchungen im Auftrag der Administration. Die Begleitforschung zu Modellversuchen wäre dabei durchaus weiterführend gewesen, wenn diese Versuche nicht ohne Breitenwirkung beendet worden wären. Ein Beispiel dafür war das „Krefelder Modell“ mit bilingualem Unterricht. Nach dem ersten 1995 von Wolfgang Nieke vorgelegten Konzept Interkultureller Pädagogik mit dem Schwerpunkt auf differenten Wertorientierungen folgten bis in die jüngste Zeit mehrere vergleichbare Entwürfe mit einem ausführlichen theoretischen Begründungszusammenhang, meist zu Teilaspekten des pädagogischen Aufgabenkomplexes, fast alle in Buchform, viele einführenden Charakters. Im Folgenden stützt sich lediglich die Darstellung des Ansatzes von Franz Hamburger auf die Sammlung von kleineren Publikationen. Die unterschiedlichen theoretischen Zugänge (engl. approaches) implizieren unterschiedliche Fragestellungen und partiell auch verschiedene Akzentsetzungen für die pädagogische Praxis. Umso überraschender ist die hohe Übereinstimmung auf prinzipieller Ebene, wie man sehen wird. Mit Einschränkungen, was die Differenzierung betrifft, lassen sich 1. philosophisch argumentierende Ansätze, 2. sozialkonstruktivistisch orientierte, 3. primär kulturtheoretisch und 4. primär sprachwissenschaftlich begründete Ansätze unterscheiden. Erster philosophisch begründeter Ansatz, Wolfgang Nieke: das Problem des Kulturrelativismus Den thematischen Fokus von Niekes 1995 in erster Auflage erschienenem Buch bilden differente Wertorientierungen und daraus resultierende Konflikte, wie der Untertitel „Wertorientierungen im Alltag“ andeutet. Den Verfasser leitet dabei die Frage, wie ein Ausweg aus Eurozentrismus einerseits und Kulturrelativismus andererseits zu finden ist. Zunächst aber eröffnet Nieke den Argumentationsgang mit der Aussage, dass die Interkulturelle Pädagogik Befremdung ernst nehmen müsse, weil speziell in der Einwanderungsgesellschaft Normalitätsvorstellungen in Frage gestellt würden. Nieke verweist auf die kulturelle Deutung von sozialer Ungleichheit, nimmt aber an, dass das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Kulturen generell konflikthaft ist (S. 46), was sich aus seiner Fassung von Kultur ergibt. Er definiert diese als „ein Ensemble kollektiver Deutungsmuster“
vier unterscheidbare theoretische Zugänge
erster philosophisch begründeter Ansatz von Nieke
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2. Interkulturelle Pädagogik
Lebenswelt: ein Ensemble kollektiver Deutungsmuster
Kernproblem Kulturrelativismus
Diskursethik als Ausweg
aufgeklärter Eurozentrismus
zweiter philosophisch begündeter Ansatz: Kiesel
(S. 61 f.) mit dem Bestreben nach Kohärenz. Deshalb zieht er den Begriff „Lebenswelt“ vor. Da die Deutungsmuster außerdem präreflexiv, d. h. der Reflexion kaum zugänglich sind, tendiert Kultur zur Abgrenzung nach außen (S. 61 f.). Daher die Neigung zum Ethnozentrismus und zur verbreiteten Feindseligkeit im Kulturkontakt (S. 51). Trotzdem hält Nieke Kulturkonflikte nicht für unausweichlich. Gefordert sei neben der „Veränderung der Deutungsmuster“ eine „Veränderung der Strukturen“ (S. 81), wie im Modell der multikulturellen Gesellschaft angestrebt. Diese bietet auch die Leitidee für die Interkulturelle Pädagogik. Das Kernproblem ist für Nieke der Kulturrelativismus, also die ungeprüfte Gleichwertigkeit von Kulturen als Wertsystemen, weil diese pädagogisch keine Orientierung bieten könnte. Er prüft verschiedene Auswege aus dem Dilemma: (a) den Rückgriff auf die bisher kodifizierten Menschenrechte, (b) die Unterstellung transkultureller Universalien, also allgemein menschlicher Bedürfnisse und überall geltender sozialer Regeln, (c) die pragmatische Annahme der Notwendigkeit eines Rahmens von Werten für das Funktionieren von Gesellschaften, aber auch (d) Varianten des Fortschrittsglaubens und (e) die Ethik der planetaren Verantwortung des Philosophen Hans Jonas. All diese Ansätze erscheinen Nieke wenig hilfreich. Am überzeugendsten findet er die Diskursethik nach Apel und Habermas (siehe Kap. 3.1), in der die Bedingungen dafür formuliert werden, dass überhaupt Verständigung möglich wird – z. B. Kommunikation auf Augenhöhe. Das hindert nicht daran, die unvermeidliche kulturelle Eingebundenheit des Denkens und Wertens anzuerkennen. Ja, es gehört zu den Voraussetzungen des Diskurses, die jeweils anderen Lebensformen und deren Begründung ernst zu nehmen. Nieke bleibt aber skeptisch, was die Möglichkeit interkultureller Verständigung angeht, weil er Kulturen als „Selbstbehauptungssysteme“ sieht und selbst bei der Diskursethik eine versteckte Kulturgebundenheit vermutet. Die Einsicht in die Unvermeidlichkeit des kulturellen Eingebundenseins, als „aufgeklärter Eurozentrismus“ bezeichnet, bleibt für ihn die letzte Antwort. Bei interkulturellen Konflikten plädiert er für eine „situative Begrenzung der Geltung“ von Normen (S. 192), also für eine pragmatische Haltung. Zu den zehn Zielen interkultureller Erziehung, die Nieke formuliert, gehören denn auch das „Erkennen des eigenen unvermeidlichen Ethnozentrismus“, der „Umgang mit Befremdung“ und die „Akzeptanz von Ethnizität“, sofern den Anderen daran liegt. Zweiter philosophisch begründeter Ansatz, Doron Kiesel: Förderung des reflexiven Potentials Kiesel betitelt seine Arbeit „Das Dilemma der Differenz“ (1996). Denn einerseits möchte er dem Prinzip der Anerkennung von Andersheit Geltung verschaffen. – Er entwirft Interkulturelle Pädagogik als „Pädagogik der Anerkennung“. Andererseits möchte er vom „starren Blick auf die kulturellen Differenzen“ wegkommen, denn dieser „trübt den Blick für gemeinsame und geteilte kulturelle Muster“ (S. 189). Den Fragehorizont eröffnet Kiesel mit einer Skizze der rechtlichen und sozialen Situation der Zuwanderer, weil diese die Beachtung kultureller Differenzen besonders dilemmatisch oder zweischneidig werden lässt. Er gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, Ethnizität lediglich als Ergebnis sozialer Zuschreibungen zu erklären. Viel-
2.2 Theoretische Konzepte
mehr begünstigen nach ihm „Deprivations- und Instabilitätserfahrungen“ in der Migration (S. 29) die Tendenz zur Selbstethnisierung. Neben der vorenthaltenen rechtlichen Gleichstellung und der sozialen Abwertung wird auch „kulturelle Entfremdung“ genannt (S. 51). Insgesamt findet Kiesel nicht nur unter sozialpsychologischen Aspekten, dass die Selbstdefinitionen und kulturellen Ressourcen von Minderheiten nicht einfach negiert werden dürften. Mit Habermas argumentiert er, ethnische Besonderheiten seien zwar in modernen Gesellschaften Merkmale der Privatperson, die „subjektiven Erfahrungen und unterschiedlichen kulturellen Traditionen“ könnten sich aber auch dort als bedeutsam erweisen, wo das politische Subjekt am öffentlichen Diskurs partizipiert (S. 71). Dort muss freilich die Aussicht auf eine Konsensfindung gegeben sein. Wie Nieke vermutet Kiesel sowohl für politische wie auch pädagogische Problemlagen die Lösung in der Diskursethik. Anders als für Nieke gibt für ihn aber die kulturelle Imprägnierung auch universell erscheinender Normen und Rechtsformen nicht Anlass zur Skepsis. Der politischen Vision einer multikulturellen Gesellschaft entspricht pädagogisch die interkulturelle Bildung. Deren Aufgabe ist „die Förderung des reflexiven Potentials der Subjekte mit dem Ziel, die eigenen kulturellen Muster zu überschreiten und einen Einblick in andere Formen gesellschaftlicher Praxis zu gewinnen“ (S. 207). Es gelte sowohl andere soziale Selbstzuordnungen anzuerkennen als auch einen gemeinsamen Orientierungsrahmen zu erarbeiten (S. 209), wobei Verstehensgrenzen zu akzeptieren seien. Wichtig ist für Kiesel „Metakommunikation über die jeweiligen Bedürfnisse und Lebensbedingungen“ (S. 226), nicht zuletzt um „gerechte gesellschaftliche Verhältnisse“ anzustreben. In der gemeinsam mit Thomas Eppenstein verfassten Grundlegung interkultureller Sozialer Arbeit findet man die gleichen Fragestellungen, Argumentationsgänge und Grundpositionen. Im Ergebnis wird die Überbewertung kulturspezifischer Bezüge für ebenso wenig hilfreich gehalten wie deren Vernachlässigung. Soziale Fachkräfte müssten fähig werden, „sich kooperierend auf andere Orientierungen einzulassen“ (Eppenstein/Kiesel 2008, S. 128). Dritter philosophisch begründeter Ansatz, Hans-Joachim Roth: Annäherung der unterschiedlichen Horizonte In dem 2002 publizierten Buch „Kultur und Kommunikation“ ist eine anthropologische Begründung der Interkulturellen Pädagogik leitend. Im Zentrum steht das Problem des Verstehens, was Rückgriffe auf die Phänomenologie und die Hermeneutik, aber auch auf sprachwissenschaftliche Theorien erklärt. Dialogbereitschaft als grundlegendes Erfordernis gerade auch interkultureller Kommunikation versteht Roth nicht bloß als normativen Anspruch, sondern als „Anthropinon“, also als grundlegende Eigenschaft von Menschsein. Aber ebenso universell wie die Dialogfähigkeit ist für Roth die Schwierigkeit des Verstehens, keinesfalls auf interkulturelle Kommunikation beschränkt. Die Schwierigkeit intersubjektiven Verstehens, immer wieder auch allgemeines Thema der pädagogischen Reflexion, werde durch interkulturelle Beziehungen lediglich verschärft und aktualisiert. Roth bringt in Erinnerung, dass Nichtverstehen, m. a. W. Fremdheit oder Differenzerfahrung, in der Hermeneutik geradezu als Voraussetzung
das Dilemma der Unterscheidung bei sozialer Ungleichheit
Diskursethik
Kulturelle Besonderheiten weder überbewerten noch vernachlässigen!
dritter philosophisch begründeter Ansatz: Roth
Dialogizität und Problem des Verstehens universell
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2. Interkulturelle Pädagogik
Kultur als „Referenzhorizont“
Wille zur Kooperation trotz Machtasymmetrien
Sozialkonstruktivismus
erster sozialkonstruktivischer Ansatz: Hamburger
„reflexive Interkulturalität“
des Verstehens gesehen wird (S. 436), weil erst dadurch die Aufmerksamkeit auf die Eigenheit des Anderen gelenkt und das Bemühen um die Erschließung seiner Welt initiiert wird. Kultur fasst Roth im Anschluss an die phänomenologische Tradition als „Referenzhorizont“ – ein unbestimmter und offener, individuell unterschiedlich weiter Horizont. Er geht davon aus, dass die Bekanntschaft mit Fremdem über den eigenen Horizont vermittelt ist. Man könnte von der grundlegenden Horizontalität des Weltzugangs sprechen. Kultur als „ein kollektiver Horizont der Symbole bzw. der in Symbolen geformten Erfahrungen“ bedarf der individuellen Sinngebung (S. 506). Damit ist der scheinbare Gegensatz von kultureller Einbindung und Individualität überwunden. Das Individuum könnte sich ohne den Referenzhorizont gar nicht die Welt erschließen. Entscheidend für erfolgreiche Kommunikation, gleich ob intra- oder interkulturell, ist nach Roth „der Wille zur Kooperation“ (S. 558), wobei die Machtungleichgewichte zu beachten seien, wie sie zum Beispiel zwischen Einheimischen und Zugewanderten gegeben sind (S. 546). Das Ziel jeder Kommunikation kann für Roth nur darin bestehen, dass die unterschiedlichen Horizonte sich aufeinander zu bewegen, nicht dass sie verschmelzen. Sozialkonstruktivistisch orientierte Ansätze: Kennzeichnend für den Sozialkonstruktivismus ist die Auffassung, dass die Muster, mit denen wir die Welt wahrnehmen, gesellschaftlich konstruiert, institutionalisiert und tradiert sind. Daraus ziehen einige Vertreter/innen der Interkulturellen Pädagogik den Schluss, dass Kulturgrenzen als Konstrukte zu behandeln seien. Zumindest sei der Wahrnehmung von Differenz gegenüber eine äußerst kritische Haltung angebracht. Franz Hamburger: reflexive Interkulturalität Ungeachtet der Tatsache, dass Hamburger nur in Aufsätzen und Reden auf die Diskussion Einfluss genommen hat, verdient er als einer der frühen Kritiker kulturalistischer Tendenzen in der Interkulturellen Pädagogik Beachtung. In seinen Beiträgen hat er meist die Praxisfelder Jugend- und Sozialarbeit im Blick. Seine originelle Perspektive für die interkulturelle Bildungsarbeit heißt „reflexive Interkulturalität“ – der Begriff für eine Haltung, die inzwischen zum Maßstab pädagogischer Arbeit geworden ist. Reflexive Interkulturalität intendiert insbesondere die Berücksichtigung des Konstruktcharakters von Identitäten und Differenzen, d. h. dass diese sich Selbstdefinitionen und Zuschreibungen verdanken, bei denen Individuen und Gruppen auf kulturell vorgegebene Kategorien zurückgreifen. Hamburger warnt in seinen Schriften durchweg vor sozialen Kategorisierungen jeder Art, wobei diese Warnungen vor der Wende zur „reflexiven Interkulturalität“ radikaler ausfallen, verbunden mit der Kritik am Kulturbegriff und seiner pädagogischen Verwendung. Hamburger konzediert aber die Notwendigkeit „kollektiv geteilter Symbole“ (1991, S. 87),1 wobei er zu Recht daran erinnert, dass das moderne Individuum an mehreren Kulturen partizi1 Die Erscheinungsjahre 1982 bis 1992 beziehen sich auf die Texte in dem Band „Pädagogik der Einwanderungsgesellschaft“ (Frankfurt/M. 1994).
2.2 Theoretische Konzepte
piert (1999, S. 41). Er konzediert auch, dass ethnische Identifikationen bei aller Fragwürdigkeit zumindest Minderheitenangehörigen bei der Bewältigung ihrer Situation helfen können (1999, S. 43). Die Konsequenz daraus: „In der Reflexiven Interkulturalität werden Differenzen und Gegensätze nicht zum Verschwinden gebracht, die Unterschiedlich- und Gegensätzlichkeit von menschlichen Selbstdefinitionen wird nicht aufgehoben“ (Hamburger 2006, S. 184 f.). Eine methodische Konsequenz des Prinzips der „reflexiven Interkulturalität“ ist, dass interkulturelles Lernen situativ zu sein hat. Hamburger vertritt die Auffassung, „dass interkulturelles Lernen ein notwendiges Lernen in kritischen Situationen oder in ,Situationen der alarmierenden Entdeckung‘ ist …“ (1999, S. 39; vgl. 2006, S. 189). Er möchte damit eine überflüssige Thematisierung von – oft nur vermuteten – Differenzen ausschließen, die nur soziale Dichotomien und Stigmatisierungen fördert, möchte aber zugleich Differenzblindheit vermeiden und der Anerkennung von selbst gewählten und artikulierten Differenzen Rechnung tragen. Die Bedeutung kultureller Unterschiede wird auch dort relativiert, wo Hamburger von pädagogischen Fachkräften „migrationssensibles Handeln“ fordert (2006, S. 186). Das heißt, es geht in der interkulturellen Bildungs- und Sozialarbeit nicht nur oder sogar weniger um kulturelle Aspekte als vielmehr um die Berücksichtigung von Migrationserfahrungen und Migrationsfolgen einschließlich der Minderheitensituation und Soziallage. Er verwies schon in den 1980er Jahren auf die problematische Struktur unseres Bildungswesens mit seinen Selektionsmechanismen und auf die Ausbildungsmisere, von der schon damals Migrantenjugendliche besonders betroffen waren. Und er verband damit die äußerst aufschlussreiche Annahme, dass die strukturelle Ungleichheit die Intentionen interkultureller Bildung ins Gegenteil verkehren kann, weil „stereotype Zuschreibungen verfestigt werden“ (1988, S. 44). Deshalb war er bemüht, „die Aufmerksamkeit auf die sozialpolitischen Voraussetzungen und sozialstrukturellen Implikationen“ der Pädagogik in der Einwanderungsgesellschaft zu richten (1994, Vorbemerkung). Paul Mecheril: Dekonstruktion von Zugehörigkeitsordnungen Den Fokus von Mecherils Konzeption bilden die „ethnisch-symbolischen Zugehörigkeitsordnungen“, die sich im Gefolge der Migration etabliert haben. Mecheril folgt damit ebenfalls einem sozialkonstruktivistischen Ansatz, den er aber um Aspekte der Diskurstheorie und der Cultural Studies ergänzt. Insbesondere beruft er sich mehrmals auf Stuart Hall. Die „Erfindung“ von Nationen impliziert Ein- und Ausschließung, und zwar nicht nur formalrechtlich durch die Unterscheidung von Staatsbürgern und anderen ohne entsprechenden Pass, sondern auch sozial und kulturell aufgrund bestimmter Normalitätsvorstellungen in den Köpfen. Diese Vorstellungen werden als Ergebnis von Diskursen und damit wie bei Foucault als „Machtphänomene“ gefasst, die Subjektivität konstituieren (2004, S. 44 f.). Diskurse im Sinn von Foucault schließen soziale Praxen ein und konstituieren gesellschaftliche Verhältnisse. So wird die Rede von „Differenz- und Dominanzverhältnissen“ bei Mecheril verständlich. „,Die Anderen‘ stellen eine Konkretisierung politischer und kultureller Differenz- und Dominanzverhältnisse dar“ (S. 24). Die Differenzen sind in die Verhältnisse ein-
die Funktionalität ethnischer Identifikationen
interkulturelles Lernen situationsbezogen
soziale vor kulturellen Aspekten
zweiter sozialkonstruktivistischer Ansatz: Mecheril
„Normalität“ als Ergebnis von Diskursen
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2. Interkulturelle Pädagogik
die Paradoxie des Anerkennungspostulats
„Zugehörigkeitsmanagement“
das „System des machtvollen Unterscheidens“
dritter sozialkonstruktivistischer Ansatz: Holzbrecher
geschrieben, welche die üblichen Vorstellungen von ,Normalität‘ bestimmen. Im Gegensatz zu Autoren, die Kultur lediglich als Instrument der Fremdzuschreibung betrachten, dient diese Kategorie für Mecheril sowohl der sozialen Fremd-, aber auch der Selbstzuordnung. Daraus ergibt sich die Paradoxie des Anerkennungspostulats; denn wenn sich zum Beispiel eine junge Frau als Muslima versteht und verstanden werden möchte, dann kann es je nach Situation eine Missachtung dieses Identitätsentwurfs bedeuten, nicht darauf einzugehen. Zugleich kann dies je nach Situation als Diskriminierung erlebt werden. In der Praxis hilft hier nur situationsbezogene Sensibilität oder pädagogischer Takt. Theoretisch behilft sich Mecheril mit einem „Vier-Felder-Schema, das den diskursiven Raum der pädagogischen Konstruktion, Untersuchung und Behandlung der oder des Migrationsanderen symbolisiert“ (S. 93). Der defizitären Abwertung (mit dem Blick auf Rückständigkeit, Kulturkonflikte etc.) stellt er die Aufwertung von Differenz (Ressourcen) gegenüber. Zugleich werden den Perspektiven auf die „Anderen“ die Perspektiven der „Anderen“ gegenübergestellt. Die Beobachtung und Bekämpfung von Diskriminierungsprozessen verliert damit nicht an Bedeutung für die Pädagogik, aber ebenso bedeutsam wird die Beobachtung und Würdigung ihrer Verarbeitung durch die Betroffenen, d. h. des individuellen „Zugehörigkeitsmanagements“ und der Nutzung kultureller Bezüge dabei. Die Migrationspädagogik hat nach Mecheril die zentrale Aufgabe, die Mechanismen der Erzeugung des „Anderen“ und den Beitrag pädagogischer Diskurse dabei aufzudecken, aber er möchte auch die Perspektive der Anderen berücksichtigt haben. Ziel der interkulturellen Bildung ist daher zunächst die Dekonstruktion binärer Schemata (S. 206), d. h. der vereinfachenden Unterscheidung „wir – die da“. Sie soll Einblicke verschaffen in das „System des machtvollen Unterscheidens“ (S. 177), in die dreifache Verankerung des Rassismus (institutionell/strukturell, kulturell und individuell). Ziel ist aber auch eine differenzsensible Haltung, nicht nur als Anforderung an pädagogische Fachkräfte, unter Beachtung „der Heterogenität von Identitäten“ (S. 212), zum Beispiel als Jugendliche/r, Migrant/in, Mann, Frau etc., womit Mecheril implizit das Konzept der „Intersektionalität“ von Differenzlinien aufnimmt (siehe Kap. 5.3). Wünschenswert erscheint hierbei ein „lernendes Handeln“ (S. 130), also ein Lernen in der Interaktion, was eine lernende Haltung verlangt. Zentrale Leitlinien für die „Migrationspädagogik“ sind nach Mecheril „die Anerkennung von Differenz und Heterogenität sowie Gerechtigkeit und ,Chancengleichheit‘“ (S. 164). Alfred Holzbrecher (1997): Fremdheit als Beziehungsmodus Fremdheit wird von Holzbrecher unter Rückgriff auf den Konstruktivismus, aber auch auf Psychoanalyse und Gestaltpsychologie als ein Beziehungsmodus gefasst. Dieser hängt, so die Grundannahme, mit dem jeweiligen Selbstund Weltbild zusammen (1997, S. 10, vgl. 2011, S. 150) und ist durch die Geschichte der eigenen Gesellschaft und Person bedingt. Angestrebt wird ein produktiver Umgang „mit dem Fremden bzw. mit Ambivalenzerfahrungen“ (ebd.). Holzbrecher verweist mit Rekurs auf den Soziologen Norbert Elias auf die Herausbildung der modernen, sprich europäischen Psy-
2.2 Theoretische Konzepte
chostruktur (Stichwort „Selbstzwang“), weil diese, so die Annahme, folgenreich für die Begegnung mit Fremden wurde, was der Verfasser exemplarisch an der Eroberung der Neuen Welt verdeutlicht. Der Diskurs über den Orient als Gegenwelt liefert ein zweites Beispiel. Die Arbeit des Entwicklungspsychologen Robert Kegan wird deshalb für die Argumentation bedeutsam, weil Holzbrecher die Funktion von Krisen für die Entwicklung des Selbst beleuchten möchte; denn die Bearbeitung der Krisen, besonders in der Adoleszenz, entscheide über den Umgang mit Ambivalenzerfahrungen. Das Fremde als Konstrukt kann nach Holzbrecher aus zwei Gründen zum Problem werden: Erstens geht er mit Vertretern der Psychoanalyse davon aus, dass Fremderfahrungen immer auch den Kontakt mit Teilen unseres Selbstbildes implizieren (1997, S. 155). Das heißt, sie werden als Projektionen verstanden. Zu bedenken sei zweitens das psychische „Konsistenzbedürfnis“ (S. 88), das durch die Ambivalenz des Fremden allzu leicht gestört werde. Denn das Subjekt muss etwas Neues und noch dazu Mehrdeutiges erst einzuordnen versuchen. Das jeweilige Selbstkonzept bzw., in anderer Theoriesprache das jeweilige Identitätskonstrukt, entscheidet darüber, wie das Fremde erlebt und wie damit umgegangen wird. Damit gewinnt die Selbstreflexion einen hohen Stellenwert. Sie steht im Zentrum der pädagogischen Empfehlungen von Holzbrecher. Sehr gute Anstöße zur Selbstreflexion können nach ihm Interaktionsübungen in der Gruppe geben. Solche Übungen, zum Beispiel der „Baum der Wünsche und Ängste“ (1997, S. 246), müssen überhaupt nicht Interkulturalität oder kulturelle Differenzen zum Inhalt haben. Voraussetzung für interkulturelles Lernen ist nach Holzbrecher ein stützender Ordnungsrahmen. Wichtig ist Vertrauensbildung, um zum Beispiel Kommunikationsprobleme unter dem Beziehungsaspekt zur Sprache bringen zu können, wie es die Kommunikationspsychologie nahelegt. Da zu den „Dimensionen interkultureller Wahrnehmung“ für Holzbrecher auch die historische und die politisch-ökonomische Dimension, gehören – insgesamt unterscheidet er vier thematische Felder – kommt er auch zu curricularen Vorschlägen: z. B. Phasen der Kolonialgeschichte oder die mediale Konstruktion von Fremdbildern. Aber wichtig ist dabei die Beachtung der „Aneignungsaktivität“ der lernenden Subjekte (2011, S. 159). Deshalb sind irritierende oder verunsichernde Erlebnisse, sog. „kritische Momente“, besonders für das interkulturelle Lernen hoch bedeutsam (2011, S. 221 f.). Ulrike Hormel und Albert Scherr: eine Pädagogik der Menschenrechte Hormel und Scherr (2004) teilen sozialkonstruktivistische Annahmen. Für unerlässlich halten sie die „Auseinandersetzung damit, wie sozial bedeutsame Differenzen hergestellt und wie Differenzmarkierungen als Mittel sozialer Typisierungen und Ausgrenzung sowie als Diskriminierungsressource verwendet werden“ (S. 216). Aber ebenso wie Hamburger und Mecheril betrachten sie Differenzen nicht bloß als Ergebnis von Fremdzuschreibungen, sondern auch von Selbstbeschreibungen. Sie halten die Einsicht in „die Pluralisierung von Lebensentwürfen“ für pädagogisch ebenso beachtenswert wie die Einsicht in „die Relevanz sozialer Zuordnungs- und Zuschreibungsprozesse im Kontext gesellschaftlicher Macht- und Ungleichheitsverhältnisse“ (S. 210). Zwei Ziele sind also für die Bildungsarbeit zentral: Einerseits
Selbstkonzept und Fremdheit
Impulse zur Selbstreflexion
bedeutsam: irritierende Erlebnisse
vierter sozialkonstruktivistischer Ansatz: Hormel u. Scherr
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2. Interkulturelle Pädagogik doppelte Perspektive der Bildungsarbeit
Erfahrungsbezug wichtig
Menschenrechte als Orientierungsgrundlage
pädagogische Ziele
Gemeinsamkeiten sozialkonstruktivistisch orientierter Konzepte
Rezeption der Cultural Studies
sei es notwendig, „zur Einsicht in Prozesse der Konstruktion des ,Anderen‘ zu befähigen“ (S. 216). Andererseits gelte es, den „Forderungen von Minderheiten, die auf die Anerkennung ihrer Besonderheit zielen“, Rechnung zu tragen (S. 217). Essentiell für die pädagogische „Programm- und Konzeptentwicklung“ ist die „dialogische Anlage von Bildungsprozessen“ und ein „umfassender Einbezug der Erfahrungen“ (S. 127 f.). „Deshalb sind solche Vorgehensweisen erforderlich, die SchülerInnen Möglichkeiten der Artikulation eigener Erfahrungen, Überzeugungen und der Auseinandersetzung mit diesen eröffnen“ (ebd.). Hormel und Scherr machen aber nicht nur die angemessene pädagogische Methodik zum Thema, sondern auch auf die Ebenen der Organisationsentwicklung aufmerksam, zum Beispiel auf das Sozialklima und die Lernkultur von Schulen. Denn die erfolgreiche Vermittlung des Bewusstseins für Menschenrechte verlange „eine entgegenkommende Schulkultur“ (S. 174). Für alle Gestaltungsebenen bilden die Menschenrechte die geeignete Orientierungsgrundlage. Die Idee der Menschenrechte kann nach Ansicht der beiden Verfasser/innen, wenngleich sie in historisch spezifischer Form artikuliert worden ist und entwicklungsbedürftig sei, „an eine potentiell allen Individuen zugängliche Erfahrung anknüpfen“ (S. 148). Menschenrechtliche Kernideen wie Menschenwürde, Gleichheit, Gerechtigkeit gewinnen nach Hormel/Scherr Relevanz „für die Auseinandersetzung mit konkreten Problemlagen in der Einwanderungsgesellschaft“ (S. 154). Unter dieser Perspektive sollten die verschiedenen Formen von Diskriminierung zum Thema gemacht werden. Anzustreben sind erstens Wissen, unter anderem über diskriminierende Strukturen und Ideologien, zweitens Fähigkeiten, zum Beispiel die Fähigkeit zur Artikulation eigener Problemlagen und Interessen und drittens Haltungen wie die Offenheit für unterschiedliche Standpunkte (S. 172 f.). Als pädagogisch entscheidend gilt die Reflexion eigener Erfahrungen und eigenen Handelns, aber auch beobachteter Diskriminierungspraktiken (S. 155). Resümee zu sozialkonstruktivistisch orientierten Ansätzen: Wenn man so will, ist die Orientierung am Sozialkonstruktivismus bei allen vier Ansätzen insofern inkonsequent, als die Relevanz kulturspezifischer Orientierungen und kulturell codierter Selbstverortungen für die Subjekte nicht in Abrede gestellt wird. Letztlich würde ja auch die Leugnung kultureller Codes in Widerspruch zur Grundannahme geraten, dass unsere Vorstellungsmuster soziale Konstrukte seien. Als für die pädagogische Praxis bedeutsam sind folgende Gemeinsamkeiten festzuhalten: 1. die Beachtung gesellschaftlicher Machtverhältnisse bei Fremd- und Selbstdefinitionen und damit 2. der hohe Stellenwert der kritischen Reflexion von Interaktionen, was 3. auch den Erfahrungsbezug interkulturellen Lernens impliziert. Ein primär kulturtheoretisch begründetes Konzept: Georg Auernheimer Auernheimer stützt sich auf die frühen Cultural Studies britischer Provenienz und auf die Psychologie der Wygotski-Schule. Er sieht vom marxitischen Beobachterstandpunkt aus die Praxis der Menschen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, speziell die jeweiligen materiellen Lebens-
2.2 Theoretische Konzepte
bedingungen beschränkt, aber kulturell schöpferisch überformt. Die Individuen interpretieren ihre Lebenssituation mit den jeweils verfügbaren kulturellen Mitteln. Die Lebenspraxis ist für ihn „ebenso kulturell artikuliert, wie sie sozialstrukturell determiniert ist“ (1994, S. 41). Auch die Erläuterung der Form und Funktion von Rassismen bei Auernheimer zeigt die Nähe zu den Cultural Studies (siehe dazu Kap. 4). Diese Sichtweise bedingt auch die Offenheit für Ansätze der Antiracist Education mit dem Fokus auf strukturellem Rassismus. Die Individuen sind für Auernheimer nicht Geschöpfe oder gar Gefangene ihrer Kultur. Er wendet sich gegen die gängige Vorstellung von kultureller „Prägung“ und spricht stattdessen von „kultureller Vermittlung“ unseres Fühlens, Denkens und Handelns (1988, S. 45). Begründet wird dies mit der Unterscheidung zwischen gesellschaftlichen „Bedeutungen“ und dem je persönlichen „Sinn“ (Aleksej N. Leontjew) oder persönlichen „Handlungsgründen“ (Klaus Holzkamp). Daher gibt es auf gesellschaftliche Konstellationen und Lebenslagen viele mögliche Antworten. Unsere Wahrnehmung ist zwar durch die verfügbaren kulturellen Codes gebrochen, und wir können uns nur in den jeweiligen Formen artikulieren. Aber der damit verbundene Sinn kann sehr unterschiedlich sein, was zum Beispiel auf Anhieb nicht erkennbare kulturelle Transformationen erklärt. Beispiele dafür aus dem Migrationskontext wären das scheinbar traditionelle Familienverständnis, Geschlechterrollen oder auch der Wert der „Ehre“. Neue persönliche Sinngebungen werden genauso wie Änderungen des Bedeutungs- oder Orientierungssystems einer ganzen Gruppe durch geänderte Lebensverhältnisse veranlasst, weil diese geänderte Handlungsanforderungen mit sich bringen. Damit wird die Dynamik von Kulturen nicht einfach nur behauptet, sondern erklärbar. Kultur wird als Symbolsystem definiert, was aber nicht ausschließt, dass jede Tätigkeit und jedes Produkt, auch ein technisches Instrument, seine symbolische Seite hat bzw. seine Symbolik verliehen bekommt. Als Symbolsystem ist Kultur prinzipiell mehrdeutig und für Bedeutungsgebung offen, was nicht nur ihre Historizität, sondern auch die Kämpfe um Deutungsmacht verständlich macht, die jede kulturelle Transformation begleiten. Auernheimer spricht mit Antonio Gramsci vom Kampf um „kulturelle Hegemonie“, den er zum Beispiel auch in Migrantenkulturen vermutet. Die Kultur wird von ihm funktional definiert als Orientierungssystem oder auch als Repertoire von Kommunikations- und Repräsentationsmitteln (1988). Denn erstens ist unsere Bewertung der Welt, sind unsere Verhaltensregeln kulturspezifisch, zweitens wird unsere Verständigung durch die je gemeinsame Kultur erleichtert, ohne dass sie kulturell begrenzt wäre. Drittens könnten wir uns ohne unsere Sprache und andere kulturspezifische Medien nichts vorstellen im ursprünglichen Sinn des Wortes (engl. representation). Auch die Vorstellung von uns selbst, unser Verhältnis zu uns selbst und zur Welt ist nach Auernheimer auf kulturelle Mittel und Praxen angewiesen. „Aus den uns umgebenden Kulturen holen wir uns gleichsam das Material für die ,bricolage‘ unserer Identität“ (1988, S. 93). Das impliziert die Möglichkeit bikultureller oder generell hybrider Identitätsentwürfe. Auernheimer sieht dies allerdings nicht euphorisch, sondern berücksichtigt wie Mecheril die Zwänge, mit denen Minderheitenangehörige aufgrund der gesellschaft-
gesellschaftliche Bedeutungen vs. persönlicher Sinn
geänderte Lebensverhältnisse als Impuls für kulturelle Neuerungen
Kämpfe um Deutungsmacht
Vorstellungen kulturell vermittelt
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2. Interkulturelle Pädagogik
lichen Zuschreibungen, bei ihrer sozialen Selbstzuordnung konfrontiert sind. Ebenso wie Kulturen sind Identitätskonstrukte für Auernheimer notwendigerweise prozesshaft, weil veränderte Lebenssituationen eine Neuorientierung verlangen. In der historisch-materialistischen Sichtweise ist auch die Universalismusproblematik insoweit entschärft, als die durch die Globalisierung von industrieller Produktion und Marktwirtschaft bedingten Herausforderungen neue rechtliche Standards erzwingen und bis zu einem gewissen Grad einen gemeinsamen normativen Rahmen erfordern, wie er zum Teil schon Ergebnis internationaler Übereinkünfte ist. Der Modernisierungsprozess kann dabei durchaus viele Gesichter haben, weil die Antworten auf vergleichbare Anforderungen (z. B. der individuellen Reproduktion als Lohnabhängige/r) kulturell unterschiedlich ausfallen. Aggressive, inhumane Bewegungen wie Nationalismen, Rassismen und Fundamentalismen werden als Reaktionen auf Verunsicherung durch Konkurrenz-, Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnisse interpretiert. „Milieus“ statt Kulturen
„konjunktive Erfahrungen“ bei gemeinsamer „sozialer Lagerung“
Kritik am Modell der „institutionellen Diskriminierung“
Arnd-Michael Nohl: eine „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ Nohl (2010/2006) will den Gegensatz zwischen „Antidiskriminierungspädagogik“ und Interkultureller Pädagogik überwinden. Sein Entwurf einer „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten soll „problematische Aspekte“ , die er in anderen Konzeptionen ausmacht (S. 145), vermeiden. Er favorisiert einen theoretischen Ansatz, für den der Milieubegriff zentral ist, entwickelt von dem Soziologen Ralf Bohnsack unter Rückgriff auf Karl Mannheim. Der Milieubegriff nimmt in Nohls Argumentationshaushalt in mehrfacher Hinsicht die Funktion ein, die sonst dem Kulturbegriff zukommt. „Milieus“ könnte man als besondere Ausformungen einer „Kultur“ verstehen. Milieus entsprechen jeweils einer bestimmten „sozialen Lagerung“ mit den dadurch bedingten „homologen Erfahrungen“, die das Potential für die „konjunktiven Erfahrungen“, d. h. die verbindenden Erfahrungen einer Gruppe, sozialen Schicht oder Generation bilden. Das erinnert an das Kulturkonzept der Cultural Studies. Die „kulturellen Repräsentationen“, mit denen sich solche Gruppierungen nach außen darstellen, tendieren zwar zu Autostereotypen, sind aber nach Nohl – anders als bei „vorgestellten Gemeinschaften“ wie Nationen – milieugebunden, also erfahrungsbezogen, und insofern als Selbstdarstellung ernst zu nehmen. Den Fremdbildern, die von außen an eine Gruppe herangetragen werden, entsprechen also auch Selbstbilder, die nicht unabhängig von gruppenspezifischen Erfahrungen sind. Mit dem Milieubegriff meint Nohl besser die Intersektionalität solcher Erfahrungen verständlich machen zu können. Milieus unterscheidet Nohl von Organisationen. Bei ersteren sind Regeln informell und implizit, bei Letzteren formal und explizit. Aufgrund dieser Unterscheidung kritisiert Nohl das systemtheoretisch orientierte Erklärungsmodell der „institutionellen Diskriminierung“, das Untersuchungen zur schulischen Benachteiligung von Migrationskindern zugrunde lag. Da es Diskriminierung mit systemimmanenten Mechanismen erklärt (bei schulischen Übergangsempfehlungen z. B.), sei es in hohem Grad deterministisch. Nach Nohl gibt es aber innerhalb von Organisationen – so auch an Schulen – einen milieubedingten Umgang mit den formalen Regeln, so dass auch in-
2.2 Theoretische Konzepte
formelle Regeln zur Geltung kommen. Ein Beispiel dafür ist der in den 1970er Jahren aufgedeckte Mittelschichtbias des Lehrpersonals mit der damit verbundenen Orientierung an entsprechenden Werten und Normen. Außer der nicht intendierten Diskriminierung bedingt nach Nohl die Verknüpfung der funktionalen Differenzierung mit der Milieudifferenz bei ungleichen Machtverhältnissen eine „milieubedingt ungleiche Inklusion“ (S. 234 f.). Ein Mittel dagegen sieht Nohl in der Partizipation „diskriminierter Milieuangehöriger“, sprich: von Fachkräften und Schülern bzw. Klienten mit Migrationsgeschichte (S. 237). Auch die Sensibilisierung des sonstigen Personals würde die institutionellen Mechanismen schwächen, so darf man schlussfolgern. Was Nohl an pädagogischen Handlungsprinzipien und Zielen vorbringt, erscheint vertraut, wenn man die eigenwillige Terminologie in übliche Begriffe übersetzt. Es sei Hilfe zu leisten „zur kommunikativen Explikation möglichst vieler Milieudimensionen“ (2006, S. 230). Aufgabe des Pädagogen sei es, die „vorreflexive Ebene des Kulturellen“ zu rekonstruieren. Daher müsse er zu methodisch kontrolliertem Fremdverstehen befähigt werden (S. 239). Die Aufgabe bestehe außerdem „in der Aufklärung, Verbesserung, in der Verbreiterung und Kontrastierung der unterschiedlichen Wissensbestände über fremde Milieus“ (S. 231). Ziel sei „ein habitualisiertes, konjunktives Können im Umgang mit Milieufremden“ (ebd.). Die Begrifflichkeit macht den Text sperrig. Es mag aber auch sein, dass die interkulturelle Programmatik durch die sprachliche Verfremdung vor manchem Missverständnis bewahrt wird. Ein sprachwissenschaftlich begründetes Konzept: Bildungsziel Zweisprachigkeit Ende der 1980er Jahre hat Ingrid Gogolin unter dem Titel „Erziehungsziel Zweisprachigkeit“ ein bildungspolitisches und didaktisches Konzept vorgelegt, das der interkulturellen Idee verpflichtet ist, verstanden als „eine Zuspitzung und Konkretisierung auf den Gesichtspunkt der Zweisprachigkeit, in der kulturelle Zugehörigkeit abgebildet ist“ (Gogolin 1988, S. 122). Das entworfene Programm soll Migrantenkindern die „Teilhabe am kulturellen Erbe der eigenen ethnischen Gemeinschaft“ (S. 101) ermöglichen, ist also der Bildungstradition verpflichtet, wenngleich die Verfasserin im Titel den Begriff „Erziehungsziel“ gewählt hat. Gogolin propagiert „integrierte Zweisprachigkeit“ als Bildungsziel. Das schließt „die Reflexion über Sprachen, die Vermittlung und den Wechsel zwischen Sprachen, das Spiel mit Sprachen“ ein (S. 102). Ihr ist es wichtig, gegenüber der negativen, auf Defizite konzentrierten Sichtweise die Potentiale zur Geltung zu bringen, die der Primärspracherwerb im Kontakt mit zwei Sprachen in sich birgt (dazu S. 43), wie er für Kinder aus Migrantenfamilien die Regel ist. Sie hat dafür den Begriff „lebensweltliche Zweisprachigkeit“ geprägt. Dieses Theorem ist erstens mit der Annahme verbunden, dass der kindliche Kontakt mit zwei Sprachen im Alltag in struktureller, semantischer und pragmatischer Hinsicht eine spezifische Sprachentwicklung mit sich bringt (S. 41), die Einfluss auf die gesamte psychische und geistige Entwicklung hat, und zweitens, dass die Reflexion über Sprache durch die bilinguale Entwicklung begünstigt wird (S. 42), wobei Gogolin einräumt,
ein sprachwissenschaftlich begründetes Konzept: Gogolin und andere
„lebensweltliche Zweisprachigkeit“
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2. Interkulturelle Pädagogik
Förderung der Sprachbewusstheit
im Unterricht an Minderheitensprachen anknüpfen
der „monolinguale Habitus“ des Lehrpersonals
sprachsensibler Fachunterricht
dass die Entwicklung metasprachlicher Fähigkeiten zum Teil vom familiären Milieu abhängig ist. In einem bildungsarmen Milieu dürfte es weniger Anstöße dafür geben. Jedenfalls ist die Förderung von Sprachbewusstheit eine zentrale Bildungsaufgabe, und das nicht nur bei Migrationskindern, weil dies einen „qualitativen Sprung“ für das Sprachenlernen und die ganze kognitive Entwicklung bedeute (ebd.). Bei Kindern aus zweisprachigen Familien sieht Gogolin besondere Chancen. Die „Entfaltung ihres gesamten Sprachbesitzes“ (S. 10) ist für sie pädagogische Verpflichtung. Die metasprachlichen Fähigkeiten der einheimischen Kinder sollen durch die spielerische Vermittlung der im Klassenzimmer vertretenen Sprachen als ,Begegnungssprachen‘, d. h. durch Sprachvergleich, gefördert werden. Dem Bildungsziel Zweisprachigkeit wird das bestehende Bildungssystem bis heute nicht gerecht. Gogolin kritisiert die Resistenz gegen strukturelle und normative Veränderungen, das starre Festhalten an den „monoglotten Bewertungsmaßstäben“ in allen westeuropäischen Bildungssystemen. Das bloß instrumentelle Anknüpfen an die Erstsprache zur Erleichterung des Zweitspracherwerbs entspricht nicht ihren Vorstellungen, und auch den Muttersprachlichen Ergänzungsunterricht hält sie für unzureichend. Der Unterricht müsse an den zweisprachigen Alltag der Schüler/innen anknüpfen und deren sprachliche Fähigkeiten auf dieser Basis systematisch ausbauen (S. 103). Im Fachunterricht sollen die verschiedenen Sprachen aufgegriffen werden (S. 107 f.). Darin sieht Gogolin Möglichkeiten des interkulturellen Austauschs über sprachlich verschieden codierte Zugänge zur Welt. Der selbst eingestandene utopische Charakter ihrer Konzeption wird aus heutiger Sicht deutlich, wenn man ihre Forderung liest, nicht den Nationalsprachen, sondern den Familiensprachen der Migrationskinder (also z. B. dem Aramäischen oder Kurdischen) unterrichtliche Relevanz zuzuschreiben. Aber das, was Gogolin als „Lernbereich Zweisprachigkeit“ propagiert hat, ist, wenn auch in bescheidenem Umfang, in schulische Praxis umgesetzt worden. Denn der Lernbereich „Begegnung mit Sprachen“ an Grundschulen in NRW, eine Adaption des britischen Language-Awareness-Programms, entspricht dem. Um sich der realen Chancen für ihr Bildungsziel zu vergewissern hat Gogolin in einer Fallstudie die Einstellungen zur Zweisprachigkeit im Kollegium einer Großstadtschule mit vielsprachiger Schülerschaft untersucht. Das ernüchternde Ergebnis ist der „monolinguale Habitus“ des Lehrpersonals, so die These der Studie (Gogolin 1994). Das Habitus-Konzept des Soziologen Bourdieu sollte die stark verinnerlichte, „inkorporierte“ Einstellung gegenüber Mehrsprachigkeit fassbar machen. Die von Gogolin zur Voraussetzung für die Unterrichtsplanung gemachte „individuelle Sprachdiagnose“, bis vor kurzem noch Zukunftsvision, ist inzwischen zumindest in ausgewählten Regionen eingelöst. Gogolin war federführend beteiligt an dem BLK-Programm „FörMig“ zur Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund (dazu Kap. 7.1). Im Rahmen des Programms sind verschiedene Diagnoseinstrumente zur Sprachstandsmessung entwickelt worden. Der Sensibilisierung der Lehrer/innen dienen auch sog. „Niveaubeschreibungen Deutsch als Zweitsprache“. Sprachförderung soll als Querschnittsaufgabe aller Fächer verstanden werden. Nach Beendi-
2.2 Theoretische Konzepte
gung des Forschungsprogramms in 2009 wurde an der Universität Hamburg das Kompetenzzentrum FörMig gegründet, das mit Materialien und Weiterqualifizierungsangeboten die Sprachförderung unterstützt. Als Mitstreiter auf diesem Feld ist Hans-H. Reich zu nennen, der sich schon in den 1980er Jahren für die Berücksichtigung der zweisprachigen Entwicklung von Migrationskindern engagiert hat, damals vor allem mit Studien zum Unterricht in den Herkunftssprachen. Hans-H. Reich hat zusammen mit Hans-Joachim Roth das „Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstands Fünfjähriger“ (HAWAS 5) entwickelt, das deshalb bemerkenswert ist, weil es das sprachliche Profil der Migrationskinder auch in den wichtigsten Herkunftssprachen zu bestimmen erlaubt. Resümee Leitend für die Interkulturelle Pädagogik sind die Anerkennung von Anderssein und das Bewusstsein von Ungleichheit, m. a. W. die Wachsamkeit gegenüber Diskriminierungen. Diese doppelte Thematik lässt sich als Gemeinsamkeit für alle Konzepte festhalten, wenngleich einige Vertreter/innen des Fachgebiets den Schwerpunkt stärker auf das zweite Motiv, die Sensibilisierung für Dominanzverhältnisse legen, weil sozialkonstruktivistisch beeinflusste Ansätze Kultur primär als Mittel machtvoller Unterscheidungen sehen. Jedoch wird auch in diesen Konzepten konzediert, dass kulturelle Merkmale für die Selbstdefinition von Individuen und Gruppen bedeutsam sind. Wären Kulturdifferenzen lediglich sozial konstruiert, machte die Anerkennung von Anderssein verständlicherweise wenig Sinn. Aber es wird nicht verkannt, dass Kultur auch als Ressource für Identitätskonstrukte dient. Daher lässt sich Anerkennung als Handlungsmaxime zumindest implizit in allen Konzepten entdecken, besonders auch in der sprachwissenschaftlich begründeten Programmatik. Sprache wird dort als die bedeutsamste kulturelle Ressource behandelt. Die Anerkennung sprachlicher Diversität wird z. B. von Roth als „eine zwingende Voraussetzung für eine gelingende interkulturelle Bildung“ gesehen (2011, S. 129). Dass Anerkennung von Diversität und Alterität ohne Chancengleichheit, besonders Bildungsgerechtigkeit, m. a. W. ohne strukturelle Integration zur Farce würde, kann auch als Teil des Konsenses gelten. Die strukturelle Benachteiligung von Migranten wurde besonders von Hamburger wiederholt als nicht nur für die politische Agenda, sondern auch für die pädagogische Praxis bedeutsam markiert. Die herrschende „Zugehörigkeitsordnung“ und die damit verbundenen Normalisierungsstrategien problematisiert Mecheril. Dass die „Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse“ die Diskriminierung bestimmter Gruppen normal erscheinen lässt, wird bei Auernheimer ideologietheoretisch verständlich gemacht. Seit den internationalen Leistungsvergleichen von Bildungssystemen (PISA, IGLU, DESI), die alle die extreme Selektivität des deutschen Systems belegt und die These von der „institutionellen Diskriminierung“ von Kindern mit MH bestätigt haben, ist das Bewusstsein für diese Problematik innerhalb der Interkulturellen Pädagogik noch geschärft worden. Die beiden Leitmotive haben, wie gesagt, in den Konzepten unterschiedliches Gewicht. Über den Fokus der pädagogischen Programmatik entscheidet der jeweilige Stellenwert von Kultur. In fast keinem Ansatz wird der Be-
zwei Leitideen allen Konzepten gemeinsam
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2. Interkulturelle Pädagogik unterschiedliche Gewichtung der Leitmotive oder Themen
kritischer Blick auf Kulturrelativismus und Eurozentrismus
kulturelle Identität und Hybridität
griff so entfaltet, dass ein Konzept von Kultur erkennbar würde. Soweit nicht die Begriffe „Lebenswelt“ (Nieke) oder „Milieu“ (Nohl) als Äquivalente vorgezogen werden, begnügen sich alle Fachvertreter/innen außer Auernheimer mit dem Hinweis auf Funktionen, vor allem für machtvolle Unterscheidungen, oder auch nur mit Metaphern. Die funktionale Betrachtungsweise garantiert immerhin, dass Vorstellungen über das ,Wesen‘ dieser oder jener Kultur überwunden werden. Eine Mystifikation von Kultur ist damit unvereinbar. Ob Distinktions- oder Orientierungs- und Kommunikationsfunktion (Auernheimer) – in jedem Fall ist die Sicht auf Kultur pragmatisch. Als pädagogische Konsequenz ergibt sich daraus die Aufgabe, zur Reflexion der eigenen Kultur einschließlich der ihr immanenten Fremdbilder anzuleiten. Kulturen werden als prozesshaft, inkohärent, nicht hermetisch geschlossen vorgestellt. Die Machtdimension von Kulturen wird nur im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Mehrheits- und Minderheitenkultur bedacht. Der in der diskursiven Verfasstheit von Kulturen angelegte Kampf um „kulturelle Hegemonie“ oder Deutungsmacht innerhalb von Kulturen, wird außer im Konzept von Auernheimer vernachlässigt. Auch die Frage nach der Korrespondenz zwischen kulturellen Praxen einerseits und sozialen Strukturen oder Lebenslagen andererseits stellt sich nur in den Theorieansätzen, wo die Orientierungsfunktion von Kultur oder „Milieu“ Thema ist. Endgültig überwunden sind Tendenzen zum Kulturrelativismus, soweit der Umgang mit strittigen Werten und Normen zum Thema gemacht wird. Kritisch gesehen wird aber auch ein forscher Universalismus, weil er sich als versteckter Eurozentrismus entpuppen könnte. Die Möglichkeit interkultureller Verständigung wird teils auf die Argumente der Universalpragmatik gestützt (Nieke und Kiesel), teils auf die Annahme anthropologischer Gemeinsamkeiten, teils auf die Menschenrechte und den Prozess der Globalisierung. Die Menschenrechte bilden besonders für Hormel und Scherr die Grundlage interkultureller Bildung und Erziehung. Ohne identitätstheoretische Annahmen wäre das Postulat der Anerkennung nicht begründbar, d. h. dann nicht, wenn nicht angenommen würde, dass die Nicht-Anerkennung, gar Diffamierung von selbst gewählten Zugehörigkeiten oder Orientierungsrahmen (z. B. einer Religion) für Individuen verletzend wirkt. Zweifellos sind Angehörige von Minderheiten jeder Art dem besonders ausgesetzt. Interkulturelle Pädagogik richtet die Aufmerksamkeit verständlicherweise besonders auf die Bedeutung der jeweiligen mehr oder weniger verbindlichen Kulturen und Zugehörigkeiten für die persönliche Entwicklung und das Selbstverständnis. „Kulturelle Identität“ ist allerdings nur für einige der dargestellten Konzepte eine relevante Kategorie (Kiesel, Hamburger, Auernheimer). Bei Mecheril ist das Thema auf das „Zugehörigkeitsmanagement“ der einzelnen konzentriert. Vielfach betont wird die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit bikultureller oder auch multikultureller Orientierungen und Identitätsentwürfe. Mehrfachzugehörigkeit (Mecheril) und Zweisprachigkeit (Gogolin) sind Aspekte davon. Das Konzept der Hybridität wurde von den Postcolonial Studies übernommen, wird aber kaum theoretisch begründet. Die Selbstreflexion hat sowohl als Bildungsziel als auch als ein Element pädagogischer Professionalität einen hohen Stellenwert. Speziell die im Fachdiskurs dominante sozialkonstruktivistische Orientierung macht ver-
2.2 Theoretische Konzepte
ständlich, dass die Reflexion des Selbstverständnisses, der eigenen Fremdbilder oder Differenzkonstrukte für interkulturelle Bildung und Kompetenz zentral ist. Damit wird auch die Metakommunikation über gegenseitige Bilder und differente Welt- und Selbstverhältnisse gefördert, eine ebenfalls mehrfach zu lesende Empfehlung. Mit dem Prinzip der Dialogizität schließt die Interkulturelle Pädagogik an den allgemeinen pädagogischen Diskurs an.
Anregung: Holen Sie im Internet Informationen über weitere namhafte Vertreter/innen der Interkulturellen Pädagogik ein, beispielsweise: Ursula Boos-Nünning, Marianne Krüger-Potratz, Rudolf Leiprecht, Ursula Neumann, Gabriele Pommerin, Norbert Wenning. Anspruchsvolle könnten noch die jeweiligen wissenschaftlichen Zugänge ausfindig machen und diese nach der obigen Systematisierung zuordnen. Auch Mehrfachzuordnungen sind möglich!
Weiterführende/ergänzende Literatur: Ingrid Gogolin/Marianne Krüger-Potratz (2006): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. Opladen & Farmington Hills (mit stärkerer Berücksichtigung historischer Aspekte und von Feldern empirischer Forschung).
Stellenwert der Selbstreflexion im pädagogischen Programm
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3. Theoretische Grundlagen I 3.1 Multikulturelle Gesellschaft
Charles Taylor
Die Idee der multikulturellen Gesellschaft ist für viele Konzepte der interkulturellen Bildung der orientierende Bezugshorizont, wie im vorherigen Kapitel deutlich geworden sein müsste. Man muss dabei unterscheiden zwischen der deskriptiven und der normativen Verwendung des Begriffs „multikulturelle Gesellschaft“. Im Folgenden geht es nicht um die Beschreibung der neuen sprachlichen und religiösen Vielfalt, die für Einwanderungsgesellschaften typisch ist, sondern um das normative Konzept, das zum Diskussionsgegenstand der Politikwissenschaft und der politischen Philosophie geworden ist. Hier können nur exemplarisch einige Beiträge dazu behandelt werden. Die philosophische Debatte ist in Deutschland mit einem Plädoyer des kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor eröffnet worden, der sich in einem kleinen Band für eine „Politik der Anerkennung“ ausgesprochen hat, was im selben Band – in meist kritischen Beiträgen – unter anderem von Jürgen Habermas kommentiert wird. Mit seinem Plädoyer rechtfertigt Taylor eine „politics of recognition“, wie sie von verschiedenen Minderheitengruppen in angelsächsischen Ländern verfolgt wird. Das moralische Gebot der Anerkennung kultureller Spezifika, zum Beispiel von Minderheitensprachen, begründet er identitätstheoretisch. In der Moderne sei, anders als in traditionalen Gesellschaften, mit der Idee, dass alle Menschen die gleiche Würde haben, zugleich die Vorstellung der Einzigartigkeit eines jeden verbunden, was den Anspruch und die Anforderung mit sich bringt, sich eine „individualisierte Identität“ zu erarbeiten. Authentizität, Originalität und Selbstverwirklichung seien typische Ansprüche, die aber aufgrund des „dialogischen Charakters menschlicher Existenz“ (Taylor 1993, S. 21) nur einzulösen seien durch den Bezug auf die „signifikanten Anderen“, einfach ausgedrückt: die Menschen, die für den einzelnen bedeutsam sind. Das verlangt die Aneignung der gruppenspezifischen Symbolsysteme und erklärt die große Bedeutung beispielsweise von Minderheitensprachen für die jeweilige Gruppe. Daher kann sich für Taylor auch die Politik dieser Problematik nicht mehr entziehen. – Er nimmt Bezug auf den Kampf der Frankokanadier um Autonomie und die damaligen Auseinandersetzungen um die Hochschulcurricula in den USA. – Einem differenzblinden Liberalismus stellt er eine Politik der Differenz gegenüber, die für ihn gleichwohl universalistischen Prinzipien verpflichtet ist. Er hält es aber erstens für unzureichend, die Gleichachtung bloß auf „ein allgemeines menschliches Potential“ zu gründen, und nicht auf „das, was der Einzelne aus ihm macht oder gemacht hat“ (S. 32), was die Anerkennung und Förderung von Besonderheiten zur Konsequenz hat. Daher findet er zweitens den „prozeduralen Liberalismus“ ergänzungsbedürftig, wie er eine Politik nennt, die allein auf demokratische Verfahren setzt und
3.1 Multikulturelle Gesellschaft
die Privilegierung bestimmter Vorstellungen vom guten Leben vermeiden will, was Minderheitenrechte impliziert. Bei der Abwägung von Individualund Kollektivrechten findet sich Taylor in einem Dilemma, empfiehlt aber, das Prinzip der Gleichbehandlung „abzuwägen gegen die Wichtigkeit des Überlebens einer Kultur“ (S. 56). Lehrreich ist nun die Kritik, die Habermas (1993) und Benhabib (1999) aus der diskursethischen Position heraus an Taylors Argumentation üben. Die Diskursethik ist ein philosophisches Konzept, das nach der schwindenden Geltung konventioneller Moral gemeinsame, allgemein zustimmungsfähige Handlungsprinzipien begründen soll. Die Vertreter dieses philosophischen Ansatzes, dessen bekannteste Vertreter seine Begründer Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas sind, gehen davon aus, dass eine universelle Begründung von moralischen Vorschriften und Vorstellungen vom guten Leben seit Kant nicht mehr möglich ist, weil alle Normen historisch, kulturell bedingt sind. Sie beanspruchen daher nicht mehr, inhaltliche Aussagen ethischen Gehalts machen zu können, meinen aber sehr wohl Bedingungen für verständigungsorientierte Diskurse darüber ausmachen zu können. Die Diskursethik soll also nicht Maßstäbe eines guten Lebens vorgeben, sondern formuliert konstitutive Bedingungen „vernünftiger“ Kommunikation. Kern des Ansatzes ist die „Universal-“ bzw. „Transzendentalpragmatik“. Der sprachwissenschaftliche Terminus Pragmatik meint die Lehre von der Verwendungsweise der Sprache durch ihre Benutzer (im Unterschied zu Syntax und Semantik). Die Pragmatik als Forschungsrichtung untersucht Sprechhandlungen daraufhin, welche Intentionen die Sprecher mit welchen sprachlichen Mitteln unter welchen Bedingungen realisieren können. Die Universalpragmatik ist nun mit dem Anspruch verbunden, nicht hintergehbare allgemeine Bedingungen der Möglichkeit zu benennen, unter denen überhaupt Geltungsansprüche erhoben und gerechtfertigt werden können. Es handelt sich um formale Metanormen für Diskurse. Solche Bedingungen sind die Bereitschaft zum Dialog, der Anspruch der Wahrhaftigkeit seitens der Beteiligten und die Anerkennung der Geltungsprüfung ihrer Argumente, also die Bereitschaft aller am Diskurs Beteiligten, sich auf vernünftige Argumente einzulassen und sich nur der einen Beschränkung zu unterwerfen, dass allen eine faire Beteiligung am Gespräch gesichert wird. Die grundlegende Regel für die argumentative Austragung von unterschiedlichen normativen Standpunkten ist die gegenseitige Anerkennung der Teilnehmenden. Grundlegend ist zweitens das gleiche Recht für alle, die eigenen Einstellungen, Bedürfnisse und Wünsche zu äußern. Alle müssen die gleiche Chance haben, ihre Argumente einzubringen. Alle Argumente sind auch gleich zu gewichten und zu prüfen. Niemand darf ausgeschlossen werden. Machtasymmetrie und Exklusivität widersprechen also der idealen Diskursgemeinschaft. Gegenüber der Diskursethik ist unter anderem der Verdacht geäußert worden, dass die Metanormen trotz ihres formalen Charakters historisch kontingent, also eurozentrisch sein könnten (so auch Nieke 2000). Ob die Diskursethik in der Frage des interkulturellen Dialogs substantiell weiterhilft, ist offen. Immerhin macht sie es möglich, gewisse Voraussetzungen dafür zu formulieren (vgl. Kap. 3.1).
Diskursethik
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3. Theoretische Grundlagen I
Jürgen Habermas
Selbstverständigungsdiskurse
Habermas verteidigt „die prozedural geregelte Vermittlung“ von Interessen, erinnert aber erstens daran, dass eine Verfassung immer als „ein historisches Projekt“ und somit als zeitbedingt zu verstehen ist (1993, S. 147 f.), zweitens daran, dass sich in der politischen Arena kollektive Akteure gegenüberstehen, die ihre Ansprüche oder Interessen zu legitimieren versuchen, damit sie Bestandteil des Rechtssystems werden. Der „Streit um die Interpretation und Durchsetzung historisch uneingelöster Ansprüche“ ist also Bestandteil der Demokratie (ebd.). Ein Beispiel ist der historische Kampf um den Sozialstaat, wobei Habermas zögert, ob sich die Verteidigung sozialer Interessen mit dem Kampf um Anerkennung vergleichen lässt. An dieser Stelle sei angemerkt, dass einige Autoren gegen das MultikulturalismusKonzept einwenden, der Pluralismus der Interessen werde dort durch die Pluralität der Identitäten ersetzt, die im Gegensatz zu Interessen nicht verhandelbar seien. So fragt sich auch Habermas, ob hier nicht kollektive Rechte beansprucht würden, „die unser überkommenes … ,liberales‘ Selbstverständnis des demokratischen Rechtsstaates sprengen“ (S. 149), verneint dies aber. Denn anders als Taylor hält er das auf dem formalen Prinzip der Gleichbehandlung und auf demokratischen Verfahren basierende System nicht für notwendig blind gegenüber der Differenz der Lebensformen. Gleich ob es um formale Freiheitsrechte geht oder um inhaltlich bestimmte Forderungen (z. B. Religionen oder Minderheitensprachen betreffend), in jedem Fall müssen sich die einzelnen gemeinsam über ihre Interessen und Maßstäbe klar werden. „Die private Autonomie gleichberechtigter Bürger kann nur im Gleichschritt mit der Aktivierung ihrer staatsbürgerlichen Autonomie gesichert werden“ (S. 157). Im Weiteren argumentiert Habermas rechtsphilosophisch; denn der Multikulturalismus wirft für ihn „die Frage der ethischen Neutralität von Rechtsordnung und Politik auf“ (S. 164 f.). Er kommt zu dem Schluss, dass ungeachtet des formalen Charakters des modernen Rechts „jede Rechtsordnung auch der Ausdruck einer partikularen Lebensform“ sei (S. 167), und zwar umso mehr, je konkreter die regelungsbedürftige Materie ist. Daher könnten sich hier „Kulturkämpfe entzünden, in denen sich missachtete Minoritäten gegen eine unempfindliche Mehrheitskultur zur Wehr setzen“ (S. 168). Die Konsequenz daraus, positiv gewendet, ist, dass der Prozess der Rechtsverwirklichung in „Selbstverständigungsdiskurse“ eingebunden werden muss. Das Ergebnis können staatliche Maßnahmen zum Schutz oder auch zur Förderung von Minderheitensprachen etc. sein, um volle Gleichberechtigung zu gewährleisten. Habermas erkennt an, dass die individuelle Identität „nur in einem kulturellen Netzwerk stabilisiert werden (kann)“ (S. 172), wendet sich aber entschieden gegen kulturellen „Artenschutz“. Eine „Überlebensgarantie“ für Kulturen könne es nicht geben, da diese unvermeidlich reflexiv geworden, Revisionen und Transformationen ausgesetzt seien. Die Angehörigen einer Gruppe müssten die Möglichkeit haben, andere Lebensformen zu wählen, Traditionen neu zu interpretieren etc. Man könnte knapp formulieren: Jedes Individuum hat das Recht, sich zu einer Minderheitengruppe zu bekennen, aber keine Gruppe hat das Recht, ein Individuum für sich in Anspruch zu nehmen. Die „Selbstverständigungsdiskurse“ setzen logischerweise politische Partizipation voraus, was Fragen des Staatsbürgerschaftsrechts aufwirft. Haber-
3.1 Multikulturelle Gesellschaft
mas dreht die übliche Frage um und fragt, unter welchen Bedingungen der Anspruch auf Einbürgerung verweigert werden dürfe. Gegenüber dem dominanten politischen Diskurs in Deutschland merkt er kritisch an, dass nicht eine generelle Akkulturation verlangt, sondern nur die politische Sozialisation zur Voraussetzung gemacht werden dürfe, vor allem also das Bekenntnis zum Grundgesetz; denn Habermas befürwortet wie schon in früheren Publikationen einen „Verfassungspatriotismus“. Die Gesellschaft könne nicht mehr durch einen darüber hinausgehenden Wertekonsens, sondern nur durch einen prozeduralen Konsens über demokratische Prinzipien zusammengehalten werden. Die Argumentation von Seyla Benhabib (1999) deckt sich, weil ebenfalls der Diskursethik verpflichtet, in den zentralen Punkten mit der von Habermas. Die zwei tragenden Prinzipien werden schon im Titel des Buches „Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit“ deutlich. Benhabib unterscheidet zwischen Identität als individueller Entwicklungsaufgabe mit dem Anspruch der Einzigartigkeit und den Gruppenidentitäten und wendet sich dagegen, erstere an die letzteren zu binden. Individuelle Identitätsarbeit setzt für sie Autonomie voraus. Daher gibt sie – ihr zentraler Kritikpunkt gegenüber Taylor – der Autonomie den Vorrang vor der Authentizität im Sinne einer kulturellen Verwurzelung. Sie konzediert jedoch, ähnlich wie Habermas: „Zweifellos setzt die Suche des Individuums nach authentischem Selbstausdruck und Identität ein sprachliches, kulturelles und intersubjektives Medium des Ausdrucks, der Sinngebung und Kommunikation voraus“ (1999, S. 52 f.). Darin dürfe aber nicht mehr gesehen werden „als eine ,befähigende Voraussetzung‘“ (S. 53). Gegenüber Kollektivrechten ist Benhabib sehr skeptisch eingestellt, weil sie Einschränkungen der Individualrechte befürchtet. Sie bringt hier auch ins Spiel, dass Kulturen widersprüchlich, innerlich differenziert und umkämpft sind (S. 52), womit sie einen neuen Aspekt, nämlich den der Macht, einführt (dazu Kap. 3.3). Um Minderheiten gerecht zu werden, plädiert sie für die Förderung und den Ausbau der Zivilgesellschaft, so dass alle sich am öffentlichen Dialog beteiligen und „ihre eigenen Erzählungen von Identität und Differenz selbst präsentieren können“ (S. 69). Die Frage der kulturellen Rechte sieht Benhabib eng mit der der sozialen Rechte und mit sozialen Kämpfen verknüpft; denn Selbstverwirklichungsansprüche sind ohne Existenzsicherung nicht einzulösen. Hinsichtlich der dazu vorausgesetzten politischen Partizipationsrechte bezieht Benhabib eine radikalere Position als Habermas. Sie hält das bisherige Staatsangehörigkeitsrecht generell, nicht nur das auf dem Abstammungsprinzip basierende, angesichts der globalen Mobilität für überholt. Sogar beim moderneren Territorialprinzip, das nicht so exklusiv ist, werde „die Staatsbürgerschaft eher aufgrund von passiven Zugehörigkeitskriterien vergeben“ (S. 99), nämlich nach dem Geburtsort. Für sie „existiert ein menschliches Grundrecht, eine politische Gemeinschaft zu verlassen oder den Eintritt in sie zu beantragen“ (S. 104). Multikulturelle Gesellschaft aus der Sicht der Diskursethik (Zusammenfassung): Die moderne Rechtsordnung basiert auf Grundrechten und einem „prozeduralen Konsens“ (parlamentarische Entscheidungsfindung), ist weltan-
staatsbürgerliche Rechte
Seyla Benhabib
Autonomie versus Authentizität
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3. Theoretische Grundlagen I
schaulich neutral, aber dennoch stets „Ausdruck einer partikularen Lebensform“ (Habermas) und eines historisch spezifischen kollektiven Selbstverständnisses. Die Legitimation der Rechtsordnung bedarf daher der „Selbstverständigungsdiskurse“ (Habermas) bzw. der zivilgesellschaftlichen Dialoge (Benhabib) unter Beteiligung aller Mitglieder der Gesellschaft. Normative Konsequenzen: – Anerkennung von Differenzen, – Rechtsgleichheit, gleiche Zugangschancen – allgemeine politische Partizipation Nancy Fraser
plurale Öffentlichkeiten
Nancy Fraser unterstellt Habermas ein allzu großes Vertrauen in eine funktionierende Öffentlichkeit, obwohl dieser selbst die moderne Öffentlichkeit für „vermachtet“ hält, insbesondere die Anfälligkeit für massenmediale Beeinflussung hervorhebt, aber auch die ungleichen Zugangsvoraussetzungen sieht (Habermas 1992). Zur Lösung plädiert Fraser für eine Pluralität von Öffentlichkeiten entsprechend den sozialen und kulturellen Differenzen innerhalb der Gesellschaft (Fraser 1994). Sie führt die vielen informellen Hindernisse einer gleichberechtigten Partizipation („informal impediments to participatory parity“) ins Feld (S. 81). Weder sie noch Habermas kannten damals Internet-Foren und ähnliche Möglichkeiten, zu intervenieren und eine Gegenöffentlichkeit herzustellen. Nach wie vor nicht erledigt ist damit aber Frasers Hinweis auf das suggestive „Wir“ der dominanten Gruppen, auf die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Ressourcen. Diese Probleme werden für Fraser durch den formell gleichberechtigten Zugang nicht behoben. Die Pluralität von Öffentlichkeiten werde daher dem Kampf im diskursiven Feld eher gerecht. Davon verspricht sie sich – nicht nur mit Blick auf kulturelle Differenzen – einen erweiterten diskursiven Wettstreit. Sie konzediert aber die Notwendigkeit eines, mit Habermas gesprochen, übergreifenden „Selbstverständigungsdiskurses“ der Gesellschaft. Mit Benhabib teilt sie die Forderung, die Trennung zwischen öffentlichen und privaten Angelegenheiten, die vieles aus dem politischen Diskurs ausschließt, in Frage zu stellen. Anders als Benhabib jedoch, die nur auf die Machtproblematik innerhalb von Minderheitenkulturen verweist, wirft Fraser das Problem der Deutungsmacht auch für die Gesamtgesellschaft auf. Ein anderer Aspekt ist die Frage, ob sich Grundsatzfragen, die mit fundamental konfligierenden Wertvorstellungen verbunden sind, durch Mehrheitsentscheid und im Vertrauen auf eine universelle Vernunft entscheiden lassen. Befürworter eines „deliberativen Universalismus“ unterstellen, dass es Konfliktfälle gibt, in denen kein „Monopolanspruch auf Vernünftigkeit“ gerechtfertigt ist (Gutmann 1995). Genannt werden zum Beispiel Fragen der Biogenetik. Ein anderes Thema wäre das Schächten von Tieren, bei dem Religion und Schutz aller Lebewesen kollidieren. Nach der Vorstellung von Amy Gutmann kann hier eine „rechenschaftspflichtige Beratung“, die sich auf einen Kanon von Gerechtigkeits- und Verfahrensgrundsätzen stützt, wenigstens zu gemeinsamen „Ausgangspunkten“ und zu gegenseitigem Respekt verhelfen (Gutmann 1995, S. 298). Viele Autor/inn/en, so auch Taylor, Habermas und Benhabib, ziehen bei der Abwägung kultureller Ansprüche Parallelen zur sozialstaatlichen Ent-
3.1 Multikulturelle Gesellschaft
wicklung. Ähnlich wie bei der Sicherung sozialer Interessen erweist sich nämlich auch hier das Konzept des klassischen Liberalismus als unzureichend. Denn die Beschränkung der Staatstätigkeit auf den Schutz individueller Freiheitsrechte lässt die unterschiedlichen Voraussetzungen zur Verwirklichung der Freiheitsrechte außer Acht. Dass die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft staatlicher Starthilfen, Förderung und Unterstützung bedürfen, ist heute zumindest im Grundsatz anerkannt. Analoges wird auch für die Realisierung kultureller Rechte gelten müssen, wobei sich die Sicherung der Rechte religiöser und sprachlicher Minderheiten an den jeweiligen nationalen Traditionen und der Verfassung orientieren wird. Juristisch ist hier speziell für Sprachminderheiten zwischen individual- und kollektivrechtlichen Lösungen zu unterscheiden. Es geht dabei darum, wer als Rechtssubjekt gegenüber dem Staat fungieren soll. Sind dies die Vertreter eines Kollektivs, so ergeben sich daraus einige der von Benhabib und Habermas aufgeworfenen Probleme, die sich durch eine demokratische Verfasstheit der jeweiligen Minderheitenorganisation lediglich entschärfen lassen. Maßgebend für die Unterscheidung ist nicht die Form der kulturellen Praxis, ob eher privat oder gemeinschaftlich. Auch eine individualrechtliche Regelung muss die gemeinschaftliche Ausübung religiöser oder sprachlicher Rechte ermöglichen, da deren Beschränkung auf die Privatsphäre die Realisierung ad absurdum führen würde. Die Förderung von Immigrantensprachen wird sich auf Bildungsangebote und die Berücksichtigung in öffentlichen Rundfunk- und Fernsehprogrammen beschränken, wobei dies pragmatisch von der Größe der Sprachgruppe abhängig sein wird. Was die religiösen Minderheiten betrifft, so darf der Verweis auf die Trennung von Staat und Religion hier in Deutschland nicht zur Privilegierung der christlichen Kirchen missbraucht werden. Das Prinzip der Säkularität verbietet nämlich gerade die Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft und verpflichtet in der bundesrepublikanischen Variante – anders als der für die französische Republik maßgebende Laizismus – zur respektvollen Förderung der Ausübung des Grundrechts auf Religionsfreiheit. Dem entsprechend gibt es in verschiedenen Bundesländern Bemühungen um die Etablierung eines islamischen Religionsunterrichts. Darauf haben die Muslime gemäß dem Gleichheitsgrundsatz dort Anspruch, wo konfessioneller Religionsunterricht erteilt wird. Die Multikulturalität der Gesellschaft bewährt sich darin, dass religiöse Minderheiten wie die Muslime auch im öffentlichen Raum, den medialen Raum eingeschlossen, präsent sind, wenngleich ein entsprechendes Verständnis des Grundgesetzes noch nicht Allgemeingut ist. Damit stoßen wir auf die Bedeutung der Bewusstseinlagen und somit von Bildung und Erziehung. So gewiss rechtliche Reformen Bewusstseinsveränderungen in Gang setzen, so gewiss ist die Rechtsauslegung vom öffentlichen Bewusstsein abhängig. Dieses ist aber stark von Denktraditionen bestimmt und erweist sich als relativ änderungsresistent. Und in Deutschland ist seit Langem die Vorstellung dominant – das hat sich am Umgang mit der jüdischen Minderheit seit dem 19. Jahrhundert gezeigt –, dass zumindest die kulturelle Assimilation unabdingbare Voraussetzung der Zugehörigkeit zum Staatsvolk sei. Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts sind günstigere Bedingungen für die Entwicklung zur multikulturellen Gesell-
verschiedene Lösungen für Minderheitenrechte
recht verstandene Säkularität
Recht und gesellschaftliches Bewusstsein
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3. Theoretische Grundlagen I
schaft geschaffen, weil Immigranten als Staatsbürger ihre Rechte zu Geltung bringen können. Das vergrößert die Chance, soziale und kulturelle Rechte einzuklagen. Allerdings ist die Wahrnehmung dieser Chance selbst wiederum teilweise von der sozialen Integration, d. h. von materiellen und sozialen Ressourcen und vom Bildungsstand, abhängig.
3.2 Bildung und (kulturelle) Identität
eine gemeinsame Problemkonstellation
Wilhelm von Humboldt
Das für die multikulturelle Gesellschaft und damit für die interkulturelle Pädagogik leitende Prinzip der Anerkennung verweist auf den Begriff der Identität und auf den Zusammenhang von Identität und Kultur. Denn anzuerkennen sind die für den einzelnen bedeutsamen kulturellen Symbole und Praxen. Die Identitätsproblematik lässt sich, etwas vereinfacht, in die Fragen „Wer bin ich? Wer möchte ich sein?“ übersetzen, ohne dass der oder die einzelne sich diese Fragen immer ausdrücklich stellen muss. Identitätsentwicklung ist in vieler Hinsicht mit dem Bildungsprozess vergleichbar – das eine ein psychologisches, das andere ein pädagogisches Konzept. Die Erörterung des Bildungsbegriffs wird nicht nur durch die Nähe zum Identitätskonzept nahe gelegt, sondern auch deshalb, weil die allgemeine Bildungstheorie mehrere Anschlussmöglichkeiten für die Begründung interkultureller Bildung bietet. Schon vorweg lässt sich auf die Selbstreflexion verweisen, die sich mit der Vorstellung von Bildung verbindet. Die Bildungsidee und das Identitätsproblem haben eine historische Problemkonstellation als gemeinsamen Ausgangspunkt, die den Anfang der „Moderne“ oder in anderen Worten der „bürgerlichen Gesellschaft“ markiert. Es ist der Beginn des Prozesses der Individualisierung, der sich unterschiedlich zurückdatieren lässt, bis zur Renaissance oder bis zum Zeitalter der Aufklärung. Die Frage der Selbstdefinition, des eigenen Lebensentwurfs und des Ortes im gesellschaftlichen Ganzen stellt sich nämlich mit der beginnenden Auflösung der traditionellen ständischen Ordnung und der Erfindung des abstrakten Menschen (vgl. Taylor 1993), von dem Moment an, wo der/die einzelne der Gesellschaft unmittelbar gegenüber gestellt ist, weil nicht mehr soziale Gruppen den Zusammenhang vermitteln, sondern der Markt, der Staat – allgemein formuliert: die „Systeme“. An die Stelle persönlicher Abhängigkeiten sind, mit Marx formuliert, abstrakte Abhängigkeiten getreten. Damit sind die einzelnen nicht nur für sich selbst verantwortlich geworden, sondern sie müssen sich auch selbst sozial verorten, sich also ins Verhältnis zu sich und zur Gesellschaft setzen. Dies ist der Grundgedanke sowohl von „Identität“ wie von „Bildung“, wobei Bildung nach der Vorstellung der deutschen Klassiker – die Bildungsidee hat eine genuin deutsche Tradition – garantieren sollte, dass der einzelne das gesellschaftliche Ganze als Denk- und Handlungshorizont verinnerlicht, damit die neue bürgerliche Freiheit nicht zur Auflösung des Gemeinwesens führt, so die Befürchtung. Der für die Bildungsgeschichte bedeutsamste Klassiker ist Wilhelm v. Humboldt (1767–1835), weil er sich auch im politischen Feld bemühte, die neue Bildungsidee institutionell zu verankern, wobei er dem Sprachenlernen eine neue Bedeutung gegeben hat. Da die Sprache für ihn „das bildende Organ des Gedankens“ ist, das Medium, in dem wir unsere Welt
3.2 Bildung und (kulturelle) Identität
konstruieren, entspricht der Pluralität der Sprachen die der „Weltansichten“. Das Studium fremder Sprachen ermöglicht daher einen Perspektivenwechsel. So, wie sich ein Selbst- und Weltverständnis nur im Dialog mit anderen entwickeln kann, so wird es durch die Begegnung mit fremden (Sprach-) Welten gefördert. Dabei geht es nicht um eine vordergründige Bereicherung, vielmehr wird die Respektierung der Differenzen im „Polylog“ angestrebt (Koller 1999). In dieser Hinsicht ist auch beachtenswert, dass Humboldt die Grenzen des Verstehens hervorhebt. „Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen“ (zit. nach Peukert 1994, S. 6). Das traditionelle Studium der alten Sprachen gewinnt für Humboldt eine neue Bedeutung. Die Bildung an der griechischen Kultur ermöglicht als Durchgang durch das Fremde ein neues Weltverständnis (Peukert 1994). Diese Art von „Entfremdung“ hat auch Hegel (1770–1831) in seiner Gymnasialrede von 1809 zur „Bedingung der theoretischen Bildung“ gemacht. Um nämlich zum Gegenstand zu werden, müssen Natur und Geist „die Gestalt von etwas Fremdartigem erhalten haben“. Und dazu verhilft nach Hegel die Beschäftigung mit der Welt des Altertums. Die klassische Bildungstradition bietet also Anschlussmöglichkeiten für das Konzept interkultureller Bildung, wenn man von den Deformationen der Bildungsidee im 19. und frühen 20. Jahrhundert absieht, die in dem Programm einer „deutschen Bildung“ gipfelten. Einige Bildungstheoretiker/innen haben die Annäherung an das heutige Denken der Differenz in der klassischen Bildungstradition herausgearbeitet (Koller 1999, Lippitz 1994, Peukert 1994). Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass dabei die jüdische Tradition des undogmatischen Offenhaltens von Lesarten oder Ansichten, vermittelt über Moses Mendelsohn (1729–86), Einfluss ausgeübt hat (Lohmann 1992). Damit wäre der Anfang der Bildungstradition sogar schon interkulturell geprägt. Man kann Bildung als reflektiertes, kritisches Verhältnis zu sich selbst und zur Welt, d. h. zur Gesellschaft und zur Natur fassen. Das kritische Verhältnis zum eigenen Selbst impliziert, dass man sich selbst in Frage stellt. Dazu gehörte nach traditionellem Verständnis die Einsicht in die grundsätzliche Beschränktheit unserer Erkenntnis, in die Kontingenz unserer geistigen Konstrukte und in die Komplexität der Zusammenhänge. Man müsste hinzufügen: als Einsicht in die ideologische oder diskursive Beeinflussbarkeit unserer Ansichten von der Welt. Das hat weiterhin zur Konsequenz, dass wir auch unser praktisches Weltverhältnis als kontingent erkennen. Ich sehe dann, dass man sich auch anders verhalten kann zu den Mitmenschen, zum politischen System, zur Natur, zum eigenen Körper usw., dass Welt und Selbst auch anders entworfen werden können. Der Bildungsprozess lässt sich daher auffassen „als Transformationsprozess, in dem das Welt- und Selbstverhältnis eines Menschen durch die Konfrontation mit neuartigen Problemlagen eine weitreichende Veränderung erfährt“ (Koller u. a. 2007, S. 7). Das setzt aber eine Offenheit für Neuartiges voraus, ohne dass damit eine Positionsbestimmung ausgeschlossen wäre. Standpunktlosigkeit ist beileibe kein Merkmal von Bildung, zumal Bildung wie Identität Selbstverortung verlangt. Ich soll dem, was an mich als kulturelle Praxis herangetragen wird, was mir überliefert wird, einen persönlichen Sinn geben, nicht ohne es in seiner Bedeutung für mich kritisch zu bewerten. So ist der von einigen
Hegel: Entfremdung als Bildungsprinzip
Bildung als reflektiertes Verhältnis zum Selbst und zur Welt
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3. Theoretische Grundlagen I
der Stellenwert von Krise und Konflikt
„Schlüsselprobleme“ und „generative Themen“
Autorinnen und Autoren gebrauchte Begriff der „Aneignung“ zu verstehen. Klafki (1985) spricht von gegenseitiger „Erschließung“, nämlich Erschließung der Welt für das Ich und des Ich für die Welt. Das ist eine aktive Leistung. Bildung in diesem Verständnis ist nicht abschließbar, sie impliziert von Zeit zu Zeit eine Neustrukturierung des Wissens und damit des Weltbilds, angestoßen durch Verunsicherung oder innere Konflikte. Die pädagogische Aufgabe wird daher im Herstellen konflikthafter Arrangements gesehen. Die Pädagogin oder der Pädagoge soll „Erfahrungen in die Krise führen“ (Frigga Haug 1981), um eine Re-Interpretation von Erfahrungen anzuregen. Es drängt sich hier die Erinnerung auf an das wesentlich pathetischere Konzept der „Begegnung“ in der existenzphilosophischen Pädagogik von Otto F. Bollnow (1959). Die Begegnung mit einem überwältigenden Kunstwerk oder einer auf ihre Art bedeutenden Persönlichkeit, die eine innere Erschütterung auslöst („Du musst dein Leben ändern“), wurde dort zum Grundmuster eines Bildungserlebnisses erklärt. So etwas lässt sich nicht pädagogisch arrangieren, aber es verdeutlicht, welche Vorstellungen sich traditionell mit Bildung verbinden. Verunsicherung wie zum Beispiel auch der verstörende Kontakt mit fremden oder befremdlichen Auffassungen und Lebensweisen wird für produktiv gehalten. Ich lerne mich – oder auch die Welt – mit anderen Augen zu sehen. In einer Didaktik gestaltpädagogischer Richtung wird darauf vertraut, dass die Irritationen bei der „Begegnung mit Fremden und Fremdem“ zwar „eine gefahrvolle Verunsicherung darstellen, aber auch ein großes Lernpotential enthalten können“ (Führing 1996, S. 119, vgl. Holzbrecher 1997). Daher auch das pädagogische Mittel der „Verfremdung“ von Lerngegenständen, speziell auch von sozialen Strukturen, um sie unter einem neuen Blickwinkel wahrzunehmen – eine Absicht, die Bert Brecht mit dem Schauspiel verfolgte. Aus seiner Theorie des Theaters ist der Begriff übernommen. Ein Weg, um die eigene Welt in neuem Licht zu sehen, wird seit Hegel im Studium der Geschichte gesehen. „Erst an ihrer historischen Gestaltwerdung vermag sich die Vernunft zu erfahren“, schreibt Heydorn in seiner Studie zu Hegel (1973, S. 97). Man kann es so übersetzen: Erst der Einblick in geschichtlich frühere Welten lässt uns erkennen, welche Wege – und Irrwege – die Menschheit beschritten hat, welche Lösungen die Menschen für ihre Überlebensprobleme gefunden und welche kulturellen Leistungen sie hervorgebracht haben. Mit gleichem Recht kann man auch sagen: Erst der Einblick in andere, vor allem auch außereuropäische Kulturen zeigt die Vielfalt der Menschwerdung. Man könnte Herder zum Gewährsmann nehmen. Er schätzt die Vielfalt der Kulturen und sieht „bei allen ein Prinzipium wirken, nämlich eine Menschenvernunft“ (1784, zit. nach Auernheimer 2008, S. 152). Ein reflektiertes oder bewusstes Verhältnis zu sich selbst und zur Welt, d. h. zur Gesellschaft und zur Natur, ist kaum denkbar ohne die Bereitschaft zum aktiven Eingreifen. Dem entsprechen die „epochaltypischen Schlüsselprobleme“, die Wolfgang Klafki zu Kristallisationspunkten des Bildungsprogramms macht: Armut, Ungleichheit, die Umweltfrage (Klafki 1985), später ergänzt um die Frage „Nationalitätenprinzip versus Interkulturalität“ (Klafki 1993). In ähnlicher Weise hat Paolo Freire den Bildungsprozess in seiner Al-
3.2 Bildung und (kulturelle) Identität
phabetisierungsarbeit um „generative Themen“ organisiert, die allerdings mit den Lernenden zusammen entwickelt wurden. Das sind Probleme, die den Lernenden im Alltag auf den Nägeln brennen, bei deren Bearbeitung aber die sozialen Verhältnisse im Ganzen deutlich gemacht werden können. Das kann zum Beispiel für arme brasilianische Kleinbauern der Kampf ums Wasser sein. Freire möchte, dass die Menschen ihre gesellschaftliche Situation auf den Begriff bringen, sich selbst begreifen und damit befähigt werden zur politischen Intervention. Die Sprache hat dabei für ihn, ähnlich wie für Humboldt, die entscheidende Funktion für das Erfassen der Welt. Er intendiert politische Handlungsfähigkeit und Identität, wobei erstere für ihn Priorität hat. Denn die Unterdrückten können erst aufhören, „Lösungen aus anderen Kulturen für die eigenen Probleme zu übernehmen“ (Freire 1977, S. 19), wenn sie fähig werden zur „kritischen Intervention“. Bilanz: Bildung bedeutet Selbstverständnis und Selbstpositionierung, Stellungnehmen, aber verbunden mit dem Offenhalten von Weltsichten durch die Bereitschaft, Erfahrungen neu zu interpretieren, im Dialog einen Perspektivenwechsel zu vollziehen. Entfremdung ist ein wesentliches Element des Bildungsprozesses, Multiperspektivität leitende Intention. Die Ambivalenz des mit der Bildungsidee traditionell verbundenen Universalismus gilt es zu erkennen. Der Anspruch, die eigene kulturelle Befangenheit zu überwinden, Kultur zu transzendieren (Ruhloff 1982), ist illusionär, lässt sich nur in dem Sinn einlösen, dass die historische Bedingtheit der eigenen Kultur und Rationalitätsvorstellung reflektiert wird. Die Position des ,idealen Beobachters‘, frei von jedem kulturellen Kontext, kann es nicht geben. Nicht aufgebbar ist allerdings das Engagement für die Realisierung des Gleichheitsgrundsatzes, wenn Bildung nicht in Ästhetizismus erstarren soll. Identität ist ein originär psychologisches und auch soziologisches Konzept. Den Soziologen George H. Mead (1863 – 1931) und den Psychologen Erik H. Erikson (1902 – 1994) kann man als die Klassiker der Identitätstheorie bezeichnen. Die Identitätsbildung ist nach Erikson die primäre „Entwicklungsaufgabe“ der Adoleszenz, deren Lösung abhängig ist von dem Ausgang vorausgegangener Entwicklungskrisen. Verlangt ist nach Erikson die Verarbeitung und Überarbeitung der bisherigen Lebensgeschichte, der „Kindheitsidentifikationen“, so dass sie „ in einer neuen Konfiguration absorbiert werden“ (1966, S. 140). Erikson sieht die individuelle Identität immer in einer „Gruppenidentität“ verankert, weil für ihn als Psychoanalytiker das „Ich-Ideal“ stets eine soziale Seite hat (S. 190). Zumindest unter einem Blickwinkel erscheint Identität „als das Festhalten an einer inneren Solidarität mit den Idealen und der Identität einer Gruppe“ (1966, S. 125). Der hohe Stellenwert von Gruppe und Gruppenkultur ist wohl mehrfach motiviert. Zum einen erklärt er sich daraus, dass Erikson auch Indianerkulturen erforscht hat, zum anderen vielleicht aus der Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Herkunft. Aber Erikson befürwortet keine blinden Identifikationen. Er erklärt ausdrücklich die „Verwendbarkeit des Identifikationsmechanismus“ für begrenzt (1966, S. 139). Am Anfang eines Aufsatzes über das Problem der Ich-Identität bezieht er sich auf eine Aussage von Freud, in der dieser seine Bindung an das Judentum formuliert, die sich – in den Worten Eriksons – „nicht auf Rasse oder Religionstütze, sondern auf die Bereit-
Kritische Bilanz
Erikson: Identität als Entwicklungsaufgabe
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3. Theoretische Grundlagen I
Identität aushandeln
Identität als Erzählung
kulturelle Identität
schaft, in der Opposition zu leben, und auf die gemeinsame Freiheit von Vorurteilen“ (1966, S. 124). Diese Gruppenidentität impliziert paradoxerweise das Gegenteil von Kollektivgeist. Und vor allem wird deutlich, dass Identität hier ein bewusstes Verhältnis zur Gesellschaft meint. „Ich-Identität“ ist nach Erikson eine Syntheseleistung, Ergebnis der zum Teil „stillschweigenden Akte der Ich-Synthese“ (ebd.). Mead reflektiert im Amerika des späten 19. Jahrhunderts zum ersten Mal die Situation des modernen Individuums, das sich ständig mit sozialen Erwartungen, mit einem sozialen Bild von sich („me“), konfrontiert sieht, dem seine Spontaneität („I“) gegenüber steht. Beides muss zum Ausgleich gebracht werden. Dieses Modell hat Krappmann aufgegriffen, um aus der Perspektive der interaktionistischen Rollentheorie „soziologische Dimensionen der Identität“ (1971) herauszuarbeiten. Demnach ist das Individuum vor die Aufgabe gestellt, zwischen seinen Bedürfnissen einerseits und den Erwartungen der Umwelt andererseits, die wiederum recht unterschiedlich, oft widersprüchlich sein können, zu vermitteln und so seine Identität immer neu „auszuhandeln“. Identität ist also das stets vorläufige Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, sofern nicht, das stellt Krappmann klar, das soziale Umfeld aufgrund seines repressiven Charakters das „bargaining“ verunmöglicht oder erschwert. In dieser soziologischen Sicht werden die kulturellen Bezüge in den Hintergrund gedrängt. Unberücksichtigt bleibt, dass die Rollenerwartungen kulturell determiniert sind. Demgegenüber macht der Psychologe Keupp, der „die Fähigkeit zum Aushandeln“ unterstreicht, auf die Bedeutung der verfügbaren Ressourcen, auch der kulturellen Ressourcen, für die Identitätsarbeit aufmerksam (1997). Identität, als „narrative Identität“ gefasst, ist nicht unabhängig von den „Metaerzählungen“ der Religion und Politik. Auch Erzählkonventionen der jeweiligen Kultur oder Subkultur erweisen sich als bedeutsam. Obwohl Keupp den Begriff der „PatchworkIdentität“ geprägt hat, weil Identität nur noch als Gewebe aus vielen Fäden und Flicken denkbar ist, hält er den Anspruch auf Kohärenz für nicht aufgebbar, wobei allerdings „ein neuartiger Kohärenztyp“ erforderlich sei. „Basale Voraussetzungen … sind soziale Anerkennung und Zugehörigkeit“ (1966, S. 34). Mit der Definition von Identität als „Selbstnarration“, also „Selbsterzählung“ kommt Keupp denen nahe, die nur von Biographie bzw. biographischen Rekonstruktionen sprechen wollen und den Identitätsbegriff als zu statisch ablehnen (Fischer-Rosenthal 1995). Obwohl heutzutage nach Keupp „vorgegebene biographische Entwurfsschablonen und Schnittmuster“ nicht mehr verfügbar sind, sind Identifikationsangebote für die einzelnen nach wie vor unverzichtbar. Das können kulturindustrielle Angebote sein oder aber auch „Symbolisierungen von alternativen Optionen, Möglichkeiten oder Utopien“ (S. 35). Fassen wir zusammen: Identität als „Integrationsleistung“ (Habermas) ist ein offenes, unabschließbares „Projekt“ (Keupp), von kritischen Lebensereignissen stets neu angestoßen, ein Komplex von (Re-)Konstruktionen und etwas, das immer neu ausgehandelt werden muss. Metaphern wie „Patchwork“ oder „Bricolage“ (Bastelei) kennzeichnen gut die Eigenart von Identitätsarbeit. Was soll nun „kulturelle Identität“ als Spezifikum auszeichnen? Der Begriff rückt nur eine an sich allgemeine Bedingung von Identitätskonstruktio-
3.2 Bildung und (kulturelle) Identität
nen in den Brennpunkt, nämlich die kulturellen Ressourcen und sozialen Bezüge. Diese, normalerweise nicht thematisch, gewinnen in bestimmten Situationen an Bedeutung: in fremder Umgebung, in der Diasporasituation, im nachbarschaftlichen Nebeneinander von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, wie es für multikulturelle Gesellschaften typisch ist. Sehr wichtig ist, dass „kulturelle Identität“ nicht mit kultureller Prägung verwechselt werden darf, wie es alltagssprachlich üblich ist. Sie ist also zu unterscheiden von dem, was der Soziologe Bourdieu „Habitus“ nennt, also die im Enkulturationsprozess verinnerlichten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata. Kulturelle Identität basiert vielmehr auf der Auseinandersetzung mit dem je kulturspezifischen oder milieuspezifischen Habitus, der meist in der Fremdbegegnung oder Minderheitensituation für mich und andere zum Gegenstand der Aufmerksamkeit wird. Hier gibt es mehrere Alternativen: Ich kann kulturelle Eigenheiten zum Beispiel kaschieren, verleugnen oder stilisieren. Dabei sind in der Regel soziale Zuschreibungen hintergründig relevant. Meine soziale Selbstverortung ist daher die zweite Dimension von kultureller Identität, die auch problematische Formen, etwa als „Selbstethnisierung“, annehmen kann. Ein drittes ist der jeweilige Umgang mit den verfügbaren kulturellen Symbolbeständen, also Religion, Sprache(n), (sub)kulturellen ästhetischen Praxen etc. Der einzelne kann sie umdeuten, neu auslegen, selektiv verwenden, verwerfen. Schließlich ist für die „Selbstnarration“ das subjektive Verhältnis zur Geschichte der eigenen Gruppe, der man sich zurechnet, bedeutsam. Wie der/die einzelne sich positioniert, wird vermutlich davon abhängen, wie sich die jeweilige Gruppe ihre Geschichte erzählt, wie sie Kollektiverfahrungen verarbeitet, welche kulturellen Bedeutungen sie favorisiert, d. h. auch wer die Deutungsmacht hat. Hier bekommt die Kennzeichnung von Identität als „diskursiver Konstruktion“ (Keupp) einen Sinn. Für Minderheitenangehörige ist außerdem entscheidend, ob die Mehrheitsgesellschaft ihnen akzeptable Identitätsangebote macht und sie integriert oder ausgrenzt. Selbstverständlich können für jemanden mehrere Bezugsgruppen und kulturelle Systeme von Bedeutung sein. Das Konzept lässt sich, auch wenn es der Einfachheit halber zunächst auf einen monokulturellen Hintergrund bezogen wurde, problemlos auf die zunehmende Zahl der Fälle von bioder multikultureller Identität anwenden. Die diskursive Vermitteltheit von kultureller Identität beleuchtet Stuart Hall, Mitbegründer der Cultural Studies und selbst Mitglied der schwarzen Community in England. Das „Aushandeln von Identität“, von dem auch er ausgeht (1994, S. 32), findet für ihn diskursiv im öffentlichen Raum statt. „Kulturelle Identitäten sind die instabilen Identifikationspunkte oder Nahtstellen, die innerhalb der Diskurse über Geschichte und Kultur gebildet werden, kein Wesen, sondern eine Positionierung“ (S. 30). Sie sind für ihn Teil der „Respräsentationspolitik“, wobei er die Mehrdeutigkeit der Repräsentationen, ihre Offenheit für neue Deutungen betont, die auch bedingt ist durch die Brüche und vielfältigen Einflüsse in der Geschichte jeder Gruppe. Im Hinblick darauf spricht Hall von „Hybridbildung“. Halls Begriff der kulturellen Identität ist vermutlich für bundesrepublikanische Verhältnisse vorläufig noch wenig relevant; denn Repräsentationspolitik setzt entsprechende Möglichkeiten der Partizipation und öffentlichen
Identität und Habitus
Stuart Hall
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3. Theoretische Grundlagen I
kulturelle Identität aus pädagogischer Sicht
Social Identity Theory
Hybridität
Einmischung seitens der Minderheiten voraus. Daher können wir in Deutschland höchstens rudimentäre Ansätze von Repräsentationspolitik in der Literatur und anderen Medien ausmachen. Zu nennen wäre das Bündnis „kanak attak“, initiiert von dem Schriftsteller Feridun Zaimoglu. Die Selbstverortung der Minderheitenangehörigen, bis vor kurzem aufgrund der deutschen Politik noch stark von den nationalen Herkunftskontexten bestimmt, scheint sich langsam davon zu emanzipieren. Aber pädagogisch ist ohnehin eher die kulturelle Identität als eine Dimension von individuellen Identitätskonstrukten relevant, wofür auf jeden Fall Halls antiessentialistische Definition von kultureller Identität von Interesse ist. Er warnt davor, sie auf einen Abstammungsmythos zu stützen, auf den Glauben an gemeinsame Wurzeln, einen „fixierten Ursprung“. Auch lehnt er das binäre Schema wir – die anderen ab, was zeigt, dass kulturelle Identität nicht als Ab- oder Ausgrenzungsmodus verstanden werden muss. Die Gefahr ist allerdings nicht zu verkennen. Nach Benhabib tendieren „Identitätsbewegungen“ zum Essentialismus (1999, S. 19). An dieser Stelle ist die sozialpsychologische Theorie der sozialen Identität (Social Identity Theory) von Interesse, die, gestützt auf Laborexperimente, die überragende Bedeutung von In-Group-Out-Group-Differenzierungen behauptet. Selbst banale soziale Kategorisierungen, noch mehr sicher mythisch überhöhte wie „Deutschtum“, führen zu Identifikationen mit der Eigengruppe, zum Vergleich mit Fremdgruppen und schließlich zur Absetzung von diesen. Aber die Forschung zur Social Identity Theory hat auch gezeigt, dass es Alternativen dazu gibt, unter anderem die Möglichkeit der „Rekategorisierung“ durch die Konstruktion einer übergreifenden In-Group. Diese Stelle kann die Menschheit oder Weltgesellschaft einnehmen. Hybridität ist zu einem zentralen Begriff oder Topos der Cultural und Postcolonial Studies geworden. Seit Frantz Fanon (1966) die Auswirkungen der Kolonialherrschaft auf das Selbstbewusstsein und die Kultur der Kolonisierten zum Thema gemacht und auf die politische Brisanz des Kulturellen aufmerksam gemacht hat, diskutieren Intellektuelle aus der Dritten Welt die Möglichkeiten des Widerstands gegen die Dominanz des Westens und die stereotypen Bilder. Während Fanon noch Identitätskonstrukten wie der Négritude eine – wenn auch beschränkte – Funktion im antikolonialen Befreiungskampf beimaß, verwerfen Intellektuelle im nachkolonialen Zeitalter wie Stuart Hall oder Homi K. Bhabha diese Strategie endgültig. Dabei ist anzumerken, dass auch Fanon die ausschließliche Rückwendung auf einheimische, zum Beispiel afrikanische Traditionen für falsch und illusionär hielt und vor der Gefahr eines neuen Nationalismus warnte. Der Befreiungskampf konnte seiner Ansicht nach „weder die Formen noch die Inhalte der Kultur unberührt lassen“ (1966, S. 207). Hall und Bhabha aber, selbst Intellektuelle zwischen den Welten, der eine aus Jamaika, der andere aus Indien, propagieren Hybridität. Der Literaturwissenschaftler Bhabha setzt auf die Möglichkeit, die Ambivalenz des westlichen Diskurses, beispielsweise über den Orient, subversiv zu nutzen. Für ihn ist Hybridität schon in jener Ambivalenz angelegt. Wenn man nicht in „der stummen Verdrängung indigener Traditionen“ das Problem sehe, gewinne man neue Möglichkeiten der Intervention (1994, S. 112). Diese Intervention ist als eine diskursive gedacht, etwa als ironisierende, parodisierende Imitation des Herrschaftsdis-
3.2 Bildung und (kulturelle) Identität
kurses. Hybridität in der deutschsprachigen Diskussion hat nicht die politische Bedeutung wie in der englischsprachigen. Hierzulande meint man damit nur das Ineinander, die Vermischung kultureller Elemente in den Identitätskonstrukten. Darin steckt allenfalls eine provokante Absage an die verbreiteten Reinheitsvorstellungen. Exkurs: Diskursbegriff Es sind zwei Diskursbegriffe zu unterscheiden, wenn Irritationen vermieden werden sollen. Der Diskursbegriff der Diskursethik (siehe Kap. 3.1) darf nicht mit dem Konzept verwechselt werden, das z. B. Stuart Hall verwendet. In der Diskursethik wird Diskurs als argumentative Auseinandersetzung verstanden, wobei eine ideale Gesprächssituation vorausgesetzt wird, vermutlich nicht beschränkt auf Face-to-face-Kontakte. Auch die Debatte über Geltungsfragen innerhalb einer Religionsgemeinschaft oder in einem wissenschaftlichen Publikationsorgan darf wohl als Diskurs in diesem Sinn gelten. Das entscheidende Kriterium ist, dass alle Beteiligten bei sich und anderen auf die Einhaltung der diskursethischen Normen achten. Getragen ist dieses Modell vom Vertrauen in die Ratio und Autonomie der Subjekte. Ganz anders das Verständnis von Diskurs im Anschluss an Michel Foucault. „Diskurs“ in seinem Sinn könnte man eventuell übersetzen als öffentliche Meinung oder als Korpsgeist einer Institution, dem sich die einzelnen nur schwer entziehen können. Ja, sie ziehen daraus sogar ihr Selbstbewusstsein und ihre Handlungsfähigkeit, obwohl sie unmerklich Vorgaben dafür in Kauf nehmen müssen, was die Wahl von Themen und die Positionierung in manchen Fragen angeht. Denn der Diskurs bestimmt, was gesagt werden kann. Die Frage nach der Verquickung von Macht und Wissen geht auf Michel Foucault zurück, wobei Macht als diskursive, unmerkliche, nicht als repressive Macht verstanden werden muss. Foucault erforschte die Genese oder Genealogie“ historisch spezifischer Wissensformen mit ihren Machteffekten. – Sein spezieller Analysegegenstand waren die Humanwissenschaften, zum Beispiel die Psychiatrie, als „diskursive Formationen“ oder – beim späten Foucault – als „Dispositive“ der Macht. Unter einem solchen Dispositiv wird die Anordnung solch heterogener Faktoren wie wissenschaftliche Begriffe, Bilder, Institutionen, Praktiken verstanden, die zusammen Disziplinierung, Reglementierung und den Ausschluss von Themen gewährleisten. Indem Diskurse eine bestimmte Praxis und damit ein Verhältnis zur Welt begründen, konstitutieren sie Subjektpositionen (z. B. den Arzt, den Wahnsinnigen). In der neueren Diskurstheorie werden Diskurse allgemeiner als „historisch bestimmte Aussageformationen“ definiert, die bestimmen, was gesagt und nicht gesagt werden kann, was überhaupt diskutierbar ist. Ihre Institutionalisierung legt auch fest, wer zu Aussagen, Fragen, Zweifeln befugt ist. Indem Diskursformationen einen bestimmten Bezug zur Wirklichkeit herstellen, ermöglichen sie erst Konsens-, aber auch Dissensbildung. Durch die Anerkennung eines gemeinsamen Objekts identifizieren sich die Subjekte des Diskurses. Die Wahrheit wird bei Foucault zum Diskurseffekt, aber Diskurse können im günstigen Fall offengehalten werden. Noch stärker betont die im Anschluss an Lacan und Derrida formulierte neuere Diskurstheorie die Möglichkeit der Des- und Reartikulation von diskursiven Anordnungen. Denn dem Diskurs als Signifizierungspraxis ist das unendliche Spiel der Differenz
zwei verschiedene Begriffe von Diskurs
Foucault: Macht und Wissen
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3. Theoretische Grundlagen I
Diskurse als Politikum
eigentümlich. Erst durch Differenz entsteht Bedeutung. Daher sind sprachliche Bedeutungen immer offen, auch wenn man sie stets eindeutig zu machen versucht. Die jeweils neue Artikulation im Spiel der Differenzen ist nur aufgeschoben. Das ermöglicht den Individuen und Gruppen, sich in gesellschaftlichen Diskursen zu positionieren (vgl. Hall 1994). Freilich wirft das Fragen der Macht auf. Diskurse sind nicht „unschuldig“; wie Hall sagt, durch sie „zirkuliert“ Macht (S. 153 f.). In zeitgenössische Diskurse sind meist Elemente historisch älterer Diskurse eingebaut. So zeigt Said (1981) in seiner Analyse des westlichen Diskurses über den Orient, dass darin säkularisierte Elemente des mittelalterlichen Bildes über Mohammed und die „Mohammedaner“ zu entdecken sind. Cohen deutet Züge des modernen Antisemitismus als Wiederkehr alter Mythen über „den“ Juden (1990, S. 87 ff.). Neben der „Repräsentation des ,Anderen‘“ (Hall) gibt es Diskurse zur Repräsentation des Eigenen. Cohen (1990) und Hall (1994) beleuchten nationale Diskurse in England. Nora Räthzel (1997) zeigt für Deutschland nach 1990, wie medial ein nationaler Identitätsdiskurs geführt wird. Vor allem für Medienanalysen wurde in der Bundesrepublik der kritische Forschungsansatz der Diskursanalyse entwickelt (Jäger 1991). Eine zentrale Analysekategorie bilden dabei „Kollektivsymbole“. So findet man zum Beispiel im Einwanderungsdiskurs immer wieder die Metaphern des vollen Bootes und der Flut („Asylantenflut“). Die Diskursethik mit dem Vertrauen in die Vernunft ist vom Geist der Aufklärung getragen (Aufklärung I). Der Diskursbegriff der Diskursanalyse ist Zeichen der Skepsis gegenüber dem Vernunftglauben, aber nicht antiaufklärerisch. Die Aufgabe wird eben in der Analyse von Diskursen gesehen, um deren Macht zu brechen (Aufklärung II). Dieser Begriff von Diskurs ist dem Ideologiebegriff verwandt. In der Rassismustheorie von Stuart Hall haben beide den gleichen argumentativen Stellenwert (siehe Kap. 4.2). Diskurse sind ein Teil von Kultur. Sie tragen wesentlich zu kulturellen Transformationen bei. So ist die Änderung der Geschlechterverhältnisse in unserer Kultur seit den 1960er Jahren ohne die feministische Bewegung kaum denkbar.
3.3 Kultur, kulturelle Praxen „Kultur“ – ein umstrittener Begriff
Einige Erziehungswissenschaftler/innen verwerfen den Kulturbegriff, weil sie eine Kulturalisierung von gesellschaftlichen Problemlagen befürchten, wie in Kap. 2.2 deutlich geworden ist. Ihnen sekundieren teilweise Soziologen und Ethnologen. Die „produktive“ Verunsicherung dort kommt, wie der Ethnologe Schiffauer (1997) meint, aus der Einsicht, dass man mit dem Differenzdiskurs zur Exotisierung und Ausgrenzung beigetragen hat. Daher erteilt man zumindest starren Kulturvorstellungen eine Absage. Auf der anderen Seite hat der Kulturbegriff durch die Cultural Studies eine Aufwertung als Instrument der kritischen Gesellschaftsanalyse erfahren. Jameson, ein Vertreter dieser Richtung, urteilt: „Es ist heute unmöglich, eine angemessene sozialwissenschaftliche Analyse der Phänomene um uns herum vorzunehmen, ohne zu verstehen, dass diese zutiefst von Kultur getränkt sind“ (Der Freitag v. 2.3.2001, S. 13). Auch für konstruktivistische Ansätze ge-
3.3 Kultur, kulturelle Praxen
winnt der Begriff Kultur Interesse. Denn woher sollen wir die Bauelemente unserer Wirklichkeitskonstrukte nehmen als aus dem kulturellen Repertoire (vgl. Reich 1996)? Schließlich ist neuerdings das Kulturkonzept sogar seitens der Systemtheorie rehabilitiert worden. Auf Ausführungen zur Begriffsgeschichte kann hier verzichtet werden (s. dazu einschlägige Lexika u. Wikipedia). Ideengeschichtlich ist von Interesse, dass Kultur – unabhängig von der Verwendung des Begriffs – zum Thema geworden ist, als die Gesellschaftlichkeit des Daseins reflexiv und die Kontingenz der eigenen Welt bewusst wurde, im Zeitalter der Aufklärung also. Wieweit die Entdeckung fremder Völker dazu beigetragen hat oder umgekehrt ein Effekt des neuen Bewusstseins ist, kann hier offen bleiben. Die Wahrnehmung von Kulturunterschieden ist jedenfalls, ebenso wie das historische Bewusstsein, ein neues Phänomen. Kultur als Gegensatz zur Natur oder als unsere „zweite Natur“ umfasst die Gesetze, nach denen menschliches Leben geregelt ist. Diese Gesetze machen die Aufklärer – auch unter dem Begriff „Sitten“ – zum Gegenstand ihres Studiums. Dabei findet man stellenweise quasi proto-soziologische Einsichten, zum Beispiel wenn Herder schreibt: „Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlass gibt“ (1774) – ein funktionales Verständnis von Kultur also. Der Begriff der Kultur ist äußerst mehrdeutig, was er mit vielen sozialwissenschaftlichen Begriffen einschließlich des Begriffs „Gesellschaft“ teilt. Zwei US-amerikanische Kulturanthropologen wollen über 100 verschiedene Definitionen gefunden haben, wobei aber auch, so ihre Bilanz, Gemeinsamkeiten festzustellen sind. Zwei Aspekte lassen sich explizit oder implizit in vielen Definitionen quer durch die Disziplinen wieder entdecken: (a) der symbolische Charakter, (b) die Orientierungsfunktion von Kultur. Dieser Funktionsbestimmung entspricht, dass Werte und Normen allgemein als elementare Bestandteile von Kultur verstanden werden. Dabei darf man sich nicht vorstellen, dass diese immer nach Art der zehn Gebote kodifiziert sein müssen. Viele kommen eher in den stillschweigenden Verhaltenserwartungen des Alltags zur Geltung. Auch der symbolische Charakter von Kultur beschränkt sich nicht auf literarische und musikalische Produktionen oder bildende Kunst. Die kulturelle Praxis umfasst vielmehr die symbolische Seite der gesellschaftlichen Praxis, wo Sinn und Bedeutung auch rein technischer Vorgänge und instrumenteller Handlungen produziert, repräsentiert und kommuniziert werden. Paul Willis, ein Vertreter der Cultural Studies, spricht daher vom „kulturellen Moment“ an der Produktion und Reproduktion der Lebensverhältnisse, welches die „kollektive Aktivität der Bedeutungsgebung (meaning making)“ betreffe (1990, S. 12). Die symbolische Verwendungsweise von Dingen im Alltagsleben ist Teil kultureller Praxis. Rituale des Miteinander-Kommunizierens am Arbeitsplatz beispielsweise verweisen auf Gruppenstrukturen, auf die sozialen Beziehungen der Arbeiter untereinander. Wohnformen, Wohnstile und Accessoires markieren soziale Bindungen, gesellschaftliche Selbstzuordnungen und Lebensweisen. Der Wohnungsstil von Migrantenfamilien zum Beispiel verdeutlicht nicht selten die Zugehörigkeit zu zwei sozialen Welten, nämlich zur Herkunftskultur und zur Aufnahmegesellschaft. An den Beispielen wird deutlich, was „symbolisch“ meint. Das Symbol (wörtlich: das Zusammengeworfene oder -gefügte) besteht aus Zeichen und
die Entdeckung der „Kultur“
zwei Aspekte von Kultur
die symbolische Seite sozialer Praxis
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3. Theoretische Grundlagen I
Mehrdeutigkeit der Symbole
Funktionen von Kultur
„Landkarten der Bedeutung“
Bedeutung. Die Zeichenhaftigkeit, der Verweis einer Geste, eines Gegenstands auf etwas, zum Beispiel auf das Verständnis einer sozialen Beziehung ist also Definitionsmerkmal des Symbolischen und damit des Kulturellen. Da Symbole immer mehrdeutig sind, „überdeterminiert“, wie manche Theoretiker unter Rückgriff auf Freuds Schrift zur Traumdeutung sagen, sind sie nicht nur dem Missverständnis ausgesetzt, sondern immer für Umdeutungen und neue Inhalte offen. Dies erweist sich als relevant für die Analyse kultureller Transformationen und für Synkretismen oder Hybridbildungen. Die kulturellen Symbole dienen der Verständigung, der Darstellung „nach außen“, aber auch, wie an der Sprache deutlich wird, dazu, dass wir uns selbst etwas vorstellen, uns einer Bedeutung symbolisch vergewissern. Daher lässt sich die Kultur als unser Repertoire an Kommunikations- und Repräsentationsmitteln definieren. Nicht zuletzt dienen symbolische Mittel wie die Kleidung der Repräsentation unserer selbst. Für die anderen wie für einen selbst hält man damit fest: so möchte ich gesehen werden. Wenn man diesen Aspekt verallgemeinert, kann man neben der Orientierungsfunktion eine identitäre Funktion von Kulturen erkennen, sofern man sie nicht unter die Orientierungsfunktion subsumieren will; denn die Identitätsmarker der Zeitgenossen dienen auch unserer Orientierung. Homi K. Bhabha (1994) konzentriert sich auf die identitätsstiftende Funktion, weil er vom diskursiven Eingebettetsein der Subjekte ausgeht. (Als Literaturwissenschaftler denkt er dabei anscheinend primär an Intellektuelle.) Aber auch andere betonen, dass die kulturelle Bedeutungsgebung der sozialen Verortung („location“) dient (Willis 1990). Generell werden innerhalb einer Kultur immer auch Differenzen – und damit Identitäten – diskursiv verhandelt. Nahe liegend ist hier der Hinweis auf die „Distinktionsfunktion“ von Kulturen, die der Soziologe Pierre Bourdieu in seiner Analyse der „feinen Unterschiede“ zwischen den Klassen der französischen Gesellschaft 1982 herausgearbeitet hat. Aber auch diese ist unter die Orientierungsfunktion subsumierbar; denn auch die sublime Markierung der Unterschiede im Wohnungsstil bspw. dient unserer Orientierung. (Hier habe ich mich so und so zu verhalten.) Die Kultur dient also der Deutung des gesellschaftlichen Lebens und damit der Orientierung des Handelns. Der Ethnologe Clifford Geertz definiert sie als „das Geflecht von Bedeutungen, in denen die Menschen ihre Erfahrung interpretieren und nach denen sie ihr Handeln ausrichten“ (1983, S. 99). Eine oft zitierte bildhafte Definition aus den frühen Cultural Studies lautet: „Eine ,Kultur‘ enthält die ,Landkarten der Bedeutung‘ (für die jeweilige Gruppe, Au.), welche die Dinge für ihre Mitglieder verständlich machen. Diese ,Landkarten der Bedeutung‘ trägt man nicht einfach im Kopf mit sich herum: sie sind in den Formen der gesellschaftlichen Organisationen und Beziehungen objektiviert“ (Clarke u. a. 1981, S. 41). Diese anschauliche Definition hat innerhalb der Erziehungswissenschaft wohl auch deshalb Anklang gefunden, weil damit verdeutlicht wird, dass man sich nicht, wie die Geisteswissenschaftliche Pädagogik, auf die Objektivationen der Hochkultur beschränken kann. Die Alltagskulturen sind inzwischen zum eigentlichen Gegenstand des Interesses geworden. Als Konsens kann man inzwischen – speziell auch für die Interkulturelle Pädagogik – festhalten, dass Kulturen erstens als heterogen, nicht homogen und ge-
3.3 Kultur, kulturelle Praxen
schlossen und zweitens als prozesshaft, dynamisch verstanden werden. Freilich bleibt damit offen, wie sich kultureller „Wandel“ erklärt. In der Kulturanthropologie hat man sich ihn damit erklärt, dass Abweichler oder kreative Persönlichkeiten Innovationen anstoßen. Nur ist die Frage, ob dies, wenn überhaupt, für komplexe Kulturen genug Erklärungskraft hat. Eine zweite, psychologisierende Erklärung geht von dem Widerspruch zwischen kulturellen Normen und Bedürfnisstrukturen aus. Dahinter stellt sich jedoch die Frage, warum und wodurch haben sich Bedürfnisse so verändert, dass es zu dem Widerspruch gekommen ist? Eine nahe liegende Erklärung ist drittens der Kulturkontakt. Da drängt sich die Frage auf, ob für Übernahmen aus anderen Kulturen nicht ein Motiv da sein muss. Wenn wir von der Orientierungsfunktion unserer Kultur ausgehen, dann dürfte nur das attraktiv sein, was in unserer Situation „brauchbar“ ist im weitesten Sinn. Man darf annehmen, dass jeweils nur das übernommen wurde und wird, was eine Lösung für eine erfahrene Problemlage verspricht, psychische Konfliktlagen eingeschlossen. So bot z. B. die exotische Kunst eine Projektionsfläche, als in der Moderne die zivilisatorischen Zwänge von manchen leidvoll erfahren wurden. Damit sind wir bei der überzeugendsten Erklärung für kulturelle Transformationen, nämlich der Veränderung der Lebensverhältnisse, wobei kein Automatismus unterstellt werden darf – daher die problematische Verwendung des Wortes „Wandel“. Die Menschen werden vielmehr genötigt, sich mit ökonomischen und sozialen Strukturveränderungen auseinander zu setzen und neue angemessene kulturelle Formen zu finden, weil veränderte Verhältnisse neue Handlungsanforderungen mit sich bringen. Das jeweilige kulturelle Repertoire wird dafür quasi gesichtet und umgearbeitet. In diesem Sinn arbeiten alle an ihrer Kultur, um unter Rückgriff auf Traditionen neue Lösungen zu suchen, was nicht ohne Konflikte abgeht. Traditionen können selektiv verwendet oder umgedeutet werden. Die Korrespondenz zwischen Kultur und Sozialstruktur oder Lebenslage muss ebenso beachtet werden wie deren Differenz. Nach dem Urteil des Ethnologen Geertz sollte weder die Kultur als „Derivat“ der Sozialorganisation noch diese als bloße „Verkörperung kultureller Muster“ angesehen werden, weil dann „die dynamischen Elemente des sozialen Wandels, die daraus entstehen, dass kulturelle Muster nicht völlig mit den Formen der sozialen Organisation übereinstimmen, kaum formulierbar (sind)“ (Geertz 1983, S. 98). Die Offenheit der Kulturelemente für verschiedene Deutungen und Artikulationen (zur Mehrdeutigkeit in Umbruchsituationen Geertz 1983, S. 126) macht, dass Kultur, vor allem, aber nicht nur in Umbruchssituationen umstritten ist, zum Feld des Kampfes um Bedeutungen wird, mit anderen Worten des Kampfes um „kulturelle Hegemonie“ zwischen verschiedenen weltanschaulichen oder politischen Richtungen und Gruppierungen (vgl. Benhabib 1999, S. 47 f.). Die kulturelle Hegemonie (Gramsci) entscheidet innerhalb von Nationen wie innerhalb kleinerer Gemeinwesen, z. B. in den Einwandererkolonien darüber, wie und in welcher Richtung die Kultur am Leben gehalten oder weiterentwickelt wird. Auch die Auswahl der dominanten Themen einer Kultur ist abhängig von den diskursiven Auseinandersetzungen, bei denen die Intellektuellen – Denker, Dichter, Multiplikatoren, Meinungsmacher – eine zentrale Rolle spielen, ohne dass das
kulturelle Dynamik – wodurch?
Kultur und Sozialstruktur
kulturelle Hegemonie
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3. Theoretische Grundlagen I
Lebenswelt
kulturelle Transformationen – Beispiele
Publikum unbeteiligt ist. Im Hinblick auf solche Auseinandersetzungen und die dabei gestellte Machtfrage könnte man mit Schiffauer (1997) Kultur auch als „Diskursfeld“ (s. o.) definieren. Der kulturelle Prozess kann als kollektive Arbeit an den kulturellen Bedeutungen definiert werden. Er ist erstens abhängig von den verfügbaren Traditionen und zweitens von den Erfahrungen der Gesellschaft, der gesellschaftlichen Klasse oder Gruppe. Die lebenspraktische Relevanz entscheidet (mit) über die mögliche Aktualisierung und Neuschöpfung kultureller Inhalte und Formen. Minderheitenkulturen sind daher zwar teilweise ethnisch spezifisch, differenzieren sich aber in schicht- und generationenspezifsche Milieus aus (vgl. Nohl 2010). Der Darstellung in Kap. 2.2 konnte man entnehmen, dass einige Vertreter/innen der Interkulturellen Pädagogik, unter anderem Nieke, dem Terminus „Kultur“ den Begriff „Lebenswelt“ vorziehen. Lebenswelt im Sinn von Alfred Schütz ist der fraglose Rahmen oder Horizont unserer Welt- und Selbstauslegung, der per definitionem selbst nicht thematisch wird. Sie umfasst die uns selbstverständlichen „Deutungsmuster“, über die wir uns normalerweise keine Gedanken machen. Erst in der Konfrontation mit einer fremden Lebenswelt werden sie problematisch, was Schütz 1944 im amerikanischen Exil in seinem Essay „Der Fremde“ (1972) überzeugend dargestellt hat. Der Vorzug des Lebensweltbegriffs mag sein, dass er die Selbstverständlichkeit, Unreflektiertheit unserer Orientierungsmuster verdeutlicht und außerdem – anders als „Kultur“ – von fragwürdigen umgangssprachlichen Nebenbedeutungen frei ist. Andererseits schließt er (a) das diskursive Moment und damit die Machtthematik aus und bietet (b) keine Erklärung für kulturelle Transformationen. Zurück zum Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Kultur! Der Ethnologe Schiffauer hat nach einem Feldaufenthalt in einem anatolischen Dorf im Abstand von Jahren mit vier Migranten und einer Migrantin aus diesem Dorf Gespräche geführt und zeigt die kulturellen Transformationen auf, die der Wandel der Lebensverhältnisse in diesen Fällen mit sich gebracht hat. Erstens bedingt die radikale Veränderung der Arbeits- und Lebensverhältnisse von der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft zur Lohnarbeiterexistenz einen Wert- und Einstellungswandel. Das Arbeitsverhältnis als Vertragsverhältnis löst die gegenseitigen Verpflichtungen im bäuerlichen Haushalt ab und wird als sachliche Abhängigkeit begriffen. Arbeiten werden dementsprechend zweckrational und rollenspezifisch, auch nur noch bedingt geschlechtsspezifisch gesehen. Demgemäß wandelt sich zweitens auch die Struktur der Familien. Die moderne Kernfamilie bestimmt das Alltagsleben. Verwandtschaftliche Verpflichtungen sind, sofern sie noch anerkannt werden, selbst auferlegt (Schiffauer 1991, S. 123, 137). Die traditionelle Geschlechtertrennung und Aufgabenteilung wird abgelöst von einer pragmatischen Arbeitsteilung und flexibleren Rollenverteilung (S. 204, 230 f.) und außerdem von einer neuen Statuskonfiguration, die nicht in erster Linie männliche von weiblichen Familienmitgliedern, sondern die Eltern von den Kindern unterscheidet (vgl. Pfluger-Schindlbeck 1989). Dass sich neben und mit dem familiären Rollensystem auch die Erziehungsvorstellungen und -praktiken teilweise radikal ändern, belegt auch die Studie von PflugerSchindlbeck (1989). Eindrucksvoll wurde 2000 im sechsten Familienbericht der Bundesregierung auf Basis der damaligen Forschungslage die Verände-
3.4 Akkulturation, Stufen interkulturellen Lernens
rung der Familienstrukturen bei Migrantenfamilien dargestellt (BMFSFJ 2000). Neuere Studien bestätigen den Wandel der Geschlechterverhältnisse über die Generationenfolge. Zum Beispiel haben Farrokhzad u. a. (2011) Tandems von jungen Erwachsenen und ihren Eltern befragt. Herkunftsregionen waren die Türkei und die GUS-Staaten. Während die ältere Generation überwiegend ein „konservatives“ Modell der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau praktizierte, war für die Jüngeren eher ein „bedingt egalitäres“ typisch (S. 106 f.). Schon in der ersten Generation hat sich nach Schiffauers Studie auch die subjektive Funktion der Religion geändert. So artikuliert Yasar, ein Informant von Schiffauer, eine Art persönlicher Anrufung („Du bist Muslim, mein Sohn“, S. 144), woraus sich eine individuelle Selbstverpflichtung ergibt, die eine systematische religiöse Praxis impliziert. Nicht mehr äußere Regelbefolgung ist entscheidend, sondern der Sinn der Regel. Der Islam gewinnt Bedeutung für die Identitätsarbeit und Sinnfindung der Individuen, die sich in die Gesellschaft hineingeworfen finden. Es gibt keine Dorfgemeinschaft mehr, die sich in religiösen Ritualen bestätigen müsste. Und auch das bäuerliche Verhältnis gegenseitiger Leistung zu Gott (Gebet für gute Ernte) ist obsolet. Die beiden religiös orientierten Gesprächspartner von Schiffauer verfolgen vielmehr die Vision einer besseren Ordnung, anstatt die gegebene als gottgewollt hinzunehmen. Dass sie dabei von den Diskursen innerhalb der Einwanderer-Community, sprich: von islamistischen Bewegungen, beeinflusst sind, macht noch einmal auf die Bedeutung diskursiver Auseinandersetzungen bei kulturellen Transformationen aufmerksam.
3.4 Akkulturation, Stufen interkulturellen Lernens Kulturelle Transformationen sind, so sehr sie umkämpft sind und individuell unterschiedlich vollzogen werden, eine Sache kollektiver Praxis. Akkulturation, ein Gegenstand der Migrationsforschung, wird dagegen überwiegend als individueller Prozess betrachtet, d. h. die Forschung nimmt eine individualistische Perspektive ein. Zunächst sind verschiedene Dimensionen und Stufen von Akkulturation pädagogisch von Interesse. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht die Unterscheidung von Talcott Parsons zwischen peripheren und zentralen Werten und Normen, die von einem zugemuteten Wertewandel betroffen sein können. Ähnlich unterscheidet Ronald Taft, der Assimilation als Anwendungsfall einer allgemeinen Theorie des „attitude change“ sieht, dabei zwei Dimensionen: externer Wandel meint die Änderung des beobachtbaren Verhaltens, interner Wandel die Änderung der inneren Einstellungen und Handlungsdispositionen (Esser 1980, S. 50 ff., Treibel 1990, S. 65 f.). Der Konformität mit den vermuteten oder tatsächlichen Rollenerfordernissen der Fremdgruppe („Akkomodation“), folgt in seinem Modell die Identifikation mit dieser, bis es schließlich zur völligen Konvergenz der Normen kommt. Ein anderer Autor differenziert in ähnlicher Weise zwischen peripheren und zentralen Rollenelementen (siehe Esser 1980, S. 57). Einwanderer können beispielsweise im Arbeitsleben den Erwartungen der Unternehmensleitung voll genügen, ohne den sozialen Erwartungen innerhalb der
periphere und zentrale Werte und Normen
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3. Theoretische Grundlagen I
die Interaktion zwischen Immigrant/in und Fremdgruppe
subjektive Rationalität
Belegschaft ganz zu entsprechen. Sie können auch am öffentlichen, politischen Leben teilnehmen, sobald sie die dort geltenden Regeln anerkennen, ohne dass sie deshalb in anderen, als privat definierten Bereichen (z. B. im religiösen Bereich) traditionelle oder scheinbar traditionelle Werte und Normen aufgeben müssten. In dieser Hinsicht ist die Unterscheidung des Anthropologen Thurnwald aufschlussreich, der nach Esser drei Alternativen des Umgangs mit einer Fremdkultur nennt, nämlich die partielle Übernahme von Elementen der Fremdkultur (selektive Prozesse), die Zurückweisung von Elementen der Fremdkultur (rejektive Prozesse) und die Transformation von Elementen der Fremdkultur (transformative Prozesse, 1980, S. 56). Die Migrationssoziologen sind sich darüber im Klaren, dass die Akkulturation ein interaktiver Prozess ist. Bei Taft werden dafür außer dem kulturellen Wissen und dem kulturellen Lernen des Immigranten die Reaktionen der Fremdgruppe, d. h. der Aufnahmegesellschaft, als entscheidend angesehen. Auch nach Samuel Eisenstadt, der sich mit der Eingliederung jüdischer Einwanderer in Israel befasst hat, entscheiden sowohl die Erwartungen, Aspirationen und Einstellungen des Einwanderers wie die Eigenschaften des Aufnahmesystems über die Transformation der Gruppenbeziehungen, die schließlich zur Absorption der Einwanderer führt. Es kam für ihn auf die Wandlungsfähigkeit, Durchlässigkeit, Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit der israelischen Gesellschaft an. Bestimmend für die Eingliederung ist neben dem Erlernen von Fertigkeiten (Sprache etc.), dem Erlernen von Rollenanforderungen und der Umorganisation der Grundwerte seitens der Immigranten das Maß der Übereinstimmung der Rollenerwartungen von Herkunfts- und Fremdgruppe. Eingliederungsprozesse sind für Eisenstadt zwangsläufig mit einer Re-Strukturierung des Orientierungssystems der Einwanderer, anders gesagt: mit deren Re-Sozialisation verbunden (Esser 1980, S. 60 ff., Treibel 1990, S. 67 f.). Gestützt auf solche Modelle hat Hartmut Esser ein handlungstheoretisches Modell von Assimilationsprozessen entworfen, dessen methodologische Prämisse „die subjektive Rationalität handelnder Individuen als Ursache des Entscheidungshandelns“ ist (Esser u. a. 1979, S.VII). Alltagssprachlich übersetzt heißt das: Einwanderer werden als Individuen betrachtet, die ihre Handlungsfolgen rational bewerten, Vor- und Nachteile abwägen, vorhandene Handlungsalternativen prüfen und unter Rückgriff auf ihre jeweiligen Kompetenzen und früheren Erfahrungen neue Handlungen planen. Wichtig für die modellhafte Abbildung von Eingliederungsprozessen sind die Eigenschaften der Person und die Eigenschaften der Umgebung, die in einem Wechselwirkungsverhältnis zueinander gesehen werden. Die Wanderung wie die nachfolgende Integration sind also in dieser Sichtweise die Folge einer utilitaristischen Handlungswahl, wobei die unterschiedlichen Randbedingungen oder Umgebungsfaktoren zu beachten sind (vgl. Esser u. a. 1979, S. 13). Anpassungsprobleme werden also wie bei Eisenstadt nicht mehr einseitig den Immigranten zugeschrieben. Assimilative interethnische Kontakte werden, so die Grundhypothese, aufgenommen, wenn – in der Wahrnehmung der Migranten – assimilative Handlungen instrumentell für wichtige Ziele sind, erwünschte Reaktionen der Umgebung erwartbar und Widerstände seitens der Umgebung gering sind, wenn außerdem nichtassimilative Handlungsalternativen nicht vorhanden sind, wenn also der
3.4 Akkulturation, Stufen interkulturellen Lernens
Rückzug in die Einwandererkolonie beispielsweise nicht möglich ist, und wenn der Migrant beispielsweise schon vor der Migration positive Erfahrungen mit Anpassungsbemühungen gemacht hat (Esser 1980, S. 201). Der Prozess der Eingliederung stellt sich für Esser als ein Lernprozess des Wanderers dar, der – unvollständig skizziert – etwa folgendermaßen verläuft oder verlaufen kann: Vorausgesetzt, dass der Migrant überhaupt zu assimilativen Handlungen motiviert ist und eine Situation vorfindet, die er nur durch assimilative Handlungen verbessern kann, wird er die entsprechenden Fertigkeiten zu erwerben versuchen und dann erste zielgerichtete Handlungsversuche assimilativer Art machen. Bei Erfolg, der sich meist auf ein eng begrenztes Handlungsfeld beschränkt, entwickelt sich ein „Rezeptwissen für erfolgreiches Handeln in der neuen Umgebung“, das „Ansätze eines generalisierten Erfolgsvertrauens in der neuen Umgebung schafft und damit die Erweiterung des subjektiv beherrschbaren Feldes vorbereitet“. Ist der Migrant weiter erfolgreich, so kommt es dann auch zu „expressiven Besetzungen“ seiner Handlungen und von Teilen seiner Umgebung, d. h. kulturell angepasste Handlungsweisen sind nicht mehr nur Mittel zum Zweck, sondern werden zu einem Wert an sich. Der Migrant wird in seiner neuen Umgebung heimisch. Umgekehrt werden bei Misserfolg, selbstverständlich in Abhängigkeit von der Hartnäckigkeit des Migranten, Segregationstendenzen immer wahrscheinlicher. Das heißt, die Aufnahmegesellschaft wird als generell feindlich erlebt werden, wird abgelehnt und unter Umständen moralisch abgewertet werden. Es kommt zum Rückgriff auf die eigene ethnische Herkunftsgruppe, zu einer mehr oder weniger starken Abschottung oder zur Remigration. Aus pädagogischer Sicht ist Essers Modell vor allem wegen seiner lerntheoretischen Dimension interessant. Die Aufmerksamkeit wird auf den eigenen aktiven Beitrag der Migranten am Eingliederungsprozess gelenkt, der als Lernprozess interpretiert wird, ohne die gesellschaftlichen Bedingungen dafür zu verkennen. Lernfortschritte und Krisen werden interpretierbar. Indem die rationale Seite des Assimilationsprozesses herausgearbeitet wird, wird dem Rückgriff auf „kulturelle Prägung“ und ähnliche eher mythische Erklärungen begegnet. Esser betont die Bedeutung der Aufnahmebereitschaft und der allgemeinen Systembedingungen in der Aufnahmegesellschaft. Er plädiert für Chancengleichheit der Einwanderer und empfiehlt „die kompromisslose rechtliche Gleichstellung und eine gezielte Kompensation von Wettbewerbsnachteilen“ (Esser 1981, S. 130). Dennoch treten die Sozialstrukturen, im Modell als „Randbedingungen“ des individuellen Entscheidungshandelns gefasst, in den Hintergrund, so dass Assimilation noch immer allein den individuellen Anstrengungen zugerechnet werden kann. Die Sichtweise ist individualistisch und zweitens assimilationistisch, gleichgültig, ob Esser Assimilation schlicht für unvermeidlich oder aber für wünschenswert hält. In seinen Publikationen erscheint die Zielkultur, obwohl er sich der Wertung enthält, als die Überlegenere. Die Möglichkeit, dass im kulturellen Transformationsprozess etwas Drittes entsteht, gerät gar nicht ins Blickfeld. Die jeweils mitgebrachten normativen Orientierungen werden von Esser nur als „interne Barriere der Assimilation“ in Betracht gezogen. Daher ist er der Bildung von Einwandererkolonien gegenüber misstrauisch. Er vermag ihnen allenfalls für den Übergang eine stützende Funk-
Eingliederung als Lernprozess
die Bedeutung der Chancengleicheit
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3. Theoretische Grundlagen I
die „Kolonie“
Integration versus Assimilation
tion zuzuerkennen, weil sie nach der ersten Desorientierung für „eine relativ entlastete Alltagsgestaltung“ sorgen, ohne welche die Menschen keine Lernerfahrungen machen können (Esser u. a. 1979, S. 49). Assimilation wird eindimensional als ein linearer Prozess der Annäherung an die Zielkultur betrachtet, in dem Bikulturalität nur ein Übergangsphänomen sein kann (vgl. Mummendey/Simon 1997, S. 87). Im Gegensatz zum handlungstheoretischen Ansatz von Esser sieht Friedrich Heckmann die Akkulturation von Arbeitsimmigranten als kollektiven Prozess. Arbeiterimmigranten, so die Grundthese von Heckmann, die stark von der Rezeption US-amerikanischer Erfahrungen getragen ist, entwickeln ein eigenständiges sozial-kulturelles System, „welches Ergebnis der Wechselwirkung von Herkunftsfaktoren und den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Einwanderungsgesellschaft ist …“ (1981, S. 65). Heckmann spricht von der „Kolonie“. In seinen Überlegungen ist der Gedanke der kulturellen Neubildung aus Elementen der Herkunftskultur und der Kultur der Aufnahmegesellschaft enthalten. Nach Heckmann ist „das gesellschaftliche Bewusstsein des Einwanderers das Bewusstsein zweier Gesellschaften“ (1981, S. 231). Die Einwandererkolonie nimmt in seinem Konzept einen zentralen Stellenwert ein als die „eigenständige sozial-kulturelle Organisation der Minorität“ (Heckmann 1981, S. 209). Darunter versteht er die soziale und kulturelle Infrastruktur einer Migrantengruppe, die Vereine, die Kirchengemeinde bzw. die Moschee, die kleinbürgerlich mittelständige Ökonomie der Läden, Teestuben usw. und auch die sozialen Netze zwischen Verwandten, Freunden, Bekannten und Nachbarn. Die Kolonie gewährt den nötigen Rückhalt für Lernprozesse, bewahrt vor Überforderung durch die Mischung von Vertrautem und Fremdem. Heckmann wehrt sich gegen die Gleichsetzung von Kolonie und Ghetto im negativ besetzten umgangssprachlichen Verständnis (Heckmann 1981, S. 209). Obwohl in der frühen Phase der Arbeitsmigration entwickelt, kann Heckmanns Konzept noch immer eine gewisse Aktualität beanspruchen. Man denke nur an die öffentliche Debatte über angebliche „Parallelgesellschaften“. Das Modell der „Kolonie“ ist jedoch bis heute umstritten. Kritiker befürchten erstens, dass Segregation unvermeidlich mit sozialer Benachteiligung verbunden ist, zweitens dass notwendige Anpassungsprozesse behindert und drittens individuelle Selbstverwirklichungsansprüche eingeschränkt werden (vgl. dazu Kap. 3.1). Die Positionen hängen selbst wiederum vom jeweils zugrunde liegenden Assimilations- oder Akkulturationsverständnis ab. Gegenüber eindimensionalen Modellen von Akkulturation hält der kanadische Sozialpsychologe John W. Berry die Wertschätzung eigener kultureller Identität seitens einer Minorität durchaus für vereinbar mit der Offenheit für Beziehungen zu anderen Gruppen. Indem er kulturelle Identität und Kontaktbereitschaft als zwei Dimensionen kreuzt, kommt er zu einem Vier-Felder-Schema mit vier unterschiedlichen Strategien, die er als „Integration“, „Assimilation“, „Separation“ und „Marginalisierung“ bezeichnet. Integration bedeutet Anschluss bei Beibehaltung der kulturellen Identität, Assimilation dagegen das Aufgehen in der Fremdgruppe (Mummendey/ Simon 1997, S. 89 f.). Fragwürdig ist dabei Berrys Begriff von kultureller Identität, vor allem die konservative Komponente darin, wenn er den Wunsch, sie „beizubehalten“, zum Kriterium macht.
3.4 Akkulturation, Stufen interkulturellen Lernens
Auch die sog. Austauschforschung (engl. Cross Culture Psychology) betrachtet Akkulturation als individuelle Leistung. Dennoch unterscheiden sich die Modelle von denen der Migrationssoziologie, was an der andersgearteten Situation liegt, die die Adressaten der Austauschforschung im Unterschied zu Arbeitsmigranten oder Flüchtlingen vorfinden. Anders als diese finden sich Expatriates von Unternehmen, Austauschschüler, -studierende oder -wissenschaftler/innen nicht am unteren Ende der sozialen Hierarchie, zum Teil sind sie aufgrund ihres vorübergehenden Aufenthalts sozialstrukturell gar nicht zu verorten. Sie können als sozial „freischwebend“ gekennzeichnet werden. Ihr Lernprozess ist kaum durch Machtasymmetrien, Diskriminierung und Ausgrenzung beeinträchtigt, sondern basiert auf gleichberechtigter Interaktion. Bezeichnenderweise wird in der Austauschforschung auch, anders als meist in der Migrationssoziologie, nicht unterstellt, dass der Prozess auf Anpassung an die Aufnahmekultur hinauslaufen müsse. Er wird vielmehr als ein interkultureller Prozess verstanden. Daher die bevorzugte Verwendung des Begriffs „interkulturelles Lernen“. Die bisher aus der Austauschforschung vorliegenden Stufen- oder Phasenmodelle interkulturellen Lernens sind wohl erfahrungsgestützt, aber nicht methodisch empirisch überprüft. G. Winter (1988) unterscheidet vier Stufen: Auf der ersten Stufe eignet sich der Lernende das für den Auslandsaufenthalt grundlegende Orientierungswissen über soziale Umgangsformen etc. an. Die Übernahme von Handlungsmustern, z. B. Begrüßungsritualen, verbleibt hier noch auf einer äußeren Ebene. Im Gegensatz dazu werden auf der zweiten Stufe internale Handlungsvoraussetzungen wie Werthaltungen, Normen erfasst, und zwar so, wie sie der Lernende der Majorität der Einheimischen zuschreibt. Das heißt, der Versuch ist nicht frei von Stereotypisierungen der fremden Mentalität, was Fehlhandlungen mit sich bringen kann. Immerhin gibt aber die Kenntnis des „durchschnittlichen Alltagsverhaltens“ eine gewisse Sicherheit. Auf der dritten Stufe wird dann aufgrund der angemessenen Interpretation des fremden Verhaltens und der Koordination der Handlungsschemata ein situationsangemessenes Interagieren ermöglicht. Eine vierte Stufe würde nach Winter mit einem generalisierten Kulturlernen, vor allem im Fall wiederholter interkultureller Kontakte, erreicht (S. 168 ff.). Alexander Thomas (1993) unterscheidet im Hinblick auf die Frage nach der „Akkulturationsbelastung“ sieben Phasen von der Vorbereitung des Auslandaufenthalts bis einschließlich zur Rückkehr. Am belastendsten ist dabei, so seine Annahme, die Phase der ersten Orientierung und Eingewöhnung in der Gastkultur, die als „Kulturschock“ erlebt werden könne, weil das eigene Orientierungssystem in Frage gestellt wird und das teilweise vergebliche Bemühen um angemessenes Verhalten Stress mit sich bringt. Die von Thomas (1988) vorgelegte Definition „interkulturellen Lernens“ impliziert verschiedene Stufen oder Grade der Akkulturation an die Fremdkultur vom Verstehen bis zur Übernahme von Orientierungsmustern und zur selektiven Anwendung: „Interkulturelles Lernen findet statt, wenn eine Person bestrebt ist, im Umgang mit Menschen einer anderen Kultur deren spezifisches Orientierungssystem der Wahrnehmung, des Denkens, Wertens und Handelns zu verstehen, in das eigenkulturelle Orientierungssystem zu integrieren und auf ihr Denken und Handeln im fremdkulturellen Handlungsfeld anzuwenden. Interkulturelles Lernen be-
Modelle der Austauschforschung
interkulturelles Lernen
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3. Theoretische Grundlagen I
dingt neben dem Verstehen fremdkultureller Orientierungssysteme eine Reflexion des eigenkulturellen Orientierungssystems“ (S. 83). Milton J. Bennett (1993) macht in seinem von der Austauschforschung stark rezipierten Modell der „Entwicklung interkultureller Sensibilität“ (siehe auch Kap. 6.2) die Anerkenntnis von kulturellen Unterschieden (Stufe der „Akzeptanz“) zur Voraussetzung der „Adaption“, d. h. der Fähigkeit zur Übernahme fremder Perspektiven, zum Wechsel des Bezugsrahmens und damit gelingender Kommunikation. In seinem Modell ist die Stufe der Akzeptanz bereits ein fortgeschrittenes Stadium.
Zusammenfassung: Für Prozesse der Akkulturation wird ebenso wie für interkulturelles Lernens eine Hierarchie von Lernstufen angenommen. Wiederholt findet sich unter anderem die Annahme, dass eine äußerliche Übernahme fremder Werte, Normen und Verhaltensmuster der Internalisierung vorausgeht. Daneben wird unterstellt: ein Fortschreiten von Übergeneralisierungen und damit stereotyper Fremdwahrnehmung zur Differenzierung, von „Rezeptwissen“ (Esser) zum Verstehen der anderen Handlungslogik, vom bloßen Verstehen zur aktiven Übernahme fremder Regeln, von der Regelbefolgung zur Identifikation. Die meisten Migrationssoziologen und Austauschforscher – eine Ausnahme war Heckmann – bleiben dabei auf die Anpassung an ein ,Zielsystem‘ fixiert. Die Möglichkeit von Hybridbildung oder Bikulturalität kommt selten in den Blick (u. a. bei Berry u. Bennett). Die Bedingungen erfolgreicher Akkulturation werden in der Migrationsforschung stärker berücksichtigt. Dort wird verdeutlicht, dass geringe soziale und strukturelle Integration, d. h. Mangel an Chancengleichheit, Akkulturation behindert, wobei die Bildung eigener sozialer Netze ambivalent eingeschätzt wird. Diese kann den Rückzug fördern und Segregation begünstigen (Esser), aber auch den nötigen Rückhalt für die Auseinandersetzung mit der dominanten Kultur bieten (Heckmann). Besteht über einige elementare gesellschaftliche Bedingungen von Akkulturation Konsens, so wissen wir über subjektive Bedingungen noch nichts Gesichertes, nur Plausibles. Plausibel ist zum Beispiel, dass frühere erfolgreiche Akkulturationserfahrungen günstig sind (Esser 1980, S. 201) oder Eigenschaften wie Neugier, kognitive Flexibilität, die man in Beiträgen zur Austauschforschung aufgelistet findet. Lernwiderstände bleiben in beiden Forschungsfeldern unterbelichtet. Teilweise beleuchtet die Psychologie des Vorurteils subjektive Bedingungen, die als ungünstig gelten können.
Aufgaben: Überlegen Sie! Welche Kulturen (oder Milieus) sind für Sie (zurzeit) maßgebend – für Ihr Verhalten, Ihren Geschmack, Ihren Lebensstil? Reflektieren Sie darüber, welche Veränderungen sich in dieser Hinsicht in ihrem Leben ergeben haben und mit welchen zeitlichen Abschnitten sowie (institutionellen) Übergängen dies zusammenhängt.
3.4 Akkulturation, Stufen interkulturellen Lernens
Worüber definieren Sie sich (Beruf, Sport, Musikstil, politisches Engagement, Religion etc.)? Haben Sie schon einmal schmerzlich erfahren, dass jemand Sie völlig verkannt hat, was Ihr Selbstverständnis betrifft? Und umgekehrt: Haben Sie nach Ihrem Eindruck schon einmal eine andere Person auf solche Art vor den Kopf gestoßen? Konnte dies korrigiert werden? Falls Sie länger im Ausland waren oder eine Migrationsgeschichte haben – inwiefern finden Sie Ihre Erfahrungen in einem der Stufenmodelle interkulturellen Lernens bzw. der Akkulturation wieder?
Ein- und weiterführende Literatur: Hall, St. (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg. Han, Petrus (2005): Soziologie der Migration. 2. Aufl., Stuttgart. Keupp, H./Höfer, R. (1997): Identitätsarbeit heute. Frankfurt/M. Neubert, S. u. a. (Hg., 2008): Multikulturalität in der Diskussion. Interkulturelle Studien 12, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag f. Sozialwissenschaften. Thomas, Alexander (Hg., 1993): Kulturvergleichende Psychologie. Eine Einführung. Göttingen. Treibel, Annette (2011): Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht. 5. Aufl., Weinheim u. München.
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4. Theoretische Grundlagen II Das vorherige Kapitel über die Verfasstheit einer multikulturellen Gesellschaft, über den Kulturbegriff und kulturelle Identität hat vor allem Grundlagen im Hinblick auf das Leitmotiv der Anerkennung von Alterität und Vielfalt geliefert. Bei den folgenden Ausführungen ist das Gleichheitsmotiv leitend, m. a. W. das Ziel, sich der Diskriminierung von Minderheiten bewusst zu werden. Dafür sollen zuerst Ansätze der psychologischen Vorurteilsforschung und sodann sozialwissenschaftliche Rassismustheorien befragt werden. Dabei gibt es auch Überschneidungsbereiche zwischen den beiden Disziplinen, wie man sehen wird.
4.1 Vorurteile und Ethnozentrismus
Definition des Vorurteils
Stereotyp
Für die Erklärung ethnischer Vorurteile, die in unserem Zusammenhang primär interessiert, ist besonders die Erforschung von Inter-Group-Relations von Belang. Breiter eingehen wollen wir außerdem auf den psychodynamischen Ansatz, weil er pädagogisch von besonderem Interesse ist. Bei dem Umfang der Vorurteilsforschung und der Pluralität der Ansätze lässt sich ein Überblick im gegebenen Rahmen auch nicht annähernd bewerkstelligen. Der Leser greift besser zur einschlägigen Literatur, wo sich auch gute Überblicksdarstellungen finden (z. B. Zick 1997). Eine umfassende und aspektreiche Darstellung der Vorurteilsproblematik bietet das immer noch lesenswerte Buch von Gordon W. Allport (1954, dt. 1971), der auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen berücksichtigt. Als Vorurteile werden meistens Urteile bezeichnet, die man fällt, ohne sie anhand der Tatsachen auf ihre Gültigkeit zu überprüfen. Für viele Autoren ist darüber hinaus die abwertende, diskriminierende Tendenz zusammen mit einer emotionalen ,Ladung‘ bedeutsam. Für Levin (1975) implizieren Vorurteile „negative Gefühle, Überzeugungen und Handlungstendenzen oder diskriminierende Handlungen“ (S. 13). Auch andere Definitionen enthalten neben dem kognitiven den emotionalen Aspekt sowie die entsprechende Handlungsdisposition. So definiert Davis: „Vorurteile sind negative oder ablehnende Einstellungen einem Menschen oder einer Menschengruppe gegenüber, wobei dieser Gruppe in Folge stereotyper Vorstellungen bestimmte Eigenschaften von vornherein zugeschrieben werden, die sich aufgrund von Starrheit und gefühlsmäßiger Ladung, selbst bei widersprechender Erfahrung, schwer korrigieren lassen“ (zit. n. Nicklas/Ostermann 1980). In dieser Definition wird auf den Begriff des Stereotyps zurückgegriffen, worunter Sozialpsychologen ein vereinfachtes und standardisiertes Bild einer Fremdgruppe bzw. eine vorgefasste Idee über die Merkmale einer Gruppe verstehen, welche die Wahrnehmung und Würdigung individueller Merkmale verhindert. „Vorurteile haben die Struktur von Stereotypen – also von stark vereinfachten, generalisierten, klischeehaften Vorstellungen“ (Nicklas/Ostermann
4.1 Vorurteile und Ethnozentrismus
1980). Stereotype gehören nach häufig vertretener psychologischer Auffassung zu den kognitiven Mechanismen, mit deren Hilfe die Komplexität der sozialen Umwelt reduziert werden kann. Auch Vorurteile unterscheiden sich in dieser Sichtweise von Urteilen lediglich durch die fehlerhafte und vor allem starre Verallgemeinerung, wobei einige Psychologen annehmen, dass die Tendenz, einer Gruppe oder Person bestimmte Gruppeneigenschaften zuzuschreiben, umso größer ist, je weniger Informationen man darüber hat, was auch heißt, je weniger Kontakt man damit hat. In vielen sozialpsychologischen Ansätzen wird die Bildung von Vorurteilen auf bestimmte Gruppenkonstellationen zurückgeführt. So wird die Beobachtung herangezogen, dass die Bedrohung einer Gruppe ihr Zusammengehörigkeitsgefühl steigert, zur Betonung der Gruppenidentität und zur Stabilisierung der Gruppengrenzen veranlasst. Der Ethnozentrismus erhöht sich demnach mit der objektiven oder subjektiv empfundenen Bedrohung der Gruppe. Wettbewerb und Interessenkonflikt spielen in solchen Ansätzen eine zentrale Rolle. Im Einzelnen lassen sich zunächst folgende Erklärungen für Vorurteilsbereitschaft und Vorurteilsbildung unterscheiden: (a) die Theorie relativer Deprivation. Sie nimmt einen Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und Vorurteilsneigung an, wobei der soziale Vergleich und die eigenen Erwartungen entscheidend sind. Tatsächliche Interessengegensätze liefern dagegen nach der Theorie des realistischen Gruppenkonflikts (b) die Erklärung. Der Ansatz geht auf die Zeltlager-Experimente von Sherif und Sherif zurück, die Gruppenkonflikte zwischen Heranwachsenden herbeiführten, indem sie Wettbewerbe veranstalteten oder einer Gruppe gezielt auf Kosten der anderen Vorteile verschafften. Gesteigerter Gruppenzusammenhalt ging mit negativen, aggressiven Einstellungen gegenüber den anderen einher. Die Experimente zeigten jedoch zugleich, dass die Arbeit an gemeinsamen Vorhaben die Vorurteile überwinden half. Dass es keiner großen Interessengegensätze bedarf, damit sich Menschen mit einer Gruppe identifizieren und der eigenen Gruppe den Vorrang geben, meinte Henri Tajfel mit seinen Gruppenexperimenten zeigen zu können, auf denen die Social Identity Theory (c) basiert. Demnach bringt jede Gruppenbildung selbst bei oberflächlichen Gemeinsamkeiten eine IngroupOutgroup-Beziehung mit gegenseitigen Vorurteilen mit sich. Auf individuelle psychische Konstellationen ist das Augenmerk bei der Sündenbock-Theorie (d) und beim Dogmatismus-Ansatz (e) gerichtet. Nach (d) verleiten Frustrationen dazu, die Ursache von eigenem Versagen anderen, zum Teil Fremdgruppen, zuzuschreiben, sie also zu „Sündenböcken“ zu machen. Für den Dogmatismus-Ansatz ist die Offenheit bzw. Geschlossenheit der „Überzeugungssysteme“ entscheidend. Je geschlossener jemandes „belief system“ ist, so die Annahme, desto größer die Anfälligkeit für Ideologien und Vorurteile (vgl. Zick 1997). In verschiedenen Ansätzen wird dem Bedürfnis nach Verhaltenssicherheit und Orientierung sowie dem Mangel an Selbstwertgefühl Erklärungskraft zugeschrieben. Der psychodynamische Erklärungsansatz, der in der Tradition der Psychoanalyse steht, geht davon aus, dass Vorurteile der Bewältigung innerer Konflikte dienen. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die Ich-Funktionen und Ich-Eigenschaften; denn dem Ich obliegt im psychoanalytischen Modell die
sozialpsychologische Ansätze
der psychodynamische Erklärungsansatz
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4. Theoretische Grundlagen II
Projektion
Ethnozentrismus
die Studie von Adorno u. a.
Kontrolle des Psychischen, d. h. sowohl die Auseinandersetzung mit dem „Es“ wie mit dem „Über-Ich“. Ist das Über-Ich zu streng, kann der einzelne seine Triebansprüche nicht mehr ausreichend kontrollieren. Er muss deshalb negative „Anteile des Selbst“ abspalten, so die Annahme, oder auf andere projizieren. Die Nähe zur Sündenbock-Theorie ist offensichtlich. Vorurteilhaftes Verhalten bedeutet, so Hans Nicklas u. Änne Ostermann, „nichts anderes, als dass der Mensch Teile seines Inneren – Bedürfnisse, Wünsche, Triebe – auf ein äußeres Objekt projiziert und dann glaubt, das Bild in seinem Kopf sei das Bild der Realität“ (1980, S. 537). Die Annahme projektiver Anteile an ethnischen Stereotypen macht deutlich, dass es nicht nur um eine Übergeneralisierung tatsächlicher Unterschiede geht. Die Projektion findet nach Campbell (1967) auch Anhaltspunkte, wenn die Unterschiede wenig stark ausgeprägt sind. Stark von der Psychoanalyse beeinflusst sind auch die Studien, die eine Gruppe um Theodor W. Adorno in den 1940er Jahren in den USA durchgeführt hat. Sie interessierte, was Individuen für den Faschismus anfällig macht. Obwohl Adorno u. a. ihre Arbeiten unter dem Titel „Studien über Autorität und Vorurteil“ (engl. „Studies in Prejudice“) veröffentlicht haben, halten sie den Begriff des Vorurteils für ungeeignet, um ihren Untersuchungsgegenstand zu kennzeichnen, weil er zu vieldeutig sei. Auch die verharmlosende Interpretation des Vorurteils als einer unzulässigen Übergeneralisierung weisen sie zurück; denn: „Nicht die Erfahrung als solche zählt, sondern die Art und Weise ihrer psychischen Aneignung“ (1968, S. 153 f.). Sie ziehen deshalb den Begriff „Ethnozentrismus“ vor. Dieser Begriff „bezeichnet die Tendenz des Individuums, ,völkisch zentriert‘ zu sein, eine starre Bindung an alles das, was ihm kulturell primär gemäß ist, was seiner eigenen Haltung entspricht und eine ebenso unelastisch abwertende Reaktion gegen alles Fremdartige“ (Adorno u. a. 1968, S. 89). Ethnozentrismus meint „eine verhältnismäßig konstante mentale Struktur“ (ebd.) und hat, so wird entsprechend dem psychoanalytischen Ansatz angenommen, eine psychische Funktion für die individuelle Konfliktbearbeitung. Die Voreingenommenheit gegenüber Juden, Schwarzen etc. wird als das Ergebnis eines Konfliktes gesehen, der meist in frühkindlichen Erfahrungen, vor allem in einer rigiden Erziehung und damit äußerlich gebliebenen Über-Ich-Bildung begründet ist (Adorno u. a. 1969, S. 237). Durch die psychische Funktionalität erklärt sich die Hartnäckigkeit von Vorurteilen und der irrationale Charakter von ethnozentrischen Einstellungen, weil diese als stellvertretende Trieberfüllung oder als Verteidigungsmechanismen gegen verdrängte Triebe gar nicht rational erhellt werden dürfen (vgl. Adorno u. a. 1969, S. 222). Auf der Basis dieser Grundannahmen hat die Forschungsgruppe mehrere Untersuchungsinstrumente entwickelt und teilweise projektive Verfahren herangezogen, mit denen verschiedene Bevölkerungsgruppen in den USA befragt wurden. Die Skalen enthielten Items, mit denen nicht nur das Verhältnis zu Schwarzen, Juden und anderen ethnischen Minderheiten in den USA, sondern auch das Verhältnis der Befragten zu Kriminellen, Geisteskranken, auffälligen Jugendlichen – generell also zu Unangepassten – und auch zu Frauen – erfasst werden sollte. Außerdem wurden autoritäre Denkmuster untersucht, um den angenommenen Zusammenhang mit Ethnozentrismus zu prüfen.
4.1 Vorurteile und Ethnozentrismus
Hier einige ausgewählte Charakteristika des Ethnozentrismus nach der Darstellung von Adorno u. a.: Fremdgruppen werden vom Ethnozentriker als feindlich erlebt, als moralisch minderwertig, bedrohlich und zugleich als schwach beurteilt, wobei die Widersprüchlichkeit der Urteile charakteristisch ist. Speziell die Juden werden als moralische Bedrohung empfunden. Alle Eigenschaften der eigenen Gruppe werden ins Positive gewendet. Der Ethnozentriker kann sich nur mit seiner Eigengruppe identifizieren, nicht mit der Menschheit als ganzer. Zweites Element seines Weltbildes ist die Auffassung, dass Machtkämpfe unvermeidlich und natürlich sind; denn es geht stets um Herrschaft oder Unterwerfung. Die Vorwürfe gegen Fremdgruppen sind stereotyp. Der Ethnozentriker ist mit anderen Worten unfähig, „individuierte Erfahrungen zu machen“ (ebd.). Die sozialen Beziehungen werden durchweg hierarchisch betrachtet. Jede Gruppe hat ihren „natürlichen“ Ort in der gottgewollten Ordnung. Der Bedrohung versucht man durch soziale Kontrolle und die Separierung der Minderheiten zu begegnen (Adorno u. a. 1968, S. 147 f.). Ethnozentrismus fällt mit dem Konstrukt des „autoritären Charakters“ zusammen. Bei den ethnozentrisch und autoritär Eingestellten seien die „Ich-Kontrollen mehr negativ mit Affekt besetzt: Hier tritt weniger Sublimierung als vielmehr Projektion, Verneinung und Reaktionsbildung ein“ (Adorno u. a. 1968, S. 377). Das heißt, negativ bewertete Anteile des Selbst – aufgrund der Sozialisationserfahrungen bei Autoritären sehr häufig – werden abgespalten, nicht assimiliert, und auf andere, oft auf Fremdgruppen projiziert. Wichtig ist es für diese Menschen, die „moralische Fassade“ zu bewahren. Machtdenken und Kraftmeierei sind nach Adorno u. a. typisch für den autoritären Charakter, zugleich begleitet von „Untertänigkeit“ oder „Unterwürfigkeit“. Unabhängig von methodischen Einwänden, die später mehrfach vorgebracht worden sind, stellt sich die Frage, ob unter heutigen Verhältnissen ein solcher Persönlichkeitstyp noch vermutet werden kann. Held u. a. (1992) ordnen die Psychodynamik der autoritären Persönlichkeit einem bestimmten Stadium des Kapitalismus zu. Sie meinen, bedingt durch die Effektivierung und Globalisierung der kapitalistischen Marktwirtschaft, heute andere Motive und Äußerungsformen von Ethnozentrismus entdecken zu können, die sie unter den Begriff „Wohlstandschauvinismus“ zu fassen versuchen. Immerhin wird aber das Konstrukt Autoritarismus noch heute mit Erfolg als Untersuchungsinstrument eingesetzt. Nach Ottomeyer (1997) ist die Schwierigkeit der Realitätskontrolle bei einer von Konkurrenz und Anomie geprägten gesellschaftlichen Wirklichkeit zu berücksichtigen. Ähnlich urteilen Nicklas/Ostermann: „Der für den Einzelnen immer schwerer zu durchdringende gesellschaftliche Zusammenhang, die Isolierung und die Unfähigkeit, durch eigene Handlung Sicherheit zu gewinnen, lässt die Menschen zu illusionären Mitteln greifen, die daraus erwachsende Angst zu beschwichtigen. Diese Angst ist die Ursache für die Abwehr von Vieldeutigkeit und Ambivalenz“ (1980, S. 536). Nach psychoanalytischer Auffassung wird die Disposition zur Vorurteilsbildung bereits in der frühen Kindheit in Abhängigkeit von der Art der Mutter-Kind-Beziehung und der ganzen Familienatmosphäre erworben. Durch Erfahrungen der Nicht-Verlässlichkeit der Bezugspersonen wird die Tendenz zur Schaffung von Scheinsicherheiten durch Stereotypenbildung oder
Merkmale des Ethnozentrismus
entwicklungspsychologische Aspekte
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4. Theoretische Grundlagen II
die Bedeutung der häuslichen Atmosphäre
Bedingungen für den Abbau von Vorurteilen
durch die Zuflucht bei einer als stark empfundenen Gruppe verstärkt. Dazu kommt häufig die Erfahrung von Ablehnung oder Gleichgültigkeit in der Kindheit, was verständlicherweise zu negativen Selbstwertgefühlen führt, die stark mit Vorurteilen korrelieren. „Eine zweite Funktion von Vorurteilen liegt in der Stabilisierung des sozialen Selbstwertgefühls“ (Nicklas/Ostermann 1980, S. 536). Adorno u. a. (1968) erwähnen Untersuchungspersonen, welche dazu neigten, „von einer relativ kalten und bedrohlichen Familiendisziplin zu berichten, die vom Kind als willkürlich erfahren wurde“. Diese Erfahrung von Willkürlichkeit habe Einfluss auf die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Auch Allport betont die Bedeutung der häuslichen Atmosphäre. Vorurteile würden Kindern weniger beigebracht, vielmehr von ihnen mit der Gesamtheit der sozialen Erfahrungen aufgeschnappt. Sprachliche Aufhänger wie Schimpfwörter spielten dann sekundär eine Rolle dabei. Bestimmte Erziehungspraktiken, allgemeiner: bestimmte lebensgeschichtliche Erfahrungen vergrößern freilich nur die Vorurteilsbereitschaft. Die Vorurteile selbst werden in der Regel von der Umwelt übernommen. Für Allport (1954) ist dies ein vielschichtiger Prozess. Soziale Kategorisierungen und Eigengruppenpräferenz sind, nach psychologischen Untersuchungen zur kindlichen Vorurteilsbildung zu urteilen, schon ab dem 3. Lebensjahr zu verzeichnen. Allerdings spricht Aboud (1988) vorsichtig von „prejudicelike attitudes“ bei Kindern. In einer groß angelegten Befragung von über 1000 Grundschüler(inne)n des 4. Schuljahrs zeigten die Soziogramme, dass die deutschen Schüler die eigene ethnische Gruppe klar bevorzugten (Wagner u. a. 2001). Hatcher und Troyna (2000) stellten in Feldstudien an englischen Schulen fest, dass rassistische Beschimpfungen bei Grundschülern keineswegs immer entsprechend negative Einstellungen verraten. Allport wiederum macht darauf aufmerksam, dass im Lauf der Pubertät oft eine Doppelzüngigkeit derart erlernt wird, dass Jugendliche umgekehrt zwar lernen, Vorurteile abzulehnen, sich dabei aber diskriminierend verhalten. Für den Abbau von Vorurteilen betont Allport (1954) sehr stark die gegenseitige Vertrautheit und die Bedeutung der Kooperation unter gemeinsamen Zielsetzungen. Er weist auch auf den Zusammenhang zwischen Dominanzstrukturen und Vorurteilsbereitschaft, damit auf die Bedeutung demokratischer Strukturen für den Abbau von Vorurteilen hin. In der Forschung umstritten ist die längere Zeit als widerlegt geltende „Kontakthypothese“, d. h. die Annahme, dass bloßer Kontakt die Vorurteile gegenüber anderen Gruppen reduziere. Es kann aber als gesichert gelten, dass gemeinsame Aufgabenstellungen der erfolgversprechendste Weg sind. Was die Aufgaben der Pädagogik betrifft, so plädieren Adorno u. a. (1969) für eine politische Bildung, die das Begreifen von Zusammenhängen und eingreifendes Denken fördert, weil sie an autoritären Persönlichkeiten die Tendenz zur Objektivierung sozialer Prozesse sehen, „so als wären sie eine von außen auferlegte Fatalität“ (S. 223). Die Objektivierung sozialer Prozesse wird uns als Funktionsmerkmal von Rassismus wiederbegegnen. Bevor auf die Rassismustheorien eingegangen wird, sei auch darauf aufmerksam gemacht, dass Adorno u. a. in ihren Studien die Ideologiebildung, speziell in den Massenmedien, berücksichtigt haben. Schon am Anfang der Studien steht nicht nur ein ausführlicher Bei-
4.2 Rassismustheorien und -forschung
trag über die Techniken und Themen des modernen (amerikanischen) Agitators, auch am Schluss wird wieder das Ideologie-Thema aufgegriffen. Sie sehen einen Faktor am Werke, „der nicht eindeutig in psychologische Kategorien aufzulösen ist“, nämlich das allgemeine „kulturelle Klima“ und die Wirkung der Massenbeeinflussungsmittel (ebd.), die öffentliche Meinung, der ,Zeitgeist‘. „Es ist eine der wesentlichen Fragen …, ob nicht diese ideologische Gesamtstruktur, mehr noch als die individuelle Empfänglichkeit für faschistische Propaganda die Gefahr eines Massenzustroms zu antidemokratischen Bewegungen mit sich bringt …“ (Adorno u. a. 1969, S. 271). Adorno u. a. sehen sich dabei vor die Aufgabe gestellt, „den Zusammenhang zwischen Ideologie und psychischen Determinanten zu erkennen“ (1969, S. 269). Sie eröffnen damit eine Fragestellung von grundlegender Bedeutung, nämlich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen subjektiven Orientierungen, dem Gegenstand der Psychologie, und gesellschaftlichen Bedingungen und Prozessen.
der Einfluss des „kulturellen Klimas“
Subjekt und Gesellschaft
4.2 Rassismustheorien und -forschung Während Vorurteile Gegenstand psychologischer Forschung sind, ist Rassismus eine sozialwissenschaftliche Kategorie. Vorurteile als negativ besetzte Stereotypen können als allgemeines Phänomen in Intergruppenbeziehungen gelten. Rassismus setzt dagegen gesellschaftliche Überlegenheit oder Macht voraus (vgl. Kalpaka/Räthzel 1990, S. 16). Er ist in der jeweiligen „Dominanzkultur“ (Rommelspacher 1995) verankert. Es handelt sich nach der hier vorgetragenen Auffassung um eine Ideologie oder einen Diskurs, der die strukturelle Benachteiligung von Minderheiten bestätigt und rechtfertigt. Rassismus begründet ein gesellschaftliches Verhältnis (vgl. Melter/ Mecheril 2009). Vorurteile könnte man als die individuelle Äußerungsform von Rassismus betrachten. Man unterscheidet zwischen dem individuellen Alltagsrassismus und dem „strukturellen Rassismus“, der durch Rechtsvorschriften und Marktmechanismen bedingten Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt aufgrund von Gruppenmerkmalen. Eine Spezifikation des strukturellen ist der „institutionelle Rassismus“, zum Beispiel die durch die Schulorganisation bedingte Diskriminierung von Schülern mit MH (Gomolla/Radtke 2007). George Mosse (1997) sieht die Geschichte des Rassismus in Europa seit dem 18. Jahrhundert eng mit dem Imperialismus verflochten. Und Albert Memmi, französischer Intellektueller tunesisch-jüdischer Herkunft, hält das Kolonialverhältnis für die klassische, den Rassismus begünstigende Konstellation. Er trifft folgende Definition: „Der Rassismus besteht in einer Hervorhebung von Unterschieden, in einer Wertung dieser Unterschiede und im schließlichen Gebrauch dieser Wertung im Interesse und zugunsten des Anklägers“ (Memmi 1987, S. 44). Die Verbindung dieser drei Merkmale macht Rassismus aus. Die Anfälligkeit für Rassismus erklärt Memmi psychologisch mit der Beunruhigung, die seiner Einschätzung nach jeder Mensch angesichts der Erfahrung des Unterschieds verspürt. An mehreren Stellen des Textes findet sich in der einen oder anderen Version der Satz: „Der Unterschied beunruhigt“ (Memmi 1987, S. 35, vgl. S. 31, S. 76). Diese Beunruhi-
Vorurteile – Rassismus
Definition von A. Memmi
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4. Theoretische Grundlagen II der beunruhigende Unterschied – Anknüpfungspunkt für Rassismus
widersprüchliche Bilder
Rassismus als gesellschaftlich vermittelte Erfahrung
gung ist für den Autor, wenngleich ambivalent, selbst noch nicht rassistisch. Allerdings knüpft der Rassismus an sie an. „Der Unterschied beunruhigt uns sogar in jenen seltenen Fällen, in denen er uns zugleich verführt. Freilich steht die Verführung auch nicht im Widerspruch zum Reiz der Furcht. Zweifellos beruhen die Verlockung des Unbekannten, die Reiselust, der Hang zum Exotischen und auch der kulturelle oder kommerzielle Austausch auf dieser angenehmen Neugier; die ,beunruhigende Fremdheit‘ kommt als Zutat zu diesem besonderen Genuss hinzu. Drücken wir es so aus, dass wir selbst im besten Fall Licht und Schatten nicht voneinander trennen können“ (S. 35 f.). Wir sind nach Memmi deshalb noch nicht alle Rassisten, aber: „wir sind fast alle in Versuchung durch den Rassismus …“ (S. 31). Die Unterschiede begründen nicht den Rassismus, sondern der Rassismus macht sich die Unterschiede und unsere Beunruhigung durch sie zunutze. Wenn nötig, erfindet er welche. In dieser Hinsicht ist die Rolle des Mythos im rassistischen Denken von Bedeutung. „Sofern es einen Unterschied gibt, wird er interpretiert, gibt es ihn jedoch nicht, so wird er erfunden“ (S. 56). Als Beleg skizziert Memmi exemplarisch das antisemitische Bild vom Juden, wobei er auch die Widersprüchlichkeit der Zuschreibungen hervorhebt ( S. 58). „Der Jude ist zugleich geizig und verschwenderisch … Noch die offensichtlichsten Vorzüge verwandeln sich in Mängel. Dem Juden sagt man eine durch seine Leiden besonders gesteigerte Intelligenz nach – wohl wahr, aber er ist zu intelligent und deshalb nur umso gefährlicher. Der Jude ist friedfertig und versöhnungsbereit? Nein, er ist unterwürfig, eine weitere List von ihm“ (S. 58). Sinn und Zweck der rassistischen Zuschreibungen liegt „in der Vorherrschaft“ (1987, S. 60). Die „unausgesetzt wirksame und eigennützige Entwertung eines anderen“ findet sich nach Memmi in sämtlichen Formen der Herrschaft wieder. Rassismus ist aufs engste mit Herrschaft und Unterdrückung verbunden. Insbesondere ist er „eine der unabdingbaren Dimensionen“ des kolonialen Verhältnisses. Dabei ist der Rassismus nicht an die Person, sondern an die institutionelle Rolle gebunden. Der Kolonialbeamte beispielsweise lebt gezwungenermaßen den Rassismus, der überhaupt für Memmi eine „konkrete“, „gelebte Erfahrung“, nicht bloße Meinung ist, und zwar eine „gesellschaftlich vermittelte Erfahrung“ – „eine kulturelle – gesellschaftliche und geschichtliche Gegebenheit“ (S. 41). Abschließend sei noch betont, dass sich der Rassismus im Verständnis von Memmi nicht notwendig auf biologische Unterschiede beruft, er kann Unterschiede auch anders begründen (S. 97). Der Ursprung, die Struktur und die Funktionsweise des Rassismus werden von einer Reihe angelsächsischer und französischer Autoren (Phil Cohen, Stuart Hall, Robert Miles, Étienne Balibar) mit Hilfe einer Ideologietheorie in der marxistischen Tradition erklärt. Diese Autoren berufen sich auf eine kritische Wendung in dieser Traditionslinie, die durch Antonio Gramsci eingeleitet und durch Louis Althusser u. a. weitergeführt wurde. In dessen Konzeption von Ideologie haben sich Einflüsse des Strukturalismus und der Psychoanalyse von Jacques Lacan niedergeschlagen. Diese Interpretationen von Rassismus enthalten außerdem Bezüge zur Semiologie (Roland Barthes) sowie zur Diskurstheorie von Michel Foucault. So sind hier verschiedene Wissenschaftstraditionen eingegangen und miteinander verknüpft.
4.2 Rassismustheorien und -forschung
Die Ideologietheorie behauptet in Auseinandersetzung mit dem traditionellen Marxismus die relative Eigenständigkeit und Eigenmächtigkeit des Ideologischen (Labica/Laugstien 1985). Ideologien sind kein bloßer Effekt der materiellen Verhältnisse. Schon für Marx und Engels stellte sich Klassenherrschaft nicht nur als materielles Ausbeutungsverhältnis dar, sondern auch als geistige Herrschaft. Die jeweils herrschende Klasse muss es verstehen, ihr Interesse als allgemeines Interesse darzustellen. Die Leistung der verschiedenen Institutionen, in denen Ideologie produziert wird, ist eine Entrückung von den wirklichen Lebensverhältnissen, aus denen ihre „verhimmelten Formen“ entwickelt werden. Klassenkämpfe werden nach Marx und Engels in ideellen Formen ausgetragen, d. h. unter Berufung auf die Bibel, auf ethnische Herkunft, Nationalität usw. Dabei kommt den Ideologen oder „Intellektuellen“ der verschiedenen Klassen eine wichtige Rolle zu. Die Ideologie ist das Terrain, auf dem die Menschen sich der Konflikte bewusst werden, die in der ökonomischen Welt auftreten. Dieser Gedanke wird nun in der neueren Ideologietheorie noch stärker gewichtet und verfolgt, wobei der Manipulation keine Bedeutung mehr beigemessen wird. Als Akteure im historischen Prozess machen die Menschen Erfahrungen, die sie nur mit Hilfe symbolischer Systeme und damit auch von Ideologien zur Sprache bringen und zu ihrer Vorstellung machen können. Ideologien müssen dazu geeignet sein, Erfahrungen zu organisieren, was ihre historische Konkretion und ihren klassenspezifischen Charakter erklärt. Gesellschaftliche Klassen müssen ihre Position, ihre Interessen und Erfahrungen in Ideologie „übersetzen“, wie Gramsci sich ausdrückt. Sie können dabei Elemente anderer, teilweise historisch älterer Ideologien aufgreifen und neu anordnen, umarbeiten und überarbeiten. Das Material der Ideologieproduktion kann unterschiedlichen Ursprungs sein und aus historisch frühen Quellen geschöpft sein. Das macht die scheinbare Ahistorizität von Ideologien aus. Der beständige, wenngleich in bestimmten historischen Konjunkturen verstärkte Prozess ideologischer Transformationen findet natürlich nicht im herrschaftsfreien Raum statt und ist von der Auseinandersetzung um Ideen und um Institutionen bestimmt. Wir stoßen hier wieder auf den von Gramsci entwickelten Begriff der „kulturellen Hegemonie“ (vgl. Kap. 3.3). Kulturelle Hegemonie heißt, dass die herrschende Kultur den anderen Klassenkulturen ihren Stempel aufdrückt, die allgemeine Weltanschauung prägt, den Common Sense bestimmt und somit allgemein als Medium der Sinngebung und Identitätsfindung, weil auch als Ausdruck des Allgemeininteresses, anerkannt ist. Nur so können Klassen langfristig politisch und ökonomisch ihre Herrschaft sichern. Eine wichtige Funktion der Ideologie ist die „Verkennung“, so dass den Menschen soziale, geschichtlich gewordene Verhältnisse und Beziehungen als naturgegebene erscheinen. Die Wirkungsweise des Rassismus ist in dieser Hinsicht für Hall typisch ideologisch. „Rassismen enthistorisieren, indem sie historisch-spezifische Strukturen in die zeitlose Sprache der Natur übersetzen … (Der Rassismus) übersetzt Klassen in Schwarze und Weiße, ökonomische Gruppen in Völker, gesellschaftliche Kräfte in Rassen“ (1980, S. 509). Ideologie beschränkt sich nach Althusser nicht auf Ideen und Vorstellungen, sondern impliziert auch eine „ideologische Praxis“. In Ritualen und an-
Ideologietheorie
die ideologische „Übersetzung“ von Erfahrungen
„Verkennung“ als ideologischer Effekt
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4. Theoretische Grundlagen II „ideologische Praxis“
rassistische Diskursstränge
Antisemitismus
deren Formen gestalten, ja leben die Individuen ihr Verhältnis zu ihren Existenzbedingungen. Sie codieren damit nicht nur ihre Erfahrungen, sondern beziehen daraus auch ihr Selbstverständnis als Akteure. Ideologien werden in ideologischen Kämpfen gebildet und umgearbeitet, neu „artikuliert“, wobei die an diesem Prozess Mitwirkenden zumindest intuitiv den spezifischen Bildungsgesetzen der Ideologie Rechnung tragen müssen. Die ideologische Praxis hat mit der kulturellen die Bedeutungskonstitution gemeinsam. Spezifisch für erstere ist die Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse und die dadurch bewirkte Problemverschiebung. Nach diesen allgemeinen Ausführungen zum Ideologiebegriff sind die Rassismus-Analysen von Étienne Balibar, Phil Cohen, Stuart Hall, Robert Miles leichter verständlich zu machen. Dabei werden die Gemeinsamkeiten betont und Differenzen zwischen den genannten Autoren vernachlässigt. Neben der Ideologietheorie ist für die Rassismusanalysen von Cohen, Hall und Miles der Diskursbegriff zentral (vgl. Kap. 3.1). Miles: „Rassismus ist eine spezifische Diskursform“ (1991, S. 58, vgl. Cohen 1990, S. 97). Zum Teil hat der Diskursbegriff in den Arbeiten den ideologietheoretischen Ansatz verdrängt. Der gemeinsame Ausgangspunkt ist die Betrachtung von Rasse als ein ideologisches oder diskursives Konstrukt. Bereits die Überschrift zu einem Beitrag von Hall (1989) „Die Konstruktion von ,Rasse‘ in den Medien“ beleuchtet diese Auffassung. Cohen (1990) hebt hervor, dass sogar die Wahrnehmung sichtbarer Merkmale Ergebnis des Konstruktionsprozesses ist, dass also „visibility“ sozial konstruiert ist und einem historischen Wandel unterliegt. Karikaturen tragen vermutlich zu einer bestimmten Wahrnehmung des „Negers“ oder Juden bei. Von Kalpaka/Räthzel (1990, S. 17) wird auf die Erfahrungsresistenz solcher Bilder hingewiesen. Rassistische Diskurse beschränkten sich dabei, so Cohen, nicht auf Körperbilder, sondern bezögen auch Namen, Lebensbedingungen, Geisteshaltungen, Kleidung und Brauchtum mit ein. Jede Art sozialen Verhaltens und kultureller Praktiken könne in den Dienst der Kennzeichnung vorgeblicher Wesensart genommen werden (S. 86). Aus der Bestimmung von Rasse als ideologischem Konstrukt ergibt sich logisch der Schluss, dass die Geschichte dieses Konstrukts historisch untersucht werden muss. Ähnlich anderen Autoren beleuchtet Cohen die Geschichte des Antisemitismus und des Rassismus gegenüber Schwarzen („colour prejudice“), um, hier für Großbritannien, die Diskursstränge weiter zurückzuverfolgen. Antisemitismus und „colour prejudice“ betrachtet er als verschiedene Modalitäten von Rassismus mit eigener Geschichte und Bedeutungsstruktur (1990, S. 87 ff.). Ersterer bezieht seiner Ansicht nach die normative Bilderwelt aus dem religiösen Diskurs, während sich das „colour prejudice“ von der physischen Anthropologie des 18. und 19. Jahrhunderts herleitet. Cohen zeigt auf, wie alte mythische Bilder des Antijudaismus (der wandernde Jude, die insgeheim in den Geschichtsverlauf eingreifende Hand des Juden, die Vampirgestalt und der parasitäre Charakter des Juden) mit dem Aufkommen des Kapitalismus eine neue ideologische Funktion erhalten. Diese Bilder würden nun in einer neuen Bedeutungskonstellation neu artikuliert und dienten jetzt als Metaphern für die ökonomischen Veränderungen, welche die soziale und moralische Ordnung der Vergangenheit
4.2 Rassismustheorien und -forschung
zerstörten. Die Gestalt des Juden werde nun assoziiert mit dem Handelskapital in seiner rein negativen Bedeutung. Der wandernde Jude werde zum Symbol der freien Zirkulation des Kapitals, dessen unsichtbarer und parasitärer Einfluss auf das traditionelle Wirtschaftsleben seine vollkommene Metapher im Bild des Vampirs und der verborgenen Hand finde. Seit dem Zeitalter der Vernunft und Aufklärung repräsentiere der wandernde Jude auch die freie Zirkulation von Ideen, die als Bedrohung der traditionellen Orthodoxie im religiösen und politischen Bereich empfunden wurde. Der Jude wurde zum Symbol der Entfremdung und Heimatlosigkeit des modernen Intellektuellen (vgl. für Deutschland Greive 1988, Rohrbacher/Schmidt 1991). In den globalen Verschwörungstheorien des modernen Antisemitismus werden schließlich nach Cohen die ökonomischen und ideologischen Dimensionen des Bildes vom Juden vereinigt (S. 90). Während der Jude so die destruktiven ökonomischen Kräfte des Kapitalismus symbolisiere, repräsentiere der Schwarze die libidinösen Triebe, welche im Prozess der Zivilisation unterdrückt wurden. Der Schwarze werde so zum Erziehungsobjekt der zivilisatorischen Mission („civilising mission“), damit er die Bürde des weißen Mannes trage. Cohen versucht zu zeigen, wie die mittelalterliche Welt der Fabelwesen umgeformt wurde zu einem neuen Modell der rassischen Differenz, welches den Bedingungen des Kolonialismus entsprach. Es galt, ein Erklärungsprinzip zu finden zur Untermauerung des Rassenprivilegs und zur Verankerung der strukturellen Ungleichheit. Dieses Projekt war dabei nach Cohen nicht ohne Widersprüche. Er zeigt die Ambivalenz des Bildes vom Schwarzen, der als ein Wesen, das von brutalen Instinkten getrieben ist und disziplinären Techniken unterworfen werden muss, in die Nähe des Affen gerückt wird. Dem steht das Bild des edlen Wilden, des Kindes der Natur gegenüber, das von der Zivilisation noch nicht verführt ist und so weit wie möglich in seinem primitiven Zustand belassen werden sollte (Cohen 1990, S. 92; vgl. Hall 1989). Die Vorstellung vom Schwarzen als einem von tierischen Instinkten getriebenen, unzivilisierten Wesen rechtfertigt die zivilisatorische Mission des weißen Mannes. Bei aller Verschiedenheit ist den Konstrukten von Antisemitismus und „colour prejudice“ gemeinsam, dass mit ihnen eine kollektive Bedrohung beschworen wird. Den Ausführungen ist zu entnehmen, dass aktuelle Rassenkonstrukte jeweils an historisch ältere Diskurse anknüpfen und die von dort übernommenen Mythen und Bilder so umformen, dass sie für die Deutung gegenwärtiger gesellschaftlicher Widersprüche taugen. Dasselbe ließe sich für den Antiislamismus zeigen (s. Said 1981). „Darstellungsformen der Gegenwart sind immer das Produkt eines historischen Vermächtnisses und einer tätigen Umwandlung vor dem Hintergrund der jeweils herrschenden Umstände …“ (Miles 1991, S. 54). Die historischen Ausführungen von Cohen sind übrigens, da auf Großbritannien bezogen, nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragbar, gerade wenn man seinen methodologischen Prämissen folgt. Denn Cohen legt Wert auf die historische Spezifik und Wandelbarkeit des Rassismus bzw. der „Rassismen“. Für die meisten Autoren stützt sich jede Art von Rassismus auf biologische Merkmale, genauer: auf selbst entworfene Körperbilder, um seinen ideologischen Effekt, die Naturalisierung sozialer Differenzen, zu erreichen.
colour prejudice
Rassismen, historisch spezifisch
97
4. Theoretische Grundlagen II
„Rassismus ohne Rassen“
Rasse als Gegenstand des rassistischen Diskurses bezeichnet nach Cohen (1990) „eine bestimmte Reihe imaginärer Eigenschaften genetischer Vererbung, mittels derer tatsächliche Positionen gesellschaftlicher Herrschaft oder Unterordnung unter Verweis auf die Genealogie arteigener Differenzen festgeschrieben und legitimiert werden“ (S. 97). Gemeinschaft werde „als quasi-biologische Entität konstruiert“ (S. 106). Für Miles (1991) „besteht die Funktionsweise des Rassismus darin, dass bestimmten phänotypischen und/oder genetischen Eigenschaften von Menschen Bedeutungen dergestalt zugeschrieben werden, dass daraus ein System von Kategorisierungen entsteht, wobei den unter diese Kategorien subsumierten Menschen zusätzliche (negativ bewertete) Eigenschaften zugeordnet werden“ (S. 9). Mit Letzteren sind Charaktereigenschaften, Fähigkeiten etc. gemeint. Balibar (1989) sieht sich hingegen, vermutlich durch die Politik der Neuen Rechten in Frankreich, veranlasst, die Definition von Rassismus weiter zu fassen. Er sieht in der nachkolonialen Epoche im Gefolge der Immigration in den europäischen Ländern einen „Rassismus ohne Rassen“ aufkommen, „dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist“ (S. 373). Dieser kulturalistisch begründete „Rassismus“, der weniger auf die Überlegenheit von Gruppen oder Völkern, sondern auf die Unvereinbarkeit der Lebensweisen Wert legt, erfüllt insofern die von Stuart Hall (1980) hervorgehobene ideologische Funktion der Enthistorisierung, als er die kulturellen Unterschiede verewigt. Balibar vertritt die Position, dass ein biologischer oder genetischer ,Naturalismus‘ keineswegs den einzigen möglichen Modus einer Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt. Vergleich von Bio- und Kulturrassismus nach Stefan Gaitanides (2012): Biologistischer Rassismus
Hervorhebung und Maximierung des Unterschiedes
Strukturelle Ähnlichkeiten
98
Rassische Merkmale (Phänotyp/ Genotyp) als zentrales Kriterium der Differenz Rassen sind fundamental verschiedenartig.
Neo(Kultur)rassismus Kulturelle bzw. ethnische Unterschiede als zentrales Kriterium der Differenz Völker/Ethnien unterscheiden sich in ihren zentralen Werten und Kompetenzen, auch im Verlauf der Geschichte.
Kollektivismus
Rassen als Akteure der Weltgeschichte Kulturkreise/Ethnien als „selbst-organisierte kulturelle Systeme“ mit mehr Tiefenwirkung als die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Subsysteme
Einzelner als Teil des Ganzen
Die Rassezugehörigkeit determiniert das Individuum weitgehend – seinen Charakter, intelligente Fähigkeiten und moralische Einstellungen.
Die Prägung durch den Kulturkreis/Ethnie determiniert Charakter, Moral und Kompetenzen (geringer Spielraum für individuelle Abweichung).
zentrale Bedeutung der Abstammungsgemeinschaft für Identität und Solidarität
Identität wird zentral definiert durch Rassezugehörigkeit, bzw. die rassistisch/„völkisch“ definierte Volkszugehörigkeit. Individualität und individuelle Menschenrechte sind nachrangig.
Identität wird zentral definiert durch die Zugehörigkeit zu einer ethnisch-/ kulturellen Gemeinschaft. Individualität und individuelle Menschenrechte sind nachrangig. Auflösung, Vernichtung der ethnischen Identität durch Völkermord.
Instrumentelle Funktion
Strukturelle Ähnlichkeiten
4.2 Rassismustheorien und -forschung
Verabsolutierung/ unveränderbare Konstanz des Unterschiedes
Die genetisch vermittelten Eigenschaften verändern sich nicht durch historisch-soziale Einflüsse (unveränderbare Natur).
Die kulturellen Prägungen und kulturelle Systeme sind tief verwurzelt und von langer Dauer, können auch durch sozialen Wandel kaum verändert werden bzw. reorganisieren sich unter veränderten Umständen.
Verfall durch Mischung/Vervollkommnung durch Homogenisierung/ Reinigung
„Rassemischung führt zu Dekadenz, Rassereinheit zur Höherzüchtung der Menschheit.“
Kultureller Pluralismus führt zum Verlust der gemeinsamen Wertvorstellungen, zur Niveauabsenkung, Einebnung der Kulturen („Amerikanisierung“, „Kultur statt Multiklultur!“) und Zerfall der gesellschaftlichen Integration. „Ethnopluralismus“ bewahrt dagegen die Vielfalt/Eigenarten/innere Stabilität der Völker durch Segregation, Repatriierung und Einschränkung der Immigration.
Feindbildkonstruktion/Verschwörungstheorien/Verfolgungswahn (Paranoia)
„Die Juden planen insgeheim die Weltherrschaft und unterwandern zu diesem Zwecke die Massenmedien, die Wissenschaft, die wirtschaftlichen und politischen Machtpositionen.“
„Der aggressive, fundamentalistische Islam (djihad) expandiert in der Welt und in Europa, indem er die Wohnviertel von Immigranten unterwandert und zu Brückenköpfen seiner Missionsarbeit macht“ („Islamisierung Europas“). „Die multikulturelle Gesellschaft fördert auch die multikriminellen Vereinigungen, das von Ausländern beherrschte organisierte Verbrechen, durch welches das staatliche Gewaltmonopol immer stärker ausgehöhlt wird.“
Parasitismusvorwurf
Parasitismus der „Juden“, „Zigeuner“, „Intellektuellen“, „faule Neger“
Parasitismus der „Immigranten und Flüchtlinge“, „setzen sich ins gemachte Nest“, „Plündern die Sozialkassen“
demographische Überfremdungs- und Überwältigungsfantasien, Vermehrung der Fremden/Minderwertigen
Wegen der sozialstaatlichen Intervention in den Ausleseprozess der Natur und der (den Juden geschuldeten) Dekadenz der Eliten („Entartung der Weimarer Republik“) vermehren sich die „minderwertigen“ stärker als die „höherwertigen“ Menschengruppen (Vorherrschaft der „Sklavenmoral“ des christlichen Humanismus).
Wegen der sozialstaatlichen Gaben und des Werteverfalls/Individualisierung („Familie zählt nur mehr bei den Einwanderern aus traditionellen Kulturen als zentraler Wert“) vermehren sich die Einwanderer stärker als die angestammte Bevölkerung – am meisten die bildungsfernen, „integrationsunfähigen“ und „-unwilligen“ Muslime.
Rechtfertigung von Privilegien und Aggressionen
Die rassische Überlegenheit und das Sendungsbewusstsein rechtfertigen die Errichtung eines Systems der Herrschaft der „Herrenrasse“ über die nicht-arischen „Untermenschen“ und legitimieren die Ausbeutung, Unterdrückung und Vernichtung der Juden.
Der neo(kultur)rassistische Überfremdungsdiskurs, die Schreckensvisionen „multikrimineller“, „islamistischer“ Parallelgesellschaften und das Menetekel eines interethnischen Bürgerkrieges dienen der Rechtfertigung einer restriktiven Immigrationspolitik und einer Politik, die die angestammte Bevölkerung gegenüber den fremdethnischen Zuwanderern privilegiert („Deutsche zuerst“). Gleichzeitig baut dieser Diskurs die Hemmschwelle zur Ausübung fremden-feindlicher Gewalttaten ab.
99
100
4. Theoretische Grundlagen II
Funktionalität von Rassismen
Vielfalt der Rassismen
Auch die Kultur kann nach Balibar „durchaus als eine solche Natur fungieren, insbesondere als eine Art, Individuen und Gruppen a priori in eine Ursprungsgeschichte, eine Genealogie einzuschließen, in ein unveränderliches und unverrückbares Bestimmt-Sein durch den Ursprung“ (Balibar 1989, S. 374). Demnach wäre also die ideologische Funktion des Rassismus gleich geblieben, wenngleich sich seine Funktionsweise geändert hat; denn der allgemeine ideologischen Effekt von Rassismen besteht nach Hall in der Enthistorisierung der sozialen Verhältnisse, „indem sie historisch-spezifische Strukturen in die zeitlose Sprache der Natur übersetzen“ (1980, S. 509). Mit anderen Worten, auch die Vorstellung von unaufhebbarer kultureller Prägung und unvereinbaren Mentalitäten hat politische Konsequenzen. Sie rechtfertigt Ausgrenzung und ethnische Separation, wie von der Neuen Rechten oder „Islamkritikern“ propagiert. Soll der Rassismus entsprechend seinem ideologischen Charakter als „Sinngebungsinstanz“ wirksam sein, so muss er je nach sozialer Lage und historischer Konstellation seine Logik ändern und neue Inhalte aufgreifen. Er versucht ja zu erklären, „wie die Welt aussieht und warum sie so funktioniert, wie sie dem Sagen und Zeigen nach funktioniert“ (Hall 1989, S. 155). Auch für Miles „variiert zumindest ein Teil seiner Inhalte mit der Klassenzugehörigkeit seiner Vertreter, denn die Art und Weise, wie die Welt erfahren wird, und die daraus entstehenden Probleme unterscheiden sich je nach Klassenzugehörigkeit“ (Miles 1989, S. 360). Die „Rasse“ ist nach Hall „das Medium, durch das die Klassenverhältnisse erfahren werden, die Form, in der sie angeeignet und ausgefochten werden“ (Hall 1980, S. 508). Cohen widmet dem „working class racism“ mehrere Abschnitte seiner Schrift über den Rassismus in Großbritannien. Er unterscheidet zwischen dem „ungehobelten“ Rassismus der unteren Schichten, speziell der männlichen Arbeiterjugend, und dem „respektablen“ Rassismus der Mittelschicht, „der die moralische Panik“ schürt, weil man das öffentliche Wohlverhalten bedroht sieht (1990, S. 107). Die Unterscheidung entspricht etwa der in der angelsächsischen Forschung üblichen zwischen „blatant“ und „subtle prejudice“. Cohen (1994) geht aber bei der Spezifikation rassistischer Denk- und Redeweisen noch weiter. Er nimmt an, dass sie nicht nur klassenspezifisch, sondern nach Geschlechtern, Generationen und Berufsgruppen unterschiedlich sind und sein müssen, wenn sie zur Deutung der jeweiligen Lebenssituation und Probleme, zum Beispiel für Angehörige der Polizei, dienlich sein sollen. Schicht- und geschlechtsspezifische Motive und Äußerungsformen von Rassismus sind inzwischen von der Forschung empirisch bestätigt worden. Die Vielfalt der Rassismen ergibt sich aus der angenommenen Funktionalität des Rassismus. – Cohen, Hall und Miles benutzen daher die Pluralform. Denn um die gesellschaftlichen und psychischen Funktionen zu erfüllen, müssen Rassismen nach historischer Situation, Nation, Klasse, Geschlecht etc. unterschiedlich sein. Hall: „Es gibt … nur historisch spezifische Rassismen“ (1994, S. 127). Neben den politischen Funktionen der Problemverschiebung, der Legitimation von Ungleichheit, Ausschluss und Abschottung durch „Naturalisierung“ sind die psychischen Gewinne zu berücksichtigen, die ein Rassismus den Individuen bringen muss, damit sie daran festhalten. Mit Sinnstiftung, Welterklärung und Selbstbestätigung verbindet sich eine fiktive oder imaginäre Handlungsfähigkeit. – Wenn ich weiß, dass Ausländer
4.2 Rassismustheorien und -forschung
die Arbeitslosigkeit oder die Unwirtlichkeit meiner Stadt verursachen, weiß ich, was ich zu tun habe. Oder auch, wenn ich davon ausgehe, dass die Muslime die mühsam errungene Frauenemanzipation bei uns rückgängig machen. Das erklärt die Gruppenspezifik von Rassismen. Die nationale Spezifik von Rassismen ergibt sich auch daraus, dass an die jeweilige Diskurstradition angeknüpft werden muss und die jeweiligen Äußerungsformen meist mit dem jeweiligen Konstrukt von Nation zusammenhängen (Cohen 1990). Außerdem unterscheiden sich die Rassismen, wie oben gezeigt, je nach der Gruppe, die Opfer von Ausschluss etc. ist. Neben „colour prejudice“, Antisemitismus und Antiislamismus wäre der Antiziganismus zu nennen. Schließlich können Rassismen vielerlei Gestalt annehmen, was die Diskursform betrifft. Die Form einer „Rassenlehre“, einer mehr oder weniger konsistenten Weltanschauung, ist nur eine unter anderen, wenngleich sie in Deutschland lange Zeit im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Balibar (1989) findet jedoch bemerkenswert, „dass die Theorien des Rassismus den wissenschaftlichen Diskurstyp nachahmen, indem sie sich auf sichtbares ,Beweismaterial‘ stützen“ (S. 371). Der Rassismus beschränkt sich aber nach Ansicht aller Autoren keineswegs auf Theorien über Rasse oder auf einen weltanschaulichen Rassismus, sondern umschließt – entsprechend dem neuen Ideologiebegriff – auch Konglomerate von oft widersprüchlichen Alltagsvorstellungen und -praktiken. Vor allem der Alltagsrassismus der unteren Schichten, aber nicht nur dieser, weist selten weltanschauliche Geschlossenheit auf. Auch für Balibar umfasst der Rassismus eine „Vielzahl von Praxisformen (zu denen Formen der Gewaltanwendung ebenso gehören wie Formen der Missachtung, der Intoleranz, der Erniedrigung und Ausbeutung) und von Diskursen und Vorstellungen“ (ebd.). In der Analyse von Cohen (1990) spielt der alltägliche Rassismus, wie er sich beispielsweise in Jugendsubkulturen äußert, eine zentrale Rolle. Er geht wie Hall (1989) auch auf die Botschaften der Trivialliteratur und der Massenmedien, unter anderem der Boulevardzeitungen, ein. Hall analysiert in seinem Beitrag über die Medien ausführlicher, wie im britischen Fernsehen Bilder entworfen, Themen und Problemkonstellationen aufgeworfen und Klischees um von Natur „überlegene“ und „minderwertige“ Arten gruppiert werden. Er unterscheidet dabei zwischen dem „expliziten“ und dem „impliziten Rassismus“, der selbst in gut gemeinten Sendungen bei ausdrücklicher Zurückweisung des Rassismus vorkommen kann. Der Autor entdeckt ihn in den Abenteuerfilmen, im sonstigen Unterhaltungsprogramm wie in der Berichterstattung des Fernsehens. Aufschlussreich sind die Bilder von Schwarzen, die er aus dem Material scheinbar harmloser Unterhaltungssendungen herauspräpariert und die sich meist durch eine gewisse Ambivalenz auszeichnen: die vertraute Sklavenfigur, das Bild des „Eingeborenen“ (primitiver Adel einerseits, Arglist und Barbarei andererseits) und die Variante des „Clowns“ oder „Entertainers“ (Hall 1989, S. 160 f.). Der Rassismus der Medien ist für Hall versteckt, unsichtbar und nicht dadurch bedingt, dass diese von Rassisten betrieben würden (vgl. Hall 1994). Eine andere Art von verstecktem Rassismus macht Miles (1991) im „institutionellen Rassismus“ aus, wo der rassistische Diskurs, der die diskriminierende Praxis begründet, nicht mehr direkt präsent ist, so dass die Akteure quasi in Unschuld benachteiligen.
verschiedene Diskurstypen
die Medien
institutioneller Rassismus
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4. Theoretische Grundlagen II Rassismus und Nationalismus
Analyse und antirassistische Praxis
Die Autoren bemühen sich auch, die Beziehungen zwischen den zwei ideologischen Konstrukten Rasse und Nation, also zwischen Rassismus und Nationalismus, zu klären. Man kann die Positionen, abgesehen von feinen Differenzen, auf den gemeinsamen Nenner bringen, dass Rassismus und Nationalismus nicht identisch sind, dass historische Verknüpfungen möglich, aber nicht notwendig seien. Cohen (1990) zeigt solche für Großbritannien auf (vgl. für das vereinigte Deutschland Räthzel 1997). Der Hauptunterschied liegt für Miles darin, dass der Nationalismus mit dem Anspruch auf ein Territorium verbunden ist (1991, S. 119). Statt den Begriff des Rassismus unpraktikabel auszuweiten, plädiert er dafür, der Verknüpfung zwischen den Diskursen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Übereinstimmend zurückgewiesen werden von den britischen Rassismustheoretikern sowohl ökonomistische als auch idealistische Auffassungen oder anthropologische Erklärungen von Rassismus. Cohen (1990, 1994) widmet den analytischen Zugängen besondere Aufmerksamkeit, weil diese auch die jeweiligen antirassistischen Strategien bestimmen. Er wendet sich zuerst einmal vehement gegen totalisierende Erklärungen, die eine große herrschende Ideologie unterstellen (Cohen 1994, S. 43). Und dort, wo der Rassismus idealistisch betrachtet werde, bestimmten pädagogische Strategien die Praxis unter Vernachlässigung struktureller Reformen. Umgekehrt würden im Kampf gegen den „institutionellen Rassismus“ die individuellen Vorurteile zu sehr als sekundäres Phänomen gesehen. Auch die Beschränkung auf eine bessere Wirtschafts- und Sozialpolitik zur Aufhebung sozialer Benachteiligungen greift zu kurz. Cohen propagiert gegenüber diesen beschränkten Strategien ein „multidimensionales Modell“. Die geistige Landkarte, die von der Ideologie zur Orientierung der Menschen bereitgestellt werde, sei nicht deckungsgleich mit den Erfahrungen der Menschen. Die Entsprechung müsse immer von Neuem hergestellt werden. Denn der Rassismus als Ideologie habe eine spezifische „generative Grammatik“ (Cohen 1990) – Stuart Hall spricht von einer spezifischen „ideologischen Syntax“ –, mit deren Hilfe sich Deutungsmuster zur „Reartikulation“ der sozialen Erfahrungen produzieren ließen. Die falsche Alternative bei den gängigen antirassistischen Interventionen besteht nach Cohen darin, dass sie entweder auf die eine oder andere Dimension abzielen (1990; auch 1994). Aus dieser Problemsicht ergeben sich auch Konsequenzen für die pädagogische Praxis (s. Kap. 6.7). Drei Anmerkungen, bevor auf die deutschsprachige Diskussion eingegangen wird: 1) Bis zu den 1990er Jahren galt der Begriff Rassismus in Deutschland wegen der Gleichsetzung mit der Rassenlehre des NS-Regimes als wissenschaftlich unbrauchbar, d. h. nicht für analytische Zwecke verwendbar. 2) Es gibt eine Kategorisierung von Migrantengruppen, die ohne Rassenkonstrukte zur Legitimation von Diskriminierung (auf dem Arbeitsmarkt etc.) auskommt, nämlich die Unterscheidung zwischen In- und Ausländern, zwischen EU-Angehörigen und Drittstaatsangehörigen. 3) Rassismus sollte nicht, wie in Deutschland verbreitet, mit Rechtsextremismus gleichgesetzt werden. Rechtsextremismus ist eine politische Ideologie, in der Rassismus zwar ein zentrales Element bildet, die aber mit dem Konstrukt der „Volksgemeinschaft“ viel weiter reichende Implikationen hat, was rechts- und sozialstaatliche Prinzipien (Ungleichheit u. Ausschluss von Volksfremden) und
4.2 Rassismustheorien und -forschung
nicht zuletzt die demokratische Verfassung betrifft. Befürwortet wird ein autoritärer, nationalistischer Staat. Jede Art von Pluralismus stößt auf Misstrauen. Die Gleichsetzung von Rechtsextremismus und Rassismus ist praktisch folgenreich und problematisch, weil damit die subtilen Formen von Rassismus in der Mitte der Gesellschaft allzu leicht ausgeblendet werden. In der deutschsprachigen Diskussion haben ideologie- und diskurstheoretische Ansätze erst im Lauf der 1990er Jahre breitere Aufmerksamkeit gefunden. Zumindest gilt das für die Diskurstheorie, die speziell den diskursanalytischen Beiträgen zur Rassismusforschung zugrunde liegt, welche vor allem dem Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) zu verdanken sind. Untersucht wurden dort unter anderem: die Geschichte und Konjunktur von Themen, die Verwendung von „Kollektivsymbolen“, speziell der Stellenwert von Metaphern wie Flut, Insel, Boot, Haus, zum Beispiel in der Asyldebatte, die Nebenbedeutungen von Wörtern (z. B. „Asylanten“) unter Berücksichtigung von Bedeutungsfeldern, die „Fährenfunktion“ von Wörtern, Redensarten etc., mit denen zusätzliche Aussagen ins Bewusstsein der Leser, Hörer, Zuschauer transportiert werden (z. B. „christliches Abendland“, zur Methode Jäger 1993). Neben den hauptsächlich vorgelegten Medienanalysen gibt es Untersuchungen über rassistische Denk- und Redeweisen unter Hausfrauen, Jugendlichen etc. Korrespondenzen zwischen öffentlichen Diskursen und individuellen Orientierungen sind aber bisher wenig erforscht. Als exemplarisch dafür kann die Untersuchung von Rudolf Leiprecht (2001) über Alltagsrassismen bei deutschen und niederländischen Jugendlichen gelten. Die Untersuchung belegt den Einfluss der Mediendiskurse, aber auch den sehr unterschiedlichen, subjektiven Umgang mit Mediendarstellungen und sie bestätigt die besonders von Cohen betonte Widersprüchlichkeit der Bewusstseinslagen – ein für pädagogische Interventionsmöglichkeiten wichtiges Ergebnis. Im Übrigen kritisiert Leiprecht wie schon in einer früheren Untersuchung Zusammenhänge zwischen rassistischen Orientierungen und mangelnden Zukunftsperspektiven oder niedrigem Bildungsniveau, damit auch das sog „Desintegrationstheorem“. Dieses Theorem ist für die erste, breit rezipierte Rechtsextremismus-Studie von Wilhelm Heitmeyer (1987) leitend gewesen. Vereinzelungs-, Ohnmachtserfahrungen und Handlungsunsicherheit, so Heitmeyer, veranlassten viele Jugendliche, besonders die Modernisierungsverlierer, zu erhöhtem Einverständnis mit Gewalt und Ungleichheit. Glorifiziert wird die Durchsetzungskraft der Stärkeren, zum Beispiel der Wirtschaftsmacht Deutschland. Die Vereinzelungserfahrungen machen „die Suche nach leistungsunabhängigen, selbstverständlichen Zugehörigkeiten“ verständlich. Hier fänden rechtsextreme Ideologien „Anknüpfungsmöglichkeiten“. Sie würden attraktiv, weil sie scheinbare Abhilfe versprechen. Wer isoliert ist, kann sich in der nationalen Gemeinschaft und im Kreis der „Kameraden“ aufgehoben fühlen. Wer nach Orientierung sucht, dem werden eindeutige Situationsund Problemdefinitionen geliefert und einfache Lösungen geboten („Ausländer raus!“), was das Gefühl von Stärke und Handlungssicherheit verleiht. Bei dem Erklärungsmodell gibt es, wie man sieht, durchaus Berührungspunkte mit ideologie- oder diskurstheoretischen Ansätzen. Welche Rolle subkulturelle Codes und öffentliche Diskurse bei der subjektiven Verarbei-
deutschsprachige Diskursanalysen
das Desintegrationstheorem
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4. Theoretische Grundlagen II
die Bedeutung alternativer Sozialerfahrungen
tung der Erfahrungen spielen, bleibt bei Heitmeyer (1987) jedoch offen. In der späteren Untersuchung einer Forschungsgruppe um Heitmeyer geriet stärker der Zusammenhang zwischen rechten Weltbildern und einem instrumentalistischen Verhältnis zur Arbeit und zu Mitmenschen ins Blickfeld (Heitmeyer u. a. 1993) – ein Erklärungsmuster, das auch den mehr oder weniger subtilen Rassismus bei Etablierten zu erhellen vermag. Einen wichtigen Beitrag zu dem Thema hat das von Heitmeyer geleitete Interdisziplinäre Institut für Konflikt- und Gewaltforschung mit dem Projekt „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) geliefert. Über ein Jahrzehnt hinweg verfolgten die Forscher in zehn repräsentativen Studien die Verbreitung und Entwicklung von Rassismus, speziell Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, von Homophobie, Sexismus, Abwertung von Behinderten etc., zusammengefasst in dem Konzept GMF – ein unkonventioneller, sperriger Begriff, der sich aber daraus erklärt, dass die verschiedenen Arten von Diskriminierung in einem Gesamtpanorama erfasst werden sollten. Tatsächlich bestätigte sich empirisch, dass viele Befragte mehrere Gruppen gleichzeitig abwerteten. Wer rassistische Einstellungen hat, nimmt überdurchschnittlich häufig auch eine ablehnende Haltung gegenüber Homosexuellen oder Behinderten ein (Heitmeyer 2012, S. 69). Das erinnert an die Studie von Adorno u. a. aus den 1940er Jahren. Die Befragungen bestätigten auch die in der damaligen Studie gefundenen Zusammenhänge zwischen Autoritarismus und diskriminierender Haltung (ebd., S. 75 u.171). Was Rassismus betrifft, haben sich allerdings Homogenitätsvorstellungen mit der Angst vor Überfremdung als noch folgenreicher herausgestellt (S. 171). Insgesamt haben sich mehrere Faktoren als empirisch relevant erwiesen, auch sozialpsychologische Theorien wie die der relativen Deprivation (s. Kap. 4.1). Heitmeyer findet zwei Annahmen bestätigt: sowohl die über den Zusammenhang zwischen prekären Lebenslagen und Fremdenfeindlichkeit (2012, S. 117) als auch die über die Folge von ökonomistischer Denkweise, die Menschen nur nach ihrem Nutzen bewertet. Das „Mantra des ,Unternehmerischen Selbst‘“ habe eine hohe Erklärungskraft für GMF (2012, S. 35). Heitmeyer hält in der letzten Folge der Reporte über das Projekt nach wie vor „die ökonomistische Durchdringung sozialer Verhältnisse“ für folgenreich (2012, S. 27). Das heißt, die Erfahrungen in der Gesellschaft begünstigen Einstellungen, wie sie unter dem Begriff GMF zusammengefasst werden. Will man dennoch seine pädagogische Zuversicht wahren, so bleibt nur, auf alternative Erfahrungen im pädagogischen Raum zu setzen. „Belehrungen kommen gegen Erfahrungen nicht an“, so eine knappe Sentenz von Heitmeyer aus den 1980er Jahren. Schon damals kam er aufgrund seiner Analysen zu dem Schluss, dass pädagogische Institutionen alternative Sozialerfahrungen ermöglichen müssen, wenn Gespräche über politische Fragen auf fruchtbaren Boden fallen sollen. Die Jugendlichen müssten die Erfahrung machen, dass sie unabhängig von Leistung akzeptiert werden, dass sie Hilfe erwarten und gemeinsam etwas bewirken können. Daher hält Heitmeyer das Sozialklima der Schulen und die Partizipationsmöglichkeiten der Schüler für eine Voraussetzung interkultureller Bildung. Die Rahmenbedingungen sind auch Voraussetzung für die Wirkung interkultureller Kontakte, so Sozialpsychologen, die auch virtuelle und indirekte Kontakte (z. B. per Internet) unter jener Prämisse für erfolgversprechend halten (Heitmeyer 2012, S. 207).
4.2 Rassismustheorien und -forschung
Aufgabe: Versuchen Sie in einem Schema zu skizzieren, wie man sich den funktionalen Zusammenhang zwischen psychischen Dispositionen (wie Autoritarismus), Lebenslagen, subjektiven Reaktionen (wie Verunsicherung, Angst, Neid) und Diskursen oder rassistischen Ideologien (als Interpretationsressourcen) vorzustellen hätte!
Weiterführende Literatur: Ahlheim, Klaus (Hg.) (2007): Die Gewalt des Vorurteils. Schwalbach/Ts. Melter, Claus/Mecheril, Paul (Hg.) (2009): Rassismuskritik, Bd. 1. Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach/Ts. Räthzel, Nora (Hg.) (2000): Theorien über Rassismus. Hamburg. Schneiders, Thorsten G. (Hg.) (2009): Islamfeindlichkeit. Wiesbaden.
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5. Theoretische Grundlagen III 5.1 Verstehensgrenzen, Fremdheit allgemeine Verstehensgrenzen
subjektiver Sinn
Hermeneutik: Vorläufigkeit des Verstehens
Will man die Besonderheiten interkulturellen Verstehens erörtern, so ist es sinnvoll, zuvor auf die grundsätzlichen und allgemeinen Grenzen des Verstehens einzugehen. Die Schwierigkeiten beruhen erstens auf der Mehrdeutigkeit der Sprache wie aller kulturellen Äußerungsformen und auf der Differenz zwischen den konventionalisierten Bedeutungen und dem persönlichen Sinn der jeweiligen Zeichen. Wilhelm v. Humboldt: „Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andere (denkt, G. A.), und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immerzugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen“. Der Psychologe Leontjew (1982) hat im Anschluss an die philosophische Tradition, vermittelt über seinen Lehrer Wygotski, die Differenz mit den Kategorien „persönlicher Sinn“ und „gesellschaftliche Bedeutung“ zu fassen versucht. Der subjektive Sinn von Wörtern, generell all dessen, was Zeichenhaftigkeit und gesellschaftliche Bedeutung hat, ergibt sich aus den je persönlichen Erfahrungen, die damit verknüpft werden. Die Individualität der Erfahrungen, die individuelle Verarbeitung auch gemeinsamer Erlebnisse, bedingt die allgemeine Grenze des Verstehens. Der Psychiater Laing: „Wer die Erfahrung eines anderen erforscht, kann direkt nur seine eigene Erfahrung vom anderen erkennen, nicht direkt erkennen kann er des Anderen Erfahrung der ,gleichen‘ Welt“ (zit. n. Holzbrecher 1997, S. 95). Vollständiges Verstehen wird damit zur Illusion. „Einer ist dem anderen immer nur auf der Spur“ (Waldenfels, zit. n. Holzbrecher 1997, S. 98). Anerkenne ich dies nicht, so gebe ich mich nicht nur einer Selbsttäuschung hin, sondern tue dem anderen Gewalt an, indem ich ihn in ein Deutungsschema presse. Wir hegen allerdings gern die Illusion, den anderen voll zu verstehen, weil die Einsicht in die Verstehensgrenzen unserem Bedürfnis nach Vertrautheit, Durchschaubarkeit und Sicherheit entgegensteht. Das Offenhalten der Deutungen wird auch seitens der Hermeneutik angemahnt, wenngleich deren Vertreter weniger radikal die Verstehensgrenzen betonen, sondern nur auf die Vorläufigkeit alles Verstehens aufmerksam machen. Diese ergibt sich aus der Kontextualität aller Äußerungen, der der „hermeneutische Zirkel“ Rechnung trägt. Schon Schleiermacher, Begründer der Hermeneutik schreibt: „… dieses Geschäft des Verstehens und Auslegens ist ein stetiges, sich allmählich entwickelndes Ganze (sic) … das aber auf jedem Punkt immer wieder auf dieselbe ahndende Weise beginnt … (so dass) das Nicht-Verstehen sich niemals gänzlich auflösen will“ (1993, S. 327 f.). Für Gadamer, den neuzeitlichen Vertreter der Hermeneutik, ist daher das „Offenhalten von Möglichkeiten“ der Deutung entscheidend (1977, S. 61). Obwohl die Vieldeutigkeit durch Kontex-
5.1 Verstehensgrenzen, Fremdheit
tualisierung reduzierbar sei, sei sie nie ganz aufhebbar. „Daher läßt sich sagen, daß jedes Sprechen ins Offene des Weitersprechens weist“ (107). Denn: „Da ist anderes mitpräsent …“ (ebd.). Das heißt, hinter den offengelegten Bedeutungen sind immer noch andere Bedeutungen verborgen. Der letztgenannte Aspekt, die Latenz von Bedeutungen, tritt im Licht der Psychoanalyse, der Lehre vom Unbewussten mit besonderer Schärfe hervor. Denn danach sind wir uns nicht einmal der vollen Bedeutung der eigenen Äußerungen bewusst. Wie sollten wir dann die vielschichtigen Bedeutungen fremder Äußerungen erkennen? Das ganze wird endgültig zum Verwirrspiel dadurch, dass wir auch unbewusste Gefühle, Angst, Aggression, Zuneigung, uneingestandene Wünsche etc. einander mitteilen, dass es also eine unbewusste Ebene der Kommunikation gibt. Kein Wunder, dass gerade in der Tradition der Psychoanalyse stehende Theoretiker wie Jacques Lacan die Mehrdeutigkeit, das Verschieben von Bedeutungen bis hin zum Entgleiten des Sinns hervorheben. Mit Bezug auf unsere unbewussten Bilder von dem anderen, das sogenannte „Imaginäre“ – eine Kategorie von Jacques Lacan – kommt Kersten Reich (1996) zu dem Schluss, dass die Sprache uns das Verständnis des anderen nie ganz erschließt, es eher verstellt. Er denkt dabei in erster Linie an die Beziehungsebene der Kommunikation. Damit stoßen wir auf eine weitere Perspektive bei der Suche nach Verstehensschwierigkeiten, eine Perspektive, die uns die Kommunikationspsychologie im Anschluss an Paul Watzlawick eröffnet hat. Dieser unterscheidet zwischen der „Inhalts-“ und der „Beziehungsebene“ der Kommunikation und hat damit den Blick dafür geöffnet, dass wir stets, wenn wir über eine Sache, ein Thema kommunizieren, zugleich mit nonverbalen oder paralinguistischen Mitteln (Intonation etc.) den Modus unserer gegenseitigen Beziehung aushandeln. Schulz von Thun (1981) hat das Zwei-Ebenen-Modell von Watzlawick zu dem Nachrichtenquadrat mit vier Seiten erweitert, um zusätzlich auf die „Selbstkundgabe“ und den „Appellcharakter“ von Äußerungen aufmerksam zu machen, und formuliert als Grundthese: Jede Nachricht hat viele Botschaften. Dies beleuchtet eine weitere Dimension der Verstehensproblematik, weil zum Beispiel das, was jemand aus einer Äußerung ,heraushört‘, an der Intention des anderen vorbeigehen kann. Besonders schwierig wird es, wenn der Sprecher sich aufgrund innerer Unsicherheit nicht eindeutig äußert. Wie soll ihn der Hörer verstehen? Wir müssen also, selbst wenn wir nur einige wissenschaftliche Ansätze befragen, feststellen, dass die Schwierigkeit des Verstehens allgemeiner Natur und unabhängig von kultureller Differenz ist. Schauen wir uns in pädagogischen Praxisfeldern um, so gewinnen wir die gleiche Einsicht. Dabei macht sich speziell in der Sozialarbeit noch eine Störungsquelle bemerkbar, die auch für interkulturelle Kontakte bedeutsam ist – Machtasymmetrie. Das Misstrauen der Klienten, ihr Widerstand dagegen, in ein Netz fachlicher Kategorien eingefangen, in „Fallgruppen“ eingeordnet zu werden, ist eine verständliche Reaktion auf die Macht der Deutung. Diese Macht der Deutung hat für die Sozialpädagogik Hans Thiersch in einem Aufsatz mit dem aufschlussreichen Titel „Verstehen oder Kolonialisieren?“ reflektiert: „Verstehen ist immer auch Versuchung zur Macht, zur Macht dessen, der versteht, über den, der verstanden wird. Dieses Moment liegt schon im Akt des Verstehens“ (1984, S. 27). Der Sozialpädagoge Thiersch sieht die „Schwierigkeiten, die in
verborgene Bedeutungen
Inhalts- und Beziehungsebene
107
108
5. Theoretische Grundlagen III Fremdheit und Verstehen als pädagogische Grundprobleme
der Verweisungshorizont der Lebenswelt
Fremdheit als Beziehungsmodus
Ordnungskonzepte und Fremdheit
der Person und in der Rolle dessen liegen, der versteht“. „Erleben und Ausdruck des anderen“, so Thiersch, „erschließen sich nur dann, wenn der, der versteht, sich als Subjekt in den Verstehensprozess mit einbringt, sich selbst gleichsam als Instrument zur Erschließung fremder Wirklichkeit nutzt … Verstehen heißt, sich auf Anderes, Fremdes, Befremdliches einzulassen. Als Verstehender aber bin ich gefangen in den Erfahrungen meiner Erfolge und Misserfolge, meiner Abwehr und Erwartung“ (1984, S. 23). In gewisser Hinsicht steht jeder Sozialarbeiter, der bei seinen Bemühungen für die Klienten in deren Alltagswelt eindringt, vor der Schwierigkeit, zwischen zwei Welten vermitteln zu müssen, nämlich zwischen der Institution mit ihren Mustern administrativer Problembearbeitung und dem Alltagsleben, zwischen seiner Berufswelt und der Subkultur der Klienten. Der Gang in die „Szene“ mag manchen an den Gang des Ethnologen in sein „Feld“ erinnern. Auch in der Literatur zur Jugendarbeit und Jugendforschung stößt man häufig auf das Eingeständnis der Fremdheit. In einem Beitrag zur Jugendgewalt zieht ein Autor den Vergleich mit der Ethnologie: „Wie der Ethnologe ausgeschickt wird, einen fremden Stamm zu erforschen, so der Jugendforscher zur Erkundung der Jugend. Dies ist ein Indiz für die grundlegende Verschiedenheit der Lebenswirklichkeiten von Pädagogen und ,ihren‘ Jugendlichen“ (Scherr 1994, S. 26). Schließlich sei noch erinnert an den Topos vom Kind als dem „unbekannten Wesen“. Seit der Aufklärungszeit wird zwischen Kindern und „Wilden“ eine Analogie hergestellt, beide am Anfang des Zivilisationsprozesses stehend (Oelkers 1992). Die Erfahrung von Fremdheit ist also allgemeiner Natur und Kommunikation ist generell störanfällig. Allerdings können wir uns im Alltag gewöhnlich ausreichend verständigen. Gemeinsame Situationsdefinitionen ermöglichen eine ausreichende Koordination unserer Handlungen. „Jeder Akt der Verständigung lässt sich (mit Habermas, G. A.) als Teil eines kooperativen Deutungsvorgangs begreifen, der auf intersubjektiv anerkannte Situationsdefinitionen abzielt“ (1995, S. 107). Hier hilft uns der Verweisungshorizont der gemeinsam geteilten Kultur oder Lebenswelt, den die Kommunizierenden stillschweigend voraussetzen. Damit ist aber auch eine neue Grenze des Verstehens markiert, und es rückt der mögliche Fall ins Blickfeld, dass die selbstverständlichen, bisher nicht thematisch gewordenen Deutungsund Verhaltensmuster nicht mehr gelten, eine Erfahrung die Alfred Schütz, der Begründer des Lebensweltansatzes, im Exil gemacht und beschrieben hat. Dies ist die Erfahrung der Fremdheit. Wenn das, was bisher die Welt ausmachte, verunsichert und damit das Vertrauen in das eigene Wissen erschüttert wird, macht sich Unbehagen bis hin zu Angst breit. Letzteres gilt zumindest im Fall des Sich-Klammerns an das bisherige Orientierungssystem, was als Übergangsphase bei jedem auftreten mag, also bei großer Starrheit und Geschlossenheit jenes Systems. Daher betont Schäffter (1991) zu Recht, dass Fremdheit keine am anderen festzumachende Eigenschaft, sondern ein „Beziehungsmodus“ ist, der abhängig ist vom je eigenen „Ordnungskonzept“. Mit diesem Begriff fasst er sowohl Persönlichkeitsstrukturen, individuelle „Selbstbeschreibungen“ als auch gesellschaftliche Systeme und Weltbilder. Auch Zygmunt Bauman sieht die Fremdheit als Systemeffekt und abhängig vom jeweiligen Ordnungskonzept. „Alle Gesellschaften produzieren Frem-
5.1 Verstehensgrenzen, Fremdheit
de, doch jeder Gesellschaftstyp seine eigene Art und auf eigene, unnachahmliche Weise“ (1999, S. 35). Besonders die Moderne produziert nach Bauman aufgrund ihres Ordnungswillens, ihrer Sucht zu klassifizieren und zu verwalten, das Fremde und verfügt auch nur über begrenzte Strategien des Umgangs damit: Ausschluss oder Assimilation. Denn das oder der Fremde als das Unbestimmte, Unentscheidbare, sich der Einordnung Entziehende und zugleich – im Gegensatz zu früheren Zeiten – Allgegenwärtige, lässt sich nur mit Zwang oder verlockenden Versprechungen assimilieren, wenn man die Fremden nicht entfernen, separieren, isolieren oder (virtuell oder real) negieren kann (vgl. Bauman 1996, S. 89 f.). Bauman thematisiert primär die gesellschaftlichen Strategien. Diesen entsprechen aber auch psychische Tendenzen auf Seiten der Subjekte, die an dieser Stelle für uns von Interesse sind, nämlich Negation der Fremdheit, Assimilation oder Bemächtigung durch Wissen über die andere Welt. Kognitive Assimilation lässt sich mit Piaget bestimmen als Einpassung des Objekts in die eigenen Denkschemata. Als Verstehensproblem lässt sich Fremdheit nach Bauman elegant überwinden; denn hermeneutische Probleme „unterminieren allein noch nicht das Vertrauen in das Wissen und die Erreichbarkeit von Verhaltenssicherheit“ (1996, S. 79). „Der Unterschied ist etwas, mit dem man leben kann, solange man glaubt, daß die verschiedene Welt … eine ordentliche Welt wie unsere (ist)“ (S. 80). In diesem Glauben hat sich Europa, allgemeiner der Westen, stets den anderen Welten genähert. Die Wissenschaft der Ethnologie ist ein Beispiel für diese Strategie der kognitiven Bemächtigung. Ebenso entspringen Trainingsprogramme nach der Methode des Cultur Asssimilator der Zuversicht, durch systematische Information ein Verständnis fremder Kulturen zu gewinnen. Für Holzbrecher (1997) ist die Annahme erkenntnisleitend, „daß die Wahrnehmung des Fremden eine historisch bedingte Konstruktion ist“ (S. 10), was ihn in der europäischen Geschichte nach Wahrnehmungsmustern suchen lässt, „die in ihrer Grundform bis heute wirksam sind“ (ebd.). Dabei geht er den Zusammenhängen mit der Sozialgeschichte und der Psychogenese im Zivilisationsprozess sowie der Beziehung zwischen der Konstruktion des Eigenen und des Fremden nach. Aufschlussreich ist, dass das Thema Fremdheit besonders Autoren beschäftigt, die dem Konstruktivismus in der einen oder anderen Variante verpflichtet sind, was seine Logik hat; denn wenn ich Selbst und Welt als Konstrukte behandle, dann muss ich davon ausgehen, dass neben meiner Weltkonstruktion andere, auch völlig andersgeartete Konstruktionen existieren. Fehlendes Bewusstsein davon kennzeichnet das frühe Stadium der Naivität. Kersten Reich, Begründer des Interaktionistischen Konstruktivismus, unterscheidet drei „Beobachterperspektiven“ im Hinblick auf Kultur oder Ethnie: Bei der ersten Perspektive „verbleiben die Beobachter in überwiegend traditionellen Perspektiven ihres Kulturkreises“ (2002, S. 176). Es gelten selbstverständliche Vorschriften, Mythen, Rituale. Bei der zweiten Perspektive sehen sich die Beobachter zu „einer Interpretationsarbeit unterschiedlicher Perspektiven“ und zur Wahl genötigt. Ein Für und Wider entsteht. Die dritten, „postmodernen“ Perspektiven konzedieren „von vornherein den lokalen, ereignisbezogenen, pluralen und ethnisch wie auch kulturell widersprüchlichen Kontext von Beobachtungen“ (ebd.). Reich identifiziert auch spezifische Gefahren jeder Perspektive. Bei der ersten die Gefahr der Verleugnung und Abwehr, bei
Strategien kognitiver Bemächtigung
Fremdheit aus konstruktivistischer Sicht
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5. Theoretische Grundlagen III
Modi des Fremderlebens
pädagogische Konsequenzen
der zweiten „die Gefahr, dass wir das Fremde bloß einseitig nach unseren Interpretationen denken und wahrnehmen“ (S. 177), bei der dritten die Gefahr eines willkürlichen Pluralismus oder der Überforderung. Nach Ortfried Schäffter lassen sich in Abhängigkeit vom jeweiligen „Ordnungskonzept“ (s. oben) vier „Modi des Fremderlebens“ unterscheiden, wovon der erste Modus „Fremdheit als Resonanzboden des Eigenen“ unberücksichtigt bleiben soll. Bei der Vorstellung der Perfektion des Eigenen, verbunden mit der „Metaphorik der Reinheit“ (a) kann Fremdheit nur „als Gegenbild“, als Negation des Eigenen erscheinen. Anders als bei dieser polarisierten Welt wird bei einem Konzept der „dynamischen Selbstveränderung“ (b) Fremdheit „als Ergänzung“ aufgenommen und zu assimilieren versucht. Im Gegensatz zum erst genannten Modus ist die Fremdheitserfahrung hier nicht angstbesetzt und damit agressiv, sondern wohlwollend, allerdings verbunden mit der problematischen Tendenz zur Einverleibung des Fremden, so dass es seiner Eigenheit beraubt wird. Dieser Gefahr entgeht (c) „Fremdheit als Komplementarität“, bei Schäffter der vierte Modus des Fremderlebens. Er setzt ein Konzept polyvalenter Ordnung, ein „polykontexturales Universum“, m. a. W. eine radikale Dezentrierung, voraus. Problematisch werden kann hier der Kult der Differenz, im harmlosen Fall ein unverbindlicher Ästhetizismus. Wir sollten also das Phänomen der Fremdheit anerkennen, was zur Konsequenz hat, dass wir uns Befremden eingestehen. Nur wenn wir Differenzen akzeptieren, können wir uns auf sie einlassen, anstatt uns des Anderen verstehend zu bemächtigen. An dieser Stelle ist auch daran zu erinnern, dass unsere Welt nicht nur ein geistiges Konstrukt ist, sondern eine kulturelle Praxis, und zwar eine zutiefst habitualisierte, so dass die Konfrontation mit anderen Schamgrenzen, Hygienestandards, Konfliktlösungsmustern usw. starke Fremdheitsgefühle bis hin zum „Kulturschock“ hervorrufen kann.
5.2 Interkulturelle Kommunikation
Hauptstörungsquellen auf der Beziehungsseite
Eine bedeutsame Entdeckung ist die auf Paul Watzlawick zurückgehende Einsicht in die ,Doppelbödigkeit‘ jeder Kommunikation, weil wir nie nur auf der „Inhalts-“, sondern stets auch auf der „Beziehungsebene“ oder, mit Schulz von Thun (1981) formuliert, nie nur auf der „Sachseite“ kommunizieren. Diese Entdeckung ist auch für die interkulturelle Kommunikation bedeutsam. Denn man darf mit gutem Grund annehmen, dass die Hauptstörungsquellen bei der interkulturellen Kommunikation auf der „Beziehungsseite“ zu suchen sind. Die in der einschlägigen Literatur geschilderten Beispiele für Kommunikationsstörungen, meist durch differente Kulturmuster bedingt, betreffen fast immer die Beziehung, weil jemand zum Beispiel Formen der Höflichkeit oder Tabus verletzt. Dazu kommt, dass Beziehungsbotschaften überwiegend nonverbal ausgetauscht werden. Gerade die Bedeutung von Mimik und Gestik, Blickkontakt, sprachlicher Intonation, räumlicher Distanz, um nur einiges zu nennen, ist aber ebenso hochgradig kulturspezifisch wie ,unbewusst‘. Denn da sie als selbstverständlich gilt, wird sie nie thematisiert. Nicht von ungefähr hat einer der Pioniere zur Erforschung der interkulturellen Kommunikation, der Ethnologe und Semioti-
5.2 Interkulturelle Kommunikation
ker Edward T. Hall, die Bedeutung von Intonation, Gesichtsausdruck, Bekleidung, Haltung und anderer Andeutungen („adumbrations“) für die Problematik interkulturellen Verstehens untersucht. Solche Andeutungen sind nach Hall Indikatoren für „verdeckte Information“. Normalerweise für die wechselseitige Orientierung der Kommunikationspartner nützlich, stiften sie bei falscher Interpretation Verwirrung (s. Rehbein 1985, S. 9). Auch die von Schulz von Thun herausgearbeiteten einseitigen Empfangsgewohnheiten sind aufschlussreich. So können Diskriminierungserfahrungen bei Minderheitenangehörigen dazu führen, dass sie, nicht nur individuell biographisch bedingt, ein überempfindliches „Beziehungsohr“ (Schulz von Thun) entwickeln und sich zum Beispiel schnell abgewertet fühlen. Störungen der Kommunikation entstehen ganz allgemein durch differente Erwartungen, die aus unterschiedlichen lebenspraktischen Kontexten und diesen korrespondierenden Vorstellungswelten, aus zurückliegenden Erfahrungen mit der Gegenseite und Stereotypen resultieren. Abweichende Rollenerwartungen, Werte, Normen, führen zu Verständigungsproblemen, weil die Situationsdefinitionen der Kommunikationsteilnehmer/innen sich nicht „hinreichend überlappen“ (Habermas 1995 II, S. 185). Was Habermas Situationsdefinition nennt, entspricht dem Begriff des „Rahmens“ (engl. frame) in der Soziolinguistik. Der Rahmen einer Kommunikation ist jeweils sozialstrukturell und institutionell vorgegeben, wenngleich er von den Beteiligten beeinflusst werden kann. Sieht man sich typische Konstellationen von interkultureller Kommunikation an, so lassen sich vier Dimensionen oder Faktoren unterscheiden, die den Rahmen und damit die Erwartungen und die Akte der Kommunikationsteilnehmer/innen bestimmen: – – – –
Machtasymmetrien Kollektiverfahrungen Fremdbilder (Stereotypen, Vorurteile) Differenz der Codes (Scripts, Kulturstandards)
gestörte Kommunikation durch differente Erwartungen
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112
5. Theoretische Grundlagen III Machtasymmetrien
Deutungsmacht
Urteilsmonopol
Interkulturelle Kontakte sind sehr häufig, wenn nicht überwiegend durch Machtasymmetrie gekennzeichnet. Generell kann der jeweils Überlegene den Rahmen des Gesprächs eher modifizieren (framing und reframing). In interkulturellen Kontakten kommt hinzu, dass unter Umständen der eine Partner besser mit den frames der dominanten Kultur vertraut ist. Daraus ergibt sich eine schwierige Konstellation, die durch die Differenz der Codes und die beiderseitigen Stereotypen nur noch erschwert wird. Mit gutem Grund kann angenommen werden, dass unterschiedliche Codes, für sich genommen, nicht zu folgenreichen Kommunikationsstörungen führen. Als besonders störanfällig können interkulturelle Kontakte oder Beziehungen gelten, für die eine Machtasymmetrie bestimmend ist, was meist problematische Erfahrungen miteinander und problematische Fremdbilder impliziert. Früher erfahrene oder einfach befürchtete Unkenntnis fremder Kulturmuster bringt Unsicherheit mit sich, die zu problematischer Eindeutigkeit drängt, zu der Fremdbilder verhelfen. Die für viele interkulturelle Beziehungen charakteristische Machasymmetrie kann bestimmt sein durch Ungleichheit des rechtlichen und sozialen Status oder durch Wohlstandsgefälle. Man denke an Beziehungen zwischen In- und Ausländern, Europäern und Nicht-Europäern bzw. zwischen sog. Erster und Dritter Welt. Minderheiten haben generell meist weniger gesellschaftliche Einflussmöglichkeiten. Macht ist zu definieren durch ein Mehr an Ressourcen und damit Handlungsmöglichkeiten aufgrund von sozialem und rechtlichem Status, aufgrund vielfältigerer oder besserer sozialer Netzwerke, aufgrund von mehr Wissen oder besserem Zugang zu Informationen. Macht als „diskursive Macht“ impliziert das Privileg zu entscheiden, was Thema sein kann oder darf. Bei vielen pädagogisch relevanten Beziehungen kommt zu der Machtasymmetrie zwischen In- und Ausländer, Angehörigem der Dominanzkultur und der Minderheit noch die institutionell bedingte Amtsautorität, zum Beispiel des Schulleiters gegenüber Eltern, des Sozialarbeiters gegenüber Klienten. Das Privileg von Statushöheren ist die Definitions- und Deutungsmacht. Oft ist für den nachrangigen Kommunikationspartner allein schon aufgrund seines Vorwissens klar, was Thema sein kann, was tabu ist. Der Mächtige definiert die Situation und weist die Rollen zu (Kortram/van Onna 1993: „dominante Situationsdefiniton“ und „selektive Rollenzuweisung“). Dergleichen geschieht selbstverständlich nicht explizit sprachlich, sondern meist nonverbal, oft auch schon vorweg durch die institutionelle Ordnung. Der Sprachwissenschaftler Hinnenkamp (1989) hat in seinen Konversationsanalysen das „Platzzuweisen-Können“ als Privileg der Deutschen gegenüber Ausländern herausgearbeitet. Die Mehrheitsangehörigen setzen die Normen und haben das Urteilsmonopol. „So denken wir Niederländer darüber“ (Befragte bei Kortram/van Onna 1993). „Die Regeln sind nun mal da und stehen auch überhaupt nicht zur Disposition“ (Referendar bei Bender-Szymanski 2001, S. 85). Ein Lehrer zu einem italienischen Vater, der die Übergangsempfehlung auf die Hauptschule für seine Tochter nicht akzeptieren will: „Ja Herr D., Sie sind, Sie leben in Deutschland, Sie müssen die deutsche System akzeptieren“ (aus dem Interview mit dem Vater, Dietrich 1997, S. 129). – Hier wird übrigens auch deutlich, wie der Lehrer den thematischen Rahmen und die Situation definiert. Entsprechend wehrt sich auch der italienische Vater dagegen: „Ich ak-
5.2 Interkulturelle Kommunikation
zeptiere die deutsche System. Ich kritisiere nur Ihre Verfahren“ (ebd.). Aber als Normsetzende unterliegen die Mächtigeren auch keinem oder nur geringem Rechtfertigungszwang. Statushöhere haben das Vorrecht, auch in die Privatsphäre der anderen einzudringen. Das Fragenstellen ist eines der Privilegien der Privilegierten. Man vergleiche die bei Migranten verhasste Frage „Wo kommen Sie denn her?“ (vgl. Battaglina 2000). Dazu dann womöglich noch die Einschätzung „Sie sprechen aber gut Deutsch!“ womit das Urteilsmonopol beansprucht wird. Auch folgende Machteffekte sind als Folgen für interkulturelle Kommunikationsprozesse bedenkenswert: Der Mächtigere bestimmt den Gesprächsverlauf. Er nimmt sich viel eher das Recht zu unterbrechen und das Gespräch wieder an sich zu ziehen. Er kann Appelle des Gesprächspartners bzw. der Partnerin übergehen. Sein „Appellohr“ (Schulz von Thun) ist weniger gespitzt und entwickelt als das des Schwächeren. Er kann auch eher witzeln und ironisieren. Als rassistisch einzustufen ist die Ironie eines Beamten, der zum Begleiter eines Asylbewerbers, der seine Situation dramatisch schildert („Ich bin kaputt.“) bemerkt: „Sieht doch gut aus. Jetzt hat er richtich Figur“ (Hinnenkamp 1989, S. 154). Kurz: Der jeweils dominante Teil definiert den Rahmen und die Beziehung. Und das Zurückweisen und Aushandeln der – meist impliziten, d. h. stillschweigend vorgenommenen – Beziehungsdefinitionen ist bei Asymmetrie für den unterlegenen Teil immer erschwert, wenn nicht unmöglich (Schulz von Thun 1981). Mehrheitsangehörige tendieren zu einseitigen Anpassungsforderungen an die Minderheitenangehörigen. Beispiel: „Man muss sich vorher bewusst machen, was es heißt, in ein anderes Land zu gehen, in dem es andere Normen und Regeln gibt“ oder „Sie (die türkischen Eltern, Au.) können sich einfach aus der eigenen Kultur und den eigenen Vorstellungen nicht lösen“ (Referendar nach Bender-Szymanski 2001, vgl. Kortram/van Onna 1993). Wir sind als Mehrheitsangehörige und als Europäer stets in der Gefahr, gegenüber „Ausländern“ und Menschen aus der Dritten Welt eine paternalistische Haltung einzunehmen, sie also zu bevormunden, nicht ernst zu nehmen. Der Paternalismus steht in einer kolonialen Tradition. In der deutschen Geschichte hat er vor allem gegenüber den osteuropäischen Nachbarn eine unselige Rolle gespielt. Der Paternalismus hat zwei Varianten oder auch miteinander verbundene Komponenten: die fürsorgliche Bemutterung und die herablassende Bevormundung. Wenn wir die mit der Gruppenzugehörigkeit verbundenen Erfahrungen der Kommunikationsteilnehmer berücksichtigen, dann sind bei Minderheitenangehörigen oder Vertreter(inne)n von Dritte-Welt-Ländern problematische Reaktionstendenzen verständlich: 1. ein generalisiertes Misstrauen, das von eigenen Erfahrungen oder von Erfahrungen aus zweiter Hand herrührt (z. B. bei Ausländern Erfahrungen mit deutschen Behörden), 2. Überempfindlichkeit aufgrund von Diskriminierungserfahrungen, die wiederum nicht persönlich gemacht worden sein müssen. Es genügt die Kenntnis der abwertenden Einschätzung der eigenen Gruppe innerhalb der Dominanzkultur. 3. Rückzugstendenzen bis hin zur „erlernten Hilflosigkeit“ (ein Terminus aus der Psychopathologie), die etwa im Fall der Situation von Asylbe-
Machteffekte, Privilegien
Beziehungsdefinition „von oben“
Paternalismus
Reaktionen auf Machtasymmetrie
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5. Theoretische Grundlagen III
systemische Sicht
Übertragung und Gegenübertragung
werbern ein subjektiv rationales Verhalten sein kann. Dem kommt nahe, was Banning (1995) in einem Trainingsbuch für Sozialarbeiter/innen die „Sprache der Opfer“ nennt. Beispiel: „Wir werden nie für voll genommen“ (ebd.). 4. Aggressivität, die nach außen und innen gerichtet sein kann. Als produktivste Form der Reaktion mag offener oder versteckter Widerstand gelten, nicht als unmittelbar politischer, sondern als kommunikativer Akt verstanden. Es kann zu nonverbalen Formen der Auflehnung oder Verweigerung kommen (s. Henley 1977). Aus der Literatur bekannt sind Widerstandsformen von Machtlosen wie Sichdummstellen oder eine Überkorrektheit, die Appelle ad absurdum führt. Hier zu vermerken ist auch die „Selbstethnisierung“, die Bommes (1990) bei türkischen Jugendlichen beobachtet hat, die mit deutschen Kontrollinstanzen zu tun bekamen und listig die Sprache der Sozialarbeiter übernommen hatten („Viele türkische Väter sind so“). Es ist wichtig, die Beziehungen systemisch, m. a. W. in ihrer Komplementarität zu sehen (Schulz von Thun 1981). – Entmündigung begünstigt Unmündigkeit. Umgekehrt fördert die Hilflosigkeit der einen Seite den Paternalismus, die Bevormundung von der anderen Seite. Hier sind auch die gesellschaftlichen Kontextbedingungen zu berücksichtigen: z. B. die rechtlichen Beschränkungen durch Aufenthalts- und Asylrecht. Ein eigener Aspekt sind unbewusste Inszenierungen wie Übertragung und Gegenübertragung, auf die uns die Ethnopsychoanalyse aufmerksam macht – ein dem Alltagsbewusstsein verborgener Mechanismus im Wechselspiel der unbewussten Erwartungen zwischen Interaktionspartnern. Freud hat das Übertragungsphänomen in der psychoanalytischen Praxis entdeckt und kurz folgendermaßen gekennzeichnet: „Eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig“ (zit. nach Erdheim 1984, S. 108). Problematisch ist – nicht nur für die ethnologische Forschung – die Verfestigung zu starren Mustern. „Das Verhältnis von ,Übertragung‘ und ,Gegenübertragung‘ erfährt gleichsam eine ,Materialisierung‘ dadurch, dass sich zwischen dem Ethnologen und der Gruppe, die er untersucht, soziale Beziehungen einspielen, welche sich zu einem bestimmten Rollenverhalten verfestigen können“ (Erdheim 1984, S. 28 f.). Der Forscher und der Pädagoge müssen sich dessen bewusst sein, dass diejenigen, denen sie ihr Interesse zuwenden, möglicherweise in der Beziehung teilweise frühere Konflikte reaktivieren. Forscher und Pädagoge können zum Beispiel als Vater- oder Mutterfigur, als Helfer oder Unterdrücker erlebt werden. Der „Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes“, wie Freud sich ausdrückt, oder eben durch die Person des Forschers oder des Pädagogen, können sich Arzt, Pädagoge und Forscher nur im Wissen um diesen Mechanismus durch kritische Prüfung der Interaktionsmuster entziehen. Anderenfalls korrespondiert den unbewussten Wünschen und Erwartungen der anderen das eigene Verhalten und es kommt zu einer klischeehaften, starren Interaktion. Als Übertragungsphänomene deutet zum Beispiel die Ethnologin Maya Nadig ihre Erlebnisse mit mexikanischen Dorfbewohnern. Sie wurde mit unterschiedlichsten Ansprüchen auf Hilfe sowie mit ängstlichen Erwartungen konfrontiert, so dass sich sogar Leute vor ihr versteckten. Man vermutete in ihr eine Agentin der Regierung oder der Kirche, die zur Kontrolle des Dorflebens gekommen sei, oder auch eine kommunisti-
5.2 Interkulturelle Kommunikation
sche Agitatorin (Nadig 1987, S. 23 ff.). Solche Erwartungen und Befürchtungen beeinträchtigten, wie man sich denken kann, die Kommunikation massiv. „In jedem dieser Übertragungsbilder verdichten sich historische und aktuelle Widersprüche, Konflikte der Gemeinde, Familie oder des Individuums. Jede mir zugeschobene Rolle entsprach einer realen Erfahrung, die eine Enttäuschung, einen Betrug, eine Hoffnung beinhaltete“ (S. 28). Nur die Analyse der gesellschaftlichen Voraussetzungen und des historischen Kontexts fremden Verhaltens ermöglicht nach Erdheim eine Art „Verfremdung, die es erlaubt, diese Art der Gegenübertragung unter Kontrolle zu halten“ (1984, S. 37). Damit wird bereits deutlich, in welchem Maße interkulturelle Kommunikation nicht nur durch individuelle biographische Erfahrungen, sondern besonders auch durch kollektive Erfahrungen beeinflusst wird. Es sei nur ergänzend auf die historischen Erfahrungen einiger Nationen oder Ethnien mit Deutschland verwiesen, die Kontakte mit uns Deutschen zu einer sensiblen Angelegenheit machen. An erster Stelle zu nennen sind Juden und Israelis. Aber auch Sinti und Roma, Polen, Ukrainer und Russen könnten als Beispiele genannt werden. Als Europäer begegnen wir unter Umständen Ressentiments bei Kommunikationspartnern aus Ländern der Dritten Welt. Zur kolonialen Vergangenheit kommen hier fortgesetzte ökonomische Benachteiligung und Abhängigkeit. Aus Kollektiverfahrungen speisen sich zum Teil die gegenseitigen Fremdbilder, mit denen die Erfahrungen diskursiv verarbeitet sind. Zwischen den realen Erfahrungen und den gesellschaftlichen Diskursen und kulturellen Bildtraditionen ist eine Wechselwirkung anzunehmen. Die Analyse des westlichen Diskurses über den Orient von Edward Said (1981) ist bereits erwähnt worden (s. Kap. 3.2). Angehörige der „Dominanzkultur“ (Rommelspacher) neigen in besonderer Weise zur Stereotypisierung gegenüber Minderheiten, weil die Dominanzkultur über einen – oft tradierten – Fundus an Bildern von den unterlegenen Gruppen verfügt. Dass die kulturell vermittelten Fremdbilder die jeweilige Beziehungsdefinition und damit unsere Beziehungsbotschaften bestimmen, ist plausibel. Analog dem von Schulz von Thun problematisierten „Psychologisieren“ lässt sich die Ethnisierung als fragwürdige, gerade auch in pädagogischen Interaktionen zu beobachtende Entlastungsstrategie identifizieren, entlastend deshalb, weil die Zuschreibung von Eigenschaften der pädagogischen Anstrengung enthebt. Seltsame bis paradoxe Konstellationen können sich daraus ergeben, dass die Kommunizierenden die Stereotypen der Gegenseite über ihre Eigengruppe kennen oder zu kennen meinen, was sie veranlassen kann, diese möglichst durch ihr Verhalten zu dementieren. Umgekehrt kann das Wissen um die Stereotype der anderen je nach Interessenlage (z. B. im Tourismus) und Selbstbild auch dazu führen, dass man das Fremdstereotyp absichtlich bestärkt. Fremdbilder sind häufig projektiv. Es kann zu positiven oder negativen Projektionen, nämlich von Wünschen oder aber von negativen Anteilen des Selbst kommen. Beispiele für erstere sind Bilder von Südseeromantik oder sinnlichen Orientalinnen, also die Phänomene des Exotismus und Orientalismus. Das Bild vom militanten Islam kann dagegen als Beispiel für eine
Kollektiverfahrungen
Fremdbilder
Erwartungserwartungen
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5. Theoretische Grundlagen III
differente Kulturmuster
Klären von Missverständnissen
differente Kommunikationsmuster
negative Projektion, nämlich eigener aggressiver Impulse auf die Gegenseite, gedeutet werden. Die Forschung über interkulturelle Kommunikation hat bislang einseitig auf die Differenz der kulturellen Muster oder Codes abgehoben. Die wissenschaftlichen Termini sind unterschiedlich. In der psychologischen Austauschforschung wird häufig von „Kulturstandards“ gesprochen, in der Sprach- und Sozialwissenschaft von Codes oder „Scripts“. „Codes“ im allgemeinen Verständnis sind Regeln der Zuordnung von Zeichen oder Zeichenfolgen zu Informationen. Die durch Kulturdifferenz bedingten Kommunikationsstörungen können vielfältiger Art sein. Beispiele in der Literatur machen unter anderem auf Unterschiede der Höflichkeitsformen, der Normen für Gast und Gastgeber, des Kooperationsstils, des Umgangs mit sozialen Hierarchien oder mit der Zeit aufmerksam. Wie alle Verständigungsschwierigkeiten sind auch interkulturelle dadurch behebbar, dass man darüber spricht. Rehbein wendet allerdings ein, dass beim Klären von Missverständnissen neue Missverständnisse auftreten können, „da die sprachlichen Formen des Klärens häufig kulturspezifisch ausgeprägt sind, so dass eine Art interkultureller Verstrickung entsteht“ (1985, S. 11). Bei Machtasymmetrie erscheint das Klären von Missverständnissen zusätzlich erschwert. Mehrere Autoren sind der Ansicht, dass die Bedeutung kultureller Differenzen in gemeinsamen Tätigkeitsbereichen oder Interessengebieten abnimmt. Plausibel ist dies zum Beispiel für betriebliche Arbeitszusammenhänge. Zumindest in der Einwanderungsgesellschaft sind, so darf man annehmen, Kulturdifferenzen eher selten der Grund für Verständigungsprobleme, wenn, dann am ehesten noch differente Kommunikationsmuster, die ohne explizites Wissen selbstverständlich gebraucht werden. Die Konversationsanalyse hat auf viele Muster aufmerksam gemacht, die kulturspezifisch sind, zum Beispiel die Art der Organisation und Steuerung von Gesprächsverläufen. Eine Frage ist beispielsweise: Wie wird ein Sprecherwechsel zwischen den Kommunikationspartnern organisiert? Das heißt, wie wissen die Beteiligten, wann sie sich jeweils einbringen können? Außerdem: Wie wird ein Gespräch in Gang gebracht und wodurch bleibt es in Gang? Wie wird ein Gespräch für alle Beteiligten erkennbar abgeschlossen? Für all das gibt es offenbar Konventionen, eine teilweise sublime Zeichensprache, welche die Verständigung regelt (Rehbein 1985, S. 13). Deborah Tannen spricht von den „Rädchen, die das Gespräch in Gang halten“ (1992, S. 72) oder versteckten „Gesprächssignalen“. Sie macht zum Beispiel auf die individuell und kulturell unterschiedliche Bedeutung von Gesprächspausen aufmerksam. Sie hat sogar regionale Unterschiede innerhalb der USA festgestellt (S. 55 ff.). Dabei ist beispielsweise die richtige Art, das Gespräch zu eröffnen, abhängig von der Art des Gespräches, von dem institutionell bestimmten Rahmen. Vorstellungsgespräche, Verkaufsgespräche, Beratungsgespräche oder Kneipengespräche werden auf andere Art eröffnet, in Gang gehalten und beendet. Die Beziehung der Akteure zueinander ist jeweils unterschiedlich, symmetrisch oder asymmetrisch, in jedem Fall von den institutionellen Regeln und Rollen bestimmt. Die gegenseitigen Erwartungen der Akteure sind – zum Teil unbewusst oder halbbewusst – davon geleitet. Regelverletzungen führen zu Störungen und unter Umständen zum Abbruch der Kommunikation, wenn die Ursache nicht geklärt werden kann.
5.2 Interkulturelle Kommunikation
Die ungeschriebenen Drehbücher, engl. „Scripts“, für unsere Interaktionen erwerben wir im Sozialisationsprozess. Schwierig dürfte es für kulturfremde Personen oft schon sein, soziale Situationen richtig zu identifizieren. Handelt es sich zum Beispiel um einen Small-Talk oder um ein formelles Gespräch? Geht es um eine soziale Anamnese oder um ein Verhör, um eine Beratung oder eine Verhandlung? Welche Gesprächstypen jemand kennt, ist von seinem Kontakt mit Institutionen und von der Entwicklung der Institutionen in einer Gesellschaft abhängig. Unklarheit über den Rahmen ist verständlicherweise äußerst verunsichernd, ja liefert jemanden ganz seinem Gegenüber aus. Denn: „Es ist weitaus schwieriger, den Rahmen einer Äußerung zu kritisieren als den konkreten Inhalt einer Aussage“ (Tannen 1992, S. 109). Bei einem Kulturwechsel werden die Muster oft nur äußerlich übernommen, weil das zugrunde liegende implizite Handlungswissen fehlt. So meinte Rehbein 1985: „Das auf Verstehen gegründete Handeln der Migranten in der ,Gastgesellschaft‘ orientiert sich an Oberflächenmerkmalen des Handelns; die eigentlichen Entscheidungspositionen der Muster werden – ohne sie wirklich zu kennen – auf der Basis von Annahmen erschlossen“ (S. 10). Die Migrationssituation hat sich inzwischen gewandelt, aber für Neuzuwanderer dürfte das noch gelten. Rehbein verweist dabei darauf, dass Migranten oft unter einem Handlungsdruck stehen und zur äußerlichen Aneignung gezwungen sind. Grießhaber (1985) macht aufgrund der Auswertung einer Lerneinheit mit Migranten auf die Gefahr aufmerksam, dass es in Sprachkursen zum bloßen „Zitieren von Handlungsmustern“ kommt, wenn das nötige „Komplementärwissen“ nicht explizit vermittelt wird. Manche Migranten sind in Institutionen wie der Klinik, der Beratungsstelle oder der Schule besonders unsicher, weil sie nur Formen des Alltagsgesprächs kennen gelernt haben. Die Unsicherheit wird gesteigert, wenn Vertreter der Institution ihre Redebeiträge direkt oder indirekt entwerten, sich nicht um Verständnis bemühen oder wenn das Bemühen ungeschickt und bevormundend ist. Hier wird nochmals der Stellenwert von Dominanzverhältnissen deutlich. Für pädagogische Praxisfelder hat das kulturspezifische Verständnis von Institutionen mit den entsprechend unterschiedlichen Rollenerwartungen große Relevanz. Zum Beispiel bringt das unterschiedliche Verständnis von Schule und Lehrerrolle unter Umständen konflikthaltige Erwartungsdivergenzen mit sich. Es mag auch vorkommen, dass manchen Migranten Institutionen, zum Beispiel soziale Dienste, unbekannt sind, was auch zu Unsicherheiten und Missverständnissen führen kann. Verständnisbarrieren, die mit einem unterschiedlichen Verständnis von Schule zu tun haben, hat eine Studie von Gotowos aus der frühen Phase der Arbeitsmigration beleuchtet. Er verwies darauf, dass sich Selbstbild und Rolle des Lehrers in der bundesdeutschen Schule nicht mit den Rollenerwartungen griechischer Gastarbeiterkinder deckten. Zum Beispiel war auch die Art, Verhalten zu sanktionieren, für die Schüler/innen befremdlich (Gotowos 1981). Albert (1986) hat in einer US-amerikanischen Schule „attributional differences“ untersucht, d. h. wie neu eingewanderte Migrantenkinder, die der angloamerikanischen Kultur noch fern stehen, im Vergleich mit angloamerikanischen Schülern Schulsituationen erleben. Nach Interviews mit Migrantenkindern spanischer Herkunft zwischen 10 und 15 Jah-
implizites Handlungswissen
unterschiedliches Verständnis von Schule
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5. Theoretische Grundlagen III
Verkennung des Anderen
ren, die erst kurz zuvor in die USA eingereist waren, sowie mit Lehrer(inne)n solcher Kinder, stellte sie 146 einfache „stimulus stories“ mit „critical incidents“ aus dem Schulalltag zusammen. Zum Beispiel kommt ein Schüler zu spät zum Unterricht und wird vor der Klasse deshalb zur Rede gestellt. Sie kam zu dem Ergebnis, dass spanischsprachige Schüler sich signifikant häufiger in solchen Situationen beschämt („ashamed“) fühlten als angloamerikanische Schüler. Es sollte nicht vergessen werden, dass sich die Schule in unserer Gesellschaft innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte stark gewandelt hat. Sie ist zu einem Dienstleistungsunternehmen mutiert, verrechtlicht, weitgehend entritualisiert. Die Lehrerrolle hat sich nach Ziehe (1996) geteilt in den Qualifizierungsfachman und den Beziehungsarbeiter oder Animateur. – Für manche neu zugewanderte Kinder eine befremdliche Institution. Es ist anzunehmen, dass heute in der Einwanderungsgesellschaft und generell im Stadium der Globalisierung das größte Störungsrisiko nicht mehr aus Kulturdifferenzen resultiert, sondern in der Gefahr besteht, das Selbstverständnis des Interaktionspartners zu verfehlen. Natürlich ist das ein ganz allgemeines Interaktionsrisiko, es erhöht sich aber mit der Vervielfältigung der Identitätsentwürfe und mit der Tendenz, sich dabei mit Stereotypisierungen zu behelfen. Ethnische Unterscheidungen drängen sich besonders schnell auf. Das führt zu Irritationen, wenn sich nicht sogar der oder die Andere verletzt fühlt. Es fängt schon damit an, dass Neu-Deutsche, von deren Aussehen auf eine fremde Herkunft geschlossen wird, gefragt werden: Wo kommen Sie denn eigentlich her? Einige Migrant/inn/en türkischer oder kurdischer Herkunft äußern sich zu Recht verärgert über die verbreitete Gleichsetzung Türke/Türkin = Muslim/Muslima. Ein prominentes Beispiel: Als Ignatz Bubis, der frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, bei einer Podiumsdiskussion als Israeli angesprochen wurde, hat er sich dagegen verwehrt. Ebenso dürfte eine Frau, deren Kleidung ihr Bekenntnis zum Islam verrät, verstimmt sein, wenn jemand zu erkennen gibt, dass er damit die deutsche Staatsangehörigkeit ausschließt.
5.3 Interkulturelle Kompetenz Wenn man die mehrdimensionale Betrachtung von interkultureller Kommunikation ernst nimmt, dann kann sich interkulturelle Kompetenz nicht auf die Aufmerksamkeit und Offenheit für mögliche Kulturdifferenzen und auch nicht auf das Bewusstsein der eigenen Kulturgebundenheit beschränken, so wichtig diese Haltungen sein mögen. Vielmehr ist dann auch und vor allem Sensibilität für die Einflüsse von Machtasymmetrien und Kollektiverfahrungen gefordert, zum Beispiel der Diskriminierungserfahrungen als Ausländer/ in oder für die Nachwirkungen der Kolonialgeschichte. Das setzt auch Wissen voraus, zum Beispiel über das Zuwanderungs- und Asylrecht oder über das Ausmaß der Bildungsbenachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund. Wenn man den üblichen Kompetenzbegriff zugrunde legt, der nach allgemeinem Verständnis Wissen, Einstellungen/Haltungen und Fähigkeiten umfasst, dann wäre interkulturelle Kompetenz so darstellbar:
5.3 Interkulturelle Kompetenz
Wissen
Haltungen
Fähigkeiten
Machtasymmetrien betr. Schicht, Geschlecht, Ethnie Kollektiverfahrungen betr. Schicht, Geschlecht, Ethnie Fremdbilder Kulturdifferenzen Darüber hinaus heißt interkulturelle Kompetenz, eine Aufmerksamkeit zu entwickeln für den persönlichen Sinn, den ein Schüler oder Klient mit den erlebten Kulturen, mit seinen Sprachen, eventuell mit seiner Religion verbindet sowie sensibel zu werden für die individuelle Verarbeitung von Diskriminierungserfahrungen, seien sie individueller Art oder gruppenspezifisch. Manche Menschen sind mit mehreren Diskriminierungserfahrungen gleichzeitig belastet, z. B. als Frau, ungelernte Arbeiterin, Muslima und Ausländerin. Sich vorstellen zu können, wie mehrfache Diskriminierung das Kontaktverhalten von Klienten beeinträchtigen kann, ist für pädagogische Fachkräfte äußerst wichtig. Um der Lebenssituation und dem Selbstverständnis des oder der anderen gerecht zu werden, um vor allem der Ethnisierungsfalle zu entgehen, bietet sich das Konzept der „Intersektionalität“ von Lebenslagen und Identitätskonstrukten an. Die Idee geht zurück auf eine Kontroverse über die Politik der Frauenbewegung und des Black-Movement in den USA. Regelmäßig zitiert wird Kimberlé Crenshaw. Crenshaw (1995) belegte mit Beispielen aus dem Alltag und der Rechtspraxis, dass die Lage der „women of color“, konkret Asian and African-Americans, sowohl von der feministischen als auch der antirassistischen Bewegung ausgeblendet werde. Ihre zentrale These war, dass es nicht genüge, die Rassenzugehörigkeit dieser Frauen, oft verknüpft mit Armut, zusätzlich zu ihrer subalternen Stellung als Frau zu berücksichtigen. Vielmehr müsse die Überschneidung beider Unterordnungsverhältnisse bedacht werden, damit die beiden emanzipatorischen Bewegungen nicht weiter „conflicting political agendas“ verfolgten (S. 360). Das ist quasi die Stiftungsurkunde des Konzepts, das dann von der politischen Arena ins Feld der sozialwissenschaftlichen Forschung übernommen worden ist, und schließlich auch innerhalb der Pädagogik als vielversprechende Folie der Reflexion aufgegriffen wurde. Denn: „Mit Intersektionalität“, so Leiprecht (2010), „wird die exklusive Zentrierung auf eine Kategorie oder Differenzlinie vermieden. Die Verbindungen zwischen verschiedenen Kategorien (wie zum Beispiel Geschlecht, Klasse, Ethnizität, Generation) und Gruppenkonstruktionen geraten in den Blick, genauso wie die Unterschiede innerhalb einer Kategorie und innerhalb einer konstruierten Gruppe“ (S. 19). Der Verfasser versteht seine Liste von Sozialkategorien explizit als Beispiele. Das beleuchtet den Streit über den Umfang der zu beachtenden Kategorien, der mit der grundsätzlichen
das Konzept der Intersektionalität
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5. Theoretische Grundlagen III
Frage verbunden wird, ob die Wahl gesellschaftstheoretisch zu begründen oder jeweils situativ zu entscheiden sei. Für die pädagogische Praxis kommt vermutlich nur Letzteres in Frage, wobei unstrittig sein dürfte, dass der sozioökonomische Status von Lernenden oder Klienten immer Beachtung verdient. Die sozialen Verhältnisse sind unhintergehbar. Sie sind nicht sozial konstruiert wie Ethnizität oder Gender. In dieser Hinsicht ist das Modell der drei Ebenen der Intersektionalität von Gabriele Winker/Nina Degele (2009) und Christine Riegel (2010) aufschlussreich. Sie unterscheiden die Ebene der sozialen Bedingungen oder Verhältnisse, die Ebene der Diskurse und die Ebene des Subjekts, d. h. der subjektiven Verarbeitung und sozialen Positionierung. Auf der Ebene des Subjekts sollte m. E. zusätzlich unterschieden werden zwischen habituell gewordenen Eigenschaften und dem jeweiligen Selbstverständnis, also auch der sozialen Selbstverortung. Damit wird der „subjektive Möglichkeitsraum“ (Holzkamp 1985) für die Handlungen und die Entwicklung des jeweiligen Individuums sichtbar – für Fallanalysen von großem Wert (Leiprecht/Lutz 2005). Es wird einem erleichtert, im Sinne der „reflexiven Interkulturalität“ die Angemessenheit von Kategorien im Einzelfall zu prüfen (Hamburger 2009).
Nutzen von Fallbesprechungen
Je nach Situation müssen auch andere Aspekte wie Religion bzw. Religiosität berücksichtigt werden. Sicher würde es Fachkräfte überfordern, wenn man von ihnen Fallanalysen dieser Art routinemäßig im pädagogischen Alltag erwarten würde. Das wäre eine Illusion. Erwartbar aber sind solche Analysen zum Beispiel bei der Hilfeplanung in der Jugendhilfe, empfehlenswert für die Aus- und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften jeder Fachrichtung, durchführbar auch in der Kollegialen Fallberatung. Gelegentliche Fallreflexionen können dazu verhelfen, generell dominanz- und differenzsensibel zu werden. Interkulturelle Kompetenz stellt keineswegs nur eine Anforderung an Fachkräfte ohne MH dar, wie öfters geargwöhnt wird. Eigene Migrationsgeschichte und Erfahrung der Minderheitensituation mag zwar in der Regel eine höhere Sensibilität für die Situation von Lernenden oder Klienten mit MH mit sich bringen. Aber auch da können soziale Unterschiede oder aus der Herkunftsregion mitgebrachte Konflikte die Beziehung beeinträchtigen, wenn sie nicht reflektiert werden. Auch die Gefahr der Überidentifikation kann nur durch Selbstreflexion vermieden werden. Sie ist besonders in mul-
5.3 Interkulturelle Kompetenz
tikulturellen Teams gefordert. Gaitanides (2008) hat die Probleme der Zusammenarbeit in einem Sozialarbeiterteam untersucht und fand typische gegenseitige Klischees, die zusammen mit Machtungleichgewichten die Kooperation beeinträchtigten. Mitarbeiter/innen ohne MH warfen denen nichtdeutscher Herkunft Mangel an professioneller Distanz, einen zu familiären Umgangsstil vor. Und umgekehrt fanden diese den Umgang der „deutschen“ Kolleg/inn/en mit der Klientel zu formell, distanziert und teilweise unsensibel. Gaitanides geht davon aus, dass beide Arbeitsweisen, wenn man das Klischeehafte abzieht, ihre partielle Berechtigung haben. Deshalb empfiehlt er, um die Differenzen produktiv zu machen, den Dialog.
Aufgaben: Suchen Sie Beispiele für die „Modi des Fremderlebens“ nach Schäffter! Überlegen Sie, wann und wo Sie Machtasymmetrien als der stärkere oder der schwächere Part störend empfunden haben! Welche Art von Asymmetrie? Entwerfen Sie nach dem Konzept der Intersektionalität für Ihre Person ein Schema der Intersektion von Differenzlinien!
Weiterführende Literatur: Auernheimer, G. (Hg.) (2008): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Interkulturelle Studien Bd. 13. 2., aktualisierte u. erw. Aufl., Wiesbaden. Hinnenkamp, V. (1989): Interaktionale Soziolinguistik und Interkulturelle Kommunikation. Gesprächsmanagement zwischen Deutschen u. Türken. Tübingen.
multikulturelle Teams
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6. Konzepte interkultureller Bildung 6.1 Einleitende Bemerkungen Im zweiten Kapitel wurden verschiedene theoretische Konzepte von Interkultureller Pädagogik aus der deutschsprachigen Literatur vorgestellt. Quer dazu lassen sich Schwerpunkte interkultureller Bildungsarbeit unterscheiden, wobei der eine oder andere Schwerpunkt eine Nähe zu einem speziellen theoretischen Ansatz erkennen lässt. Verschiedene Prämissen, Zielsetzungen und teilweise auch Methoden kennzeichnen: – – – – – schulische und außerschulische Praxis
die Frage der institutionellen Passung
Anti-Bias- und Diversity-Ansatz, Umgang mit kultureller Differenz, Befähigung zum interkulturellen Dialog, multiperspektivische und mehrsprachige Bildung, antirassistische oder rassismuskritische Bildung.
Dass sich die Schwerpunkte teils besser für Schule, teils besser für außerschulische Praxisfelder eignen, leuchtet ein. In dieser Hinsicht ist eine grundsätzliche Unterscheidung der methodischen Herangehensweise wichtig. Bei der einen wird vorwiegend auf Aufklärung vertraut, was nicht auf Belehrung reduziert sein muss, sondern einen eigenen Zugang der Lernenden, zum Beispiel über Texte, einschließt. Möglich sind Formen entdeckenden Lernens“, wenn die Schüler bspw. herausfinden sollen, welche Nutzpflanzen wir außereuropäischen Gesellschaften verdanken und wie wir sie uns angeeignet haben. Aber der Zugang ist primär kognitiv. Bei der alternativen Herangehensweise werden die Lernenden in Rollenspielen, Übungen zur Sensibilisierung, Medienprojekten etc. ganzheitlich gefordert. Die Vorurteils- und Rassismusforschung sprechen ebenso wie Theorien des Fremderlebens für erfahrungs- und handlungsbezogene Lernarrangements mit emotionaler Beteiligung. Die Kunst besteht hier darin, die Äußerung und Reflexion von Gefühlen zu fördern. Naheliegend ist, dass die „kognitive“ Herangehensweise stärker auf Schule zugeschnitten ist. Seit interkulturelle Bildung auch innerhalb der Fachdidaktiken reflektiert wird (vgl. Reich u. a. 2000), besteht die Chance, dass auch im Fachunterricht interkulturelle Aspekte zumindest gelegentlich zum Thema gemacht werden. Prinzipiell sind Schulen nur bedingt der geeignete Ort für interkulturelle Bildung. Ihr Vorteil ist zwar, dass dort, zumindest in den Grundschulen, alle Kinder zusammen erreichbar sind, wenn man von der sozialen Selektion absieht, die selbst auf der Primarstufe schon um sich greift. Der Nachteil ist aber, dass sich in der Schule mit ihrer Auslese- und Bewertungsfunktion nur schwer die geeignete Lernatmosphäre herstellen lässt, die von Vertrauen, Offenheit und Kooperation getragen sein sollte. Man ist sich darüber einig, dass ein Lernarrangement, das die Lernenden dazu ermuntert, Ängste, Wünsche etc. zu äußern und damit die Refle-
6.1 Einleitende Bemerkungen
xion darüber fördert, eher Erfolg verspricht. Möglicherweise bietet der Ganztagsbetrieb, der inzwischen an vielen Schulen eingeführt wurde, ein günstigeres Klima, sofern mit dem Wechsel zwischen Unterricht und anderen Lernformen das Leistungsprinzip zeitweise außer Kraft gesetzt wird. Generell ist zu bedenken, dass die interkulturelle Programmatik von der Organisation Schule nach deren eigenen Regeln umgesetzt wird (Gomolla/ Radtke 2007), was die Intentionen verfälschen oder sogar bis zu Unkenntlichkeit verzerren kann. Hilfreich wären hier Arbeitskreise oder Netzwerke von Lehrenden, in denen man gemeinsam die pädagogischen Intentionen abklärt. Für die schulische Praxis geeignet, weil den dort üblichen Lernformen affin, erscheinen Medienanalysen und Formen der ästhetischen Praxis wie Schreiben, Fotografieren, Filmen, Herstellung von Bildcollagen. Dort und beim Zugang über Literatur (z. B. Reiseberichte, Literatur der Migration) lässt sich auf den Verfremdungseffekt setzen, d. h. soweit Distanz zu eigenen Ängsten und Einstellungen herstellen, dass sie versprachlicht werden können. Auch die Stadtteilerkundung zur Entdeckung der Multikulturalität des Quartiers fügt sich noch gut ins Repertoire schulischer Angebote. Spezifisch für Schule ist schließlich der Schüleraustausch, nicht zu vergessen die Korrespondenz mit Schulklassen im Ausland. Weniger schulkonform, aber durchaus im Unterricht anwendbar sind Rollen- und Interaktionsspiele. Für den biographischen Zugang, das szenische Spiel, besonders Formen des politischen Theaters, und erst recht für soziale und politische Aktionen (z. B. eine Patenschaft für Flüchtlinge, eine Aktion gegen Rassismus) bieten außerschulische Lernfelder günstigere Bedingungen. Mit dem biographischen Zugang können Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten entdeckt werden (z. B. bäuerliche Herkunft und Migration in der eigenen Familiengeschichte). Bei Jugendlichen regt die Rekonstruktion und Reflexion der bisherigen Lebensgeschichte zur Überprüfung bisheriger Identifikationen und zum Austausch über Zukunftsperspektiven an und hilft damit bei der Identitätsarbeit. Deutlich werden kann auch, auf wie unterschiedliche Art Lebensgeschichten erzählt werden können. Rollenspiele können die Empathie fördern und der Erweiterung des Handlungsrepertoires dienen. Wie kann man zum Beispiel mit einer diskriminierenden Situation umgehen? Interaktionsspiele sollen die Selbstwahrnehmung schärfen, für Interaktionsvorgänge und gruppendynamische Prozesse sensibilisieren, teilweise auch (als Warming-up-Übungen) die Voraussetzungen für soziales Lernen, nämlich Vertrauen und Offenheit, schaffen. Auch in der außerschulischen Jugendbildung ermöglicht vor allem Kulturarbeit Verfremdungseffekte, d. h. das Selbstverständliche (z. B. die Exklusivität sozialer Arrangements) auffällig zu machen, zu hinterfragen, was „normal“ ist, Widersprüche aufzudecken, zu irritieren und zu relativieren. Formen der Kulturarbeit können mit politischen Aktionen verbunden werden, was besondere Lernmöglichkeiten für die Beteiligten bietet. Speziell die verschiedenen Varianten des politischen Theaters nach Augusto Boal (1989) sind hier zu nennen. Ein Beispiel dafür wäre die Inszenierung einer rassistischen Attacke auf einem öffentlichen Platz nach dem Muster des „unsichtbaren Theaters“. Eine einfachere Variante aus dem Repertoire von Boal wäre das Zeitungstheater. Wichtig ist, dass der Pädagoge/die Pädago-
Vorzüge von Kulturarbeit
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6. Konzepte interkultureller Bildung wichtig: Erfahrungsbezug
gin die Lebenssituation der Teilnehmenden kennt bzw. sie gemeinsam mit ihnen erkundet, damit der Erfahrungsbezug gewährleistet ist. Nur so können gezielte Hilfen zur symbolischen Darstellung eigener Erfahrungen gegeben werden. Es gilt, mit Freire gesprochen, die „generativen Themen“ der Teilnehmenden zu entdecken.
6.2 Interkulturelles Lernen als stufenweiser Prozess
ein 6-stufiges Modell
Bevor die verschiedenen Schwerpunkte vorgestellt werden, soll unter genereller Perspektive auf die Frage nach Stufen interkulturellen Lernens eingegangen werden, die sich hypothetisch unterscheiden lassen, aber bisher nicht empirisch überprüft worden sind. Sie können bisher nur Plausibilität auf der Basis pädagogischer Erfahrung für sich beanspruchen. Die Annahmen der sog. Austauschforschung über unterscheidbare Lernniveaus wurden in Kapitel 3.4. referiert. Die Frage nach Lernniveaus ist pädagogisch ernst zu nehmen, weil viele gut gemeinte Bemühungen vermutlich daran scheitern, dass die Ziele zu hochgesteckt sind, so dass die Lernenden und Lehrenden überfordert werden. Milton Bennett (1993) hat als Psychologe auf der Basis von Beobachtungen ein sechsstufiges „Developmental Model of Intercultural Sensitivity“, also der „Entwicklung interkultureller Sensibilität“ vorgelegt, das zwischen einem „ethnozentrischen“ und einem „ethnorelativen Stadium“ differenziert. Die Annahme ist, dass auf einer ersten Stufe dem Subjekt überhaupt die Kategorien fehlen, um Unterschiede wahrnehmen zu können, woraus deren Verleugnung („denial“) folgt. Kann die Differenz erkannt werden, so besteht auf der zweiten Stufe die Tendenz zur Abwehr („defensive“), um die eigene Wirklichkeitskonstruktion nicht in Frage zu stellen. Auf der dritten, noch „ethnozentrischen“ Stufe wird sodann die Lösung in der Minimierung der Unterschiede, in der Hervorhebung (oft trivialer) Gemeinsamkeiten gesucht. Im zweiten Stadium, in dem interkulturelles Lernen eigentlich erst beginnt, muss der Lernende nach Bennett zunächst lernen, die Unterschiede zu akzeptieren (Stufe der „Akzeptanz“), bevor er zur „Adaption“ und schließlich „Integration“ fortschreiten kann. Der Stufe der Akzeptanz entspricht nicht nur der Respekt für Wert- und Verhaltensunterschiede. Ein wichtiges Kriterium ist das Verständnis dafür, dass eine andere Kultur und Sprache andere Weltsichten präsentiert, womit die eigene Kultur relativiert wird. Adaptation erlaubt den Wechsel des Bezugsrahmens, weil zwei oder mehrere kulturelle Bezugssysteme internalisiert worden sind oder werden. Erst ein reflektierter Bezug auf die verschiedenen Kontexte führt dabei zur generalisierten Sensibilität für kulturellen Pluralismus. Die Erreichung dieses Niveaus setzt in der Regel längere und intensive Fremdkontakte voraus. Typisch für die Stufe der „Integration“ ist die Fähigkeit, nicht nur das Bezugssystem zu wechseln, sondern eine bewusste Wahl zu treffen. Es ist unschwer zu erkennen, dass die letzten beiden Stufen des Entwicklungsmodells kaum Ziele interkultureller Bildung sein können; denn höchstens Menschen mit Migrationsgeschichte oder langen Auslandsaufenthalten dürften die Voraussetzungen dafür mitbringen. Von einem Modell wie dem von Bennett, das der empirischen Analyse von angenommenen Entwick-
6.2 Interkulturelles Lernen als stufenweiser Prozess
lungsschritten dienen könnte, sind pädagogische Stufenkonzepte zu unterscheiden, in denen schrittweise Ziele fixiert werden. So unterstellt Nieke bei seiner Konzeption von Interkultureller Pädagogik eine Progression, indem er zehn Zielsetzungen ausdrücklich „in der Reihenfolge zunehmender Voraussetzungen“ aufführt (S. 204, dazu Kap. 6.3). Leenen/Grosch (1998) haben auf der Basis eigener Trainingserfahrungen folgendes Stufenkonzept formuliert: 1. Erkenntnis der generellen Kulturgebundenheit 2. Identifikation fremdkultureller Muster, Dezentrierung 3. Identifikation eigener Kulturstandards, Einsicht in Auswirkungen auf die Kommunikation 4. erweitertes Deutungswissen über bestimmte Fremdkulturen 5. Verständnis und Respekt für fremdkulturelle Muster 6. Erweiterung der eigenen kulturellen Optionen (normative Flexibilität etc.) 7. Aufbau interkultureller Beziehungen, konstruktiver Umgang mit interkulturellen Konflikten (frei formuiert nach Leenen/Grosch 1998). Leenen/Grosch blenden dabei die Problematik von Machtasymmetrien und Stereotypen aus. Will man diese Aspekte berücksichtigen, so müsste man etwa folgende Stufen der Zielsetzung unterscheiden: 1. Offenheit, Kontaktbereitschaft, Bemühen um Verständnis, Ernstnehmen, Anerkennung des bzw. der Anderen, 2. Erkennen von Stereotypisierungstendenzen, Reflexion eigner Vorurteile, Aufmerksamkeit für rassistische Strukturen, 3. Einsicht in die Kulturgebundenheit menschlichen Verhaltens generell, Dezentrierung, Eingeständnis eigenen Befremdens, Umgang mit Angst, 4. Fähigkeit interkulturellen Verstehens und Kommunizierens im Bewusstsein um Machtasymmetrien, 5. Befähigung zum Dialog. Ein wichtiger Hinweis von Leenen/Grosch (1998) betrifft Lernwiderstände. Sie sind vermutlich umso wahrscheinlicher, je mehr die Lernenden sich von oben belehrt fühlen, je weniger ihre Erfahrungen mit den intendierten Botschaften übereinstimmen, je mehr sie aufgrund großer Unsicherheit eine Desorientierung befürchten, wenn sie sich auf das Neue einlassen, je mehr sie eigene Bedürfnisse, Interessen beeinträchtigt wähnen, d. h. je weniger Misstrauen abgebaut werden kann und auch je weniger sich die Lernenden von einer Einstellungs- und Verhaltensänderung eine Besserung ihrer Situation bzw. ein Mehr an Handlungsfähigkeit erwarten. Man sollte sich klarmachen, dass beim interkulturellen Lernen kein lineares Fortschreiten zu erwarten ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist aufschlussreich, was Rudolf Schmitt bei der Evaluation eines Projekts mit Grundschülern feststellte: „Was die Kinder kognitiv bereits eingesehen haben, sprachlich scheinbar sicher als Lösung vertreten, bricht bei der simulativen Inszenierung (im Rollenspiel, G. A.) wieder zusammen, wenn es mit dem emotionalen Bewertungshintergrund der Kinder nicht kongruent ist. Versteckte Ängste und Unsicherheiten kommen auf der ganzheitlichen Handlungsebene wieder zum Vorschein, obwohl sie – wenn man den verbalen Äußerungen der Kinder Glauben schenkt – schon überwunden scheinen“
ein Stufenmodell für interkulturelle Trainings
ein Alternativvorschlag
wichtiger Hinweis: Lernwiderstände
kein lineares Fortschreiten
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6. Konzepte interkultureller Bildung
ein Spiralmodell interkulturellen Lernens
entwicklungspsychologische Aspekte
soziale Perspektivenübernahme bei Kindern
(Schmitt 1979, S. 237). Der Verfasser schildert als Beispiel eine Episode, wo die Schüler die gemeinsam erarbeitete und verabredete Rollenspielvorlage (K. sucht gemeinsam mit Freunden seinen kleinen Bruder bei einer ausländischen Familie) im Spiel verlassen und unwillkürlich ihr Misstrauen gegenüber Ausländern zum Ausdruck bringen. Und für die interkulturelle Erwachsenenbildung stellt Horst Siebert fest: „In der Regel werden nicht alte Deutungen durch neue ersetzt. Allenfalls werden verfestigte Sichtweisen aufgelockert und durch neue Aspekte ergänzt. Oft existieren unterschiedliche Ansichten nebeneinander, konkurrieren miteinander, bis vielleicht irgendwann die neue Deutung Oberhand gewinnt und allmählich eine ,Umdeutung‘ stattfindet. Solche Umdeutungen können methodisch unterstützt werden …“ (1993, S. 345). Die in Untersuchungen über den Alltagsrassismus bei Jugendlichen festgestellte Widersprüchlichkeit der Bewusstseinslagen (Leiprecht 2001) kann man ähnlich interpretieren. Auch nach Gisela Führing (1996), die sich auf die Gestaltpädagogik stützt, ist bei der interkulturellen Bildung kein geradliniges Fortschreiten zu erwarten. Wenn Irritationen, die eigentlich die entscheidenden Lernimpulse darstellen, nicht produktiv werden, kann es zum Stillstand oder auch zum Abbruch kommen. Die Konsequenz daraus ist bei Führing ein Spiralmodell interkulturellen Lernens. Die entwicklungspsychologischen Möglichkeiten und Bedingungen interkultureller Bildung sind bislang noch kaum erforscht. Annahmen darüber stützen sich auf Theorien sozialer Entwicklung, wie sie vor allem im Anschluss an Jean Piagets Entwicklungsmodell formuliert worden sind. Nach dessen eigenen Untersuchungen zur Entwicklung des Regelverständnisses – unter anderem stellte Piaget fest, dass sich die Einsicht in die Konventionalität sozialer Regeln bei Kindern erst entwickeln muss – verdienen speziell die Forschungen zu Perspektivenübernahme und Perspektivenkoordination Beachtung (Robert L. Selman, William Damon 1989). Selman hat in Anknüpfung an das Entwicklungsmodell von Piaget ein Stufenmodell der sozialen Wahrnehmung entworfen, das er in seinen Untersuchungen empirisch bestätigt fand. Demnach verfügen manche Kinder noch nicht über die kognitive Struktur, um Menschen in einer anderen Lebenssituation mit anderen kulturellen Normen etc. zu verstehen. Nicht zu bestreiten ist, dass Kinder schon sehr früh fähig sind, sich emotional in einen anderen hineinzuversetzen, mit ihm mitzufühlen und spontan helfen wollen, aber gerade das kann Pädagog/inn/en zu falschen Schlussfolgerungen verleiten. Zu bedenken wäre, dass es Heranwachsenden nach Selman erst ab etwa 12 Jahren möglich ist, die Perspektive eines sozialen Systems und seiner Normen einzunehmen (Silbereisen 1995, S. 836). Was speziell interkulturelles Verständnis betrifft, so wird in pädagogischen Programmen möglicherweise oft überschätzt, was in der jeweiligen Altersstufe erreichbar ist. Einen weiteren Gesichtspunkt bringt Micha Brumlik unter Bezugnahme auf Selman und das Modell der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg ein: „Selbstschätzung, und das heißt respektvolle Toleranz für die Lebensformen anderer, setzt nicht nur die Fähigkeit zur wechselseitigen Perspektivenübernahme, sondern zudem das Vermögen voraus, das Miteinander oder Nebeneinander konfligierender Lebensformen von Individuen unter dem Gesichtspunkt eines allgemeinen sozialen Interesses wahrzunehmen“ (1992, S. 295). Aller-
6.3 Anti-Bias- und Diversity-Ansatz
dings ist die Entwicklungspsychologie Piagets und seiner Schule stark von einem individualistischen Weltbild geprägt, was Lew Wygotski früh kritisiert hat. So wendet sich Debbie Epstein (2000) unter Verweis auf Wygotski bei der Frage, wann Rassismus bei Kindern zum Thema gemacht werden kann, gegen die Annahme, dass Kinder im Vor- und Grundschulalter noch zu wenig zur Dezentrierung fähig seien. Es komme darauf an, wie Lehrer/ innen das meist tabuisierte Thema einbrächten. So viel scheint aber psychologisch gesichert, dass die emotionale Wertung, die ein wichtiges Element unserer Handlungssteuerung ist, der kognitiven Urteilsfähigkeit vorauseilt. Diese Erkenntnis spielt auch eine zentrale Rolle in den Untersuchungen von Henri Tajfel über die Einschätzung anderer ethnischer Gruppen im Kindesalter. Er geht davon aus, „dass Wertungen im allgemeinen merklich vor der Bildung regelrechter Begriffskategorien entstehen“ (zit. nach Schmitt 1979, S. 19), und dass deshalb andere ethnische Gruppen bereits bewertet werden, bevor sie intellektuell kategorisiert werden. Soziale Kategorisierungen und Eigengruppenpräferenz sind, psychologischen Untersuchungen zur kindlichen Vorurteilsbildung nach zu urteilen, schon ab dem dritten Lebensjahr zu verzeichnen. Allerdings spricht Frances Aboud (1988) vorsichtig von „prejudicelike attitudes“ bei Kindern im Alter von drei Jahren, Louise Derman-Sparks, die Begründerin des AntiBias-Ansatzes, von „pre-prejudice“. Zwischen drei und fünf, so ihr Urteil, fangen Kinder aber an, andere aus ethnischen Gründen (racial reasons) zurückzuweisen, und mit vier seien Geschlechterstereotype, ethnische Vorurteile und Scheu vor Behinderten so stark internalisiert, dass pädagogische Intervention geboten sei (nach Gramelt 2010, S. 103). Auch andere Pädagog/inn/en halten es für angebracht, die Kinder schon im Vorschulalter Erfahrungen machen zu lassen, die zum Nachdenken über soziale Kategorisierung veranlassen und für späteres interkulturelles Verstehen bedeutsam sind. Als Voraussetzung für einen besseren Umgang mit Fremdheit auch in späteren Lebensphasen werden von pädagogischer Seite Bindung und Vertrauen für wichtig gehalten. Im Grundschulalter ist die allgemeine Entwicklung sozialer Kognition und Kompetenz von Bedeutung. Wichtig ist die Thematisierung von Vorurteilen und Konflikten und auch die Förderung „normativer Flexibilität“ (Schmitt 1979), d. h. der Loslösung von starrer Normorientierung. Bedauerlicherweise wird in der Sekundarstufe interkulturelle Bildung viel weniger als pädagogische Aufgabe wahrgenommen als auf der Primarstufe, obwohl gerade dann die Entwicklungsvoraussetzungen für interkulturelles Lernen im engeren Sinn gegeben wären.
6.3 Anti-Bias- und Diversity-Ansatz Der Anti-Bias-Ansatz teilt mit dem Diversity-Ansatz die Erweiterung des Blickwinkels auf vielfältige Differenzlinien und die mit diesen verbundenen Vorurteile und Diskriminierungen. Der Blick ist auf die allen Differenzen bzw. Differenzkonstruktionen gemeinsamen sozialen Folgen gerichtet. Die Besonderheit kultureller Differenzen, wie sie vor allem in der Einwanderungsgesellschaft fallweise relevant werden, interessiert nicht. Im Folgenden
wichtig: Bindung und Vertrauen
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6. Konzepte interkultureller Bildung
Betzavta/ Miteinander
Cooperative Learning
werden neben beiden Ansätzen noch andere Konzepte berücksichtigt, deren Zielsetzungen für soziales Lernen generell gelten. Solche waren auch für die interkulturelle Erziehung längere Zeit maßgebend, nämlich Einfühlungsvermögen, Toleranz, Konfliktfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Solidarität. Interkulturelles Lernen war nur ein Sonderfall sozialen Lernens. Leitend war die Zuversicht, dass allgemeine soziale Kompetenzen auch in interkulturellen Situationen zum Tragen kommen. Diese Sichtweise ist auch für das nach wie vor aktuelle Programm „Betzavta/Miteinander“ grundlegend, das zentral auf eine demokratische Konfliktbearbeitung unter besonderer Beachtung von Minderheitenpositionen abzielt. Inhaltliche Impulse werden mit gruppendynamischen Übungen verbunden. Das Spezifikum ist die „Konflikt-Dilemma-Konflikt-Methode“, die auf der Annahme basiert, „dass wir das gleiche Recht einer anderen Person auf freie Entfaltung am ehesten dann akzeptieren, wenn wir deren Position als eine Alternative anerkennen, die unter anderen Umständen auch unsere eigene sein könnte. Die andere Person wird nicht mehr als ,Gegner‘ empfunden, sondern als eine Person, die ,eine andere Wahl getroffen hat‘. Damit geraten wir in ein inneres Dilemma: beide Positionen aus dem Konflikt werden als gleichwertig erlebt. Ist dieser Schritt getan, braucht es eine erneute Positionierung …“ (www.cap-lmu.de/akademie/praxisprogramme/betzavta, Zugriff im April 2012). Auf soziales Lernen generell setzt auch das „Cooperative Learning“, das der Verbesserung der „intergroup relations“ dienen soll. Zusätzlich hat Robert E. Slavin (1995) in seinen Evaluationsstudien eine Verbesserung der Schulleistungen nachgewiesen. Es handelt sich um ein spezielles Arrangement des Gruppenunterrichts. Und zwar werden heterogene Gruppen von in der Regel vier Schüler/inne/n gebildet. Die Gruppen oder Teams sollen heterogen nach Leistungsstand, Geschlecht und Ethnizität zusammengesetzt sein. Ein Name für jede Gruppe schafft Gruppenidentität. Slavin erläutert verschiedene Varianten des „Cooperative Learning“. Gemeinsam sind aber allen Varianten drei Prinzipien, die das Setting bestimmen (Slavin 1995, S. 5): (a) „team rewards“ – Die Leistung der Teams, nicht die der Einzelnen, wird in erster Linie belohnt und vor der Klasse hervorgehoben, wobei ein zielerreichendes Lernen zum Maßstab gemacht wird. (b) „individual accountability“ – Die Arbeitsergebnisse der einzelnen Teammitglieder, oft Testergebnisse, zählen für die Gruppe. Die Gruppenleistung wird nach Punkten berechnet. Dabei bemisst sich – denn entscheidend ist (c) „equal opportunity for success“ – die Einzelleistung am vorherigen Leistungsniveau des jeweiligen Schülers. Jede Verbesserung zählt also für das Team. Und das spornt die Mitglieder zu Kooperation und gegenseitiger Hilfe an. Slavin nennt unter Berufung auf Allport (1954) drei Elemente des Lernarrangements, die die Erwartung rechtfertigen, dass es zum Abbau von Vorurteilen führt: die Statusgleichheit der Gruppenmitglieder, zumindest in der Unterrichtssituation, die gemeinsamen Ziele und Interessen und die institutionelle Förderung des Kontakts durch die Lehrkraft. Daneben scheinen positive Effekte empirisch gesichert zu sein hinsichtlich Klassenzusammenhalt, Fähigkeit zur Kooperation und Perspektivenübernahme (Slavin 1995, S. 67) sowie hinsichtlich Selbstwert und Kontrollüberzeugung (locus of control) – Effekte, die
6.3 Anti-Bias- und Diversity-Ansatz
indirekt für die Ziele interkultureller Erziehung bedeutsam sind. Die Frage ist leider nur, ob dieses Verfahren, das doch sehr einer anderen Lernkultur verhaftet ist, übernehmbar ist. Deutsche Lehrer/innen dürften sich aufgrund ihrer pädagogischen Philosophie schwer tun mit der permanenten Bewertung nach Punkten. Und auch die vorgesehenen Zertifikate für ein „good team“, „great team“ oder „super team“ sind etwas ungewohnt. Es käme darauf an, Modifikationen für unsere Schulen zu erarbeiten. Bisher ist nur ein wissenschaftlich ausgewerteter Unterrichtsversuch mit „Cooperative Learning“ an deutschen Grundschulen durchgeführt worden (Avci-Werning 2004). Der Anti-Bias-Ansatz wurde zunächst für die frühkindliche Erziehung in den USA entwickelt und nach dem Ende der Apartheid für entsprechende Einrichtungen in Südafrika übernommen. In Deutschland wird das Programm in Kindertageseinrichtungen, aber auch in Schulen, Einrichtungen der offenen Jugendarbeit und in der Erwachsenenbildung umgesetzt. Oberstes Ziel ist ein vorurteilsbewusstes Verhalten, d. h. ein Verhalten, bei dem Geschlechterstereotype, ethnische Vorurteile und Vorurteile gegenüber Behinderten (handicappism) nicht mehr wirksam sind. Die Lernenden sollen die eigene Position innerhalb gesellschaftlicher Machtstrukturen reflektieren lernen und sensibel werden für Diskriminierung und Ungerechtigkeit, speziell für eine in sozialen Unterscheidungen begründete. Die davon Betroffenen sollen in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt werden. Ziel ist also auch deren Selbstermächtigung oder Empowerment (Gramelt 2010, S. 115). Großer Wert wird auf einen angemessenen institutionellen Rahmen für die pädagogische Arbeit gelegt. Dazu gehört in KiTas und Schulen die Kooperation mit den Eltern. Für wichtig erachtet wird die individuelle Zuwendung zu den Kindern. Um die gesellschaftlich üblichen Bewertungsmuster zu durchbrechen, sollen die Familiensprachen gewürdigt werden. Das Spielmaterial wird unter dem Bias-Aspekt kritisch geprüft. Werden bspw. nur weiße weibliche Puppen zum Spielen angeboten, so widerspricht das dem Ansatz. Ebenso wird, um die sozialen Hierarchien nicht in der Vorstellungswelt der Kinder zu verfestigen, eine plurale Elternrepräsentation für wichtig erachtet. Aus diesem Grund strebt man auch eine entsprechend gemischte Zusammensetzung des pädagogischen Personals an (Gramelt 2010, S. 140 f.). Ein großartiges Medium für die Arbeit in KiTas sind die in den USA erfundenen Persona Dolls. Das sind von den Erzieher/inne/n gestaltete Handpuppen, die mit einer persönlichen Geschichte und einem Namen eine Individualität erhalten und so den Kindern vorgestellt werden. Sie bieten die Möglichkeit, auch Differenzen einzuführen, die nicht in der Lerngruppe vertreten sind. Mit Hilfe der Puppen soll das Nachdenken über soziale Kategorien angestoßen und den Kindern zum Beispiel das Fremdheitsgefühl gegenüber Kindern anderer Hautfarbe oder mit einer Behinderung genommen werden. Von Derman-Sparks, der Begründerin des Ansatzes, wird bspw. eine Szene geschildert, wo ein Kind den Eric, eine Puppe mit einer körperlichen Behinderung, zunächst nicht berühren möchte, bis es mit Hilfe der anderen Kinder und der Erzieherin seine Scheu überwindet, wozu das Verständnis der Pädagogin für ihr Verschrecktsein entscheidend beiträgt. „He has feelings and ideas just like all of us, even if his leg is different“, so die Botschaft an die Kinder (zit. nach Gramelt 2010, S. 111).
der Anti-Bias-Ansatz
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6. Konzepte interkultureller Bildung
der Diversity-Ansatz
In der Jugendarbeit und der Erwachsenenbildung werden vielfältige Spiele und Übungen eingesetzt, die die Reflexion über das Selbst und die sozialen Ordnungsmuster fördern sollen. Zwei Beispiele: In der Übung „Familiennetze“ sollen Regeln, Rituale, dominante Urteilsmuster der eigenen Familie im Austausch mit den anderen Teilnehmenden herausgearbeitet werden, so dass dem einzelnen sowohl die Enge des eigenen Weltzugangs als auch die Vielfalt der Familienkulturen bewusst wird. Bei der Übung „Identitätsmolekül“ ordnen sich die Teilnehmenden Gruppen verschiedener Zugehörigkeitskriterien oder sozialen Rollen zu, um sich darüber klar zu werden, wie solche Zugehörigkeiten die Sicht auf die Welt beeinflussen. Bei einer anderen Übung wählen die Teilnehmenden aus einem Katalog von Persönlichkeitseigenschaften die für sie passend erscheinenden aus und kommen miteinander ins Gespräch darüber. Die Selbstreflexion, speziell über den biographischen Zugang, hat in dem Ansatz, wie man sieht, einen hohen Stellenwert, was die Schaffung eines vertrauensvollen Klimas voraussetzt. Positiv hervorzuheben ist die Zielformulierung „Vorurteilsbewusstheit“, weil man damit nicht der trügerischen Zuversicht erliegt, man könne Vorurteile ganz „abbauen“ oder „überwinden“. Lernen kann man vom Anti-Bias-Ansatz auch die starke Beachtung der institutionellen Rahmenbedingungen, wobei die Praxis dem insofern widerspricht, als das Programm teilweise von privaten Instituten angeboten wird, die auf die Verhältnisse in den KiTas etc. nur bedingt Einfluss nehmen können. Während der Anti-Bias-Ansatz diskriminierende soziale Unterscheidungen fokussiert, ist für den Diversity-Ansatz eher, wenn auch nicht ausschließlich das Motiv der Anerkennung von Vielfalt tragend. Nach Hormel/ Scherr wird hier die ganze Vielfalt von Differenzen als bedeutsam für individuelle und soziale Identitätskonstruktionen als Anlass für Konflikte und Diskriminierungen gesehen. Sie nennen: Sozialstatus, Sex/Gender, sexuelle Orientierung, Ethnizität/Nationalität, Alter, Sprache, Religion, psychische Gesundheit, Behinderung und Regionalität, wobei die Referenzen komplex seien und Relevanz jeweils von „situativen Erwartungsstrukturen“ abhänge (2004, S. 205). Intendiert wird die Anerkennung des Rechts auf eine selbstbestimmte individuelle Lebensführung im Kontext der heutigen Pluralisierung von Lebensentwürfen, aber auch der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und Ungleichheiten (ebd., S. 209 f.). Die „Einsicht in Prozesse der Konstruktion des ,Anderen‘“ (S. 216) teilt der Ansatz mit dem Anti-Bias-Ansatz. Dem entspricht auch die pädagogische Methodik. So ähneln bspw. die bei Hormel/Scherr (2004, S. 227 ff.) geschilderten Unterrichtsvorschläge den oben skizzierten Übungen. Ziel ist ebenso das Bewusstwerden der eigenen Sozialisation und Identitätsarbeit im Kontext sozialer Erwartungen und Zugehörigkeiten, in einem Unterrichtsvorschlag von einem Fragenkatalog angestoßen, den die Schüler/innen bearbeiten sollen. Ein anderer Vorschlag zielt auf die Irritation von Klischeevorstellungen über das andere Geschlecht oder über ethnische Gruppen ab. In einem dritten soll den Lernenden deutlich werden, welche Diskrepanz bei uns allen zwischen Anspruch und realem Handeln besteht, wenn wir mit nonkonformem Verhalten, Behinderung o. Ä. konfrontiert werden. Als eine frühe Annäherung an den Diversity-Ansatz kann für die deutschsprachige Diskussion die „Pädagogik der Vielfalt“ von Annedore Prengel
6.3 Anti-Bias- und Diversity-Ansatz
gelten (2. Aufl. 1995). Die Autorin, von der Arbeit mit Behinderten herkommend, aber auch am Diskurs der Feministischen Pädagogik beteiligt, ist bemüht, aus diesen beiden Diskursen, ergänzt um die Interkulturelle Pädagogik, ein neues Denken von Differenz und eine neue Art des Umgangs mit Differenzen zu begründen. Zentral geht es ihr darum, die traditionell mit Differenzen verquickten Rangordnungsvorstellungen aufzubrechen, einen „egalitären Differenzbegriff“ zu etablieren. Differenzen sollen nach ihr ernst genommen werden, aber ohne die üblichen abwertenden Konnotationen. Postuliert wird die „intersubjektive Anerkennung zwischen gleichberechtigt Verschiedenen“ (1995, S. 62). Grundlegend ist, anders als beim radikalen Sozialkonstruktivismus, die Annahme „der unhintergehbaren Eigenart differenter Lebensweisen und Wissens- und Denkformen“ (S. 49), die aber „kulturell bedingt und historisch veränderlich sind“ (S. 55). Das heißt, ebenso wie Vorstellungen vom „Wesen“ der Frau verworfen werden, so auch solche von fixen ethnischen Eigenheiten. Prengel wendet sich daher gegen „binäre Strukturen“ (wie männlich – weiblich, westlich – orientalisch, S. 181) und gegen die Suche nach einer angeblichen Authentizität (S. 183). Die „Pädagogik der Vielfalt“ hat zum Ziel: Selbstachtung und Anerkennung der Anderen, Neugier auf das Andere, die Erfahrung gegenseitigen Lernens, Aufmerksamkeit für „Übergänge“, für die Vielfalt der Differenzen und ihre Überschneidungen, auch für die sich kreuzenden Dominanzverhältnisse (z. B. Mädchen mit deutschem Pass – Jungen mit Ausländerstatus) und außerdem Sensibilität für gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen (S. 184 ff.). Dem Diversity-Ansatz verpflichtet waren auch die „interkulturellen Unterrichtsideen für Klasse 4 – 6“ aus dem Anne-Frank-Haus mit dem Titel „Das sind wir“, ein ursprünglich niederländisches Projekt. Als Material werden die Geschichten von sechs Kindern zugrunde gelegt, die für sie wichtige Erlebnisse erzählen. Ausgewählt wurden je drei Mädchen und Jungen mit unterschiedlicher Migrationsgeschichte. Im Fokus sind neben der sprachlichen und weltanschaulichen Vielfalt das Gemeinsame und das Individuelle. Sehr betont wird: „Keines der Kinder steht stellvertretend für eine bestimmte Gruppe“ (Lehrerhandbuch 1995, S. 12). An anderer Stelle wird allerdings auch als Ziel formuliert: „Sich gegenseitig als Individuen wahrnehmen, jedoch auch als Mitglieder unterschiedlicher und wechselnder Gruppen“ (S. 20). Damit sind die sich überschneidenden und wechselnden Differenzlinien angesprochen. Maßgebend sind die verschiedenen Erfahrungshintergründe (ebd.), nicht kulturelle Eigenheiten, obwohl auch die Bedeutung kultureller Symbole, zum Beispiel beim Thema Namensgebung, teilweise Thema ist. Zentral ist die Individualisierung, besonders für das unter demselben Titel angebotene „interkulturelle Lernprojekt für Jugendliche“. Zusammenfassung und Bewertung: Anti-Bias- und Diversity-Ansatz haben vor allem die Verankerung der Hierarchien in unserer gesellschaftlichen Vorstellungswelt im Visier. Die Normalitätskonstruktionen in den Köpfen sollen aufgebrochen werden. Die Verhältnisse aber, die die Vorstellungswelt stützen, werden nur en passent zur Sprache gebracht. Soziale Ungleichheit aufgrund von Einkommen, prekärer Arbeit etc. wird zwar er-
die „Pädagogik der Vielfalt“ von A. Prengel
Unterrichtsideen nach dem Diversity-Ansatz
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6. Konzepte interkultureller Bildung
wähnt, aber nicht groß zum Thema gemacht. Man hat den Eindruck, dass die Konzepte nicht ganz frei von einem Mittelschichtbias sind. Aber die schöne neue Welt, in der man seinen Lebensstil frei wählt, ist manchen Gruppen wegen der Intersektion von Ethnie und Klassenlage verschlossen. Fraglich ist zum Beispiel, ob die Differenzerfahrungen als Frau und als Migrant gleich oder auch nur einander ähnlich sind. Ebenso wird die Eingebundenheit vieler Individuen in kulturelle Überlieferungen übersehen, wenn, so bspw. Hormel/Scherr (2004), Differenzen nicht als „Folge“ von Kulturen gesehen werden sollen (S. 205). Beachtung verdient der Grundsatz, „jedes Kind und jeden Jugendlichen selbst bestimmen zu lassen, welche Anteile aus welchem kulturellen und sonstigen Hintergrund er oder sie für sich in welcher Lebenssituation als bedeutsam erkennt und auswählt“ (Anne-Frank-Haus, S. 9). Überhaupt ist der Stellenwert der Selbstreflexion und -positionierung in diesen Ansätzen für die pädagogische Arbeit bedeutsam. Und zweifellos gilt es zu lernen, dass es trotz oder ungeachtet der Gruppenzugehörigkeit Individualität gibt, dass zu einer Gruppe verschiedene Individuen gehören und dass jedes Individuum verschiedenen Kategorien zugeordnet werden kann, und schließlich auch, dass es bei aller Differenz übergreifende Gemeinsamkeiten, zum Beispiel als Jugendliche, gibt (sog. „Rekategorisierung“). Festzuhalten ist zugleich mit Prengel: „Wertschätzung von Individualität und kollektiver Zugehörigkeit (stehen) nicht im Widerspruch“ (S. 182). Zur Übernahme zu empfehlen ist die Methodik der beiden Ansätze mit Übungen, die die Lernenden persönlich herausfordern. Warum die Anwendung im schulischen Rahmen begrenzt ist, wurde schon in 6.1 erläutert.
6.4 Umgang mit kulturellen Differenzen
kulturelle Differenzen im pädagogischen Alltag
In der pädagogischen Alltagspraxis ist die Tendenz verbreitet, entweder kulturelle Differenzen zu bestreiten oder aber festzuschreiben. Die Leugnung kultureller Differenz mag sich sogar dem Umstand verdanken, dass viele sich kulturelle Eigenheiten nur als feste, dauerhafte Eigenschaften vorstellen können. So haben Feil/Schönhammer (1983) in einer Befragung von Erzieherinnen festgestellt, dass einerseits beteuert wurde, „man könne überhaupt keine Besonderheiten der ausländischen Kinder gegenüber den deutschen feststellen“ (S. 94). Andererseits war fast in allen Interviews von der „Mentalität“ der Migrantenkinder die Rede. Dass bei Lehrern innerhalb einer universalistischen Schul-Philosophy unversehens die Rede auf Mentalitätsunterschiede kommen kann, ist in dem Untersuchungsbericht von Auernheimer u. a. (1996) nachlesbar. Auch bei Befragten aus der Jugendarbeit war einerseits das „Normalisierungsmuster“ verbreitet, andererseits wurden Statements abgegeben wie: „Das ist ein Italiener und bleibt ein Italiener und das müssen wir akzeptieren“ (Ester/Hamburger 1991, S. 110). Solche Untersuchungsergebnisse beleuchten die Notwendigkeit, dass Pädagog/inn/en ihr Verhältnis zur kulturellen Differenz klären. Der Begriff der interkulturellen Erziehung wie des interkulturellen Lernens impliziert eigentlich die Unterstellung kultureller Differenzen. Aber dies ist, wie gezeigt, nur bedingt Konsens.
6.4 Umgang mit kulturellen Differenzen
Wenn der Unterschied beunruhigt und der Rassismus sich diese Beunruhigung zunutze macht, wie Memmi meint, so wäre es, möchte man meinen, kontraproduktiv, Unterschiede zu leugnen und möglichst unsichtbar zu machen, so groß und verständlich die Neigung dazu auch sein mag, weil man befürchtet, durch die Thematisierung von Unterschieden würde Fremdenfeindlichkeit begünstigt. Da der Unterschied nach Memmi „der Angelpunkt der rassistischen Denk- und Handlungsweise ist“ (S. 48), deshalb ist für ihn der Umgang mit kulturellen Unterschieden eine besonders diffizile und erörterungswürdige Angelegenheit. Er findet die Verherrlichung der Unterschiede ähnlich bedenklich wie deren Leugnung, wie sie ihm beispielsweise bei französischen Intellektuellen, in „den großherzigen, aber blinden Klischees republikanischer Schule“ begegnet ist. Gordon W. Allport (1954) hat als Vertreter der sog. Kontakthypothese in seinem Werk über die Natur des Vorurteils die Zuversicht geteilt, dass das Zusammensein und vor allem die Zusammenarbeit zu Annäherungen und zur Entdeckung von Gemeinsamkeiten führen. Die Scheu vor direkter Konfrontation mit Differenzen, die auch er registriert, kommentiert er verständnisvoll: „Why sharpen in the child’s mind a sense of conflict?“ (S. 487) Er wendet aber doch ein: „… he (the child) may still be perplexed by visible differences in skin color, by the recurrent Jewish holidays, by religious diversity. His education is incomplete unless he understands these matters“ (ebd.). Seine Schlussfolgerung: „Some degree of directness would seem to be required. And with older students there may be even greater value in a direct approach …“ (ebd.), d. h. einer direkten Thematisierung von Differenz. Der jeweilige Standpunkt in der Frage hängt von den jeweiligen Weltbildern bzw. theoretischen Orientierungen ab. Kurz sei an das Spektrum von Positionen erinnert: Es reicht von der Annahme der Belanglosigkeit kultureller Unterschiede über deren starke Relativierung im Rahmen eines pluralistischen Ansatzes (Geschlecht, Ethnie, sexuelle Orientierung etc.) und über konstruktivistische Positionen bis zur anthropologisch begründeten Annahme einer unübersehbaren kulturellen Einbindung. Wir haben argumentiert, dass die Menschen mit Hilfe ihres kulturellen Repertoires Handlungsfähigkeit erwerben, und dass die kulturellen Ressourcen für die Identitätsarbeit relevant sind, was nicht nur, aber besonders für Minderheitenangehörige Bedeutung hat. In der Einwanderungsgesellschaft sind gewisse kulturelle Differenzen gleichbedeutend mit ethnischen Differenzen, weil jene zur Grenzziehung von „innen“ wie von „außen“ dienen. Bikulturelle Orientierungen sind damit keineswegs ausgeschlossen. Im pädagogischen Konzept von Wolfgang Nieke (2000, 1. Aufl. 1995) finden kulturelle oder „ethnische“ Differenzen eine große Beachtung (siehe Kap. 2.2). Seine Hauptintentionen kann man vermutlich als „aufgeklärten Ethnozentrismus“ und Befähigung zum Dialog über Wertekonflikte kennzeichnen. Nieke geht von „der Unvermeidlichkeit des Eingebundenseins in die Denk- und Wertgrundlagen der eigenen Lebenswelt“ (S. 205) aus und hält ein Bewusstsein davon für das erste Ziel interkultureller Bildung. Jenes starke Eingebundensein macht auch die Reaktion der Befremdung, zum Teil der Angst bei der Konfrontation mit anderen Lebenswelten verständlich, weshalb das „Umgehen mit Befremdung“ für Nieke das zweite Ziel ist. Die Bearbeitung der Gefühle soll zum Beispiel die Verwandlung von Angst in
Argumente für die Thematisierung der Differenz
das Konzept von W. Nieke
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6. Konzepte interkultureller Bildung
der Ansatz von A. Holzbrecher
Dimensionen interkultureller Wahrnehmung
Neugier ermöglichen. Darauf aufbauend scheint die „Grundlegung von Toleranz“ gegenüber anderen Wertüberzeugungen und Lebensformen möglich, die eigene Gewissheiten in Frage stellen. Eine Steigerung ist „das Akzeptieren von Ethnizität“. Nach Nieke geht es um die Akzeptanz „der Präsentation vor allem (aber nicht nur) kulturell bedingter Andersartigkeiten durch Angehörige ethnischer Minoritäten“ (S. 207), was er an Konsequenzen für das Schulcurriculum erläutert. – Soweit die ersten vier (von insgesamt zehn) Zielformulierungen, die für die Überlegungen dieses Kapitels relevant sind. Ihren Vorzug kann man in der Anerkennung der Kulturgebundenheit und vor allem im Ernstnehmen des Befremdens sehen, das Nieke nicht als Regression oder quasi pathogene Erscheinung abtut. Er gerät jedoch in bedenkliche Nähe zu Auffassungen, nach denen die Menschen Gefangene ihrer Kultur sind, wie verschiedene Formulierungen nahelegen (z. B. S. 68). Den gefährlichen Implikationen, die der eigenen Intention widersprechen würden, versucht Nieke zu begegnen, indem er die Betonung von Gemeinsamkeiten, die „Ermunterung zur Solidarität“ und die Entwicklung einer globalen „Wir-Identität“ propagiert, wobei er allerdings mit eigenen Einwänden nicht spart. Die Bearbeitung kulturell bedingter Wertdifferenzen, das zweite zentrale Thema bei Nieke, soll in Kap. 6.5 behandelt werden. Bei der „Didaktik interkulturellen Lernens“ von Alfred Holzbrecher (1997) steht die „Wahrnehmung des Anderen“ im Zentrum. Die Gefahr der Verdinglichung des Anderen vermeidet er durch die Bezugnahme auf konstruktivistische Positionen. Fremdheit, als Beziehungsmodus gefasst, ist für Holzbrecher nur als eigene Fremdheit und als Teil des eigenen Weltbilds adäquat zu begreifen. Der Zwischenraum zwischen dem Lernenden und dem Fremden wird daher zum Gegenstand der pädagogischen Bearbeitung (S. 171). „Das Andere“ kann für Holzbrecher vier Bedeutungen annehmen: als „der“ Fremde, als fremdes Medium (Literatur, Musik etc.), als das „Andere der Vernunft“ (vgl. Foucault) oder als das Andere der eigenen Vergangenheit, biographisch wie historisch. Zu den zentralen Lernzielen rechnet er „die Fähigkeit zur Reflexion gegenseitiger Erwartungen, Zuschreibungen und unterschiedlicher Deutungen“ (S. 215), „das Vermögen, mit Unbestimmtheit, Differenz und mit einer Vielfalt von Möglichkeiten kommunikativ umzugehen“ (S. 217) und vor allem „die Fähigkeit, die eigene Wahrnehmung als biographisch wie auch historisch-gesellschaftlich bedingt zu verstehen“ (S. 225). Von dieser letzten Intention ist der größte Teil der Ausführungen von Holzbrecher geleitet. Er unterscheidet vier „Dimensionen interkultureller Wahrnehmung“: die politisch-ökonomische, die kultur- und psychohistorische, die ethnopsychoanalytische und die kommunikationspsychologische Dimension, zu denen er jeweils didaktische Leitfragen formuliert (S. 174 ff.). Damit werden neben den Fremdbildern Machtasymmetrien und Kollektiverfahrungen in ihrer Bedeutung für die „Wahrnehmung des Anderen“ herausgearbeitet. Das sei an einer der Leitfragen exemplarisch verdeutlicht. Holzbrecher fragt unter anderem: „Inwiefern bedingte der Prozess der ökonomischen und politischen Kolonisierung fremder Territorien die Herausbildung einer spezifischen Form der Wahrnehmung und des Erkennens – und damit auch die (kollektive) Konstruktion des Bildes vom Fremden“ (S. 184). Methodisch favorisiert Holzbrecher, von Gestalt-
6.4 Umgang mit kulturellen Differenzen
psychologie und -pädagogik beeinflusst, Interaktionsspiele und -übungen, die Selbst- und Fremdwahrnehmung schärfen sollen. Fantasiegeschichten sollen helfen, das fremdgewordene Eigene, also das Unheimliche in uns selbst, zu entdecken. Daneben schlägt er aber als Medien auch Literatur, speziell Reiseliteratur oder historische Bilder und Texte vor (vgl. Holzbrecher 2011). Das systemische Verständnis von (interkulturellen) Beziehungen wird deutlich in der Zielformulierung, „sich auch als – zunehmend aktives – Element des ,Ganzen‘ zu verstehen“ (S. 224). Holzbrechers Ausführungen lassen besonders klar hervortreten, dass Fremdbilder selbst Bestandteile der Kultur sind. Unterschiedliche Kulturmuster sind bei ihm kaum Thema. Die Befremdung wird von Holzbrecher ähnlich ernst genommen wie von Nieke, obwohl er Fremdheit anders begründet. Abschließende Überlegungen: Aus zwei Gründen verdienen kulturelle Differenzen fallweise in ihrer Besonderheit Beachtung, wenn auch prinzipiell nicht ohne den Bezug auf andere Differenzen. Erstens ist das Befremden über andere Normvorstellungen und kulturelle Praktiken zu bearbeiten. Zweitens sind die persönlich bedeutsamen Symbole, Rituale etc. gemäß dem Postulat der Anerkennung zu würdigen. Dabei kann sich im Einzelfall herausstellen, dass es sich um eine sehr individuelle, eigenwillige Aneignung einer Kultur handelt. Aus diesem Grund und wegen der Intersektion von identitätsrelevanten Zuordnungen ist „reflexive Interkulturalität“ (Hamburger) gefordert. Da das Selbstverständnis des Anderen verfehlt werden kann, ist das Bemühen um Anerkennung nicht ohne Spannung, und zwar auch deshalb, weil sich die Subjekte bei der Wahl identitätsrelevanter Symbole und Praktiken stets auch mit der herrschenden Zugehörigkeitsordnung auseinandersetzen (vgl. Mecheril 2005). Neben Identitäten und Lebensstilen, die eine Bricolage aus verschiedenen Kulturen, darunter auch erfundenen Traditionen, darstellen, begegnet man aufgrund der anhaltenden Zuwanderung (besonders von Flüchtlingen) aber auch originär fremden Kulturmustern. So bringen bspw. Seiteneinsteiger an Schulen einen fremden kulturellen Habitus mit. Der Pädagoge muss für mögliche Differenzen sensibel sein, darf aber nicht Differenzen suggerieren. Das Bemühen um das Verständnis des Fremden sollte sich mit der Respektierung der Verstehensgrenzen verbinden. Pädagogische Institutionen, besonders auch Schulen, müssen sich als Orte verstehen, in denen Heranwachsende – anders als sonst in der Gesellschaft, außer in peergroups – Identitätsentwürfe unbefangen präsentieren und erproben können, in denen speziell Minderheitenangehörige ohne Anpassungsdruck seitens der Mehrheitsgesellschaft, aber auch seitens ihrer Herkunftsgruppe bestimmen können, wer oder was sie sein wollen und wie sie gesehen werden wollen. Das impliziert, dass je nach Situation gerade auch beim Aufgreifen kultureller Differenzen für Stigmatisierungen, auch in versteckter Form, sensibilisiert wird. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass Lehrer/innen ein Gespür für Irritationen (z. B. wegen Kopftuch tragender Mitschülerinnen) in der Klasse entwickeln und sich vor allem ihr eigenes Befremden eingestehen, was keineswegs selbstverständlich ist (Auernheimer u. a. 2001b, Bender-Szymanski 2001). Das Gleiche gilt für die außerschulische Bildungsarbeit. Für den Umgang mit kulturellen Differenzen ist Metakommunikation
Gründe für die Beachtung kultureller Differenzen
Schulen als Ort unbefangener Identitätsentwürfe
Eingeständnis von Befremden wichtig
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6. Konzepte interkultureller Bildung
Gelegenheiten zur Metakommunikation
wünschenswert. Deshalb sollten pädagogische Institutionen Gelegenheiten dafür bieten. Da die Schule sich hier im Hinblick auf die knappe Zeit besonders schwer tut, sind Schulen gut beraten, wenn sie solche Gelegenheiten institutionalisieren, zum Beispiel in Form von regelmäßigen Gesprächskreisen, wie sie aus der Reformpädagogik bekannt sind. Interkulturelles Lernen findet – auch in Schulen – vielfach, vielleicht sogar vorwiegend im pädagogischen Alltag statt, indem die Pädagog/inn/en positive Modelle abgeben und interkulturelle Situationen mit den Lernenden reflektieren. Man kann die Befähigung zum Umgang mit kulturellen Differenzen als den Erwerb von interkultureller Kompetenz verstehen. Unter dieser Perspektive ist an das in Kapitel 5.2 entwickelte Konzept zu erinnern, speziell daran, dass die Differenz der kulturellen Muster in der Regel nur in Verbindung mit Machtasymmetrie und Stereotypenbildung problematisch wird. Kurz gefasst, kann man das pädagogische Ziel als eine dominanz- und differenzsensible Haltung bezeichnen.
6.5 Befähigung zum interkulturellen Dialog
Thema des Dialogs: umstrittene Geltungsansprüche
Kulturrelativismus
Kompetenter Umgang mit kulturellen Differenzen verlangt zum einen die Bearbeitung von Irritationen und von Verstehensproblemen – dies war der Fokus des vorausgegangenen Kapitels –, zum anderen aber auch den Dialog über umstrittene Geltungsansprüche von religiösen Werten, Geschlechterrollen etc. Was macht zum Beispiel Männlichkeit aus? Unter Umständen müssen auch die Kommunikationsmuster selbst zum Thema eines Dialogs werden. Ist die bei uns üblich gewordene direkte, konfrontative Art, Kritik zu äußern, für alle akzeptabel? Die Befähigung zum interkulturellen Dialog lässt sich als eigene Aufgabe formulieren. Relevant ist diese Fähigkeit genauso für den pädagogischen Alltag wie für den Bereich der „großen Politik“, wo die Menschenrechtsproblematik das meist genannte Exempel bietet. Daran schließt sich übrigens meist die Frage der kulturell bedingten Relativität von Werten und Normen an. Der Wille zum interkulturellen Dialog wirft in der Tat die Frage der Relativität und Universalität oder besser der kulturellen Kontextualität und Universalisierbarkeit von Werten und Normen auf. In den ersten Konzepten interkultureller Erziehung in den 1980er Jahren war die Tendenz zum Kulturrelativismus zu beobachten. Beispielhaft dafür mag folgendes Zitat stehen: „Interkulturelle Erziehung anerkennt die These vom kulturellen Relativismus und Pluralismus, sie akzeptiert die Andersartigkeit im Denken und Handeln von Menschen aus fremden Kulturen“ (Sandfuchs 1986, S. 1150 f.). Zwar fanden sich keine radikalen kulturrelativistischen Positionen, weil sie sich angesichts der pädagogischen Aufgabe, die Heranwachsenden für das Leben heute und morgen zu qualifizieren, gar nicht aufrechterhalten lassen. Aber das Problem des Kulturrelativismus wurde längere Zeit kaum diskutiert. Kulturrelativismus, umgangssprachlich: Jede Kultur hat eben ihre eigenen Traditionen und Bräuche. Es macht keinen Sinn, darüber zu streiten. Wissenschaftlich: Kulturen sind je spezifische Systeme der Daseinsvorsorge und sozialen Kontrolle und haben ihre Eigenlogik.
6.5 Befähigung zum interkulturellen Dialog
Einige Autoren setzten dem einen nicht weniger fragwürdigen Universalismus entgegen, der in dem Postulat gipfelte, die Befangenheit in den Kulturen müsse überwunden werden, um dem Vernunftprinzip Geltung zu verschaffen. Die Kontroverse um Kulturrelativismus und -universalismus wurde zunächst nur von Vertretern der Dritte-Welt-Pädagogik aufgegriffen. Ihrer pädagogischen Bedeutung entsprechend gewürdigt wurden diese Fragen erst von Wolfgang Nieke in seinem Buch über „Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag“ (2000/1995). Er diskutiert dort ausführlich verschiedene Varianten des Umgangs mit der Problematik und mögliche Wege aus dem Kulturrelativismus. Er greift abschließend die Diskursethik als mögliche Problemlösung auf (s. Kap. 3.1), allerdings verbunden mit dem skeptischen Einwand, dass auch diese Form von Metakommunikation kulturspezifisch, nämlich eurozentrisch sein könnte. Pädagogisch praktisch von Interesse ist Niekes Vorschlag „virtueller Diskurse“. Er hat dabei primär die Lösung von Wertkonflikten im Blick, die sich auf institutioneller Ebene zum Beispiel für eine Schule ergeben können. Denn er empfiehlt, dass Experten versuchen könnten, „die wertenden Grundannahmen bestimmter Wertorientierungen argumentativ zu entfalten“ (2011, S. 62), dass jedenfalls Diskursteilnehmer herangezogen werden, denen „eine kompetente, anwaltschaftliche Vertretung zugetraut wird“ (ebd.). Er denkt dabei, so ist zu vermuten, bpsw. an die Vertretung von Eltern, die mit dem Diskurs sprachlich überfordert wären (ebd.). Es wäre aber auch sehr gut denkbar, das vorgeschlagene „Modell der stellvertretenden Deutung“ (ebd.) als pädagogische Methode einzusetzen, um über ein besseres gegenseitiges Verständnis zu einer Konfliktlösung oder zumindest zu einer Annäherung zu kommen. Ein solches Konzept würde der „Konflikt-Dilemma-Konflikt-Methode“ ähneln (siehe Kap. 6.3). Unter der Prämisse „Faires Argumentieren will gelernt sein“ hat BenderSzymanski (2010) ein ebenfalls anregendes pädagogisches Konzept entwickelt. Sie ließ Studierende exemplarisch mit einem Planspiel und der Analyse von Presseartikeln (Beispiel: der Streit über ein islamisches Kulturzentrum) Regelverletzungen fairen Argumentierens entdecken. Sie orientiert sich dabei am Konzept der „Argumentationsintegrität“ nach Groeben u. a. (1993). Gefordert sind wie bei der Diskursethik Aufrichtigkeit des Stellungnehmens, ein Argumentieren, das der Gegenseite gerecht wird, und gleiche Argumentationschancen für alle. Ein Grundprinzip der Diskursethik wird auch in einem aufschlussreichen politischen Dokument vertreten, nämlich in dem „Manifest für den Dialog der Kulturen“, das auf Initiative des damaligen UN-Generalsekretärs von einer „Group of Eminent Persons“ verfasst und 2001 publiziert worden ist. Die international und interkulturell zusammengesetzte Gruppe hat darin folgende Dialogregeln formuliert: „unsere Bereitschaft, Urteile zurückzustellen, unsere eigenen Grundannahmen kritisch zu überprüfen, das Gesagte zu würdigen, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen, an den wichtigen Punkten weiter nachzufragen und über die Bedeutung des Gesprächs nachzudenken“ (S. 95). Für entscheidend erachtet die Gruppe das „equal footing“: „Die Minimaldefinition von Gleichstellung (equal footing) scheint eine Situation zu sein, in der jede Stimme gehört werden kann und Gelegenheit, Mittel und Rahmenbedingungen bekommt, auch tatsächlich gehört
Kontroverse
Virtuelle Diskurse als pädagogische Methode
Manifest für den Dialog Dialogregeln
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6. Konzepte interkultureller Bildung
aktuelle Voraussetzungen für den Dialog
die Frage der Menschenrechte
zu werden; die Maximaldefiniton ist wohl die der gleich großen Partizipation“ (S. 120). Als wichtige Leitideen für den Dialog werden genannt: „die Anerkennung der Identitäten der jeweils anderen“ einerseits, „die Akzeptanz einer gemeinsamen Zugehörigkeit“ andererseits (Manifest 2001, S. 45) sowie die „Reichhaltigkeit und Vielfalt der spirituellen Ressourcen“ aus den verschiedenen kulturellen Traditionen (S. 52). Die Mitglieder meinen darüber hinaus eine „Goldene Regel“ der Moral ausmachen zu können, die „buchstäblich von allen großen ethischen und religiösen Traditionen anerkannt“ werde, nämlich die Regel der Gegenseitigkeit (Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu! S. 80). Betont wird die Vielfalt der Moderne (S. 58 ff.). Denn die Formen der Verwirklichung von demokratischer Verfassung, Zivilgesellschaft und Marktwirtschaft seien kulturell unterschiedlich. Erörtert werden ungünstige und günstige Voraussetzungen für den interkulturellen Dialog: einerseits die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm, der Eindruck bedrohter kultureller Identität, andererseits die zunehmende gegenseitige Abhängigkeit, zum Beispiel bei der Umweltproblematik, das wachsende Bewusstsein von einer Weltgemeinschaft und die – trotz der Hegemonialmacht – zunehmende Streuung der Macht (S. 140). Um den Dialog zu ermöglichen, müssten wir „lernen, fremden Stimmen zu lauschen, uns für die Vielfalt der Perspektiven zu öffnen, über unsere eigenen Prämissen nachzudenken, Ansichten auszutauschen, stillschweigende Übereinstimmungen zu entdecken … (S. 69). Ein inhaltlicher Prüfstein für die Möglichkeit interkultureller Verständigung ist die Frage der Menschenrechte. Diese werden häufig als exklusives „abendländisches“ Erbe und als in der heutigen Fassung mehr oder weniger abgeschlossen betrachtet. Diese Sichtweise schließt aus, dass man in außereuropäischen Traditionen Begründungskontexte oder Anschlussmöglichkeiten für Menschenrechte auffinden könnte. Es bleibt nur die Möglichkeit, anderen Gesellschaften diese Normen aufzuoktroyieren. Der Tatsache, dass die Mehrheit der Staaten die großen Menschenrechtskonventionen (von 1948 u. 1966) unterzeichnet hat, mag mancher als bloßer Formalität misstrauen. Es kommt also zunächst auf die historische Rekonstruktion ihrer Einführung an. Für Bielefeldt (1998) ist das Eingeständnis wichtig, dass Menschenrechte nicht von Anfang an und selbstverständlich Bestandteil der abendländischen Kultur sind. Er wendet sich gegen eine weit verbreitete Geschichtsauffassung, die man als teleologisch charakterisieren kann, weil unterstellt wird, dass schon in der europäischen Antike die Entwicklung angelegt gewesen sei, die später, weiter gefördert durch das Christentum (Kindschaft Gottes), am Beginn der Neuzeit zur Formulierung der Menschenrechte geführt hat. Damit wird suggeriert, die Menschenrechte seien dem „abendländischen“ Denken eigen, sie gehörten zu seinem „Wesen“. Der interkulturelle Dialog wird damit von vornherein verbaut; denn den Gesellschaften mit anderer kultureller Tradition bleibt dann nur die Übernahme der Menschenrechte, wie sie im Zug der europäischen Aufklärung propagiert worden sind. Das lässt vergessen, dass die Menschenrechte in handfesten sozialen und politischen Auseinandersetzungen entwickelt worden sind, wobei sich die Akteure zur Begründung und Rechtfertigung auf die Antike und das Christentum beriefen. Der Vorsprung Europas liegt vermutlich in den historisch spezifischen gesellschaftlichen Strukturen und den
6.5 Befähigung zum interkulturellen Dialog
darin angelegten Widersprüchen begründet. Nach Bielefeldt (1998) haben gerade die „Krisen der Moderne“ den Menschenrechten zum Durchbruch verholfen. Die religiösen und philosophischen Traditionen mögen dabei hilfreich gewesen sein. Entscheidend ist aber erstens die Einsicht, dass sich die für die heutige und künftige Weltgesellschaft erforderlichen universellen Rechtsgrundsätze auch aus anderen Traditionen heraus begründen lassen (vgl. Bielefeldt 1998). Es geht also um die Universalisierbarkeit von überlieferten Rechts- und Moralvorstellungen. Zweitens ist die Einsicht wichtig, dass die heutige Fassung der Menschenrechte nicht abgeschlossen und endgültig ist. Diese müssen auf der Basis weiterer Erfahrungen und der verschiedenen Traditionen im interkulturellen Dialog weiterentwickelt und fortgeschrieben werden. Zu erinnern ist hier an die Vielfalt der spirituellen Ressourcen (Manifest 2001). Bielefeldt stellt in Frage, dass Menschenrechte an den spezifisch westlichen Rationalismus gebunden seien und Ausdruck eines individualistischen Menschenbildes sein müssten. Die Fähigkeit zum Dialog ist aber nicht nur bei den „großen“ Themen wie der Frage der Menschenrechte gefordert, sondern auch im (pädagogischen) Alltag, wenn es zum Beispiel um die Teilnahme an gemeinsam geplanten Veranstaltungen der Schulklasse oder Jugendgruppe geht oder um Geschlechterrollen. Ebenso falsch wie der Fanatismus der zivilisatorischen Mission, nicht selten unter Pädagogen, ist dabei der resignative Verweis auf „fremde Sitten“, eher Zeichen von Indifferenz als von Toleranz. Die Einsicht in die soziale Funktionalität von Kulturmustern kann zu einem anderen Verhältnis dazu verhelfen. Die Annahme der Funktionalität von Kultur als sozialem Orientierungssystem begründet auch die Notwendigkeit von Änderungen. Es kommt hinzu, dass tradierte Ordnungen gerade im veränderten Kontext oft unterdrückerischen Charakter annehmen. So mag die patriarchalische Ordnung für die traditionelle bäuerliche Wirtschaft, in der die Existenz des Hofes auf dem Spiel stand, wenn der Eigenbedarf nicht gedeckt werden konnte, funktional gewesen sein. Die Hierarchien waren aber innerhalb der sozialen Kontrolle der Dorfgemeinschaft – anders als in der isolierten Kleinfamilie – klar geregelt und begrenzt. Ähnliches gilt für den Ehrbegriff. Man muss also nicht alles akzeptieren, nur weil dies halt „fremde Sitten“ seien, vor allem dann nicht, wenn die Interessen Dritter oder das Eigeninteresse des Gesprächspartners gefährdet scheinen. Entscheidend ist die oben skizzierte selbstkritische, dialogische Grundhaltung. Kiesel/Volz (2002) plädieren für die Anerkennung von Partikularitäten oder Gruppenidentitäten bei gleichzeitiger Achtung der Würde des Menschen, also des Individuums, indem sie in Anlehnung an Habermas eine „ethische“ und eine „moralische“ Anerkennung unterscheiden. Im Anschluss an das „Manifest für den Dialog der Kulturen“ und die Diskursethik, zum Teil ergänzend dazu, lassen sich Handlungsempfehlungen für interkulturelle Dialoge formulieren. Empfehlungen für den interkulturellen Dialog: – Keine Verteidigungshaltung und keine missionarische Haltung einnehmen! Misstrauen ablegen (Bohm 1998)! – Person und „Sache“ trennen! Das heißt, die Achtung des Gesprächs-
Menschenrechte kein exklusives Erbe
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6. Konzepte interkultureller Bildung
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Erläuterungen zu den Empfehlungen
partners nicht von der Bewertung des fremden Normensystems oder Weltbilds abhängig machen! Keine falschen Wertmaßstäbe anlegen! Nicht die Ideale der eigenen Kultur mit der befremdlichen sozialen Realität der anderen vergleichen! Keine Glaubenskriege führen, sondern Lösungen für die jeweilige Situation, den jeweiligen Lebensbereich suchen! Eventuell einen dritten Weg beschreiten! Erfahrungen von Diskriminierung in Rechnung stellen! Die (frühere) Funktionalität vieler tradierter Muster für die gesellschaftliche Reproduktion berücksichtigen! Den Kampf um kulturelle Identität anerkennen, aber Individualrechte verteidigen!
Erläuterungen dazu: Was die missionarische Haltung angeht, sollten wir uns im Kampf für Humanität und Menschenrechte als Europäer an die Kolonialgeschichte und als Deutsche an die jüngste deutsche Geschichte erinnern. Dann dürften unsere Urteile über „die anderen“ milder ausfallen. Unsere Vergangenheit legt Nachsicht nahe, so gewiss sie uns auch besonders verpflichtet. Andere nicht mit ihrer Kultur bzw. unserer Vorstellung davon zu identifizieren, ist schon deshalb angebracht, weil Kulturen individuell sehr unterschiedlich gelebt werden können. Bhikhu Parekh, selbst Angehöriger der Minderheit vom indischen Subkontinent und Erziehungswissenschaftler, insistiert darauf, dass vor allem Pädagog/inn/en die Bewertung einer fremden Kultur nicht mit der Bewertung der Kulturangehörigen verquicken dürften (Parekh 1986). Wir alle sind in der Gefahr, unsere Ideale mit der fremden Realität zu vergleichen statt Realität mit Realität. Ein eklatantes Beispiel dafür ist die Rolle der Frau. Empirische Untersuchungen belegen übrigens, wie falsch das Bild von der unterdrückten, auf ihre Mutterrolle reduzierten Migrantin ist (z. B. Herwartz-Emden 2000). Einige Autorinnen äußern den Verdacht, dass hier oft die eigene verleugnete Situation auf die fremden Frauen projiziert wird. Dass es oft möglich ist, bei kulturbedingten Konfliktanlässen einen „dritten Weg“ zu gehen, zeigt der Bericht von Bender-Szymanski (2001) über ihre Untersuchung mit Referendar/inn/en (S. 79 f.). Zum Beispiel hat eine die Brüder oder Cousins muslimischer Schülerinnen mit zur Schulparty eingeladen, so dass alle Bedenken gegen deren Teilnahme ausgeräumt waren.
6.6 Multiperspektivische Bildung, Mehrsprachigkeit Waren die bisher referierten Konzepte primär auf soziale Kompetenzen, also Fähigkeiten und Haltungen, ausgerichtet, was in erster Linie bestimmte pädagogische Arrangements verlangt, so zielt multiperspektivische Bildung auf ein neues Weltverständnis ab. Damit geraten primär die curricularen Inhalte in den Blick. Diese Variante von interkultureller Bildung ist für Schulen, aber auch für Einrichtungen der Erwachsenenbildung besonders geeig-
6.6 Multiperspektivische Bildung, Mehrsprachigkeit
net. Das Attribut „multiperspektivisch“ trifft am besten die Intentionen, denn es geht nicht um die Anhäufung zusätzlicher Kenntnisse, sondern um die Erweiterung der Perspektiven durch Überwindung der monokultuellen Orientierung. Hans Göpfert hat 1985 den Begriff von der Geschichtsdidaktik Klaus Bergmanns übernommen und in seiner Bedeutung erweitert. Ging es diesem um den Abschied von der Kabinettsgeschichte und die sozialgeschichtliche Würdigung der Erfahrungen und Leistungen der unteren Schichten im Unterricht (Bergmann 1992), so überträgt Göpfert diesen Gedanken auf andere Gesellschaften. In den 1980er Jahren hat Göpfert exemplarisch untersucht, wie weit Lehrpläne – und daneben Schulbücher – zur Völkerverständigung und zur Entwicklung von Offenheit bei den Lernenden beitragen oder ob sie Ethnobzw. Eurozentrismus und Intoleranz begünstigen. Unter anderem stellte er fest, dass andere Völker in den Lehrplänen und Schulbüchern nicht als geschichtliche Subjekte auftauchen, sie werden nicht als Kulturproduzenten dargestellt, sondern bleiben geschichts- und kulturlos. Vor allem aber verdeutlicht Göpfert am Thema Kreuzzüge die einseitige Behandlung geschichtlicher Auseinandersetzungen aus eurozentrischer Sicht. Die Rede von der „Befreiung der Heiligen Stätten“ illustriert dies beispielhaft. Die Schüler nehmen gleichsam noch einmal an der Verteidigung des „Christlichen Abendlandes“ teil. Göpfert meinte damals auch, dass ein solcher Geschichtsunterricht für türkische Schüler in der deutschen Schule problematisch sei. Göpfert formuliert einige Kriterien oder Postulate für schulische Curricula. Andere Völker dürften im Geschichtsunterricht nicht bloß als Objekte auftauchen, sondern müssten als historische Subjekte in Erscheinung treten. Es sei notwendig, die Menschen, auch die Menschen aus anderen Ländern und Kulturen „in ihrem Lebensumfeld, mit ihrer Lebensart, ihren Lebensverhältnissen und ihrer geographischen Umgebung darzustellen“ (1985, S. 43). Nur so, wenn sie das Handeln der Akteure nachempfinden können, sei Schülern geschichtliches Handeln näher zu bringen. Am Beispiel der Kreuzzüge führt der Verfasser vor, wie diese unter Heranziehung arabischer Quellen aus zwei Perspektiven heraus behandelt werden könnten. Er propagiert die „doppelte originale Sichtweise“. – „Interkulturelles Lernen bedeutet also nicht Harmonisierung von Geschichte, vielmehr das Gegenteil: Auf der Grundlage der doppelten originalen Sichtweise die Entfaltung ihrer Dramatik, ihrer Widersprüche und gegensätzlichen Erfahrbarkeit, die Nachvollziehbarkeit der Entstehung von beidseitiger Feindschaft und wechselseitig bedingtem Hass und den Folgen hieraus“ (S. 56). Grundsätzlich muss nach Göpfert die Interessenbestimmtheit geschichtlichen Handelns im Unterricht sichtbar werden. Aber auch die nützlichen und schönen Leistungen anderer Völker müssten berücksichtigt werden. Er spricht sich jedoch gegen jede Harmonisierung gesellschaftlicher Verhältnisse innerhalb wie außerhalb der staatlichen Grenzen aus. Politische oder kulturelle Unterdrückung und soziale Ausbeutung in anderen Ländern sollten nicht ausgeblendet werden, eine Schuldzuweisung sei aber unfruchtbar. Göpfert plädiert für eine Darstellung aus der Sicht der Betroffenen und für eine verallgemeinernde, strukturelle Sichtweise (z. B. die Unterdrückung der Frau im Islam unter dem Aspekt der Frauenfeindlichkeit der Religionen generell). Im Religionsunter-
Eurozentrismus am Beispiel Kreuzzüge
Kriterien für Curricula
strukturelle Sichtweise
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6. Konzepte interkultureller Bildung
„kulturgeschichtliche Erinnerungsarbeit“
richt befürwortet er die originale Konfrontation mit anderen Religionen und Weltanschauungen, eine einfühlsame Behandlung ihrer Glaubensvorstellungen und Regeln, damit den Schülern Erweiterungsmöglichkeiten für das bisherige Begreifen der Welt geboten werden und sie die Relativität von Meinungen und Urteilen erkennen lernen. Prinzipiell sollten die Schüler durch die Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Standpunkten lernen, gesellschaftlich vorherrschende Vorstellungen kritisch zu hinterfragen. Der Lehrer sollte ein Vorbild für rationales und offenes Denken sein, ohne seinen eigenen Standpunkt zu verleugnen – im Grunde allgemeine pädagogische Prinzipien und Bildungsziele. Göpfert plädiert auch dafür, Schüler mit dem Problem einer evolutionistischen Geschichtsbetrachtung zu konfrontieren. Die Frage „Kann technische Weiterentwicklung … prinzipiell als Höherentwicklung gewertet werden?“ (S. 94), stelle sich heute unausweichlich und müsse im Unterricht der Sekundarstufe aufgegriffen werden. Ähnlich wie Göpfert setzt Guido Schmitt (1993) vor allem beim Geschichtsbild an. Der Kulturarroganz müsse eine „kulturgeschichtliche Erinnerungsarbeit“ entgegen gesetzt werden. Denn: „Vergessen ist der weiträumige Kulturaustausch und das gegenseitige Lernen unter den Völkern und Ethnien über viele Jahrhunderte hinweg. Europa hat sich zu seiner heutigen Existenz entwickelt in der Auseinandersetzung und als Schülerin der arabisch-islamischen Kultur …“ (S. 3). Die Idee der Multiperspektivität findet man verständlicherweise häufig in Beiträgen zur Pädagogik mit der Dritten Welt. So gilt es zum Beispiel für Nestvogel, „fremde wie auch eigene Kulturphänomene zunächst aus ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext heraus zu erklären und zu verstehen und in einem weiteren Schritt, unter Darlegung der Beurteilungskriterien, zu bewerten“ (1987, S. 66). Ulrich Schmidt, ebenfalls Vertreter dieser Fachrichtung, fügt seine Überlegungen zur interkulturellen Bildung ähnlich wie Göpfert in den Kontext einer allgemeinen bildungstheoretischen Argumentation ein. Der Verfasser setzt sich mit Vorstellungen zur entwicklungspolitischen Bildung auseinander. Der Gedanke der Multiperspektivität kommt in folgender Prämisse zum Ausdruck: „Interkulturelle Kommunikation schließt den Reichtum und die Vielfalt menschlichen Denkens ein und gibt der globalen Entwicklung die Kraft der Utopien, die in den verschiedenen Kulturen anwesend sind“ (1987, S. 117). Noch heute interessant ist Schmidts Diagnose des damaligen Diskussionsstandes über die entwicklungspolitische Bildung. Die Dritte Welt werde dort überwiegend „als ökonomisches und politisches Krisengebiet definiert, über das man aufklärt, mit dem man sich in Aktionen solidarisiert …“ (S. 116). Diese nach Ansicht des Verfassers reduktionistische Problemdefinition zwinge „im wesentlichen zu negativem Verhalten, macht ihren Adressaten schlechtes Gewissen, eröffnet kaum Möglichkeiten, aus dem Engagement für die Dritte Welt etwas Positives zu erhalten“ (ebd.). Jener Sichtweise setzt Schmidt eine andere entgegen, die um die kulturelle Dimension erweitert ist. Er betont sowohl die tatsächliche Wechselwirkung im internationalen Austausch wie die darin liegenden Möglichkeiten. „Gerade weil es wahr ist, dass wir in einer Welt leben, ist es auch so, dass global industriegesellschaftliche Strukturen traditionelle Lebensformen durchdringen, sie überwiegend zerstören, aber auch von ihnen modifiziert werden …
6.6 Multiperspektivische Bildung, Mehrsprachigkeit
Es gibt nicht eine Entwicklung … sondern eine Vielzahl von Entwicklungen, interpretiert von einer Vielzahl von individuellen und kollektiven kulturgebundenen Standpunkten aus …“ (ebd.). Die gemeinsame Bedrohung der Welt und der menschlichen Gattung, deren Überleben fragwürdig geworden ist, schafft nach Schmidt objektive Bedingungen für ein weltweites Problembewusstsein. Die Entwicklungen werden aber aus unterschiedlichen kulturellen Traditionen heraus interpretiert, so dass sich universelle Bewusstseinselemente mit traditionellen mischen. Schmidt verkennt nicht die Dominanz des europäischen Denkens, geht aber davon aus, dass sich durch die globale Interdependenz der Gesellschaften heute ein gemeinsamer Bezugsrahmen für die interkulturelle Kommunikation ergibt. Er plädiert für eine „multiperspektivische Analyse des Weltsystems“ (S. 123). Die Industriegesellschaften müssten die Einsicht in die Krise ihrer Kultur gewinnen, so wenig die Kompetenzen, die im Gefolge der wissenschaftlich-technischen Revolution entwickelt worden seien, verzichtbar seien. Wir müssten unser Verhältnis zur Tradition und Moderne neu bestimmen. Notwendig sei die „Antizipation einer friedlichen Welt“, die für Schmidt auch ein anderes Verhältnis zur Natur einschließt. Eine solche Antizipation werde möglich auf der Ebene der persönlichen Begegnung mit Angehörigen anderer Kulturen, auf der Ebene der „Integration und Transformation fremden kulturellen Wissens“, zum Beispiel älterer ökologischer Weltbilder, und auf der Ebene der „Begegnung mit anderen Weltbildern und ihrer Verarbeitung in der modernen Gesellschaft“ (S. 134 f.). Jene Antizipation setzt allerdings für den Verfasser die Analyse und Reflexion der Rolle der Bundesrepublik innerhalb der Weltgesellschaft voraus. Vor diesem Hintergrund entwirft Schmidt ein Bildungsprogramm mit der zentralen Intention „die reale globale Vernetzung als einen Teil des Universalisierungsprozesses der Geschichte kritisch wahrzunehmen, zu analysieren und die in ihr liegenden Möglichkeiten zu entfalten“ (1987, S. 137). Ideen multiperspektivischer Bildung findet man zum Beispiel auch bei Holzbrecher (1997, vgl. 2011). Dazu gehören etwa seine Vorschläge Körperbilder, Sinnlichkeit, Muster von Nähe und Distanz oder den Umgang mit dem Tod kulturvergleichend zu erforschen, wobei er auch den Vergleich sozialer Milieus mit einschließt. Zum Beispiel, so die Anregung, könne man dem Zusammenhang zwischen der Verdrängung des Todes und unserer entfremdeten Beziehung zur Natur nachspüren (S. 199). Zwischenresümee: Angestrebt wird bei diesem Schwerpunkt eine multiperspektivische Sichtweise der Geschichte, der Religion bzw. Religiosität, der internationalen Beziehungen und der Weltwirtschaft, aber auch von Naturwissenschaft und Technik. Dort, wo die Konflikte und gemeinsamen Risiken der aufkommenden Weltgesellschaft angesprochen werden, ist die Übereinstimmung mit dem Lernfeld Globales Lernen unverkennbar. Das Problem des europäischen Universalismus und der evolutionistischen Geschichtsbetrachtung wird ausdrücklich in den schulischen Bildungsplan aufgenommen. Die Schule soll ein Bewusstsein von den vielfältigen kulturellen Austauschprozessen (z. B. zwischen Orient und Okzident) und von der Vielschichtigkeit jeder Kultur vermitteln. Andere Völker sollen nicht als Objekte behandelt, sondern als historische Subjekte begriffen werden. Intendiert ist ein verändertes Verhältnis der Lernenden zur Welt und damit zu sich selbst,
Vielfalt der Entwicklungen
Zusammenfassung
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6. Konzepte interkultureller Bildung
Erinnerungsarbeit in multikulturellen Klassen
Weltliteratur als Medium der Bildung
interreligiöser Unterricht
eine inhaltlich erweiterte Identität, was ein Bildungsverständnis impliziert, das sich als interkulturell charakterisieren lässt. Alle Schüler sollen zur Auseinandersetzung mit verschiedenen kulturellen Sichtweisen angeregt werden. Das betrifft unser Verständnis von Allgemeinbildung. Das Konzept gilt für Schüler/innen ohne und mit MH. Bei letzteren soll die Multiperspektivität des schulischen Curriculums verhindern helfen, dass sie entweder kulturell enteignet, zu „geschichtslosen Wesen“ werden oder mit dem bloßen Nebeneinander von Gast- und Herkunftskultur konfrontiert sind (Göpfert). Dem Prinzip der Multiperspektivität entspricht auch die Erinnerungsarbeit zur jüngsten deutschen Geschichte in multikulturellen Schulklassen oder Jugendgruppen – eine pädagogische Aufgabe, die erst ab 2000 zum Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Erörterungen gemacht worden ist. Hier gilt es, eine mehrfache Multiperspektivität zu erreichen. Jugendliche mit Migrationsgeschichte sollen die Verbrechen des NS-Regimes in ihrer Tragweite, besonders den Holocaust in seiner historischen Singularität erfassen, womit auch das besondere Verhältnis Deutschlands zu Israel begreiflich werden sollte. Die Ausgangslage ist unterschiedlich. Manche haben bereits die Narrative der deutschen Gesellschaft übernommen. Soweit sie aber aus der Türkei oder Ländern des Nahen Ostens kommen, ist es für sie oft nicht einfach, sich in die Lage der israelischen Bevölkerung zu versetzen (Georgi 2003). Die Empathie gilt bei manchen stärker den Palästinensern, weil ihre Sicht auf den Nahost-Konflikt, über verschiedene Kanäle vermittelt, zum Teil einseitig ist. Das Schicksal der Palästinenser wiederum erfordert häufig eine Perspektivenübernahme bei den anderen Jugendlichen in Auseinandersetzung mit dem hierzulande dominanten Diskurs. So ist eine multiperspektivische Aneignung von Geschichte nach mehreren Seiten gefordert. Zum einen sollen die Perspektiven beider Konfliktparteien im Nahen Osten zumindest probeweise eingenommen werden (Auernheimer 2011), zum anderen soll die Last der deutschen Geschichte allen verständlich werden, ohne eine Kollektivschuld zu suggerieren. Erleichtert wird die Perspektivenübernahme durch Oral History oder literarische Zeugnisse. Die Weltliteratur ist ein hervorragendes Medium multiperspektivischer Allgemeinbildung – Weltliteratur, verstanden nicht im eingeschränkten Wortsinn der Klassik, sondern als Literatur der Weltgesellschaft. Die Werke außereuropäischer Schriftsteller werden bisher in den Schulen vernachlässigt. Zumindest eine exemplarische Lektüre wäre möglich und notwendig, um durch das Medium der Erzählung andere Lebensverhältnisse und Lebensauffassungen, andere Weltbilder und Sichtweisen auf die Geschichte, nicht zuletzt auf die Rolle Europas zugänglich zu machen und so das eigene Weltverständnis zu relativieren. Eine Erklärung von Salman Rushdie macht darauf aufmerksam, dass dabei auch die Vielfalt der Bedeutungen und Lesarten nicht verkannt werden darf. Er meinte in einem Interview: „Wenn Inder meine Bücher lesen, begreifen sie viele Anspielungen, aber es entgehen ihnen vielleicht etliche andere … (sie) lesen auf diese Weise ein völlig anderes Buch als europäische Leser“ (Frankf. Rundschau v. 19.8.1995). Das Prinzip der Multiperspektivität müsste besonders auch für den religiösen Bereich gelten, soweit dieser für die Schüler oder einen Teil der Schüler von Bedeutung ist. Längst gibt es verschiedene praktische Beispiele und Entwürfe für einen „interreligiösen“ Unterricht. Gemeinsame Moschee-
6.6 Multiperspektivische Bildung, Mehrsprachigkeit
und Kirchenbesuche, gemeinsame Koran- und Bibelmeditationen, Feste etc. sollen Anlässe bieten, über Unterschiede, gemeinsame historische Ursprünge und universelle Elemente von Religion nachzudenken, vor allem aber sich mit der Perspektive der jeweils Andersgläubigen vertraut zu machen. Schulbücher und Sachbücher für Kinder entsprechen oft noch nicht diesen Ansprüchen. Ein Beispiel: Im Politik-Lexikon für Kinder ist zu lesen: „Sie glauben an einen Gott, den sie Allah nennen.“ Der Gott der Muslime erscheint damit als etwas Exotisches. Die Alternative dazu könnte lauten: Die Muslime glauben wie Christen und Juden an den einen Schöpfer-Gott. Sie nennen ihn Allah. „Ein verstärktes kritisches Bewusstsein von eigenen wie fremden kulturellen und religiösen Sichtweisen“ wird zum Beispiel von Grimmit (1991) als Ziel formuliert. Schieder (in: Reich u. a. 2000) sieht die Gefahr, dass dabei eine reine Zuschauerhaltung gefördert werden könne. Er warnt ebenso vor der Romantisierung fremder Religionen wie vor falscher Universalisierung. Zu Recht verweist er darauf, dass unser Verständnis von Religion mit der Trennung von Religiosität und Alltagspraxis, von Glauben und kultischer Praxis und mit der Art der Institutionalisierung in Kirchen eurozentrisch ist, zu schweigen von der Auffassung von Religion als Privatsache. Auch solch fundamentale Differenzen bzw. Unvereinbarkeiten sollten im interreligiösen Unterricht zur Sprache kommen. Dabei ist zu beachten, dass europäische Muslime bereits von der westlichen Religionsauffassung beeinflusst sein können, wie Auszüge aus Gesprächen mit muslimischen Schülerinnen an einer englischen Schule zeigen (Gillborn 2000). Einige Vertreter/innen der Interkulturellen Pädagogik fokussieren, wie in Kapitel 2.2 referiert, die Mehrsprachigkeit als moderne Bildungsaufgabe. Neben Gogolin, Reich und Roth seien hier noch Sigrid Luchtenberg und Ursula Neumann genannt. Ihren Zielvorstellungen und Forderungen haben sie vor allem durch kritische Schuluntersuchungen, Lehrplananalysen, historische und international vergleichende Studien Nachdruck verliehen. Die Forderung nach mehrsprachiger Bildung kann verschiedene Motive haben. Die Forderung, die Familiensprachen der Migrationskinder zu berücksichtige, wird unter anderem mit der Verbesserung ihrer Bildungschancen begründet. Die Spracherwerbsforschung belehrt uns, dass die Förderung der Erstsprache auch dem Erwerb der Zweitsprache zugutekommt, vor allem wenn man die Sprachentwicklung am Kriterium der „literacy“, also der schriftlichen Ausdrucksmöglichkeiten und der Lesefähigkeit, bemisst. Als Argument wird auch angeführt, dass die Förderung gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit die interkulturelle Kommunikation erleichtert. Für uns von Interesse sind speziell das Motiv der Anerkennung von Alterität durch Berücksichtigung der Migrantensprachen und die Erweiterung der Weltsichten durch andere Sprachen. Die organisatorischen Möglichkeiten, um Mehrsprachigkeit schulisch zu unterstützen, sind vielfältig. Abgesehen vom traditionellen Fremdsprachenunterricht und dem Muttersprachlichen Ergänzungsunterricht, der sich internationalen Abkommen verdankt, gibt es verschiedene Formen bilingualer Unterrichtung (Überblick bei Siebert-Ott 2001). Bei der Einrichtung bilingualer Zweige an Schulen ist entscheidend, dass für die Schüler Beziehungen zwischen den Sprachsystemen herstellbar sind, was die Zweisprachigkeit aller Lehrpersonen oder Unterricht im Team voraussetzt. Dies entspricht dem sog. Immersion-Prinzip im Gegensatz zu Submersion-Pro-
organisatorische Alternativen
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6. Konzepte interkultureller Bildung
multiperspektvische Sprachbildung
language awareness
Begegnung mit Sprachen
grammen, in denen die Lernenden der fremden Sprache ausgesetzt werden, ohne an ihre Erstsprache anknüpfen zu können. Der multiperspektivischen Bildung wäre eine Sprachbildung zuzuordnen, die, keineswegs beschränkt auf den Sprachunterricht, einen Entdeckungsprozess über Sprachen initiiert, selbstverständlich bezogen auf die Sprachen der Schüler und im Umfeld der Schüler. Damit ließe sich der Anschluss an die Humboldtsche Bildungsidee herstellen, welche Multiperspektivität insofern impliziert, als in den Sprachen nach Wilhelm v. Humboldt Weltsichten verkörpert sind. Es wird darum gehen, sowohl Unterschiede zwischen Sprachen als auch sprachliche Universalien herauszufinden. Ingrid Gogolin (1988) hat dafür plädiert, die Sprachen der zweisprachigen Schüler im gesamten Unterricht aufzugreifen, um die metasprachlichen Fähigkeiten, die „Sprachsensibilität und Sprachbewusstheit“ aller Schüler zu entfalten (S. 112). Um die Verfolgung dieses Ziels sicherzustellen, wollte Gogolin einen „Lernbereich Zweisprachigkeit“ etabliert sehen, der auf Sprachreflexion durch Sprachbegegnung abzielt, englisch „language awareness“. Zu entsprechenden Programmen in England zählt das „Children’s Language Project“, das die volle Akzeptanz der Sprachenvielfalt in der Schule anstrebte. Die Schüler sollten Beziehungen und Unterschiede zwischen Sprachen entdecken. Das Projekt wird kurz folgendermaßen charakterisiert: „Wie kann die Schule allen Kindern (Hervorh. im Original) helfen, sich die Alltagsrealität der Sprachenvielfalt konstruktiv anzueignen? – Indem sie sich dieser Sprachenvielfalt in der Klasse, in der Schule, im Wohnviertel, in der Region, im Land, in der Welt bewusst wird; indem sie das Ausmaß und den Charakter dieser Sprachenvielfalt in der Schule selbst und in der LEA (im Bezirk, G. A.) präzis untersucht; und indem sie schließlich sowohl im Sprachunterricht als auch im Fachunterricht Sprachenvielfalt zum Thema unterrichtlicher Aktivität werden lässt und so ihre Bedeutung für die bilingualen wie für die bidialektalen Schüler anerkennt“ (Couillard/Khan 1989, S. 221). Die Schüler wurden angeregt, im lokalen Kontext, in der Familie und im Wohnviertel sprachliches Material zu sammeln (Briefe, Karten, Tonaufzeichnungen, Ladenschilder, Plakate, Zeitungen), das unter diversen Aspekten aufgearbeitet wurde und mit dem auch Ausstellungen arrangiert wurden. Auch die Sprachen und Sprachvarietäten an der Schule sollten die Schüler erheben. Unter dem globalen Aspekt ging man der Geschichte und gesellschaftlichen Funktion von Sprachen nach. Angeregt durch solche Projekte aus Großbritannien hat man 1991 an den Grundschulen in Nordrhein-Westfalen das Lernfeld „Begegnung mit Sprachen“ eingeführt. Leitend ist die Absicht, die multilinguale Situation an den Schulen für den Bildungsprozess zu nutzen. Vorgeschlagen wird zum Beispiel, Begrüßungsformeln und einfache Gesprächseröffnungen miteinander zu vergleichen und ihre Übersetzbarkeit zu prüfen, damit also funktionale Äquivalente verschiedener sprachlicher Mittel zu entdecken. Märchen, Erzählungen, Lieder oder Abzählverse sollen verglichen werden, natürlich nicht ohne sie zu singen oder im Spiel zu verwenden. Wie sehen sie geschrieben aus? Kann man sagen: Wir im Deutschen schreiben so, wie wir sprechen? – Die Zuordnung von Zeichen zu Lauten wird so untersucht, der arbiträre Charakter der Zeichen erkennbar. So eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten, die Reflexion über Sprache zu fördern.
6.7 Antirassistische Erziehung
6.7 Antirassistische Erziehung Der Begriff kommt aus dem angelsächsischen Sprachraum. Stoßrichtung der Antirassist Education (ARE) ist vor allem der strukturelle Rassismus. Insofern kann sie als politische Bildung verstanden werden, wenn es sich auch in Großbritannien nicht um politische Bildung im überkommenen deutschen Verständnis handelt. Die politische Auseinandersetzung mit der Benachteiligung der „Schwarzen“ in Großbritannien war bei der Konzeption dieses Ansatzes das primäre, teilweise ausschließliche Ziel. ARE wurde aus einer Konstellation heraus formuliert, die es so in der Bundesrepublik lange Zeit nicht gab, nämlich aus der Perspektive der „Schwarzen Minderheiten“, deren intellektuelle Sprecher sich dort selbst zu Wort gemeldet haben (vgl. Quehl 2000, S. 9). Das Adjektiv „Black“, groß geschrieben, wird von britischen Sozialwissenschaftlern zur Bezeichnung aller Immigrantengruppen aus dem New Commonwealth verwendet, die Opfer der Rassendiskriminierung sind. Die Minderheiten selbst haben sich dieses gemeinsame Attribut gegeben. In der Bundesrepublik hat Ende der 1980er Jahre der jugendliche Rechtsextremismus, der zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit und Besorgnis erregte, den Anstoß für pädagogische Initiativen gegeben. Sie richteten sich, so die typischen Formulierungen, gegen Gewalt und Rechtsextremismus allgemein, ohne zu verkennen, dass „Ausländerfeindlichkeit“ eine zentrale Komponente jener Ideologie war und ist. Die Initiative ging hierzulande von den Pädagog/inn/en der Mehrheitsgesellschaft aus. Die Konstellation ist also unverkennbar anders. Die Bezeichnung „antirassistische Erziehung“ wurde erst allmählich von der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft übernommen. Seit einiger Zeit wird innerhalb des Faches teilweise das Adjektiv „rassismuskritisch“ bevorzugt und von „rassismuskritischer Bildungs- oder Sozialarbeit“ gesprochen (Melter/Mecheril 2009). In Deutschland ist es bis heute außerhalb der Sozial- und Erziehungswissenschaft schwierig, den Begriff Rassismus zu verwenden, weil sich damit nach wie vor das enge Verständnis von Rassenlehre verbindet, wogegen Rassismus im Sinn von „racism“ ein breites Spektrum von diskriminierenden Strukturen, Haltungen und Praktiken meint (s. Kap. 4.2). ARE (teilweise auch „antiracist teaching“ genannt, abgekürzt ART) verstand sich als „Schwarze Antwort“ auf die Folgen von Kolonisation und Einwanderung. Sie wurde Anfang der 1980er Jahre, herausgefordert durch die zunehmende Rassendiskriminierung und die Rassenkonflikte in den Städten, der Multicultural Education (MCE) entgegengesetzt, die mit ihrer folkloristischen Tendenz, so der Vorwurf, solchen Konflikten hilflos gegenüber stand. Als typisch für die MCE galten die drei S: Wie man einen Sari bindet, ein Samosa bäckt, eine Steeldrum spielt. Die damalige Kontroverse ist noch heute für die Klärung des Verständnisses der Interkulturellen Pädagogik in kritischer Absicht aufschlussreich. Als Vertreter der ARE sollen im Folgenden M. Cole und B. Troyna ausführlicher zu Wort kommen, die das Konzept auch theoretisch fundiert haben. Die Verfechter der ARE wandten sich erstens gegen die Kulturalisierung der Minderheitenfrage. Man setze ein unangemessenes Vertrauen in das Kennenlernen anderer Kulturen. Troyna kritisiert, dass die kulturelle Differenz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehe (1987, S. 308). Es sei zwei-
ARE contra MCE
Kritikpunkt: Kulturalismus
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6. Konzepte interkultureller Bildung
contra Paternalismus
Ent-Tabuisierung des Rassismus
politische Bildung notwendig
felhaft, ob ein auf kulturelle Begegnung ausgerichteter Unterricht die Effekte des Rassismus in der Schule und im Berufsleben außer Kraft setzen könne (Troyna 1987, S. 313). MCE geht nach Cole fälschlicherweise von einer homogenen britischen Nationalkultur ohne Klassen- und Geschlechtsunterschiede und einer ebenso generalisierten karibischen und asiatischen Kultur aus. Die Tendenz zur Stereotypenbildung ist nach Cole besonders groß bei Themen wie Familienstrukturen, die Rolle der Frau in der karibischen oder asiatischen Migrantenkultur. Im Übrigen sieht er die Neigung, die „Schwarze“ Kultur auf einige leicht fassliche Artefakte zu reduzieren, wie Kunst, Religion, Esskultur. MCE muss sich zweitens den Vorwurf des Paternalismus gefallen lassen. Ihre Vertreter sind nach Cole Repräsentanten der herrschenden sozialen Kräfte. Er hält es für ein absurdes Unterfangen, dass „weiße“ Lehrer/innen die Mitglieder der Minoritäten über ihre Kultur belehren (1986, S. 124). Paternalistisch ist das Konzept der MCE für Cole vor allem im Hinblick auf ihr Ziel, das Selbstkonzept der Schwarzen Schüler zu verbessern. Dabei werde den weißen Lehrern eine besondere moralische Integrität unterstellt, ohne dass sie veranlasst würden, ihren eigenen Rassismus zu überprüfen (1986, S. 124). Die Betroffenen selbst kommen nach dem Urteil von Cole und Troyna nicht oder nicht ausreichend zu Wort. Der Hauptvorwurf an die Adresse der MCE aber lautet, sie individualisiere das Problem des Rassismus. Denn im Verständnis der MCE sei Rassismus primär ein Produkt von Unwissenheit, verfestigt durch negative Einstellungen und Vorurteile. Der Individualisierung setzen die Verfechter der ARE eine gesellschaftliche Sichtweise entgegen, der Psychologisierung die Politisierung. In ihrem Urteil über den unpolitischen Charakter der MCE und ihre entpolitisierende Wirkung auf die Schüler sind sich die Verfechter der ARE einig. MCE bleibe mit ihrer kulturalistischen Interpretation der Probleme unpolitisch. Schule und Klassenzimmer würden, so Cole, als eine neutrale Arena angesehen (1986, S. 124). Für Troyna ist der Stein des Anstoßes der „deracialised discourse“, den er für die Bildungspolitik und Pädagogik insgesamt typisch findet, d. h. dass die institutionellen Barrieren und sozialen Benachteiligungen aufgrund rassischer Merkmale tabuisiert werden. Den einfachen Erklärungen, die der Rassismus für gesellschaftliche Probleme wie die Jugendarbeitslosigkeit bereithält (1987, S. 316) müsse mit „political education“, politischer Aufklärung also, begegnet werden. Nach Cole muss betont werden, dass wir nicht nur in einer rassistischen, sondern auch patriarchalischen und kapitalistischen Gesellschaft leben. Es müsse aufgezeigt werden, dass die Geschichte eine Geschichte der Klassenkämpfe und des Geschlechter- und Rassenkonflikts sei und dass die Mehrheit ein Interesse daran haben müsse, alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung zu bekämpfen (1986, S. 136). Dabei könnten die Lehrer/innen von den Erfahrungen ihrer Schüler ausgehen, die sie freilich transzendieren müssten. Zu oft versäumten es aber die Lehrer/innen, so Cole, ihren Schülern das nötige intellektuelle Rüstzeug mitzugeben. Diskussionen im Klassenraum entarteten leicht zur bloßen Zurschaustellung von Vorurteilen. Unglücklicherweise werde die Diskussion ohne Informationsgrundlage oft höher bewertet als die sorgfältige, strukturierte Entwicklung theoretischer Fähigkeiten, die verbunden sein müsse mit dem Erwerb des notwendigen Faktenwissens (Cole
6.7 Antirassistische Erziehung
1986, S. 137). Cole ist sich dabei darüber im Klaren, dass nicht nur die kognitive Seite zu beachten ist. Alle Schüler müssten ermutigt werden, ihre Gefühle darzulegen. Cole und Troyna unterstellen gemeinsame Interessenlagen bei den Schülern, zumindest bei einem Teil der Schüler. Nach ihrer Auffassung teilen die Schüler die Erfahrung von Ungleichheit als Mädchen, Jugendliche oder Mitglieder der Arbeiterklasse mit den schwarzen Mitschülern. Die politischen und ökonomischen Bedingungen und Widersprüche, die Weiße und Schwarze gleichermaßen betreffen, werden aber nach Cole im Programm des Multikulturalismus nicht angesprochen (1986, S. 123). Phil Cohen bezweifelt dagegen die schlankweg unterstellte Gleichheit der Interessen von schwarzen und weißen Unterschichtjugendlichen. Er macht auf Varianten des „subordinierten Rassismus“ innerhalb der Arbeiterklasse aufmerksam (Cohen 1994, S. 42 f.) und wendet sich gegen den „doppelten Reduktionismus“ Rassismus = Macht plus Vorurteil (1994, S. 23). Er meint, ohne dem Psychologismus das Wort zu reden, dass „wir die Bedeutung von Begehren, Verschiebung und Phantasie in der perversen Ideo-Logik des Rassismus selbst aufspüren müssen“ (S. 11). Er argumentiert diskursanalytisch und empfiehlt, die verschiedenen Artikulationsweisen von Rassismus in ihrer Spezifität zu beachten und „das Widersprüchliche bei der Positionierung der Personen in und durch rassistische Diskurse ins Zentrum (zu) stellen“ (S. 17). Dem diskursanalytischen Ansatz Cohens entsprechen seine vielfältigen und anregenden Unterrichtsideen. Aufklärungsstrategien allein bleiben nach Cohen hilflos, gleichgültig ob es sich um Ansätze handelt, die auf die rationale Argumentation bauen, beispielsweise auf die Information über Migrationsursachen, über wirtschaftspolitische Mechanismen etc., oder ob es sich um einen Erfahrungsansatz handelt, der sich vom Kennenlernen fremder Lebensweisen, von der kulturellen Begegnung neue Einsichten und Einstellungen verspricht. Aufklärungsstrategien stoßen bei Cohen auch deshalb auf grundsätzliche Bedenken, weil sie seiner Ansicht nach insgeheim getragen sind von dem für die Ober- und Mittelschicht typischen Motiv der „civilising mission“ gegenüber dem „niederen Volk“ und dessen Irrationalismus, und den entsprechenden herablassenden Gestus kaum ablegen können, was bei Schülern aus der Arbeiterklasse Lernwiderstände auslöse. Cohen geht es darum, die Lehrer/innen auf ihr Eingebundensein in die Mittelschichtkultur sowie die dadurch bedingten Mechanismen im Umgang mit Arbeiterjugendlichen aufmerksam zu machen. Eine rationalistische Pädagogik der Aufklärung verfehlt nach ihm den Charakter des Alltagsrassismus („popular racism“), der nicht ein ausgearbeitetes weltanschauliches System sei, sondern sich auf durch Alltagspraktiken bestätigte einfache Körperbilder vom Selbst und den anderen stütze (Cohen 1990). Hatten die Verfechter der ARE in den Anfangsjahren der Kontroverse noch behauptet, MCE sei unvereinbar mit dem Konzept der ARE, es handele sich um zwei völlig unterschiedliche Konzepte, die auf unterschiedlichen Problemdefinitionen basierten, so zeichnete sich in den 1990er Jahren eine Annäherung ab. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht der Titel einer Publikation: „Challenging Racism, Valuing Difference“. Das hing unter anderem damit zusammen, dass der diskursanalytische Ansatz ein starkes Gewicht
die Grenzen von Aufklärung
neuere Beiträge zur ARE
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6. Konzepte interkultureller Bildung
praktische Zugänge
die Bedeutung des Sozialklimas
erhielt, was die pädagogische Aufmerksamkeit zum Beispiel auf die kritische Reflexion über Sprache lenkte. Neben Schulbüchern wurden die Sprache im Klassenzimmer und speziell die Sprache der Lehrer/innen zu bevorzugten pädagogischen Untersuchungsfeldern (Epstein, in: Quehl 2000, S. 69). In den pädagogischen Beiträgen findet man unter dem Leitmotiv ARE Vorschläge wie: Ähnlichkeiten und Unterschiede mit den Kindern erkunden, die Kinder Aspekte ihrer eigenen Kultur entdecken lassen, neben: erkunden lassen, welche Personen in ihrer Umgebung Macht und Einfluss haben, welche Gruppen benachteiligt sind (Quehl 2000, S. 253). Hatte schon die erste Generation der Verfechter von ARE einen Zusammenhang zwischen Rassismus und Sexismus gesehen, so wird nun zum Beispiel von David Gillborn betont, dass „die Aspekte ,race‘, soziale Klasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung und Behinderung auf vielfältige, komplexe und manchmal widersprüchliche Weise miteinander in Beziehung treten“ (ebd., S. 72). Heutige Vertreter der ARE wenden sich entschieden gegen Vereinfachungen – sowohl des Bildes von „dem“ Rassisten als auch des Bildes von den Schwarzen. Der neue Denkansatz hat sich offenbar produktiv ausgewirkt und die didaktischen Ideen beflügelt. In den Anfangsjahren hatte man der ARE vorgeworfen, dass die Vorschläge für die pädagogische Praxis vage und dürftig blieben, was auch Troyna selbstkritisch eingestand (1987, S. 315). In den 1990er Jahren wurden die Ideen nun vielfältiger und überzeugender (s. Quehl 2000). Neben vielen Vorschlägen für Analysen von Bildmaterial, Kinderliteratur, Lesebüchern etc. (auch Burgess-Macey in: Gill et al. 1992) findet man beispielsweise Unterrichtserfahrungen mit der Erkundung von Familiengeschichten, dem Bau von Musikinstrumenten u. a. m. Als wichtig eingeschätzt wird, dass die Schüler eigene Gefühle entdecken oder sich Gedanken machen, wie sie sich selbst beschreiben wollen – Herangehensweisen, wie sie schon früh von Cohen propagiert wurden und für den AntiBias-Ansatz typisch sind (vgl. Kap. 6.3). In den von Cohen berichteten Projekten sollen die Schüler zum Beispiel im kreativen Umgang mit Jugendmagazinen oder anderen Produkten der Kulturindustrie deren Botschaften entziffern lernen. Durch das Experimentieren mit Fotos sollen sie ihre Wahrnehmungsweisen kritisch reflektieren lernen. Generell sollen sie mehr kritische Aufmerksamkeit gegenüber Slogans, Stereotypen und eindimensionalen Bildern jeder Art erwerben (Cohen 1988, S. 97 f.). Interessant ist das Projekt zu Spiderman und Anansi, der bekannten Comicfigur und einer Figur aus der afrokaribischen Erzähltradition (Cohen 1994), weil damit eine neue Dimension interkulturellen Lernens aufgezeigt wird. Nach den Textanalysen sollen die Schüler Bildergeschichten herstellen, in denen beide Figuren aufeinandertreffen, um eine Diskussion über Volkshelden zu eröffnen, wie sie von dominanten und unterdrückten Kulturen produziert werden. ARE kann im Übrigen für Cohen nur erfolgreich sein, wenn die Pädagog/inn/en auf die je spezifischen rassistischen Artikulationsweisen von Jungen und Mädchen, von Arbeiter- und Mittelschichtkindern achten. Die Verfechter der ARE waren sich früh darüber im Klaren, wie wichtig es ist, dass die Lernbedingungen mit der intendierten Botschaft übereinstimmen. Brandt (1986) hebt die Bedeutung des „Schulethos“, der Gestaltung der sozialen Beziehungen, für den Erfolg der politischen Aufklärung hervor
6.7 Antirassistische Erziehung
(ebenso Short/Carrington in: Gill et al. 1992). Auch Troyna hält die Strukturen innerhalb der Schule und speziell die Lehrer-Schüler-Beziehungen für sehr wichtig. Der heimliche Lehrplan der Schule dürfe nicht den formellen Lernzielen widersprechen. Individualismus und Leistungsorientierung müssten ersetzt werden durch Formen kooperativen Lernens innerhalb eines nicht wettbewerbsorientierten Schulklimas. Auf schülerzentriertes Lernen sei größeres Gewicht zu legen (1987, S. 137) – ein Gesichtspunkt, der in fast allen Beiträgen zur ARE in dem Sammelband von Quehl (2000) auftaucht. Als Komponente des heimlichen Lehrplans findet auch der subtile Rassismus bei Lehrenden wissenschaftliche Aufmerksamkeit (s. Wright und Siraj-Blatchford in: Quehl 2000). Die ARE in Großbritannien hat eine Herausforderung für die Interkulturelle Pädagogik dargestellt und zur selbstkritischen Überprüfung der eigenen Konzepte geführt (s. Kap. 2.2). Andererseits zeigen die neueren didaktischen Überlegungen und Unterrichtsideen zur ARE eine starke Annäherung an eine – kritisch verstandene – interkulturelle Bildung. Leitende Gesichtspunkte sind die Machtdimension und die Vielfalt der Zugehörigkeiten – und auch der Dominanzverhältnisse. Gaine macht in einem historischen Rückblick (in Quehl 2000) ,eine Debatte zwischen zunehmend klischeehaft dargestellten ,Multikulturalisten‘ und ,Antirassisten‘ aus (S. 65). Wenn strukturelle Ungleichheiten nicht ausgeblendet werden und die politische Dimension ausreichend beachtet wird, müssten interkulturelle und antirassistische Erziehung miteinander vereinbar sein (vgl. Leiprecht 2003, S. 26 f.). Zu denen, die in der deutschsprachigen Pädagogik ähnliche Einsichten und Arbeitsprinzipien wie in der ARE vertreten, gehört Rudolf Leiprecht. Er warnt wie Cohen vor „belehrende(n) und besserwisserische(n) Herangehensweisen“ und hält eine „dialogische Lernsituation“ für nötig, um „eine untersuchend-reflexive Haltung“ zu fördern (2003, S. 33). Er betont – ebenfalls wie Cohen – die im Normalfall widersprüchlichen, ambivalenten Bewusstseinslagen, die wichtige Anknüpfungspunkte für die pädagogische Arbeit bieten (S. 35). Statische Einordnungen wie ,rechte Gesinnung‘ blockieren. Dementsprechend hält Leiprecht auch nichts von „der moralisierenden Vermittlung von Schuldgefühlen“ (S. 31). Für wichtig hält er die Schaffung eines angemessenen institutionellen Rahmens, der ein von Diskriminierung freies Zusammenleben erleichtert. Im anderen Fall „können die strukturellen und institutionellen Verhältnisse das gesprochene Wort unterlaufen und selbst eine Botschaft transportieren“ (2003, S. 30). Eine Initiative, die dem institutionellen Aspekt Rechnung zu tragen versucht, stellt das Programm „Schule ohne Rassismus“ dar. Die Konzeption antirassistischer Jugendarbeit in Deutschland war lange Zeit von dem „Desintegrationstheorem“ Heitmeyers beeinflusst (s. Kap. 4.2), stieß jedoch auch auf Widerspruch und Kritik. Speziell nach dem Ansatz der „akzeptierenden Jugendarbeit“ (Krafeld 1996) empfiehlt sich eine besondere Aufmerksamkeit für negative Sozialerfahrungen der Jugendlichen, verbunden mit dem Bemühen, positive Sozialerfahrungen zu ermöglichen. Die Konzentration auf diesen Aspekt ohne Diskussion der politischen Inhalte hat zu dem Missverständnis geführt, die pädagogische Arbeit gegen Rassismus könne sich in der Schaffung eines positiven Sozialklimas erschöpfen. Insgesamt ist ein
ARE in Deutschland
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6. Konzepte interkultureller Bildung
Themen politischer Bildung
Erinnerungsarbeit
breites Spektrum von pädagogischen Ansätzen auszumachen, das von reinen Aufklärungsstrategien am einen Pol bis zu Selbsterfahrungsübungen am anderen Pol reicht. Für die erste Variante stehen als Beispiele die „Argumente gegen den Haß“ von Ahlheim u. a. (1993, Arbeitshilfen für die politische Bildung) oder das „Argumentationstraining gegen Stammtischparolen“ von Hufer (2001). Während Aufklärungsstrategien den eigenen Rassismus der Adressaten unberührt lassen oder ,über die Köpfe hinweggehen‘, schaffen Selbsterfahrungsgruppen, die die Erforschung des eigenen versteckten Rassismus intendieren, nach Ansicht der Kritiker meist nur Schuldgefühle, ohne handlungswirksam zu werden. Den genannten Zuordnungen entzieht sich das „Blue Eyed-Brown Eyed-Training“, ein Import aus den USA, dessen Kerngedanke darin besteht, die Teilnehmer die Folgen von Rassismus am eigenen Leib erfahren zu lassen (kritisch dazu Lang/Leiprecht 2001). In neueren Publikationen zur antirassistischen Bildungsarbeit wird einstimmig betont, dass es eines ganzheitlichen Ansatzes bedarf, d. h. dass eine Atmosphäre von Vertrauen und Akzeptanz geschaffen werden muss, damit Lernwiderstände überwunden werden und die Lernenden offen sind für Argumente. Vor allem in der ersten Phase sollten die Lernenden ihre Erwartungen, Ängste und Sorgen artikulieren können. Es muss ihnen möglich sein, mit Vorurteilen und Stereotypen herauszurücken. Erst schrittweise hält zum Beispiel Bärbel Kampmann einen stärker kognitiven Zugang für möglich (1999). Zweifellos sollten Selbsterfahrung und Selbstreflexion durch politische Aufklärung ergänzt werden. Die Gewichtung wird je nach pädagogischem Feld unterschiedlich sein müssen. Wichtige Inhalte politischer Bildung sind Migrationsursachen und -folgen im Rahmen der Weltwirtschaftsordnung, das Nord-Süd-Gefälle, die Probleme der Dritten Welt, die Geschichte des Kolonialismus, Formen des strukturellen Rassismus in der Bundesrepublik, Islamfeindlichkeit und Islam. Dazu kommen muss die Analyse von öffentlichen Medien, von Trivial- und Jugendliteratur, die Schulbücher nicht zu vergessen, wobei entscheidend ist, dass die Lernenden selbst versteckte Rassismen, stereotype Bilder von Fremden, kulturalistische Erklärungen für Armut etc. entdecken. Auf keinen Fall darf antirassistische Erziehung in Deutschland die Geschichte des Antisemitismus, aber auch des Antiziganismus vernachlässigen. Lehrende und Lernende müssen sich der Erinnerung an den Holocaust stellen. Und auch der versuchte Völkermord an Sinti und Roma ist ein beispielloses Kapitel in der Geschichte des Rassismus. Die Notwendigkeit der Erinnerungsarbeit ergibt sich aus der nationalen Spezifik von Rassismus. So sehr sich nämlich die sozialen Konstellationen und psychischen Dispositionen, an die rassistische Ideologien anknüpfen, über Ländergrenzen hinweg ähneln mögen, so gewinnen jene doch ihre inhaltliche Konkretion erst im Rückgriff auf die jeweilige Geschichte, selbst wenn dies nicht explizit geschieht. Die Ausdrucksformen von Rechtsextremismus dürften bis zu einem gewissen Grad nationalspezifisch sein, weil stets aus dem vorhandenen Repertoire geschöpft wird. Insofern verbietet sich die simple Übernahme antirassistischer Konzepte aus dem Ausland. Man steht heute allerdings vor der schwierigen Frage, wie die Erinnerungsarbeit bei dem hohen Anteil an Jugendlichen mit Migrationsgeschichte angelegt sein könnte, die nicht an
6.7 Antirassistische Erziehung
dem belastenden kollektiven Gedächtnis partizipieren (dazu Georgi 2003, vgl. Kap. 6.6).
Anregung: In diesem Kapitel 6 wurden wiederholt Voraussetzungen für eine erfolgreiche interkulturelle/antirassistische Bildungsarbeit benannt. Durchforsten Sie den Text und listen Sie solche Voraussetzungen auf! Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus für ihr eigenes professionelles Selbstverständnis als Pädagogin oder Pädagoge?
Weiterführende Literatur: Ahlheim, Klaus (Hg.) (2007): Die Gewalt des Vorurteils. Schwalbach/Ts. Quehl, Thomas (Hg.) (2000): Schule ist keine Insel. Britische Perspektiven antirassistischer Pädagogik. Münster u. a. Reich, Hans-H./Holzbrecher, A./Roth, H.-J. (Hg. (2000): Fachdidaktik interkulturell. Ein Handbuch. Opladen. Scharathow, Wiebke/Leiprecht, Rudolf (Hg.) (2011): Rassismuskritik, Bd. 2. Rassismuskritische Bildungsarbeit. Schwalbach/Ts.
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7. Migrationspädagogik
das weite Feld der Integrationshilfen
ein theoretisch vernachlässigtes Praxisfeld
interkulturelle Bildungsarbeit und Integrationshilfe
„Migrationspädagogik“ soll hier nicht wie bei Mecheril (2004) an die Stelle des Begriffs Interkulturelle Pädagogik treten, sondern das weite Feld der Integrationshilfen für Migrant/inn/en, speziell auch, aber nicht allein für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund (MH) bezeichnen. Migrationspädagogik in diesem Sinn soll als Teil der Interkulturellen Pädagogik den Fragen, die implizit dort schon immer auch Thema gewesen sind, formell den ihnen gebührenden Platz zuweisen. Während interkulturelle Bildung die unzureichende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bewusst macht, arbeitet Migrationspädagogik praktisch daran, dass Menschen mit Migrationsgeschichte daran teilhaben (können). Die Integrationshilfen umfassen Maßnahmen und Programme vom Vorschul- bis zum Erwachsenenalter und sind eine Aufgabe von Bildungs- und Sozialeinrichtungen, vielfach aber noch auf relativ niedrigem Niveau institutionalisiert, von Ehrenamtlichen oder Freiwilligendiensten erbracht. In diesem Feld steht das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft, genauer: von staatlichen Leistungen und bürgerschaftlichem Engagement, zur Diskussion und ebenso das Verhältnis von Professionalität und Laienpädagogik. Seit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes und des Nationalen Integrationsplans nimmt der Staat seine Verantwortung für viele Integrationshilfen wahr. Die Interkulturelle Pädagogik, die aus diesem Praxisfeld hervorgegangen ist, hat dieses Feld seit Jahrzehnten vernachlässigt, wenn man von der Theorie der Interkulturellen Sozialarbeit absieht, deren Aufgabe, vor allem der Kinder- und Jugendhilfe, vorwiegend in Hilfen zur Integration besteht. Daneben wären pädagogische Konzepte und Forschungen zur Sprachförderung, die einige Vertreter/innen der Interkulturellen Pädagogik zu ihrer zentralen Aufgabe gemacht haben, diesem Feld zuzurechnen. Im Übrigen ist heute fast ausschließlich interkulturelle Bildung (einschließlich antirassistischer Bildungsarbeit) das Thema der Interkulturellen Pädagogik. Dabei ist nicht zu übersehen, dass Integrationshilfe in vielen Fällen, besonders dort, wo Ehrenamtliche oder in Freiwilligendiensten Engagierte solche Aufgaben übernehmen, trotz einer anderen Schwerpunktaufgabe auch das interkulturelle Verständnis und interkulturelle Lernprozesse fördert. Außerdem müssen Immigranten interkulturelle Kompetenz erwerben, wenn sie sich in dieser Gesellschaft sicher bewegen, d. h. voll handlungsfähig werden wollen. Interkulturelle Kompetenz ist auch erklärtes Ziel von Integrationskursen. Die Aufgaben von interkultureller Bildungsarbeit und Integrationshilfe überschneiden sich also. Im Folgenden soll dieses pädagogische Praxisfeld abgesteckt und exemplarisch mit Beispielen veranschaulicht werden, nachdem die spezifische Zielsetzung erörtert wurde. Die Ausführungen sollen nämlich nicht zuletzt den Prozess der Selbstverständigung der in diesem Feld Tätigen anstoßen. Da ein barrierefreier Zugang erste Bedingung für Integration ist, das heißt zunächst einmal die interkulturelle Öffnung von Bildungseinrichtungen und
7.1 Das Praxisfeld Integrationshilfen
sozialen Diensten, damit Integrationshilfen überhaupt die Adressaten erreichen, deshalb wird im zweiten Unterkapitel auf diesen Aspekt von Organisationsentwicklung eingegangen. Da interkulturelle Orientierung von Einrichtungen selbstverständlich auch eine wichtige Rahmenbedingung für interkulturelle Bildung ist, gibt es einen doppelten Grund, dieses Thema am Schluss der Einführung zu behandeln. Nach dem Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“ von 2001 „zielt Integration darauf ab, Zuwanderern eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unter Respektierung kultureller Vielfalt zu ermöglichen. Dazu sind Anstrengungen von beiden Seiten erforderlich […] Die Bedingungen, welche die Zuwanderer … vorfinden, spielen neben dem, was sie selbst an Motivation und an Fähigkeiten … mitbringen, eine entscheidende Rolle für den Erfolg von Integrationsprozessen“ (S. 200). Diese politische Klarstellung ist es wert, hier in Erinnerung gerufen zu werden.
Integration als Aufgabe beider Seiten
7.1 Das Praxisfeld Integrationshilfen Da der Begriff Integrationshilfen spontan den Verdacht des Paternalismus weckt, sei vorweggenommen, dass diese Praxis durchaus auch Empowerment-Strategien umfassen kann, zum Beispiel faktisch auch die Beratung von Selbsthilfegruppen umfasst. Generell können Integrationshilfen nur erfolgreich sein, wenn die Potentiale der Adressaten genutzt werden. Im Übrigen haben nicht nur die Adressat/inn/en vieler Programme, sondern auch die Hilfeleistenden in vielen Projekten inzwischen eine Migrationsgeschichte. Ziel der Integrationshilfen ist Chancengleichheit durch Förderung von Handlungsfähigkeit, letztlich Emanzipation von Abhängigkeiten (z. B. von einem Dolmetscher). Je nach Wissenschaftsdisziplin und Theorieansatz kann man das Ziel auch als strukturelle und soziale Integration oder als Inklusion in die gesellschaftlichen Subsysteme bezeichnen. Dass diese Begriffe unterschiedliche Sichtweisen implizieren, sei hier vernachlässigt. Auch die traditionelle Formel für die Funktion der Sozialarbeit „Hilfe zur Selbsthilfe“ passt auf die Integrationshilfen, soweit sie nicht dem Bereich Bildung und Ausbildung zuzuordnen sind. Aufgabe von Sozialarbeit und von Pädagogik generell ist die Befähigung zur selbständigen Lebensführung (zu „Reproduktionsqualifikation“ Auernheimer 2010). Diese an sich systemimmanente Funktion von Bildung und Sozialarbeit – Erstere dient der Herstellung, Letztere primär der Wiederherstellung der Reproduktionsfähigkeit – kann auch emanzipatorische Impulse vermitteln. Diese Ambivalenz kennzeichnet jede pädagogische Praxis. Man kann verschiedene Niveaus von Handlungsfähigkeit unterscheiden, was sich am besten an der Situation von neu Zugewanderten illustrieren lässt (vgl. Kap. 3.4.). Besonders deutlich war das bei der Generation der „Gastarbeiter/innen“, die häufig aus agrarischen Regionen ohne moderne Infrastruktur kamen. Viele von ihnen mussten erst einmal elementare Fertigkeiten erlernen, zum Beispiel ein Konto zu eröffnen und zu führen. Die Ausländersozialberatung, rekrutiert aus den Reihen der Migranten, war in den ersten Jahrzehnten der Arbeitsmigration die Institution, die auf jenen Bedarf
Chancengleichheit durch Handlungsfähigkeit
Niveaus von Handlungsfähigkeit
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7. Migrationspädagogik
„ausreichende Kenntnis der deutschen Sprache“
durch Traumata eingeschränkte Handlungsfähigkeit
eine Regierungskampagne in 1970
an Unterstützung zugeschnitten war. Die Sozialberater/innen halfen zum Beispiel beim Stellen von Anträgen auf Kindergeld, Familiennachzug, eine Sozialwohnung u. Ä. Mit der stellvertretenden Übernahme solcher Aufgaben vermittelte der Sozialberater in der Regel schrittweise auch die Fähigkeit dazu. Ein weiterer Schritt ist die Bewältigung der komplexen Anforderungen in den Rollen als Arbeitnehmer/in, Verbraucher/in, Haushaltsvorstand, Vater oder Mutter. – Und sobald die politische Partizipation zugestanden wird, sind entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten auch in diesem Bereich gefordert. Damit steigen auch die Anforderungen an die Bildungsarbeit, an Beratung, Betreuung und andere unterstützende Maßnahmen. Einschlägige Kenntnisse betreffen bspw. das Arbeitsrecht und den Verbraucherschutz. Auch beim Zweitspracherwerb lassen sich Niveaus der Handlungsfähigkeit unterscheiden, zumindest bei Neuzuwanderern beginnend mit dem Gebrauch sprachlicher Formeln, dem Zitieren von Sprechhandlungsmustern ohne genaues Verständnis, später erweitert zur mehr oder weniger ausreichenden Beherrschung der Umgangssprache – ein Sprachniveau, das für viele Bereiche des Alltagslebens ausreicht und deshalb Ziel von Anfängerkursen ist. In der Verordnung für die amtlichen Integrationskurse (siehe unten) wird das angestrebte Kursziel unter Verweis auf das Niveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen so gekennzeichnet: „Über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache […] verfügt, wer sich im täglichen Leben in seiner Umgebung selbständig sprachlich zurechtfinden und entsprechend seinem Alter und Bildungsstand ein Gespräch führen und sich schriftlich ausdrücken kann“ (IntV § 3, Abs. 2). Dabei dürfte die Befähigung zum schriftlichen Ausdruck in vielen Fällen zu hoch gegriffen sein, auch wenn damit nicht die Beherrschung der Schriftoder Bildungssprache gemeint ist. Diese, für einigermaßen anspruchsvolle berufliche Tätigkeiten unverzichtbar, hat ganz andere Voraussetzungen. Die Vermittlung von Fachsprachen hat einen hohen Stellenwert in Maßnahmen zur Nachqualifizierung. Die Handlungsfähigkeit kann vor allem bei Flüchtlingen auch durch traumatische Erlebnisse (Gefangenschaft, Folter, Flucht) stark eingeschränkt sein, die nicht ohne professionelle Hilfe bearbeitet werden können. Viele Integrationshilfen können aber auch von Ehrenamtlichen oder Freiwilligendiensten geleistet werden, so vor allem Lernhilfen, konkret meist Hausaufgabenhilfen, der historische Anfang und nach wie vor anscheinend ein Kernbereich der Integrationshilfen. Es begann 1970 mit einer Kampagne, in der Studierende, Hausfrauen und andere mit disponibler Zeit von Regierungsseite aufgerufen wurden, den Kindern aus Gastarbeiterfamilien bei den Hausaufgaben zu helfen. Über zehn Prozent dieser Kinder wurden in diesem Rahmen im Schuljahr 1970/ 71 betreut (Stichwort „Initiativgruppen“ im Handwörterbuch Ausländerarbeit, Auernheimer 1984). Manche Initiativen waren von begrenzter Dauer, andere wurden zu einer festen Einrichtung. Ähnlich hatten schon um 1900 die „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ die Proletarierkinder und -familien in Berlin unterstützt, wo damals wie in vielen Städten durch Zuwanderung Elendsquartiere entstanden. Auch an die SettlementBewegung in England und USA wäre zu erinnern, ohne dass explizit an sol-
7.1 Das Praxisfeld Integrationshilfen
che historische Vorbilder angeknüpft worden wäre. Interessant daran ist, dass anscheinend immer dann, wenn die Sozialsysteme durch Migration überfordert sind bzw. die traditionelle familiäre Solidargemeinschaft nicht mehr funktioniert, solche freiwilligen Dienste gerufen werden, die sich dann zumindest teilweise institutionalisieren. Exemplarisch sei an dieser Stelle die Initiativgruppe München e. V. porträtiert, die 1971 als gemeinnütziger Verein gegründet wurde, heute ein anerkannter Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe mit einer großen Zahl von Voll- und Teilzeitbeschäftigten und einem breiten Spektrum von Bildungsangeboten und sozialen Hilfen. Am Anfang standen die Hausaufgabenhilfen für ausländische Kinder, was häufig auch die Unterstützung der Eltern einschloss. Fünf Jahre nach der Vereinsgründung erweiterte man den Kreis der Aufgaben um Sprachintensivkurse und „Eingliederungskurse für nachgereiste ausländische Jugendliche“. Anfang der 1980er Jahre kam die ausbildungsbegleitende Förderung ausländischer Jugendlicher hinzu, zehn Jahre später ein Jugendwohngemeinschaftsprojekt, ein Qualifizierungsprojekt für Migrantinnen und Migranten und eine Eltern-Kind-Initiative. Die Entwicklung verdeutlicht die Zunahme der Anforderungen und die entsprechende Professionalisierung. Noch deutlicher wird das ab 2002. Genannt werden ein „staatlich anerkannter Lehrgang zur Hauswirtschafterin“, eine Kindergrippe und das „Integrationsberatungszentrum Sprache & Beruf“ (www.ini tiativgruppe.de, 17.4.12). Daneben werden bei der Ganztagsbetreuung an Schulen oder bei der Schülerhilfe noch die ursprünglichen Aufgaben wahrgenommen. Bis zu 1000 Schüler/innen sind allein Adressaten dieser beiden Angebote. Die IG München ist heute ein Apparat mit mehreren Hundert Festangestellten, Honorarkräften und Ehrenamtlichen. Das Beispiel dieses Vereins zeigt aber auch, dass sich Integrationshilfen nicht auf fürsorgliche Betreuung beschränken müssen. Die IG hat sich schon früh kommunalpolitisch engagiert und darüber hinaus zum Beispiel bei einer Kampagne für die doppelte Staatsbürgerschaft politisch artikuliert. Und sie hat sich nicht nur immer wieder für Migranten eingesetzt, sondern auch mit ihnen gearbeitet und zum Beispiel in den 1980er Jahren einen „Ausländischen Elternverein“ initiiert, um die „Selbstorganisationskräfte“ zu stärken, wie es auf der Website heißt. Auch das „Antirassistische Telefon“ ist zu erwähnen, das auf die Initiative der IG zurückgeht. Als zweites Beispiel soll der Verein „Kindernöte e. V.“ aus Köln-Chorweiler vorgestellt werden, dessen Wirken auf den Stadtteil beschränkt ist und der einer späteren Projektgeneration entstammt. 1996 gegründet, war er von Anfang an nicht mehr von dem Elan der Studentenbewegung getragen, arbeitet aber stark gemeinwesenorientiert. Es handelt sich um einen Verein besorgter Bürger, die Ersatz schaffen wollten für den Verlust städtischer Einrichtungen im Quartier. Zu den Angeboten des Vereins gehört ein Projekt, das die Kinder des Viertels zum Spielen unter Anleitung einlädt, und die „Spaß-Schule“, in der spielerisch schulisch wichtige Grundfertigkeiten erlernt werden. Durchgeführt werden diese und andere Aktionen von Ehrenamtlichen, meist Studierenden und Praktikant/inn/en pädagogischer Studiengänge, unter der Leitung von hauptamtlichen Fachkräften. Der Verein wird von vielen namhaften Unternehmen aus der Region gefördert. Beides, die personelle Struktur – Ehrenamtliche unter Anleitung von Fachkräften –
Beispiel 1: die Initiativgruppe München
Beispiel 2: Kindernöte e. V.
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7. Migrationspädagogik
Beispiel 3: der Bund spanischer Elternvereine
Schwerpunkt Elternbildung
Patenschaftsprojekte
und die Abhängigkeit von Sponsoren, kann als typisch für Projekte in diesem Praxisfeld gelten. Das dritte Beispiel, der Bund der spanischen Elternvereine, gegründet 1973, belegt die Eigeninitiative von Migranten auf diesem Feld. Der Bund, der über einhundert Vereine vertritt, sieht seine Hauptaufgabe in der Elternbildung, hat aber wiederholt auch schulpolitisch Position bezogen. Die von den Vereinen durchgeführten Schulaufgabenkreise haben zusammen mit der Aufklärung und Mobilisierung der Eltern den Bildungserfolg der Jugendlichen spanischer Herkunft ermöglicht. Anders lässt sich die Erfolgsquote (70% mit FHS-Reife) kaum erklären. Erwähnenswert ist noch die Maßnahme dieser Organisation zur Qualifizierung von Migrant/inn/en für kommunale Partizipation, weil dies eine weitere Variante von Integrationshilfe sichtbar macht. Auf die Stärkung der pädagogischen Kompetenz der Eltern konzentrieren sich das sog. „Rucksackprojekt“ und HIPPY (Home Instruction for Parents of Preschool Youngsters). Ziel ist die Sprachförderung der Vorschulkinder, beim Rucksackprojekt in der Erst- und Zweitsprache. Beide Projekte sind aus anderen Ländern übernommen. Der Aufbau der Kooperation zwischen pädagogischen Fachkräften und Ehrenamtlichen ist sehr ähnlich. Beim Rucksackprojekt werden die Eltern, d. h. die Mütter, einmal pro Woche von „Elternbegleiterinnen“ oder „Stadtteilmüttern“ derselben Sprachgruppe über den Wert des Vorlesens, Spielens etc. aufgeklärt und angeleitet. Themen wie mein Körper, die zuhause in der Familiensprache zum Gegenstand gemacht worden sind, werden gleichzeitig in der KiTa behandelt. Dafür stehen Materialien und ein Handbuch zur Verfügung. Solche Materialien sind die Basis der pädagogischen Arbeit beim HIPPY-Projekt, wo eine Koordinatorin pro Standort die Hausbesucher/innen vorbereitet, die jeweils mehrere Mütter anleiten, wie sie den Kindern vorlesen, mit ihnen lernen, basteln und malen können. Ein beabsichtigter Nebeneffekt beider Projekte ist die Stärkung des Selbstwertgefühls der beteiligten Mütter. Beide Projekte sind über ganz Deutschland verbreitet und auch in Österreich aufgegriffen worden. Interessant wegen der Verbindung von Integrationshilfe mit interkulturellem Lernen sind Patenschaftsprojekte, wie sie die „Aktion Zusammenwachsen“ im Auftrag des Bundesfamilienministeriums fördert. Die Schwerpunkte sind sehr unterschiedlich. Sie umfassen Frühförderung durch Stärkung der Elternkompetenz, Hausaufgabenhilfe, speziell auch Leseförderung, Patenschaft bei der beruflichen Ausbildung u. a. m. Liest man die Selbstdarstellung von Projekten und Erfahrungsberichte von Patinnen oder Paten (www.aktion-zusammen-wachsen.de), so wird klar, welche Gelegenheiten zu interkulturellem Lernen die Beziehung zwischen Pate und „Patenkind“ bietet. Auf informelle Art wird hier gelernt oder kann gelernt werden, wie vielfältig Lebensweisen und Familienformen sein können, und zwar unabhängig von regional bedingten kulturellen Unterschieden. – Nicht weil der Andere aus einer anderen Weltgegend kommt, sondern aus einem anderen sozialen Milieu. Es kommt zu Begegnungen zwischen den Generationen und zwischen sozialen Schichten. Der Horizont der Beteiligten weitet sich, wenn sie überrascht andere Lebensauffassungen und Lebensstile kennen lernen, wobei die relative persönliche Nähe Respekt trotz der Unterschiede
7.1 Das Praxisfeld Integrationshilfen
abnötigt. Für Migranten, bei denen langjährige Lager- und Heimaufenthalte zum Verlernen von Fähigkeiten und zu Misstrauen etc. geführt haben, bietet eine Patenschaft zusätzliches Lernpotential. Zwischenbilanz: Ehrenamtliche in Kooperation mit pädagogischen Fachkräften haben einen beträchtlichen Anteil an Hilfen zur Integration. Explizit oder implizit wird neben dem Kompetenzerwerb eine Stärkung des Selbstwertgefühls der Klienten angestrebt. Manche Projekte verfolgen auch Empowerment-Strategien im engeren Sinn, indem sie die Migranten zur Selbstorganisation und zu politischer Artikulation ermuntern. Die Nachteile mangelnder pädagogischer Professionalität der Helfer/innen müssten empirisch überprüft werden. Denkbar sind auch Vorteile wie größere Spontaneität ohne fachliche Denkschablonen und Routinen, geringere Distanznahme als bei Professionellen. Aber selbstverständlich sind Fachkräfte unverzichtbar, und der Beitrag der Ehrenamtlichen muss beschränkt bleiben. Die Verfachlichung dieses Aufgabenfelds darf nicht an den Kosten scheitern. Einen Mittelweg beschreiten zum Beispiel die Jugendmigrationsdienste mit dem Einsatz von Freiwilligendiensten, bei denen sie teilweise auf Helfer/innen mit einer aufgabenrelevanten Ausbildung zurückgreifen können. Dazu kommen Schulungsprogramme und eine pädagogische Begleitung. Schriftliche Vereinbarungen über Stundenaufwand und Verweildauer sichern zusammen mit einer Aufwandsentschädigung Stabilität. Generell tragen alle diese Programme und Projekte dazu bei, dass größere Teile der Zivilgesellschaft in die Integrationsarbeit eingebunden und sensibilisiert werden für die Situation von Migranten, soweit die Helfenden nicht selbst eine Migrationsgeschichte haben. Alarmiert durch den drohenden Fachkräftemangel in der Wirtschaft werden inzwischen vielfältige Hilfen bei der Berufsfindung, Berufsbildung und beim Anerkennungsverfahren für berufliche Abschlüsse angeboten. Die Akteure sind Kammern, staatliche Instanzen und private Träger. Man kann von einer regelrechten „Integrationsindustrie“ sprechen. Die pädagogischen Aufgaben können hier in der Regel nicht mehr von Ehrenamtlichen wahrgenommen werden. Zuständig dafür sind freigestellte Handwerksmeister und andere Fachleute sowie pädagogische Fachkräfte. Einige Beispiele: Die Handwerkskammer München hat die Nachqualifizierung von Immigranten mit dem Ziel der Gesellenprüfung im erlernten Beruf organisiert. Die Handwerkskammer Münster bietet zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung Hilfe beim Start ins Berufsleben. Das KompetenzZentrum Bielefeld hat mit einem „Girls-Day“ unter Mädchen für technische Berufe geworben. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer hat zusammen mit dem Ableger der türkischen Religionsbehörde DITIB Moscheevereine für Berufsinformation gewonnen. Die Begegnungsstätte DuisburgMarxloh, verbunden mit der dortigen Moschee, hat Umschulungsmaßnahmen für Frauen und ein Job-Coaching für Jugendliche im Angebot. Auch die adäquate Verwendung akademisch gebildeter Migrant/inn/en macht Fortschritte. Ein Kölner Institut (mibeg) bietet Ärzt/inn/en die Möglichkeit, nachträglich die deutsche Approbation zu erwerben. Und an der Universität Oldenburg bspw. werden BA-Studiengänge speziell für Einwanderer angeboten (alle Informationen aus der Zschr. Clavis, hgg. im Rahmen des Pro-
der Stellenwert von Ehrenamtlichen und Fachkräften
Fachkräftemangel und Integrationsprojekte
159
160
7. Migrationspädagogik
Integrationspolitik
Integrationskursverordnung
die Sprachkurse
gramms „Integration durch Qualifizierung“ von mehreren Bundesministerien). Solche Projekte sind Beispiele für zivilgesellschaftliches Engagement. Mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 und der Integrationskursverordnung aus dem gleichen Jahr, inzwischen mehrmals novelliert, hat sich die Bundesrepublik zu ihrer staatlichen Verantwortung bekannt. Bis dahin war dies einseitig als Bringschuld der Migranten gesehen und bürgerschaftlichem Engagement überlassen worden. Die Selbstverpflichtung kommt in folgendem Passus des Zuwanderungsgesetzes zum Ausdruck: „Die Integration von rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländern in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland wird gefördert“ (§ 43). Sieht man davon ab, dass hier Gruppen zumindest formell ausgeschlossen sind, nämlich einerseits Asylbewerber/innen und andererseits schon eingebürgerte Migranten, so ist das ein Schritt nach vorne, der auch durch die „Gemeinsame Integrationsagenda“ der EUKommission aus 2004 begünstigt worden sein mag. Für die Praxis maßgebend ist die genannte Integrationskursverordnung. Sie schreibt verpflichtende Sprachkurse im Umfang von 600 Stunden mit dem angestrebten Niveau B1 des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen und sog. Orientierungskurse im Umfang von 60 Stunden vor. Für bestimmte Adressatengruppen, nämlich für Frauen, Eltern, junge Erwachsene und Analphabeten, sind spezielle Kurse mit höherer Stundenzahl vorgesehen. Verpflichtend sind die Kurse für Neuzuwanderer ohne entsprechende Sprachkompetenz und für Migranten, die von der Ausländerbehörde zur Teilnahme aufgefordert werden. Aber auch freiwillige Teilnahme ist bei ausreichender Kapazität möglich, und diese Möglichkeit haben so viele Immigranten genutzt, dass sie in der Vergangenheit über die Hälfte der Teilnehmer stellten, was zeigt, auf welche Resonanz das Angebot gestoßen ist. Wie sehr sich Menschen ohne ausreichende Sprachkenntnis zur Unmündigkeit und sozialen Isolation verdammt fühlen, illustrieren folgende Aussagen aus Interviews mit Teilnehmerinnen eines Integrationskurses: „Früher ich konnte nicht überhaupt nicht ich wusste viele Wörter aber ich konnte nicht in eine richtige Satz verbinden […] war ich ein halb Mensch“ (Fatima, zit. bei Hentges 2010, S. 56). Oder Jekaterina, 29, Bankkauffrau: „… ich habe Angst zuerst ich habe Angst mit deutsche Menschen weil ich sprechen nicht so gut Deutsch und ich denken […] ah besser ich bleibe zuhause“ (ebd.). Die Kurse werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) finanziert und koordiniert und von den vom BAMF zugelassenen Trägern durchgeführt. Für die Sprachkurse gibt es seit 2007 ein Rahmencurriculum, für die Orientierungskurse bislang nicht. Die Zielformulierungen im Curriculum sind von der modernen Sprechakttheorie geleitet. Das heißt, man geht davon aus, dass die Teilnehmenden in erster Linie befähigt werden sollen, bestimmte Absichten sprachlich zu realisieren, also Handlungen auszuführen wie Auskunft geben, nachfragen, berichten, sich beschweren. Der Ansatz wird auch in folgenden Kursthemen deutlich: Realisierung von Gefühlen, Haltungen und Meinungen, Umgang mit Dissens und Konflikten, Gestaltung sozialer Kontakte. Außerdem werden „Handlungsfelder“ unter-
7.1 Das Praxisfeld Integrationshilfen
schieden, in denen unterschiedliche Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit gestellt sind, zum Beispiel Ämter und Behörden, Arbeit, Banken und Versicherungen, Gesundheit, Betreuung und Ausbildung der Kinder. Der Ansatz entspricht sprachdidaktischen Maßstäben auf dem heutigen Stand und wird vermutlich den Bedürfnissen der Adressatengruppe gerecht. Es fragt sich nur, ob ohne Hintergrundwissen, zum Beispiel über die Dienstleistungsfunktion von Behörden, eine adäquate Kommunikation erlernbar ist. Denn Unklarheit über den „Rahmen“ führt leicht zu Fehlhandlungen (siehe Kap. 5). Das dürfte auch ein Gesichtspunkt bei der politischen Entscheidung gewesen sein, den Abschluss des Orientierungskurses vor dem Sprachkurs vorzuschreiben. Nur können die Orientierungskurse die angedeutete Funktion kaum erfüllen. Ihre Thematik ist im Grunde nichts anderes als Staatsbürgerkunde. Die Handreichung des BAMF sieht Themen vor wie Staatsaufbau der Bundesrepublik, Sozialstaatsprinzip, Grundrechte und Pflichten, Geschichte der Bundesrepublik, daneben noch Aspekte von „Kultur“ (Zeitverständnis, Regelorientierung). Die Kurse sind, nach einer exemplarischen Evaluation von Gudrun Hentges (2010) zu urteilen, nicht sehr erfolgreich. Die Verfasserin schreibt im Fazit: „Die Interviewpartner/innen erinnern sich an einzelne Begriffe oder Stichworte; in den Interviews wurde aber deutlich, dass es ihnen sehr schwer fällt, diese Begriffe in einen Kontext einzuordnen“ (S. 72). Vieles bleibt mit anderen Worten unverstanden, nicht zuletzt aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse. Bedenkenswert wären deshalb Orientierungskurse in den Herkunftssprachen, was jedoch aus Mangel an zweisprachigen Dozent/inn/en höchstens in Ausnahmefällen möglich sein würde. Hentges nennt Beispiele für solche Kurse. Im Übrigen müssten die Kurse wirklich den Charakter von Orientierungskursen tragen. Zum Beispiel: Wie verhalte ich mich beim Einkaufen? Wie ist die Preisgestaltung in Supermärkten? Was bedeutet die Mindesthaltbarkeit bei Lebensmitteln? Die bisherige Themenliste für Orientierungskurse erweckt den Eindruck, als wolle man eine ehrfürchtige Haltung gegenüber diesem Staat hervorrufen. Hentges vermisst das Prinzip der Kontroversität, das für die politische Bildung leitend ist (2010, S. 48). Die Auswahl der unter „Kultur“ aufgeführten Stichworte in der Handreichung des BAMF lässt, nebenbei gesagt, fragen, warum ausgerechnet „Zeitverständnis, Regelorientierung, religiöse Vielfalt“? Stand dahinter das Bild vom Orientalen, der damit seine Schwierigkeiten hat? Auf Kritik stoßen vor allem einige Rahmenbedingungen der Integrationskurse: Häufig ist bezweifelt worden, dass das angestrebte Sprachniveau innerhalb der vorgegebenen Zeit erreichbar ist, wobei auf die große Heterogenität der Teilnehmenden verwiesen wird. Ob dieser schwierigen Situation Lehrkräfte mit befristeten Arbeitsverträgen und geringer Bezahlung gewachsen sind, ist die zweite Frage. Das Honorar ist nach Gewerkschaftsmeinung zu niedrig, was wiederum die Personalauswahl beeinflusst. Die Orientierungskurse werden ohne sozialwissenschaftliche Ausbildung bzw. ohne Studium der Didaktik der politischen Bildung geleitet (Hentges 2010). Bei den Dozenten der Sprachkurse kann man davon ausgehen, dass sie in Sprachwissenschaft und -didaktik ausgebildet sind. Wünschenswert wäre freilich
unzureichende Orientierungskurse
Kritik an Orientierungskursen
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162
7. Migrationspädagogik
FörMig – ein schulisches Integragionsprogamm
zentrale Ansatzpunkte
die spezielle Qualifikation für Deutsch als Zweitsprache, die vermutlich nicht immer vorliegt. Kritik wurde auch geäußert am unbeabsichtigten Ausschluss von Eltern mit Kindern, vor allem im ländlichen Raum, die nicht ganztags einen Kurs besuchen können. Die inzwischen erstellte Online-Version zeigt immerhin den guten Willen. Ob das Problem damit zu lösen ist, wird sich zeigen. Eine wichtige Anregung aus früheren Integrationskursen ist die „Kompetenzbilanz“, mit der am Anfang die bereits vorhandenen Fähigkeiten und Kenntnisse der Migrant/inn/en, nicht nur im sprachlichen Bereich, abgefragt werden, wie es dem Ressourcenansatz entspricht. Die Konsequenz daraus wäre eine stärkere Differenzierung der Kurse nach biographischer Passung. Am Schluss die Frage: Sollte man wünschen, dass nach finnischem Vorbild für jede Person ein individueller Integrationsplan erstellt wird, mit dem die jeweiligen Fortschritte dokumentiert werden? Vertretbar ist so etwas nur, wenn auch die entsprechende personelle Unterstützung gewährleistet wird. Im Übrigen droht damit ohne liberale Tradition der totale Staat mit dem gläsernen Staatsbürger. Um noch beispielhaft zu zeigen, welche Integrationshilfe Schulen einschließlich berufsbildender Schulen leisten (können), soll abschließend noch das Modellversuchsprogramm FörMig zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund vorgestellt werden, das von 2004 bis 2009, koordiniert von der BLK (Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung), in den einzelnen Bundesländern Reformimpulse für eine bessere Sprachförderung vermitteln sollte. Da auch besonders Wert gelegt wurde auf eine verstärkte Kooperation an den Übergängen des Bildungssystems, waren auch Kindertagesstätten einbezogen. – Ein Reformimpuls übrigens, der weit über Sprachförderung hinausreichte, weil damit eine Schwäche des deutschen Systems zwar nicht behoben, aber zumindest bewusst gemacht wurde, nämlich die getrennten Zuständigkeiten auf der Ebene der Träger und der Ministerien. Zwei zentrale Ansatzpunkte von FörMig waren (a) die Entwicklung von adäquaten förderdiagnostischen Verfahren und von Konzepten, die an die Diagnoseergebnisse so gut wie möglich anschließen und (b) die Kooperation von Schule und Elternhaus sowie die Beteiligung des ganzen Kollegiums, d. h. die Aufmerksamkeit für Sprachbildung in allen Fächern, zusammengefasst als „kooperative Sprachbildung“. Im Unterschied zur üblichen schulischen Leistungsbewertung wird eine Diagnostik für nötig gehalten, „die qualitative Aussagen zum sprachlichen Entwicklungsstand eines Kindes ermöglicht und gleichzeitig eine Richtung für die anschließende Förderung weist“ (Roth 2011, S. 138). Solche diagnostischen Verfahren wurden an KiTas und Schulen erprobt, und zwar unter Beachtung der Mehrsprachigkeit von Lernenden. Ziel des Programms war die Anbahnung der Bildungssprache, die Voraussetzung für schulischen Erfolg ist. Denn dort wird erwartet, dass man – anders als in der Umgangssprache – fähig ist, unabhängig vom jeweiligen situativen Kontext einen Sachverhalt auszudrücken oder zu verstehen, also Lesekompetenz zu erwerben (engl. literacy). Das Modellversuchsprogramm war leider befristet wie viele Programme und Projekte in den letzten Jahrzehnten. Dieser Mangel an Kontinuität kennzeichnet die Integrations-, früher Ausländerpolitik von Anbeginn an. Immerhin sind in diesem Fall Nachfolgeprogramme in den Bundesländern
7.2 Die interkulturelle Öffnung der Institutionen
aufgelegt worden. In NRW wurden bspw. Qualitätsindikatoren für die Sprachförderarbeit entwickelt und Module für die Fortbildung von Fachund Lehrkräften erprobt. Auf nachwirkende Reformimpulse lässt auch hoffen, dass dort Hunderte von Kooperationspartnern aus den Bereichen Schule, Jugendhilfe, Familie, Migration, Wirtschaft, (Berufs-)Bildung und Wissenschaft beteiligt gewesen sein sollen. Sprachfördernetzwerke waren mit ein Innovationsakzent des Programms, wie überhaupt den institutionellen Rahmenbedingungen große Beachtung geschenkt wurde. Roth nennt unter anderem eine engagierte Leitung der Schule oder KiTa, Teamarbeit und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern (2011, S. 139) – Merkmale, die seit Langem zum Maßstab interkultureller Öffnung gemacht werden.
7.2 Die interkulturelle Öffnung der Institutionen Von 1994 datieren die „Empfehlungen zur interkulturellen Öffnung sozialer Dienste“ der damaligen Ausländerbeauftragten der Bundesregierung. Inzwischen ist die „interkulturelle Öffnung der Verwaltung und der sozialen Dienste“ einer von 14 Indikatoren, die das „Indikatorenset für ein bundesweites Integrationsmonitoring“ bilden, von der Migrationsbeauftragten der Bundesregierung 2008 herausgegeben. Um diesem Anspruch zu genügen, haben Soziale Dienste und Bildungseinrichtungen folgenden Kriterien zu genügen: Die Einrichtung muss in ihrem Leitbild die multikulturelle Orientierung dokumentieren. Inzwischen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass pädagogische und soziale Institutionen sich in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess ihrer Ziele und Aufgaben vergewissern sollten. Damit aber eine Einrichtung ihr Selbstverständnis klären kann, muss sie den sozialen Kontext und damit die Multikulturalität, speziell Mehrsprachigkeit, und Migrationsfolgen wie neue Formen der sozialen Benachteiligung berücksichtigen. Offen ist lediglich die Frage, ob im Leitbild nicht besser die generelle Ausrichtung auf Diversity festgeschrieben werden sollte, um prinzipiell die Sensibilität für heterogene Ausgangslagen zu fördern. Wird das Leitbild ernst genommen, verlangt es eine entsprechende Fortbildung und nach Möglichkkeit ein mehrsprachiges Personal. Mehrsprachigkeit ist nicht nur wichtig für die bessere Berücksichtigung der Bedürfnisse von Klienten oder Lernenden mit MH, für eine bessere Verständigung und den Abbau von Zugangsbarrieren, sondern auch unter dem Aspekt der Anerkennung zeichenhaft bedeutsam. Speziell in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen hat sie auch einen Sozialisationseffekt, weil Multikulturalität als Normalität erfahrbar wird. Problematisch sind hier Exklusionskriterien und Zugangsbarrieren, die in Deutschland teils durch das Beamtenrecht, teils durch die konfessionelle Trägerschaft von Vorschuleinrichtungen und Sozialdiensten aufgerichtet sind. In gehobener Position sind Fachkräfte anderer Herkunft hierzulande – anders als in älteren Einwanderungsländern – leider noch kaum vorstellbar. Fortbildung im Bereich interkultureller Bildung oder Sozialarbeit sollte sich nicht auf externe Fortbildung beschränken. Besonders effektiv ist Kollegiale Fallberatung oder Intervision innerhalb
Leitbild
mehrsprachiges Personal
Fortbildung und Intervision
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7. Migrationspädagogik
Kooperation
Arbeitsteilung
Abbau von Zugangsbarrieren
des Kollegiums oder Teams, um sich „reflexive Interkulturalität“ anzueignen, natürlich auch Supervision, die aber in vielen Institutionen nicht verfügbar ist. Intervision eröffnet oft neue Perspektiven für die Deutung einer Situation und damit Handlungsalternativen. Sie erscheint gerade bei kulturbedingten oder scheinbar kulturbedingten Konflikten angebracht. Die Unsicherheit in sehr ambivalenten oder konflikthaften Situationen wird sonst auf problematische Weise „bewältigt“. Das kann in Assimilationsforderungen zum Ausdruck kommen, in Ethnisierungstendenzen oder aber in der Leugnung kultureller Differenzen, schlimmstenfalls in sublimen Rassismen. Entscheidend ist die Kooperation, die eine Verständigung über gemeinsame Problemdefinitionen voraussetzt, ein gemeinsames Verständnis des pädagogischen Auftrags verlangt. Teamarbeit ist gerade im migrationsbestimmten Kontext mit der Vielfalt der Qualifikationsanforderungen unerlässlich. Dabei ist nicht nur an die geforderten sprachlichen Kompetenzen zu denken, sondern auch an Zugangsmöglichkeiten zu anderen Lebenslagen und -auffassungen. Daher muss die Art der Arbeitsteilung und formalen Aufgabendelegation auf den Prüfstand. Die Anforderungen, welche die Migration mit sich gebracht hat, werden bis heute in allen pädagogischen Arbeitsfeldern sehr gern mit Aufgabendelegation beantwortet, zumal die Politik lange Zeit dazu verleitete, die neuen Aufgaben als eine vorübergehende Zusatzbelastung anzusehen. Eine starre Arbeitsteilung, auch die zwischen Einrichtungen (zum Beispiel zwischen Allgemeinem Sozialen Dienst und Migrationsdiensten, zwischen Regelklassen und Sonderklassen an Schulen), hat die Institutionen lange Zeit davor bewahrt, sich verändern zu müssen, ihr Aufgabenverständnis zu überdenken. Die fragwürdige Spezialisierung ist mit Segregation verbunden. Ziel der interkulturellen Öffnung ist die Zugänglichkeit der Einrichtung für alle, speziell auch für Bildungswillige oder Klienten mit MH oder anderer Familiensprache. Zu unterscheiden sind Barrieren rechtlicher Art und psychologische, kulturelle oder soziale Barrieren. Gegenstand der Fachdiskussion sind seit Jahren die Zugangsbarrieren im Bereich der Sozialen Dienste. Als wichtige Voraussetzungen für einen erleichterten Zugang gelten die Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz des Personals, Informationsmaterial in einschlägigen Sprachen, dezentrale, „niedrigschwellige“ Angebote und Kontakte mit Multiplikatoren im ethnischen Netzwerk, u. a. mit Migrantenorganisationen. Zu überprüfen ist zum Beispiel das Setting in Beratungsgesprächen, das in der Regel mittelschichtorientiert und eurozentrisch ist. Im Münchner Sozialreferat hat man sog. „Schlüsselprozesse“ oder -situationen identifiziert, die darüber entscheiden, ob die Klienten sich angenommen und respektiert fühlen. Unter anderem sei die korrekte Aussprache des Namens bzw. das Bemühen darum ein Signal, das beim ersten Kontakt Anerkennung anzeige. Handschuck/Schröer (2011) haben daher dem Thema fremde Eigennamen ein ganzes Handbuch für die Praxis gewidmet. Bei Kindergärten, Schulen und Einrichtungen der Jugendarbeit und Jugendbildung ist das Curriculum oder Programm die inhaltliche Konsequenz interkultureller Öffnung und entscheidend für die Attraktivität unter der Migrationsbevölkerung. Besonders die Würdigung von Mehrsprachigkeit kann Türen öffnen. Von Interesse sind aber nicht nur die Inhalte der Bildungsar-
7.2 Die interkulturelle Öffnung der Institutionen
beit, sondern auch die Lernarrangements, das gesamte pädagogisch zu verantwortende Environment. Die Vernetzung, also die Zusammenarbeit der sozialen Dienste und Einrichtungen untereinander, mit Migrantenorganisationen und Bildungseinrichtungen, von Schulen mit Kindergärten und Einrichtungen der Jugendarbeit, ist heute in der Fachöffentlichkeit als Notwendigkeit allgemein anerkannt. Viele Kommunen haben interkulturelle Orientierung und Integrationshilfe zur Querschnittsaufgabe ihrer Behörden und Serviceeinrichtungen erklärt, was auch die Kooperation begünstigt. Im Schulbereich wird die Kooperation mit Jugendeinrichtungen und Vereinen durch die Einführung von Ganztagsschulen gefördert, wenn nicht erzwungen. Programme wie FörMig (siehe oben) haben das Bewusstsein geweckt für die notwendige Kooperation an den Schnittstellen des Bildungssystems, also von Grundschulen mit KiTas und der Sekundarschulen mit Ausbildungsstellen. Die Partizipation der Migranten vor allem im Vorschul- und Schulbereich hängt von der Ermunterung seitens der Einrichtung und der herkunftsdeutschen Eltern ab, sich einzumischen. Migrantenorganisationen haben dazu beigetragen, dass mehr Eltern für die Mitbestimmung gewonnen werden konnten. Im Übrigen entscheiden alle bisher genannten Indikatoren darüber, ob Eltern eine Einrichtung als ihre Einrichtung betrachten. In manchen Bereichen müssen die Vertreter der Mehrheitsgesellschaft ihre Monopolstellung räumen. Das ist zum Beispiel relevant für eine angemessene Vertretung der Jugendlichen mit MH im Stadt- und Kreisjugendring. Die Mitbestimmungsmöglichkeit von Fachkräften mit MH ist dann rechtlich beschränkt, wenn sie nur als Honorarkräfte beschäftigt werden. Soll die Selbstverpflichtung einer Institution auf Berücksichtigung des Migrationskontexts, speziell der Mehrsprachigkeit, auf Dauer in der alltäglichen Arbeit wirksam sein, so ist es notwendig, von Zeit zu Zeit die Erreichung der selbst gesteckten Ziele zu überprüfen und nach Gründen für unbefriedigende Ergebnisse, zum Beispiel bei der Förderung von Migrantenkindern oder bei der Öffnung einer Beratungseinrichtung, zu fragen. Abschließend sollen die genannten Kriterien beispielhaft für den Schulbereich erläutert werden. Dabei muss kurz an die außerordentliche Selektivität des deutschen Bildungssystems erinnert werden, bevor Empfehlungen für die einzelne Schule formuliert werden, um deren Handlungsmöglichkeiten realistisch einzuschätzen. Die Defizite unseres Bildungssystems machen sich gerade im Zuge der Migration besonders bemerkbar, wie der Vergleich mit anderen Ländern zeigt. Die frühen Schullaufbahnentscheidungen sind besonders für Migrationskinder nachteilig. Die Mehrgliedrigkeit der Sekundarstufe mit Schularten unterschiedlicher sozialer Wertschätzung, unterschiedlichen Lernmilieus und Karrierechancen bedingt, dass Jugendliche mit ungünstigen Startbedingungen sich im unteren Segment wiederfinden. Aber auch innerhalb des bildungspolitisch gesteckten Rahmens gibt es Möglichkeiten für die einzelne Schule, besonders auf der Primarstufe, sich auf den Weg zur interkulturellen Schule zu machen, was immer auch die Verbesserung der Chancengleichheit einschließen muss. Erste Voraussetzung dafür ist ein „Schulprofil“, aus dem sich Aufgabenschwerpunkte und ein Schulprogramm ableiten lassen, wie es ohnehin inzwischen fast überall verpflichtend ist. An die Stelle einer quasi naturwüch-
Vernetzung
Partizipation
Controlling
Kriterien für Schulen
Schulprofil
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7. Migrationspädagogik
Art der Selbstdarstellung
Sozialklima
Team-teaching
außerunterrichtliche Aktivitäten
sigen „philosophy“, die von einer dominanten Gruppe oder von unreflektierten Traditionen geprägt ist, sollte ein explizit formulierter, von Zeit zu Zeit neu zu bestätigender Grundkonsens treten. In den dafür nötigen Diskussionsprozessen kommt engagierten Lehrergruppen als Impulsgebern eine große Bedeutung zu. Eine Initiativ- oder Steuerungsgruppe Interkulturelles Lernen könnte mit Blick auf die Mehrsprachigkeit und soziale Struktur der Schülerschaft, auch auf die Vielfalt der Herkünfte ein neues Leitbild entwerfen, das Anstöße für eine interkulturell orientierte pädagogische Arbeit gibt, die im „Schulprogramm“ als „Leitdimensionen“ festgehalten werden müssen. Über die Praxis einer Schule entscheidet nicht die interkulturelle Kompetenz einzelner Lehrkräfte. Diese wird nur „eingebunden in eine schulspezifische interkulturelle Schulkultur“ praktisch wirksam, so Over am Schluss einer Schulfallstudie (2012, S. 148). Eine solche Schulkultur sieht er „mit einem kollektiven Aushandlungs- und Entwicklungsprozess verbunden (ebd.). Die interkulturelle Orientierung sollte auch in der Selbstdarstellung einer Schule, in ihren Broschüren, öffentlichen Veranstaltungen und im äußeren Erscheinungsbild zum Ausdruck gebracht werden, und zwar nicht durch gelegentliche folkloristische Darbietungen bei Schulfesten. Prospekte, Ankündigungen etc. können in den Sprachen der jeweils größten Minderheiten gedruckt werden. In englischen Schulen sind mehrsprachige Hinweisschilder nicht unüblich. An unseren Schulen findet man zumindest im Eingangsbereich öfter Hinweise auf die Mehrsprachigkeit der Schülerschaft. Hauptbestandteil der äußeren Gestaltung einer Schule sind natürlich die Produkte aus dem Unterricht, wo Arbeiten mit interkulturellem Aspekt, darunter auch fächerübergreifende Projekte, dokumentiert werden können. Unabdingbare Voraussetzung interkultureller Bildung ist ein gutes Sozialklima an der Schule: symmetrische, vertrauensvolle Lehrer-Schüler-Beziehungen, eine Kultur der offenen Türen, Transparenz der Entscheidungen, Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Schüler. Die Lehrer dürfen ihre Berufsrolle nicht zu eng definieren, sollten Ansprechpartner für die Schüler sein und positive Modelle für Konfliktlösungen gerade auch im interkulturellen Bereich abgeben. Angesichts der Gefahr eines „heimlichen Lehrplans der Diskriminierung“ ist darauf zu achten, dass Migrationskinder und -jugendliche nicht unbeabsichtigt diskriminiert werden. Entscheidende Kriterien für das Sozialklima sind vor allem: ein unterstützendes Klima, die Förderung von Kooperation, Transparenz der Entscheidungen und Konfliktbearbeitung. Soziales Lernen zielt nicht zuletzt auf eine vernünftige Konfliktaustragung und -regelung ab. Im Kollegium sollten Formen der inhaltlichen Koordination, also der Absprache über die Unterrichtsplanung, stärker institutionalisiert und Formen des Team-teaching erprobt werden, auch weil diese die Kontinuität der Schüler-Lehrer-Beziehungen erhöhen und die negativen Folgen der Verfachlichung minimieren. Aus den internationalen Vergleichsstudien geht hervor, dass gemeinsame Planung auch für das Leistungsprofil von Schulen bedeutsam ist. Die Arbeit einer guten Schule beschränkt sich nicht auf den Unterricht. Außerunterrichtliche Aktivitäten in Arbeitsgemeinschaften, Klubs, Theater-
7.2 Die interkulturelle Öffnung der Institutionen
AGs, Musikbands oder auch Vorbereitungskomitees sind unter interkulturellem Aspekt wichtig, weil hier stärker als im Unterricht Kooperation und Miteinanderleben gelernt werden können. Die Schüler sind hier mehr genötigt, sich aufeinander einzulassen, sich auseinanderzusetzen und zu arrangieren. Die musisch-ästhetische Arbeit bietet sich für kulturelle Synthesen, aber auch für die verschlüsselte Problemdarstellung und Konfliktbearbeitung an. Der Übergang zum Ganztagsbetrieb ist in dieser Hinsicht sehr begrüßenswert. Damit wird die Relevanz der Öffnung der Schule deutlich. Die Kooperation mit anderen pädagogischen und sozialen Institutionen, mit Vereinen und Verbänden am Ort, Migrantenorganisationen nicht zu vergessen, bereichert das Schulleben. Vielfach praktiziert wird heute die Zusammenarbeit von Schule und Jugendarbeit. Positive Erfahrungen hat man mit kooperativ eingerichteten und betriebenen „Schülerclubs“ gemacht. Die Beteiligung der Migranteneltern wird man am ehesten durch eine interkulturelle Profilierung der Schule erreichen. Mehrsprachige Familien registrieren die Abkehr von der monokulturellen Orientierung meist aufmerksam. Die Erfahrung mit der Koordinierten zweisprachigen Alphabetisierung an Grundschulen zeigt zum Beispiel, dass diese nicht nur förderlich für die Kinder ist, sondern auch die Eltern der Schule näherbringt. Im Übrigen können Kontakte mit Einrichtungen oder Vertretern der Einwanderer-Community die oft registrierten Zugangsbarrieren von Migranteneltern abbauen. Außerdem sollten für manche Migranteneltern Formen der Mitsprache gefunden werden, die dazu ermuntern, die Scheu wegen sprachlicher Schwierigkeiten zu überwinden und sich gemeinsam zu artikulieren. Das müssen nicht eigene Elternversammlungen für die Eltern einer Sprachgruppe sein, mit denen man in einigen Ländern gute Erfahrungen gemacht hat. An manchen Schulen werden stattdessen Tischgruppen innerhalb der Elternversammlung gebildet, aus denen heraus Fragen, Wünsche oder Beschwerden vorgetragen werden können. In einem Schweizer „Ideenbuch zur Schulentwicklung“ werden Erfahrungen mit „Mediatoren“ aus dem Migrationskontext positiv bewertet. Diese fungieren als Sprach- und Kulturmittter (Mächler u. a. 2000). Im selben Handbuch wird von einer „Samstagsschule“ berichtet, in der Eltern besondere Kenntnisse, Fähigkeiten oder Erfahrungen weitergeben. Erfolgversprechende Alternativen von Elternarbeit sind überhaupt die Mitwirkung von Eltern bei Schulveranstaltungen oder Kursangebote für Eltern. Nachahmenswert ist zum Beispiel ein Elternforum zur Frage „Wie unterstütze ich mein Kind“ (Mächler u. a. 2000, S. 88 f.). In einer Untersuchung zur „institutionellen Diskriminierung“ haben Gomolla/Radtke (2007) herausgefunden, dass Grundschulen zum Beispiel ihre Übergangsempfehlungen oft danach ausrichten, wie sie die Anforderungen der weiterführenden Schulen am Ort einschätzen. Unscharfe Entscheidungskriterien wie „praktische Begabung“ sind außerdem mit im Spiel. Dazu kommen oft nicht eingestandene Motive der Bestandssicherung. Deshalb ist ein ethnic monitoring, d. h. die kritische Überprüfung von Übergangsempfehlungen, Sonderschulüberweisungs- und Versetzungsverfahren wichtig. Die einzelnen Schulen werden durch die Rahmenvorgaben dazu verleitet, Migrationskinder unter ihrem Leistungsniveau einzustufen, und zwar oft mit bester Absicht. Schulen können, wenn sie um das Problem wissen, eine selbstkritische Wachsamkeit entwickeln.
Öffnung der Schule
Ermutigung der Migranteneltern
Prüfung heimlicher Diskriminierung, ethnic monitoring
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7. Migrationspädagogik
Die meisten der für interkulturelle Bildung und die Förderung der Migrationskinder bedeutsamen Forderungen decken sich übrigens mit leistungsfördernden Faktoren, wie sie aus mehreren internationalen Systemvergleichen hervorgehen. Genannt seien beispielsweise: pädagogische Orientierung seitens der Schulleitung (educational leadership), gemeinsame Planung und Fortbildung, gutes Schulklima, Elternbeteiligung, Binnendifferenzierung, Transparenz der Leistungserwartungen.
Anregungen: Prüfen Sie für sich, ob und wie sich interkulturelle Bildungsarbeit und Integrationshilfen unterscheiden lassen! Kennen Sie aus ihrer schulischen oder beruflichen Erfahrung Beispiele für die interkulturelle Orientierung einer Bildungseinrichtung oder die interkulturelle Öffnung einer sozialen Einrichtung? Woran machen Sie diese fest?
Weiterführende Literatur: Holzbrecher, Alfred (Hg.) (2011): Interkulturelle Schule. Eine Entwicklungsaufgabe. Schwalbach/Ts. Kunz, Thomas/Puhl, Ria (Hg.) (2011): Arbeitsfeld Interkulturalität. Grundlagen, Methoden und Praxisansätze der Sozialen Arbeit in der Zuwanderungsgesellschaft. Weinheim und München. Mächler, S. u. a. (2000): Schulerfolg: kein Zufall. Ein Ideenbuch zur Schulentwicklung im multikulturellen Umfeld. Zürich (Lehrmittelverl. des Kantons).
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Register Anerkennung 19 ff., 23, 33, 42, 44 f., 46 ff., 51 f., 54. 59 f., 62 ff., 66, 72, 125, 130 f., 135, 138, 145, 163, 164 Antisemitismus 14, 76, 96 f., 101, 104, 152 Assimilation 11, 14, 29, 67, 81 ff., 109, 164 Ausbildung, pädagogische 28 f., 33, 40, 59, 135, 142, 149, 162 f. Bildung, bilinguale 25 f., 42, 46 f., 58, 145 f. Bildungspolitik 21, 25 f., 30 ff., 141, 148 Bildungssystem 26, 28 f., 34 f., 39 f., 58 f., 162, 165 Chancengleichheit 26, 52, 59, 83, 86, 155, 165 Curricula 21, 25, 29, 31 f., 141 f., 145
Hybridität 56, 60, 75, 135 Identität 14, 31, 40, 45, 50 ff., 56, 59 f., 62 ff., 68, 71 ff., 76, 78, 81, 84, 95, 119, 123, 130, 134 f., 140 Integration 23, 25 f., 28, 33 ff., 39 f., 42, 59, 84, 86, 160, 163 Integrationshilfen 18, 21, 154 ff. Intersektionalität 45, 52, 56, 119 ff., 132, 135 Jugendarbeit 31, 41, 43, 129 f., 132, 151, 167 Kompetenz, interkulturelle 35, 44, 46, 50, 61, 118 ff., 136, 154, 164, 166 Kulturrelativismus 47 f., 60, 136 f.
Differenz 9, 19 ff., 22, 38, 42, 44 f., 48, 50 ff., 59 ff., 62, 69, 76, 97 f., 110, 116, 119 ff., 124, 127, 130 ff., 136 ff., 140 ff., 147 Diskriminierung 10, 12, 14, 21, 24, 26, 28, 36, 42 f., 45, 52 f., 56 f., 59, 88 ff., 104, 111, 118 f., 127 ff., 140, 147 f., 166 f. Diskurs 14, 21, 23, 30, 36, 38, 51 ff., 60, 64, 66, 73 ff., 78 ff., 93 ff., 99 ff., 115, 120, 144, 149 Diskursethik 48 f., 63, 65 f., 75 f., 137 Diversity 21, 44 ff., 130 ff., 163 Dominanzkultur 10, 20 f., 50, 60, 66, 75, 93, 112, 115
Lehrerrolle 46, 135, 142, 148 f., 166 Lernen, interkulturelles 31, 51 ff., 85, 124 f., 128, 136, 142, 158
Einwanderungspolitik 16, 27, 35 f., 38 Entwicklungspädagogik 137, 142 Erstsprache 26, 58, 42, 145 f. Erwachsenenbildung 38, 126, 129 f., 140 Ethnizität 10 f., 15, 18, 22, 25, 42, 44, 49, 51, 80, 83 f., 118, 131, 133 Eurozentrismus 46 f., 60, 141
Nationalismus 11, 36, 74, 76, 102 f. Nationalstaat 9 ff., 20, 26 f.
Fremdbilder 37, 53 f., 60 f., 112, 115, 134 f. Fremdheit, fremde 9 f., 15, 31, 45, 49 f., 52 f., 69, 71, 80, 94, 106 ff., 127, 129, 134 f. Gender 18, 21, 44, 52, 81, 119 f., 126, 131, 140 Gleichheit 19 ff., 30, 44 f., 47, 54, 66 f., 70, 88 128 (s. auch Chancengleichheit) Globalisierung 15, 56, 60, 91, 118
Mehrsprachigkeit 13, 33, 46, 58, 145, 162 f., 164, 166 Migration 9, 15 ff., 22, 25 Migrationspädagogik 52, 154 ff. Migrationsregime 16 f., 28, 30, 33, 160 Migrationssoziologie 38, 41, 81 ff. Multikulturelle Gesellschaft 19, 24, 42, 48, 62 ff. Muttersprache (s. Erstsprache)
Pädagogik mit der 3. Welt (s. Entwicklungspädagogik) Pädagogik, feministische 38, 45, 131 Projektion 15, 54, 79, 90 f., 115 f. Psychoanalyse (einschl. Ethnopsychoanalyse) 52 f., 89 f., 94, 107, 114 Rechtsextremismus 38, 43, 102 f., 147, 152 Säkularität 27, 29, 33, 64, 67 Sozialarbeit 41, 44, 47, 50 f., 107 f., 121, 154 f., 163 Staatsangehörigkeit (s. Staatsbürgerschaft)
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Register Staatsbürgerschaft 14, 18, 27 f., 35, 38, 51, 64 f., 67 f., 157 Stereotype 30, 88 ff., 150, 152
Universalismus 56, 66, 71, 137 ff., 143
Toleranz 20 f., 32, 126, 128, 134, 139
Zugehörigkeitsordnung 23, 27, 35, 51, 59, 65, 67, 135 (s. auch Staatsangehörigkeit) Zweitsprache (s. Mehrsprachigkeit)
Übertragung 114 f. Ungleichheit 30, 47, 51, 54, 97, 100, 103, 112, 131, 149
Weltgesellschaft 9, 19, 139, 143 f.